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Full text of "Virgil im Mittelalter;"

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VIRGIL  IM  MITTELALTER. 


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VIRGIL  IM  MITTELALTER 


VON 

DOMENICO^COMPARETTI. 


AUS    DEM    ITALIENISCHEN    ÜBERSETZT 

vox 

HANS    DÜTSCHKE, 

DR.    PHIL. 


LEIPZia, 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  B.  G.  TEUBNER. 
1875. 


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Vorrede  des  Uebersetzers. 


Eine  Geschichte  Virgils  im  Mittelalter  erscheint  auf  den  ersten 
Anblick  als  eine  literargeschichtliche  Specialität,  die  mehr  oder 
weniger  nur  für  Fachgelehrte  bestimmt  ist.  Wird  sie  jedoch  von 
einem  so  umfassenden  Gesichtskreise  ans  dargestellt,  wie  in  dem 
vorliegenden  Buche  Dom,  Comparetti's,  so  darf  sie  wol  auf  ein 
allgemeineres  Interesse  rechnen.  In  der  That  hat  es  der  Verfasser 
verstanden,  den  scheinbar  so  entlegenen  Stoff  zu  einem  Culturbilde 
von  Bedeutung  auszudehnen,  dessen  Betrachtung  in  den  religiösen 
Kämpfen  der  Gegenwart  für  uns  Deutsche  ebenso  anziehend  als 
nützlich  sein  dürfte.  Und  hierin  liegt  zugleich  ein  anderer  Grund, 
welcher  mir  eine  Uebertragung  des  italienischen  Werkes  ins  Deutsche 
als  lohnend  erscheinen  liess.  Es  ist  ja  eine  nicht  mehr  zu  be- 
schönigende Thatsache,  dass  in  dem  grossen  Culturkampfe  gegen 
den  römischen  Geist  der  Finsterniss  und  Unfreiheit  Deutschland 
fast  allein  die  Ehre  gebührt,  den  Streit  mit  jugendlichem  Muthe 
und  männlicher  Umsicht  auszufechten,  ohne  dabei  von  seinen  politi- 
schen Freunden  imterstützt  zu  werden.  Um  so  wolthuender  muss 
es  deshalb  wirken,  wenn  wir  einen  Italiener  einmal  frei  und  rück- 
haltslos sich  äussern  hören  über  die  traurigen  Zustände,  mit  denen 
die  Herrschaft  des  Papstthums  und  des  mittelalterlichen  Clerus  die 
Menschheit  beschenkt  haben.  Erbarmungsloser  als  in  Comparetti's 
Buch  ist  das  Mittelalter  wol  freilich  nie  verdammt  worden,  und  es 
steht  dahin,  ob  das  rechte  Maass  dabei  stets  eingehalten  ist.  Was 
ferner  die  allgemeinen  Urtheile  des  Verfassers  über  das  Christenthum 
betrifft,  so  hoffe  ich,  dass  die  Mehrzahl  der  deutschen  Leser  die- 
selben ebensowenig  unterschreiben  werden,  wie  dies  jedem  Ueber- 
setzer   zu    thun   in   den    Sinn   kömmt.     In  Italien  freilich,   wo   die 


jv  Vorrede  des  Uebersetzers. 

grosse  Masse  des  Volkes  entweder  dem  Aberglauben  oder  dem  noch 
bequemeren  Skepticismus  unterliegt,  und  wo  ein  Bindeglied  zwischen 
Vernunft  und  Empfindung,  etwa  in  der  Weise  des  deutschen  Pro- 
testantismus, undenkbar  wäre,  werden  derartige  Ansichten  kaum 
auffallen,  für  deren  richtige  Beurtheilung  sich  der  Leser  also  auf 
einen  speciell  italienischen  Standpunkt  zu  stellen  hat. 

Von  Missverständnissen  des  Originals  ist,  wie  ich  hofie,  meine 
üebertragung  frei;  wenigstens  ist  bei  einigerraaassen  schwierigen 
Stellen  die  besondere  Erklärung  des  Verfassers  zu  Rathe  gezogen 
worden.  Was  endlich  die  Form  des  Buches  anlangt,  so  habe  ich 
mich  natürlich  aller  der  Freiheiten  bedient,  welche  mir  bei  einer 
deutschen  üebertragung  zum  Zwecke  der  Verständlichkeit  des  Wer-. 
kes  geboten  schien,  so  dass  dasselbe  an  einigen  Stellen  den 
Charakter  einer  freien  Bearbeitung  angenommen  hat.  Eine  wört- 
liche Verdeutschung  wäre  bei  der  stark  rhetorischen  Färbung  und 
der  füi*  uns  Deutsche  etwas  zu  künstlichen  Ausdrucksweise  des 
Originals  gar  keine  Verdeutschung  gewesen! 

Florenz,  April   1875. 

Hans  Dütschke. 


Vorrede  des  Verfassers. 


In  dem  vorliegenden  Buche  gedenke  ich  die  ganze  Geschichte 
des  Ruhmes,  den  Virgil  die  Jahrhunderte  des  Mittelalters  hindurch 
genoss,  zu  behandeln,  seine  verschiedenen  Entwickelungsstufen  dar- 
zulegen und  Natur  und  Ursachen  derselben,  so  wie  die  Beziehungen, 
welche  sie  mit  der  europäischen  Culturgeschichte  verknüpfen,  zu 
untersuchen.  Ich  unternehme  also  Etwas,  das  noch  kein  Anderer 
unternommen  hat,  wenngleich  der  Virgil  des  Mittelalters  schon 
Gegenstand  einiger  Monographieen  gewesen  ist.  Die  kleinen  Schriften 
von  Siebenhaar  (l)  und  Schwubbe  (2)  bieten  nur  einige  und  auch 
nur  allgemein  bekannte  Bemerkungen  dar.  Mit  grösserer  Gelehr- 
samkeit und  auf  einem  höheren  Standpunkte  stehend  haben  Piper  (3) 
und  Creizenach  (4)  die  eine  Seite  dieses  Ruhmss  besprochen. 
Michel  (5),  Genthe  (6)  und  Milberg  (7)  wollten  zwar  den  Stoff  in 
seiner  Gesammtheit  darstellen,  aber  widmeten  demselben  doch  ver- 
hältnissmässig  sehr  kurze  Arbeiten  und  beschränkten  sich  darauf,  ihn 


(1)  De  fabulis  quae  media  aetate  de  Public  Virgilio  Marone  circum- 
ferebantur.     Berlin,  1837.     8  Seiten. 

(2)  P.  Virgilius  per  mediam  aetatem  gratia  atque  auctoritate  floren- 
tissimus.     Paderborn,  1852.     18  Seiten. 

(3)  Virgilius    als    Theolog    und    Prophet    des    Heidenthums    in    der 
Kirche  im  „Evangel.  Kalender."     Berlin,  1862.     p.  17—82. 

(4)  „Die  Aeneis,  die  vierte  Ecloge  und  die  Pharsalia  im  Mittelalter." 
Frankfurt  a.  M.,  1864.     37  Seiten. 

(5)  „Quae  vices  quaeque  mutationes  et  Virgilium  ipsum  et  ejus  car- 
mina per  mediam  aetatem  exceperint."     Lut.  Par.  1846.     75  Seiten. 

(6)  „Leben  und  Fortlebeti    des  Publius   Virgilius  Maro   als  Dichter 
und  Zauberer."     Leipzig,  1857.     40  Seiten. 

(7)  „Memorabilia  Vergiliana."     Misenae,  1857.     3*  Seiten.  —  „Mira- 
bilia Vergiliana."    Misenae  1867.    40  Seiten. 


yj  Vorrede  dee  Verfaseers. 

nur  beiläufig  und  obenhin  in  anekdotischer  Weise  und  ohne  irgend 
welche  wissenschaftliche  Tiefe  zu  behandeln.  Das,  was  bei  dem 
Ruhme  Virgils  während  des  Mittelalters  besonders  hervorstach  und 
allgemein  auffiel,  was  femer  durch  seine  Berühmtheit  und  Eigen- 
thüralichkeit  am  meisten  anzog,  war  die  Sage  vom  Zauberer  Virgil, 
welche  von  vielen  Schriftstellern  erwähnt  ward,  die  vom  sieb- 
zehnten Jahrhundert  an  in  Schriften  und  Sammelwerken  aller  Art 
dieselbe,  wie  es  der  Zufall  mit  sich  brachte,  berichteten  und  als 
eine  Merkwürdigkeit  betrachteten,  ohne  sich  auf  eine  genauere  For- 
schung einzulassen  (l).  Der  Erste,  welcher  ihre  planmässige  Unter- 
suchung in  einem  freilich  mehr  durch  seine  Reichhaltigkeit  und 
Neuheit  der  Bemerkungen,  als  durch  Methode  und  Urtheil  aus- 
gezeichneten Werke  unternahm,  war  Du  Méril  (2).  Die  eigentlich 
richtige,  historische  Forschung  hat  auf  jene  Sage  zuerst  Roth  (3) 
angewandt,  dessen  Arbeit  ohne  Zweifel  unter  allen,  welche  bis 
jetzt  über  diesen  Gegenstand  erschienen  sind,  die  beste  und  wich- 
tigste ist. 

Aber  der  Zauberer  Virgil  bildet  nur  eine  Seite  und  Stufe  in 
der  Geschichte  von  dem  Ruhme  Virgils,  die  nicht  zu  verstehen  ist, 
wenn  man  sie  gesondert  von  den  anderen  betrachtet.  Jene  Vor- 
stellung entspringt  zwar  im  Volke,  aber  verbreitet  sich  doch  in 
der  Literatur  und  unter  den  Gelehrten,  was  nicht  möglich  gewesen 
wäre,  wenn  sie  hier  nicht  gleichartige  Bestandtheile  vorgefunden 
hätte.  Hieraus  ergibt  sich  die  Trennung  meiner  Arbeit  in  zwei 
Theile;  und  zwar  vperden  im  ersten  die  Umwandlungen,  welchen 
der  Ruhm  Virgils  in  dem  Kreise  der  überlieferten,  gelehrten  Lite- 
ratur unterlag  und  zwar  innerhalb  des  vor  der  Renaissance  liegen- 
den Zeitraumes,  der  für  die  Italiener  in  dem  Virgil  Dante's  seinen 
glänzenden  Abschluss  findet,  untersucht  werden,  während  im  zweiten 
erforscht  und  gezeigt  wird,  wie  sich  jener  Ruhm  gestaltete,  als  die 
Volkssage  in  den  neuen,   aus  der  Entwicklung    der  von  der  über- 


(1)  Unter  ihnen  zeichnen  sich  durch  die  Reichhaltigkeit  von  Be- 
merkungen aus:  Hagen,  Gesammtabenteuer,  III.  CXXIX — CXLVII  und 
Massmann,  Kaiserchronik  III,  421—460.  " 

(2)  „De  Virgile  Tenchanteur"  in  seinen  „Melanges  archeologiques  et 
litteraires."     Paris,  1850.     p.  424—478. 

(3)  „Ueber  den  Zauberer  Virgilius"  in  Pfeiffers  Germania  IV,  257 — 298. 


Vorrede  des  Verfassers.  VII 

lieferten  Kunstweise  unabhängigen  Volksliteraturen  hervorgehenden 
Gedankenkreis  eindrangen.  Für  den  ersten  Theil,  welcher  der 
wesentlichste  und  schwierigste  ist,  habe  ich  den  Boden  fast  ganz 
unvorbereitet  gefunden.  Nur  hier  und  da  und  in  geringem  Maasse 
konnte  mir  eine  Arbeit  Zapperts  (l)  von  Nutzen  sein,  in  Avelcher 
der  Verfasser  zum  grössten  Theil  mit  einer  Fülle  von  Beispielen 
eine  Thatsache  erläutern  wollte,  welche  ich  auf  eine  ganz  andere 
Art  betrachtet  und  dargestellt  habe  (2).  Empfindlich  war  für 
mich  besonders  eine  Lücke  der  Wissenschaft,  welche  sich  in  dem 
Mangel  einer  vollständigen  und  gründlichen  Geschichte  der  klassi- 
schen Studien  im  Mittelalter  zeigt.  Bei  der  Zunahme  unserer 
Kenntnisse  hat  das  Werk  von  Heeren  heute  nur  noch  eine  imter- 
geordnete  Bedeutung;  auf  keinen  Fall  genügt  dasselbe,  wenn  man 
sich  die  Vorstellung,  welche  das  Mittelalter  vom  Alterthume  und 
den  grossen  alten  Schriftstellern  hatte,  klar  machen  will.  Die  Er- 
klärer des  Dante,  welche,  was  den  Virgil  der  Divina  Commedia 
betrifft,  Gelegenheit  gehabt  hätten,  den  Euhm  des  Dichters  in  der 
mittelalterlichen  Literatur  zu  untersuchen,  begnügten  sich  gar  zu 
sehr  mit  allgemxcinen  Bemerkungen,  so  dass  ich  zu  der  aus  mehreren 
Gründen  wichtigen  Untersuchung  der  Eigenthümlichkeit  des  Dante- 
schen  Virgils  auf  einem  zwar  vor  mir  noch  nicht  betretenen,  doch 
wie  ich  vermuthe,  richtigen  Wege  vordringen  musste.  Indem  ich 
diese  Bemerkungen  mache,  möchte  ich  jedoch  nicht  missverstanden 
werden.  Ich  will  nur  sagen,  dass  ich  hier  nicht  wiederhole,  was 
schon  einmal  gethan  ist;  doch  bin  ich  weit  entfernt  davon,  die 
Verdienste  derer,  welche  auf  irgend  eine  Weise  vor  mir  eine  ähn- 
liche Arbeit  unternommen  haben;  zu  verkennen.  Obgleich  ich  die 
ganze  Behandlung  dieses  Gegenstandes  nach  einem  vollständig 
neuen  und  mir  angehörigen  Plane  entworfen  habe,  gestützt  auf 
Gedanken  und  Thatsachen,  die  sich  mir  zi;m  grössten  Theil  aus 
meinen  eigenen  Studien  und  Forschungen  ergeben  haben,  so  habe 
ich  doch  für  einige  Theile  nicht  geringen  Nutzen  aus  dem  bereits 
gesammelten   und    von   Gelehrten    durchforschten    Stoffe   geschöpft, 


(1)  „Virgils  Fortleben  im  Mittelalter."      Wien  (Ak.  d.  Wiss.),  1851. 
54  Seiten  in  Folio. 

(2)  Vgl.  S.  145  Anm.  1  und  S.  208  Anm.  2. 


YJII  Vorrede  des  Verfassers. 

welche  letztere  von  mir  einzeln  an  den  betreffenden  Stellen  genannt 
werden,  und  gegen  deren  Wissen  und  edle  Mühen  ich  auch  nicht 
im  Geringsten  ungerecht  erscheinen  möchte. 

Was  eine  streng  wissenschaftliche  Behaudhmg  dieses  Stoffes 
in  seiner  ganzen  Ausdehnung  erschwert,  und  worin  vielleicht  der 
Grund  liegt,  dass  man  denselben  bis  jetzt  nicht  behandelt  hat,  ist 
der  Umstand,  dass  ein  Gelehrter  nur  gar  zu  selten  das  Studium 
der  klassischen  nddt  dem  der  romantischen  Literatur  verbindet. 
Beide  begegnen  und  vennischen  sich  in  der  Geschichte  Virgils  im 
Mittelalter  der  Art,  dass  ein  Verständniss  jener  ganzen  Geschichte 
und  der  Beziehung  ihrer  Theile  zueinander  nicht  möglich  ist,  wenn 
man  seine  Studien  auf  die  eine  von  beiden  Literaturen  beschränkt. 
Was  meine  Richtung,  mag  man  dieselbe  glücklich  oder  unglück- 
lich nennen,  so  wie  die  sich  daraus  ergebende  Ausdehnung  meiner 
Studien  anlangt,  so  ist  es  mir  gelungen,  mit  gleicher  Liebe  diese 
beiden  Zweige  des  Wissens  zu  umfassen,  die  mir  durchaus  nicht 
so  miteinander  unvereinbar  scheinen,  wie  es  vielen  noch  heute  vor- 
kömmt. Ich  habe  sie  beide  mit  Neigung  und  Interesse  gepflegt 
und  mich  bemüht,  auf  beiden  Gebieten  über  den  einfachen  Dilettan- 
tismus hinauszugehen.  Es  schien  mir  demnach,  dass  meine  Ver- 
trautheit mit  jenen  beiden  Seiten  des  heutigen  Wissens  sich  mit 
Glück  bei  einem  Werke  dieser  Art  verwenden  Hesse,  obwol  ich 
mir  nicht  verhehlt  habe,  wie  schwer  die  Aufgabe  war.  Einen 
ersten  Abriss  veröffentlichte  ich  vor  einigen  Jahren  in  der  „Nuova 
Antologia"  (l),  wobei  der  hauptsächlichste  Theil  aber  nur  eben 
erst  entworfen  war.  Zeit  iind  weiterer  Arbeit  bedurfte  es,  um 
jenen  ersten  Abriss  des  Werkes  in  der  Form  wie  in  den  Ver- 
hältnissen der  Theile  zueinander  zu  Ende  zu  führen,  wie  dasselbe 
heute  dem  Leser  vorliegt. 

Mancher  wird  sich  darüber  wundern,  dass  mein  Buch  mehr 
liefert,  als  der  Titel  verspricht,  und  dass  ich,  anstatt  mich  auf 
das  Mittelalter  zu  beschränken,  meine  Darstellung  mit  der  Zeit 
selbst,  in  welcher  der  grosse  Dichter  lebte,  beginne.  Dazu  war 
ich    jedoch    genöthigt,    damit    man    die    Voi'stellung    des    Mittel- 


CD  Vol.   I    (1866),    p.    1—55;     IV    (1867),    p.    605-647;     V   (1867), 
p.  659-703. 


Vorrede  des  Verfassers.  IX 

alters  in  ihren  Ursachen  verstehen  und  sie  aus  dem,  was  ihr 
voraufging,  erklären  konnte.  Hiervon  habe  ich  jedoch  nur  geredet, 
so  weit  es  die  Natur  und  Ausdehnung  des  Zweckes  verlangte,  und 
für  die  dem  Mittelalter  voraufgeheuden  Jahrhunderte  nur  die 
wesentlichsten  Grundzüge  meines  Stoffes  angegeben.  Deutlicher 
und  gründlicher  hätte  ich  dabei  sein  können,  wenn  es  mir  ver- 
gönnt gewesen  wäre,  den  Gedanken  von  dem  Einflüsse,  welchen 
Virgil  in  diesen  Jahrhunderten  auf  die  literarische  Thätigkeit  aus- 
übte, weiter  zu  entwickeln;  aber  dies  hätte  mich  dazu  gebracht, 
diesem  Theile  meines  Werkes  eine  Ausdehnung  zu  geben,  wie  sie 
bei  einem  Buche,  dessen  Hauptzweck  ein  anderer  ist,  nicht  ge- 
stattet gewesen  wäre.  Eine  gründlichere  Behandlung  dieses  Stoffes 
ist  dem  vorbehalten,  welcher  die  Geschichte  des  Stils  und  der 
Sprache  des  literarischen  Lateins  während  der  Kaiserherrschaft,  so 
wie  die  der  grammatischen  Wissenschaften  bei  den  Kömern  schreiben 
wird  :  Arbeiten,  die  noch  nicht  unternommen  sind,  und  für  die  noch 
nicht  einmal  der  gesammte  Stoff  hinreichend  vorbereitet  und  be- 
arbeitet ist. 

In  der  Absicht,  mein  Buch,  was  den  Virgil  des  Mittelalters 
betrifft,  so  vollständig  wie  möglich  zu  machen,  erschien  es  mir 
nützlich  und  für  den  Leser  angenehm,  die  hauptsächlichsten  Texte 
der  Virgilsage  beizufügen^),  von  denen  einige  noch  nicht  heraus- 
gegeben waren,  die  meisten  aber  in  verschiedenartigen  xmd  nicht 
leicht  zu  beschaffenden  Werken  zerstreut  sind.  Sie  alle  publiciren 
zu  wollen,  wäre  zu  viel  gewesen.  Ich  habe  mich  auf  die  für  die 
Geschichte  der  Sage  wichtigsten  Texte  beschränkt,  welche  ich  be- 
sonders den  drei  Literaturen  entlehnt  habe,  in  denen  jene  in  her- 
vorragender Weise  zur  Darstellung  kam,  der  italienischen,  französi- 
schen und  deutschen.  Da  ich  ferner  Gelegenheit  hatte,  bei  den 
Virgilsagen  des  italienischen  Volksbuches  vom  Zauberer  Pietro  Bar- 
liario  zu  gedenken,  so  hielt  ich  es  für  zweckmässig,  am  Schlüsse 
des  Werkes  auch  dieses  Büchlein  mit  abzudrucken,  das  in  Italien 
mehr  dem  Volke  als  den  Gelehrten,  ausserhalb  Italiens  aber  voll- 
ständig unbekannt  ist. 

Der    einsichtige    Leser    wird    leicht    begreifen,     weshalb    bei 


1)  Sie  sind  in  der  vorliegenden  üebersetzung  fortgeblieben. 


^  Voiiede  des  Verfassers. 

einem  Werke  von  der  Natur  des  vorliegenden  in  einigen  Capiteln 
weniger  unmittelbar  und  bestimmt  von  Virgil  die  Rede  ist.  Durch 
Erzählung  alter  Fabeln  und  sonderbarer  Thatsachen  ergötzen  und 
überraschen  zu  wollen,  ist  nicht  der  Zweck  meines  Buches.  Was 
mir  dieses  Studium  Averth  machte  und  so  viel  Mühe  darauf  ver- 
Avenden  liess,  ist  vielmehr  jener  wichtige  Theil  von  der  Geschichte 
des  Menschengeistes,  der  sich  in  den  mannigfachen  und  zahlreichen 
Erscheinungen,  die  seinen  Stoff  ausmachen,  wiederspiegelt.  Der 
Leser  wird  bemerken,  ob  ich  mich  getäuscht  habe,  wenn  ich  meinte, 
dass  man  über  einen  solchen  Gegenstand  nachdenken  und  etwas 
Ernsteres  und  Tieferes  schreiben  kann,  als  ein  Werk,  das  blos 
gelehrte  Merkwürdigkeiten  enthält.  Ich  habe  ferner  als  Italiener 
nicht  vergessen,  dass  mein  Stoff  seiner  Natur  nach  italienisch  ist 
und  für  Italiener  Interesse  hat.  Ich  habe  in  der  That  ohne  Leiden- 
schaft geschrieben  und  mich  bemüht,  so  weit  als  möglich  sub- 
jective  Verblendung  fernzuhalten  oder  zu  beschränken.  Wenn  eine 
derartige  Empfindung  mich  doch  dazu  gebracht  haben  sollte,  zu 
irren,  so  Avürde  mir  dies  leid  thun;  ich  Avürde  dann  aber  auch  den 
allzustrengen  Richter  bitten,  sein  eigenes  Gewissen  wol  zu  be- 
fragen, ob  er  in  der  That  das  Recht  hat,  deshalb  den  ersten  Stein 
auf  mich  zu  werfen. 

Pisa,  im  Juni  1872. 

D.  Comparetti. 


Inhalt. 


^bersetzers 

Seite 
III 

erfasserd      

Erster  Theil. 

Yirgil  in  der  Literatur  bi^ 

;  auf  Dante. 

.      .          V 

Vorrede  des 


Erstes  Capitel. 

Bedeutung  der  Aeneis  für  den  Ruhm  Yirgils.  Neigung  der  Rö- 
mer zur  epischen  Poesie.  Nationale  Grundlage  der  Aeneis  und 
ihre  Beziehungen  zum  Nationalgefühl.  Der  erste  Eindruck  des 
Gedichtes 2 

Zweites  Capitel. 

Wichtigkeit  des  grammatischen,  rhetorischen  und  gelehrten 
Elementes  in  der  Aeneis  für  die  Beurtheilung  des  Dichters.  Die 
ersten  kritischen  Arbeiten  und  Urtheile  über  Virgil    ....       13 

Drittes  Capitel. 

Beweise  der  Yolksthümlichkeit  des  Dichters  iu  den  ersten  Zeiten 
der  Kaiserherrschaft.  Virgil  iu  den  Elementarschulen  und  den 
grammatikalischen  Werken 22 

Viertes  Capitel. 

Virgil  in  den  Schulen  und  Werken  der  Rhetoren.  Reactionäre 
Strömung  zu  Gunsten  der  ,, Alten",  und  Verhältniss  Virgils  zu 
denselben.  Fronto  und  die  Froutouianer.  Aulus  Gellius.  Die 
Verehrung  des  Dichters.     Sortes  Virgilianae 32 

Fünftes  Capitel. 

Die  Zeit  des  Verfalls.  Die  Berühmtheit  der  Virgilverse  und  die 
Centonen.  DieCommentatoren  Donat  undServiua.  Philosophische 
Erklärungen.  Historische  Allegorieen  in  den  Bucolica.  Virgil 
wird  als  Rhetor  betrachtet.  Rhetorischer  Commentar  des  T.  Cl. 
Douatus.  Macrobius.  Die  Idee  von  der  Allwissenheit  und  Un- 
fehlbarkeit Virgils.  Autorität  des  Dichters  für  die  Grammatik. 
Donat  und  Prisciau.  Der  Ruhm  des  Dichters  zur  Zeit  des  Zu 
sammensturzes  des  Kaiserreiches 47 


XII  Inhalt. 

Sechstes  Capitel.  Seite 

Christenthum  und  Mittelalter.  Natur  und  Grenzen  der  alten 
Schul tradition.  Virgil  als  Repräsentant  der  Grammatik.  Stellung 
der  Klassiker  dem  Christenthume  gegenüber 70 

Siebentes  Capitel. 

Virgil  als  Prophet  Christi 90 

Achtes  Capitel. 

Die  philosophische  Allegorie.  Gründe  der  allegorischen  Aus- 
legung Virgils.  Fulgentius;  Bernhard  v.  Chartres;  Johann  v. 
Salisbury;  Dante 97 

Neuntes  Capitel. 

Die  grammatischen  und  rhetorischen  Studien  im  Mittelalter  und 
ihre  Benutzung  Virgils HO 

Zehutes  Capitel. 

Schicksale  der  Virgilbiographie.  Die  literarischen  Erzählungen 
von  dem  Leben  des  Dichters  uud  ihr  Unterschied  von  der  Volks- 
sage. Poetische  Uebungen  der  Rhetoren  über  die  verschiede- 
nen Virgilthemata 123 

E  ilftes  Capitel. 

Betrachtungen  über  die  mittelalterliche  lateinische  Poesie  klassi- 
scher Form.  Geringe  Befähigung  des  Clerus  für  dieselbe.  Die 
rhythmischen  Dichtungen .     .     142 

Zwölftes  Capitel. 

Das  Ideal  des  Alterthums  bei  den  Geistlichen  des  Mittelalters. 
Stellung  Virgils  zu  demselben  und  daraus  folgende  Bedeutung 
des  Dichters  auch  für  diese  Epoche 150 

Dreizehntes  Capitel. 

Vorbereitende  Tendenzen  des  Mittelalters  für  die  Renaissancen. 
Thätigkeit  der  Laien.  Die  volksthümliche  Literatur  und  die 
Vulgärsprache.     Beziehung  Italiens  zu  dieser  Entwickelung      .     Iö7 

Vierzehntes  Capitel. 

Dante.  Sein  Charakter  und  seine  geistige  Richtung.  Seine 
Kenntniss  des  Alterthums;  seine  Berührung  dabei  mit  dem 
mittelalterlichen  Clerus  und  sein  Abstand  von  diesem.  Dante 
als  Vorläufer  der  Renaissance  und  seine  Empfindung  für  die 
klassische  Poesie.  Das  römische  Alterthum  und  das  italienische 
Nationalgefühl  bei  Dante.  Gründe,  weshalb  sich  Dante  zu 
Virgil  hingezogen  fühlt.    Der  vollendete  Stil  Dante's  und  Virgils     176 

Fünfzehntes  Capitel. 

Virgil  in  der  Divina  Comedia;  historischer  wie  symbolischer 
Grund  für  diese  Erscheinung.  Weshalb  nicht  Aristoteles  Dante's 
Führer  ist.  Der  Unterschied  des  Dante'schen  vom  mittelalter- 
lichen Virgil.  Virgil  und  das  Christenthum  bei  Dante.  Weis- 
heit und  Allwissenheit  Virgils;  sein  Charakter.  Die  Prophe- 
zeiung von  Christus  Vil-gil  uud  Statins.  Virgil  und  die  Idee 
des  Kaiserreichs 187 


Inhalt.  XIII 

Sechzehntes  Capital.  s^"« 
Virgil  im   Dolopatho3.     üebergang    von    der    überlieferten    ge- 
lehrten Vorstellung  zur  romantischen 201 


Zweiter  Theil. 

Virgil  ili  der  Volkssage. 

Erstes  Capitel. 

Die  romantische  Literatur  und  ihr  Verhältniss  zur  klassischen 
Ueberlieferung.  Das  klassische  Alterthum  wird  romantisirt. 
Der  Aeneasroman.  Noch  einmal  der  Virgil  des  Dolopathos. 
Zauberer  und  Weiser  in  den  romantischen  Compositionen.  Italien 
mid  seine  Production  in  der  Romantik.  Ursprung  der  Sage  vom 
Zauberer  Virgil  unter  den  Neapolitanern;  ihr  üebergang  in  die 
romantische  und  gelehrte  Literatur 207 

Zweites  Capitel. 

Die  Neapolitanische  Sage  im  12ten  Jahrhundert.  Konrad  von 
Querfurt.     Gervasius  von  Tilbury  und  Alexander  Neckam    .     .     220 

Drittes  Capitel. 

Natur  und  Ursprung  der  neapolitanischen  Sage.     Die  Virgilsage 

in  Monte  Vergine;  Verhältniss  zur  historischen  Ueberlieferung.     227 

Viertes  Capitel. 

Verbreitung  der  Sage  ausserhalb  Italiens.  Minnesänger  und 
Gelehrte 245 

Fünftes  Capitel. 

Die  Virgilsage  auf  Rom  bezogen.    Die  Salvatio  Romae  .     .     .     249 

Sechstes  Capitel. 

Erweiterungen  und  Veränderungen  der  Sage  im  13ten  Jahr- 
hundert; Image  du  Monde,  Roman  des  sept  sages,  Cleomadès, 
Renart  contrefait,  Gesta  Romauorum,  Jans  Enenkel     ....     255 

Siebentes  Capitel. 

Combination  des  Propheten  und  Zauberers  Virgil.  Virgil  und 
die  Sibylle  in  den  Mysterien.  Der  Prophet  Virgil  und  die  Sal- 
vatio Romae;  Roman  de  Vespasien.  Sagen  vom  Zauberbuche 
Virgils.  Philosophische  Darstellung  des  Zauberers  Virgil  in  der 
„Philosophia"  des  Pseudo- Virgil  von  Cordova.  Die  Vorstellung 
vom  Zauberer  durch  biographische  Einzelheiten  ergänzt.  Ver- 
einzelte Theile  der  Virgilsage 261 

Achtes  Capitel. 

Der  Zauberer  Virgil  und  die  Frauen.  Das  Abenteuer  von  der 
Kiste;  seine  Entstehung  und  Ausbreitung.  Die  „Bocca  della 
verità" 276 

Neuntes  Capite!. 

Der  Virgil  der  Sage  in  Neapel  und  im  übrigen  Italien.  Die 
„Cronica  di  Partenope",  Ruggiero  aus  Apulien,  Boccaccio,  Cino 
da  Pistoja,  Antonio  Pucci.      Die   Sage  in  Rorn    und  Mantua. 


XIV  Inhalt. 

Seite 
Buonamente  Aliprando.  Verhältniss  der  Sage  zur  antiken  Virgil- 
biographie 290 

Zehntes  Capitel. 

Zusammenfassende  Darstellungen  der  Sage  und  die  romantische 
Virgilbiographie.  Les  faits  merveilleux  de  Virgile.  ,,La  fleur 
des  histoires"  des  Jean  d'Outremeuse.  Die  Romauze  von  Virgil. 
Das  Verschwinden  der  Sage  aus  der  Literatur  nach  dem  16ten 
Jahrhundert;  ihr  Fortleben  in  der  mündlichen  Ueberlieferung  in 
Süditalien  bis  auf  die  Gegenwart 303 


Berichtigungen. 

S.       5  Z.  4  V.  0.  1.:  „gebannt"  f.  „gebannten". 

6  „  18  „  „  „  „besten  jener  Epen"  f.  „besten  Epen". 

6  „  22  „  „  „  „fühlte"  f.  „fühlt". 

9  „  4  „  „  „  „Geistes"  f.  „Geschmackes". 

13  „  4  „  „  „  „mag"  f.  „mögen". 

16  „  32  „  „  „  „ward"  f.  „wird". 

27  „  16  „  „  „  „und"  f.  „man". 

33  „  23  „  „  „  „Rhetoriker"  f.  „Rhethoriker", 

35  „  1  „  „  „  „Rhetoren"  f.  „Rethoren". 

37  „  6  „  „  „  „rhetorisches"  f.  „rhethorisches". 

42  „  1  „  „  „  „dieser"  f.  „diese". 

45  „  5  „  „  „  „Rhetorik"  f.  „Rhethorik". 

5U  „  11  „  „  „  „auswendig  gelernt"  f.  „gelernt". 

53  „  33  „  „  „  „zurückwies"  f.  „zurückweist". 

67  „  14  „  „  „  „welcher"  f.   „welche". 

83  „  9  „  „  „  „nur"  hinter  „nicht". 

103  „  23  „  „  „  „bellende"  f.  „beiende". 

111   „  33  „  „  „  „Aldhelm"  f.  „Aldelm". 

111  „  35  „  „  „  „Rhabanus"  f.  „Rabanus". 

112  „  31  „  „  „  „in  der  Schriftsprache  noch  überall"  f.  „überall" 
112  „  33  „  „  „  „die  Vulgärsprache"  f.  „das  vulgäre  Latein". 
114  „  .'i  „  „  „  „von  diesen"  hinter  „mau". 
171  „  15  „  „  „  „hier  beim"  f.  „beim". 
209  „  33  „  „  „  „Hessen"  f.  „Hesse". 
221  „  36  „  „  „  „Hippokrene"  f.  „Hipokrene", 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

Titynis  et  frnges  Aeneiaque  arma  legentur 
Koma  triumphati  dum  caput  orbi«  erit. 

Ovid.  Am.   I,  15,  25. 

O  anima  cortese  mantovana 

Di  cui  la  fama  ancor  nel  mondo  dura 

E  durerà  quanto  '1  mondo  lontana. 

Dante,  Inf.  2,  28. 

Virgil  ist  der  Hauptrepräsentant  jener  Dichterschule,  welche  seine 
Zeitgenossen  als  „die  neuen  Dichter"  bezeichneten  ;  und  neu  waren 
jene  Dichter  in  der  That.  wie  auch  die  Zeit,  in  der  sie  lebten.  — 

Es  war  jene  Zeit,  in  welcher  das  Neue  in  der  römischen 
Welt  allgemein  als  ein  Bedüi-fniss  empfunden  wiu-de.  Jener  Co- 
loss,  der  so  lange  und  mit  so  vernichtender  Kraft  gegen  seine 
Umgebung  an  seiner  Grösse  gearbeitet  hatte,  wollte  diese  nun 
auch  geniessen,  sein  Selbstgefühl  in  tausend  Formen  zur  Erschei- 
nung bi-ingen  und  sein  materielles  wie  geistiges  Leben  veredeln 
und  verfeinern.  Eoh  und  dürftig  erschien  ihm  das  Leben  der  re- 
publicanischen  Zeit.  Man  konnte  dasselbe  wol  bewimdern,  aber 
nicht  wieder  zurückrufen,  nachdem  Wesen  imd  Empfindung  der 
Gegenwart  sich  so  ganz  verändert  hatten.  Sieht  man  auf  die  po- 
litischen Ergebnisse,  welche  diese  Umwälzung,  dieses  Sichlosreissen 
von  der  strengen  alten  Tradition  zur  Folge  hatte,  so  lässt  sich 
wol  ein  hartes  Urtheil  fallen;  blickt  man  indessen  auf  Kimst  und 
Wissenschaft,  in  denen  jene  Eevolution  völlig  neue  Tendenzen 
hervorrief,  so  muss  man  sich  gestehen,  dass  die  künstlerischen 
Producte,  die  sie  erzeugten,  geradezu  imvergleichlich  sind,  ja,  dass 
sie  den  ei'habensten  Gi^rfelpunkt  in  der  Entwickelung  des  römischen 
Geistes  bilden.  Es  ist  uns  freilich  nicht  gestattet,  auf  den  Ursprung, 
Charaktei-  und  die  wechselnden  Schicksale  jener  neuen  Dichterschule 
einzugehen;  weder  auf  alles  das,  was  ihre  Grösse  und  ihren  Er- 
folg hervorrief,  noch  auf  die  Kämpfe ,  die  sie  mit  den  Anhängern 
der  alten  Zeit,  die  ja  in  keiner  Eevolution  fehlen,  zu  bestehen 
hatte.  Der  engeren  Aufgabe  unseres  Werkes  nach  haben  wir  es 
ausschliesslich  mit   Virgil   zu   thun,   dem    grossesten  Dichter  jener 

Com  pareti  i.  Viri^il  im  Mittelalter.  1 


Schiile  und  gi-össesteu  römisclieu  Dicliter  überhaupt.  Eine  Kritik 
seiner  Werke  wird  man  hier  nicht  erwarten,  da  unsere  Aufgabe 
nicht  die  ist,  zu  sagen,  was  Virgil  war,  sondern  vielmehr  was  er 
schien,  nicht,  wie  man  ihn  jetzt,  sondern  wie  mau  ihn  ehemals  be- 
urtheilte.  Selbstverständlich  wäre  das  nun  aber  nicht  ausführbar, 
ohne  dass  uns  dabei  als  bestimmtes  Princip  unsere  Ansicht,  die 
wir  über  den  wirklichen  Werth  Virgils  hegen,  leitete,  .eine  An- 
sicht, die  indessen  dui'chaus  nicht  so  subjectiver  Natur  ist,  dass 
man  uns  nicht  ihre  Begründung  schon  am  Anfange  des  Werkes 
erlassen  könnte.  Sei  es  denn  gestattet  —  da  doch  der  Weg  lang 
genug  ist,  auf  dem  uns  der  Leser  begleiten  soll  —  von  dem  Ein- 
druck auszugehen,  den  Virgils  Poesie,  und  vor  allem  seine  Aeneis 
auf  die  römische  Welt  machte.  Obgleich  der  ßuhm  des  Dichters 
schon  durch  seine  in  der  That  höchst  bedeutenden  „Bucolica"  und 
„Georgica"  sehr  gestiegen  war,  so  ist  doch  der  Gipfel  desselben  in 
der  Aeneis  zu  suchen,  dem  genialsten  Producte  der  römischen  Poesie, 
das  Virgil  nicht  blos  zum  ersten  sondern  auch  zum  wesentlich  na- 
tionalsten der  römischen  Dichter  stempelt.  Hierauf  also  müssen 
wir  zuerst  unseren  Blick  richten. 

Erstes  Capitel. 

Das  höchste  Ideal  des  Epos  lag  für  die  Alten  wie  für  uns 
iu  den  Gedichten  Homers:  sie  galten  dem  Dichter  bei  der  Coni- 
positiou,  wie  dem  Publicum  bei  der  Beurtheilung  als  Massstab. 
Jenes  Ideal  stand  so  hoch,  dass,  obgleich  die  Möglichkeit  ihm 
gleichzukommen  ausgeschlossen  war,  der  Dichter  trotz  seiner  In- 
fei'iorität  doch  eine  wunderbare  und  imponirende  Höhe  erreichen 
konnte.  Bei  der  Beurtheilung  Virgils  nahmen  denn  auch  die 
Römer  sofort  zu  jenen  unvermeidlichen  Vergleichen  ihre  Zuflucht; 
sie  unterschieden  zwischen  der  göttlichen,  wirklich  schafienden 
Kraft  des  Dichters  und  der  mühevollen  Arbeit  des  Nachahmers, 
sie  erkannten  in  der  That  die  Inferiorität  ihres  Dichters  gegen- 
über dem  griechischen  an,  (die  Uebertreibungen  einiger  Enthu- 
siasten bilden  doch  nur  die  Ausnahme  von  der  Regel)  ^),  aber  sie 

1)  Wie  viel  auf  Rechnung  der  Freundschaft  kommt  in  dem  Properz- 
ischen:  „Nescio  quid  maius  nascitur  Iliade",  geht  aus  desselben  AVorten 
hervor,  die  er  von  seinem  Freunde  Ponticus,  dem  Verfasser  einer  später 
völlig  vergessenen  Thebais,  gebraucht  (I,  7,  1  —  3). 

„Dum  tibi  Cadmeae  dicuntur,  Pontice,  Thebae 

armaque  fraternae  tristia  militiae, 

atque,  ita  sim  felix,  primo  conteudis  Honiero,  etc." 


Virj^'il  ili  der  Literatur  bis  auf  Danto.  M 

begriffen  auch,  dass  von  allen  Versuchen  im  Epos   in  griechischer 
wie  römischer  Sprache  der  des  Virgil  der  glücklichste  wai-. 

Dies  Urtheil,  sofern  es  sich  auf  einen  äusserlichen  Vergleich 
beider  Gedichte  beschränkte,  war  gewiss  gerecht.  Sobald  man  den- 
selben jedoch  auf  die  Natur  und  die  den  beiden  Epen  zu  Grunde  lie- 
genden Bedingungen  ausdehnte,  wurden  Homer  und  Virgil  inlhüm- 
lich  von  den  Alten,  die  doch  das  wahre  Wesen  der  Homerischeu 
Poesie  niemals  so  wie  wir  seit  Vico's  Auftreten  erkannt  haben, 
als  zwei  Individuen  augesehen,  die  mir  durch  den  Grad  ihrer  Be- 
gabung wie  durch  die  Zeit,  in  der  sie  lebten,  von  einander  ver- 
schieden seien;  man  hätte  also  nur  ungerechter  Weise  Virgil  weniger 
günstig,  als  wir  heute  im  Stande  sind,  beurtheilen  können.  Wir  unter- 
scheiden das  primitive,  nicht  von  einem  Individuum  herrührende,  wahr- 
haft künstlerische  Volksepos  von  dem  gelehrten  Kunstepos,  dem  Werke 
eines  einzelnen,  welches  nur  in  historischeu  Zeiten  vermittelst  Re- 
flexion zu  Stande  kommt;  und  wie  wir  dem  griechischen  Volksepos 
unter  allen  ähnlichen  Erzeugnissen  der  anderen  Völker  den  Preis 
zuertheilen,  so  gestehen  wir  auch  zu,  dass  unter  allen  Versuchen 
im  Kunstepos,  seien  dieselben  von  Griechen,  Römern,  Italienern 
oder  anderen  modernen  Völkern  ausgegangen,  keine  Schöpfung  wie 
die  des  Virgil  jenen  relativen  Grad  von  Vollendung  erreicht  hat. 
Nur  diese  Distinction  vermag  Virgil  seine  richtige  Stellung  zuzu- 
weisen; nur  wenn  unsere  Vergleichung  der  Aeueis  mit  der  Ilias 
dem  ungeheuren  Abstände  Rechnung  trägt,  der  zwischen  den  na- 
türlichen Grmidlagen  beider  Gedichte  besteht,  vermögen  wir  die 
luferioi-ität  Virgils  zu  erklären  oder  zu  entschuldigen,  was  bei 
den  Römern  nicht  möglich  war.  Aber  wenn  auch  der  Grad  des 
Verständnisses,  das  jener  Epoche  eigen  war,  für  den  Dichter  we-' 
uiger  günstig  sein  konnte,  als  das  der  Modernen,  so  wurde  dies 
doch  reichlich  aufgewogen  durch  die  Sympathie,  die  zwischen  jenem 
Gedichte  und  den  Gefühlen  und  Bedürfuissen  des  Volkes,  für  wel- 
ches dasselbe  geschrieheu  war,  bestand.  Man  hat  vielfach  gesagt, 
dass  das  Virgilische  Epos  der  Nationaleitelkeit  Nahrung  gab  und 
deshalb  so  beifällig  aufgenommen  sei;  allein  dieser  etwas  triviale 
Gedanke  darf  doch,  auch  wenn  er  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
wahr  ist,  nicht  so  aufgefasst  werden,  wie  er  gewöhnlich  klingt. 
Das  römische  Volk,  oder  richtiger  die  römische  Welt  bildet  eine 
durch  ihre  Natur,  ihr  Leben  und  ihre  Zusammensetzung  so  einzig 
dastehende  Individualität,  dass  man  sie  nur  aus  Unverstand  nach 
denselben  Normen,  nach  denen  man  ein  anderes  Volk  abschätzt, 
beurtheilt.      Sie     ist    ein     par    excelleuce     historisches    Wesen;    ihr 

1* 


4  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

Leben  eine  fortwährende  Expansion  von  den  kleinsten  bis  zu 
den  riesenhaftesten  Proportionen  und  zwar  unter  dem  Zwange  eines 
gleichsam  unberechenbaren,  unwiderstehlichen  Impulses,  der  sich 
schon  im  ersten  Momente  seiner  Entstehung,  in  dem  historischen 
Factum  der  Gründung  Koms  offenbart.  Diese  ferne  Grenze  der 
nationalen  Erinnerungen  ist  der  Keim  fortwährender  Vergrösse- 
rung  des  Volkes  und  hängt  so  eng  mit  der  Natur  des  sich  weiter 
entwickelnden  nationalen  Lebens  zusammen,  dass  selbst  die  Fabel 
seines  Ursprungs  wie  anderer  darauf  folgender  Begebenheiten  so- 
gleich einen  politisch-praktischen  Charakter  annimmt^).  Die  Er- 
innerung an  ein  der  politischen  Thätigkeit  ganz  fernstehendes  he- 
roisches Zeitalter,  in  welchen;  die  nationalen  Elemente  zersplittert 
bleiben  und  sich  nicht  zu  dem  einzigen  Zwecke,  welcher  in  der 
Zukunft  der  Nation  besteht,  vereinigen,  ist  bei  den  Römern  nicht 
vorhanden.  Der  kleine  latinische  Stamm,  aus  dessen  Schooss  jener 
Keim  zur  Grösse  heranwuchs,  wurde  freilich  nicht  vergessen;  aber 
zwischen  ihm  und  Rom  blieben  doch  deutlich  alle  jene  Differenzen 
bestehen,  welche  in  zwei  verwandten  aber  verschiedenen  Individua- 
litäten Mutter  und  Tochter  bezeichneten. 

Dieses  historische  Wesen,  das  vom  Momente  seiner  Entstehung 
an  das  Bewusstsein  seiner  Mission  in  sich  hatte,  dessen  Thätigkeit 
stets  auf  ein  reelles  und  bestimmtes  Ziel  los  steuerte,  das  sich 
selbst  und  der  eigenen  Energie  Erfolg  und  Grösse  verdankte, 
musste  natürlich  auch  in  der  Betrachtung  seiner  selbst  eine  mäch- 
tige poetische  Inspiration  finden.  Es  existirte,  so  zu  sagen  eine  ganz 


1)  Die  deutschen  Gelehrten  begehen  oft  einen  grossen  Irrthum,  wenn 
sie  die  Ideen  und  Gefühle  des  römischen  Volkes,  das  sich  auf  eine 
Stadt  concentrirte  und  sein  Bestehen  „ab  urbe  condita"  berechnete,  nach 
denselben  Grundsätzen  wie  das  griechische  beurtheilen,  und  die  hellenische 
Nation  dabei  nicht  ausser  Augen  lassen  können.  Die  römische  Sage 
konnte  nicht  weit  aus  jenem  Gebiete  der  v-ztcsig  tiÖIscov  herausschreiten, 
die  unter  den  Griechen  natürlich  nicht  den  Hauptbestandtheil  des  natio- 
nalen SagenstofFes  bildeten.  Wenn  aber  die  Phantasie  der  Römer,  in 
Betreff  der  Vergangenheit  des  Volkes,  wie  uothwendig,  ihre  politische 
und  praktische  Tendenz  offenbart,  so  entbehrt  sie  darum  doch  nicht  der 
Poesie.  Um  so  überraschender  sind  die  Worte  eine«  gewiss  nicht  der 
Parteilichkeit  für  die  Römer  überwiesenen  Mannes,  der  einen  Aufsatz  über 
die  Erzählung  von  Coriolan  also  beschliesst:  ,,Wer  in  diesen  Erzählungen 
nach  einem  sogenannten  geschichtlichen  Kern  sucht,  wird  allerdings  die 
Xuss  taub  finden:  aber  von  der  Grösse  und  dem  Schwung  der  Zeit  zeugt 
die  Gewalt  und  der  Adel  dieser  Dichtungen,  insbesondere  derjenigen  von 
Coriolan,  die  nicht  erst  Shakespeare  geschaffen  hat."  Mommsen,  im 
Hermes,  IV,  p.  26. 


Virgil  ili  der  Litoralur  bis  auf  Dante.  5 

besondere  Empfindung,  die  wir  als  die  „historische"  bezeichnen  können, 
weil  sie  aus  jener  Idee  von  einer  grandiosen  geschichtlichen  Thätigkeit 
hervorging,  eine  Empfindung,  die  nicht  in  die  Grenzen  einer  einzigen 
Nation  gebannten,  sondern  den  verschiedensten  Stämmen  eigen  war,  die 
Kom  sich  zu  unterwerfen  und  zu  assimiliren  verstanden  hatte,  die  sich 
aber  unterschied  von  dem  Nationalgefühl,  das  jedes  Volk  in  abstracto 
für  sich  hat,  und  sogar  die  römische  Herrschaft  selbst  überlebte.  Eben 
sie  flösste  den  Herrschern  wie  den  Beherrschten  die  gleiche  Begeiste- 
rung ein,  i;nd  unter  all  den  Formen,  in  denen  sie  z.  B.  in  der 
Literatur  zum  Ausdruck  gelangt  ist,  findet  sich  kein  Unterschied, 
mögen  die  Schriftsteller  Römer,  Griechen,  Etrusker,  Gallier,  Iberer 
oder  Africaner  sein.^) 

Man  begreift  also,  dass  die  Kömer  eine  natürliche  Hinneigung 
zum  historischeu  Heldengedicht  haben  mussten,  und  der  Beweis 
dafür  liegt  in  der  Menge  ihrer  historischen  Epen  von  Naevius  bis 
auf  Claudian'^),  einer  Thatsache,  der  man  nichts  ähnliches  aus  der 
griechischen  Literatur  zur  Seite  setzen  kann.  Aber  eben  dies  Ge- 
fühl, welches  die  ganze  römische  Welt  erfüllte,  und  welches  der 
äusseren  Gestaltung  bedurfte,  konnte  doch  seiner  Natur  nach  nur 
schwer  in  der  epischen  Form  zum  Ausdruck  kommen.  Es  scheint 
zwar,  als  ob  eine  derartige  Empfindung  ganz  von  selbst  zum  Epos 
hindrängen  müsse;  so  oft  man  jedoch  nach  einem  Stoffe  suchte, 
um  demselben  eine  concrete  und  adäquate  Form  zu  geben,  bot 
sich  dem  Dichter  die  Geschichte  als  Grundlage,  und  zwar  als  eine 
sehr  nachtheilige,  dafür  dar;  denn  mit  der  geschichtlichen  Begeben- 
heit, wenn  sie  sich  als  solche  dem  Geiste  darstellen  soll,  ist  dem 
Epos  in  keiner  AVeise  gedient.  Dazu  müsste  sie  erst  wieder 
„epische  Begebenheit"  werden.  Das  erfordert  aber  die  Thätigkeit 
der  Fantasie  nicht  eines  einzelnen,  sondern  eines  jugendlichen  Volkes; 
der  Geist  eines  historisch  reifen  Volkes  ist  nicht  mehr  fähig  dazu. 
Zur  Lösung  dieses  schwierigen  Pi'oblems  hatten  die  Griechen  selbst 
nichts  beigetragen,  weil  sich  ihnen,  deren  Charakter  von  Haus 
aus   ein    anderer    war,     ein    solches    Problem    niemals   dargeboten 


1)  Vgl.  die  vielen  Stellen,  in  denen  diese  Begeisterung  Ausdrack  ündet 
bei  Lasaulx,  Zur  Philosophie  der  römischen  Geschichte,  p.  6  ff., 
wozu  sich  noch  manche  andere  fügen  Hessen^,  abgesehen  von  der  speciellen 
Tendenz  vieler  Schriftsteller,  wie  z.  B.  des  Livius,  der,  man  mag  ihn 
mit  welchem  Griechen  man  will  vergleichen  (obgleich  sich  unter  diesen 
nichts  seinem  Werk  ähnliches  findet)  der  schlagendste  Beweis  für  unsere 
Behauptung  ist. 

2)  Vgl.  die  Aufzählung  bei  Teuffei,  Gesch.  d.  röm.  Lit.  p.  27. 


f,  Viigil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

hatte.  Ihr  bckanutester  Versuch  im  historischen  Epos  war  in  der 
klassischen  Zeit  das  Gedicht  des  Choirilos  von  Samos  über  den  Perser- 
krieg, ein  zwar  ruhmvolles  Ereigniss,  das  aber  doch  nur  einen 
Zwischenfall  im  Leben  der  Nation  bildet  und  keineswegs  das 
"Wesen  dieser  selbst  zur  Darstellung  brachte,  weshalb  denn  das 
Gedicht  auch  nur  einen  vorübergehenden  politischen  Erfolg  hatte. 
Das  griechische  Nationalgefühl  hatte  sich  in  der  Poesie  bereits  viel 
leuchtender  und  in  viel  geeigneterer  Form  dargestellt.  Nun  aber 
war  das  Natioualgefühl  der  Römer  so  stark  und  kräftig,  ihr 
Charakter  als  historisches  Volk  so  prouoncirt,  dass  ihre  historischen 
Epen  nicht  allein  zahlreicher  als  die  anderer  Völker  Avaren,  son- 
dern auch  mehr  Erfolg  hatten  als  man  selbst  von  den  besten  der 
Gattung  hätte  erwarten  können,  wenn  nämlich  die  natürliche 
Kälte  derselben  nicht  als  Gegengewicht  so  viel  ^\'änue  dos  Ge- 
fühls gefunden  hätte,  welches  zu  erregen  eben  der  Zweck  des 
Epos  war,  und  worin  es  selbst  seinen  Grund  hatte.  In  der  mo- 
dernen Zeit,  wo  dieses  Gefühl  nicht  mehr  vorhanden  ist,  bleiben 
auch  die  besten  Epen  wirkungslos.  Obgleich  nun  aber  zwar  so- 
wol  das  historische  Epos  wie  jene  Gedichte,  welche  in  einer  etwas 
sonderbaren  Weise  Sage  und  Geschichte  mit  einander  verschmolzen 
(wie  z.  B.  die  Epen  des  Ennius  und  Naevius),  einen  relativen  Er- 
folg hatten,  so  fühlt  sich  doch  das  nationale  Bedürfniss,  theils  aus 
formalen  Gründen  theils  in  Folge  des  wenig  poetischen  Stoffes  dabei 
nicht  völlig  befriedigt.  Die  Lösung  dieses  schwierigen  und  verwickelten 
Problems  ist  daher  gerade  ein  Hauptverdieust  Virgils  und  eine  der 
Hauptursachen  für  die  Begeisterung,  welche  sein  Epos  erweckte,  und 
Avelche  andauerte,  so  lange  sich  jenes  Gefühl  lebendig  erhielt,  dessen 
treuestes,  edelstes  und  vollständigstes  künstlerisches  Abbild  eben  die 
Aeneis  war.  Der  nationale  Zweck,  den  Virgil  wie  andere  augusteische 
Dichter  verfolgte,  ist  nicht  zu  bezweifeln;  er  erscheint  aber  nicht 
blos  als  die  Wirkung  eines  unbewussten,  instinctiveu  Dranges,  wie 
bei  so  vielen  anderen  römischen  Schriftstellern,  sondern  ist  so- 
gar oft  mit  künstlerischem  Bewusstsein  erstrebt.  Virgil  dachte 
nicht  daran  ein  Epos  von  blos  literarischem  oder  gelehrtem  Cha- 
rakter abzufassen  in  der  Art  der  Alexandi'iner,  und  er  griff  daher 
nicht  wie  andere  vor  und  nach  ihm  zu  einem  Thema  aus  der 
reichen  griechischen  Sage,  wie  der  kleinen  Ilias,  der  Thebais,  der 
Achilleis  oder  andeni  Stoffen,  denen  jeder  nationale  Werth  für  die 
Römer  abging.  Geleitet  von  einem  für  einen  Epiker  jener  Zeit 
bewunderungswürdigen,  künstlerischen  Instinct,  vermied  er  glück- 
lich alle  historischen  Stoffe,   welche   andere  Dichter   und  auch  ihn 


Virgil  in  der  Litoratm-  bis  auf  Dante.  7 

zuallererst  angelockt  hatten ,  und  entschied  sich  unter  den  da- 
uials  bei  den  Römern  bekannteren  für  den  einen,  in  welchem  sich 
jener  ideale  heroische  Charakter,  das  unabweisbare  Erforderniss 
für  ein  Epos  mit  einem  wenn  auch  nicht  dem  Ursprünge,  so  doch 
der  Bedeutung  nach  nationalen  Charakter  vereinigte^).  Wie  er 
durch  die  Kraft  seines  Genies  dahingelangte,  indem  er  nach  und 
nach  den  ersten  Entwurf  seines  Werkes  modificirte,  erhellt  aus 
manchen  Anzeichen  mit  völliger  Klarheit  und  darf,  wenn  man  den 
Dichter  billig  bcurtheilen  will,  nicht  übergangen  werden.  Aus  den 
genannten  allgemeinen  Gründen  bot  auch  ihm  sich  zuerst  die  Idee  eines 
Stoffes  aus  der  latinischen  oder  römischen  Geschichte  für  ein  National- 
gedicht dar.  Noch  bevor  er  die  Bucolica  schrieb,  hatte  er  an  ein  Ge- 
dicht über  die  albanischen  Könige  gedacht;  diese  Idee  gab  er  je- 
doch schnell  auf,  wie  seine  Biographie  sagt:  „offensus  materia"^). 
Erst  später,  als  er  schon  in  Beziehung  zu  Augustus  getreten  war, 
nahm  er  alles  Ernstes  den  Plan  eines  Gedichtes  wieder  auf,  und 
abermals  stellte  sich  seinem  Geist  ein  historischer  Stoff  dar.  Die 
Grossartigkeit  der  Zeitereignisse  und  die  Freundschaft  des  Fürsten, 
der  bei  jenen  eine  so  hervorragende  Rolle  spielte,  lenkte  seine 
Wahl  ganz  natürlich  auf  ein  Thema  wie  die  Thaten  des  Octavian'"'). 
Dass  er  wirklich  vorhatte,  diesen  Stoff  zu  bearbeiten,  erklärte  er 
selbst,  als  er  im  Jahre  29  dem  aus  Asien ^)  zurückgekehrten  Au- 
gustus in  Atella^)  seine  Georgica  vortrug.  Von  diesem  Jahre  aus- 
gehend kam  er,  den  ersten  Entwurf  den  künstlerischen  Zwecken 
gemäss  modificirend,  endlich  im  Laufe  von  elf  Jahren  (vom  Jahre 
29  V.  Chr.  bis   zu  seinem  Tode)   bei   der  Composition   der   Aeneis 


1)  „Novissimum  Aeneidem  inchoavit,  argumentum  varium  et  multi- 
plex, et  quasi  amborum  Homeri  carminum  instar,  praeterea  nominibus 
ac  rebus  graecis  latinisque  commune,  et  in  quo,  quod  maxime  stude- 
bat,  romanae  simul  m-biä  et  Augusti  erigo  contineretur."  Douat.  Vit. 
Vergil.  (bei  ReifFerscheid,  Svetonii  praeter  Caesarum  libros  reliquiac, 
Lips.  1860)  p.  59.  [Die  Citate  der  dem  Donat  beigelegten  Virgilbio 
graphie  beziehen  sich  stet.s  auf  die  genannte  Ausgabe]. 

2)  Donat.  Vit.  Vergil.  p.  58.  Serv.  ad.  Bucol.  VI,  3. 

3)  Dies  -war  der  erste  Plan  und  Zweck  der  Aeneis,  und  so  erklärt 
sich  auch  die  Notiz  des  Servius  (p.  2.  ed.  Lion)  „postea  ab  Augusto 
Aeneidem  propositam  scripsit." 

4)  „Mox  tarnen  ardentis  accingar  dicere  pugnas 
Caesaris  et  nomen  fama  tot  ferre  per  annos, 
Tithoni  prima  quot  abest  ab  origine  Caesar." 

Georg,  ili,  46. 
.5)  Donat.  Vit.  Vergil.  p.  61. 


8  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

an.  Im  Jahre  26  kannte  schon  Properz  einige  Theile  des  Epos 
und  sprach  mit  gi'osser  Begeisterung  davon,  allein  er  erging  sich 
noch  weit  mehr  in  dem  Lobe  der  Bucolica  und  Georgica,  welchen 
der  Dichter  bis  zur  Zeit  seinen  grössten  Ruhm  verdankte.  Aus 
den  Worten  des  Properz,  wie  auch  aus  dem  damals  an  Augustus  ') 
gerichteten  Briefe  des  Dichters  geht  hervor"),  dass  die  zu  jener 
Zeit  vollendeten  Partieen  auch  später  in  der  Aeueis  erhalten  blieben 
dass  aber  Virgil  noch  an  dem  Gedanken  festhielt,  sein  Gedicht  von 
Aeneas  bis  auf  Augustus  fortzuführen.  Der  künstlerische  Tact 
verbot  ihm  jedoch  schliesslich  jeden  Gedanken  an  eine  Erzählung 
rein  historischer  Thatsachen  und  Personen,  und  diese  wurden  nur  vor- 
übergehend und  gelegentlich  aus  künstlerischen  Gründen  ange- 
bracht; der  wirklich  heroische  und  poetische  Charakter  der  Ereig- 
nisse, welche  die  Hauptgrundlage  des  Gedichtes  bilden,  blieb  unan- 
getastet. Der  Werth  dieses  Verfahrens  entging  den  alten  Kritikern 
nicht,  welche  wol  darzulegen  wussten,  wie  tief  in  dieser  Beziehung 
Lucan  unter  Virgil  stand ^).  Und  so  zeigt  uns  die  Entstehungs- 
geschichte der  Aeneis  auf  das  deutlichste,  wie  sehr  Virgil  durch 
seinen  Stoff  wie  seine  künstlei-ische  Empfindung  den  besten  Dich- 
tern seiner  Epoche  überlegen  war,  einer  Epoche,  die  nach  der 
Entstehung  der  grossen  griechischen  Schöpfungen  als  die  glän- 
zendste in  der  Kunstgeschichte  überhaupt  bezeichnet  Averden  muss. 
Die  moderne  Kritik  hat  mit  Recht  gewisse  veraltete  Ideen 
über  historischen  Werth  und  Ursprung  der  Aeneassage  abgewiesen^): 
sie  wird  aber  niemals  im  Stande  sein,  jene  Thatsache  wegzudis- 
putiren,  dass  diese  Sage  schon  seit  dem  ersten  puuischen  Kriege 
den  Römern  geläufig  war,  und  dass  sie,  durch  die  Behandlung  der 
Dichter,  Geschichtsschreiber,  durch  Theater,  bildende  Kunst,  Cultus 


1)  „De  Aenea  quidam  meo  etc."  bei  Macrobius,  Sat.  I,  24,  11. 

2)  Actia  Vergilium  custodis  litora  Phoebi 
Caesaris  et  fortes  dicere  posse  rates, 
qui  nunc  Aeneae  Troiaui  suscitat  amia 
jactaque  Lavinis  moenia  litoribus. 
cedite  Romani  scriptores,  cedite  Orai  : 
nescio  quid  maius  nascitur  Iliade." 

Properz.  III,  34,  (U  — 66. 

3)  „Hoc  loco  per  transitum  tangit  historiam  quam   per  legem   artis 

poeticae  aperte  non  potest  ponere Lucanus  namque  ideo   in   numero 

poetarum  esse  non  meruit  quia  videtur  historiam  composuisse  non 
poema."  Serv.  ad  Aen.  I,  382;  vgl.  Martial  XIV,  194.  Pronto  p.  125. 
Quintil.  X,  1,  90. 

4)  Vgl.    Schwegler,    Rom.    Gesch.  I,    p.    279   ff.;   Preller,   Rom. 
Mythol.  p.  660  ff'. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dautc.  9 

und  die  politiachen  x\cte  des  Staates  selbst  volksthümlich  geworden, 
/AU-  Zeit  Virgils  die  Bedeutung  einer  Nationalsage  erhalten  hatte, 
die  allen  Römern  sympathisch  war  und  völlig  mit  der  Poesie  des 
römischen  Geschmackes  im  Einklang  stand  ^).  Freilich,  wenn  es 
sich  um  die  Composition  eines  Epos  von  dem  Charakter  des  Ho- 
merischen gehandelt  hätte,  würde  auch  jene  Sage  mit  ihren' ganz 
heterogenen  Bestaudtheilen  und  Charakteren  schlecht  dazu  gepasst 
haben  ;  aber  das ,  was  das  Virgilische  Epos  auszudrücken  hatte, 
war  seiner  Natur  nach  ganz  von  dem  Homerischen  Epos  verschieden, 
und  eben  deshalb  waren  die  immerhin  dem  Stoffe  anhaftenden 
Mängel  weit  weniger  bemerkbar.  Homer  bewegt  sich  in  einer 
ganz  idealen  Atmosphäre;  er  kann  seinen  Blick  noch  nicht  auf  die 


1)  Niebuhr  (Rom.  Gesch.  1,  206  ff.)  irrt  völlig,  wenn  er  meint,  dass 
Virgil  sein  Gedicht  den  Flammen  preis  gegeben  habe,  in  der  Meinung, 
es  mangle  demselben  die  nationale  Basis.  Eine  solche  Idee  konnte  Virgil 
niemals  beikommen  ;  dass  sie  absurd  gewesen  wäre,  beweist  schon  der  un- 
geheure Erfolg  der  Aeneis,  die  dem  römischen  Geschmacke  nichts  we- 
niger als  fremd  war.  Es  ist  bekannt,  dass  auch  sein  Zeitgenosse  und 
Bewunderer  Livius  mit  der  Aeneassage  sein  Geschichtswerk  beginnt,  das, 
wie  kein  anderes,  vom  lebendigsten  römischen  Nationalgefühl  getragen 
ist.  Seine  Anschauungsweise  und  die  Stellung  die  er  bei  der  Erzählung 
jener  Sagen  einnimmt  erklärt  er  selbst  in  seinem  Prooemium  in  einer 
Weise,  die  an  Klarheit  nichts  zu  wünschen  übrig  lässt,  mit  jenen  herr- 
lichen, so  oft  citirten  Worten:  „Et  si  cui  popolo  licere  oportet  consecrare 
origiues  suas  et  ad  Deos  referre  auctores,  ea  belli  gloria  est  populo  ro- 
mano etc.  etc."  Wie  die  Aeneassage  mit  dem  Geist,  welcher  die  anderen 
römischen  Ueberlieferungen  durchweht,  im  Einklang  steht,  ersehen  wir 
aus  der  Lyrik  des  Horaz,  wo  dieser  (B.  IV,  4,  53  ff.)  den  Hannibal 
sagen  lässt: 

„Gens  quae  cremata  fortis  ab  Ilio 

Jactata  Tuscis  aequoribus  sacra 

Natosque  maturosque  patres 

Pertulit  Ausonias  ad  urbes, 

Duris  ut  ilex,  etc.  etc.'' 
Die  Aeneis  war  kaum  erschienen,  als  Horaz  dies  schrieb  (Die  Oden 
des  vierten  Buches  wurden,  wie  man  meist  annimmt,  18  v.  Chr.  heraus- 
gegeben). Die  Sympathie  des  Kaisers  für  Troja,  als  die  den  Römern  und 
der  gens  Julia  heilige  Stadt,  ist  lebendig  dargestellt  in  der  bekannten  Rede 
der  Juno  unter  den  Göttern,  die  sich  in  der  3.  Ode  des  3.  Buches,  das 
gewiss  älter  ist  als  die  Aeneis,  findet. 

In  all  diesem  und  ähnlichem  Rhetorik  und  Schmeichelei  sehen  zu 
wollen,  die  berechtigte  Existenz  dieses  Gefühls,  dem  die  Grösse  des 
Reiches  wie  seine  Geschichte  so  völlig  entsprach,  nicht  anerkennen  zu 
wollen,  heisst  doch,  die  Sache  sich  ziemlich  leicht  machen  und  Wahr- 
heit und  wissenschaftliche  Gewissenhaftigkeit  paradoxen  Tendenzen  und 
eingebildeten  Vorurtheilen  aufopfern. 


ID  Viigil  i.i  der  LiUratiir  l.is  auf  Datitc. 

Geschichte  lenken,  die  erst  mehrere  Jahrhunderte  nach  ihm  l»e- 
giniit.  Die  natürlichen  Schranken  und  Verhältnisse  der  mensch- 
lichen Natur  und  Thätigkeit  stehen  seinem  Geiste  noch  so  fern, 
dass  er  höchst  selten  und  nur  im  Gleichnisse  an  die  ärmliche 
Natur  des  wahren  und  leibhaftigen  Menschen  erinnert  (oloc  vvv 
ßqoxoi  elaiv);  Kind  einer  ausserhistorischen  Zeit,  ist  er  der  Inter- 
pret eines  nationalen  Ideals,  welches  schon  ausschliesslich  und  an 
sich  poetisch  ist.  Der  lateinische  Dichter  hingegen,  der  in  der 
Epoche  der  höchsten  historischen  Entwickelung  seiner  Nation  lebte, 
musste,  wenn  er  bei  der  idealen  Umgebimg,  die  das  Epos  verlangt, 
bleiben  wollte,  als  einziges  Ziel  die  Geschichte  ins  Auge  fassen, 
in  welcher  ja  eben  jenes  universelle  Gefühl  wurzelte,  welches  da- 
mals seine  stärkste  Intensität  erreicht  hatte  und  mehr  als  je  einer 
grossai'tigen  Entfaltung  bedurfte^).  Indem  sich  der  Dichter  dieser 
seiner  Pflicht  bewusst  war  und  bei  der  Ausübung  derselben  von 
der  ganzen  ihm  eigenen  Genialität  unterstützt  wurde'^),  brachte  er 
sein  Gedicht  im  Stoff  und  in  der  Form  der  römischen  Geschichte 
so  nahe,  dass  man  es  eine  Vorstufe  zu  dieser  nennen  kann  und 
zugleich  eine  poetische  Wiedergabe  des  Eindrucks,  den  die  Ge- 
schichte im  Geiste  aller  derer  hinterliess,  welche  sich  mit  ihr  be- 
schäftigten'^). Und  wie  es  immer  geschieht,  wenn  die  hmgersehnte 


1)  Der  Titel  des  Gedichtes  soll  nach  einigen  zuerst  nicht  „Aeneis" 
sondern  „Thaten  des  römischen  Volkes"  gelautet  haben:  „unde  etiam  in 
antiquis  invenimus  opus  hoc  appellatum  esse  non  A  enei  dem  sed  Gesta 
populi  Romani;  quod  ideo  mutatura  est,  quod  nomen  non  a  parte  sed 
a  toto  debet  dari."  Servius  zur  Aen.  VI,  752. 

2)  Unmöglich  ernst  gemeint  kann  die  von  einigen  modernen  Kri- 
tikern (s.  unter  anderen  Teuffei,  Gesch.  d.  röm.  Lit.  p.  39)  ausge- 
sprochene Ansicht  sein,  als  sei  die  weiche  und  sanfte  Natur  Virgils  für 
das  Epos  nicht  geeignet  gewesen.  Man  nenne  mir  doch  den  Epiker  von 
derselben  Kategorie,  zu  der  Virgil  gehört,  den  man  wirklich  für  das  Epos 
geschatfen  erklären  kann.  Etwa  den  platonischen  Tasso,  den  frommen 
Milton  oder  den  mystischen  Klopstock V  Unter  so  vielen,  durch  Natio- 
nalität und  Charakter  so  verschiedenen  Dichtern,  hat  der  weiche  Virgil 
allein  das  beste  Gedicht  in  seiner  Art  geschaften,  während  der  viel- 
seitige Titane  Goethe  als  er  ein  heroisches  Epos  dichten  wollte,  es  nur 
bis  zu  einer  so  unvollkommenen  Schöpfung  wie  die  Achilleis  bringen 
konnte  ! 

3)  „Qui  bene  coneiderat  inveniet  omnem  romanam  historiam  ab 
Aeneae  adventu  usque  ad  sua  tempora  summatim  celebrasse  Vü-gilium, 
quod  ideo  latet  quia  confusus  est  ordo  :  nam  eversio  Ilii  et  Aeneae  errores 
adventus  bellumque  manifesta  sunt:  Albanos  autem  reges,  romanos 
etiam  consules,  Brutos,  Catonem,  Caesarem  Augustum  et  multa  ad  histo- 
riam romanam  pertinentia  hie  indicat  locus^  caetera  quae  hie  intermissa 


Virgil  iu  der  Literatur  bi.i  auf  Dante.  H 

Formel  aufgefunden  ist,  welche  das  ganz  ausdrückt,  was  allen  un- 
hewusst  im  Herzen  lag,  so  ward  auch  die  Aeneis  mit  dem  allge- 
meinsten Enthusiasmus  von  der  römischen  Welt  aufgenommen. 

Es  ist  wunderbar  zu  sehen,  mit  welchem  Interesse  sich  alle 
(rebildeten  über  den  Fortgang  des  grossen  Gedichtes  inforrairten, 
und  welchen  sichtbaren  Einfluss  dasselbe  von  Anfang  an  auf  die 
lateinische  Literatur  ausübte.  Während  der  Dichter  an  der  Ab- 
fassung des  Epos  arbeitete,  beschäftigten  sich  Augustus,  Maecenas 
und  die  ganze  sie  umgebende  Schaar  von  Freunden,  Hofleuten, 
Dilettanten,  Dichtern  und  Ehetoren  mehr  oder  weniger  eifrig  mit 
dem  Fortgang  der  Composition,  welche  zum  grossen  Theil  nach 
imd  nach  vom  Autor  in  diesen  Kreisen  vorgetragen  wurde.  Bei 
des  Dichters  Tode  war  sein  Werk  nur  auf  diese  Weise  in  die 
Deflentlichkeit  gedrungen,  obwol  kein  Theil  desselben  zu  der  Vollen- 
dung herangereift  war,  die  der  Verfasser  erstrebt  hatte.  Aber  ein 
grosses  Publikum  war  von  der  Existenz  des  Epos  unterrichtet,  und 
gross  war,  in  Folge  der  durch  die  Recitation  im  Freundeskreis  be- 
kannt gewordenen  Stücke,  die  allgemeine  Erwartung.  Die  Publi- 
cation  erfolgte  durch  die  beiden  Freunde  Virgil s,  Varius  und 
Tucca,  denen  seine  Schiiften  vermacht  waren,  und  welchen  Au- 
gustus jenes  delicate  Amt  übertragen  hatte.  Wie  viel  Zeit  sie  auf 
die  Vorbereitung  zur  Veröffentlichung  gebraucht  haben,  wissen  wir 
nicht,  sie  konnte  wol  nur  eine  kurze  sein.  Der  Eindx-uck,  den  das 
Gedacht  machte,  war  überall  tief  und  äusserst  lebendig.  Alle 
erkannten  darin  das  grösste  Werk  der  lateinischen  Poesie^),  und 
durch  eben  dasselbe  wui-de  Vii-gil  für  die  Römer,  wie  ihn  später 
Vellejus  nannte,  „der  Fürst  der  Gesänge')"".  Das  Studium  des 
Vii-gil  und  seiner  Phraseologie  erkennt  man  schon  in  seinem  grossen 
Zeitgenossen  Titus  Livius,  bei  dem  sich  deutliche  Reminiscenzen 
von    Phrasen    aus    der    Aeneis    vorfinden^).      Besonders    reich    an 


sunt  iu   àaniòonouu   commemorat."    (Serviiis   zur    Aen.   VI,   752.    Vgl. 
auch  Probus  zu  Geor-if.  III,  46,  p.  58  f.  Keil). 

1)  Ovid  ist  für  uns  der  älteste  Gewährsmann    der  dies  ausdrücklich 
ausspricht: 

,,Et  profugam  Aenean^  altaeque  primordia  Romae, 
quo  nullura  Latio  clarior  extat  opus." 

Ars  amator.  III,  3o7. 

2)  „Inter  quae  (ingenia)  maxime  nostri  aevi   eminet  princep^^  carnd- 
num  Vergilius,  Kabirius  etc."  Veli.  Patere.  II,  37. 

3)  Vgl.  Wölfflin  im  Philologus,  XXVI,  p.  130. 


\'2  Virgil  in  der  Littrahir  bis  auf  I»aute. 

bolcheu  Reunuisceuzeii  zeigt  öicli  aber  Ovid^),  der  bei  dem  Tode 
des  gi-osseu  Dichters  24  Jahre  alt  war  und  diesen  nur  von  An- 
sehen gekannt  hatte").  Und  dabei  darf  man  nicht  vergessen,  dass 
sich  für  Livius  und  Ovid  dies  nicht  aus  dem  Gebrauche  des  Virgil 
in  der  Schule  erklärt,  wie  es  sj^äter  für  so  viele  andere  lateinische 
Dichter  und  Prosaiker  anzunehmen  ist.  Aus  den  Erinnerungen  des 
älteren  Seneca^)  sehen  wir  gleichfalls  deutlich,  dass  iu  dem  ersten 
Jahrzehend  nach  des  Dichters  Tode  die  Aeneis  keinem  fremd  war, 
und  man  Verse  daraus  als  bekannt  citirte.  Vorzüglich  anziehend 
war  für  einen  gewissen  Theil  des  Publikums  die  tragische  Dich- 
tung von  den  Schicksalen  der  Dido'*),  welche  später  noch  den 
h.  Augustin  zu  Thränen  rührte'*),  und,  wie  wir  sehen  werden,  auch 
in  den  folgenden  Jahrhunderten  von  allen  Theileu  des  Epos  stets 
am  meisten  bewundert  wurde. 

Eine    übertrieben    strenge    und   anspruchsvolle,    eine  paradoxe 
und  nicht  vorurtheilsfreie  Kritik  mag  immerhin  über  diesen  grossen 


1)  Man  vergleiche  die  sehr  zahlreichen  Belege  bei  Z  in  gerì  e  in 
seinem  Werke:  „Ovidius  und  sein  Verhältniss  zu  den  Vorgängern  und 
gleichzeitigen  römischen  Dichtern".  Innspruck,    1869—71,  II,  p.  48—113. 

2)  „Vergilium  vidi  tantum."  Trist.  IV,  10,  15. 

3)  Diese  Erinnerungen,  die  sich  auf  die  Rhetoren  der  Augusteischen 
Zeit  beziehen,  bieten  uns  die  ältesten  Citate  von  Versen  der  Aeneis. 
Die  Hauptstellen  :  „Sed  ut  sciatis  sensum  bene  dictum  dici  tarnen  posse 
melius,  uotate  prae  ceteris  quanto  deceutius  VergiUus  dixerit  hoc,  quod  valdc 
erat  celebre,  „belli  mora  concidit  Hector":  „Quidquid  apud  dm-ae  etc." 
(Aen.  XI,  288).  Messala  (f  8  v.  Chr.)  aiebat  hie  Vergilium  debuisse  de- 
sinere,  quod  sequitur  „et  in  decimum  etc."  explementum  esse.  Maeceuas 
hoc  etiam  priori  comparabat"  Suasor.  2;  „Summis  clamoribus  dixit 
(Arellius  Fuscus)  illum  Vergili!  versum  „Scilicet  is  superis  etc."  (Aen. 
IV,  379).  Auditor  Fusci  quidam,  cuius  pudori  parco,  cum  hanc  suasoriam 
de  Alexandre  ante  Fuscum  diceret,  putavit  aeque  belle  poni  eundem  ver- 
sum ;  dixit:  „Scilicet  is  superis."  Fuscus  illi  ait:  si  hoc  dixisses  audiente 
Alexandre,  scires  apud  Vergilium  et  illum  versum  esse" —  capulo  tenus 
abdidit  ensem"  (Aen.  II,  553).  Suasor.  4;  —  „Montanus  Julius  qui  comis 
fuit,  quique  egregius  poeta,  aiebat  illum  (Cestium)  imitar!  voluisse  Ver- 
gili descrii^tionem  :  „Nox  erat  et  terras  etc."  [Aen.  VII,  26.)  Controv.  16. 
(Cestius  kam  nach  Rom  kurz  nach  Virgil's  Tode;  vgl.  Meyer,  Oratorr. 
romanorr.  fragmenta,  p.  357)  —  Vgl.  auch  Suasor.  1. 

4)  „Et  tarnen  ille  tuae  felix  Aeneidos  auctor 
contulit  in  Tyrios  arma  virumque  toros 
Nee  legitur  pars  ulla  magis  de  corpore  toto, 
quam  non  legitime  foedere  junctus  amor." 

Ovid.  Trist.  2,  533. 

5)  Coufessiou.  lib.  I;  I,  60. 


Vlrgil  in  der  Literatur  bis  auf  Daute.  13 

Dichter  wie  über  so  manche  andere  grosse  lateinische  Schriftsteller 
ui'theilen,  wie  es  ihr  behagt.  Die  Wissenschaft  wird  aber  schwer- 
lich die  Uebertreibungen  einer  geistigen  Eeaction  acceptiren 
können,  so  fruchtbar  für  den  Fortschritt  sie  auch  immer  sein  mögen. 
Das  Werk  Vii-gils  ist  und  bleibt,  wenn  man  es,  wie  recht  und 
billig,  nach  seiner  Stellung  und  nach  einem  geschichtlichen  Mass- 
stabe betrachtet,  ein  Gedicht,  das  seines  Gleichen  weder  vorher 
noch  nachher  hat;  der  Zauber,  den  es  durch  Jahrhunderte  auf 
alle  Gebildete  ausübte,  hat  seine  volle  Berechtigung.  Nachahmer 
ist  Virgil  allein  im  Beiwerk,  und  auch  dann  noch  ist  er  gross. 
Nachahmer  ist  er,  weil  er  es  sein  musste,  und  weil  kein  noch  so  mäch- 
tiges Genie  sich  dieser  Bedingiing  damals  entziehen  durfte.  Eine 
Emancipation  von  all  den  Regeln  der  Kunst,  wie  sie  die  noch  so 
lebendigen  Schöpfungen  der  Griechen  vorschrieben,  konnte  keiner 
wünschen  noch  wollen,  und  wäre  nur  mit  Unwillen  als  etwas  ganz 
Monströses  und  Unverständliches  aufgenommen  worden.  Das  Genie 
kann  sich  nicht  zu  jeder  Zeit  und  in  allen  Lagen  des  menschlichen 
Geistes  frei  bewegen.  Dessenungeachtet  offenbart  es  sich  doch 
als  Genie  für  jeden,  der  sehen  kann,  und  es  ist  kein  Grund  vor- 
handen, es  dann  herabzusetzen  und  zii  verkleinern  oder  es,  wie 
mit  Virgil  geschehen,  verächtlich  als  „Virtuosität"  zu  bezeichnen. 
Seiner  Natur,  seinen  Bestandtheilen,  seinem  besonderen  Zwecke  nach 
steht  Virgils  Werk  auf  einem  von  der  Homerischen  Poesie,  wie 
von  dem  griechischen  Epos^)  so  verschiedenen  Standpunkte,  dass 
es  in  Anbetracht  der  Intention  des  Dichters  wol  eine  neue  Schöpfung 
genannt  werden  kann.  Eine  Dosis  Hellenismus  lag  auch  im  rö- 
mischen Geiste,  mithin  auch  im  Dichter  selbst,  und  dieser  hätte 
sich  selbst  widersprochen,  wenn  er  jenen  Hellenismus  nicht  in 
seinem  Gedichte  auch  offenbart  hätte.  Aber  der  eigentliche  Cha- 
rakter Virgils  beruht  darauf,  dass  der  Dichter,  wie  es  Petronius 
mit  richtiger  Einsicht  ausspricht,  vor  allem  „Römer"  ist'). 

Zweites  Capite]. 

Zu   jenen   Resultaten   gelangte   jedoch   der  Dichter  nicht  blos 

vermittelst    seiner    natürlichen    Genialität,    die  für    die    damalige 

Zeit   nicht    hinreichte,    so    wie    sie  niemals   zur  Schöpfung  grosser 


1)  Avich  Teuf  fei  gibt  zu,  dass  Ton  und  Geist  der  Aeneis  zu  Homer 
in  diametralem  Gegensatze  stehen.     Gesch.  d.  röm.  Lit.  p.  400. 

2)  „Homerus  testis  et  lyrici,  vomannsque  Virgilius  et  Horati  curiosa 
felicitas."     Petron.  Sat.  118. 


14  Yii-gil  iu  dei-  Literatur  bis  auf  Dante. 

Kunstwerke  in  einer  Culturepoche  von  Bedeutung  ausreicht.  Die 
augusteische  Poesie  wie  der  grösste  Theil  der  römischen  Dich- 
tungen, überhaupt  erhielt  von  selbst  wie  durch  den  Einfluss  der 
griechischen  Zeitgenossen  einen  wesentlich  gelehrten  Charakter 
aufgeprägt.  Ein  Dichter  musste  viele  philologische  und  wissen- 
schaftliche Studien  gemacht  haben,  um  die  künstlerische  Form  zu 
erlangen,  die  den  Anforderungen  der  Cultur  seiner  Zeit  entsprach. 
Der  Charakter  der  griechischen  Poesie  jener  Epoche  war  unter 
der  Herrschaft  der  Alexandriner  ein  derartig  gelehrter  geworden, 
dass  weder  die  Sprache  der  Dichter  eine  wirklich  lebendige,  nocli 
die  Poesie  selbst  das  Eigenthum  anderer  als  der  Gelehrten  war. 
Wenn  etwas  jenen  Grad  poetischer  Genialität,  den  auch  die  Römer 
besassen,  ins  Licht  setzen  kann,  so  ist  es  die  Vergleichuug 
zwischen  Griechen  und  Römern  in  Betreff  der  Benutzung  und  Nach- 
ahmung der  antiken  Muster.  Von  Alexander  an  ist  der  Verfall 
der  gi-iechischen  Poesie  ein  solcher,  dass  der,  welcher  ihre  Geschichte 
studiren  will,  zur  Ausfüllung  der  grossen  Lücke,  die  er  vor  sich 
sieht,  gezwungen  ist,  sich  an  die  Römer  zu  wenden,  bei  denen  er 
allein  eine  geistige  wie  formelle  Fortsetzung  der  griechischen  Poesie 
findet. 

Die  Gelehrsamkeit  und  das  Studium,  nicht  allein  der  grie- 
chischen sondern  auch  der  altrömischen  Schöpfungen,  hindern  die 
hervorragendsten  i,-ömischen  Dichter  nicht,  ihre  Werke  mit  jener 
wahren  Poesie  und  jenem  nationalen  Geiste  zu  erfüllen,  der  den 
Alexandrinern  völlig  abgiug.  Die  Römer  schrieben  nicht  für  einen 
engen  Kreis  von  Gelehrten,  sondern  für  ein  grosses  und  gebil- 
detes Publicum,  welches  im  Dichter  auch  den  Rhetor,  Gramma- 
tiker und  Gelehrten  verlangte.  In  diesen  für  einen  römischen 
Dichter  so  wesentlichen  Vorzügen  hat  nun  aber  Niemand  den 
Virgil  übertroffen,  der,  abgesehen  von  einem  eingehenden  Studium 
der  Kunst,  auch  die  Sprache  sowol  in  ihrer  gegenwärtigen  Ge- 
stalt wie  in  ihren  literarischen  Antecedentien  durchforschte,  um 
sie  so  geschmeidig  wie  möglich  und  seinen  künstlerischen  Ab- 
sichten dienstbar  zu  machen.  Ebenso  eifrig  schöpfte  er  aus 
Büchern  und  erlernte  auf  Reisen,  was  er  von  Localkenntniss, 
Mythologie,  Alterthümern  und  dergl.  für  sein  Gedicht  für  nöthig 
erachtete').     Er    verstand    sich    auf    das    Geheimniss,    diese    seine 


•,  1)  Dem  Augustus,  der  während  des  Krieges  mit  den  Cantabrern  über 
den  Zustand  der  Arbeit  unterrichtet  sein  wollte,  antwortete  er:  de  Aenea 
quidenuneOjSimeherclejani  digunm  auribus  haberenituis,]ibouterniitterem  ; 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  1;' 

grosse  Gelehrsamkeit  nur  als  Mittel  zum  Zweck  zu  gebrauchen 
und  ihr  niemals  die  Poesie  unterzuordnen.  Die  Alten  begriffen 
das  sehr  wol)^),  und  der  Dichter  erreichte  also  den  doppelten 
Zweck,  sowol  den  Gelehrten  von  Fach  wie  zugleich  dem  ganzen 
Publicum  zu  gefallen.  Die  wunderbaren  Vorzüge  der  Virgiliani- 
sehen  Poesie  im  Gebrauch  und  der  Erschaffung  einer  dichterischen 
Redeweise,  in  der  metrischen  Structur,  die  Genauigkeit  der  ge- 
lehrten Forschung,  die  er  anstellte,  um  seinen  Erzählungen  das 
richtige  Colorit  zu  geben,  sind  so  deutlich,  dass  selbst  die 
strengste  und  missgünstigste  Kritik  unserer  Zeit  in  dieser  Hin- 
sicht das  von  den  Alten  dem  Dichter  gespendete  Lob  hat  aner- 
kennen müs^n-). 


sed  tanta  inchoata  res  est,  ut  paene  vitio  mentis  tantum  opus  ingressus 
mihi  videar,  cum  praesertim,  ut  scis,  alia  quoque  studia  ad  id  opus 
multoque  potiora  impertiar.  Macrob.  Sat.  I,  24,  11.  Bei  einer  so  schwie- 
rigen und  delicaten  Arbeit  überrascht  die  Mittheilung  des  Biogi-aphen 
nicht  (p.  59):  traditur  cotidie  meditatos  mane  plurimos  versus  dictare 
solitus,  ac  per  totum  diem  retractando  ad  paucissimos  redigere,  uon  ab- 
surde Carmen  se  informe  more  ursae  parere  dicens  et  lambendo  demum 
effingere.  Aeneida  prosa  prius  oratioue  formatam  digestamque  in  XII 
libros  particulatim  componere  instituit,  prout  liberet  quidquid,  et  nihil 
in  ordinem  arripiens,  ut  ne  quid  impetum  moraretur  quaedam  imperfecta 
transmisit,  alia  levissimis  verbis  veluti  fulsit,  quae  per  iocum  pro  tibi- 
cinibus  interponi  aiebat,  ad  sustinendum  opus,  donec  solidae  columnae 
advejirent.  Auf  die  Composition  der  Aeneis,  wie  sie  heut  uns  vorliegt, 
verwandte  er  11  Jahre.  Der  Tod  unterbrach  sein  Werk;  denn  er  hatte 
sich  vorgesetzt  noch  3  fernere  Jahre  an  demselben  zu  arbeiten  und  zu 
feilen,  und  in  eben  dieser  Absiebt  unternahm  er  die  für  ihn  verhängniss- 
volle Reise  nach  Griechenland.     Donat.  p.  62. 

1)  „Vergilium  multae  antiquitatis  hominem  sine  ostentationis  odio 
peritum."  Gell.  V,  12,  13.  Dasselbe  bringt  auch  Quintihan  bei  .seiner 
Vergleichung  Virgil's  und  Homers  in  Anrechnung,  indem  er  sagt:  ,,et 
hercle  ut  illi  naturae  codesti  atque  immortali  cessserimus:  ita  curae  et 
diligentiae  vel  ideo  in  hoc  plus  est,  quod  ei  fuit  magis  laborandum  et 
quantum  eminentibus  vincimur  fortasse  aequalitate  pensamus"  Inst, 
or.  X,  1,  86. 

2)  Vgl.  Bernhardy,  p.  437.  Teuffei,  p.  397.  Hertzberg, 
(Uebers.  der  Aeneis),  p.  XI,  ff.  Hermann,  Elem.  doctr.  metr.  357. 
Müller,  De  re  metr.  p.  140  ff.,  183,  190  f.  Xiebuhr,  Rom.  Gesch.  I, 
p.  112  (3.  Ausg.).  Ueber  die  Aeneassage  und  die  Art  ihrer  Behandlung 
durch  Virgil  vgl.  ausser  Klausen,  Aeneas  und  die  Penaten,  11,  p.  12.  49  f. 
Rubino,  Beiträge  zur  Vorgeschichte  Italiens,  p.  68  ff.  156  ff.  173  und 
besonders  das  Lob  über  die  Genauigkeit  und  Gelehrsamkeit  des  Dichters 
p.  121  —  128.  Mit  einer  oft  oberflächlichen  und  freien,  aber  nicht  unver- 
ständigen Kritik  hat  Weidner  in  der  Vorrede  zu  seinem  Commentar  zn 


10  Virgil  iu  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

Tendenz  und  Charakter  des  römischen  Nationalgefühls  waren 
der  Art,  dass  der  Eindruck,  den  schon  die  äusseren  und  rein  for- 
malen Vorzüge  des  Gedichtes  hervorriefen,  ausserordentlich  tief 
war."  Ja,  dieser  Eindruck  blieb  in  allen  Gestaltungen,  denen  sich 
die  Schöpfung  des  Dichters  anbequemte,  lebendig,  selbst  noch  in 
den  schlechtesten  Reproductionen  des  lateinischen  Mittelalters.  Die 
Vollendung  des  sprachlichen  Ausdruckes  war  für  die  Kömer  von 
solcher  Wichtigkeit  bei  einem  Kunstwerk ,  dass  man  sie  als  einen 
Massstab  bezeichnen  kann,  nach  welcher  dasselbe  beurtheilt 
wurde ,  ja ,  dass  man  sie  allein  vielen  anderen  Vorzügen  gleich 
stellte.  Die  Stellung  der  römischen  Dichter  war  bisher  eine  von 
den  Griechen  ganz  verschiedene:  bei  diesen  waren  die  Kunstfor- 
men, nachdem  sie  sich  aus  dem  natürlich  fortgeschrittenen  Na- 
tionalgeiste heraus  entwickelt  hatten,  von  einer  stets  in  gleicher 
und  entsjDrechender  Weise  entwickelten  Sprache  unterstützt  wor- 
den, so  dass  die  Dichter  ohne  grammatisches  und  philologisches 
Studium  dieselbe  ihren  Intentionen  gemäss  leicht  formen  und  ge- 
stalten konnten.  Der  Entwickelungsprocess  der  römischen  Lite- 
ratur ist  weit  weniger  natürlich  gewesen.  Eine  i'ohe,  i'auhe 
und  uncultivirte  Sprache  einer  literarischen  Form,  die  ihrem  Ur- 
sprünge nach  nicht  national  und  gleichsam  plötzlich  von  aussen 
hereingebracht  war,  dienstbar  zu  machen,  war  ein  Unternehmen 
von  ausserordentlicher  Schwierigkeit,  mit  der  die  ältesten  lateini- 
schen Schriftsteller  zu  kämpfen  hatten,  und  welche  ihre  volle 
Thätigkeit  in  Anspruch  nahrn^).  Von  diesem  Gesichtspunkt  aus 
betrachtet,  erscheint  die  römische  Literatur  von  Livius  Andronicus 
an  bis  auf  Cicero  und  Virgil  geradezu  als  eine  blose  Reihe  von 
Versuchen,  die  aus  dem  fortwährenden  Bestreben  hervorgingen, 
die  Sprache  für  die  ästhetischen  Anforderungen,  welche  der  grie- 
chische Einfluss  dem  Gefühl  und  Geschmack  auferlegt  hatte,  ge- 
lenkig zu  machen^).  Eben  aus  jenem  Grunde  sowie  in  Folge  des 
Einflusses    der    griechischen    Cultur    wh-d    die    grammatische    For- 


Vergil's  Aeneis,  Buch  I  und  II  (Leipz.  1869)  p.  5;^.  ff.  die  Verdienste  des 
Dichters  resumirt. 

1)  Vgl.  L  er  seh,  die  Sprachphilosophie  der  Alten,  I,  p.  103. 

2)  Lucrez,  der  starb,  als  Virgil  ir>  Jahr  alt  war,  lässt  in  seinem  Ge- 
dicht nicht  nur  einen  derartigen  Versuch  erkennen,  sondern  spricht  sogar 
ganz  offen  darüber,  Hib.  I,  135). 

,,Xec  me  animi  fallit  Graiorum  obscura  reperta 
difficile  inlustrare  latinis  vers^ibus  esse, 
multa  novis  verbis  i^raesertim  cum  sit  agendum, 
propter  egestatem  linguae  et  rerum  iiovitateni." 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  17 

schung  von  jedem  lateinischen  Schriftsteller  schon  geübt,  bevor 
noch  die  Literatur  sich  vollständig  entwickelt  und  der  National- 
geist Formen  aufgefunden  hatte,  in  denen  er  sich  vollkommen  aus- 
prägen konnte.  Dieses  letzte  Resultat  haben  erst  Cicero  für  die 
Prosa  und  Virgil  für  die  Poesie  erreicht.  Beide  haben  jenem  Ideale 
einer  vollendeten  Sprache,  jenem  Bedürfniss  nach  Schärfe,  Fein- 
heit und  Harmonie  des  Ausdruckes  so  ganz  und  so  richtig  ent- 
sprochen, dass  mit  ihrer  Arbeit  das  Streben  endlich  seinen  Ab- 
schluss  gefunden  hat,  jeder  weitergehende  Versuch  aber  unglück- 
lich auslaufen  musste.  Dieses  gewiss  nicht  kleine  Verdienst  wurde 
zuallererst  von  den  Alten  bemerkt  und  war,  da  es  dem  allgemeinen 
Bedürfnisse  so  entgegen  kam,  eine  Hauptursache  des  Ruhmes  jener 
beiden.  Die  Wirksamkeit  des  Redners  wie  des  Dichters  hing  so 
genau  von  jenem  Vorzug  ab,  dass  man  danach  den  Redner  als 
Redner  und  den  Dichter  als  Dichter  beurtheilen  konnte. 

Allerdings  ist  dieses  Gewicht,  welches  auf  die  Bedeutung 
einer  rein  formellen  Eigenschaft  von  dem  urtheilenden  Publicum 
gelegt  wurde,  abgesehen  von  der  damit  verbundenen  Gefahr,  das 
essentielle  nach  dem  Werthe  des  formalen  abzuschätzen,  nicht  das, 
was  man  bei  einer  gerechten  Beurtheilung  des  künstlerischen  Werthes 
eines  Schriftstellers  verlangen  muss.  Ohne  dem  zu  harten  Ausspruche 
Mommsen's  über  das  Verdienst  Cicero's  als  Redner  beizupflichten, 
bleibt  doch  unzweifelhaft,  dass  die  grosse  Berühmtheit  auch  des 
Redners  Cicero  zum  grossesten  Theil  aus  seiner  Bedeutung  als 
lateinischer  Schriftsteller  hervorgeht,  mehr  wie  aus  seinen  Ver- 
diensten als  Redner^).  Aus  eben  diesem  Grunde  galt  Terenz  das 
ganze  Mittelalter  hindurch  mehr  als  Plautus,  so  viel  höher  auch 
dieser   als  Komiker  über  jenem  stand  ^).    Wenn  nun  aber  das  Ur- 


Vgl.  auch  I,  831  und  III,  257.  Heffter,  Geschichte  der  lateinischen 
Sprache  während  ihrer  Lehensdauer,  p.  124  und  Herzog,  Untersuchungen 
über  die  Bildungsgeschichte  der  griechischen  und  lateinischen  Sprache, 
(Leipz.  1871)  p.  196  ff.,  der  jedoch  über  die  augusteischen  Dichter  mit 
grosser  Leichtfertigkeit  urtheilt  (p.  213)  und  ganz  und  gar  die  Bedeu- 
tung und  den  Einfluss  der  Sprache  Virgils  auf  die  Schule,  die  grammati- 
kalischen Werke  und  die  literarische  Production  vergisst. 

1)  Vgl.  Blass,  Die  griech.  Beredsamkeit  in  dem  Zeitraum  von  Alexan- 
der bis  auf  Augustus,  p.  125  ff'. 

2)  „Sciendum  tamen  estTerentium  propter  solam  proprietatem  omnibus 
comicis  esse  praepositum,  quibus  est,  quantum  ad  cetera  spectat,  inferior" 
Serv.  zur  Aen.  I,  410.    Schon  viel  früher  hatte  Cicero  (ad  Att.  VII,  3, 

10)  gesagt:  „secutusque  sum,  non  dico  Caecilium malus  enim  auctor 

latinitatis  est,  sod  Torentium  cuius  fabellae  propter  elegantiam  sermonis 

Comparetti,    Virgil  im  Mitulalter.  2 


18  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

theil  der  Alten  über  Cicero  wegen  ihrer  Vorliebe  für  spracliliclie 
Vorzüge  von  der  richtigen  Bahn  ablenkte,  in  sofern  sie  ihm  einen 
Rang  einräiimten,  der  von  dem  in  der  Geschichte  der  Beredsam- 
keit ihm  gebührenden  durchaus  abweicht,  so  hielt  sich  doch  ihr 
Urtheil  über  Cicero  in  einer  der  Wahrheit  entsprechendem  Sphäre, 
als  das  über  Virgil,  da  es  der  ürtheilsfähigkeit  der  Alten  näher  stand; 
denn  durch  die  Praxis  der  Rede  und  das  republikanische  Leben  waren 
in  der  That  die  Römer  fähiger  geworden,  einen  Redner  als 
einen  Dichter  zu  beurtheilen,  dessen  Eigenthümlichkeit  weniger  als  bei 
dem  ersteren  auf  dem  nationalrömischen  Geiste  beruhte.  Und  so 
finden  wir  denn  wol  über  Cicero  ürtheile  von  allgemeinem  Cha- 
rakter, wobei  sowol  seine  Eigenthümlichkeit  als  Redner  berück- 
sichtigt, als  auch  seine  Kunst  in  ihrem  Werthe  an  sich  wie  in  ihrer 
Beziehung  zu  den  griechischen  und  lateinischen  Rednern  ei'läutert 
wird.  Ein  Urtheil  hingegen,  welches  die  Eigenthümlichkeit  Virgils, 
ich  will  nicht  sagen,  in  gerechter,  aber  erschöpfender  Weise  darlegt, 
findet  sich  nicht.  Und  doch  ist  über  ihn  mehr  geschiiebeu 
worden  als  über  irgend  einen  anderen  lateinischen  Schriftsteller. 
Dieselbe  Begeisterung,  welche  die  Aeneis  nicht  allein  bei  ihrem 
ersten  Erscheinen,  sondern  auch  während  der  Poet  noch  an  der 
Arbeit  war,  und  man  nur  einige  Bücher  oder  Proben  des  Werkes 
kannte,  erweckte,  rief  auch  eine  Menge  Schriften  und  Kritiken 
hervor  ^). 

Den  masslosen  Albernheiten  einzelner  Feinde,  nicht  Kritiker 
des  Dichters,  halten  die  zahlreichen  Beweise  enthusiastischer  Be- 
wunderung, die  ohne  Zweifel  den  Grad  und  die  Natur  des  allge- 
meinen Eindrucks  treu  wiedergeben ,  vollkommen  die  Waage. 
Aber  Enthusiasmus  und  Sarkasmus  sind  nicht  Kritik.  In  wie  weit 
die  Schriften  zeitgenössischer  Grammatiker  sowie  solcher  des  ersten 
Jahrhunderts  der  Kaiserzeit  sich  bezüglich  Virgils  auf  ästhetische 
Fragen    einliessen,    ist   nach   den    uns   gebliebenen  Notizen  schwer 


putabantur  a.  C.  Laelio  scribi."  Und  doch  räumte  Vulcatius  Sedigitus 
Caecilius  unter  den  Komikern  den  ersten  Platz  ein,  den  zweiten  Plautus, 
und  den  sechsten  Terenz.  (Gell.  XV,  24). 

1)  üonatus  (Vit.  Vergil.  p.  15)  zählt  einige  einfältige  Parodien  über 
die  Bucolica  und  Georgica  von  anonymen  Verfassern  auf,  die  Aeneo - 
mastix"  des  Carvilius  Pictor,  ein  Werk  des  Herennius  über  die  P'ohler^ 
eins  des  Perellius  Faustus  über  die  Entwendungen  Virgils  und  acht 
Bücher  „Homoeon  elenchon"  von  Q.  Octavius  Avitus,  in  denen 
sich  aufgezeichnet  fand  „quos  et  unde  versus  transtulerit."  Asconius 
Pedianus,  der  unter  Claudius  lebte,  schrieb  ein  Buch  zur  Vertbeidigiing 
Virgils  gegen  jene  Leute  und  andere  ihres  Gleichen. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  19 

zu  beurtheileu;  abex"  es  steht  fest,  dass  wenn  die  Kunst  Virgils 
in  denselben  in  bemerkenswerther  und  hinreichender  Weise  de- 
finirt  worden  wäre,  die  uns  bekannte  Ueberlieferung  der  Gramma- 
tiker, die  voll  von  dem  Lobe  des  Dichters  ist,  uns  dies  auch  be- 
wahrt haben  würde.  Statt  dessen  besteht  das  Beste,  was  uns 
jene  erhalten  hat,  in  einer  zwar  gerechten,  aber  unzureichenden 
Observation  des  Domitius  Afer,  welcher  ganz  äusserlich  Virgil 
einen  Rang  in  jener  Dichterhierarchie,  deren  Haupt  Homer  ist, 
anwies  ^).  Die  Alten  vermochten  eben  wol  mit  Gerechtigkeit  aber 
doch  nur  äusserlich  die  Beziehung  zwischen  der  Poesie  Virgil's  und 
Homer's  zu  erkennen.  Von  den  Urtheilen  der  Zeitgenossen  wird 
uns  nur  ein  einziges  überliefert"),  das,  wenngleich  boshaft  aus- 
gedrückt, mit  einiger  Wahrheit  eine  allgemeine  Charakteristik  der 
Virgilischen  Kunst  gibt;  aber  es  berücksichtigt  den  Dichter  nur 
von  einem  oratorischen  Standpunct  und  könnte  auch  auf  einen  Red- 
ner passen^).  Diejenigen  ferner,  welche  Vii-gil  einen  Vorwurf  aus 
der  Benutzung  Homers  machten,  waren  augenscheinlich  feindlich 
gegen  ihn  gesinnt,  denn  sie  vergassen,  dass  so  viele  andere  gi-osse 


1)  „Utar  enim  verbis  eisdem  quae  ex  Afro  Domitio  juvenis  excepi, 
qui  mihi  interroganti  quem  Homere  crederei  maxime  accedere:  secundus, 
inquit,  est  Vergilius,  propior  tameu  primo  quam  tertio."  Quintil.  X,  1,  8G. 
Domitius  Afer,  Praetor  im  J.  26  n.  Chr.,  starb  59.  Vgl.  dasselbe  Urtheil 
versificirt  von  Alcimus  Avitus  (5  —  6.  Jahrh.)  in  der  Anthologia  lat. 
(Meyer)  No.  259. 

2)  „M.  Vipsanius  a  Maecenate  eum  suppositum  appellebat  novae 
cacozeliae  repertorem,  non  tumidae  nee  exilis  sed  ex  commuuibus  verbis, 
atque  ideo  latentis."     Donat.  Vit.  Verg.  p.  65. 

3)  Wahr  und  gerecht  sagt  auch  HorazT(Sat.  J,  10,  45): 

„molle  atque  facetum 
Vergilio  annuerunt  gaudentes  rure  Camenae." 
Jedoch  ist  zu  bemerken,  dass  diese  Worte,  nie  das  ,,rure'"'  deutlich  be- 
weist, sich  nur  auf  Bucolica  und  Georgica  beziehen.  Als  Horaz  das  erste 
Buch  der  Satiren  (vom  .Jahre  41  bis  zum  Jahre  35  v.  Chr.  nach  den 
Meisten)  schrieb,  dachte  Virgil  noch  an  gar  keine  Aeneis.  Der  Dichter 
beschäftigte  sich  in  jener  Zeit  mit  den  Georgica.  Wenn  die  Meinungen 
über  die  Daten  nicht  so  verschieden  und  ungewiss  wären,  könnte  man 
behaupten,  dass  die  Worte  des  Horaz  sich  nur  auf  die  Bucolica  bezögen. 
Hätte  Horaz  das  Gedicht  gekannt,  so  würde  er  sich  gewiss  nicht  be- 
gnügt haben,  die  Poesie  seines  Freundes  mit  jenen  Worten  zu  charakte- 
risiren.  Virgil  war  todt,  und  sein  Gedicht  schon  veröffentlicht,  als  Horaz 
die  Ars  poetica  (9  oder  10  v.  Chr.)  schrieb;  aber  die  einzige  Erwäh- 
nung Vii-güs,  die  sich  daiin  findet  (v.  53),  betriflft  nur  einen  Vergleich 
zwischen  der  alten  and  neuen  Schule  im  allgemeinen  in  Bezug  auf  die 
Sprache. 

2* 


20  Viigil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

Dichter  der  früheren  Zeit^),  sowol  Römer  wie  Griechen,  sich  dasselbe 
erlaubt  hatten,  und  dachten  ausserdem  (wie  Virgil  selbst  auf  solche 
Vorwürfe  zu  antworten  pflegte)^),  nicht  an  die  grosse  Schwierig- 
keit dieses  Unternehmens,  wenn  es  gut  ausfallen  sollte.  Die  ziem- 
lich freie  Benutzung  der  früheren  griechischen  wie  römischen 
Dichter  von  Seiten  Virgils  hatte  ihre  Berechtigung  in  einer  eigenen 
Anschauungsweise  und  in  einer  den  antiken  Völkern  gemeinsamen 
und  gleichraässigen  Tradition.  Daraus  dem  Dichter  einen  Vor- 
wurf machen  wäre  damals  ungerechter  und  gehässiger  gewesen, 
als  uns  heute  scheinen  kann,  die  wir  über  solche  Dinge  ganz  an- 
ders denken^). 

Im  allgemeinen  beschränkt  sich  die  Kritik  jener  Gramma- 
tiker auf  Einzelheiten;  man  spricht  über  Wortformen,  metrische 
Structuren,  über  Partieen  des  Organismus  der  Erzählung,  man  be- 
merkt einige  Inconsequenzen  und  Widersprüche  und  erörtei-t  ge- 
lehrte Fragen.  Spärlich  und  stets  auf  Einzelheiten  bezüglich  sind 
die  Observationen  über  den  Stil,  sie  beschränken  sich  meist  auf 
Vergleiche:  dort  ist  ein  Bild,  das  Virgil  besser  oder  schlechter  als 
Homer  behandelt,  hier  eine  Beschreibung,  in  der  ihn  Pindar 
übertroflFen  hat.  Im  Ganzen  zeigt  sich  in  allen  diesen  Bemerkungen"*) 
eine  gewisse  Freiheit  und  Unabhängigkeit  des  Urtheils:  Virgil  wird, 
wenngleich  man  ihn  auf  dem  Felde  der  Grammatik,  Rhetorik  und 
Erudition  als  höchste  Autorität  betrachtet  in  dieser  ersten  Epoche 
der  gelehrten  und  vernünftigen  Grammatiker,  nicht  blind  bewun- 
dert. Man  erkennt  und  beleuchtet  viele  Fehler  an  ihm,  und  sogar 
Asconius  Pedianus  gesteht  dieselben  in  seinem  Buche,  das  er  gegen 
die   Neider   und   Kiitiker    des    Dichters    schrieb,  zu.     Aber    Leute, 


1)  Vgl.  Walther,  de  scriptorum  romanorum  usque  ad  Vergilium 
studiis  homericis.  Vratisl.  1867. 

2)  „Hoc  ipsum  crimen  sie  defendere  assuetum  ait  (Asconius  Pedianus)  : 
cur  non  illi  quoque  eadem  furta  temptarent?  verum  intellecturos  facilius 
esse  Herculi  clavam  quam  Homero  versum  subripere."  Donat.  Vit.  Ver- 
gib p.  66. 

3)  Man  vgl.  hierüber  die  feine  und  richtige  Bemerkung  Hertzbergs 
in  der  Einleitung  zu  seiner  Uebersetzung  der  Aeneis  p.  VI.  In  diesen 
s.  g.  Entwendungen  Virgils,  wie  Teuflei  (Gesch.  d.  röm.  Lit.  p.  392)  will, 
einen  Beweis  von  Mangel  an  Originalität  beim  Dichter  erblicken,  ist  ein 
schwerer  Irrthum. 

4)  Eine  kritische  Uebersicht  der  Bemerkungen,  welche  die  Alten 
über  Virgil  machten,  findet  man  in  den  Prolegomena  bei  Ribbeck,  c.  VlIT. 
Im  Allgemeinen  beziehen  sich  diese  Bemerkungen  auf  die  Aeneis,  selten 
auf  Bucolica  und  Georgica. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  21 

welche  eine  feindliche  Gesinnung  gegen  den  Dichter  zur  Kritik 
trieb,  finden  sich  nur  unter  den  Zeitgenossen  desselben.  Die  kri- 
tischen Observationen  des  Hygin  und  Probus  so  wie  die  etwas  stren- 
geren und  zahlreicheren,  aber  weniger  gerechten  des  Annaeus  Cor- 
uutus  ^)  tasteten  in  keiner  Weise  den  Euhm  Virgils  an.  Man  hielt 
die  Fehler  für  unvermeidliche  Mängel,  die  jeder  menschlichen  Schöpfung 
anhafteten,  und  die  mau  auch  beim  Homer  wahrnahm.  Im  allge- 
meinen galt  die  Ueberzeugung,  dass  der  grosse  Dichter  sie  ent- 
fernt haben  würde,  wenn  ihn  der  Tod  nicht  an  der  Vollendung 
seines  Werkes  gehindert  hätte.  Ja,  man  ging  auch  wol  so  weit, 
dem  Dichter  die  Absicht  unterzuschieben,  durch  Anwendung  von 
Schwierigkeiten  in  seiner  Dichtung,  das  Verständniss  und  den 
Scharfsinn  der  Grammatiker  auf  die  Probe  zu  stellen^). 

So  vermochte  man  also  schon  in  dieser  ersten  Epoche  den 
Werth  der  Virgiliauischen  Poesie  mehr  zu  fühlen,  denn  zu  definiren. 
Als  treuestes  Organ  des  Nationalgefühls,  als  künstlerisches  Pro- 
duct,  das  durchgängig  auf  das  feinste  mit  dem  Geschmacke,  den 
Tendenzen  der  Cultur  und  den  Bedürfnissen  des  Zeitgeistes  har- 
monirte,  übte  sie  einen  ungeheuren  und  wolberechtigten  Zauber  aus, 
vor  welchem  selbst  der  Euhm  des  grossesten  römischen  Redners  er- 
blasste  und  farblos  ward.  Aber  sobald  man  von  diesem  allge- 
meinen Eindruck  zu  den  Ursachen  und  zur  Analysis  des  Gedichtes 
übergehen  wollte,  blieb  man  bei  einem  rein  äusserlichen  und  for- 
mellen Theile  stehen,  weil  hieraiif  ganz  besonders  das  Studium 
gerichtet  war,  und  die  literaturgeschichtUche  Betrachtung  nicht  za 
einer  wahren  Einsicht  in  das  Wesen  des  Epos  gelangen  konnte. 
Diese  Art  der  Kritik  störte  nicht  wenig,  wie  bereits  bemerkt  wor- 
den, auch  die  Ai;ffassung  der  Ciceronianischen Beredsamkeit,  obgleich 


1)  Dieser  Grammatiker,  der  Lehrer  des  Lucan  und  Persius,  scheute 
sich  nicht  vor  harten  Ausdrücken  (abiecte,  sordide,  indecore  etc.)  in 
seiner  Kritik  des  Virgil.  Aber  seine  allgemeinen  Bemerkungen,  so  weit 
wir  von  ihnen  Kenntniss  haben,  beschränken  sich  auf  nichtige  Sophismen 
oder  offenbare  Irrthümer.  Und  doch  war  auch  er  ein  Bewunderer  des  Dich- 
ters, wie  aus  seinen  Worten  hervorgeht:  „jamque  exemplo  tuo  etiam 
principes  civitatum,  o  poeta,  incipient  simiUa  fingere."  Charis.  p.  101 
(ed.  Keil).  .  . 

2)  „Asconius  Pedianus  dicit  se  Vergilium  dicentem  audisse,  in  hoc 
loco  se  grammaticis  crucem  fixisse,  volens  experiri  quis  eorum  studiosior 
iuveniretur."  Servius  zu  den  EM.  III,  105.  Cf.  Philargyr.,  und  Scholl. 
Bern,  ebend.  Aber  wahrscheinlich  citirte  Asconius  die  Autorität  an- 
derer, da  er  noch  nicht  einmal  geboren  war,  als  Virgil  starb.  Vgl. 
Ribbeck,  Prolegg.  p.  97  ff. 


22  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

die  Römer  für  die  Redekunst  mehr  coiiipetente  Richter  waren,  und 
man  bei  einem  Vergleiche  zwischen  Cicero  und  Demosthenes  sich 
auf  einem  viel  festeren  Boden  befand,  als  bei  einem  solchen  zwischen 
Homer  und  Virgil.  Was  letzteren  betrifft,  so  beschränkte  die  Kritik 
den  Werth  des  Dichters  auf  ein  Gebiet,  das  für  einen  so  grossen 
Namen,  für  die  Art  und  die  Universalität  des  Enthusiasmus,  welchen 
er  erweckt  hatte,  gar  zu  eng  war.  Der  poetische  und  nationale 
Werth  dieses  Namens,  das,  was  zwar  im  allgemeinen  gefühlt, 
aber  auf  jenem  engen  Gebiete  nicht  in  seiner  Wahrheit  zur  Er- 
scheimm'g  kommen  konnte,  war  gleichsam  das  Ferment,  durch 
welches  die  definirbare  Seite  des  Gedichtes,  die  rein  gelehrten 
Vorzüge,  immer  grössere  und  übertriebenere  Proportionen  annahm. 
Der  Gedanke  an  ein  universelles  Wissen  des  Dichters  ist  zwar 
noch  nicht  vorhanden,  wol  aber  der  Gedanke  an  seine  litera- 
rische Universalität,  wodurch  Vii-gil  in  der  Poesie  und  Prosa,  in 
der  Grammatik  und  Rhetorik,  d.  h.  in  den  ersten  und  am  meisten 
charakteristischen  Bestand theilen  der  Cultnr  der  Zeit,  massgebend 
wird;  jedermann  ist  geneigt,  wenn  er  von  ihm  spricht,  die  Zahl 
und  Mannigfaltigkeit  seiner  Verdienste  zu  übertreiben;  nicht  ein- 
mal Martial  äussert  eine  ihm  allein  angehörige  Idee,  wenn 
er  sagt,  dass  Virgil,  falls  er  sich  hätte  im  Drama  und  in  der 
Lyrik  versuchen  w^ollen,  ohne  Zweifel  die  grossesten  Lyriker 
und  Tragiker  würde  übertroffen  haben  ^).  Von  Anfang  an  also 
finden  sich  in  dem  Ruhme  des  Dichters  die  Zeichen  und  Ur- 
sachen einer  Verin-ung,  die  aber,  wie  wir  sehen  werden,  noch  ganz 
andere  Formen  und  Verhältnisse  annehmen. 

Drittes  Capitel. 

Virgil   gehörte   zu   der   kleinen   Anzahl   von    Dichtern,   die    in 

jeder  Hinsicht  vom  Glücke  begünstigt  wurden.     Bewundert  wegen 

der  seltenen  Gaben  nicht  allein  seines  Talentes  sondern  auch  seines 

Charakters,    die    ihn    zu    einem    der    liebenswürdigsten    Menschen 


1)  „Sic  Marc  uec  calabri  tentavit  carmina  Flacci, 
Pindaricos  nosset  cum  superare  modos; 
Et  Vario  cessit  romani  laude  cothurni, 
Quum  posset  tragico  fortius  ore  loqui. 

Martial.,  VITI,  18. 
Man  muss  hier  jedoch  gestehn,  dass  Virgil,  wie  sichtbar  auch  sein  Eia- 
fluss  auf  die  Prosa   war,  er  doch   als  Prosaiker  keinen  gi-osseu  Namen 
hinterliess.  „A'^ergilium   illa  felicitas  ingeni  in  oratione   soluta  reliquit." 
Seneca,  Controv.  3,  361  (Bursiau)  vgl.  Donat.  Vit.  Verg.  p.  58. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  23 

uiachteuM,  trugen  sämmtliche  Dichter  seiner  Zeit  kein  Bedenken, 
tacine  Ueberlegenheit  anzuerkennen  und  priesen  ihn  wetteifernd  in 
enthusiastischen  Worten,  wie  wir  aus  den  erhaltenen  Stellen  dieser 
Dichter  sehen.  Es  fehlte  ihm  freilich  nicht  an  Feinden,  weil 
solche  dem  Genie  niemals  fehlen,  aber  sie  verschwanden  vor  der 
Achtung  der  bedeutenden  Männer  jeden  Ranges  und  des  römischen 
Volkes,  welches  beim  Anhören  seiner  Verse  im  Theater  sich  ein- 
müthig  erhob  und  dem  zufällig  anwesenden  Dichter  ein  Zeichen 
der  Achtung  zu  Theil  werden  Hess,  wie  sonst  nur  dem  Augustus 
selbst^).  Aus  dem  Maasse,  in  dem  man  bei  seinen  Lebzeiten 
sein  Werk  pries,  konnte  er  einen  sichern  Schluss  auf  die  Fort- 
dauer und  Unsterblichkeit  seines  Namens  machen. 

In  allen  Kreisen  der  Gesellschaft  offenbarten  sich  die  Spuren 
von  des  Dichters  Popularität.  Unter  den  Vornehmen,  die  der  Mode 
wegen  ein  Interesse  für  Literatur  zeigten,  behandelte  die  gebil- 
dete Frau,  wie  sie  luvenal  beschreibt,  (nach  dem  Scholiasten 
wäre  es  Statilia  Messalina,  das  Weib  Nero's),  in  einem  Kreise 
von  Grammatikern  und  Rhetoren  mit  grossem  Pathos  und  einem 
Ueberfluss  von  Worten  die  literarischen  Fragen  des  Tages;  sie 
sprach  von  Dido  und  verglich  abwägend  Virgil  und  Homer  mit 
einander^).  Polybius,  der  Freigelassene  des  Claudius,  ein  sehr 
einfiussreicher  Höfling  und  literarischer  Dilettant,  wahrscheinlich 
von  der  Art  wie  sein  Herr  selbst,  unternahm  eine  lateinische 
Paraphi'ase  Homers  und  eine  griechische  Virgils,  und   Seneca   spen- 


1)  „Cetera  saue  vitae  et  ore  et  animo  tarn  probum  coustat  ut  Nea- 
poli  Parthecias  vulgo  appellatus  sit.'  Donat.  Vit.  Vergil.,  p.  öl.  „anima 
candida".  Horat.  Sat.  I,  5,  41.  Einige  alte  Commentatoren  des  Horaz 
haben  auch  Virgil,  wenn  gleich  mit  Unrecht,  in  den  Worten:  „Iracun- 
dior  est  paulo  etc."     Sat.  I,  3,  29  S.  erkennen  woUen. 

2)  „Malo  securum  et  secretum  Vergili  recessum,  in  quo  tarnen  neque 
apud  divum  Augustum  gratia  caruit,  neque  apud  populum  romauum  no- 
titia.  Testes  Augusti  epistulae,  testis  ipse  2)opulus,  qui,  auditis  in 
theatro  Vergili  versibus,  surrexit  universus,  et  forte  praesentem  spectan- 
temquc  Vergilium  veneratus  est  sie  quasi  Augustum."  Dial.  de  Ora- 
torr.  lo.  Seine  „apud  populum  romanuui  notitia"  geht  auch  aus  der 
Biographie  hervor:  „ut....  si  quando  Romae,  quo  rarissime  commeabat, 
viseretur  in  publico,  sectautis  demoustrautisque  se  suifugeret  in  proxi- 
nium  tectum."     Donat.  Vit.  Vergil.  p.  57. 

3)  Sat.  VI,  434  fi.: 

„Illa  tarnen  gravior,  quae  cum  discumbere  coepit 
laudat  Vergilium,  periturae  iguoscit  Elisae, 
committit  vates,  et  comparat;  inde  Maronem, 
atque  alia  parte  in  trutiua  suspendit  Homerum. 


24  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

dete  ihm  in  der  ihm  gewidmeten  Schrift  für  sein  Werk  ^)  ebenso 
aufrichtige  Complimente  wie  seinem  Kaiser,  dem  späteren  Helden 
der  Apokolokynthosis.  Anch  das  Theater  war  ein  Feld,  auT  dem 
sich  die  grosse  Popularität  des  Dichters  zeigte.  Hier  recitirte  man 
nicht  nur  zu  Virgils  Lebzeiten  und  mehrere  Jahrhimderte  nach 
seinem  Tode  hindurch  seine  Verse  ^),  sondern  man  benutzte  die- 
selben sogar  zu  besonderen  Darstellungen.  Der  von  allen  Seiten 
bedrohte  Nero ,  da  er  sein  Ende  herannahen  sah ,  gelobte ,  wenn 
er  am  Leben  bliebe,  selbst  eine  pantomimische  Composition  Tur- 
nus, deren  Stoff  er  der  Aeneis  entnehmen  wollte,  zur  Aufführimg 
zu  bringen^).  Es  gehörte  ferner  zu  einem  Raffinement  der  Mode, 
bei  reichen  Gastmälem  unter  anderen  Unterhaltungen  auch  Vir- 
gilische  und  Homerische  Verse  recitiren  zu  lassen.  So  sehen 
wir  bei  der  üppigen  Tafel  des  Trimalchio  die  Homeristen  eine 
Rolle  spielen,  und  hören,  wie  ein  declamirender  Sklave  den 
fünften  Gesang  der  Aeneis  misshandelt^).  Unter  den  Geschenken 
(Xenia),  die  man  der  Sitte  nach  zu  gewissen  Zeiten  machte,  be- 
fanden sich  auch  hin  und  wieder  Bücher,  die  gerade  in  der  Mode 
waren;  und  darunter  einige  der  kleineren  Gedichte,  wie  die  gan- 
zen   Werke    Homers    \ind    Virgils,    häiifig    mit   dem   Bildnisse  des 


1)  Homerus  et  Vergilius  tarn  bene  de  humano  genere  meriti  quam 
tu  et  de  omnibus  et  de  illis  meruisti,  quos  pluribus  notos  esse  voluisti 
quam  scripserant,  multum  tecum  morentur."  Dial.  XI,  (Ad  Polyb.  de 
consci.)  8,  2.  „Agedum  illa  quae  multo  ingeni  tui  labore  celebrata  sunt, 
in  manus  sume,  utriuslibet  auctoris  carmina,  quae  tu  ita  resolvisti  ut 
quamvis  structura  illorum  recesserit,  permaneat  tarnen  gratia.  Sic  enim 
illa  ex  alia  Lingua  in  aliam  transtulisti,  ut,  quod  difficillimum  erat, 
omnes  virtutes  in  alienam  te  orationem  secutae  sint."     Ebend.  11,  5. 

2)  „Auditis  in  theatro  Vergili  versibus."  Dial.  de  Oratorr.  a.  a.  0. 
„bucolica  eo  successu  edidit  ut  in  scena  quoque  per  cantores  crebro 
recitarentur"  Donat.  Vit.  Vergil.  p.  60. 

3)  „Sub  exitu  quidem  vitae  palam  voverat,  si  sibi  incolumis  status 
permansiaset,  proditurum  se  partae  victoriae  ludis  etiam  hj-draulam  et 
choraulam  et  utricularium,  ac  novissimo  die  histrionem,  saltaturumquc 
Vergili  Turnum."  Sueton.  A'^I,  54.  vgl.  Jahn,  im  Hermes  II.  p.  421. 
Friedlaender,  Sittengeschichte  II.  274. 

4)  .,Ecce  alius  ludus.  Servus  qui  ad  pedes  Habinnae  sedebat,  iussus, 
credo,  a  domino  suo,  proclamavit  subito  canora  voce:  „Interea  medium 
Aeneas  iam  classe  tenebat."  Nullus  sonus  unquam  acidior  percussit  aures 
meas;  nam  praeter  recitautis  barbarie  aut  adiectum  aut  deminutum  cla- 
morem,  miscebat  Atellanicos  versus,  ut  timo  primum  me  Vergilius  ofFen- 
derit."    Petron.  Sai.  68. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  25 

Dichters    geschmückt    und    sauber    auf    ein    kleines    Format    ge- 
schrieben ^). 

Der  Name  Virgils  und  der  Dichter  der  neuen  Schule  blieb 
aber  nicht  blos  auf  Rom  beschränkt,  sondern  durchlief  in  einem 
Augenblicke  auch  die  Provinzen.  Unter  den  zahlreichen  Inschriften, 
die  man  auf  den  Mauern  von  Pompeji  eingekratzt  sieht,  befinden 
sich  einige  Verse  aus  Ovid  und  Properz ,  aber  weit  häufiger  Verse 
aus  Virgil^).    Einer  von  diesen  zeigt  uns  den  TOsten  Vers  der  S.Ekloge  : 

Carminibus  Circe  socios  mutavit  Ulixis; 
ein  anderer  lautet: 

Eusticus  est  C'orydon^), 
ein  dritter,  der  einen  traurigen  Eindruck  in  der  zerstörten  und  ver- 
lassenen Stadt  macht: 

Conticuere  om(nes). 

Die  Inschriften  rühren  wahrscheinlich  von  Schülern  her,  von 
denen  auch  die  Alphabete  oder  Theile  solcher  herstammen, 
die  an  einigen  Stellen  in  Pompeji  auf  die  Wand  aufgezeichnet 
sind**).       Als      sich     die     Katastrophe    Pompejis     79    nach     Chr. 

1)  „Accipe  facundi  Culicem,  studiose  Maronis 

ne  nugis  positis  Arma  virumque  canas." 

Mart.  XIV,  185. 
„Quam  brevis  immensum  cepit  membrana  Maronem  ! 
Ipsius  Tultus  prima  tabella  gerit." 

Ebend.  XIV,  186. 
Ausser  Homer  und    Virgil  finden  wir  unter  diesen    Xenien  im    Martial 
Menander,   Cicero^,  Properz,  Livius,   Sallust,  üvid,  TibuU,  Lucan,  Catull. 

2)  Vgl.  Bücheier,  die  pompejanischen  Wandinschriften  im  Rh. 
Mus.  N.  F.  XII,  250  ff.  Garrucci,  Graffiti,  tav.  VI,  5  (Aen.  II,  148). 
Neue  Ausgrabungen  vermehren  diesen  Bestand  der  Virgilischen  Verse,  wie 
anderer  Schriftsteller.  In  der  Sammlung  Zangemeisters  „Inscriptiones 
parietariae  pompejanae^  herculanenses,  stabianae"  (IV  Vol.  des  Corp. 
insc.  latt.)  Berlin  1871  sind  Virgilische  Verse  oder  Theile  solcher  die 
Nummern  1237  (Aen.  V,  110)  1282  (Aen.  I,  1)  1524  (Ecl.  2,  56)  1527 
(idem)  1672  (Aen.  I,  1)  1841  (Aen.  II,  148)  2213  (Aen.  II,  1)  2361 
(Aen.  I,  1)  3151  (Aen.  II,  1)  3198  (Aen.  I,  1).  Dazu  kommen  noch  zwei 
andere  im  „Giornale  degli  Scavi  di  Pompei"  24.  Serie  Voi.  I,  281  publi- 
cirte  Inschriften  p.  281  (Aen.  I,  234),  Voi.  II,  p.  35.  (Aen.  I,  1). 

3)  Die  gewöhnliche  Lesart  ist:  rusticus  es  Corydon,  aber  der 
Cod.  Rom.  hat  est  wie  die  pompejanische  Inschrift. 

4)  Vgl.  Garrucci,  Graffiti,  tav.  I.  Wie  bekannt  unterrichteten  die 
Elementarlehrer  im  Freien,  auf  Plätzen,  Strassen  und  unter  Portiken. 
Vgl.  Ussing,  Darstellung  des  Erziehungs-  und  Unterrichtswesens  bei  den 
Griechen  und  Römern  (übers,  von  Friedrichsen,  Altena  1870)  p.  100  f. 
Ueber  die  auf  die  Schule  bezüglichen  Darstellungen  der  alten  pompeja- 
nischen Wandgemälde  vgl.  Jahn:  „Ueber  Darstellungen  des  Handwerks 
und  Handelsverkehrs  auf  antiken  Wandgemälden"  (Leipz.  1868)  p.  288  ff. 


26  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

ereignete,  war  Virgil  seit  98  Jahren  todt,  aber  obwol  ohne 
Zweifel  der  grössere  Theil  der  eingekratzten  Inschriften  in  den 
Zeitraum  zwischen  der  letzten  Katastrophe  und  der,  welche  ihr  um 
16  Jahre  vorausging,  zu  setzen  ist,  sind  doch  viele  sicher  weit 
älter;  eine  von  ihnen  gehört  bestimmt  dem  Jahre  79  vor  Chr.  an, 
und  eins  der  Alphabete  muss  man  auch,  wie  es  scheint,  der  Zeit 
der  Kepublik  zuschreiben^).  Virgils  Name  war  in  Campanien, 
seinem  Lieblingsaufenthalt,  schon  so  lange  er  lebte,  sehr  berühmt; 
durch  sein  Grab  in  Neapel  aber  wurde  derselbe  auf  eine  ganz  be- 
sondere Weise  localisirt.  Nichts  hindert  uns  daher  zu  glauben, 
dass  jene  Verse  auf  den  Mauern  Pompeji's  aus  einer  dem  Leben 
des  Dichters  sehr  viel  näher  stehenden  Epoche  stammen,  viel- 
leicht gar  aus  der  Zeit,  in  der  er  noch  lebte.  Die  Verse  „Rusti- 
cus  est  Corydon"  und  „Conticuere  omnes"  sind  noch  heute  zwei  der 
allerbekanntesten  Stellen  des  Virgil,  deren  sich  jeder  erinnert,  der 
die  Schule  besucht  hat.  Allein  nicht  blos  die  pompejanischen 
Graffiti  liefern  den  Beweis  für  die  Popularität  Virgils;  auch  un- 
ter den  speciell  sogenannten  Inschriften  begegnen  uns  auf  den 
Gegenständen  der  verschiedensten  Art  Verse  des  Dichters:  auf 
einem  silbernen  Löffel,  einem  Ziegel,  einem  Flachrelief,  das  eine 
Wildprethändlerin  darstellt,  sowie  endlich  auf  Grabdenkmälern^). 
Aber  der  bemerkenswertheste  Triumph,  den  Virgil  und  an- 
dere augusteische  Dichter  feierten,  war  doch  der  Umstand,  dass 
ihre  Werke  einen  Platz  im  Untemcht  erhielten.  Nachdem  ein- 
mal durch  dieselben  die  Lücke,  die  sich  seit  so  langer  Zeit  in  der 
lateinischen  Literatur  bemerkbar  gemacht  hatte ,  ausgefüllt  war, 
wäre  es  Thorheit  gewesen,  wenn  man  in  der  Schule  der  alten 
Tradition  hätte  folgen  und  nicht  vielmehr  von  dem  neuen  leben- 
digen Elemente,  das  sich  den  Studien  darbot,  Nutzen  ziehen 
wollen.  Ohne  Zweifel  mehr,  als  gewisse  Reformen  des  Augustus, 
trug  die  Entwickelung  der  Literatur  und  der  Grad  der  Vollen- 
dung, den  dieselbe  mit  Cicero  und  Virgil  erreicht  hatte,  zum 
Aufl^lühen  der  grammatikalischen  Studien,  als  einer  Specialwissen- 
Unter  den  pompejanischen  Graffiti  ein  sehr  sonderbarer  grammatika- 
lischen Inhaltes  bei  Garrucci,  tav.  17.  Jahn,  a.  a.  0.  p.  288. 

1)  Bücheier,  a.  a.  0.  p.  246. 

2)  Auf  einem  silbernen  Löffel  liest  man  den  17.  Vers  der  1.  Ekloge, 
auf  einem  Flachrelief  der  villa  Albani  die  Verse  607  ff.  des  ersten  Ge- 
sanges der  Aeneis;  S.  Jahn,  Ber.  d.  süchs.  Ges.  d.  Wiss.  1861  p.  365; 
auf  einemi  Ziegel  aus  dem  1.  Jahrhundert  die  beiden  ersten  Verse  der 
Aeneis.  S.  Archäolog.  Anz.  1864  No.  184.  p.  199.  Virgilische  Verse  auf 
Grabinschriften  bei  Marini,  Frat.  arv.  p.  826  f.  Papiri  diplom.  p.  332  f. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  27 

Schaft,  bei.  Kaum  waren  die  neuen  Dichtungen  zu  Tage  getreten, 
als  sich  Grammatiker  ihrer  im  Unterricht  bedienten,  unter  ihnen 
als  der  erste  vermuthlich  Q.  Caecilius  Epirota,  ein  Fi-eigelassener 
des  Atticus,  welcher  nach  Sueton  zuerst  in  seinem  Elementar- 
unterricht die  Knaben  in  der  Leetüre  Virgils  und  anderer  neuer 
Dichter  unterwies  ^).  Für  einen ,  der  nicht  Specialstudien  über  den 
Zustand  der  Cultur  und  den  Unterricht  jener  Epoche  gemacht  hat, 
ist  es  schwer,  sich  genau  vorzustellen,  wie  gross  die  Macht  und  der 
Einfluss  der  Grammatiker  auf  die  Bildung  und  Entwickeluug  lite- 
rarischer Berühmtheiten  war.  Bei  dieser  fieberhaften  literarischen 
Production,  die  nicht  blos  durch  den  Geschmack  eines  Fürsten 
hervorgerufen,  sondern  auch  in  Folge  des  äussern  Glanzes  der 
Zeit  Modesache  geworden  war,  weshalb  sich  sogar  ein  Trimalchio 
als  Literat  gerirte,  waren  die  Mittel  die  zu  Popularität  und  Gunst 
führten  auf  das  eifrigste  begehrt.  So  bezahlte  man  bei  den  reci- 
tationes  die  Claqueurs^),  man  verschmähte  kein  niedriges  Mittel, 
um  sein  Werk  in  den  Schulen  der  Grammatiker  einführen  zu 
können,  und  so  die  armseligen  Producte  der  eigenen  Muse  durch 
den  Unterricht  gleichsam  einer  höheren  Weihe  für  würdig  er- 
achtet zu  sehen.  Die  Verachtung,  mit  der  Horaz  von  diesen 
Mitteln  spricht,  beweist,  wie  sehr  sie  angewandt  wurden^). 
Sicher  ist  es ,  dass  es  sich  der  Mühe  verlohnte  nach  der  Ehre  zu  stre- 
ben, in  den  Schulen  gelesen  zu  werden.  Denn  eben  die  Grammatiker 
waren  es,  die  jenen  Kanon  von  Poeten  auswählten,  der  allein  auf 
dem  Wege  durch  die  Schulen  auf  uns  gekommen  ist.  Viele 
Schriften  wären  nicht  verloren,  wenn  sie  das  Glück  gehabt  hätten, 
von  den  Lehrern  als  mustergiltige  Lectüi-e  eingeführt  zu  werden; 
und  so  sind  auch  viele  andere  erhalten,  die  diese  Ehre  eigentlich 
nicht  verdienten.  So  lange  noch  ein  gewisser  guter  Geschmack 
herrschte,  behauptete  Virgil  in  den  Schulen  den  ersten  Platz,  und 
zugleich  mit  ihm  Terenz,  Horaz,  Ovid,  Catull  imd  die  anderen  auf 
uns  gekommenen  Dichter  der  guten  Zeit.  Später,  als  die  Rhe- 
torik  mehr    und   mehr   den   Platz   der   Poesie    eingenommen  hatte, 


1)  „Primus  dicitur  latine  ex  tempore  disputasse  primusque  Vergilium 
et  alios  poetas  novos  praelegere  coepisse."  Sueton.  de  gramm.  et 
rhet.  16. 

2)  Vgl.  Helwig,  de  recitatione  poetanim  apud  romanos,  p.  20  f. 

3)  „Non  ego  ventosac  plebis  suffi-agia  venor 
Impensis  coenarum  et  tritae  munere  vestis: 
Non  ego  nobilium  scriptorum  auditor  et  ultor 
Grammaticas  ambire  tribus  et  pulpita  dignor." 

Hör.  Epist.  I,  19,  37  ff. 


28  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

bediente  man  sich  Lucan's,  Juvenals,  Statins'  und  anderer  als 
mustergiltiger  Schriftsteller,  für  die  jedoch  der  Vergleich  mit  den 
ersteren  mehr  zum  Nachtheil  ausschlug.  Indessen  wurden  auch 
die  älteren  fortwährend  zugleich  mit  den  jüngeren  weiter  gelesen 
und  studirt;  vor  allen  Virgil,  der  mit  Homer  (so  lange  die  grie- 
chischen Studien  noch  gepflegt  wurden)  den-  Anfang  des  Unterrichts- 
cursus  bildete  ^). 

Das  ganze  erste  Jahrhundert  der  Kaiserzeit  wie  einen  Theil 
des  zweiten  hindurch  kommt  das  grammatikalische  Studium  zu 
hoher  Blüthe,  beherrscht  das  ganze  Gebiet  der  Literatur  und  gibt 
Specialisten  Gelegenheit  zu  wichtigen  und  gelehi'ten  Werken,  die 
dann  von  den  Grammatikern  der  späteren  Zeiten  geplündert  wer- 
den. Ihr  Vorbild  fanden  diese  Arbeiten  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  in  den  grammatikalischen  Studien  der  Griechen.  Obgleich 
mau  aber  für  die  Erklärung  Virgils  eben  so  viel  that,  als  fiiiher 
für  Homer  geschehen  war,  musste  doch  die  Benutzung  des  ersteren 
als  einer  grammatischen  Autorität  sehr  verschieden  von  der  Art 
sein,  wie  die  Griechen  den  Homer  behandelt  hatten.  Hierin 
weicht  der  Ruhm  Virgils  von  dem  Homers,  mit  dem  er  ja 
äusserlich  so  viele  Bei'ührungspuncte  hat,  durchaus  ab.  Homer 
war  von  den  Alexandrinern  zwar  viel  studirt  imd  illustrirt  wor- 
den, aber  seine  Sprache  und  Form  hatten  damals  nur  einen  hi- 
storischen Werth;  und  wenn  sie  immerhin  noch  in  gewissen  Dich- 
tungen aus  künstlerischen  oder  akademischen  Gründen  angewandt 
werden  konnte,  so  hätte  sie  doch  niemals  die  Basis  für  eine 
grammatikalische  Theorie  abgeben  können,  welche  dazu  bestimmt 
gewesen  wäre,  den  allgemeinen  Sprachgebrauch  der  Schrift- 
steller zu  beherrschen.  Virgil  hingegen,  in  welchem  sich  die  la- 
teinische Dichtersprache  am  schönsten  und  bestimmtesten  ent- 
wickelt hatte,   war   und   musste   die   feste  Basis  imd  unantastbare 

1)  „Ideoque   optime    institutum    est   ut   ab  Homero  atque   Vergilio 
lectio  inoiperet."     Quint.  I,  85. 

,,Cui  tradas,  Lupe,  filium  magistro 
(juaeris  sollicitus  diu  rogasque. 
Omnes  grammaticosque  rhetorasque 
Devites  moneo;  nihil  sit  illi 
Cum  libris  Ciceronis  aut  Maronis." 

Mart.  V,  56. 
üummodo  non  pereat,  totidem  olfecisse  lucernas 
Quot  stabant  pueri,  cum  totus  discolor  esset 
Flaccus,  et  haercret  nigra  fuligo  Maroni." 

luveual.  VII,  215  ff. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  29 

Autorität  für  jede  grammatische  Theorie  und  Thätigkeit  über- 
haupt sein^).  Er  ist  zugleich  der  Polarstem  für  alle  Gramma- 
tiker und  in  das  Studium  des  Virgil  vertieft  sich  jeder,  der 
sich  jener  Wissenschaft  widmet^').  Ohne  Zweifel  gab  es  kei- 
nen anderen  lateinischen  Schriftsteller,  über  den  so  viele  Gram- 
matiker geschrieben  haben,  keinen,  der  so  wie  er  zur  Abfassung 
gi-ammatischer  Werke  beigetragen  hat. 

Seine  literarische  Bedeutung  wie  seine  grammatikalische  Au- 
torität erforderten  eine  grosse  Sicherheit  in  der  ursprünglichen 
Lesart  seines  Textes,  imd  mehrere  Kritiker  beschäftigten  sich  da- 
mit, nicht  allein  denselben  durch  Conjecturen  zu  verbessern,  son- 
dern auch  durch  Herbeiziehung  wichtiger,  von  seinen  Erben  her- 
stammenden Manuscripten  und  Autographeu,  die  es  noch  zu  den 
Zeiten  des  Plinius,  Quintilian  und  Gellius  gab,  zu  emendiren^). 
Ausser  der  Textkritik  bildete  die  Erklärung  schwieriger  Stellen,  Wörter, 
mythologischer  und  geographischer  Citate ,  wie  stilistische  Be- 
trachtungen dieser  oder  jener  Stelle  für  sich  und  im  Vergleiche 
mit  einem  anderen  griechischen  Schriftsteller,  die  Hauptgegen- 
stände der  gelehrten  Abhandlimgen  des  Hygin,  (eines  Freundes  des 
Ovid  und  der  neuen  Dichterschule) ''^) ,  des  Probus,  den  man  den 
lateinischen  Aristarch  nennen  darf,  des  Annaeus  Cornutus 
und  anderer  nicht  einmal  vollständig  bekannter  Grammatiker, 
deren    Aiifzähluug    wir    übergehen    können;    während    andere    wie 


1)  Quintilian,  indem  er  von  corte x,  das  als  masculinum  und  fe- 
mininum  gebraucht  wird,  spricht,  sagt:  ....  „quorum  neutrum  reprehendo, 
cum  sit  utriusque  Vergilius  auctor"  I,  5,  35.  Die  Grammatiker  der  spä- 
teren Jahrhunderte  halten  an  dieser  Tradition  unverrückbar  fest  :  „stiria 
dicuntiu;  ab  stillis,  quae  Vergilius  genere  feminine,  Varrò  neutro  dixit; 
sed  vicit  Vergili  auctoritas."  Lib.  de  dubiis  nominib.  Keil.  V,  590;  „mella 
tantum  trijitotou  est;  vicit  propter  auctoritatem  Vergilianam."  Fragm. 
bot.  de.  nomine.  Keil  V,  558. 

2)  „Grammaticus  futurus  Vergilium    scrutatur."     Seneca  Epist.  108. 

3)  „lam  vero  Ciceronis  ac  divi  Augusti  Vergilique  (monimenta  manus) 
saepenumero  videmus."  (Plin.  Nat.  bist.  XIII,  83).  Quo  modo  et  ipsum 
(Ciceronem)  et  Vergilium  scripsisse  manus  eorum  docent."  Quintil.  I,  7,  11. 
„Quod  ipse  (Hyginus)  invenerit  in  libro  qui  fuerit  ex  domo  atque  familia 
Vergib,"  Gell.  N.  A.  I,  11,  1.  „in  primo  Georgicon,  quem  ego,  inqmt 
(Probus),  manu  ipsius .  correctum  legi."  Ebend.  XIII,  2,  4.  „qui  scripse- 
runt  idiographum  librum  Vergili  se  inspexisse."  Ebend.  IX,  14,  7; 
„ . .  . .  ostendisse  mihi  librum  Aeneidos  secundum  mirandae  vetustatis, 
emptum  in  sigillariis  viginti  aureis,  quem  ipsius  Vergili  fuisse  credebatur." 
Ebend.  II,  3,  5. 

4)  „Vatum  Studiosus  novorum"  nennt  ihn  Ovid.  Trist.  III,  14,  7. 


30  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

Asper  Commentare    schrieben,    welche    des  Dichters  Werke   erläu- 
terten. 

Abgesehen  von  den  direct  auf  Virgil  bezüglichen  Arbeiten,  gab 
es  nun  aber  auch  viele  grammatikalische  Werke ,  in  denen  die  aus 
Virgil  angeführten  Beispiele  die  aus  anderen  Schriftstellern  ent- 
lehnten bei  weitem  überwogen.  Daher  entstand  eine  Wechsel- 
wirkung zwischen  den  Commentaren  zum  Virgil  und  den  gram- 
matikalischen Arbeiten,  in  Folge  deren  sich  eine  Bemerkung  die 
zu  den  ersteren  gehört,  in  letzteren  wiederfindet  und  umgekehrt^). 
Jene  Schriften  sind  uns  freilich  nicht  unmittelbar  bekannt,  aber  die 
späteren  Grammatiker,  die  sich  derselben  für  ihre  Compilationen 
bedienten,  können  uns  eine  Idee  von  der  Art  geben,  wie  man 
den  Dichter  benutzte.  Der  hauptsächlichste  Vorzug,  in  Folge 
dessen  Virgil  in  jenen  Werken  als  der  König  der  Schriftsteller  er- 
scheint, war  die  Proprietät  seiner  Sprache^).  Einen  klaren  Be- 
leg für  die  Autorität  des  Dichters  bei  den  Grammatikern  haben 
wir  z.  B.  in  dem  gegen  das  Ende  des  3.  Jahrhunderts  verfassten 
Werke  des  Nonius,  in  welchem  der  Autor  wenig  oder  nichts  von 
sich  selbst  gab  und  sich  darauf  beschränkte,  frühere  Werke  zu 
compiliren,  was  für  uns  gerade  von  Werth  ist.  In  dieser  nicht 
allzu  vimfangreichen  Schrift,  in  der  wii-  so  zu  sagen  die  Summe 
aller  der  von  fi-üheren  Grammatikern  angeführten  Autoritäten  be- 
sitzen, belaufen  sich  die  aus  Virgil  entnommenen  Beispiele  auf 
1500^),  an  welche  Ziffer  keiner  der  zahlreichen  andern  citirten 
Schriftsteller  weder  aus  der  Zeit  der  Republik  noch  der  Kaiser- 
herrschaft (der  jüngste  ist  Martial)  nur  von  fern  heranreicht.  Und 
dasselbe  Uebergewicht  findet  man  auf  dem  ganzen  Gebiete  gram- 
matikalischer Studien,  wovon  man  sich  leicht  überzeugen  kann, 
wenn  man  z.  B.  das  Verzeichniss  der  citii'ten  Autoren  in  der  Keu- 
schen Ausgabe  überblickt.  Um  es  kurz  zu  sagen,  der  Gebrauch, 
den  die  Grammatiker  von  Virgil  machten,  ist  so  ausgedehnt,  dass, 
wenn  auch  alle  Handschriften  des  Virgil  verloren  wären ,  man  mit 
Hilfe  der  Notizen,  welche  uns  die  Alten  über  die  Dichtungen 
Virgils  gellen,  und  der  daraus  allein  von  den  Grammatikern  ci- 
tirten Stellen   Bucolica,  Georgica  und  Aeneis  zum    gTössten  Theile 


1)  Vgl.  Keil,  Gramm.  Lat.  V,  7.  (Praef.  ad  Cledonium). 

2)  „Quis  ad  sophisticas  Isocratis  conclusiones,  quis  ad  entliymeiiiata 
Deuiosthenis,  ant  opulentiam  Tulliauam  aut  proprietatem  nostri  Marouia 
accedat?"  Auson.  Epist.  XVII,  3. 

.S)  Schmidt,  de  Nouii  Marcelli  auctoribus  grammatici^,  p.  4.  f.  96.  fl'. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  31 

reconstniii-en  könnte^).  Der  grössere  Theil  dieser  Beispiele  hätte 
ohne  Zweifel  auch  einem  anderen  Autor  entlehnt  werden  können; 
aber  die  Autorität  Virgils  war  eben  geradezu  die  erste,  Virgil 
war  gleichsam  die  Bibel  jener  Leute,  das  erste  aller  scholastischen 
Bücher,  das  Jedermann  zur  Hand  hatte. 

Die  Schule  und  der  mündliche  Unterricht  bildeten  den  Mittel- 
punct  für  die  Thätigkeit  aller  dieser  Grammatiker.  Das  jedoch, 
was  wir  mittelbar  von  ihren  Schriften  kennen,  gehört  sicher  nicht 
in  die  niederen  und  elementaren  Regionen  des  Unterrichtes.  Va- 
lerius  Probus,  der  ausgezeichnetste  unter  den  Erklärern  Virgils, 
hielt  keine  eigentliche  Schule,  sondern  sprach  nur  über  gelehrte 
Gegenstände  vor  einem  kleinen  und  gewählten  Zuhörerkreise. 
Nichts  destoweniger  wurden  einige  gelehrte  und  wichtige  Abhand- 
lungen, wie  z.  B.  die  des  Asper,  für  den  Unterricht  geschrieben, 
und  im  allgemeinen  benutzte  man  viele  Observationen  und  Erläu- 
terungen, die  sich  in  kritischen  imd  gelehrten  Abhandlimgen  fan- 
den, für  die  Schule.  Vermittelst  der  auf  uns  gekommenen  gelehr- 
ten Literatur  jener  Zeit  lässt  sich  beinahe  der  Gang  des  Elemen- 
tarunterrichtes errathen.  Virgil  war  das  erste  lateinische  Buch, 
das  die  Kinder  in  die  Hände  bekamen,  nachdem  sie  lesen  und 
schreiben  gelernt  hatten,  und  später  diente  dasselbe  ebenso  zum 
höheren,  wie  zum  Elementarunten-icht.  Zuerst  benutzte  es  der 
Lehrer  um  den  Schüler  siungemäss  lesen  zu  lehren,  indem  er  da- 
lie! zeigte,  wann  die  Stimme  pausiren,  wann  sie  sich  heben  und 
senken  müsse").  Diese  Wahl  des  Virgil  fwie  auch  des  Homer) 
als  Leetüre  für  die  Schule  wird  von  Quintilian  gelobt  nicht  allein 
wegen  der  Schönheit  ihrer  Poesie,  sondern  auch  wegen  des  ehren- 
haften und  edlen  Gefühls,  welches  beide  Gedichte  athmeu;  „obgleich", 
so  fährt  er  fort,  ,,zum  Verstau dniss  ihrer  Schönheiten  ein  reiferes 
Urtheil  gehört;  doch  dafür  sorgt  die  Zeit,  denn  man  liest  diese 
Werke  nicht  blos  einmal^)".  Ferner  bediente  sich  der  Gramma- 
tiker derselben  Leetüre,  um  die  Knaben  darin  zu  üben,  die  poe- 
tischen Perioden  in  Prosa  zu  verwandeln,  die  Quantität  der  Worte 
zu    erlernen    und    alles    das    wahrzunehmen,    was    unregelmässig, 


1)  S.  die  Anmerkungen  in  der  Ausgabe  von  Ribbeck. 

2)  Quintil.  I,  8,  1. 

3)  „Quamquam  ad  intelligendas  eorum  virtutes  fu-miore  iudicio  opu.s 
est;  sed  huic  rei  superest  tempus,  neque  euim  semel  legentur.  Interim 
et  sublimitate  heroici  carminis  animus  assurgat,  et  ex  magnitudine  rerum 
spiritum  ducat,  et  optimis  imbuator.  Quint.  I,  8,  5. 


32  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

fremd  und  nicht  spracbgemäss  ist,  „abtr  nicht  um  die  Dichter  zu 
tadeln,  denen  aus  metrischen  Gründen  viele  Freiheiten  gestattet 
sind^)".  Und  so  kommt  der  Knabe  mit  Hilfe  dieser  Uebung  da- 
hin, sich  in  der  Erklärung  und  Erläuterung  zu  versuchen.  Freilich 
hing  dies  alles  mehr  oder  weniger  von  der  Kenntniss  der  Gramma- 
tiker ab,  die  im  allgemeinen  nicht  allzu  gross  war.  Manche 
unter  ihnen  waren  sogar  ziemlich  ungebildet,  um  von  vielen  Char- 
latanen  ganz  zu  schweigen.  Den  weniger  gebildeten  empfiehlt  Quin- 
tilian  das,  was  sich  in  den  am  häufigsten  bei  dem  Elementar- 
unterricht angewandten  Handbüchei-n,  fand"). 

Viertes  Capital. 

Einen  ähnlichen  Rang  wie  bei  dem  grammatischen  Unterricht 
behauptete  nun  aber  auch  Virgil  bei  dem  rhetorischen  Studium, 
welches  unmittelbar  auf  jenen  folgte  und  eng  mit  ihm  zusammen- 
hinge). Viele  Lehrer,  besonders  in  der  älteren  Zeit,  gaben  sich 
mit  ■  beiden  Unterrichtsgegenständen  zugleich  ab  '*).  Aber  wäh- 
rend die  Grammatik  im  ersten  Jahrhundert  aufblühte,  sank  die 
Rhetorik  immer  tiefer.  Sie  ist  eine  Schmarotzerpflanze,  der  mit 
dem  Aufhören  der  Freiheit  jeder  nährende  Boden  entzogen  ist, 
und  die  sich  nur  künstlich  aufrecht  erhält,  indem  sie  in  das  Feld  der 
Literatur  eindringt,  wo  sie  dieser  ein  neues  Colorit  gibt  und  ihre 
Producte  verfälscht.  Bei  der  fieberhaften  Declamationssucht,  die  so 
allgemein  war,  dass  sich  nach  ihr  Zweck,  Wissenschaft  und  Methode 
des  Unterrichtes  und  der  allgemeinen  Erziehung  gestalteten,  war 
der  Gebrauch  Virgils  sehr  verschieden.  In  der  Theorie  der  Rhe- 
torik, in  allem  was  sich  auf  die  Vorschriften  iind  Regeln  derselben 


1)  Quinti).  I,  8,  13  ff. 

2)  „Et  grammaticos  officii  sui  commonemus.  Ex  quibus  si  quis  erit 
plane  impolitus  et  vestibulum  modo  artis  huius  ingressus,  intra  haec 
quae  profitentium  commentariolis  vulgata  sunt  consistet;  doctiorcs  multa 
adicient."     Quintil.  I,  5,  8. 

3)  „Enimvero  iam  malore  cura  doccat  (grammaticus)  tropos  omnes, 
quibus  praecipue  non  poema  modo,  sed  etiam  oratio  ornatur,  Schemata 
ntraque  idest  figuras  etc.  etc."     Quintil.  I,  8,  IG. 

4)  Veteres  grammatici  et  rhetoricam  docebaut  ac  multorum  de  utraque 
arte  commentarli  feruntur  ;  secundum  quam  consuetudinem  posteriores  quo- 
que existimo,  quamquam  iam  discretis  professionibus,  nihilo  minus  vel  reti- 
nuisse  vel  instituisse  et  ipsos  quaedam  genera  institutionum  ad  eloquentiam 
praeparandam  ut  problemata,  paraphrasis,  allocutiones,  ethologias  atque 
alia  hoc  genus  ;  ue  scilicetsicci  omnino  atque  aridi  pueri  rhetoribus  trade- 
rentur."     Suet.  De  grammat.  et  rhetor,  4. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  33 

bezog,  entnahm  man  natürlich  für-  die  Exemplification  sehr  viel  aus 
dem  Dichter,  der  schon  durch  den  vorangegangenen  Elementai'- 
unterricht  bekannt  und  beniitzt  genug  war,  und  nach  welchem 
der  Grammatiker  die  Knaben  im  Aufsuchen  von  Tropen  und  Fi- 
guren eingeübt  hatte.  In  der  Praxis,  die  für  die  Schulen 
die  Hauptsache  war,  zog  man  aus  Yirgil,  abgesehen  von  den 
Stoffen  für  die  Declamation,  Sentenzen,  Bilder,  Gedanken,  rheto- 
rische Kunstmittel,  ahmte  seine  Beschreibungen  nach  imd  copii^te 
einige  glückliche  Ausdrücke.  Und  dieser  Gebrauch  des  Dichters 
inner-  wie  ausserhalb  der  Schule  findet  sein  Vorbild  schon  in 
frühester  Zeit  unter  den  ausgezeichnetsten  Rhetoren  des  Augustei- 
schen Zeitalters,  unter  welchen  ganz  besonders  Arellius  Fuscus, 
einer  der  zahlreichen  Freimde  des  älteren  Seneca,  um  sich  bei 
Maecenas  in  Gunst  zu  setzen^),  viel  von  Virgil  annahm.  Dem- 
selben Zwecke  hatte  auch  bereits  früher  Homer  gedient,  in  wel- 
chem die  Alten  das  fi-üheste  Denkmal  des  rhetorischen  Studiums 
erkannten;  sah  man  doch  sogar  die  Reden  der  Helden  von  einem 
rhetorischen  Standpunct  aus  an.  Selbst  der  nüchterne  Quintilian  ge- 
räth  in  Enthusiasmus,  wenn  er  von  den  Vorzügen  der  in  jeder  Hin- 
sicht so  grossen  Homerischen  Beredsamkeit  spricht^).  Viel  leichter 
aber  war  es,  rhetorische  Vorzüge  aus  Virgil  herauszufinden,  wel- 
cher in  der  That  nicht  weniger  als  alle  Dichter  der  Augusteischen 
Zeit  die  Schule  der  Grammatiker  und  Rhethoriker  durchgemacht 
hatte.  Ovid  beweist  in  seinen  Herolden  i^suasoriaej  deutlich  das  rhe- 
torische Studium  jener  Dichter.  Es  kann  ferner  auch  nicht  blos 
Zufall  sein,  werm  die  ältesten  Citate  Virgilianischer  Verse  sich  in 
dem  Munde  von  Rhetoren  finden,  die  des  Dichters  Zeitgenossen 
waren  und  sich  derselben  für  ihre  Compositionen  bedienten^). 

Wenn  die  .Augusteischen  Dichter  die  Rhetorik  noch  insofern  ab- 
zuwehren wussten,  als  sie  dieselbe  nicht  mit  der  Poesie  identificirten, 


1)  „Solebat  autem  ex  Vergilio  Fuscus   multa   trahere    ut  Maecenati 
imputaret."     Senec.  Suas.  3. 

2)  „Hie  enim  quemadmodum  ex  Oceano  dicit  ipse  amnium  fontiumque 
cursus  initium  capere,  omnibus  eloquentiae  partibus  exemplum  et  ortum 

dedit Xam,  ut  de  laudibus,  exhortatiouibus,  consolationibus  taceam, 

nonne  vel  nonus  über  quo  missa  ad  Achillem  legatio  continetur,  vel  iu 
primo  inter  duces  illa  contentio,  vel  dictae  in  secundo  sententiae  omnes 
litium  ac  consiliorum  explicant  artes?....  Jam  similitudines,  amplifica- 
tiones,  exempla,  digressus,  signa  rerum  et  argumenta  ceteraque  probandi 
ac  refutandi  sunt  ita  multa  ut  etiaui  qui  de  artibus  scripserunt  plurimi 
harum  rerum  testimonium  ab  hoc  poeta  petant."     Quint.  X,  1,  IG  iF. 

3)  Man  sehe  die  oben  citirten  Beispiele  aus  dem  älteren  Seneca. 

C  omparett  i,   VirRÜ  im  Mittelulter.  ^ 


34  Yirgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

uuteiiagcu  Jie  späteren  völlig  dem  Einfliisse  dieses  für  die  rö- 
mische Literatur  so  wesentlichen  Factors,  und  Lucan,  Silius  Ita- 
licus,  Valerius  Flaccus,  Statius  sind  in  Wahrheit  nur  versificirende 
Rhetoren.  Diese  Gleichstellung  von  Poesie  und  Ehetorik  brachte 
es  mit  sich,  dass  beide  Gattungen  sich  gegenseitig  ihre  Mittel 
abborgten.  Da  der  Geschmack  vom  Rhetor  dasselbe  wie  vom 
Dichter  verlangte,  so  musste  die  Poesie  bei  der  Rhetorik  Unter- 
stützung suchen.  Die  Redekunst  aber  war  inhaltslos  geworden 
und  kümmerte  sich  nicht  mehr  um  die  logischen  Hilfsmittel,  welche 
eine  verständige  Ueberredung  bezwecken;  sie  beschränkte  sich  auf 
literax'ische  und  formale  Mitttel,  und  fiel  schliesslich  jeder  sub- 
jectiven  Grundlage  baar,  Aufgaben  anheim,  die  jeder  Realität* 
und  jedes  Interesses  entbehrten.  Dadurch  kam  der  Redner  in  die 
Lage  des  Poeten,  und  war  fortan  bestrebt,  den  künstlerischen  und 
idealen  Charakter  der  Poesie  auch  der  rein  praktischen  Rhetorik 
aufzuprägen.  Indem  man  begeisterungslos  über  kindische,  fingirte 
und  interesselose  Gegenstände  oft  aus  dem  Stegreif  zu  decla- 
miren  begann,  musste  der  Mangel  an  Wärme  und  lebendiger 
Eegeisterung  künstlich  verdeckt  werden.  Man  nahm  also  zu 
dem  Zauber  der  poetischen  Sprache  seine  Zuflucht,  um  so  mehr, 
als  der  Geschmack  des  Publikums  sich  daran  gewöhnt  hatte, 
den  Wortklang  und  die  affektii-te  Phrase  zu  bewundern  ^).  Unter 
allen  Dichtungsgattungen  aber  entsprach  keine  so  dem  Geschmacke 
jener  Leute,  als  die  epische,  weil  sie  am  wenigsten  subjectiv  und 
am  reichsten  an  stilistischen  Abwechselungen  und  rhetorischen 
Situazionen  war.  Was  poetische  wie  rednerische  Vorzüge  anlangt, 
so  stand  Virgil  nach  allgemeiner  Anschauung  unter  allen  Dichtern 
nur  dem  Homer  nach,  und  dies  gibt  auch  Quintilian  zu,  der 
sonst  den  übermässigen  Gebrauch  der  Dichter  seitens  der  Redner 
missbilligt  und  z.  B.  von  dem  poetisch  armen  Lucan  geradezu 
sagt,   er  sei  für  die  Redner  wichtiger   als  für  die  Dichter").    Wie 


1)  Eine  Probe  der  poetischen  Productionen,  welche  in  dem  von  Do- 
mitian  veranstalteten  Capitolinischen  Wettkampfe  ausgezeichnet  wurden, 
besitzen  wir  in  der  Inschrift  zu  Ehren  des  12jährigen  Knaben  Q.  Sul- 
picius  Maximus,  welcher  sich  dm-ch  die  Improvisation  griechischer  in 
der  Inschrift  angegebener  Verse  ausgezeichnet  hatte.  Sie  sind  ihrem  Ton 
und  Inhalt  nach  rein  rhetorisch.  Von  der  Poesie  ist  nichts  als  das  Vera- 
nlass übrig  geblieben.  Vgl.  die  Ausgabe  C.  L.  Visconti's  „11  Sepolcro 
di  Q.  Sulpicio  Massimo"  Roma  1871. 

2)  „Ut  dicam  quod  scntio,  magis  oratoribus  quam  poetis  imitaudus" 
X,  1,  90.     Dass  die   Redner   am    Virgil   und    Hovaz   lernen  sollen,   wird 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  35 

sehr  Virgil  vou  den  Rethoreu  damaliger  Zeit  benutzt  wurde,  sehen 
wir  zur  Evidenz  aus  Annius  Florus,  welcher  im  Anfang  des  2. 
Jahrhunderts  in  einer  Specialschrift  die  Frage  behandelte:  „ob 
Virgil  mehr  Eeduer  als  Dichter  sei^j".  Natürlich  war  die  Au- 
torität Cicero's  unter  den  Rhetoren  gross,  die  Virgils  war  es  aber 
in  dem  Grade,  dass,  wie  der  Verfasser  des  Dialogus  de  Oratori- 
l)ns  bemerkt,  es  leichter  war,  jemanden  zu  finden,  der  von  Cicero 
als  von  Virgil  schlecht  spräche^}. 

Es  war  das  Schicksal  dieses  Dichters,  stets  zu  glänzen,  mochte 
die  Zeitströmung,  die  ihn  der  Nachwelt  überlieferte,  klar  oder 
trübe  sein.  Seneca,  welcher  Declamation  und  rhetorische  üeber- 
treibung  mit  der  Philosophie  zu  verschmelzen  suchte  und  auch 
trotz  aller  Mängel  dabei  durch  seinen  Geist  überrascht,  citirt 
keinen  Autor  so  oft  wie  Virgil,  den  er  hoch  verehrt,  und  den 
sein  Vater  noch  persönlich  gekannt  hatte  ^).  Er  gefiel  den  Rhe- 
toren schlechten  Schlages  wie  denen,  welche  sich  der  Zeitströ- 
mung entgegen  setzten;  er  gefiel  Quintilian*),  der  sich  unuöthig 
bemühte,  die  stilistischen  Studien  auf  den  richtigen  Weg  zurück- 
zubringen, wie  dem  Verfasser  des  Dialogus  de  Oratoribus  imd, 
falls  beide  nicht  eine  Person  sind,  dem  Tacitus,  der,  so  hoch  er  über 
dem  gemeinen  Geschmacke  und  den  Tendenzen  der  Schule 
stand,  doch  nicht  selten  zeigt,  den  Virgil  gut  gelesen  und  studirt 
zu  haben  ^).  Aber  die  Universalität  dieser  Bewunderung  wird  ganz 
besonders    dadurch    charakterisirt ,    dass    sich    auf   dem    Felde  der 


auch  im  Dialogus  de  Üratoribus,  20  vorgeschlagen:  „exigitur  enim  iam 
ab  oratore  etiam  poeticus  decor,  non  Acci  aut  Pacuvi  veterno  inquinatus, 
sed  ex  Horati  et  Vergili  et  Lucani  sacrario  prolatus." 

1)  „Vergilius  orator  an  poeta."  Von  der  Schrift  ist  nur  der  Anfang 
erhalten,  zuerst  von  Ritschi,  dann  von  Jahn  im  Florus  (Leipz.  1852) 
publicirt. 

2)  Flures  hodie  reperies  qui  Ciceronis  gloriani  quam  qui  Vergili  de- 
tractent."    De  Or.  12. 

3)  Diese  Verehrung  drückt  er  enthusiastisch  so  aus:  „Clamat  ecce 
maximus  vates  et  velut  divino  ore  instinctus  salutare  Carmen  canit: 
optima  quaeque  dies  etc."  Dial.  X  (de  brev.  vit.)  9,  2.  An  einer 
anderen  Stelle:  „Homerus  et  Vergilius  tam  bene  de  humano  genere 
meriti:"  Dial.  XI  (ad  Polyb.  de  Consol.)  8,  2.  „vir  disertissimus."  Dial. 
Vili,  1. 

4)  „Auctor  eminentissimus"  I,  10,  10.  „acerrimi  iudicii"  Vili, 
?,,  24.  „poesis  ab  Homero  et  Vergilio  tantum  fastigium  accepit"  Xll, 
11,  26. 

5)  Vgl.  ausser  Ernesti  auch  die  Bemerkungen  Dräger's  „Syntax 
und  Stil  des  Tacitus"  Leipz.  1868. 

3* 


3(3  Viigil  in  der  Literatiu-  bis  auf  Daute. 

Literatur  eine  den  Augusteischen  Dicbteini  ungünstige  Eeactiou 
erhebt,  deren  Ausdehnung  wir  kenneu  lernen  müssen,  ura  uns  zu 
erklären,  wie  gerade  Virgil  und  einige  andere  Poeten  seiner  Zeit 
davon  keinen  Schaden  gelitten  haben. 

Unter  den  vielen  Kunstmitteln,  durch  welche  die  Rhetoren 
der  verschiedenen  Schulen  bei  der  grossen  Beliebtheit  der  Decla- 
mationeu  dem  Verlangen  nach  Neuheit  Rechnung  trugen,  suchte 
man  der  Rede  einen  ernst  feierlichen  Charakter  zu  geben,  indem  man  sie 
verschränkte  und  dunkel  machte.  Einfach,  klar  xind  natürlich  zu  schrei- 
ben wäre  für  viele  wie  für  manche  Schriftsteller  der  Gegenwart  ein 
Majestätsverbrechen  gegen  die  Rhetorik  gewesen.  Ein  Redner  sagte 
zu  seinem  Schüler:  „Dunkler,  dunkler!",  und  der  Schüler  machte 
es  dunkler.  „Genug!"  i*ief  der  Lehrer  endlich  zufrieden  aus,  „so 
ist's  gut;  jetzt  ist  es  sogar  mir  vmmöglich,  etwas  davon  zix 
verstehen^)".  Diese  AfFectirtheit,  die  durch  den  Schein  von  Tiefe 
und  Gelehrtheit  imponiren  wollte,  führte  auch  zum  Gebrauche  un- 
gewöhnlicher und  veralteter  Wörter,  somit  zu  einer  Reaction  gegen  die 
letzte  grosse  Dichterschule  und  einem  Hervorsuchen  der  älteren 
Schriftsteller.  Die  Reihe  von  Versuchen,  durch  die  sich  bei  den 
Römern  die  Literatursprache  bildete,  brachte  es  natürlich  mit  sich, 
dass  auch  nach  der  Auffindung  einer  bestimmten  Form  für  Poesie 
und  Prosa,  selbst  den  Schriftstellern,  welche  zwar  nicht  selbst  das 
Ziel  ei-reicht,  doch  aber  zu  seiner  Erreichung  beigetragen  hatten, 
eine  gewisse  Autorität  blieb.  Abgesehen  von  den  wirklichen  Ver- 
diensten welche  die  Verehrung  der  alten  Poeten  und  Prosaiker 
bewirkten,  gab  es  mei'kwürdiger  Weise  geradezu  eine  theoretische 
Tradition,  welche  im  grammatischen  Studium  und  der  philologi- 
schen Bildung  auch  für  den  Schriftsteller  der  besten  Zeit  die  Au- 
torität der  Alten  fest  hielt.  Somit  hatten  die  Grammatiker 
jener  Sphäre,  aus  der  die  Bildung  jedes  Schriftstellers  hervorging, 
Gelegenheit,  fortwährend  die  alte  Literatur  zu  berücksichtigen. 
Die  neue  Richtung  aber,  das  Resultat  der  Einwirkung  Cicero's 
und  Virgils,  bot  zwar  in  diesen  beiden  Mustern  einen  reichen 
Schatz  gewählter  Ausdrucksformell  dar,  der  jedoch  für  den,  welcher 
mit  den  rein  mechanischen  Regeln  der  Grammatik  nicht  auch 
feinen,  natürlichen  Geschmack  verband,  nicht  so  leicht  zu  ver- 
werthen  war.  In  einer  Zeit,  in  der  philologische  Bildung  und 
Gelehrsamkeit  allgemein  bewundert  und  vom  Publicum  bei  den 
Schriftstellern  verlangt  ward,  einer  Zeit,  in  der  ein  beträchtlicher 


1)  Quintil.  VIIT,  2,  12  ff. 


Virgil  iu  der  Literatur  bis  auf  l>iintt'.  37 

Theil  des  literarischen  Besitzthums  der  Nation  in  einer  grossen 
Zahi  unvollkommener  aber  gleich wol  nicht  verächtlicher  alter 
Autoren  bestand,  konnte  der  Geschmack  des  Schriftstellers  iu  der 
Auswahl  und  Anwend\mg  der  Musterautoren  leicht  fehl  greifen. 
Veraltete  Wörter  sind  oft  von  besonderer  Wirkung  und  bilden 
ein  wirksames  rhethorisches  Mittel  ^).  Aber  bei  ihrer  Anwendung 
keinen  Fehler  zu  machen,  verlangt  ein  ausgesuchtes  künstlerisches 
Urtheil,  das  nicht  jedem  gegeben  ist^).  An  Grammatikern  und 
Schriftstellern,  welche  für  den  alten  Stil  und  die  antiquirten  Wörter 
eine  Vorliebe  zeigten,  fehlte  es  auch  in  der  besten  Zeit  der  la- 
teinischen Poesie  und  Prosa  nicht.  Schon  Cäsar  ^)  tadelte  dies 
Streben,  ebenso  Horaz,  Virgil^)  imd  noch  später  Seneca,  Quin- 
tilian  u.  a.  Allein  die  Blüthe  der  Prosa  und  Poesie  unter  Augustus 
so  wie  der  damals  herrschende  feinere  und  mehr  geläuterte 
Geschmack  Hessen  nicht  zu,  dass  jene  Richtung  gi'össere  Dimen- 
sionen annahm.  Als  aber  die  Form  bei  den  Werken  die  Oberhand 
bekam  und  der  Inhalt  immer  mangelhafter  wurde ,  machte  sie 
sich  zur  Zeit  der  Antonine  wieder  fühlbarer.  Die  gräcisii'endeu 
Tendenzen  einiger  Kaiser,  ihre  Vorliebe  (besonders  des  Hadriau) 
für  literarische  Pröducte  der  Alexandriner,  die  Bewunderung,  die 
das  Pomphafte,  Mysteriöse,  Fremde  fand,  (das  ganz  besonders  in 
dieser  Charlatanen  ungemein  günstigen  Epoche  dominirte),  das  Bedürf- 
niss  endlich,  dem  Mangel  künstlerischer  Schöpfungen  durch  künst- 
liche Mittel  zu  Hilfe  zu  kommen ,  führten  von  selbst  zum  Archais- 
jiius  und  zu  ungewöhnlichen  Wörtern,  womit  leeren,  hochtrabenden 
Phrasen  ein  Reiz  vmd  eine  scheinbare  Wichtigkeit  verliehen  wer- 
den sollte. 

Der  bekannteste  Repräsentant  dieser  Richtung  ist  der  Cicero 
jener  Zeit,  M.  Aurelius  Pronto,  des  Antoniuus  Pius  Lehrer,  ein 
Altmeister  der  Pedanterie,  von  dem  auch  die  Vorschrift  herrührt, 
„insperata  atcpie  inopinata  verba"  aufzusuchen  und  den  Werken 
eine     alterthümliche     Färbimg     zu     geben    („colorem     vetusculum 


1)  „Propriis  (verbÌ!<)  diguitatem  dat  autiquitas.  Xamque  et  sanctiorem 
et  magis  admii-abilem  faciimt  oratioueru;  quibus  uou  quilibet  fiierit  usii- 
rus."     Quintil.  VIII,  3,  24. 

2)  „Odiosa  cura;  uam  et  cuilibet  facilis,  et  hoc  pessima  quod  rei 
btudiosus,  non  verba  rebus  aptabit,  sed  res  extrinsecus  arcessit  quibus 
haec  verba  conveniant."     Quintil.  Vili,  3,  24.  30. 

3)  ..Tamquam  scopulmn  sie  fugias  inauditura  atque  insolens  verbum" 
ap.  Gell.  I,  10,  4. 

4)  Catalect.  2. 


38  \'iigil  iu  der  Litoi-atui-  bis  auf  Dautc. 

uppingere").  So  weit  wir  aus  seinen  Schriften  urtlieileu  können, 
machte  er  von  den  Augusteischen  Dichtern  in  seinen  stilistischen 
und  Sprachstudien  sehr  wenig  Gebrauch.  Hie  und  da  findet  sich 
wol  eine  Reminiscenz  aus  Virgil  und  Horaz  ^),  die  jedoch  auf 
Rechnung  des  allgemeinen  Einflusses  der  Schule,  in  der  er  selbst 
gebildet  wai-,  kömmt.  Den  Virgil  erwähnt  er  kaum  ein  Mal^),  und 
von  Horaz  spricht  er  wie  von  einem  nicht  unerwähnenswerthen 
Dichter^).  Fronto  war  in  der  That  das  Haupt  einer  ausgedehnten 
lihetorschule ,  deren  Traditionen  besonders  in  Gallien  mächtig 
waren  ^).  Indess  beschränkte  sich  doch  dieser  EinÜuss  auf  das  enge 
Gebiet  der  rein  rhetorischen  Prosa  imd  hat  iu  den  auf  uns  ge- 
kommenen Schriftstellern  nicht  sehr  deiitliche  Spuren  zurückge- 
lassen. Uebrigens  glaube  ich  aus  mancherlei  Anzeichen  schliessen 
zu  können,  dass  nicht  alle  Frontonianer  in  der  Beurtheilung  und 
Benutzung  der  Augusteischen  Schriftsteller  ihrem  Meister  folgten. 
In  dem  Kreise  der  Freunde  und  Bewunderer  Fronto's  selbst  fin- 
den wir  Männer,  welche  nicht  allein  Virgil  in  ihren  grammatischen 
und    gelehrten    Abhandlungen    stark    benutzen,    sondern  denselben 


1)  Vgl.  Herz.  Renaissance  mid  Rococò  not.  76.  Fronto  schrieb  man 
früher  das  Werk  zu,  das  den  Titel  führt  „Quadriga,  seu  exempla  elocu- 
tionum  ex  Vergilio  Sallustio  Terentio  Cicerone";  das  jedoch,  wie  man 
später  gesehen,  von  Arusiauus  Messius  herrührt.  Vgl.  Bernhardy 
p.  878. 

2)  Gellius  11,  -20,  1. 

3)  „Plane  multum  mihi  facetiarum  contulit  istic  Horatiiis  Flaccus, 
luemorabilis  poeta,  mihique  propter  Maeceuatcm  ac  maecenatianos 
hortoB  meos  non  alieuus."  Ad  Caes.  II,  1.  Die  Dichter,  die  sein  kaiser- 
licher Schüler  best,   sind  Plautus,  Accius,   Lucrez,  Enuius, „aut    le 

Plauto  expolires,  aut  Accio  expleres,  aut  Lucretio  delenires,  aut  Euuio 
iuceuderes."  De  feriis  Alsicusibus,  .'J.  p.  224  (cd.  Du  Rieu).  Die  Schule 
der  entgegeugesetzten  Richtung,  welcher  Quiutilian  und  der  Autor  des 
Dialogus  de  Orat.  angehören,  Hess  Virgil,  Horaz  und  Lucan  lesen;  vgl. 
Dial.  de  or.  20. 

4)  Die  meisten  Autoren,  von  denen  Fronto  gelobt  wird,  sind  Gallier: 
Ausonius,  Claudius  Mamertus,  Eumenius,  Sidonius.  Auch  der  Gramma- 
tiker Consentius,  der  den  Fronto  citirt  (Keil,  V,  334),  ist  ein  Gallier.  Leo, 
der  Rathgeber  des  Gotenkönigs  Eurich  rühmte  sich,  von  Fronto  abzu- 
stammen. Ihm  schreibt  sein  Freund  Sidonius:  ., suspende  perorandi  illud 
(quoque  celeberrimum  flumen  quod  non  soluni  gentilitium  sed  doniesti- 
cum  tibi,  quodque  in  tuum  pectus  succi  duas  aetates  ab  atavo  Frontone 
trausfunditur."  (Sid.  VIII,  3).  Fronto  gefiel  auch  seinen  Landsleuten  in 
Africa,  wie  man  aus  Minutius  Felix  und  Marcianus  Capella  sieht.  Sein 
grösster  Lobredner  bleibt  jedoch,  abgesehen  von  seinem  Zeitgenossen 
Gellius,  Sidonius,  der  vor  allem  seine  „gravitas"  bewundert. 


Adirgli  in  der  Lik-ratur  bis  auf  Dante.  ol' 

auch  zum  Gegenstände  von  Specialarbeiten  machen,  wie  z.  ß. 
Sulpicius  Apolliuaris ,  der  Lehrer  des  Pertiuax,  welcher  seiner 
Aeneisausgabe  jene  3  berühmten  Disticha  vorausschickte,  die  sich 
auf  den  Befehl  des  sterbenden  Dichters,  sein  Wei'k  zu  verbrennen, 
bezogen,  imd  welcher  die  Inhaltsangaben  der  einzelnen  Bücher 
yersitìcirte  ^).  Sicher  ist,  dass  diese  Bewegung  des  Froutonia- 
nismus  sich  in  der  Literatur  nur  in  beschränkter  Weise  geltend 
machte  und  nicht  auf  die  Volksschulen,  welche  im  Kaiserreiche  das 
Fundament  der  Erziehung  bildeten,  erstreckte.  Hier  blieb  die  Au- 
lorität  Virgils  und  der  anderen  Dichter  bestehen,  trotz  Fronto, 
und  es  war  keine  Gefahr  vorhanden,  dass  sie  etwa  dui'ch  die  des 
Fjinius,  Lucilius  oder  Lucrez  verdrängt  werden  könnte. 

Diese  Reaction  und  wiedererwachende  Verehrung  der  Alten 
war  freilich  nicht  allein  von  Fronto  und  den  Frontoniauern  reprä- 
sentirt.  Bei  Fronto  zeigte  sich  die  Uebertreibung  mehr  in  seiner 
Lehrmethode  und  der  Auswahl  der  Musterbeispiele  als  in  seinem 
Stile;  andere,  die  unbekannter  geblieben  sind,  betrieben  die  Sucht 
nach  dem  antiquirten  in  noch  ganz  anderer  Weise.  Dennoch  über- 
trieb Fronto  auch  selbst  gegenüber  den  Leuten,  die  sonst  seinen 
Geschmack  theilten;  denn  Niemand  unter  allen  Verehrern  der 
Literatur  wäre  je  so  weit  gegangen,  deshalb  das  Studium  des 
Virgil  ausser  Acht  zu  lassen. 

Ein  für  die  Keuntniss  des  Ideenkreises  der  Schriftsteller  und 
die  Richtung  der  Studien  dieser  Zeit  wichtiges  Buch  ist  die  Schrift 
des  Gellius.  Gellius  ist  kein  Frontonianer ;  welcher  Schule  er  als 
Grammatiker  angehörte,  lässt  sich  überhaupt  nicht  sagen ^j.  Er 
ist  nichts  anderes  als  ein  gebildeter  Dilettant,  der  über  verschie- 
dene Gegenstände  Bemerkungen  samm.elte,  die  er  theils  aus  Büchern 
iheils  aus  literarischen,  von  ihm  frequentirten  Kreisen  zusammen- 
trug. Mit  Vorliebe  beschäftigte  er  sich  mit  der  Geschichte  der 
Sprache,    und    alles,    was    die    Grundbedeutung  und  den  Gebrauch 


1)  Donat.  Vit.  Verg.  p.  63.  Bemerkenswerth  seiner  Begeisterung  wegen 
ist  das  letzte  Distichon: 

„Tnfelix  gemino  cecidit  prope  Pergamou  igni, 
et  paene  est  alio  Troia  cremata  rogo." 
Vgl.  die  dem  Sulpicius  mit  Recht  zugeschriebenen  Inhaltsangaben  in  der 
Anth.  lat.  No.  653  (ed.  Riese).  Mit  Virgil  beschäftigte  sich  Sulpicius  auch 
in  seineu   Briefen  (vgl.   Gellius  II,   16,   8  sqq.)    Ueber  sein  Verhältniss 
zu  Fronto  Gellius  XIX,  13,  1. 

2)  Die  Richtigkeit  der  gegentheiligen  Ansicht,  die  Hertz  äussert  und 
Kretschmer  wahrscheinlich  findet,  de  auctoribus  A.  Gellii  gramma- 
ticis  p.  3,  will  mir  nicht  einleuchten. 


40  Mrgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

der  Wörter  angeht,  hatte  für  ihn  einen  besonderen  Reiz  ').  Er  war 
Antiquar  und  Liebhaber  von  philologischen  Curiositäten  ;  daher 
seine  Verehrung  der  alten  republikanischen  Schriftsteller,  die 
er  förmlich  anbetet,  während  er  einige  Grammatiker  der  Kaiser- 
zeit und  sogar  den  Ven-ius  Flaccus^)  nur  oberflächlich  behan- 
delte^). Von  Tacitus  oder  Quintilian  sagt  er  kein  Wort,  den 
Seneca'^)  misshandelt  er  so  wie  ihn  Pronto  misshandelte,  nicht 
allein  weil  seine  Sprache  und  sein  Stil  nachlässig  ist,  sondern 
weil  er  die  Freunde  des  Archaismus  und  die  Verehrer  der  alten 
Dichter  verspottet.  So  bewegte  sich  also  Gellius  in  derselben  At- 
mosphäre wie  Fronto,  von  dem  er  deshalb  auch  mit  Achtung 
spricht  und  dessen  Geschmack  er  theilt.  Obgleich  sich  nun  aber 
seine  antiquarische  Liebhaberei  in  seinem  Stil  und  seiner  Sprache 
erkennen  lässt,  ist  doch  das  Gebiet,  das  er  cultivirt,  zu  verschie- 
den von  dem  Fronto's,  als  dass  man  ihn  einen  Frontonianer  nennen 
könnte  '').  Besonders  bemerkenswerth  ist  in  der  Hinsicht  ein  Ca- 
pitel,  in  i^elchem  Gellius  einige  Worte  des  Favorinus  gegen  den 
Archaismus  ohne  sie  zu  tadeln  referirt*').  Aber  in  diesem  für  die 
Kenntniss  der  Literatur  jener  Zeit  in  und  ausser  Rom  bedeuten- 
dem Buche  ist  für  uns  nichts  so  wichtig,  als  der  so  häufige  Ge- 
brauch Virgils. 

Bei  Gellius  figurirt  Virgil  als  ein  Schriftsteller  von  grossester 
Autorität  für  die  Reinheit  und  Eleganz  der  Spi-ache  ').  Er  wird 
von  ihm  nicht  allein  als  Autorität  citirt,    sondern  auch  gegen  die 


1)  „Ei  libro  (Aeli  Melissi)  titulus  est  ingeutis  cuiusdam  iulc- 
ccbrae  ad  legendum;  scriptus  quippe  est  De  loquendi  proprietatc" 
XYIII,  6,  3. 

2)  „Cum  pace  cumque  venia  istorum,  si  qui  sunt,  qui  Verri  Flacci 
auctoritate  capiuntur."  XVII,  6,  4. 

3)  ,,Isti  novicii  semidocti"  XVI,  7,  lo;  „turba  graniiuaticoruui  novicia" 
XI,  1,  5;  cf.  auch  XVII,  2,  15. 

4)  Er  geht  sogar  so  weit,  den  Se~neca  ,,ineptu.s  atque  insubidus  homo" 
zu  nennen.  XII,  2,  11. 

5)  Ich  stimme  hier  nicht  mit  Bernhardy  (p.  872)  übereiu.  Fronto 
ist  ein  Redner  und  seine  Schule  eine  Rednerschule;  nur  auf  einem  solchcu 
(Jebiete  kann  man  Frontonianer  suchen  wollen;  es  ist  nicht  nöthig, 
an  Fronto  zu  denken,  um  gewisse  Eigenthümlichkeitcn  der  Sprache  des 
Gellius  zu  erklären. 

6)  „Vive  moribus  praeteritis,   loquere  verbis  praesentibus"   I,  205  f. 

7)  „Poeta  verborumdiligentissimus  "  11,26,11;  „elegantissimus  poeta" 
XX,  1,  54;  „multae  antiquitatis  hominem  sine  ostentationis  odio  pcri- 
tum."  V,  12,  13. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  41 

Bemerkungen  Jer  Grammatiker  der  vorhergehenden  Epoche  ver- 
theidigt^),  z.  B.  gegen  Hygin  und  Annaeus  Comutus,  die  mit 
harten  Worten  getadelt  werden").  Selten  gesteht  Gellius  zu,  dass 
Virgil  ein  Wort  unpassend  oder  falsch  gebraucht  hat^).  Einige  Be- 
merkungen, die  sich  auf  thatsächliche  Inconsequenzen  oder  Wider- 
sprüche beziehen,  werden  wiederholt,  die  verschiedenen  Erklärungen 
besprochen,  aber  nicht  weiter  kritisirt.  Diese  ganze  minutiöse 
Kritik  hält  sich  aber  auch  da  in  engen  Grenzen,  wo  die  Kunst 
des  Virgil  in  Betracht  kömmt;  sie  beschränkt  sich  auf  einige 
Parallelen  zwischen  Virgil  und  einigen  griechischen  Dichtern, 
aber  nur  mit  Bezug  auf  diese  oder  jene  Stelle.  Hier  erscheint 
Virgil  als  ein  glücklicher,  dort  als  ein  unglücklicher  Nach- 
ahmer des  Homer ,  hin  und  wieder  kommt  er  auch  tiefer  zu 
stehen  als  dieser;  Favorinus  vergleicht  die  Beschreibmig  des  Aetna 
in  der  Aeneis  mit  der  berühmten  des  Pindar  (Pjth.  l)  und  findet 
sie  weniger  vollendet*),  worin  er  auch  unzweifelhaft  Recht  hat. 
Aber  von  wenig  Belang  sind  die  Gründe,  die  er  dafür  anführt; 
er  weiss  nur  Ausdruck  mit  Ausdruck  zu  vergleichen,  aber  nicht 
den  künstlerischen  Grund  davon  einzusehen ,  noch  zu  unter- 
scheiden, worin  die  natürliche  Verschiedenheit  zwischen  zwei  ein- 
ander so  entgegengesetzten  Dichtungsarten  wie  Lyrik  und  Epik 
besteht,  zumal  wenn  die  erstere  jenen  wunderbaren  Aufschwung 
wie  bei  Pindar  nimmt.  So  weit  verstieg  sich  die  Schule  jener 
Zeit  nicht.  Wo  sie  sich  unabhäaigig  zeigt  und  nicht  ansteht,  die 
Mängel  eines  Schiiftstellers  von  solcher  Autorität  anzuerkennen, 
hält  sich  ihr  (nicht  immer  richtiges)  Uriheil  doch  nur  an  Aeusser- 
lichkeiten,  au  jenen  formalen  Theil,  welcher  den  ausschliesslichen 
Gegenstand  der  literarischen  Routine  der  Zeit  bildete. 

Es  war  Mode,  dass  die  Grammatiker  ihr  eigenes  Wissen  zur 
Schau  trugen,  und  so  gab  es  auch  ein  Publicum,  das  nach  solcher  Un- 
terhaltung lechzte.    Einer  von  diesen  Leuten  war  nach  Brundisium 


1)  „Grammatici  aetatis  superioris  haud  sane  iudocti  neque  ignobiles" 
11,  6,  1. 

2)  „Insulsa  et  odiosa  scrutatio"  nennt  er  eine  Kritik  des  Cor- 
iiutus,  IX,  10,  5;  „sed  Hvginus  nimis  hercle  iuejDtus  fuit  cum  etc." 
VII,  6,  5. 

.3)  Einmal  wird  der  Tadel  durch  ein  einfaches  „existimatur"  (X,  29) 
ausgedrückt,  ein  andermal  ausdrücklich  bestätigt.  I,  22,  12. 

4)  ,,Ut  Pindaro  quoque,  qui  nimis  opima  pinguique  esse  facundia 
existimatus  est,  insolentior  hoc  quidem  in  loco  tumidiorque  sit . . . .  Au- 
dite nunc  Vergili  versus,  quos  inchoasse  eum  verius  dixerim  quam  fe- 
cisse  etc."  XVII,  10,  8  ff. 


42  Yirgil  iij  tifi-  Litcrutiu-  Lis  luif  Dante. 

ln-rufen  worden,  als  Gelliuö  in  diese  Stadt  anlaugte;  er  trug  hier 
da«  7.  Buch  der  Aeueis  vor  und  lud  das  Publicum  ein,  ihm 
.schwierige  Fragen  vorzulegen.  Gellius  fand ,  dass  er  barbarisch 
las  imd  auf  eine  von  ihm  gestellte  Frage  in  lächerlicher  AVeisc 
antwortete^).  Von  ähnlichen  Charlatauen  sju-icht  Gellius  ziemlich 
häutig.  Wir  sehen  aber,  wie  'allgemein  auch  solche  Leute  von 
A'irgil  Gebrauch  machten.  Einige  zogen  in  der  That  den  Lucan 
(lern  Horaz,  Ennius  oder  Lucrez  dem  Virgil  vor;  allein  das  waren 
Ausnahmen").  Einer  der  berühmtesten  unter  ihnen  war  der  Kaiser 
lladrian^);  jedoch  verhinderte  ihn  seine  Bewunderung  für  Ennius 
nicht,  Virgils  Verse  im  Munde  zu  führen  und  den  Virgil  als 
Stechbuch  zu  benutzen'*).  Die  Worte,  die  Gellius  gebraucht,  wo 
er  von  eijiem  so  genannten  Ennianisten  spricht,  der  den  Ennius 
im  Amphitheater  von  Pozzuoli  recitirte,  zeigen  deutlich,  dass  eine 
Vorlesung  dieser  Art  sehr  ungewöhnlich  war.  Martial,  der  als 
Dichter  wie  als  Mensch  seiner  ganzen  Anlage  nach  zu  keiner 
literarischen  Clique  gehörte  und ,  Avas  die  Literatur  betiifft,  das 
allgemeine  Urtheil  am  besten  ausdrückt,  war  des  Beifalls  der 
meisten  sicher,  als  er  den  Kömern  einen  Vorwurf  daraus  machte, 
den  Ennius  weiter  zu  lesen,  während  es  einen  Virgil  gab,  und 
mit  einem  beissendeu  Epigramme  einen  jener  unklaren  Köpfe  ver- 
sjiottete,  die  dem  Vii-gil  den  unverständlichen  Helvius  Ginna  vor- 
zogen').   Die   Gelehrten  beklagen  es  ja  im  allgemeinen  stets,  dass 


1)  „Oves  biileiitcs  dictae  quod  duos  tantum  dontos  haljoaut." 
XVI,  6,  9. 

2)  „iniqui  Lucilium  pro  lloratio  et  Lucretium  pro  Vergilio  legunt  — 
quos  more  prisco  apud  judicem  fabulautcs  non  auditores  sequuutur,  non 
populus  audit,  vix  deuiquo  litigator  perpetitur."     Dial.  de  Or.  23. 

3-)  „Ciceroni  Catonem,  Vorgiiio  Enniiuu,  Sallustio  Coelium  praetulit, 
eademque  jactatione  de  Homoro  ac  Platone  judicavit."  Spartiau.  Ha- 
drian.  16. 

4)  Spartiau.  Hadr.  2;  „quos  versus  (Aen.  VI,  869  ft")  cum  aliquaudo 
in  horto  spatians  cantitaret"  Spartian.  L.  Ver.  4.  Der  wollüstige  Lucius 
Verus,  der  den  Ovid  und  Apicius  noch  im  Bett  bei  sieh  führte,  wusste 
seine  Liebe  für  Martial  nicht  besser  auszudrücken,  als  dass  er  ihn  „seinen 
Virgil"  nannte.  L.  Ver.  5. 

5)  „Ennius  est  lectus,  salvo  tibi,  Koma  Marone"  Ep.  V,  10. 

■  ,^Scribere  tc,  quae  vix  intelligat  ipso  Modestus 

et  vix  Claranus,  quid,  rogo,  Sexte,  juvat? 

non  lectore  tuis  opus  est,  sed  Apolline,  libris. 

judice  te,  maior  Cinna  Marone  lüit. 
Sic  tua  laudentur:  sane  mea  carmina,  Sexte, 
grammaticis  placeant  et  sine  grammaticis." 

Ep.  X,  21. 


Virgil  iu  der  Literatur  bis  auf  Üaiilo.  43 

die   alten  Schril't«teller    nicht    mehr  ein  Gegeuötaud    des  Studiums 
sind^). 

Uebrigens  war  doch  unter  allen  Augusteischen  Dichtern  Virgil 
auch  denjenigen,  welche  für  die  alten  Schriftsteller  eine  Vorliebe 
hatten j  der  willkommenste.  In  den  „noctes  Atticae"  werden  am 
häutigsten  citirt:  Ennius,  Laberius,  Plautus,  Caesar,  Cicero,  Luci- 
lius,  Nigidius  Figulus,  Cato,  Sallust ,  Varrò  und  Virgil^).  Die 
grainimatische  und  literarische  Autorität  Vii-gil's  steht  somit  den 
Schriftstellern  aus  der  Zeit  der  Republik  gleich.  Von  den 
Augusteischen  Dichtern  wird  in  den  attischen  Nächten  nur  noch 
Horaz  einige  Male  angeführt.  Bei  Nonius  findet  dasselbe  Verhält- 
niss  statt:  Die  höchste  Autorität  ist  bei  ihm  Virgil,  dann  folgen 
nach  einem  grossen  Zwischenraum  Cicero,  Plautus  und  Varrò  und 
endlich  in  absteigender  Lüiie  Lucilius,  Terenz,  Accius,  Afranius, 
Pmnius,  Lucrez,  Sallust,  Paeuvius^  Pomponius,  Caecilius,  Naevius, 
Novius,  Turpilius,  Titinius,  Laberius,  Livius  Andronicus  u.  s.  w. 
Augusteische  Dichter  oder  solche  der  Kaiserzeit  überhaupt  werden 
bei  Nonius  seltener  als  alle  übrigen  citirt.  Abgesehen  von  anderen 
Gründen,  derentwegen  man  Virgil  als  grammatische  Autorität  be- 
trachtete, hatte  diese  Zusammenstellung  mit  Schriftstellern  einer 
ihm  ganz  fremden  Zeit  noch  einen  speciellen  Grund.  Virgil 
hat  es  allein  von  allen  Augusteischen  Dichtei'n  verstanden,  sich 
veralteter  Wörter  zu  bedienen,  ohne  affectirt  zu  werden.  Seine 
Poesie  Hess  .ein  scharfes  und  sorgfältiges  Studium  der  alten  la- 
teinischen Schriftsteller  erkennen,  und  so  befriedigte  er  die  ver- 
schiedensten Richtungen.  Er  behauptete  seine  Autorität  nicht 
allein  für  die  modernen,  wie  Seneca,  dem  Antipoden  eines  Gellius 
und  Pronto,  sondern  auch  die  Alterthumsforscher  räumten  ihm 
eifrigsteinen  hohen  Rang  ein  unter  jenen  „hircosi",  denen  er  doch 
als  Künstler  fern  genug  stand.  Quintilian  spricht  einmal  von  der 
Schwierigkeit,   sich   mit   Glück  veralteter  Wörter  zu  bedienen  und 


1)  „Legerat  (Probus)  in  provincia  quosdam  veteres  libellos  apud 
graramatistam ,  durante  adhuc  ibi  antiquorum  memoria,  uecdum  omnino 
abolita  sicut  Romae;  ....  quamvis  omues  contemui  magisque  oppro- 
brio  legentibus  quam  .  gloriae  et  fructui  esse  animadverteret"  :  Sueton. 
De  gram,  et  rhetor.  24. 

•2)  In  einer  Unterredung  mit  einem  Grammatiker  zweiten  Ranges 
werden  vor  allen  Plautus,  Sallust,  Ennius  und  Virgil  als  Autoritäten  iu 
Anspruch  genommen.  An  einer  anderen  Stelle  sagt  ein  geschwätziger 
Grammatiker  zu  Gellius:  „si  quid  ex  Vergilio,  Plauto,  Ennio  quaerere 
habes,  quaeras  licet".    (XX,  10,  2.) 


44  Viigil  in  der  Literatur  bis  auf  Daute. 

bemerkt  dabei,  dass  hieriu  Virgil  Meister  sei  uud  der  einzige, 
der  diese  Kirnst  verstanden  habe^).  Seneca  glaubte,  dass  Virgil 
jenes  ai'chaisirende  Element  in  seine  Poesie  eingeführt  habe  dem 
„populus  Ennianus"  zu  gefallen^);  ein  Urtheil,  das  freilich,  hier 
wo  es  sich  um  einen  Dichter  handelt,  der  den  feinsten  Geschmack 
besass,  etwas  roh  klingt  und  auch  nur  bei  Seneca  möglich  war, 
der  den  Virgil  ebenso  bewunderte,  als  er  die  alte  Literatur  vor- 
achtete. In  der  That  gehörte  auch  Virgil  zu  jenem  „populus  En- 
nianus",  aber  er  war  doch  Künstler  genug,  um  zu  wissen,  wie 
weit  er  in  der  Benutzung  des  Ennius  und  anderer  alter  Dichter 
gehen  könne;  und  er  wusste  es  besser  als  Horaz,  der  wiederum 
die  Regel  über  den  Gebrauch  richtiger  zu  formuliren  verstand') 
als  sie  anzuwenden,  wenn  es  darauf  ankam. 

Der  Ruf  des  Dichters  litt  also  keineswegs  unter  der  reactio- 
nären  Strömung,  die  auf  einem  Felde  der  Literatur  aubbrach, 
so  wenig  er  immerhin  dem  Fi'onto  sympathisch  gewesen  zu  sein 
scheint.  Die  Kraft  seines  Namens  war  zu  mächtig,  als  dass  ilim 
irgend  eine  Richtung  hätte  schaden  können.  Einem  Jahrhim- 
deii,  welches  einen  Appulejus  bewunderte,  einen  zwar  talentvollen, 
aber  doch  seines  Schwulstes  und  seiner  fremdländischen  Redeweise 
wegen  lächerlichen  und  unerträglichen  Schriftsteller,  einem  Jahr- 
hundert, das  diesem  eine  Statue  errichtete  nnd  bewundernd  auf 
die  neue,  von  einem  Africaner  geschriebene  und  gesprochene  Spi-ache 
hinbnruhte,  hätte  doch  Virgil  farblos,  matt  und  j\'eichlich  er- 
scheinen müssen.  Und  doch  war  sein  Name  so  gross,  seine  Aiito- 
rität,  welche  die  bedeutendsten  und  gelehrtesten  Männer  der  ver- 
gangenen Generationen  geschaffen  hatten,  so  zwingend,  dass  selbst  zur 
Zeit,  da  jener  schlechte  Geschmack  triuniphirte,  ein  unwiderstehlicher 
Zauber  und  der  Zusammenhang  seiner  Dichtung  mit  der  allgemeinen 
Erziehung  ihn  nicht  sinken  Hess.  Li  den  Schulen  der  Grammatiker 
und  Rhetoren  unter  jeder  einigermassen  gebildeten  ('lasse  blieb 
er  stets  verehrt,  und  diese  Verelunmg  nahm  in  Mitten  des  Ruins 
der  lateinischen  Literatur,  vornehmlich  seit  Marc  Aurei,  nur  immer 
noch  zu. 


1)  „Eoque  ornamento  acerrimi  judicii  P.  Vergilius  un  ice  est  usus" 
Vili,  3,  24;  „vetustatis,  euius  amator  un  ice  Vergilius  fuit".  IX,  3, 
14.     „Vergilius  amantissimus  vetustatis".     1,  7,  16. 

2)  „Vergilius  quoque  noster  non  ex  alia  causa  duros  quosdani  ver- 
sus et  enormes  et  aliquid  supra  mensuram  tiahentes  interposuit,  quam 
ut  Ennianus  populus  agnosceret  in  novo  Carmine  aliquid  autiquitatis". 
Bei  Gellius  XU,  2. 

3)  Epist.  11,  1,  64  ff. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  45 

Nichts  destoweniger  bewirkten  aber  doch  die  veränderten  Be- 
dingungen des  intellectuellen  Gesichtskreises,  unter  dem  er  er- 
schien, nothwendig  eine  gewisse  Veränderung.  Eine  wahrhaft  poe- 
tische Schöpfung  fehlte  ja  dieser  wie  der  noch  folgenden  Epoche 
der  römischen  Literatur  durchaus.  Die  Rhethorik  war  an  Stelle 
der  Poesie  getreten,  und  diese  lebte  von  der  Nachahmung  des 
Virgil,  ihrem  höchsten  Muster.  Homer  beeinflusste  ehemals  ge- 
radezu die  lebendige  Entwickelung  der  griechischen  Kunst  und 
Poesie  als  das  erste  Moment  dieser  selbst,  mit  dem  alle  spätei'en 
Producte  organisch  und  innerlich  zusammenhängen.  Virgil  hingegen 
wirkte  auf  die  theils  im  Sterben  liegende,  theils  schon  todte  la- 
teinische Dichtung,  die  selbst  mehr  eine  Dichtung  der  Form  als 
des  Inhaltes  ist,  in  rein  formeller  Weise.  Das  sorgsame  Studium 
des  Dichters,  die  Anwendung  und  oft  sklavische  Nachahmung  seiner 
poetischen  Redeweise,  vermochten  nicht  den  Abgrund  fortzulügen, 
der  in  der  Stellung  der  Dichtkunst  zwischen  den  späteren  und  den 
Augusteischen  Dichtern  bestand.  Wenn  nun  aber  das  Publicum 
trotzdem  viele  der  ersteren  in  hohem  Grade  begünstigte,  so  scheint 
es  unmöglich,  dass  man  zugleicii  ein  richtiges  Gefühl  für  die 
Poesie  Virgils  gehabt  und  nicht  vielmehr  in  die  Bew'underung 
des  grossen  Dichters  jenen  falschen  und  verkehrten  Geschmack 
hineingetragen  haben  sollte,  dem  zufolge  man  seinen  schwülstigen 
und  pomphaften  Nachahmer  Statins  bewunderte^). 

Ohne  Zweifel  ging  der  Ruhm  des  Dichters  weit  über  den 
Horizont  seiner  Zeit  hinaus.  Indem  seine  missverstandene  tradi- 
tionelle Grösse  den  Geistern  imponirte,  erzeugte  sie  eine  fast  aber- 
gläubische Verehrung.  Wir  finden  schon  unter  den  Antoninen  die 
auch  von  den  Kaisern  ausgeübte  Sitte,  das  Schicksal  zu  befragen, 
indem  man  auf  gut  Glück  Virgils  Gedicht  aufschlug;  darin  be- 
stehen die  sogenannten  „sortes  VirgUianae",  die  auch  Hadrian  zu 
Rathe  zog,  von  denen  uns  die  Verfasser  der  Kaisergeschichte  viele 
Beispiele  darbieten  und  welche  das  ganze  Mittelalter  hindurch 
fortgedauert  haben.  Dieser  Gebrauch  beweist  nicht  allein  die  unge- 
heure Popularität  des  Virgilischen  Textes  sondern  auch  die  hohe 
Verehrung,  welche  derselbe  genoss.    Virgil  hatte  sie  nur  noch  mit 


1)  „Curritur  ad  vocem  jucundam  et  Carmen  aniicae 
Thebaidos,  laetam  cum  fecit  Statins  urbem, 
Promisitque  diem,  tanta  dnlcediue  captos 
Affieit  ille  animos  tantaqne  libidine  vulgi 
Auditur". 

Jnvenal.     VIT,  82  0. 


46  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

einigen  andern,  wegen  ihrer  gi'ossen  Heiligkeit  oder  ihrer  ausser- 
ordentlichen Weisheit  verehrten  Werken  gemein,  den  Gesängen 
Homer's,  den  Sibyllinischen  Büchern  und  si^äter  der  Bibel  ^).  Wenn 
auch  einmal  der  närrische  Caligula,  zur  Beleidigung  aller,  beinahe 
die  Bilder  und  Werke  Yirgils  aus  den  Bibliotheken  genommen 
hätte"),  so  nannte  doch  zwei  Jahrhunderte  später  Septimius  Se- 
verus  Virgil  den  Piaton  der  Dichter  und  setzte  sein  Bildniss  in 
ein  besonderes  Lararium  neben  die  des  Achilles  und  andei-er  He- 
roen und  Schriftsteller  ^j.  Aber  schon  früher  war  Virgil  von  mehreren 
Poeten  fast  vergöttert  worden.  Silius  Italiens  feierte  den  (reburts- 
tag  des  Dichters  und  besuchte  andächtig  sein  Grabmal  wie  einen 
Tempel"*);  und  wie  einen  Tempel  betrachtete  es  auch  der  Neapo- 
litaner Statins").  Martial  spricht  von  den  Iden  des  October  wie 
von  einem  dem  Virgil  heiligen  Feste,  so  wie  die  Iden  des  August 
der   Hekate,   die   des    Mai   dem  Mercur  geheiligt  waren'').     Virgil 


1)  Ueber  diese  Art,  das  Schicksal  zu  befragen  s.  Hi  st.  lit.  de  la 
France  III,  p.  11  if.  und  die  merkwürdigen  Capitel  im  Rabelais  IIT, 
10  ff. 

2)  „Sed  et  Vergili  ac  Titi  Livi  scripta  et  imagines  paulum  abfuit 
quin  ex  omnibus  bibliothecis  amoveret,  quorum  alterum  ut  nullius  iu- 
geni  minimaeque  doctrinae,  alterum  ut  verbosum  in  historia  negligen- 
temque  eaqjebat''.     Suet.  IV,  34. 

3)  „Vergi! ium  autem  riatouem  poetarum  vocabat,  eiusque  imaginem 
cum  Ciceronis  siiuulacro  in  secnndo  larario  habuit,  ubi  et  Achillis  et 
magnorum  virorum."  Lamprid.,  Alex.  Sever.  30. 

4)  ,,Quas  (imagines)  non  babebat  modo  verum  etiam  venerabatur. 
Vergili  ante  omnes,  cuius  natalem  religiosius  quam  suum  celebrabat, 
Neapoli  maxime  ubi  monimentum  eius  adire  ut  tempìum  solebat".  Pliu. 
Ei)ist.  III,  7.  8.  Diese  Verehrung  für  Virgil,  die  eine  fixe  Idee  von  Si- 
lius Italicus  gewesen  zu  sein  scheint,  wird  auch  von  Martial  in  mehr 
als  einem  Epigramme  bestätigt.  VII,  63.  XI,  48.  49.  Dem  Silius  wid- 
mete Comutus  ein  Werk  über  Virgil:  „Annaeus  Cornutus  ad  Italicum 
de  Vergilio"^.     Chans,  p.  100.  vgl.  p.  102  (ed.  Keil). 

j'i)  „  . .  . .  Maroneique  sedens  in  margine  temigli 

Sumo  animum  et  magni  tumulis  adcanto  magistri". 

Stat.  Silv.  4,  54. 
„  . . . .  nee  tu  divinam  Aeneida  tenta 
Sed  longe  sequere  et  vestigia  semper  adora." 

Stat.  Theb.  XII,  8,  15. 
6)  „Maiae  Mercurium  creastis  Idus 
Augustis  redit  Idibus  Diana 
Octobrcs  Maro  consecravit  Idus. 
Idus  saepe  colas  et  has  et  illas 
Qui  magni  celebras  Maronis  Idus." 

Afart.  XII,  G7. 
Martial    i.st    voller    Emphase,    wenn    er   von    Viigil    spricht.    Er  neimt 


Virgll  in  dei-  Literatur  bis  auf  Dante.  47 

galt  also  geradezu  als  der  heilige  unter  den  Dichtern.  Von  allen  Ver- 
götterungen aber,  die  das  kaiserliche  Rom  vorgenommen  hatte, 
war  diese  wenn  auch  noch  so  unbegründete  und  übertriebene 
vielleicht   die   einzige,    die    von   einem  wirklich  edlen   Gefühle  ein- 


Fünftes  Capitel. 
Wenig  erfreulich  erscheint  das  Schicksal  der  römischen  Lite- 
ratur im  3.  und  4.  Jahrhundert  der  Kaiserherrschaft.  Zu  einer 
Zeit,  da  jeder  Bauersmann  und  Barbar,  wofern  er  Macht  über 
die  unwissende  Soldatesca  hatte,  den  Thron  der  Caesaren  besteigen 
durfte,  und  bei  Hofe  wie  beim  grossen  Publicum  das  Interesse 
allein  auf  diese  Dinge  gerichtet  war,  konnte  es  keine  für  die  Li- 
teratur günstige  Strömung  geben.  Die  Beziehungen  zwischen  lite- 
rarischer Production  und  Publicum  wurden  immer  äusserlicher  und 
beschränkten  sich  allmälig  auf  eine  Classe  von  Leuten,  die  ihren 
Wirkungskreis  in  der  Schule  hatten.  Auf  diese  Weise  musste 
sich  auch  der  Unterschied  zwischen  geschriebener  und  gesprochener 
Sprache  immer  fühlbarer  machen,  und  das  Latein  des  gewöhnlichen 
Volkes  immer  kühner  hervordrängen;  das  Geschäft  des  Gramma- 
tikers ward  immer  bedeutungsloser,  und  es  galt  schon  viel, 
nur  richtig  schreiben  zu  können.  Diesen  Zuständen  entspi-icht  denn 
auch  die  Productivität  der  Grammatiker,  die  zwar  quantitativ 
reich  aber,  was  die  Originalität  der  Gedanken  anlangt,  ausser- 
ordentlich arm  ist.  Keiner  wagt  es  mehr,  einen  Schritt  zu 
thun,  ohne  sich  an  die  Alten  anzulehnen.  Wie  in  der  Kunst  so 
ist  auch  hier  alles  geistlose  Nachahmung  oder  Compilation.  Die 
Literatur  beschränkt  jetzt  ihren  Haushalt  auf  das  nothwendigste 
und  legt  vor  allem  ein  grosses  Bestreben  nach  Abkürzungen  und 
Compendien  an  den  Tag.  Durch  sie  suchte  man  sich  das  Lesen 
einer  grossen  Menge  von  Schriftstellern  zu  ersparen,  und  eben 
dieser  Zeit  gehören  auch  die  meisten  der  auf  ims  gekommenen 
grammatikalischen  Compilationen  an.  Leider  verschwanden  auf  diese 
Weise  vor  den  unglücklichen  Arbeiten  jener  Scheingelehrteii  viele 
alte  Arbeiten  für  immer.    Auch  die  Kaiser  dieser  Zeit  fuhren  zwar 


ihn:  „magnum"  (IV,  14),  „summum"  (XII,  4),  „immensum"  (XIV,  186), 
,,aeternum"  (XI,  52).  Der  Gedanke  über  die  Ideu  des  October  wiederholt 
sich  später  bei  Ausonius  (323,  23): 

Sextiles  Hecatae  Latonia  vindicat  Idus, 
Mercurius  Maias  superorum  adiunctus  honori, 
Octolires  clini  Maro  genitns  dedicai  Idus". 


48  Virgil  iu  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

fort,  Grammatiker  zu  balteu,  und  mancher  Kaiser  beschützte 
sie  wie  die  Philosophen  und  Rhetoren,  aber  mehr  zum  Luxus  und 
aus  Laune,  oft  auch  aus  Feigheit,  wenn  man  sich  nämlich  vor 
den  Angriffen  ihrer  Feder  fürchtete,  wie  dies  von  Alexander  Se- 
verus  gesagt  wird^).  Uebrigens  hatten  jene  Kaiser,  so  lange  sie 
die  Literatur  begünstigten,  meist  eine  Vorliebe  für  griechische 
Studien,  ohne  dass  sie  darum  fähig  gewesen  wären,  einen  wohl- 
thätigen  Einfluss  auszuüben;  im  Gegentheil  richtete  sich  der  Ge- 
schmack immer  mehr  auf  das  nichtige  und  leere.  Geta,  welcher 
als  ein  Freund  des  Alphabetes  gelten  wollte,  indem  er  Gerichte 
zubereiten  hiess,  deren  Namen  sämmtlich  mit  einem  bestimmten 
Buchstaben  anfingen,  ergötzte  sich  auch  manchmal  daran,  Gram- 
matiker zu  sich  zu  rufen,  um  sie  dann  u.  a.  nach  Zeitwörtern  zu 
fragen,  welche  die  Stimmen  verschiedener  Thiere  ausdrückten"). 

Nach  Alexander  Severus,  welcher  neben  seineu  griechischen 
Liebhabereien  auch  den  Virgil  verehrte  (vielleicht  mehr  als  Philo- 
soph denn  als  Dichter),  wurde  die  Pflege  der  Literatur  am  Hofe 
in  der  That  sehr  selten.  Die  alte  Tradition  des  Kaiserthumes  war 
gebrochen,  und  unter  denen,  welche  sich  um  die  höchste  Gewalt 
stritten,  gehörten  Leute,  wie  der  ältere,  übrigens  wenig  bedeu- 
tende Gordian  ^)  schon  zu  den  Seltenheiten.  Ganz  anders  wie  früher 
stand  jetzt  das  militäi'ische  Interesse  dem  literarischen  gegenüber 
und  zog  sogar  die  Leute,  welche  eine  Art  von  wissenschaftlicher 
Bildung  erhalten  hatten,  von  der  Liebe  zu  den  Studien  ab.  Die 
Verfasser  der  „historia  Augusta",  Leute,  die  in  der  That  sich  zeigen 
wie  sie  sind,  geben  uns  eine  ziemlich  deutliche  Idee  von  dem 
geistigen  Standpunkt  dieser  Zeit,  besonders  der  militärischen  und 
politischen  Kreise.  Vopiscus  wundert  sich  darüber,  dass  sein  Gross- 
vater bei  der  Erzählung  von  der  Ermordung  des  Aper,  dessen 
Mörder  Diocletian  die  Worte  in  den  Mund  gelegt  habe:  „gloriare 
Aper  Aeneae  magni  dextra  cadis",  „was  mich",  sagt  er,  „bei  einem 
Soldaten  Wunder  nimmt,  obgleich  ich  weiss,  dass  gar  viele  Leute 
Worte  der  Komiker  und  anderer  Dichter,  sowol  griechischer  wie 
römischer    zu  citiren  pflegen*^)".    Clodius  Albinus  (2.  Jahrb.),    der 


1)  ,,Amavit  litteratos  homines,  vehemeuter  eos  etiam  reforiuidans 
HO  (juid  de  se  asperum  scriberent".     Laniprid.  Alex.  Sev.  3. 

2)  Spartian.  Autouin.  Geta,  5. 

8)  „Uic  enim  vita  veuerabilis,  cum  Piatone  seniper,  cum  Aria^otelf, 
cum  Tullio,  cum  Yergilio  cett-risiiuo  veteribus  ageus  etc."  Capitoliu. 
(iordian.  7. 

4)  Vopiöc.  Numeriaa.  13. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  49 

nichts  weniger  als  ein  Freund  der  Literatur  war,  hatte  doch  als 
I{jiabe  in  der  Schule  den  Virgil  stiidirt;  aber  dies  Studium  hatte 
ihm  nur  dazu  gedient,  seinen  militärischen  Instinct  zu  bethätigen^). 
Trotzdem  sind  auch  unter  diesen  Leuten  die  Eeminiscenzen  aus 
Virgil  häufig,  weil  eine  Menge  seiner  Verse  sprüchwörtlich  und 
die  Kenutniss  des  Dichters  durch  Schule  imd  Theater  ganz  allge- 
mein geworden  war.  Und  so  finden  wir  Virgilische  Verse  be- 
züglich auf  politische  Ereignisse  nicht  allein  im  Munde  des  älteren 
Gordian,  der  ein  gebildeter  Mann  war^),  sondern  auch  in  einem 
Briefe  des  Diadumenos  an  seinen  Vater  Maciiaus^)  und  in  einem 
anderen  des  älteren  Tetricus  an  Aurelian*).  Unter  Alexander 
Severus  drückte  der  Praetorianertribun  Julius  Crispus  seinen  Un- 
muth  durch  Virgilische  Verse  aus,  die  für  ihn  verhängnissvoll 
wurden^):  Aus  zwei  Halbversen  Virgils  war  ein  Spruch  des  Cii-cns 
componirt  zu  Gunsten  des  Diadumenos  gegen  Macrinus  ^),  und 
ebenso  findet  mau  einen  Halbvers  aus  Virgil  unter  den  Accla- 
mationen,  mit  denen  der  Senat  den  schon  alten  Tacitus  auf  den 
Thron  berief). 

Wenn  aber  in  Mitten  der  Orgien  und  Verbrechen  des 
kaiserlichen  Hofes  einmal  die  Muse  Virgils  sich  hören  liess,  so 
war  das  noch  kein  Beweis  für  die  Feinheit  der  poetischen  Em- 
pfindung; es  zeigt  nur,  wie  sich  die  Popularität  des  Dichters  selbst 
iu    dieser    Zeit    imd    an    solchem    Orte  ei'halten  hatte.     Sein  Buch 


1)  „Omnem  pueritiam  in  Africa  transegit,  eruditus  litteris  graecis 
et  latinis  mediocriter,  quod  esset  animi  iam  inde  militaris  et  superbi. 
Fertur  in  scholis  saepissime  cantasse  iuter  puerulos:  arma  amens  capio; 
nee  sat  rationis  in  annis  (Aen.  II,  314)."  Capitolin.  Clod.  Alb.  5. 

2)  „Cantabat  praeterea  versus  senex,  cum  Gordianum  filium  vidisset, 
hos  saepissime  :  ostendent  terris  hunc  tantum  fata  etc."  (Aen.  VI,  869  f.) 
Capitol.  Gerd.  iun.  20. 

3)  „Si  te  nulla  movent  etc."  (Aen.  IV,  274  ff.)  Lamprid.  Ant.  Dia- 
dum.  8. 

4)  „Versus  denique  illius  fertm*,  quem  statim  ad  Aurelianum  scrip- 
serat:  „eripe  me  bis  invicte  malis"  (Aen.  VI,  365).  Treb.  Poli.  Trig. 
tyrann.  24. 

5)  Jvo  avógccg  xwv  inicpuvàv  àné-/.xsiv£v  'lovliov  Kqlgiiov  j;t/ltof^- 
Xovvra  xàv  SoQVcpóqoìv,  ozi  àx&saO'slq  rij  zov  itoXéfiov  kcckcìgsi  tnog  xi 
Tov  Màgavog  zov  nonqzov  nuQScp&éy^cizo,  èv  a  xri."  (Aen.  VI,  371  f.)  Dion. 
Cass.  75,  10. 

6)  „Egregius  forma  iuvenis,  dignus  cui  pater  band  Mazentius  esset" 
(Aen.  VI,  862;  XII,  275).  Capitolin.  Opil.  Macrin.  12. 

7)  „Et  tu  legisti  „iucauaque  menta  regis  romani"  (Aen.  VI,  809)  dixe- 
runt  decies."  Vopisc.  Tacit.  5. 

Comparetti,  Virgil  im  Mittelalter.  4 


50  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

war  jetzt  ein  Schulbuch  für  die  Knaben  und  ein  Spielzeug  für  die 
Erwachsenen  geworden.  In  der  Schule  wai'd  dasselbe  dermassen 
tractirt,  dass  es  etwas  ganz  gewöhnliches  war,  dasselbe  von  An- 
fang bis  zu  Ende  auswendig  zu  wissen.  Aus  dieser  Popularität 
des  Dichters  in  einer  Zeit,  die  an  künstlerischen  Schöpfungen 
selbst  so  arm  war,  enttstauden  jene  „Centonen",  mit  denen  man  sich 
die  Zeit  vertrieb,  ilan  fand  Spass  daran,  die  Verse  und  Halbverse 
Virgils  auf  verschiedene  Weisen  z\isammen  zu  stellen  und  so  dem 
Dichter  alle  möglichen  Stoffe  in  den  Mund  zu  legen,  die  er  be- 
singen musöte.  Die  Idee  solcher  „Centonen"^)  konnte  nur  unter 
Leuten  aufkommen,  die  den  Virgil  mechanisch  gelernt  hatten  und 
nichts  nützlicheres  mit  all  den  Versen  anzufangen  wussten,  mit 
denen  sie  sich  den  Kopf  beschwert  hatten.  Uebrigens  musste  die 
Art,  mit  der  man  Virgil  wie  so  viele  andere  Dichter  zu  allen 
möglichen  Arbeiten  verwandt  hatte,  nothwendig  auf  diese  Cen- 
tonen führen-).  Schon  zu  den  Zeiten  Tei-tullians  hatte  ein  ge- 
wisser Hosidius  Geta  aus  Virgilischen  Versen  eine  Tragödie  Medea 
zusammengesetzt,  die  noch  erhalten  ist;  ein  anderer  in  derselben 
Weise  eine  Uebertragung  der  „tabula"  des  Cebes.  Später  Hessen 
Christen  den  Virgil  über  ihren  Glauben  reden,  Proba  Fal- 
tonia'^)   fabricirte     aus    Versen    Virgils   eine   Geschichte   des   alten 


1)  Die  älteste  Sammlung  Virgilischer  Centonen  befindet  sieb  in  dem 
berühmten  Codex  Salmasiauus,  dem  ersten  Kern  der  lateinischen  Antho- 
logie, und  gebt  wenigstens  bis  ins  8.  Jahrhundert  hinauf.  Kr  enthält 
12  Centonen  verschiedener  Verfasser  und  von  verschiedenem  Alter,  unter 
ihnen  auch  die  Medea  des  Hosidius  Geta.  Ein  einziger  nur  ist  von 
christlichem  Inhalte,  und  wurde  weder  von  Burmann  noch  von  Meyer 
in  ihren  Ausgaben  der  lateinischen  Anthologie  veröffentlicht.  Erst  Su- 
ringar  (de  ecclesia,  anonymi  cento  virgilianus  ineditus.  Traiect.  ad  Rh. 
1867)  hat  ihn  publicirt,  danach  Riese  in  der  „Anthologia  latina"  (Leipz. 
1869.  I,  p.  44).  Eiue  vollständige  Sammlung  der  antiken  Virgilischen 
Centonen  existiit  nicht  (versprochen  von  Suriugar).  —  Ueber  die  Cen- 
tonen im  allgemeinen  und  die  Virgilischen  im  besonderen  vgl.  Ha  sei - 
berg.  Commentai,  de  centouibus,  Puttbus  1846;  Borgen,  De  centonibus 
homericis  et  virgilianis,  Havniae  1826.  Revue  analytiquc  des  ouvrages 
ccrits  en  centons  depuis  les  temps  anciens  jus(iu'au  XIX  siede,  par  un 
bibliophile  belge  (Delepierre),  Londres  (Trübner)  1868.  Müller,  De 
re  metr.  p.  465  f.;  Milberg,  Memorabilia  virgibaua  p.  5—12. 

2)  Bemerkenswerth  in  dieser  Hinsicht  ist  die  dem  Virgil  zugeschrie- 
bene Ciris,  die  wenn  sie  auch  nicht  wirklich  ein  Virgilischer  Cento 
ist,  so  doch  beinahe  wie  ein  solcher  aussieht. 

3)  Vgl.  Aschbach,  Die  Anicier  und  die  rüniische  Dichterin  Proba 
(Wien  1870)  p.  57  tf. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  51 

Testamentes,  Marius  Victorinus  (4.  Jabrh.)  einen  Hymnus  auf 
Ostern,  Sedulius  (5.  Jalirh.)  ein  Gedicht  über  die  Menschwerdung- 
Christi  u.  s.  w.^).  Der  Kaiser  Valentinian,  der  dem  Virgil  das  Loh 
eines  keuschen  Dichters  nicht  zu  gönnen  schien,  compouirte  aus 
seinen  Versen  ein  obscoenes  Gedicht  und  zwang  den  Ausonius, 
sich  mit  ihm  in  dieser  Kunst  zu  messen.  Auf  diese  Weise  ent- 
stand der  berühmte  „cento  nuptialis",  übrigens  offenbar  der  beste 
seiner  Gattung.  Heute  sieht  man  dergl.  als  unwürdige  Spielerei 
an,  damals  glaubte  man  dadurch  seine  Achtung  vor  dem  Dichter  zu 
bezeigen  und  bewunderte  Gedächtniss  und  Geschick  der  Verfertiger-). 
Virgil  sollte  ganz  wie  Homer  behandelt  werden^  von  dem  es  ja 
auch  Centouen  gab.  Die  Leute,  welche  besonders  geschickt  zu  solchen 
Flickarbeiten  waren,  nannten  sich  „Homerische"  oder  „Virgilische 
Dichter^)".  Den  Gipfel  des  lächerlichen  erreichte  aber  ein  ge- 
wisser Mavortius,  der  es  als  Verfasser  eines  Virgilischen  Cento 
über  das  Parisurtbeil  so  weit  brachte,  dass  er  VirgiHsche  Centonen 
„improvisirte"  (!)  Eine  dieser  „Improvisationen",  für  die  er  aber 
den  Titel  des  „modernen  Virgil"  bescheiden  zurückwies,  besitzen 
wir  noch^). 

Auf  die  Beurtheilung  Virgils,  welcher  das  Pimdament  des 
wissenschaftlichen  Unterrichtes  bildete,  mussten  nun  aber  die 
Commentare,  mit  denen  er  in  der  Schule  erklärt  wurde,  grossen 
Einfluss  haben.    Eine  kritische  Geschichte  derselben  ist,  abgesehen 


1)  So  allgemein  waren  diese  christlichen  Centonen,  dass  der  Papst 
Gelasius  in  seiner  Bemerkung  über  die  canonischen  Bücher  es  für  ange- 
messen erachtete,  jene  Centonen  für  apotry^ih  zu  erklären:  „Centimetrmn 
de  Christo,  Virgilianis  compaginatum  versibus,  apocryphuin."  Decret. 
Gelas.  Pap.  (i.  J.  494)  ap.  Lab  be',  IV,  p.  1264. 

2)  Ausonius  entschuldigt  sich  jedoch  seines  Cento  wegen  in  dem  an 
seinen  Freund  Paulus  gerichteten  Brief:  „Piget  vergiliani  carminis  digni- 
tatem  tam  ioculari  dehonestasse  materia.  Sed  quid  facerem?  iussum  erat; 
quodque  est  potentissimum  imperandi  geuus,  rogabat  qui  rubere  poterat,' 
S.  imperator  Valentinianus,  vir  meo  iudicio  eruditus." 

3)  Eine  alte  römische  Inschrift  lautet  :  „Silvano  coelesti  |  Q.  Glitius 
Felix  I  Vergilianus  poeta  d.  d.;  OrelH-Henzen  1179.  In  einer  griechischen 
Inschrift  aus  Aegypton  liest  man  einen  Homerischen  Cento,  und  hier 
nennt  sich  der  Verfasser  '„Homerischer  Dichter".  Vgl.  Letronue,  In- 
cript.  de  FEgypt.  II,  397. 

4)  Im  Codex  Salmas.,  publicirt  zuerst  von  Quicherat,  Bibl.  de 
l'e'cole  des  chartes,  II,  132.  S uringar,  der  ihn  für  unedirt  hielt,  und 
ihn  nochmals  herausgegeben  hat,  hat  weder  den  Namen  des  Autors  noch 
das  Thema  selbst  errathen;  nicht  so  Itiese  in  der  Anthologia  latina  1 
p.  48. 


^2  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

von  dem  Versuche  Suringar's  ^) ,  noch  immer  ein  leerer  Wunsch 
geblieben,  der  auch  nicht  eher  erfüllt  werden  kann,  als  bis  ein- 
gehende Specialstudien  dies  verwickelte  Thema  aufgeklärt  haben. 
Die  Virgilcommentare,  die  sich  bei  ihrer  Unentbehrlichkeit  für  den 
Unterricht  bis  ins  späteste  Mittelalter  hinein  vervielfachten,  un- 
terlagen dabei  den  mannigfaltigsten  Veränderungen.  Kein  Lehrer 
trug  Bedenken,  nach  Gutdünken  zu  modificiren  und  zu  excerpiren. 
Der  eine  compilirte  aus  den  ältesten  Grammatikern  aber  unter 
eignem  Namen,  der  andere  fügte  Bemerkungen  aller  Art  hinzu, 
ohne  sich  zu  nennen,  wieder  ein  anderer  schmückte  die  gebräuch- 
lichen Commentare  durch  eigne  Zuthaten  imd  Interpolationen  aus, 
aber  unter  dem  Namen  des  alten  Verfassers.  Und  so  gleicht  denn  die 
Masse  der  auf  uns  gekommenen  Arbeiten  einem  Strome,  den  die 
verschiedensten  Zuflüsse  getrübt  haben.  Es  sind  entweder  Com- 
pendien  oder  Compilationen,  kein  einziges  Werk  ist  in  der  ur- 
sprünglichen Gestalt  erhalten.  Diejenigen,  welche  unter  dem  Namen 
des  Probus  oder  Asper  auf  uns  gekommen  sind,  beweisen,  wie 
man  das  Werk  besserer  Grammatiker  verdarb.  Die  meisten  gram- 
matischen Compilationen  wie  die  Auszüge  aus  den  Virgilcommen- 
taren  gehören  dieser  Epoche  des  Verfalls  an,  aus  der  sich  be- 
sonders zwei  berühmte  Autoreu  erhalten  haben,  Donat  und 
Servius. 

Für  die  Beurtheilung  Douat's^),  dessen  Commentar  heute 
verloren  ist,  den  aber  sein  Schüler  Hierouymus  unter  den  in  den 
Schulen  gebrauchten  Büchern^)  erwähnt,  gibt  uns  Servius  einen 
Anhalt*).    Donat    wollte  Kritiker  sein  und  urtheilte  sehr  frei  über 


1)  Historia  critica  scholiastarum  latinorum  (Lugd.  Bat.  1834)  vol.  H. 
Einige  Specialarbeiten  sind  geliefert  von  Wagner,  Teuber,  Riese  u.  a. 
Vgl.  auch  die  Prolegomena  von  Ribbeck  (p.  114-198),  wozu  unent- 
behrlich Hagen,  Scholia  Bernensia  ad  Vergili  Bucolica  et  Georgica.  Lips. 
1867.  p.  696  ff. 

2)  Ribbeck  (Proleg.  p.  179)  behauptet  mit  Unrecht,  dass  man  nur 
von  einem  Commentar  des  Aelius  Donatus  zu  den  Georgica  imd  zur  Aeneis, 
nicht  aber  zu  den  Bucolica  weiss.  Die  Biographie  des  Dichters,  die  unter 
Donats  Namen  auf  uns  gekommen  ist,  stand  vor  dem  Commentar  zu  den 
Bucolica  und  schliesst  mit  allgemeinen  Bemerkungen  über  diese  selbst. 
Vgl.  Hagen,  Schol.  beni.  p.  740  ff. 

n)  „Puto  quod  puer  legeris  Aspri  in  Vergilium  et  SalUisüum  com- 
mentari'os;  Vulcati  in  orationes  Ciceronis;  Victorini  in  dialogos  eins  et 
inTerenti  comoedias  praeceptoris  mei  Donati,  aeque  in  Vergilium".  Hie- 
ron.  Apol.  adv.  Rufin.  I,  367. 

4)  Vgl.  die  auf  Donat  bezüglichen  Stellen  des  Servius,  zusammen- 
gestellt von  Suringar  p.  37  ff.  und  Ribbeck,  proleg.  p.  178  ff. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  53 

den  Dichter,  an  dem  er  manches  zu  tadeln  fand.  Er  urtheilte 
aber  nicht  allein  vex'kehrt,  sondern  bewies  auch  oft  solche  Nach- 
lässigkeit, dass  er  sich  in  den  gewöhnlichsten  Regeln  der  Prosodie 
irren  konnte.  Das  verhinderte  ihn  freilich  nicht,  den  Dichter  zu 
bewundern,  aber  seine  Bewundenmg  war  doch  der  Art,  dass  er 
seinen  Schülern  Virgil  in  ganz  falschem  Lichte  darstellte,  ihm, 
wie  alte  Philosophen  schon  mit  Homer  gethan,  ein  ausserordent- 
liches Wissen  zuschrieb  und  in  seinen  Versen  verborgene  Gelehr- 
samkeit und  philosophische  Zwecke  aufsuchte,  an  die  Virgil  niemals 
gedacht  hatte.  Er  erklärt  die  Reihenfolge  der  Gedichte  auf  fol- 
gende Weise:  „Man  muss  wissen,  dass  Virgil  bei  der  Composi- 
tion  eine  Ordnung  befolgte,  die  der  im  Menschenleben  gleich 
kommt.  Der  erste  Zustand  des  Menschen  war  das  Hirtenleben, 
und  so  schrieb  Virgil  zuerst  die  Bucolica;  darauf  ward  der  Mensch 
Landmann,  und  so  entstanden  die  Georgica.  Mit  dem  Wachs- 
thum  der  Völker  wuchs  dann  auch  die  Liebe  zum  Kriege;  und  so 
ist  denn  Virgils  drittes  Werk  die  Aeneis,  das  an  Kämpfen  über- 
reiche Gedicht^)".  Wir  werden  weiter  unten  sehen,  wie  sich  die 
Sucht,  im  Virgil  Allegorien  zu  suchen,  weiter  entwickelt  hat. 

Der  Commentator  des  Virgil  aber,  der  von  allen  am  meisten 
im  Gebrauch  war  und  der  (fi-eilich  nicht  intact)  auf  uns  gekom- 
men ist,  war  der  in  den  Schulen  eingeführte  Servius.  Er  ist 
auch  heute  noch  von  Wichtigkeit,  nicht  allein  wegen  seiner  Er- 
klärungen als  besonders  wegen  mancher  werth vollen  von  ihm  auf- 
bewahrten Notiz.  Ueber  sein  Werk,  so  wie  es  heute  vor  uns 
liegt,  zu  urtheilen,  ist  schwer;  denn  einerseits  ist  klar,  dass  er 
aus  älteren  Commentatoren  und  Grammatikern  compilirte,  anderer- 
seits hat  er  selbst  mannigfache  Veränderungen  erfahren  und  ist 
im  ganzen  Mittelalter  interpolirt  worden,  oft  so  einfältig,  dass 
man  im  Commentare  des  Servius  den  SerArius  selbst  citirte^).  Er  war 
ein  für  seine  Zeiten  ausgezeichneter  und  dem  Donat  überlegener 
Grammatiker,  dessen  Irrthümer  er  oft  mit  Geschick  und  Verstand 
zurückweist.  Trotzdem  hat  er  viele  Fehler,  an  denen  die  Ge- 
lehrten seiner  Zeit  litten,  nicht  vermieden.  In  der  grammatikalischen 
Tradition  dieser  Epoche  sowie  das  ganze  Mittelalter  hindurch 
zeigt  sich  etwas  stereotypes,  auch  in  der  Praxis  des  Unterrichtes, 
dessen    Grundlage   die  Auslegung    der   Schriftsteller   bildete.     Und 


1)  Serv.  prooem.  Ecl.  p.  97  (ed.  Lion);  vgl.  auch  den  von  Quiche- 
rat,  bibl.  de  récole  des  chartes  II,  p.  128  publicirten  Text. 

2)  „Ut  Servius  dicit"  ad  Ecl.  I,  12.  III,  20.  IX,  1. 


54  Virgil  in  cltT  Literatur  bis  auf  Dante. 

60  hat  sich  auch  bei  Servius  vieles  festgesetzt,  woran  nicht  eigent- 
lich er  selbst,  sondern  mehr  die  ältere  Tradition  Schuld  hat.  Jene 
wichtigen  Streitfragen,  die  \mter  den  Alexandiinern  z.  B.  in  Be- 
treti"  Homers  so  beliebt  waren  ^),  imd  an  denen  Tibei'ius  einen 
Gefallen  fand^),  wurden  auch  auf  Virgil  angewandt  und  lassen 
sich  an  ihrer  regelmässigen  Formel  auch  bei  SeiTius  wieder- 
erkennen^). Eine  gewissenhafte  Kritik  und  sichere  Gelehrsamkeit 
waren  für  das,  was  die  Mode  in  dieser  Hinsicht  verlangte,  ent- 
l)ehrlich ,  da  sich  die  Grammatiker  hiebei  nur  zu  oft  auf  dem  Felde 
blosser  C'harlatanerie  befanden^),  imd  es  bei  den  Fragestellungen 
und  Antworten  mehr  auf  das  spitzfindige,  unerwartete  und  glän- 
zende, als  auf  das  nützliche,  richtige  imd  wahre  ankam.  Ein  merk- 
würdiger Beleg  hierfüi'  sind  jene  12  oder  13  Virgilstellen ,  welche 
der  Meinung  nach  unüberwindliche  Schwierigkeiten  darbieten  soll- 
ten ^).  Es  war  dies  fönulich  zu  einem  Glaubensartikel  geworden.  An- 
statt dass  der  Grammatiker  an  ihre  Erklärmig  ging,  hielt  er  sich 
lieber  gar  nicht  damit  auf  und  sagte  nur:  „dies  ist  eine  Stelle 
von  den  zwölfen".  Und  doch  bieten  einige  von  denen,  die  uns 
Servius  unter  ihnen  aufzählt,  durchaus  keine  Schwierigkeiten  dar. 
So  viel  Interpolationen  im  Servius  man  auch  zulassen  will, 
muss   man    doch   gestehen,   dass   luanche  allegorische  Auslegungen 


1)  Vgl.  Lauer,  Gesch.  d.  hom.  Poesie  p.  tj  1.  Griifcnban,  Ge-sch. 
d.  class.  Philolog.  im  Altcith.  11,  ]i.  11  f.  lieber  die  ivcraziiioi  und 
IvTLXoi  s.  Lehrs.  De  Aristjirchi  stud.  hom.  p.  199—224. 

2)  Su  et.  Tiber.  70.  vgl.  Gell.  XIV,  ß.  Lauer  a.  a.  U.  p    II. 

3)  „Cur"  oder  ,.quomodo  dixit ?   Solvitur  sie..."   Zu  Acu.  111. 

203,  276,  341,  379.  IV,  399,  545  u.  s.  w. 

4)  „ ut  forte  rogalus, 

Dum  petit  aut  thermas  aut  Phoebi  balnca,  dicat 
Nutricem  Aucbisae,  noracn  putriamque  novercac 
Anchemoli^  dicat  quot  Acestes  vixerit  annis 
Quot  Siculi  Phrygibus  vini  donaverit  urnas." 

luven.   Vir,  -231  ff. 

5)  „Sciendimi  est  locum  hunc  esse  unum  de  XII  lal.  XIII)  Vergili 
sive  per  naturam  obscuris.  sive  iusolubilibu.s,  sive  emeudandis,  sive  sie 
rclictis  ut  a  nobis  per  historiae  antiquae  ignorautiam  liquide  neu  intelli- 
jrantur."  Serv.  Ad.  Aen.  IX,  368.  ,,8cienduni  tarnen  et  locum  hunc  esse 
unum  de  his,  quos  insolubiles  diximus  supra."  Ebendas.  IX,  412;  vgl. 
auch  zu  XU,  74;  V,  6-22.  Lehrs,  de  Aristarchi  stud.  hom.  p.  219  f.; 
Kibbeck,  proleg.  p.  109  ff.  In  diese  Kategorie  gehören  auch  jene 
.,antapodosis"  (quibus  locis  commemorantm-  quae  non  sunt  ante  j^raedicta), 
von  denen  eine  Aen.  IX,  453  von  Servius  als  „zehnte"  aufgezeichnet  wird. 
Vgl.  Kibbeck,  pro!,  p.  108  f. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  55 

desselbeu  z.  B.  jene  von  dem  goldenen  Zweige,  mit  welchem 
Aeneas  zur  Unterwelt  hinabsteigt^)  u.  a.,  zu  sehr  mit  dem  Geiste 
der  Zeit  übereinstimmen,  als  dass  man  sie  dem  Servius  absprechen 
könnte.  Wenn  demungeachtet  einige  Verse  und  Partien  in  der 
I<]rzählung  des  Virgil  von  Servius  in  philosophischer  Weise  ge- 
deutet werden,  so  findet  sich  doch  in  dem  ganzen  Commentar 
keine  Spur  von  einer  systematischen  allegorischen  Erklärungsweise, 
die  das  ganze  Gedicht  aus  einem  einzigen  verborgenen  Gedanken 
ableitete.  Eine  solche  Art  der  Auslegung  wird  uns  weiter  unten 
beschäftigen,  imd  wir  werden  alsdann  diese  Kategorie  genauer  ihrer 
Anlage  und  Entstehung  nach  betrachten. 

Virgil  hat  allerdings  von  der  Allegorie  Gebrauch  gemacht,  be- 
sonders in  den  Bucolica;  aber  nur,  wenn  es  sich  mehr  um  Thatsachen  als 
um  Ideen  handelte.  Eine  gewiss  authentische  Tradition,  die  bis  auf 
Asconius  Pedianus  und  die  Zeiten  des  Dichters  selbst  zurückgeht, 
deutete  darauf  hin,  dass  Virgil  in  den  Bucolica  versteckt  auf  Er- 
eignisse seines  Lebens  oder  seiner  Zeit  angespielt  habe.  Aber  diese 
vage  und  etwas  allgemeine  Notiz  liess  doch  wieder  darüber  im 
unklaren,  wie  weit  der  Dichter  mit  seiner  Allegorie  gegangen  sei, 
so  dass  die  Meinungen  auch  der  ältesten  Ausleger  hierüber  getheilt 
Avaren.  Einige  fassten  gewisse  Stellen  wörtlich  auf,  oder,  wie  Ser- 
vius sich  ausdrückt  „simpliciter",  andere  erklärten  sie  „per  allegoriam" 
und  hielten  sich  für  verpllichtet,  allen  möglichen  Thatsachen  nachzu- 
spüren, auf  welche  der  Dichter  habe  anspielen  wollen.  Servius 
strebt  in  seiner  Beurtheilung  dieser  verschiedenen  Ansichten  da- 
nach, die  allegorische  Erklärungsweise,  die  er  oft  als  „non  neces- 
saria" bezeichnet,  zu  beschränken  und  entscheidet  sich  dann  für 
das  „simpliciter^)".  Daraus  folgt  freilich  nicht,  dass  nicht  auch 
er    bisweilen    die    allegorische    Erklärung    als    möglich    zugesteht, 


1)  „Ergo  per  ramum  virtutes  dicit  esse  sectandas,  qui  est  y  litterae 
imitatio,  quem  ideo  iu  silvis  dicit  latere,  quia  re  vera  in  huius  vitae 
confusione,  et  maiore  parte  vitiorum  virtutis  integritas  latet."  Serv. 
Ad.  Aen.  VI,  136.  Wegeu  dieser  Bemerkung  findet  man  in  den  ältesten 
Virgilausgaben  die  dem  Dichter  zugeschriebeneu  Verse  des  Maximin  in 
Betreff  der  symbolischen  Kraft  des  Buchstabens.  (Antliol.  lat.  No.  6;3'2. 
ed.  Riese): 

,,Littera  Fytagorae,  discrimine  secta  bicorui, 
Humanae  vitae  specimen  praeferrc  videtur  etc." 

2)  „Refutandae  enim  sunt  allegoriae  in  bucolico  Carmine,  nisi 
cum  ex  aliqua  agrorum  perditorum  necessitate  descendunt."  ad  Ecl. 
III,  20. 


56  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

selbst  wenn  sie  jedes  vernünftigen  Grundes  entbehrt^).  Ihn  ganz 
von  der  Schuld  loszusprechen  und  alles  seinen  Interpolatoren  zur 
Last  legen  zu  wollen,  hiesse  seine  Verdienste  übertreiben  und  die 
Zeit,  in  der  er  lebte,  verkennen.  Wie  weit  aber  damals  eine  solche 
Erklärungsweise  sich  versteigen  konnte,  sieht  man  aus  dem  An- 
fang des  Commentars  zur  ersten  Ecloge.  Nachdem  kaum  gesagt 
ist,  dass  unter  der  Person  des  Titjrrus  Virgil  zu  verstehen  sei 
„zwar  nicht  immer,  sondern  nur  wo  dies  aus  vernünftigen  Grün- 
den zu  verlangen  ist"  wird  das  „sub  tegmine  fagi"  für  eine  wun- 
dervolle Allegorie  erklärt,  weil  „fagus"  vom  griechischen  „qDcvyeri/" 
„essen"  herkömmt,  und  der  Dichter  also  mit  diesem  „fagus"  auf 
den  Besitz  anspielt,  der  ihm  zum  Lebensunterhalte  diente,  und  der 
ihm  durch  die  gütige  Protection  des  Augustus  wieder  erstattet 
wurde.  Weiterhin  in  den  Worten  „  .  .  .  .  ipsae  te,  Tityre,  pinus, 
Ipsi  te  fontes,  ipsa  haec  arbusta  vocabant"  will  man  wieder  in 
Tityrus  Virgil,  in  den  Pinien  Rom,  in  den  Quellen  die  Dichter 
oder  Senatoren  und  in  dem  Gebüsch  die  Gelehrten  sehen.  Viel- 
leicht hat  Suringar  Recht ,  wenn  er  diese  Erklärung  dem  Servius 
abspricht^),  aber  für  uns  genügt  die  Wahrnehmung,  dass  derartige 
Interpretationen  nicht  allein  zu  Servius  Zeiten,  sondern  schon  früher 
möglich  waren. 

Unzweifelhaft  gehört  dem  Servius  wie  seiner  ganzen  Zeit  die 
übertriebene  Idee  von  der  ungeheuren  Gelehrsamkeit  Virgils  au, 
eine  Idee,  die  an  mehreren  Stellen  des  Commentars  zu  Tage  kommt. 
Mit  sichtlicher  Genugthuung  citirt  er  die  Ansicht  Metrodors ,  dass 
einige  mit  Unrecht  den  Virgil  beschuldigt  hätten,  nichts  von  der 
Astrologie  zu  verstehen'^),  und  am  Anfang  des  6.  Gesanges  der 
Aeneis  bemerkt  er:  „Der  ganze  Virgil  ist  voller  Gelehrsamkeit, 
besonders  in  diesem  Buche,  dessen  Haupttheil  dem  Homer  ent- 
nommen ist.  Einiges  ist  einfach  zu  verstehen,  anderes  der  Geschichte 
entlehnt,  vieles  stammt  von  der  Weisheit  ägyptischer  Philosophen 
und  Theologen  her,  sodass  man  ganze  Tractate  hierüber  geschrie- 
ben hat." 


1)  Vgl.  Schaper,  Ueber  die  Entstehungszeit  der  VirgilischenEclogen, 
in  den  Jahrb.  f.  Philol.  u.  Paed.  Vol.  90  (1864)  p.  640  ff. 

2)  Hist.  erit.  scholiastt.  lat.  II,  79.  Die  Ausgabe  von  Lion  hat  da- 
gegen für  „arbusta,  frutcta,  id  est  scholastici"  „arbusta,  fructeta  scho- 
lastici  vocabant." 

.3)  Ad  Georg.  I,  320.  Es  fehlt  nicht  an  Ausdrücken  der  Bewunderung 
wie:  „unde  apparet  divinum  poetam  aliud  agentera  verum  semper  attin- 
gere" ad  Aen.  III,  349. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  57 

Der  Commentar  des  Servius  war  wesentlich  eine  grammatische 
Arbeit,  welche  in  dem  grammatischen  Unterricht  für  die  Erklärung 
des  Dichters  dienen  sollte.  Es  fehlt  darin  nicht  an  rhetorischen  Beob- 
achtungen, weil  der  Unterricht  in  Ehetorik  und  Grammatik  sich  an 
vielen  Stellen  berühi-te,  aber  die  rhetorische  Erklärung  ist  nicht  der 
Hauptzweck  des  Commentars.  Ehetorisch  hingegen  ist  der  Com- 
mentar des  Tiberius  Claudius  Donatus  zurAeneis,  der  etwas  später 
lebte  als  der  oben  erwähnte  Donat.  Der  Verfasser  schrieb  sein 
"Werk,  ohne  mit  den  Worten  sehr  zu  sparen,  um  den  Mängeln  der 
damals  gebräuchlichen  Commentare  abzuhelfen^).  Er  glaubt,  dass 
Virgils  vornehmstes  Talent  sich  in  der  Ehetorik  zeige,  und  der 
Dichter  anstatt  von  Grammatikern  vielmehr  von  Ehetoren  erklärt 
werden  müsse-).  Deshalb  sind  seine  Bemerkungen  auch  nicht 
grammatikalisch,  sondern  begnügen  sich,  die  einzelnen  Stellen  der 
Aeneis  nach  ihrer  rhetorischen  Bedeutung  zu  erklären.  Für  das 
Verständniss  des  Dichters  oder  die  Kenntniss  des  Alterthums  bietet 
der  Commentar  wenig  für  mis,  und  daher  erklärt  sich,  weshalb 
sich  die  Gelehrten  so  wenig  um  ihn  bekümmert  haben.  Die  letzte 
Ausgabe  desselben  stammt  aus  dem  16.  Jahrhimdert.^)  Im  Unter- 
schied von  seinen  Zeitgenossen  hat  sich  der  Verfasser  so  wenig 
bemüht,  seinem  Werke  ein  gelehrtes  Ansehen  zu  geben,  dass  er 
absichtlich  jede  gelehrte  Anmerkung  fortliess  und  auch  nicht  einmal 
von  dem  technischen  und  schematischen  Theil  der  Ehetorik  den  Ge- 
brauch machte,  den  man  erwarten  sollte.  Bei  dieser  farblosen  Un- 
bestimmtheit konnte  er  in  gewisser  Beziehimg  gerechter  sein  in  der 
Beurtheilung  des  wii'klichen  Zweckes  der  Aeneis.  Er  findet  in 
derselben  nichts  anderes  als  die  Thaten  des  Aeneas,  die  Verhen-- 
lichimg    Eoms    und   des   Augustus   dai-gestellt,   und   durchaus  kein 


1)  „ melius  existimans  loquacitate  quadam  te  facere  doctiorem, 

quam  tenebrosae  brevitatis  vitio  iu  erroribus  linquere.''  Praef. 

2)  ..Si  Maronis  carmina  competenter  atteuderis  et  eorum  meutern 
commode  comprehenderis.  invenies,  in  poeta  rhetorem  summum;  atque 
inde  intelliges  Vergilium  non  grammaticos  sed  oratores  praecipuos  tradere 
debidsse."  Praef. 

3)  Idi  benutze  hier  eine  venezianische  Virgilausgabe  (Giunt.)  1.544. 
Eine  andere  Ausgabe  erschien  zu  Neapel  1.5.35  und  zu  Basel  (G.  Fabri- 
cius)  1561.  Crinitus  machte  aus  dem  Commentar  nach  einem  Floren- 
tiner Codex  1496  einige  Auszüge,  war  aber  wenig  befriedigt  davon:  ,,videtiir 

opera  ludi,  non  enim  omnino  doctus  hic Donatus."  Vgl.  Mommseu 

Rhein.  ^Mus.  N.  F.  XVI,  139  f. 


5!^  Yirgil  in  der  Lilcratur  bis  auf  L)aiitL'. 

wissenschaftliches  und  philosophisches  Werk  ').  (Dies  war  gegen  die 
Kritiker  gerichtet,  welche  dem  Dichter  Inconsequeuzen  und  Wider- 
sprüche in  Bezug  auf  philosophische  Grundsätze  zur  Last  gelegt 
hatten.)  Nichts  destoweniger  ist  er  ebenso  wie  die  andern  Conuuen- 
tatoren  von  Virgils  ausserordentlichem  \ind  mannigfaltigstem  Wissen 
überzeugt,  so  dass  nach  seiner  Ansicht  der  Mensch  für  die 
allerverschiedeusten  Beschäftigungen  bei  Virgil  nützlichen  Kath  holen 
kaun^).  Das  stimmt  auch  mit  der  Idee  vom  vollendeten  Ivedner 
überein,  der  ja,  wie  schon  Cicero  bemerkte,  ein  Mensch  von  uni- 
versellem Wissen  sein  muss^). 

])onat  konnte  in  der  That  zufrieden  sein,  was  den  Gebrauch 
Virgils  von  Seiten  der  Khetoren  anlaugt.  Die  erste  Erklärung  des 
Dichters  lag  natürlich  den  Grammatikern  ob;  al)er  die  Art,  wie 
sich  seiner  die  Rhetoren  bedienten,  Hess  auch  nichts  zu  wünschen 
übrig.  Besonders  in  der  Lehre  von  den  Figui-en,  wählten  sie  aus 
ihm  die  Beispiele,  wie  man  aus  mehreren  Commentaren  und  kurzen 
Abhandhmgen  über  die  Figuren  sieht,  die  sich  in  manchen  Virgil- 
Ir.indschriften  finden^).  In  dem  Tractat  des  Julius  Kufinianus  sind 
die  Beispiele  fast  ausschliesslich  dem  Virgil  entnommen-').  Aus 
vier  der  ersten  Schulautoren,  Virgil,  Sallust,  Terenz  und  Cicero, 
zog  Arusianus  gegen  Ende  des  1.  Jahrhunderts  seine  „Exempla  lo- 
cutionum"  zum  Gebrauch  in  den  Khetorschuleu''),  Zu  derselben  Zeit 
vereinigten  die  Rhetoren  Titianus  und  Calvus  in  einem  Special- 
werke die  aus  Virgil  entlehnten  Themen,  die  zu  Beispielen  der 
Redekunst  verarbeitet  waren  ^).     Wir    besitzen  noch  Declamationen 


1)  ....  iuveniemus  Vergilium  id  esse  professum  ut  gesta  Aeneae  per- 
rurreret,  non  ut  aliquam  scieutiae  intcriovis  vel  philosophiae  partem 
quasi  assertor  assumoret."  Praof.  (Vgl.  auch  was  den  Zweck  der  Acueis 
l'ctriftt,  den  Anfang  der  Pracfatio). 

•J)  ,,lnti'rea  hoc  quoque  ujirandum  debet  advcrti,  sie  Aeneae  laudein 
esse  dispositam  nt  in  ipsa  cxquisita  arte  omniajnaterianim  genera  con- 
venireut,  quo  Ht  ut  Vei'giliani  carni inis  lector  rhetoricis  praeceptis  iustrui 
possit,  et  omnia  vivendi  agendique  officia  reperiri."  Praef. 

.S)  Vgl.  Quintil.  II,  21. 

4)  Vgl.  Hagen,  Scholia  Bernensia,  p.  733,  984. 

5)  Rhetoros  latini  minores,  ed.  Halm  p.  38  ff.  , 

6)  Vgl.  Haupt  im  Hermes,  IIJ,  p.  2-2:{. 

7)  „Et  Titianus  et  Calvus  qui  themata  omnia  de  Vergilio  elicuerunt 
et  adformarunt  ad  dicendi  usum,  in  exemplo  contro versiarum  has  duas 
posuerunt  allocutiones,  Venerem  agere  statu  absolutivo  cum  dicit  lunoni 
,. causa  fuisti  periculorum  his  quibus  Italiani  fata  concesserunt.  Innonem 
vero  niti  statu  causativo  et  relativo,  per  quem   ostcndit   non   sua  causa 


Virgil  iu  ilcr  Literatur  bia  auf  Dante.  50 

in  Vers  und  Prosa  über  Themen  aus  Virgil,  welche  dieser  Epoche 
angehören^).  Eine  gelehrte  rhetorische  Arbeit,  heute  verloren, 
rührte  von  Avienus  her,  der  es  unternommen  hatte,  in  Versen 
ausführlich  über  die  von  Virgil  nur  kurz  berührten  Sagen  und 
Begebenheiten  zu  handeln^).  Mitten  in  den  krankhatten  Ueber- 
treibungen,  zu  denen  sich  die  alle  Köpfe  beherrschende  Rhetorik 
verstiegen  hatte ^),  hörte  Virgil  also  nicht  auf  zu  glänzen,  wenn 
gleich  nach  dem  Geschmacke  der  Zeiten  sich  nun  sein  Ruhm  von 
einer  andern  Seite  gezeigt  und  das  Irrationale  desselben  mehr  ent- 
wickelt hatte. 

Wer  also  jene  Schulen  der  Grammatiker  und  Rhetoriker  ver- 
liess,  hatte  gelernt,  Virgil  als  Vorbild  des  Grammatikers  und  Rhe- 
tors  zu  betrachten,  als  den  Hauptschriftsteller,  der  in  sich  alle 
jene  hohen  Begriffe  von  Wissen  und  Cultur,  die  dem  Zeitalter 
eigen  waren,  vereinigte.  Das  Ergebniss  dieser  Ansicht  bei  einem 
gebildeten  Manne  und  Fachgelehrten  zeigt  sich  in  den  Satumalien 
des  Macrobius,  die  den  Virgil  als  Avunderbaren  Schriftsteller  eines 
encyklopädischeu  Wissens  verherrlichen. 

Macrobius  (4 — 5.  Jahrh.)  verfasste  das  Werk,  welches  allein 
unter  den  auf  uns  gekommenen  (abgesehen  von  den  Commentaren) 
über  Virgil  gleichsam  ex  professo  handelt.  Zum  Nutzen  seines  Sohnes 
wollte  er  die  aus  jeder  Art  von  Lectüre  geschöpften  Bemerkungen 
zusammenstellen.  Um  nun  aber  diese  lose  Masse  miteinander  zu 
vereinigen,  Ijediente  er  sich  nicht  allein,  wie  andere  vor  ihm,  der 
Form  des  Dialoges  beim  Gastmahl,  sondern  er  reducirte  denselben 
fest  ganz  auf  eine  Discussion  über  die  Verdienste  und  das  Wissen 
Virgil's,  entwickelt  so  verschiedene  Zweige  des  Wissens  und  zeigt 
die  damalige  Bedeutung  Virgils  für  dieselben.  Dadurch  ist 
das   Werk    aus    einer   Kritik    über    die  Vorzüge    Virgils    zu    einer 


Troiauos  laborassc,  sed  Vcueris."  .Serv.  zur  Aeu.  X,  18.  Zu  derselben 
Zeit  wurde -die  Sitte,  Themen  aus  Virgil  zu  wählen,  auch  in  den 
Rhetorschulen  Africas  befolgt,  wie  wir  aus  Augustin,  Confess.  I,  17 
wissen. 

lì  In  Prosa  die  Declamation  des  Ennodius  „verba  Didonis  cum 
iibeuntem  videret  Aeneam"  über  Aen.  IV,  365  ff.  (Dictio  XXVIII);  über 
die  in  Versen  weiter  unten. 

2)  Vgl.  Ribbeck,  Proleg.,  186  f. 

a)  „Post  apicem  divinitatis  ego  illa  suiu  quae  vel  romniendo  si  sint 
facta  vel  facio  ....  ;  nos  regna  rogimus  et  imperantes  salubria  iubemus .... 
tuto  scipiones  et  trabeas  et  pomposa  recitatio .  .  .  .  Poetica,  juris  iieritia, 
dialectica,  arithmetica  cum  me  utantur  quasi  genitrice,  me  tamen  asse- 
rente sunt  pretio."  Dies  sagt  die  Rhetorik  bei  Ennodius,  Opusc.  VI. 


60  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

Verherrlichung  desselben  geworden.  Zu  einer  solchen  stempelt  es  der 
darin  herrschende  Ton  enthusiastischer  Bewunderung,  so  wie  das 
l'rogramm  des  auf  Virgil  bezüglichen  Theiles,  wie  es  im  ersten 
Buche  festgesetzt  ist.  Selbst  ein  ausgezeichneter  Gelehrter  für  seine 
Zeit  führt  Macrobius  die  gelehrtesten  seiner  Zeitgenossen  redend 
ein  und  erhebt  sich  mit  diesen  zu  einer  weit  über  dem  gewöhn- 
lichen stehenden  Betrachtungsweise  des  grossen  Dichters.  Die 
Thätigkeit  der  Schule  Virgil  gegenüber  hält  er  für  klein  und  niedrig 
und  des  Dichters  nicht  würdige);  er  sieht  in  ihm  weit  mehr,  als 
die  Grammatiker  seiner  Zeit  darin  zu  sehen  gewöhnt  waren,  und 
eben  deshalb  will  er  die  schönsten  Vorzüge  des  Dichters,  die  andere 
iiiclit  bemerkt  haben,  auseinandersetzen.  Trotzdem  aber  wird  er 
in  dieser  Arbeit,  die  eigentlich  eine  Reaction  gegen  die  falschen 
und  dürftigen  Ideen  der  Zeit  sein  will,  von  dieser  selbst  so  beein- 
tiusst,  dass  er  oft  selbst,  ohne  es  zu  merken,  von  der  Bahn  des  rich- 
tigen Urtheils  ablenkt. 

Der  Vii-gil  des  Macrobius  ist  nun  aber  nicht  allein  auf  allen 
Gebieten  des  Wissens  bewandert,  sondern  geradezu  unfehlbar^), 
^lacrobius  gibt  nicht  zu,  wie  noch  viele  Grammatiker  vor  ihm,  dass 
in  den  Schöpfungen  des  Dichters  ein  Fehler  oder  Irrthum  vorkomme, 
bondem  stellt  es  ganz  der  Fähigkeit  des  Lesers  und  Studirenden  anheim. 


1)  Auf  den  Gebrauch  Virgil's  in  der  Schule  iu  dieser  und  der  fol- 
genden Zeit  spielt  ausser  Macrobius  auch  Orosius  (I,  c.  18)  an:  „Aeneas 
qualia  per  triennium  bella  excitaverit,  qiiaiitos  populos  iinplicuerit,  odio 
excidioque  afflixerit,  ludi  literari  disciplina  nostrae  quoque  raemoriae 
inustum  est";  und  auch  Fulgentius  iu  einer  dem  Macrobius  noch 
mehr  verwandten  Weise:  ,,sed  illa  tantum  quaerimus  levia  quae  men- 
sualibus  stipendis,  grammatici  distrahunt  puerilibus  auscidtationibus." 
De  Verg.  contin.  p.  742;  si  me  scholarum  praeteritarum  non  fallit  me- 
moria" ebend.  p.  748.  „ünde  et  infantibus,  quibus  haec  nostra  (Vergili) 
materia  traditur,  isti  sunt  ordiues  consequoudi"  cbend.  p.  747.  Im  4.  Jahrh. 
wurden,  wie  wir  aus  Ausonins  ersehen,  Virgil  uud  Homer  in  den  Schulen 
wie  zu  den  Zeiten  Quintiliaus  gelesen,  und  mit  ihnen  Menander,  Terenz, 
Horaz,  Sallust.  Idyll.4,46*ff.  Ein  Grammatiker  wird  vonAusoniu8(Epigr.  13.5) 
bezeichnet  als:  „arma  virumque  docens  atque  arma  virumqué  peritus"; 
Sidonius  Apollinaris  (5.  Jahrh.)  stellt  in  dem  Pauegj^ricus  zu  Ehi-en  des 
Anthemius  Virgil  als  den  hauptsächlich  von  jenem  studii-ten  lateinischen 
Schriftsteller  hin,  und  erst  nach  ihm  Cicero,  Livius,  Sallust,  Varrò, 
Plautus,  Quintilian  und  Tacitus;  Carm.  11,  184  ft". 

•2)  „Nullius  disciplinae  expers."  In  somn.  Scip.  I,  6,  44  ;  „discipli- 
narum  omnium  peritissimus"  ebend.  l,  15,  12;  „omnium  disciplinarum 
peritus"  Sat.  I,  16,  12. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  61 

derartige  Schwierigkeiten  aufzulösen^).  „Ueber  das  reiche  Material", 
sagt  er,  „was  in  seinen  Werken  ist,  und  worüber  die  meisten  der 
Ei-klärer  ohne  weiteres  hinwegzuschreiten  pflegen,  gerade  als  ob  es 
einem  Grammatiker  unmöglich  ist,  etwas  anderes  als  Worte  zn 

verstehen "    will   er   den  Leser   aufklären.     „Wir,"  fährt  er 

fort,  „die  wir  für  feinere  Dinge  Gefühl  haben,  wollen  den  Zugang 
zn  dem  heiligen  Gedichte  eröffnen,  uns  bemühen  den  Pfad  aufzu- 
spüren, auf  welchem  man  zu  den  verborgenen  Ideen  desselben 
gelangt,  und  der  Verehrung  der  Gelehrten  das  verborgene  Heilig- 
thum  zugänglich  machen^)."  Im  Dialog  selbst  repräsentirt  ein 
gewisser  Euangelus  den  Gegner  des  Dichters.  Allein  mit  dieser  Figur 
ist  es  nicht  ernst  gemeint.  Man  kann  nicht  geradezu  sagen,  dass 
in  ihr  die  Ansicht  der  vorurtheilsfreien  Kritiker  der  frühereu 
Zeit  dargestellt  sei,  aber  noch  weniger  der  späteren,  weil  damals  eine 
derartige  Persönlichkeit  gar  nicht  esistirte.  Sie  bietet  vielmehr  nur 
durch  ihre  gelegentlichen  Bemerkungen  Gelegenheit  zu  Lobreden 
auf  Virgil;  und  da  der  Verfasser  fürchtet,  dass  ihre  Worte  immer- 
hin auch  einmal  ernst  genommen  werden  könnten,  so  bemüht  er 
sich,  da  wo  er  den  Euangelus  einführt,  ihn  mit  den  schwärzesten 
Farben  zu  zeichnen,  als  einen  Bösewicht  von  verdorbenem  Cha- 
rakter und  höchst  unangenehmen  Gesellen.  Kaum  wird  sein  Er- 
scheinen gemeldet,  so  geben  alle  ihren  Abscheu  zu  erkennen^); 
sobald  er  den  Mund  aufthut,  um  etwas  gegen  Virgil  zu  sagen, 
überfällt  alle  ein  Schauder*).  Einige  seiner  Bemerkungen  waren 
auch  früher  schon  von  Kritikern  gemacht  worden;  aber  im  allge- 
meinen sucht  er  gerade  die  am  wenigsten  anfechtbaren  Ideen  zu 
bekämpfen  und  will  sogar  läugnen,  dass  Virgil,  der  in  einem  Dorfe 
der  Veneter  geboren  sei,  überhaupt  etwas  vom  Griechischen  und 
von  gi-iechischen  Schriftstellern  habe  wissen  können-'').    Eine  solche 

1)  „Quem  nullius  unquam  disciplinae  error  involvit"  in  S.  Scip.  II, 
8,  1.  „manifestum  est  omnibus,  quid  Marc  dixerit,  quem  constai  erroiis 
iguarum:  erit  enim  iugenii  singulorum  invenire,  quid  possit  amplius  pro 
absolvenda  hac  quaestione  conferri"  in  S.  Sei]).  II,  8,  8. 

2)  Sat.  I,  25,  12  fif. 

3)  „Corrugato  indicavere  vultu  plerique  de  considentibus  Euangeli 
iuterventum  otio  suo  inamoenum,  minusque  placido  conventui  congruen- 
tem.  Erat  enim  amarulenta  dicacitate  et  lingua  proterve  mordaci  procax, 
ac  securus  offensarum,  quae  sine  delectu  cari  vel  non  amici  in  se  passim 
verbis  odio  sereutibus  provocabat."  Sat.  I,  T,  2. 

4)  „Cumque    adhuc    dicentem    omnes  exhorraissent."    Sat.  T,   24,   8. 

5)  „Unde  enim  veneto  rusticis  parentibus,  inter  sylvas  et  frutices 
educto,  vel  levis  graecarum  notitia  literarumV"  Sat.  V,  2,  1. 


62  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

Albernheit  dient  dann  natürlich  wieder  zum  Verwände,  das  tiefe 
Wissen,  welches  "Virgil  vom  Griechischen  besass,  hen'^orzuheben, 
ein  Thema,  über  das  fast  das  ganze  fünfte  Buch  handelt.  Und 
ebenso  gibt  eine  andere  Bemerkung  des  Euangelus  Veranlassung 
zu  der  ganzen  Discussion  über  Virgils  Verdienste ,  welche  den  Haupt- 
bestandtheil  des  ganzen  Werkes  ausmacht.  Euangelus  sieht  in 
Virgil  nur  einen  Dichter  einfachster  Art,  dessen  Werk  voll  von 
Fehlern  stecke  und  eigentlich  verdiene ,  verbrannt  zu  werden  ^). 
Dagegen  behauptet  wieder  Symmachus,  dass  Virgil  sich  nicht  allein 
für  den  Unterricht  der  Knaben,  sondern  noch  zu  weit  höheren  Zwecken 
eigne.  „Du  scheinst  mir",  erwidert  er  dem  Euangelus,  „den  Virgil 
von  dem  Standpunct  aus  zu  betrachten,  von  dem  aus  wir  es  thaten, 
als  Avir  noch  Kinder  waren  und  in  der  Schule  seine  Verse  her- 
sagten; allein  der  Ruhm  Virgils  steht  so  hoch,  dass  weder  Lob 
ilin  vergrössern,  noch  Tadel  vermindern  kann."  Und  hier  wird 
dann  das  Gespräch  von  den  Uebrigen  aufgenommen,  die  sich  gegen 
Euangelus  vereinigen,  sich  verpflichten,  jeder  über  einen  Zweig  des 
dem  Virgil  eigenen  Wissens  zu  reden,  und  so  den  Inhalt  der  folgenden, 
heute  leider  unvollständigen  Bücher  festsetzen.  Eustathius  will 
die  Erfahrenheit  Virgils  in  der  Astrologie  und  Philosophie  beweisen, 
Flavianus  und  Vettius  seine  Kenntniss  des  Augural-  und  Pontifical- 
rechtes,  Symmachus  seine  Fertigkeit  in  der  Rhetorik,  Eusebius  seine 
Gewandtheit  in  der  Rede,  Eustathius  seine  Benutzung  griechischer 
Schriftsteller;  Furius  Albinus  zeigt,  wie  viel  Virgil  von  den  alten 
lateinischen  Dichtern  für  die  Verse,  Caecina  Albinus,  wie  viel  er  für 
die  Sprache  gelernt  hat;  Servius,  der  Hauptkeuner  Virgils,  soll  sich 
über  einige  schwierige  Stellen  des  Dichters  verbreiten.  Der  ganze  Theil 
des  Werkes,  der  die  Astrologie  und  Philosophie  enthielt,  ist  ver- 
loren, allein  man  kann  sich  denken,  was  hier  von  einem  Neu- 
platouiker  zu  erwarten  war,  zumal  da  wir  noch  eine  Probe  davon 
in  der  Schrift  über  den  „Traum  des  Scipio",  wo  Macrobius  in  dem 
Virgilischeu  „Terque  quaterque  beati"  die  Pythagorische  Zahlenlehre 
wiedererkennt,  besitzen").    Auf  festerer  Grundlage  l)eruht  nur,  trotz 


1)  „Qui  euim  moriens  poema  suum  legavit  igni,  quid  uisi  famae 
snae,  posteritati  suV)traliendi  curavitV  Nee  immerito;  urubuit  (juippe  de 
se  futura  iudicia,  si  legeretnr  petitio  Deae  precantis  tilio  arma  a  marito 
cui  soli  nupserat,  nec  ex  eo  prolem  suscepisse  se  noverat,  vel  si  mille 
alia  nudtum  pudenda,  seu  iu  verbis  modo  graecis  modo  barbaris,  sen  in 
ips-i  dispositioue  operis  dt'jntdionderentur."  Sat.  I,  25,  G,  7. 

2)  In  8.  Scip.  i,  G,  44.  Den  Inhalt  dieses  Theiles  ersieht  mau  aus 
den  Worten  des  ersten  Buches:  „de  astrologia  tota(iue  pliilosophia,  quam 


Virgil  in  iler  Literatur  bis  auf  Dante.  G3 

der  auch  hier  vorhandenen  Uebertreibungen,  der  Theil,  welcher  sich 
auf  das  Auguralrecht,  die  Bildung  Virgils  und  den  Vergleich  zwischen 
Griechen  und  Römern  bezieht^),  ein  Theil  des  Werkes,  der  für 
lins,  wenn  gleich  aus  einem  ganz  andern  Gesichtspuncte  betrachtet, 
der  wichtigste  ist.  Uns  überrascht  hier  bei  einem  Schriftsteller 
dieser  Zeit  sowol  die  Kenntniss  einer  so  grossen  Zahl  griechischer 
und  römischer,  damals  nicht  mehr  gelesener  Autoren,  als  auch  eine 
gewisse  Feinheit  in  der  Beobachtung  bei  Vergleichen  Virgils  mit 
anderen  Dichtern.  Freilich  hat  sich  Macrobius  zum  grossen  Theil 
darauf  beschräaikt,  zu  compiUren,  nicht  allein  aus  Servius,  der  selbst 
compilirte,  sondern  auch  aus  vielen  älteren  grammatischen  und  ge- 
lehrten Werken,  die  er  oft,  ohne  es  zu  sagen,  wörtlich  copirt'). 
So  hat  er  dem  Werke  des  Gellius  u.  a.  auch  die  Parallele  zwischen 
Virgil  und  Pindar  bei  der  Beschreibung  des  Aetna  entlehnt.  In 
der  Zusammenstellung  aller  solcher,  gemss  älteren  Arbeiten  über 
Virgil  entlehnten  Vergleiche  ist  die  Absicht  des  Macrobius,  Virgil 
zu  verherrlichen,  unverkennbar.  Zuerst  führt  er  die  Stellen  an, 
in  denen  Virgil  den  Homer  übertrifft,  dann  die,  in  denen  er 
ihm  gleich  kommt.  Das,  worin  er  ihm  unterlegen  ist,  behandelt 
er  zuletzt,  und  zwar  nicht  ohne  dabei  die  Ausdrücke  zu  mildern ^). 
Ebenso  hält  er  es  für  nöthig,  bevor  er  von  dem  Gebrauche  spi-icht, 
den  Virgil  von  den  alten  lateinischen  Dichtern  gemacht  hat,  zu 
beweisen,  dass  darin  kein  Fehler  liege  sondern  man  im  Gegen- 
theil  dem  Dichter  Dank  wissen  müsse  dafür,  dass  er  in  seinem 
Werke  Dinge  verewigt  habe,  die  sonst  vergessen  oder  verachtet 
wi-rden  wären;  übrigens,  meint  Macrobius ,  klängen  diese  Stellen  in 


parcus  et  sobrius  operi  suo,   nusqnam  reprehendendus  aspersit."   Sat.  J, 
24,  18. 

1)  Die  Gelehrsamkeit  Virgils  im  Griechischen  wird  vou  Eustatbius 
l'olgendei-massen  definirt:  ,,Cave,  Enangeli,  graecorura  quemquam,  vel  de 
sumniis  auctoribus,  tantam  graecae  doctrinae  hausisse  copiam  credas 
quantani  sollertia  Maronis  vel  adsecuta  est,  vel  in  suo  opere  digessit," 
Sat.  V,  2,  2. 

2)  Er  sagt  das  ganz  offen  in  der  Vorrede  (4)  :  „nee  mihi  vitio  vertas 
si  res  quas  ex  lectione  varia  mutuabor,  ipsis  saepe  verbis  quibus  ab  ipsis 
auctoribus  enarratae  sunt  exjilicabo  ....  et  boni  consulas  oportet  si  uo- 
titiam  vetustatis  modo  uostris  non  obsciire  modo  ipsis  antiquorum  fide- 
liter  verbis  recoguoscas." 

3)  „Et  quia  non  est  erubescendum  Vergilio  si  minorem  se  Homero 
vel  ipse  fateatur,  dicam  in  quibus  mihi  visus  est  gracilior  auctore." 
V,  13,  1. 


64  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

der  Dichtung  Virgils  viel  lierrlicber,  als  iu  den  Originalen').  Die 
beiden  Abhandlungen,  die  sich  auf  Virgil  als  Rbetor  und  Orator 
beziehen,  sind  nicht  vollständig  auf  uns  gekommen.  In  dem  Ab- 
schnitte, der  uns  von  der  ersteren  erhalten  ist,  wird  die  Frage 
aufgeworfen,  ob  der  Redner  mehr  von  Cicero  oder  Virgil  lernen 
kann,  was  uns  nach  dem,  was  wir  von  den  vorhergehenden  Epochen 
gehöii  haben,  nicht  Wunder  nehmen  kann.  Bei  allem  Respect 
gegen  Cicero  und  bei  allen  Protesten  gegen  das  Verfahren,  zwischen 
zwei  so  hohen  Geistern  als  Schiedsrichter  auftreten  zu  wollen, 
fallt  doch  schliesslich  die  Entscheidung  zu  Gunsten  Virgils  aus, 
Cicero,  sagt  Eusebius,  hat  nur  eine  Eigenthümlichkeit  des  Stils 
(„cojjiosum") ,  Virgil  besitzt  deren  vier  („copiosum,  breve,  siccum, 
pingue").  Er  ist  wie  die  Natur,  die  auch  an  verschiedenen  und 
einander  widersprechenden  Formen  reich  ist;  man  kann  sagen,  dass 
er  in  sich  alle  Eigenschaften  der  zehn  attischen  Redner  vereinige, 
und  man  wüi-de  doch  noch  nicht  genug  sagen  ^).  Dieser  Enthusias- 
mus des  Macrobius  für  die  Beredtsamkeit  Virgils  erinnert  an 
Quintilian,  der  in  Homer  die  universelle  Vollendung  der  Redekunst 
erblickt.  Am  geschmacklosesten  ist  aber  der  Theil,  der  die  Rhe- 
torik Virgils  betrifft.  Das  uns  erhaltene  handelt  besonders  von 
der  Erregung  der  Affecte  und  beschränkt  sich  auf  den  einfachen 
Beweis,  dass  Virgil  die  auf  das  „Pathos"  bezüglichen  rhetorischen 
Gesetze  beobachtet  hat;  dieselben  Averden  aufgezählt  und  für  jedes 
einzelne  dann  die  entsprechenden  Virgilstellen  zum  Belege  ange- 
führt. Schon  die  Rhetoren  citirten  beim  Aufstellen  dieser  Gesetze 
oft  Virgil   als   Autorität,    viele   geradezu   als  die  erste;   Macrobius 


1)  „Cui  etiam  gratia  'hoc  nomine  est  habenda,  quod  nonnulla  ab 
illis  in  opus  suum  quod  aeterno  mansurum  est,  transferendo^  feeit  ne  om- 
nino  memoria  veterum  deleretur:  quos,  sicut  pi'aesens  sensus  ostendit, 
non  solum  neglectui,  verum  etiam  risui  habere  iani  coepimus.  Deniquo 
et  iudicio  transferendi  et  modo  imitaudi  consecutus  est  ut  quod  apud 
illum  legeriraus  alieimm,  aut  illius  esse  malimus  aut  melius  hie  quam 
ubi  natum  est  sonare  miremur."  Sat.  VI,  1,  5,  6. 

2)  „Nam  qualiter  eloquentia  Maronia  ad  omnium  mores  integra  est, 
nunc  brevis,  nunc  copiosa,  nunc  sicca,  nunc  üorida,  nunc  simul  omnia, 
interdum  levis  aut  torrens;  sie  terra  ipsa  hie  laeta  segetibus  et 
pratis,  ibi  sii  vis  et  rupibus  hispida,  hie  sicca  arenis,  hie  irrigua 
fontibus,  pars  vasta  aperitur  mari.  Ignoscite  uec  nimium  nie  vocetis 
qui  naturae  rerum  Vergilium  comparavi.  Intra  ipsum  onim  mihi 
Visum  est  si  dicerem  deceni  oratorum,  qui  apud  Athenas  atticas 
floruerunt,  stilos  inter  sc  diver.sos  huuc  unum  permiscuisse."  V,  1, 
19,  20. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  65 

dagegen  rühmt  ihn,  weil  er  den  Vorschriften  der  Rhetoren  gefolgt 
sei.  Und  so  erscheint  jene  Partie  seines  Buches  wie  ein  umge- 
kehrtes Capitel  der  Rhetorik,  was  es  wol  auch  in  der  That  ist. 

Macrobius  fand  füi-  sein  Werk  den  Boden  auf  das  günstigste 
vorbereitet,  sowol  in  materieller  wie  geistiger  Hinsicht.  Denn  der 
Verfall  des  Geschmackes,  der  sich  darin  trotz  aller  Anstrengungen 
des  Autors  so  deutlich  offenbart,  währte  schon  eine  geraume  Zeit; 
wir  haben  die  ersten  Anzeichen  davon  und  das  allmälige  An- 
wachsen jenes  alle  Gränzen  überschreitenden  Ruhmes  des  Dichters 
iu  einer  nunmehr  ihrem  Ende  sich  zuneigenden  Periode  kennen 
gelernt.  In  dem  Auflösungsmomente  der  alten  Welt  wird  das 
Eigenthümliclie  jener  hohen  Meinung,  die  man  von  dem  Dichter 
in  den  letzten  Augenblicken  des  Heidenthums  hatte,  durch  das 
Werk  eines  dieser  Zeit  angehörigen  bedeutenden  Mannes  in  cha- 
rakteristischer Weise  formulirt,  als  Virgils  Ruhm  eben  im  BegriÖ' 
war,  in  den  ganz  anders  gearteten  Auschauungskreis  des  chi'ist- 
lichen  Mittelalters  üb  einzugehen,  dessen  Grenzen  wir  nunmehr  fest- 
zustellen haben. 

Dieser  Epoche  des  Verfalls  und  noch  den  Traditionen  des 
Heidenthums  anhängend^),  gehören  indessen  noch  zwei  Autoren  an, 
welche  nicht  ohne  Einfluss  auf  die  Fortpflanzung  des  Ruhmes  des 
Dichters  die  Jahrhunderte  der  Barbarei  hindurch  waren;  die 
grossen  Grammatiker,  Donat  und  Priscian.  Diese  beiden  Com- 
pilatoren,  der  Zeit  nach  fast  2  Jahrhunderte  von  einander  getrennt, 
beherrschten  die  Schulen  der  Grammatiker  während  des  Mittelalters 
derartig,  dass  ihr  Einfluss  theils  direct  theils  indirect  sich  bis  auf 
imsere  Zeiten  erstrecken  konnte^).  Donats  Ruhm  beruht  nicht 
eigentlich  auf  dem  durch  Servius  verdrängten  Virgilcommentar, 
sondern  auf  seiner  Grammatik,  die  in  den  Schulen  so  viel 
gebraucht  wurde,  dass  man  schliesslich  mit  Donats  Namen  die 
Grammatik  überhaupt  bezeichnete.  Priscian  aber  ei'langte  durch 
seine  ausführlicheren  und  gelehrteren  Compilationen  eine  solche 
Autorität,  dass  die  Schriftsteller  des  Mittelalters  ihrer  Verehrung 
für  ihn  oft  den  begeistertsten  Ausdruck    leihen^).     Ohne   sich  von 


1)  Als  solcher  zeigt  sich  überall  in  seineu  Schriften  Priscian,  ob- 
gleich Christ,  wenigstens  in  seiner  Auswahl  der  massgebenden  Schrift- 
steller. Ganz  anders  der  wenig  spätere  Isidor. 

2)  Vgl.  Keil,  Grammat.  lat.  II,  p.  IX,  f.  XXIX  ff.  IV. 
f.  XXXV  ff. 

.3)  Eine  Probe  davon  bei  seinem  im  Mittelalter  viel  benutzten  Schüler 
Eutychis:  „de  quibus  omnibus  terminationibus  et  traductionibus  quia  ro- 

Compai-etti,   Virgil  im  Mittelalter.  5 


66  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

der  Ueberlieferung  der  älteren  Grammatiker,  aus  denen  sie  com- 
pilirten,  zu  eutfei'neu,  wählen  Priscian  und  Donat  aus  Virgil  mehr 
als  aus  jedem  anderen  Schriftsteller  ihre  Beispiele  aus,  so  dass, 
wenn  Virgil  wenig  gelesen  und  beachtet  wäre,  sie  durch  ihre  Au- 
torität ihm  hätten  Leser  und  Verehrer  verschalfen  müssen  ^).  Priscian 
zeigt  uns  in  einer  sehr  gebrauchten  Specialschrift  die  Art 
und  Weise,  mit  der  man  sich  des  Vii-gil  beim  grammatischen  Un- 
terricht bediente:  er  nimmt  nämlich  von  jedem  Buche  der  Aeneis  den 
ersten  Vers  heraus  und  der  Schüler  muss  jedes  einzelne  Wort  metrisch 
und  grammatisch  analysiren.  So  findet  er  Stoff  genug,  an  diesen 
Beispielen  den  Schüler  die  Hauptregelu  und  Bestimmungen  der 
Grammatik  und  Metrik  wiederholen  zu  lassen^).  Bemerkenswerth 
ist,  dass  Lucan,  der  während  des  Mittelalters  sehr  in  Mode  war, 
von  Priscian  fast  so  oft  wie  Horaz  citirt  wird;  aber  der  Autor, 
den  er  nächst  Virgil  am  öftesten  anführt,  ist  Terenz. 

Indess  auch  ausserhalb  des  Kreises  der  Gelehrten  und  Scho- 
lastiker blieb  der  Dichter  populär.  Man  fuhr  fort,  die  Stoffe  thea- 
tralischer Darstellungen  seiner  Dichtung  zu  entnehmen;  besonders 
häufig  waren  in  der  Beziehung  die  Schicksale  der  Dido,  welche 
die  Leute  bis  zu  Thränen  rührten  und  so  beliebt  waren,  dass 
man  sie  auf  Stickereien,  Gemälden  und  anderen  bildlichen  Dar- 
stellungen  oft   abgebildet   fand'^).     Es  fehlte  auch  nicht  an   öftent- 


manae  lumen  facuudiae,  meus  immo  communis  omnium  boniinum  prae- 
ceptor  in  quarto  de  nomine  libro  summa  cum  subtilitate  disseruisse 
cognoscitur."  etc.  Eutychis  Ars  de  verbo,  bei  Keil,  Gr.  1.  V,  456.  Vgl. 
Thurot,  Notices  et  extraits  t.  XXII,  p.  63. 

1)  Unter  den  etwa  100  Beispielen  des  Donat  in  seiner  Ars  maior 
stammen  wol  80  aus  Virgil.  Eine  sehr  grosse  Menge  von  Citaten  bietet 
Priscian  in  seinen  weit  ausgedehnteren  und  gelehrteren  Schriften  dar. 
Virgil  wird  von  allen  Autoren  am  meisten,  mehr  als  1200  Mal  citirt, 
Terenz,  der  doch  nächst  Virgil  am  meisten  gelesen  wurde,  nicht  halb 
so  oft;  dann  folgen  Cicero  und  Plautus,  Horaz,  Lucan,  luvenal,  Sallust, 
Statins  und  Ovid;  endlich  Lucrez,  Persius  u.  a.  Bei  der  Aufzählung 
in  dem  ersten  Abriss  dieses  Werkes  in  der  Nuova  Antologia,  sind 
leider  Fehler  mit  eingelaufen,  die  jedoch  hier  zu  verbessern  überflüssig 
wäre. 

2)  Partitiones  XII  versuum  Aeneidos  principalium ,  bei  Keil,  Gr.  1. 
III,  459—515. 

3)  „Quod  ita  elegantius  auctore  (Apollonio  Rhodio)  digessit  ut  fa- 
bula lascivientis  Didonis,  quam  falsam  novit  universitas,  per  tot  tarnen 
saecula  speciem  veritatis  obtineat  et  ita  pro  vero  per  ora  omnium  volitet, 
ut  pictores  fictoresque  et  qui  figmentis  liciorum  contextus  imitantur 
eftìgics  hac  materia  vel  maxime  in  efficiendis  simulacris  tamquam  unico 
argumento  decoris  utantur,  nee  minus  histrionum  perpetuis  et  gestibus 


Yirgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  67 

liehen  Vorlesungen  und  noch  im  6.  Jahrhundert  hörte  das  dicht 
gedrängte  Volk  auf  dem  Trajansforum  die  Aeneis  recitireu  ^).  Da- 
bei darf  man  nicht  vergessen,  dass  zu  derselben  Zeit  die  schlechten 
Verse  Arator's  über  die  Thaten  der  Apostel  Begeisterung  hervor- 
riefen, und  dieser  wol  sieben  Mal  aufgefordert  wurde,  sie  öffentlich 
vorzutragen").  Den  Namen  Virgil  legte  man  schon  so  unbedeu- 
tenden Männern  bei,  dass  Ennodius  darüber  sehr  erzürnt 
war^).  Die  Hand  eines  Consuls  emendirte  und  copiiie  den  Text 
Virgils  in  dem  kostbaren  Codex,  der  uns  geblieben  isf^),  Auszeich- 
nungen, die  übrigens  auch  schwachen  Geistern  dieser  traurigen 
Zeiten  zu  Theil  wurden. 

Aber  wie  verändert  hatte  sich  doch  damals  das  Aussehen 
Eoms  und  des  römischen  Volkes!  Die  pomphafte  und  leere  Rhe- 
torik der  Panegyriker  wie  des  Symmachus,  welche  die  glücklichen 
und  heiteren  Prophezeihungen  der  vierten  Ecloge^)  auf  die  Zeiten 
Gratians  anwendet,  lassen  den  Ruin  nur  noch  trauriger  erscheinen. 
Weit  natürlicher  und  richtiger  war  das  Gefühl  des  Hieronymus, 
der,  als  er  in  seiner  Einöde  im  Osten  von  Roms  Einnahme  durch 
Alarich  hörte,  mit  den  Worten  des  Psalmisten  schmerzli«  Ii  bewegt 
ausrief:  „Deus  venerunt  gentes  in  haereditatem  tuam'')!"    Der  Er- 


et  cautitus  celebretur."  Macrobiua  Sat.  V,  17,  5.  „Quod  Maro  Phoe- 
nissae  cantatur  et  Naso  Coriunae."  Victorin.  Ep.  ad  Salm.  73.  Vgl. 
Auson.  Epigi-.  118. 

1)  .,Aut  Maro  Traiano  leetus  in  urbe  foro" 

Veuant.  Fort.  VI,  8,  26. 
„Vix  modo  tarn  nitido  pomposa  poemata  cultu 
Audit  Traiano  Roma  verenda  foro." 

Ebend.  TU,  20,  7. 

2)  Vgl.  V.  Labbé,  Bibl.  nova  mss.  I,  p.  688. 

3)  „In  tantum  prisci  defluxit  fama  Maronis, 
Ut  te  Vergilium  saecula  nostra  darent. 

Si  fatuo  dabitur  tam  sanetum  nomen  homullo 

Gloria  maiorum  curret  iu  opprobrium  etc." 

Ennod.  Carm.  II,  118  tf. 
Manche  glauben  mit  Unrecht,   dass   es   sich  hier  um  den   Grammatiker 
Virgil   handelt.     In  der  Zeit  des  Verfalls   und   im  Mittelalter  besassen 
oder  nahmen  viele   den  Xamen  Virgil  an.     Vgl.  Ozanam,  La  civilisat. 
ehret,  chez  les  Francs,  p.  426. 

4)  Vgl.  über  den  Codex  Ribbeck,  Prol.  p.  209  ff. 

5)  „Si  mihi  nunc  altius  evagari  poetico  liceret  eloquio,  totum  de 
novo  saeculo  Maronis  excm-sum,  vati  similis,  in  tuum  nomen  excriberem. 
Dicerem  de  coelo  redisse  justitiam  etc.  etc."  Symm.,  Land,  in  Gratiau. 
arg.  8,  ed.  Mai  p.  27. 

6)  VgL  Am.  Thierry,  Saint  Je'rome,  II,  p.  191.  ff. 

6* 


ßg  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

innerung  an  eine  glorreiche  Vergangenheit  stand  die  traurige  That- 
sache  des  Verfalls  gegenüber,  die  für  den  stolzen  Eömer  erniedri- 
gende Berührung  mit  den  entfesselten  Barbaren  und  die  Ahnung 
einer  finsteren  und  noch  trauervolleren  Zukunft.  Obgleich  Korn 
und  seine  Weltherrschaft  zusammenbrach,  blieb  doch  eine  Einheit 
so  vieler  Völker  bestehen,  in  deren  Schöpfung  Rom  seine  eigent- 
liche Mission  erfüllt  hatte.  Ln  Geiste  aller  stand  Rom  immer  als 
Mutter  aller  Cultur  und  Civilisation  da,  ein  Symbol  wunderbarer 
Gewalt,  ein  höchstes  und  poetisches  Ideal  jeder  menschlichen  Grösse. 
Jenes  starke  und  universale  Römer -Bewusstsein,  dem  Virgil 
sein  Epos  so  vortrefflich  angepasst  hatte,  war  auch  nach  der  Zer- 
störung des  Reiches  noch  zu  wesentlich  mit  der  lateinischen  Cultur 
verknüpft,  als  dass  es  hätte,  so  lange  jene  bestand,  untergehen 
können.  Die  breite  Spur,  welche  die  römische  Herrschaft  hinter 
sich  zurückliess  und  die  Wolthaten,  welche  der  Menschheit  dar- 
aus entsprangen,  geben  den  zahllosen  Aeusserungen  jenes  das 
Reich  selbst  überdauernden  Bewusstseins  eine  feste  und  reelle 
Basis,  die  uns  zeigt,  dass  jene  nicht  blos  eine  maschinenmässige 
und  äusserliche  Reproduction  des  antiken  Geistes  ist.  Freilich 
waren  die  Verhältnisse  tief  umgestaltet  und  für  einen  grossen 
Theil  der  antiken  Cultur  konnte  jenes  Gefühl  nur  passiv  sein  oder 
sich  nicht  innerlich  mit  jeuer  Cultur  vereinigen.  Der  Geschmack 
war  durchaus  verdorben,  ästhetischen  und  künstlerischen  Idealismus 
gab  es  nicht  mehr. 

Die  seelischen  Kräfte,  aus  denen  die  Kunst  entspringt,  v/aren 
gebrochen,  oder  mussten  sich  auf  einem  ihnen  fremden  Gebiete 
bethätigen.  In  diesen  Zeiten  grosser  moralischer  und  socialer  Um- 
wandelungen  gab  es  zwar  immer  noch  einen  ungeheuren  Vorrath 
poetischer  Kraft,  die  sich  aber  an  Stelle  einer  künstlerischen  Aeusse- 
rung,  nur  noch  auf  die  grossartige  und  imponirende  Thatsache 
jener  Neuerung  selbst  bezieht.  Christus  war  kein  Dichter,  aber 
wie  viel  Poesie  offenbarte  sich  nicht  in  seiner  Persönlichkeit  und 
Thätigkeit,  wie  in  der  seiner  zahlreichen  Anhänger!  Die  Kunst, 
mitten  inne  stehend  zwischen  dem  unvollkommenen  Denken  und 
Empfinden  einer  vergehenden  und  entstehenden  Welt,  in  der  sich 
die  heterogensten  Elemente  mischten  und  bekämpften,  entbehrte 
der  für  ihr  Wesen  nothwendigsten  Bedingungen,  Der  Geist  der 
Völker  war  verirrt,  zerstreut  und  ästhetischen  Eindrücken  ver- 
schlossen, das  künstlerische  Gefühl  verwildert  oder  erloschen.  Gleich- 
sam erstarrt  folgte  es  noch  der  antiken  Cultur,  vor  dem  Geiste 
standen  immer  noch   ihre  Producte,   aber  Zwecke   und  Ideale   des- 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  60 

selben  waren  zu  sehr  verändert,  als  dass  man  meinen  sollte,  dass 
jene  antiken  Werke,  wenn  auch  noch  so  studh't  und  bewundexi;, 
einen  stärkeren  Eindruck  hätten  hervorbringen  können,  als  den  einer 
Ijlossen  Phantasmagorie.  Wie  wir  aus  Macrobius,  den  Grammatikern 
und  übrigen  Schriftstellern  ersehen,  nahm  Virgil  den  ersten  Platz 
in  jenem  Complexe  von  gelehrten  scholastischen  Traditionen  ein. 
Seine  Gelehrsamkeit,  nach  der  man  schon  von  Anfang  an  den  dichte- 
rischen Werth  in  ziemlich  inexacter  Weise  beurtheilt  hatte,  war 
jetzt  als  der  einzige  Gegenstand  der  Bewunderung  übrig  geblieben. 
Xunmehr  ward  dieselbe  gemäss  den  Tendenzen  der  damaligen  An- 
schauung übertrieben,  symbolisch  aufgefasst  und  ging  in  Allegorie 
und  Mysticismus  über,  was  sich  aus  der  Herrschaft  des  Neuplato- 
nismus  wie  des  siegreichen  Christenthums  erklärt.  Die  Dichter 
konnten  nur  noch  mittelmässige  oder  schlechte  Verse  machen, 
welche  oft  ihren  Ursprung  in  der  Schule  der  Grammatiker  imd 
Rhetoren  hatten.  Die  Ktmst  des  grössten  lateinischen  Dichters  er- 
schien diesen  Leuten  wie  ein  Mysterium,  dessen  Schlüssel  man  in 
der  unbegränztesten  und  verborgensten  Weisheit  suchte.  Es  galt 
als  ein  Beweis  eines  feinen  und  hohen  Verstandes,  wenn  man  in 
seinen  Werken  wissenschaftliche  Kenntnisse  jeder  Art  und  tiefe 
philosophische  Gedanken  entdeckte. 

Als  der  Mittelpunkt  der  ganzen  überlieferten  lateinischen  Li- 
•  teratur,  als  ein  Repräsentant  der  Weisheit  der  Alten,  als  Interpret 
jenes  universellen  römischen  Gefühls,  welches  das  Reich  über- 
lebte, erlangte  Virgils  Name  eine  Bedeutung,  die  ihn,  in  dem  la- 
tinisii-ten  Europa  den  Wirkungen  der  Civilisation  überhaupt  gleich 
stellte  ^).  Mit  solcher  Mission  von  dem  sterbenden  Heidenthum  beauf- 
tragt, das  sich  noch  im  Todeskampfe  anstrengte,  die  Züge  seiner  glän- 
zenden und  ruhmreichen  Vergangenheit  festzuhalten,  erschien  er 
den  folgenden  Geschlechtern.  Einige  Jahi-hunderte  bevor  Dante 
den  Virgil  „virtù  somma"  nannte,  mochte  Justinian,  als  er  das  ge- 
waltige Denkmal,  welches  die  practische  Weisheit  der  Römer  uns 
hinterlassen  hat,  anfertigen  Hess,  wol   eben   so  denken,   indem   er 


1)  In  dem  Panegyricus  zu  Ehren  des   Avitus  lässt  Sidouius  Apolli- 
uaris  den  Gotenkönig  sagen:  (v.  495  S.) 

„mihi  Romula  dudum 
Per  te  jura  placent;  parvumque  ediscere  jussit 
Ad  tua  verba  pater,  docili  quo  prisca  Marouis 
Carmine  molliret  Scythicos  mihi  pagina  mores." 


70  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

Virgil    dem  göttlicheu  griechischen  Ei^iker  an  die  Seite  setzte,  der 
für  ihn  „der  Vater  aller  Tugenden  war\)." 

Sechstes  Capital. 
Es  liegt  ims  nunmehr  ob,  die  Schicksale  Virgils  während  des 
Mittelalters  zu  verfolgen.  Die  Barbaren  und  das  Christenthum 
hatten  die  Gestalt  der  alten  römischen  Welt  völlig  verändert.  Auf 
der  einen  Seite  drohte  die  Poesie  den  Schlägen  des  religiösen  Fa- 
natismus zu  erliegen  oder  unter  der  Masse  der  theologischen  Lite- 
ratur zu  ersticken;  auf  der  anderen  zeigte  sich,  dass  die  rohen 
und  ungesitteten  Völker,  welche  jetzt  in  die  civilisirte  Welt  ein- 
drangen, keineswegs  der  Civilisation  wegen  oder  um  klassische 
Studien  zu  treiben  gekommen  waren.  Unterdrücker  wie  Unter- 
diückte,  Laien  und  Geistliche  waren  zu  sehr  in  Anspruch  ge- 
nommen von  der  Sorge  um  ihr  Leben  und  Seelenheil,  als  dass  der 
Geschmack  für  die  Schönheit  der  antiken  Literatur  sich  bei  ihnen 
hätte  regen  können.  Und  dennoch  fand  sich  auch  für  sie  noch 
ein  Rettungsmittel.  Das  Latein  blieb  überall  die  Schrift-  wie  Kirchen- 
sprache. Aber  um  es  nur  einigermassen  schreiben  zu  können,  be- 
durfte es  bereits  eines  nicht  geringen  Studiums.  Während  es  zur 
todten  Sprache  herabsinkt,  sind  zwar  die  Sprachen  des  romanisii-ten 
Europa  schon  im  Begi'iffe,  sich  zu  bilden,  aber  noch  weil  entfernt  von 
dem  endgiltig  abgeschlossenen  Organismus  eüier  literarisch  reifen 
Sprache.  Die  Schulen,  besonders  die  der  Grammatiker,  bestanden 
daher  weiter  fort  und  man  betrachtete,  wie  früher,  die  Grammatik 
als  ^Mittelpunkt  aller  der  Disciplinen,  die  man  für  die  neuen 
Zwecke,  besonders  auf  religiösem  Gebiete  für  nöthig  hielt. 
Wenn  wir  auch  nichts  von  den  Stellen  wüssten,  welche  von 
den  Gelehrten  zum  Beweise  des  Bestehens  der  Schulen  im 
Mittelalter  gesammelt  sind,  so  würde  dies  schon  aus  dem  einen 
Umstand  erhellen,  dass  man  nämlich  nicht  aufhörte,  sich  einer  von 
der  gesprochenen  Sprache  verschiedenen  Schriftsprache  zu  bedienen. 
Man  muss  jedoch  nicht  diese  Schulen  für  etwas  höheres  ansehen 
wollen,  als  sie  in  WirkHchkeit  sind.  Man  lernte  hier  nur  das 
aUernothwendigste.  Denn  die  Studien  profaner  Wissenschaften  waren 
nicht  mehr  sich  selbst  Zweck,  sondern  mir  Vorbereitung  zu  höheren. 


1)  „Sicuti  cum  poetam  dicimus  nee  addimus  nomen  subauditur  ajrad 
Graecos  egregius  Homerus,  apud  nos  Vergilius."  lustin.  Instit.  §.  2; 
„  ....  et  apud  Homerum,  patrem  omnis  viiiutis";  ebend.  in  fin.  prooem. 
Digest. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  71 

Daher  wurden  die  s.  g.  „sieben  Künste",  in  welche  man  schon 
vor  Augustus  den  Unterrichtsstoff  zerlegte^),  mit  der  Zeit  in 
immer  engere  Grenzen  gebracht  und  im  Mittelalter  immer  mehr 
beschränkt.  Einst  nahm  die  Anfertigung  von  Compendien,  wie 
Cato  und  Varrò  solche  verfassten,  doch  nur  einen  bescheidenen  Raum 
in  der  Literatur  ein ,  weil  das  reale  Leben  selbst  alle  diese  Zweige 
des  Wissens,  welche  man  in  jenen  Werken  zusammenfasste,  durch- 
drang. Nachdem  jenes  Leben  aber  erloschen  war  und  die  einzelnen 
Fächer  der  profanen  Wissenschaften  nichts  mehr  producirten  son- 
dern immer  mehr  zusammenschrumpften,  mussten  nothwendig  der- 
artige Compendien  entstehen  und  einen  weit  bedeutenderen 
ßestandtheil  der  Literatur  ausmachen.  Dies  beweisen  die  Encyclo- 
pädien  der  sieben  Künste  eines  Cassiodor,  Capeila,  Isidor,  Beda 
und  anderer,  die  günstige  Aufnahme,  welche  ihnen  zu  Theil  wurde, 
so  wie  ihre  Berühmtheit  während  des  ganzen  Mittelalters,  Man 
bemerkt,  dass  in  diesen  Encyclopädien  von  allen  Wissenschaften 
die  Grammatik  den  Verfassern  am  nächsten  liegt;  ihr  dienten  die 
anderen  nur  gleichsam  als  Gefolge  und  zur  Ergänzung.  Die  Be- 
handlungsweise  des  Ganzen  ist  dabei  eine  derartige,  dass  man  den 
Verfasser  des  Werkes  eigentlich  immer  nur  als  Grammatiker  be- 
zeichnen kann.  Die  Grammatik  wird  als  erste  unter  den  freien 
Künsten  angesehen  und  es  verdient  Beachtung,  wenn  man  liest, 
wie  der  Barbarenkönig  Athalarich,  in  einem  an  den  römischen 
Senat  gerichteten  Befehl  Betreffs  der  Besoldung  der  Professoren 
der  freien  Künste  die  Grammatik  preist,  als  wäre  er  selbst-  ein 
Römer.  „Die  erste  Schule  der  Grammatiker,"  sagt  er,  „ist  die 
herrlichste  Grundlage    der    Literatur,   die    ruhmreiche    Mutter    der 

Beredtsamkeit,  die  richtig  zu  denken  und  zu  sprechen  versteht 

Die  Grammatik  ist  die  Lehrerin  der  Rede,  sie  ziert  das  Menschen- 
geschlecht,   das   durch   den  Gebrauch    einer  schönen  Literatur  s^ich 

der  Rathschläge  der  Alten  bedienen  lernt Den  Barbaren  ist  sie 

unbekannt Waffen   besitzt    auch   jedes   andere  Volk,    aber    die 

Kunst  der  Rede  stand  nur  den   siegreichen   Römern  zu  Gebote ''^j." 
Wo  nun  aber  die  Grammatik  herrschte,  da  herrschte  auch  ihr 
unzertrennlicher  Begleiter  Virgil,  der  ihr  ja  selbst  die  Gesetze  vor- 
schrieb.    Virgil  und  die  Grammatik  hören  im  Mittelalter  geradezu 


1)  Vgl.  Eitschl,  QuaestiouesVarrouianae,  Bonn,  1845.  M er cklin  im 
Philologus  XIII,  736  ff.  Jahn,  Ueber  die  röni.  Encyklopädien ,  Ber.  d, 
Sachs.  Ges.  1850,  263  ff. 

2)  Cassiodor.  Variarum  IX,  21. 


72  ^'^irgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

auf,  zwei  verschiedene  Dinge  zu  sein  und  werden  sjmonym.  So, 
heisst  es  bei  Gregor  von  Tours  (6.  Jahrh.)  dass  Andarchius  in 
seiner  Jugend  „in  den  Werken  Virgil's,  im  Codex  Theodosianus 
und  im  Rechnen  unterrichtet  wurde  ^);"  unter  diesem  Unterricht  „in 
den  Werken  Virgil's"  ist  aber  nur  die  Grammatik  zu  verstehen; 
ebenso  wie  es  in  dem  Leben  des  S.  Bonitus  heisst,  dass  dieser 
„in  den  Elementen  der  Grammatik  und  den  Gesetzen  des  Theodosius" 
unterrichtet  ward^).  Deshalb  verglich  man  auch  einen  guten 
Grammatiker  mit  Virgil'"').  Einen  weiteren  merkwürdigen  Beleg 
dafür  bietet  jener  Grammatiker  aus  Toulouse  (vielleicht  aus  dem 
6.  Jahrb.),  der  zwar  ein  Latein  von  sehr  sonderbarem  Gepräge 
schrieb  imd  lehrte,  wovon  weiter  \inteu,  sich  aber  doch  P.  Virgilius 
Maro  nennen  wollte  und  unter  diesem  Namen  a\xch  allein  bekannt  ist. 
Dieser  Zustand  dauerte  nun  aber  das  ganze  Mittelalter  hin- 
durch, bis  mit  dem  Wiedererwachen  der  moderneu  Literatur  aucli 
die  Laienwelt  za  geistiger  Thätigkeit  erwachte  und  sich  dem  Stu- 
dium weltlicher  Dinge  widmete.  Die  mittelbaren  Gründe,  welche 
den  Clerus  des  Mittelalters  zur  Pflege  der  sieben  Künste  antrieben, 
waren  nicht  von  der  Art,  dass  sie  neues  Leben  schaffen  und  einen 
Aufschwung  der  Wissenschaften  hätten  hervorbringen  können.  Die 
antike  Tradition,  die  schon  in  den  letzten  Zeiten  des  Heidenthuras 
imfruchtbar  geworden,  trat  diesen  vom  Geiste  des  Christenthums 
durchaus  beheiTschten  Jahrhunderten  entgegen,  gleichsam  wie  eine 
Substanz,  die  in  eine  völlig  heterogene  Flüssigkeit  gethan  wird, 
sich  zusammenballt  und  dann  zu  Boden  sinkt;  eine  todte  Materie, 
die  aus  der  einen  Hand  in  die  andere  geworfen,  und  nur  durch 
die  rauhen  und  sonderbaren  Berührungen,  die  sie  ab  und  zu  er- 
leidet, modificirt  wird.  Wenn  hie  und  da  jenes  Studium  schliess- 
lich einmal  ganz  erlischt,  so  erhebt  sich  wol,  hervorgerufen  durch 
das  Bedürfniss,  irgend  Jemand,  der  es  wieder  anfacht.  Aber  auch 
so  ändert  es  seine  Natur  nicht.  Die  Neuerung  besteht  nur  darin, 
dass  man  den  schon  so  genug  reducirten  Stoff  noch  mehr  zu  ver- 
dichten   sucht.     Neue,    noch    handlichere    Compendien    zu    erfinden 


1)  De  operibus  Vergili,  legis  Theodosianae  libris,  arteque  calculi  ad- 
prime  eruditus  est."  Greg.  Turou.  IV,  47. 

2)  ,,Grammaticorum  imbutus  initiis,  necnonTheodosiedoctus  decretis," 
bei  Mabillon,  Acta  S.  III,  1,  p.  90. 

3)  ;„Et  si  aliquis  de  Aquitanis  panmi  didicerit  gi-ammaticam ,  mox 
putat  se  esse  Virgilium,"  Adémar.  Epist.  (11.  Jahrh.)  bei  Mabillon, 
Annales  ord.  S.  Bened.  IV,  725.  Giesebrecht,  De  literar.  studd.  etc. 
p.  18. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  73 

ist  der  alleinige  Zweck  ^).  Carl  der  Grosse  konnte  wol  die  klassischen 
Studien  wieder  aufnehmen,  aber  nicht  erneuem.  Die  Grammatik, 
die  auch  dieser  Fürst  unter  den  sieben  Künsten  am  meisten  be- 
günstigte, bleibt,  abgesehen  von  der  kindlichen  Unwissenheit  der 
Compilatoren  und  Verfertiger  der  Auszüge,  wesentlich  dieselbe  wie 
in  den  letzten  Zeiten  des  Heidenthums,  bis  endlich  im  12.  Jahr- 
hundert auch  sie  den  Einflüssen  der  Scholastik  unterliegt^).  Als 
schon  die  moderne  Literatur  erwacht  war,  und  sich  der  mensch- 
liche Geist  in  neuen  Bahnen  bewegte,  da  behauptete  die  Grammatik 
noch  denselben  Posten,  den  ihr  einst  im  6.  Jahrhundei-t  der  König 
der  Ostgoten  angewiesen  hatte '^j.  Was  aber  von  der  Grammatik 
gilt,  das  gilt  auch  vom  "Virgil,  der  in  ihr  während  des  Mittelalters 
seine  Stellung  bewahrte.  Mit  dem  Material  des  Unten-ichtes  für 
die  Laien  überkam  das  Mittelalter  aus  den  Zeiten  des  Verfalles 
den  Kanon  der  antiken  Autoren.  Die  alte  Bedeutung  Virgils,  die 
ihm  schon  in  jenen  sinkenden  Zeiten  des  Heidenthums  zugeschrieben 
ward,  klingt  im  ganzen  Mittelalter  nach,  selbst  noch  in  den  naiven 
Aeiisserimgen,  deren  eine  so  niedrige  Stufe  der  Cultur  und  eine  der 
antiken  so  entgegengesetzte  Ideenwelt  fähig  war. 

Das  klassische  Alterthum  erhielt  sich  aber  im  Mittelalter  nur 
noch  auf  den  Bänken  der  Elementarschule,  und  alle  alten  Schrift- 
steller verdankten  ihren  Ruhm  nur  den  Schulmeistern.  Als  erste 
Dichter  neben  Virgil,  den  sie  wie  Planeten  umkreisten,  herrschten 
in  den  Schulen  Ovid,  Lncan,  Horaz,  luvenal,  Statius  und  dann  die 


1)  Man  kam  endlich  dahin,  Grammatiken  für  die  Reise  zu  verfassen, 
so  die  des  Phokas  (5.  Jahr.)  wie  die  Verse  der  Vorrede  bemerken: 

„Te  longinqua  petens  comiteni  sibi  ferre  viator 
Ne  dubitet  i:iarvo  pendere  multa  vehens." 

Ars   Phocae  grammatici    de    nomine    et    verbo,    bei    Keil.    Gr.    1.    V, 

p.  410. 

2)  Man  vgl.  die  wichtige  Schrift  vonThurot:  „Notices  et  extraits  de 
divers  manuscrits  pour  servir  à  rhistoire  des  doctrines  grammaticales  au 
moyen  àge.  Paris,  1868.  (der  22.  Band  der  „Notices  et  extraits  des  ma- 
nuscr.  de  la  bibl.  imp."). 

3)  In  der  Legende  von  Karl  dem  Grossen  beisst  es:  „premièrement 
fist  Karlemaiue  paindre  dans  son  palais  gramaire  qui  est  mère  de  tous 
les  ars."  In  der  ,, Image  du  monde"  wii-d  aus  diesem  Ansehen  der  Gramma- 
tik in  mystischer  Weise  gefolgert,  dass  diese  die  Wissenschaft  des  Wortes 
ist,  durch  das  Wort  aber  Gott  die  Welt  erschuf 

„Par  parole  fist  Dex  le  monde 
Et  tous  les  biens  qui  ens  habunde." 
Vgl.  lubinal,  Oeuvres  compi,  de  Ruteboeuf  II.  p.  417. 


74  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

anderen  je  nach  dem  Geschmacke  des  Lehrers.  Im  Elementar- 
unterricht suchte  mau  den  Kindern  die  Xamen  der  voruehm-sten 
antiken  Schriftsteller  und  Grammatiker  einzuprägen.  War  man  er- 
wachsen oder  schriftstellerte  man,  so  war  es  unnioglich,  jene  Schul- 
reminisceuzen,  welche  auch  durch  die  Schriftsprache  selbst  festge- 
halten wurden,  aufzugeben.  So  kam  man  dazu,  jene  Autoren  fort- 
während zu  citiren.  Aber  das  christlich  asketische  Gefühl  musste 
auch  schweren  AViderwillen  gegen  die  Repräsentanten  des  Heiden- 
thums  empfinden,  und  y\ir  haben  daher  nunmehr  die  Stellung  Virgils 
und  der  anderen  antiken  Autoren  zu  beobachten,  welche  von  den 
christlichen  Schriftstellern  besonders  nach  dem  vollständigen  Siege 
ihrer  Religion  so  hart  angegriffen  wurden. 

Die  Kirchenschriftsteller  ^)  konnten  gegen  die  heidnischen  eine 
starke  Abneigung  hegen,  und  Arnobius  Tei-tullian  und  andere  Apo- 
logeten ihnen  mit  dem  Rufe  „adversus  gentes"  entgegentreten 
mit  einer  Heftigkeit,  welche  durch  erlittene  Verfolgimgen  und  re- 
ligiöse Begeisterung  kamn  gerechtfertigt  wird.  Allein  sie  mussten 
sie  doch  lesen  und  studiren,  theils  um  sie  zu  widerlegen,  theils, 
weil  sie  die  Grundlage  der  allgemeinen  Bildung  Avaren,  und  mau 
nur  durch  sie  die  Schriftsprache  erlernen  konnte,  mit  deren  Hilfe 
man  selbst  wieder  die  Laienwelt  belehren  musste.  Darum  eben 
war  das  Decret  des  Kaisers  Julian  so  verhasst,  welches  den 
Christen  den  Unterricht  und  somit  auch  das  Studium  der  Gram- 
matik und  Rhetorik  verbot.  Julian  sagte,  dass  es  nicht  gut  sei, 
wenn  die,  welche  sich  über  die  moralischen  und  religiösen 
Schriften  der  heidnischen  Autoren  so  sehr  erzürnten,  dieselben  als 
Grundlage     ihres     Unterrichtes     benutzten^),    wie    dies    auch    die 


1)  Wir  könneu  uns  hier  nur  mit  dem  Westen  beschäftigen,  imd 
lassen  deshalb  die  klassischen  Studien  in  den  Ländern  der  griechischen 
Cultur  und  orientalischen  Kirche  bei  Seite.  Trotzdem  können  wir  kurz 
bemerken,  dass  das  Resultat  fast  dasselbe  wie  im  Westen  ist,  ausgenommen, 
dass  die  griechische  Kirche  sich  hier  wie  in  manchen  anderen  Dingen 
etwas  mehr  erleuchtet  und  toleranter  als  die  Kirche  des  Abendlandes 
zeigt.  Die  Homilio  des  Basilius  über  das  Lesen  heidnischer  Bücher  ist 
bekannt  genug. 

2)  ätonov  (isv  oiuai  tovg  iè,rjyov(iévovg  tee  Tovzmv  àtifié^fiv  tovg 
vii  avtiùv  TLfirj&évTag  &sovg.  Tuli  an,  Epist.  42,  p.  422.  Nach  dem  Ver- 
bote konnten  die  Christen  nicht  Lehrer  der  Grammatik  und  Rhetorik 
sein  (Animi an,  Marc.  XXII,  10,  7;  Joh.  Chrysost.  II,  p.  579  u.  s.  w.), 
also  auch  nicht  die  Schulen  besuchen,  denn  den  Heiden  würden 
sie  ihre  Kinder  nicht  anvertraut  haben.  Vgl.  Lasaulx,  Der  Untergang 
dos  Hellenismus  p.  (55;  Kellner,  Hellenismus  und  Christenthum  (Köln  1866) 
p.  226  f. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  75 

wärmsten  und  intolerantesten  Asketen  gesagt  hatten.  Dagegen 
begriffen  die  klügeren  und  mehr  in-actischen  Christen  sehr  wol, 
welche  Bosheit  in  dem  Decret  Julians  lag;  denn,  das  Christen- 
thum  von  der  antiken  Cultur  losreissen  und  demselben  zu  ver- 
bieten, sich  gewissen  Anforderungen  anzubequemen,  war  das  beste 
Mittel,  die  Entwickelung  desselben  in  der  graecoromanischen  Cultur 
zu  verhindern.  Allein  das  Decret  Julians  half  so  wenig  wie  seine 
anderen  Massregeln.  Gegen  den  unwiderstehlich  herandringenden 
Strom  war  kein  Damm  fest  genug.  Nachdem  das  Heidenthum 
aufgehört  hatte  zu  existiren,  und  man  der  Polemik  gegen  die 
Heiden  überdrüssig  ward,  stand  die  Uebei'liefermig  für  die  christ- 
lichen Schulen  bereits  fest,  und  es  war  nicht  möglich,  das  ganze 
Mittelalter  hindurch  ihren  Chaiakter  zu  ändern.  Es  gab  zwar 
Leute,  welche  wünschten,  au  Stelle  der  heidnischen  Schriftsteller 
christliche  in  den  Schulen  einzuführen:  aber  wie  hätten  wol  die 
Grammatiker  in  diesen  ein  Aequivalent  sehen  können?  luden  neuen 
grammatischen  Compilationen  fügte  man  zu  den  antiken  Beispielen 
auch  oft  solche  aus  der  Vulgata  und  einigen  christlichen  Au- 
toren-'),   aber  massgebend  blieben  doch  immer  nur  die  ersteren. 

Die  Nothwendigkeit  einer  radicalen  Reform  fühlte  man  nicht, 
denn  das  Heidenthum  war  todt,  und  jeder  verständige  sah  ein, 
dass  eine  Wiederbelebung  desselben  durch  die  Schulen  unmöglich 
war.  Und  so  finden  wir  denn  auch  keine  Verordniingen  kirch- 
licher  Obrigkeiten   mehr,   die  jene    Schriftsteller  verbieten^).    Da- 


1)  Am  meisten  erwähueuswerth  scheint  Isidor  zu  sein.  —  Auch  Sma- 
ragdus  (9.  Jahrh.)  sagt  ausdrücklich,  Beispiele  aus  der  Vulgata  zu 
nehmen....  (Vgl.  Thurot,  a.  a.  0.  p.  63):  „quem  libellum  non  Marouis 
aut  Ciceronis  vel  etiam  aliorum  paganoi-uui  auctoritate  fulcivi,  sed  divi- 
narum  scripturarum  sententiis  adornavi,  ut  lectorem  meum  iucundo  pa- 
riter  artium  et  iucundo  scripturarum  poculo  propinarem,  ut  grammaticae 
artis  ingenium  et  scripturarum  pariter  valeat  compreheudere  seusum." 
Smaragd.  Prol.  tract.  in  part.  Donat.  bei  Keil,  De  quibusdam  gram- 
maticis  latinis  infimae  aetatis.  (Erlangen  1868)  p.  20.  Auch  für  die  Rhe- 
torik ereignete  sich  dasselbe.  Vgl.  ßeda  „de  schematibus  et  tropis": 
„Sed  ut  cognoscas,  dilectissime  fili,  cognóscant  omnes  qui  haec  legere 
voluerint,  quia  sancta  scriptura  ceteris  scripturis  omnibus  non  solum 
auctoritate  quia  divina  est,  vel  utilitate  quia  ad  vitam  ducit  aeternam, 
sed  et  autiquitate  et  ipsa  praeeminet  positione  diceudi,  placuit  mihi 
collectis  de  ipsa  exemplis  estendere,  quia  nihil  huiusmodi  schematum 
sive  troporum  valent  praetendere  saecularis  eloquentiae  magistri,  quod 
non  in  illa  praecesserit" ;  bei  Halm,  Rhett,  latt.  minores  p.  607. 

2)  Die  zwar  alten,  aber  apokryphen  „Constitutiones  Apostolorum" 
können   nicht   als   kanonische  Autorität    gelten.     Nach  dem  Geiste  des 


76  Viigil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

gegen  zeigt  sich  uns  die  scheinbar  befremdliche  Thatsache,  dass 
man  die  Alten  als  Heiden  hasst  und  vei-flucht,  sie  aber  eifrigst 
liest  und  studirt.  Von  einigen  einsichtigen  werden  sie  daneben 
auch  als  gelehrte  und  geistvolle  Schriftsteller  bewundert.  Das 
kam  daher,  weil  das  Mittelalter  sich  gewissenhaft  m  einer  von 
früher  her  vorgeschriebenen  Bahn  bewegte.  Die  Kirchenväter  hatten 
/war  viel  gegen  die  Alten  geschrieben,  sich  ihrer  aber  doch  immer 
wieder  bedient.  So  las  man  sie  denn  auch  in  den  Schulen  weiter, 
und  citirte  sie  auch  wo  es  nöthig  war,  sogar  in  den  theologischen 
Controversen  und  der  Auslegung  der  Schrift,  gelegentlich  aber  wer- 
den sie  auch  als  „heidnische  Hunde"  gemisshaudelt.  Hiero- 
nymus,  dem  seine  Vorliebe  für  Cicero  in  jenem  berühmten  Traume 
sogar  Schläge  von  Seiten  der  Engel  eintrug,  die  ihm  dabei  zu- 
liefen: „Ciceronianus  es  non  Christianus",  nannte  den  Virgil:  „nicht 
den  zweiten,  sondern  den  ersten  Homer  der  Römer ^)".  In  dem 
Briefe  an  Damasus  über  den  verschwenderischen  Sohn  aber  tadelt  er 
heftig  jene  Priester,  ,, welche  anstatt  der  Evangelien  und  Propheten 
Comödien  lesen,  aus  den  Bucolica  citireu,  den  Virgil  nicht  aus  den 
Händen  lassen  imd  daraus  eine  Sünde  machen,  was  für  die  Kin- 
der eine  Nothwendigkeit  ist".  Damit  stimmen  freilich  nicht  die 
Worte  Augustin's  überein,  der  es  nicht  tadelt,  wenn  „die  Kinder 
von  früh  an  den  Virgil  lesen  und  den  vor  allen  anderen  erlauch- 
ten    Poeten    so   in   sich   aufnehmen,   dass    sie    ihn    so   leicht  nicht 


primitiven  einfachen  Christenthums,  welchen  sie  athmeu,  rathen  sie  von  dem 
Lesen  heidnischer  Bücher  ab  und  verweisen  auf  die  Bibel,  als  auf  eine  Encyklo- 
pädie,  in  der  sich  das  Gute  jener  Bücher  alles  beisammen  fände  (C.  A. 
c.  4).  Im  4.  Concil  von  Carthago  (5.  Jahrb.)  beisst  es  cap.  16:  „Ut 
episcopi  libi'os  gentilium  non  legant,  haereticorum  autem  pro  necessitate 
et  tempore,"  und  Isidor  sagt  im  „Liber  sententiarum"  III,  13:  „probibetur 
christianis  figmenta  legere  poetarum"  und  beweist  dies  weitläufig.  Na- 
türlich ist  dies  alles  nicht  buchstäblich  aufzufassen  sondern  gilt  nur  als 
Rath  und  Ermahnung  den  Gebrauch  der  antiken  Autoren  zu  beschränken. 
Man  setzt  keine  Strafe  darauf,  sondern  überlässt  alles  dem  Gewissen.  Isidor 
beweist  durch  seine  eignen  Schriften,  wie  er  die  Stelle  im  Lib.  sent. 
verstanden  wissen  wollte.  Die  Stelle  aus  Isidor  und  das  Gesetz  aus  dem 
Concil  von  Carthago  findet  man  unter  den  von  Grazian  gesammelten 
Beschlüssen,  dist.  89.  Vgl.  dazu  Berardi  I,  193  ff.  Zahlreiche  Stellen  aus 
den  griechischen  und  lateinischen  Kirchenvätern,  die  sich  theils' für. 
theils  gegen  jene  Studien  aussprechen,  theils  sie  nur  bedingungsweise 
gestatten,  bei  Cotelerius,  Patr.  temp.  apost.  I,  p.  204.  Vgl.  Loaise 
und  Arevalo  zu  Isid.  lib.  sent.  III,  c.  13;  Gazaeus,  zu  Cassian.  Coli. 
XIV,  c.  12. 

1)  Comm.  iu  Michaeam.,  Op.  VI,  518. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  77 

mehr  vergessen^)".  Diese  Reminiscenzen  aus  den  profanen  Studien 
müssen  übrigens  manche  bedenkliche  Seele  beunruhigt  haben,  und 
der  Eremit  Cassianus  dachte  sich  endlich  ein  Mittel  aus,  dem  abzu- 
helfen^). Wie  schwer  es  aber  war,  beweist  Hieronymus,  dem  selbst 
mitunter,  ohne  es  zu  wollen,  Stellen  aus  klassischen  Schrift- 
stellern unter  die  Feder  laufen.  Als  er  von  den  Krypten  Rom's 
spricht ,  welche  die  Gräber  der  Apostel  und  Märtyi-er  aufweisen, 
und  von  dem  Dunkel,  das  hier  herrscht,  sagt  er:  „Hier  schreitet 
man  nur  allmälig  vorwärts  und  umgeben  von  finsterer  Nacht 
kann  man  sich  der  Worte  Virgils  erinnern:  „Horror  ubique  ani- 
mos  simul  ipsa  silentia  terrent".  Und  dies  sagt  derselbe  Hierony- 
mus der  an  einem  anderen  Orte  in  heiligem  Glaubenseifer  ausruft: 
„Was  hat  Horaz  mit  dem  Psalter  zu  schaffen,  was  Virgil  mit  dem 
Evangelium  oder  Cicero  mit  den  Aposteln^)?''.  Derartiges  kann 
man  vielfach  in  seinen  Werken  finden.  Seine  Gegner  ersparten 
ihm  aber  deswegen  keine  Vorwürfe.  Als  er  z.  B.  zu  Bethlehem 
eine  Schule  der  Grammatik  gründete  und  den  Knaben  Virgil 
und  andere  gi-iechische  und  lateinische  Profanantoren  erklärte,  da 
schleuderte   ßufin   Anklagen  gegen  ihn,  die  ihn  schwer  verwunde- 


1)  „Vergilium  pueri  legunt  ut  poeta  magnus  omniumque  praecla- 
rissimus  atque  optimns  teneris  imbibitus  annis,  non  facile  oblivione  possit 
abohri."  De  civ.  Dei,  I,  c.  3.  In  dieser  Stelle  haben  viele  legant  aus 
legunt  gemacht.  Auch  Roth  spricht  davon  wie  von  einer  Ermahnung, 
Virgil  zu  lesen.  Im  Text  steht  aber  legunt,  und  muss  hier  auch  so 
heissen. 

2)  „Germanus:  „  .  . . .  speciale  impedimentum  salutis  accedit  pro  illa 
quam  tenuiter  videor  attigisse  notitia  litterarum,  in  qua  me  ita  vel  in- 
stantia paedagogi,  vel  continuae  lectionis  maceravit  intentio,  ut  nunc  mens 
poeticis  velut  infecta  carminibus,  illas  fabularum  nugas  historiasque 
bellorum  quibus  a  parvulo  primis  studiorum  imbuta  est  rudimentis,  ora- 
tionis  etiam  tempore  meditetur,  psallentique  vel  pro  peccatorum  indul- 
gentia  supplicanti,  aut  impudens  poematum  memoria  suggeratur,  aut 
quasi  bellantium  heroum  ante  oculos  imago  vei'setur,  taliumque  me  phan- 
tasmatum  imaginatio  semper  eludens,  ita  mentem  meam  ad  supernos 
intuitus  asi^irare  non  patitur  ut  quotidianis  üetibus  non  possit  expelli." 
Nosteros:  ,,De  hac  ipsa  re  unde  tibi  purgationiä  uascitur  desperatio  ci- 
tum  satis  atque  efficax  remedium  poterit  oboriri,  si  eamdem  diligentiam 
atque  instantiam  quam  te  in  illis  saecularibus  studiis  habuisse  dixisti, 
ad  spiritalium  scripturarum  volueris  lectionem  meditationemque  transferre. 
Necesse  est  enim  etc."  Cassian  Coli.  XIV,  cap.  12,  13. 

3)  Comm.  in  Ezech.  c.  40. 

4)  Epiat.  ad  Eustochium,  Op.  I,  112. 


78  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

ten  ^).  Wer  aus  allen  Kirchenvätern  die  Stellen  zusammensuchen 
wollte,  in  denen  gegen  das  Lesen  heiduiöcher  Bücher  so  wie  das 
Profanstudium  überhaupt  geeifert  wird,  der  würde  deren  unge- 
mein viele  finden;  noch  mehr  aber  würde  der  entdecken,  welcher 
die  Stellen  sammeln  wollte,  in  denen  das  Gegentheil  gesagt  ist. 
In  der  That  verdankten  die  Dichter  und  christlichen  Autoreu,  ja 
alle,  die  nur  irgend  ein  literarisches  Verdienst  hatten,  das  was 
sie  leisteten  der  Kunst  der  Alten,  deren  Schüler  und  oft  skla- 
vische Nachahmer  sie  waren.  Sie  empfahlen  daher  geradezu  das 
Studium  der  Alten.  Ein  Brief  des  Sidonius  ApoUiuaris  (5.  Jahrh.) 
führt  uns  in  ein  schönes  Landhaus  in  Gallien,  dessen  Besitzer 
dort  alle  möglichen  geistigen  und  körperlichen  Genüsse  vereinigt 
hat.  Unter  den  Büchern  liegen  da  heilige  und  profane,  christ- 
liche und  heidnische  bunt  durcheinander;  und  das  beweist  uns, 
wie  wenig  die  Declamationen  einiger  Fanatiker  Erfolg  hatten^). 
Als  Cassiodor  seine  Mönche  zum  Studium  der  sieben  Künste  an- 
trieb, konnte  er^)  dafür  sowol  das  Beispiel  des  Moses  anführen, 
welcher   in   aller    Weisheit   der   Aegypter   erzogen   ward,  als  auch 


1)  Maronem  suum  comicosque  ac  lyricos  et  historicos  auctores  tra- 
ditis  sibi  ad  disceudum  Dei  timorem  puerulis  exponebat,  scilicet  ut  prae- 
ceptor  fieret  auctorum  geutilium."  Kufin.  Apol.  11,  bei  Hieron.  p.  420. 
Vgl.  Am.  Thierry,  Saint  Jerome,  I,  p.  314. 

2)  „Qui  inter  matronarum  cathedras  Codices  erant,  stylus  his  reli- 
giosus  inveniebatur;  qui  vero  per  subsellia  patrum  familias,  hi  cothurno 
latialis  eloqui  nobilitabantur.  Licet  quaepiam  volumina  quorundam  aucto- 
rum servarent  in  causis  disparibus  dicendi  paiilitatem.  Nam  similis 
scientiae  viri,  hinc  Augustinus,  bine  Varrò,  bine  Horatius,  bino  Prudentius, 
lectitabantur.  „Sidon.  F.pist.  I,  9-  Von  hier  ist  jedoch  noch  weit  bis  zu 
der  Idee  des  Herrn  Chaix  (Sidoine  Apollinaire,  Paris  1867)  sowie  an- 
derer moderner  Katholiken,  dass  die  Kirche  stets  ,,eine  grosse  Beschützerin" 
der  antiken  Cultur  gewesen  sei.  Vgl.  Kaufmann  in  den  Gott.  gel. 
Anz.  1868,  p.  1009  f.  Der  Grammatiker  Virgil  (bei  Mai,  Class,  autores 
V,  p.  5)  spricht  davon,  dass  es  Sitte  gewesen  sei  in  der  Kirche  die  christ- 
lichen und  heidnischen  Autoren  in  zwei  gesonderten  Bibliotheken  aufzu- 
bewahren: ,,....  bocce  subtilissime  statuerunt  ut  duobus  librariis  com- 
positis,  una  fidelium  philosophorum  libros,  altera  gentilium  scripta  con- 
tinerent."  Wir  nehmen  jedoch  die  Versicherung  eines  so  bizarren  Autors 
nicht  so  wörtlich  wie  0  z  an  am  (La  civilisat.  ehret,  chez  les  Francs,  p.  434  f.). 
Dass  eine  solche  Eintheilung  bisweilen  stattfand,  geht  aus  der  Stelle  des 
Sidonius  hervor;  allein  nichts  beweist,  dass  dies  eine  Verordnung  der 
Kirche  war.  Im  Gegentheil  werden  in  Catalogen  mittelalterlicher 
Bibliotheken  christliche  und  heidnische  Autoren  durcheinander  an- 
geführt. 

3)  Divin.  lection.  cap.  28. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  79 

„der  heiligen  Väter,  welche  anordneten,  dass  das  Studium  der 
profanen  Literatur  nicht  versäumt  werden  dürfe  und  welche  sich 
selbst  darin  sehr  bewandert  zeigten,  wie  man  aus  Cyprian,  Lac- 
tanz,  Ambrosius,  Hieronymus,  Augustin  und  anderen  ersieht. 
Und  wer  könnte  da  noch  zweifeln?"  Es  ist  dies  der  Gemeinplatz, 
mit  dem  sich  alle  Geistlichen  entschuldigten,  wenn  sie  über  welt- 
liche Stoffe  schrieben^).  In  den  Klöstern,  in  denen  das  Schweigen 
Regel  war,  bediente  man  sich  für  gewisse  Dinge  conventioneller 
Zeichen,  Wenn  man  z.  B.  das  Buch  eines  heidnischen  Autors 
haben  wollte,  so  pflegte  mau  sich  bei  dem  Zeichen  eines  Buches  wie 
ein  Hund  hinter  den  Ohren  zu  kratzen;  denn  „man  vergleicht  mit 
Recht  einen  Heiden  einem  solchen  Thiere"^).  Man  verachtete  sie, 
aber  man  las  sie.  Die  Regel  einiger  jüngerer  Mönchsorden  wie 
der  des  Isidor,  des  Dominions  und  Fi*anciscus  verbot  das  Lesen 
heidnischer  Autoren  und  gestattete  dasselbe  nur  nach  besonderer 
Erlaubnisse).  Andere  und  bedeutendere  Klöster  vei*boten  es  eben- 
falls,   erlaubten   es    aber   in  den  Schulen  des  Ordens  und  befahlen 


1)  In  einem  von  Stefanus  von  Ronen  (12.  Jahrh.)  verfassten  Compen- 
dium  aus  den  Institutiones  des  Quintilian,  wovon  sich  ein  handschrift- 
liches Exemplar  auf  der  kais.  Bibliothek  zu  Paris  befindet,  entschuldigt 
sich  der  Verfasser  folgender  Massen  :  „.  .  .  .  Hoc  pariter  notandum  quod 
ecclesiae  doctores  gentilium  libros  non  incognitos  habebant ....  Probat 
hoc  et  beatus  Augustinus  qui  de  discipliuis  liberalibus  libros  singulos 
edidit ....  Beatus  etiam  Ambrosius  cuiusdam  philosophi  epistulam  in 
quadam  sua  epistula  integram  ponit.  Origenes  vero  philosophorum 
libros  adolescentibus  summopere  edisceudos  praecipiebat,  diceus  eorum 
ingenia  in  divinis  scripturis  capaciora  et  tenaciora  fore  cum  horum  sub- 
tilitates  et  ingeniorum  acumina  animo  perceperint.  Quod  .Julianus  au- 
gustus,  magnus  quidem  jibilosophus,  sed  errore  maior,  considerans,  post- 
quam  a  fide  discessit,  edicto  publicato  prohibuit  ne  cbristiauorum  filii 
artem  oratoriam  addiscerent,  quod  quanto  in  eloqueutiae  studiis  edocti 
forent  tanto  in  Christiana  fide  ac  religione,  ut  in  revincendis  gentilium, 
quos  sequebatur,  erroribus  acutiores  ac  disertiores  existerent;  simul  dicens 
hostes  adversariorum  armis  non  armandos.  Karoli  etiam  magni  ma- 
gister  Alcuinus  de  hac  arte  dialogum  sub  proprio  Karoli  nomine  con- 
scripsit  etc." 

2)  „Pro  signo  libri  scholaris  quem  aliquis  paganus  composuit, 
praemisso  signo  generali  libri,  adde  ut  aurem  digito  tangas  sicut 
canis  cum  pede  pruriens  solet;  quia  non  immerito  infidelis  tali  animanti 
comparatur."  Bernard.  Ordo  cluniac.  in  Vetus  disciplina  monast. 
p.  172.  (Zappert,  Virgil's  Fortleben  im  Mittelalter,  p.  31). 

3)  ,, Gentilium  autem  libros  vel  haereticorum  volumina  monachus 
legere  caveat."  Holst.  Cod.  regni,  monast.  p.  124;  vgl.  Heeren,  Gesch. 
d.  ci.  Lit.  im  Mittelalter  I,  p.  70;  Le  Clerc,  in  Hist.  litt,  de  la  France, 
XXIV,  p.  282, 


80  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

das  Abschreiben  von  Mauuscripten  ohne  Unterschied  der  Autoren  ^), 
welche  eben  durch  diesen  Umstand  auf  uns  gekommen  sind.  Wenn 
man  der  Strenge  des  Christenthums  hätte  genau  folgen  wollen, 
so  hätte  man  die  heidnischen  Schriftsteller  dui-chgängig  verbieten 
oder  gar  vernichten  können,  vor  allem  die,  welche  für  jede  Re- 
ligion als  unmoralisch  gelten  müssen,  wie  Ovid  und  Martial,  Und 
doch  figurirten  die  „ars  amatoria"  Ovids  und  die  schmutzigen  Epi- 
gramme Martials  in  den  Klosterbibliotheken  neben  anderen  Pro- 
fanschriftstellern ,  sogar  neben  der  Bibel  und  den  Kirchenvätern. 
Die  zahlreichen  Handschriften,  die  wir  davon  besitzen,  wurden 
zum  grossen  Theil  von  Mönchen  abgeschrieben  und  stammen  aus 
Klöstern.  Freilich  hatte  der  Abschreiber  nicht  immer  den  Muth, 
manche  Stellen  ganz  zu  copiren,  und  dieselben  wurden  dann  ent- 
weder weggelassen  oder  willkürlich  moralisch  umgeändert^).  An- 
dere wieder  copirten  alles  getreulich,  machten  sich  dann  jedoch 
in  einer  Randbemerkung  Luft,  wobei  sie  dem  Autor  gerade  keine 
Ehrentitel  gaben  ^).  Aber  im  ganzen  hatte  man  ein  viel  weiteres 
Gewissen,  als  man  heute  glaubt.    Horaz,  von  dem  schon  Quintilian 


1)  In  Folge  der  modernen  Entdeckungen  von  Palimpsesten  haben 
einige  wenig  unterrichtete  gemeint,  dass  die  Mönche  aus  Hass  gegen  die 
Heiden  systematisch  deren  Schriften  ausgelöscht  und  solche  von  frommem 
Charakter  an  ihre  Stelle  geschrieben  haben.  Das  ist  ein  grosser  Irrthum. 
Häufig  war  das  ausgelöschte  ein  christliches  Werk,  sogar  von  Kirchen- 
vätern, auch  Texte  der  Bibel,  und  profanes  darüber  geschrieben,  z.  B. 
über  den  Text  des  Paulus  der  der  llias.  Leider  wird,  wie  ich  aus  Er- 
fahrung weiss,  der  Gelehrte  oft  genug  in  der  Hinsicht  getäuscht,  wenn 
er  in  einem  Palimpsest  nach  klassischer  Literatur  sucht  und  sich  un- 
nöthig  dabei  quält.  Ausführlicheres  hierüber  bei  Mone,  de  li  bris  pa- 
limpsestis.  Carlsr.  1855  und  Wattenbach,  das  Schriftwesen  im  Mittel- 
alter (Leipz.  1871)  p.  174  f. 

2)  In  einer  Ovidhandschrift  der  Züricher  Bibliothek  ist  bei  dem 
Verse  „hoc  est  quod  pueri  tangar  more  minus"  (Ars  am.  Ili,  683)  das 
minus  in  nihil  verwandelt  und  eine  Note  dazu  am  Rande  sagt:  „ex 
hoc  nota  quod  Ovidius  non  fuerit  sodomita."  VgL  L.  Müller  im  Jahrb. 
f.  Phil.  n.  Paed.  1866  p.  395.  In  dem  bekannten  Pariser  Excerptencodex 
(Notre  Dame  188)  sind  viele  Verse  auf  diese  Art  zugestutzt;  z.  B.  Ti- 
bull,  (I,  1,  25).  „lam  modo  non  possum  contentus  vivere  parvo"  wird 
zu  „Quippe  ego  iam  possum  contentus  vivere  parvo"  und  Tib.  I,  2,  89: 
„lusisset  amores"  zu  „dampnasset  amores".  VgL  Wolf f li u  im  Pbilo- 
logus  XXVII  (1867)  154. 

3)  Unter  den  Griechen  widerfährt  dies  am  häufigsten  Luci  an,  wel- 
chen die  Byzantinischen  Copisten  oft  am  Rande  mit  :  „cö  KccKiats  àv&Q(ÓTtcav, 
(0  (iiaQcórats^'  u.  a.  beehren.  Vgl.  L.  Müller  im  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Paed. 
1866,  p.  395. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  81 

einige  Stücke  in  den  Schulen  nicht  interpretirt  wissen  wollte^), 
wurde  nicht  allein  ganz  gelesen,  copirt  und  von  den  Mönchen 
glossirt,  sondern  einige  seiner  sinnlichsten  Oden  wm-den  von  ihnen 
gar  nach  der  Melodie  von  heiligen  Hymnen  gesungen,  die  sich  in 
mehr  als  einer  Handschrift  notirt  findet"). 

Einer  kleinen  Zahl  von  Hitzköpfen  stand  also  eine  ganze 
Menge  Gemässigter  gegenüber.  Anselm  rieth  geradezu  zur  Leetüre 
des  Virgil^)  und  Lupus  von  Ferneres,  der  dem  Regimbert  dasselbe 
empfahl,  wie  aus  seinen  Briefen  hervorgeht^),  suchte  überall 
nach  Handschriften  klassischer  Autoren.  Er  wandte  sich  sogar 
an  den  Papst  Benedict  III.  mit  der  Bitte,  ihm  einen  Ci- 
cero, einen  Quintilian  und  einen  Terenzcommentar  zu  leihen^). 
Viele  Invectiven  gegen  das  Studium  der  Alten  sind  leere  Decla,- 
mationen  und  rhetorische  Ergiessungeu  ohne  Ernst.  Sobald  die 
Rhetorik  in  die  Literatur  eindringt,  ist  es  ja  überhaupt  schwer 
zu  sagen,  wenn  man  nach  der  eigentlichen  Ansicht  der  Schrift- 
steller  fragt,    wo    die  Wahrheit   aufhört,    und  die  Phrase  beginnt. 


1)  ;,,....  nam  et  graeci  (lyrici)  multa  licenter,  et  Horatium  nolim  in 
quibusdam  interpretrari."  Quintil.  I,  8,  6. 

2)  In  einer  Horazhds.  von  Montpellier  begleiten  die  Ode  an  Phyllis 
(IV,  11).  „Est  mihi  nonum  superantis  annum"  Noten,  in  welchen  man 
die  Melodie  der  berühmten  Hymne:  „üt  queant  laxis  Resonare 
fibris"  wiedererkannt  hat.  Vgl.  Libri,  Catal.  génér.  des  MSS.  des 
bibl.  pubi,  des  depart.  I,  454  f.;  Nisard,  Archives  des  miss,  scient.  et 
litt.  1851,  98  ff.;  Baiter,  Horat.  II,  p.  915  ff.;  Jahn  im  Hermes 
II,  419. 

3)  „Et  volo  quatenus  ut  fiat  quantum  potes  satagas,  et  praecipue  de 
Vergilio  et  aliis  aucto'ribus  quos  a  me  non  legisti;  exceptis  bis  in  quibus 
aliqua  turpitudo  sonat  "  Anselm.  op.  351.  Und  so  noch  manche  andero. 
In  einem  alten  Gedichte,  „ad  pueros"  betitelt,  heisst  es: 

„Pervigil  oro  legas  cecinit  quod  musa  Maronis 
Quaque  Sophia  docet,  optime,  carpe  puer." 

Vgl.    Amador     de     los     Rios,     Hist.     crit.    de    la     litt.    Espaii.     II, 

pp.  238,  339. 

4)  „Satius  est  ut  apprime  sis,  et  in  Vergiliana  lectione,  ut  optime 
potes,  proficias."  Lup.  Ferrar.  Ep.  7. 

5)  Epist.  103.  Vgl.  auch  ep.  1,  5,  8,  16,  37,  62,  104,  in  denen  er 
Handschriften  des  Cicero,  Gellius,  Servius,  Macrobius,  Boethius,  Caesar, 
Quintilian,  Sallust  verlangt  oder  übersendet.  Seine  Correspondenz  recht- 
fertigt das,  was  er  von  sich  selbst  zu  Einhard  (Ep.  1)  sagt:  „Amor  lite- 
rarum  ab  ipso  fere  initio  pueritiae  mihi  est  innatus,  nee  earum,  ut  nunc 
a  plerisque  vocantur,  superstitiosa  otia  fastidio  sunt.  Et  nisi  inter- 
cessisset  inopia  praeceptorum,  et  longo  situ  coUapsa  priorum  studia  pene 
interissent,  largiente  Domino,  meae  aviditati  satisfacere  forsitan  po- 
tuissem." 

Comparetti,  Virgil  im  Mittelalter.  (J 


^2  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

Gregor  von  Tours  erhebt  laut  seine  Stimme  gegen  die  Fabeln  und 
die  verderbliche  Gelehi-samkeit  der  „Philosophen"  oder  alten  Au- 
toren; wenn  er  aber  die  Aeneis  nach  ihren  Hauptbegebenheiten 
durchnimmt  und  die  poetischen  Mythen  der  Reihe  nach  verdammt, 
scheint  es  ihm  selber  zu  entgehen,  dass  er  mit  seiner  Gelehrsam- 
keit blos  prunkt,  da  er  doch  eben  dadurch  beweist,  dass  er  die 
geschmähten  Schriftsteller  recht  gut  kennt  und  studirt  hat^). 
Ernster  klingt  seine  Rede  nur  da,  wo  er  über  das  Elend  der 
Zeiten  und  den  grossen  Verfall  der  literarischen  Studien  sich  be- 
klagt"^). 

Ganz  besonders  eifern  aber  gegen  die  Profanstudieu  die  Ver- 
fasser der  Heiligeuleben,  die  es  natürlich  für  besser  halten,  das 
Leben  eines  Heiligen,  als  die  Schicksale  des  Aeneas  zu  lesen ^).  Nur 
wenige  unter  ihnen  sind  Gelehrte,  die  Mehrzal  roh  und  unwissend.  Aus 
dem  niedrigsten  Mönchthume  hervorgegangenen,  verachten  sie  alles  Ir- 


1)  „Non  enim  oportet  fallaces  commemorare  fabulas,  neque  philo- 
sophorum  inimicam  Deo  sapientiam  sequi,  ne  in  iudicium  aeternae  mortis 
Domino  discernente  cadamüs .  . . .  Non  ego  Saturni  fugam,  non  lunouis 
iram,  non  lovis  stupra,  non  Neptuui  iniuriam,  non  Aeoli  sceptra,  non 
Aeneadum  bella,  naufragia  vel  regna  commemoro:  tacco  Cupidinis  emissi- 
onem;  non  exitia  saeva  Didonis,  non  Plutonis  triste  vestibulum,  non 
Proserpinae  stuprosum  raptum,  non  Cerberi  triforme  caput:  non  revol- 
vam  Anchisae  colloquia,  non  Ithaci  iugenia,  non  Sinonis  fallacias:  non 
ego  Laocoontis  cousilia,  non  Amphitrionidis  robora,  non  lani  conflictus, 
fugas,  vel  obitum  exitialem  proferam  etc."  Gregor.  Turon.  (6.  Jahrh.) 
Lib.  miracul.  714. 

2)  „Vae  diebus  nostris  quia  periit  studium  litterarum  a  nobis!    i  raet. 

Hist.  eccl.  Frano. 

3)  „En  meliora  meo  nan-antur  Carmine  gesta, 

Non  "ladios  nec  tela  refert  pharetramque  Camillae." 
Milo     Vit.  S    Amandi,   Act.    S.  Febr.    I,   881.  f.  Vgl.   Petrus,   Vit.  S. 
Theobaldi,  Act.  S.  IV,  165;  Anon.  Vit.  S.  RemacU,  Act.  S.  II,  469  etc. 
Vgl.  Zappert,  a.a.O.,  62.  Das  gewöhnlichste  bei  den  christlichen  Dich- 
tern ist,  dem  Ruhme    eines  Homer  und   Virgil  ihren  bescheidenen    aber 
christlichen    Stoff   entgegenzuhalten.     So    im    Prologe    des   luvencus    zu 
seiner  Versification  der  evangelischen  Geschichte.  Beda  schreibt: 
„Bella  Maro  resonet,  nos  pacis  dona  canamus, 
Munera  nos  Christi,  bella  Maro  resonet." 
(Hist.  Angl.  p.  295).    Dasselbe  thuen  auch  andere  Prosaschriftsteller  und 
Historiker';  z.  B.  Wipo:  im  Prolog  zur  Vita  Chuouradi  imp.:   „Satis  in- 
consnltum'est,  Superbum  Tarquinium,  Tullum  et  Ancum,  patrem  Aeneam, 
ferocem  Rutulum  et  huiusmodi  quoslibet  et  scribere   et    legere:    nostros 
autem    Carolos    atque   tres   Ottones,   imperatorem  Heinricum  secundum, 
Chnonradnm  imperatorem  patrem  gloriosissimi  regis   Heinrici   tercii,   et 
euudeni  Heinricum  regem   in   Christo    triumphantem   onuiiuo   negligere." 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  83 

dische ,  auch  wenn  es  die  Pflege  des  Geistes  betrifift ,  und  rühmen 
sich  noch  dazu  in  cyxiischer  Weise  ihrer  Unwissenheit^).  „Der 
Leser",  so  schreibt  einer  von  diesen  Autoren,  „möge  sich  nicht  an 
tlie  grosse  Menge  von  Barbarismen  stossen,  die  er  in  diesem 
Büchlein  findet.  Vielmehr  neige  er  sein  gläubiges  Ohr  zu  der 
Wahrheit,  die  sich  in  der  gemeinen  Rede  zeigt;  er  möge  einfach 
lesen,  was  hier  gesckrieben  steht  und  es  machen  wie  jemand,  der 
in  einem  Misthaufen  nach  einem  Edelsteine  sucht".  Auch  andere 
gestehen  nur  ihre  Soloecismen  und  Barbarismen  nicht  zu,  son- 
dern rühmen  sich  derselben  noch.  Gelegentlich  nahmen  wol  auch  be- 
deutendere Leute  zu  dieser  gemeinen  Rhetorik  ihre  Zuflucht^)  und 


1)  „Curiosum  ceterum  lectorem  admoneo  ut  barbarismorum  foedam 
congeriem  in  hoc  opusculo  flocciiDendat,  et  vevitati  in  vulgari  eloquio 
fidai  aurem  apponat,  et  quod  hie  inveniet  simpliciter  perlegat  et  acsi  in 
sterquilinio  margaritam  exquirat."  Wqlfhard  (9.  Jahrh.)  Vita  S.  Wal- 
purgis,  Acta  SS.  IV,  268:  „Sed  et  si  quis  movetur  rusticitate  sermonis 
soloecismorumque  inconcinnitatibus,  quas  minime  vitare  studui,  audiat 
quia  regnum  Dei  non  est  in  sermone  sed  in  virtute,  neque  apiid  ho- 
mines  bonos  interesse  utrum  vina  vase  aureo  an  ligneo  propinentur." 
Miracul.  S.  Agili,  Act.  SS.  II,  312;  vgl  Anon.  Vita  L.  Geraldi,  A. 
SS.  IX,  851.  Manche,  die  sich,  was  die  Grammatik  anlangt,  nicht  ganz 
sicher  fühlen,  bekämpfen  in  sehr  revolutionärer  Weise  die  ,, tyrannischen 
Regeln  Donats.''  Vgl.  Indiculus  luminosus  (no.  20)  von  Alvarus 
Cordubensis  (9.  Jahrb.):  „Agant  eructuosas  quaestiones  philosophi  et 
Donatistae  genis  impuri,  latratu  canum,  grunuitu  porcorum,  fauce  rasa 
et  dentibus  stridentes,  saliva  spumosi  grammatici  ructent.  Nos  vero 
evangelici  (1)  servi  Christi  discipuli  rusticanorum  sequipedi  u.  s.  w." 
Diese  Worte  stinimen  wunderbar  zu  einer  schauderhaften  Biographie 
Donats,  die  einen  gleichen  Ton  anschlägt,  in  einem  Cod.  Paris;  ed. 
Hagen,  Anecdota  Helvetica  p.  259.  Und  doch  zeigt  sich  Alvarus  in 
seinen  Worten  als  fleissigen  Leser  Virgils.  Vgl.  Almador  de  los  Rios 
a.  a.  0.  II,  102  fi". 

2)  Einer  von  diesen  ist  auch  Gregorius  Magnus:  „non  metacismi 
collisionem  fugio,  non  barbarismi  confusionem  devito,  situs  motusque 
praepositionum,  casusque  servare  contemno:  quia  indignum  vehementer 
existimo  ut  verba  coelestis  oracuH  restringam  sub  regulis  Donati.''  Praef. 
Hiob.  T.  I,  p.  6.  Durch  diese  affektirte  Kenntniss  der  grammatischen 
Technik  will  der  grosse  Mann  wol  zeigen,  dass  sein  Xichtwolleu  durch- 
aus kein  Nichtkönnen  ist.  Seine  Schriften  beweisen  wenigstens  seine 
ünkenntniss  keineswegs.  Der  Widerwille  Gregors  des  Grossen  gegen  die 
Profanstudien  ist  von  vielen  übertrieben  worden,  die,  nicht  von  mittel- 
alterlichen Specialstudien  ausgehend,  den  Werth  gewisser  Ausdrücke 
nicht  erwogen  haben.  Gregor  stellt  sich  dem  klassischen  Alterthum  gegen- 
über wie  hundert  andere  ausgezeichnete  Theologen  des  Mittelalters. 
Durch  falsche  Interpretation  einer  Stelle  des  Johann  von  Salisbury 
(Polycr.  II,  26)  kam    man    zur   Annahme,  dass   Gregor  die  Palatinische 


34  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

entgegneten,  wenn  mau  sich  über  ihre  oder  des  Clerus  Unwissen- 
heit beschwerte,  mit  dem  schönklingenden  Gemeinplatz:  „dass  das 
Reich  Gottes  nicht  in  Worten,  sondern  in  der  Tugend  besteht", 
und  dass  „das  Evangelium  zu  rohen  un«l  ungebildeten  Fischern 
und  nicht  zu  gewandten  Redekiinstleru  kam*)".  Als  sich  die 
Bischöfe  Galliens  zu  Eheims  vereinigten  und  über  die  Unwissen- 
heit der  römischen  Geistlichkeit  beklagten,  antwortete  der  aposto- 
lische Legat  Leo,  Abt  von  S.  Bonifacius,  in  seinem  Briefe  an  die 
Könige  Hugo  imd  Robert:  „dass  die  Vicare  und  Schüler  des  h. 
Petrus  nicht  Plato,  Virgil,  Terenz  und  andere  von  dem  „Philo- 
sophenvieh" zu  Lehrern  haben  wollen,  die  in  ihrem  Stolze  wie 
die  Vögel  in  der  Luft  herumfliegen,  wie  Fische  in  den  Meeres- 
grimd  hinabtauchen  oder  wie  Schafe  auf  der  Erde  wandeln.  So 
lange  die  Welt  steht,  waren  die  auserwählteu.  Gottes  nicht  Redner 
und  Philosophen ,  sondern  Leute  die  nichts  von  der  Wissenschaft 
wussten!"^)  Dass  man  solche  Phrasen  nicht  für  baare  Münze  neh- 
men kann,  liegt  auf  der  Hand.  Denn  sowol  Kläger  wie  Beklagte 
zeigten  auf  der  anderen  Seite  einen  Prunk  und  Luxus,  der  nichts 
weniger    als    apostolisch   war.     Es   Hess   sich   nicht  leugnen,  dass 


Bibliothek  habe  verbrennen  lassen,  während  jene  Stelle  nur  von  astro- 
logischen, theurgischen  u.  ähnlichen  Büchern  .spricht,  die  auch  Kaisefr 
(z.  B.  Valens)  hatten  verbrennen  la^^sen.  Als  ob  auch  nach  der  Gotcn- 
und  Vandalenherrschaft  in  Rom  für  Gregor  noch  Bibliotheken  zum  Ver- 
brennen übrig  geblieben  wären!  Vgl.  hierüber  das  gerechte  Urtheil  von 
Gregorovius,  Gesch.  d.  St.  R.  II,  p.  90  ff.  Man  begreift  nicht,  wie 
Teuf  fei  (Gesch.  d.  r.  Lit.  p.  1026)  noch  an  jenem  Irrthum  fest 
halten  kann.  Die  These  des  Herrn  Leblanc,  ütrum  Gregorius  Magnus 
litteras  humaniores  et  ingenuas  artes  odio  persecutus  sit,  Paris  1852,  ist 
eine  Apologie,  zu  der  ihn  blos  sein  katholischer  Standpunkt  gebracht  hat. 

1)  Diese  Gemeinplätze  hat  der  in  Wahrheit  sehr  bescheidene  Ver- 
fasser der  Miracula  S.  Bavonis  (10.  .Jahrb.)  zusanimengefasst:  „Sus- 
cipiant  alii  copiosam  variae  excusationis  supellectilem,  videlicet  quod 
veritas  nativa  vivacitate  contenta,  non  quaerat  altrinsecam  colorum  ad- 
hibitionem;  et  quod  christianae  fidei  rudimenta,  non  ab  oratoribus  sed 
a  piscatoribus  et  idiotis  sint  promulgata;  et  quod  regnum  Dei  magis 
virtutis  quam  sermonis  constet  efficacia;  aUaque  perplura  in  id  orationis 
cadeutia:  mihi  facilis  apologiae  patet  occasio,  scilicet  cui  nullius  eru- 
ditionis  favet  exercitatio."  Act.  SS.  II,  389.  Vgl.  Sul  pie.  Sev.  Op.  I,  2. 
Felix,  Vit.  S.  Guthlaci,  Act.  SS.  III,  59.  Anon.  Vit.  S.  Conwoionis, 
A.  SS.  VI,  212.  Anon.  Vita  S.  Martini,  A.  SS.  I,  557.  Warmannus, 
Vit.  S.  Priminü,  A.  SS.  IV,  128.  Othlo  Vit.  S.  Bonifatii  bei  Pertz, 
Mon.  Germ.  II,  .358  etc.  Zapp  er  t,  a.  a.  0.  62. 

2)  Leonis  Epist.  bei  Pertz,  Mon.  Germ.  5,  687.  Vgl.  Gregorovius 
a.  a.  O.  Ili,  527. 


Virgil  iu  der  Literatur  bis  auf  Dante.  85 

ilie  vor  den  Rheimser  Bischöfen  berührten  Zustände  beklagens- 
werth  waren,  aber  die  geistliche  Rhetorik  wusste  sie  doch  zu 
rechtfertigen. 

Man  bemerkt  auch,  wie  sich  bisweilen  in  jenen  Declama- 
tionen  gegen  die  Profanstudien  etwas  Eifersucht  gegen  die  ver- 
räth,  welche  unter  den  Ordensgenossen  des  Schriftstellers  als 
sehr  tüchtig  in  jenen  Studien  galten.  Allein  abgesehen  hier- 
von, darf  man  nicht  vergessen,  dass  die  kirchlichen  Schriftsteller, 
selbst  die  aufgeklärtesten,  unter  dem  Einflüsse  eines  starken 
und  tiefen  religiösen  Gefühls  schrieben,  das  sich  oft  zum 
glühendsten  Enthusiasmus  steigerte.  Indem  ihr  Geist  immer  auf 
das  höchste  Gut  und  das  einige  Leben  gerichtet  war,  fielen  sie 
wie  alle  Gemüther,  die  ganz  in  der  Religion  aufgehen,  auch  dem 
Scrupel  anheim,  in  Folge  dessen  sie  sich  dann  eben  widersprachen. 
Augustin,  der  eine  Zeit  lang  sich  das  unschuldige  Vergnügen 
gönnte,  täglich  ein  halbes  Buch  Aeneis  zu  lesen  um  sich  dabei 
auszuruhen,  klagte,  als  er  43  Jahr  alt  geworden,  über  diese  Zeit, 
in  der  ihn  der  Tod  der  Dido  zu  Thränen  rühren  konnte  und 
wo  er  nicht  bemerkte,  dass  er  selbst  dabei  aufhörte  in  Christo  zu 
leben.  Diese  glühenden  Worte,  die  seiner  Seele  in  einem  Moment 
der  Sehnsucht  nach  Gott  entströmten,  hinderten  ihn  aber  später 
nicht,  den  Dichter  der  Aeneis  hoch  zu  schätzen,  und  in  seinem  im 
7 2.  Lebensjahre  beendeten  „de  civitate  dei"  macht  er  oft  von  den  Versen 
desselben  Gebrauch.  Als  er  74  Jahre  alt  war,  gereute  es  ihn 
dann  wieder,  sich  des  Wortes  „fortuna"  so  oft  bedient  und,  wenngleich 
nicht  im  Ernst,  die  Musen  erwähnt  zu  haben,  als  wären  sie  Göt- 
tinnen. Alcuin,  der  nach  Aussage  seines  anonymen  Biographen 
die  „Bücher  der  alten  Philosophen  und  die  Lügen  Virgil 's"  ge- 
lesen hatte  und  im  eilften  Jahre  den  Vergil  noch  lieber,  als  die 
Psalmen  mochte  ^) ,  wollte  davon  im  Alter  nichts  mehr  wissen  und 
litt  nicht,  dass  die  Schüler  jenen  Dichter  lasen:  „Die  göttlichen 
Dichter",  sprach  er  zu  ihnen,  „können  Euch  genügen,  und  es  ist 
nicht  nöthig,  dass  Ihr  Euch  mit  der  üppigen  Beredtsamkeit.  Vir- 
gils  befleckt".  Trotzdem  gelang  es  ihm  nicht,  die  anderen 
ebenso  bedenklich  zu  machen,  und  den  Sigulf  musste  er  strenge 
tadeln,  weil  dieser  heimlich  seinen  Schülern  den  Virgil  erklärte^). 


1)  „Et  plorare  Didonem  mortuam  quia  se  occidit  ob  amorem,  cum 
iuterea  me  ipsum  in  bis  a  te  morientem,  Deus  vita  mea,  siccis  oculis 
ferrem  miserrimus."  Augustin.  Confess.  I,  op.  I,  53. 

2)  Vit.  beati  Alcuini,  A.  SS.  IV,  147;  vgl.  Monnier,  Alcuin 
et  Charlemague  p.  9  f. 


86  ^irgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

Manchem^)  erscheinen  diese  Bemerkungen  des  Biographen  unglaub- 
lich, weil  sich  in  den  Briefen  Alcuins  öfter  Virgil  citirt  findet. 
Ich  glaube  jedoch,  dass  nach  dem  oben  gesagten  einleuchtet,  dass 
diese  Thatsache  nicht  ihr  Gegentheil  ausschliesst-J.  Ganz  das- 
selbe fand  auch  bei  Theodulph  statt,  der  sich  in  seinen 
Versen  entschuldigt,  Virgil,  Ovid,  Pompeius  und  Donat  gelesen  zu 
haben,  um  anderer  zu  geschweigen^).  Auch  war  Alcuin  nicht  der 
einzige,  der  es  für  nöthig  fand,  den  übergrossen  Eifer  für  diese 
Studien  zu  dämpfen*). 

Manchem  raubten  derartige  Zweifel  gar  den  Schlaf.  Herbert, 
Bischof  von  Xorwich,  erzählt,  dass  ihm  eines  Xachts  Christus  im 
Traume  erschien  und  also  zu  ihm  sprach:  „Ich  wusste,  dass  du 
von  Jugend  an  bis  zu  deinem  grauen  Alter  die  Dienste  eines 
Priesters  erfüllt  hast.  Warum  aber  gibst  du  dich  ab  mit  den 
Lügen  Ovids  und  den  Erfindungen  Virgils?  Es  geziemt  bich  nicht, 
dass  derselbe  Mund,  der  Christum  prediget,  auch  den  Ovid  recitirt. 
Da  gedachte  ich  der  Schläge  des  Priesters  Hieron  jmus  und  sprach  : 
ich  habe  gefehlt,  ich  gestehe  es,  und  nicht  allein,  weil  ich  die 
heidnischen  Schriftsteller  gelesen,  sondern  weil  ich  sie  auch  nach- 
geahmt habe""j.  Der  Verfasser  des  Lebens  des  heiligen  Odo  er- 
zählt, dass  dieser  einst,  da  er  es  gewagt  hatte,  Virgil  zu  lesen, 
im  Traume  ein  Gefäss  sah,  das  von  aussen  schön  war;  aber  innen 
war    es   voller   Schlangen,    die  ihn  alsbald  umzingelten;  als  er  er- 


1)  Wright,  Biographia  britannica  literaria;  Anglo-Saxon  period, 
p.  42.  Vgl.  über  Alcuins  Neigung  für  und  seinen  Hass  gegen  die  Olassiker 
Lorenz,  Alcuin's  Leben  (Halle,  1829)  p.  267  u    277. 

2)  Die  Berner  Bibliothek  besitzt  eine  Virgilhds.,  die  von  der  Hand 
Alcuins  herrühren  oder  wenigstens  Copie  nach  seinem  Exemplare  sein 
soll.  Vgl.  Müller,  Analecta  Bernensia,  III,  p.  23  —  25. 

3)  „Et  modo  Pompeium,  modo  te,  Donate,  legebani. 
Et  modo  Vergilium.  te  modo,  Naso  loquax; 

In  quorum  dictis  quamquam  sint  frivola  multa, 
Plurima  sub  falso  tegmine  vera  latent." 

Theodidph,  Carm.  IV,  1. 

4)  Merkwürdig  ist  in  der  Beziehung  die  ironische  Ermahnung  eines 
Anonymus  des  11.  Jahrh.  (bei  Riese,  Anth.  lat.  no.  765): 

„Tityre  tu  fido  recubans  sub  tegmine  Christi, 
Divinos  apices  sacro  modularis  in  ore. 
Non  falsas  fabulas  studio  meditaris  inani. 
Ulis  uam  capitur  felicis  gloria  vitae, 
Istis  succedunt  poenae  sine  fine  perennes. 
Unde  cave  frater  vanis  te  subdere  curis  etc." 

5)  Herbert.  De  Losinga.  Epist.  p.  53—56,  63,  93. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  87 

wachte,  erkannte  er,  dass  das  Gefass  Virgil,  und  die  Schlangen, 
die  sich  darin  bargen ,  die  Weisheiten  der  alten  Dichter  seien  ^). 
Ein  Anonymus  des  11.  Jahrhunderts  berichtet  von  einem  Schüler, 
der,  als  er  einmal  im  Fieber  phantasirte,  zu  schreien  anfing,  weil 
er  eine  Legion  von  Teufeln  erblickte,  welche  die  Gestalten  des 
Aeneas,  Turnus  und  anderer  Personen  aus  der  Aeneis  annahmen  ^). 
Während  nun  einige  von  solchen  Scrupeln  geplagt  waren, 
trieben  wieder  andere  die  Bewunderung  Virgils  bis  zum  Fanatis- 
mus. Ratbert  gab  seine  Stimme  im  Capitel  mit  Versen  Virgils 
ab.  Der  Mönch  Probus  begeisterte  sich  so  für  Virgil  und  Cicero, 
dass  er,  wie  seine  Brüder  sjiotteten,  sie  unter  die  Heiligen  ver- 
setzen wollte^).  Rigbod,  der  Bischof  von  Trèves,  soll  die  Aeneis 
besser  als  das  Evangelium  gekannt  haben*).  Dieser  Fanatismus 
zeigt  sich  auch  sehr  charakteristisch  in  der  Legende.  Ein  Schrift- 
steller des  11.  Jahrhunderts  erzählt  nämlich  folgendes:  „Zu  Ra- 
venna pflegte  Wilgard  die  Grammatik  mit  allzu  grossem  Eifer, 
wie  die  Italiener  immer  zu  tliuen  pflegen.  Wegen  seines  Wissens 
hatte  er  angefangen  sich  zu  brüsten,  als  in  einer  Nacht  die  Dä- 
monen, in  der  Gestalt  des  Dichters  Virgilius,  Horaz  und  Juvenal 
ihm  erschienen,  ihm  mit  lügnerischen  Worten  für  das  Studium 
dankten,  das  er  auf  sie  verwendete  und  ihm  versprachen,  ihn  an 
ihrem  Ruhme  dereinst  Theil  nehmen  zu  lassen.  Also  verführt 
durch  solche  Künste  der  Teufel,  fing  er  an,  Dinge  zu  lehren,  die 
dem  heiligen  Glauben  zuwider  waren,  und  zu  behaupten,  dass  man 
den   Worten   der   Dichter   in   allen  Stücken  glauben  müsse.     End- 


1)  Johannes,  Vita  S.  Odonis,  A.  SS.  saec.  V,  p.  154.  Vgl.  Brucker, 
Hist.  Philos.  III,  p.  651;  Du  Méril,  Mélanges  archéolog,  p.  462.  Eine  ähn- 
liche Erzählung  vom  h.  Hugo,  dem  Abte  von  Cluny  bei  Vincenz  von 
Beauvais  (Spec.  hist.  26,  4):  „Alio  tempore  cum  dormiret  idem  pater, 
vidit  per  aomnium  sub  capite  suo  cubare  serpentum  multitudinem  et 
ferarum,  subitoque  capitale  excutiens  et  exquirens  supposita,  invenit 
librum  Maronis  forte  ibi  collocatum;  mox,  abiecto  codice  singulari,  in 
pace  requievit,  cognovitque  modum  materiae  libri  visioni  congruere,  quem 
obscoenitatibus  et  gentilium  ritibus  plenum  indignum  erat  cubiculo  sancti 
substerni."  Vgl.  Liebrecht  in  FfeiflFer's  Germania  X,  413,  der  aber 
fälschlich  vermuthet,  dass  es  sich  hier  um  das  Buch  von  der  Negro- 
mantik  handele,  welches  das  Volk  dem  Dichter  zuschrieb.  Eine  ähnliche 
Legende  bei  Jacopo  da  Vitry;  vgl.  Lecoy  de  la  Marche,  La  chairc 
fran9.  au  moyen  age  p.  439  und  Passavanti,  Specchio  di  vera  penitenza, 
dist.  prima,  cap.  20. 

2)  Vita  S.  Popponis.  A.  SS.  Vili,  594. 
4)  VgL  Lupi  Ferrar.  Epist.  20. 

4)  V.  Ozanam,  la  civil,  ehr.  chez  les  Francs,  485,  501,  546. 


8S  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

lieh  ward  er  der  Ketzerei  angeklagt  und  vom  Erzbischof  Petrus 
verui-theilt".  „In  Italien",  fügt  der  Geschichtsschreiber  hinzu,  „fand 
sich's,  dass  gar  viele  Geister  von  denselben  Meinungen  angesteckt 
waren" ^).  Eine  andere  Legende  berichtet,  wie  einst  zwei  Schüler 
sich  aufmachten,  das  Grab  Ovids  zu  besuchen,  um  dort  Lehren 
zu  empfangen.  Der  eine  fi-agte,  welches  der  beste  Vers  des  Dich- 
ters sei,  und  eine  Stimme  aus  dem  Grabe  antwortete: 

„Virtus  est  licitis  abstinuisse  bonis". 
Der  andere  wollte  wissen,  welches  der   schlechteste  Vers  sei,  und 
da  rief  die  Stimme: 

„Omne  juvans  statuit  Jupiter  esse  bonum". 
Da    hielten    es    die    beiden    Schüler    für    gut,    für   die     verlorne 
Seele    zu    beten    und    sagten  Pater    Noster    und    Ave    Maria    her: 
aber    die    Stimme,    welche    von    der    Kraft    solcher    Gebete   nichts 
wissen  wollte,  schrie  ungeduldig: 

„Nolo  Pater  Noster:  carpe,  viator,  iter." 
Derartige  Scrupel  und  Bedenken  dauerten  lange.  Nicht  einmal 
Boccaccio  hielt  es  für  überflüssig,  sie  zu  bekämpfen^),  imd  jeder- 
mann weiss,  dass  sie  sich  sogar  heut  zu  Tage  wieder  geräusch- 
voll geltend  gemacht  haben.  Aber  heute  wie  im  Mittelalter  behauptet 
die  antike  Tradition  das  Feld"').  Im  12.  Jahrhundert  fand  eine 
Partei  unter  Anführung  eines  Individuums,  das  auch  unabhängig 
von  der  Religion  Historiker  und  Dichter  für  verderblich  erklärte 
und  die  Lehrer  der  Rhetorik,  Gi-ammatik  und  Dialektik  verachtete, 
ihren  heftigsten  Widersacher  in  dem  gelehrten  und  aufgeklärten 
Johann  von  Salisbury  ").  Jacob  von  Vitry  und  Arnold  von  Humblières 
berührten  gleichfalls  die  Streitfrage  und  trugen  kein  Bedenken, 
das  Studium  der  Alten  für  nützlich  zu  erklären,  wenngleich  sie 
dabei  zur  Vorsicht  rietheu  ^).     Den  besten  Beweis  für  den  schliess- 

1)  Glaber,  Histor.  bei  Bouquet,  Reo.  des  bist.  X,  23;  vgl.  Oza- 
nam,  docum.  inéd.  10.  Giesebrecht,  de  litterarum  studila  ap.  Italos 
primis  medii  aevi  saeculis  p.  12  f. 

2)  Bei  Wright,  A  selection  of  latin  stories  from  MSS.  of  the  XIII 
and  XIV  centuries,  p.  43  f. 

3)  Comm.  zu  Dante,  Inf.  I,  72. 

4)  Heute  hat  dieselbe  sogar  unter  den  Jesuiten  Vertheidiger  gefunden 
auf  einem  Gebiete  das  mehr  als  die  Poesie  dem  Christenthum  nahe  steht. 
Vgl.  das  Werk  des  Pater  Kleutgen  „die  Philosophie  der  Vorzeit  ver- 
theidigt."  Münster.  1860—63. 

.5)  Metalogicus  I,  3  ff.  Vgl.  Bist.  lit.  de  la  France  XIV,  13.  S chaar- 
schmidt,  Johannes  Saresberiensis  p.  212  ft. 

6)  Vgl.  Lecoy  de  la  Marche  „La  chaire  fran9aise  au  moyen  age" 
(Paris  1868)  p.  438  f. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  89 

liehen  Sieg  des  Classicismns  in  den  Zeiten  des  Wiedererwachens 
der  Studien  liefert  aber  der  nur  aus  antiken  Profanschriftstellern 
bestehende  Katalog  der  Privatbibliothek  des  Papstes  Nicolaus  V.  ^). 
Die  Declamationen  einiger  intoleranter  Leute  waren  also  von  wenig 
Gewicht  gegenüber  der  praktischen  Nothwendigkeit ,  welche  auch 
für  die  kirchlichen  Studien  die  Vorbereitung  durch  Profanstudien 
verlangte.  Die  Mönche  fuhren  fort,  Manuscripte  zu  copiren,  und 
die  grammatischen  Schulen  blieben  bestehen ,  wenn  auch  ihre  Zahl 
wegen  Lehrermangels  oder  anderer  Gründe  abnahm.  In  den  Kata- 
logen einiger  Klosterbibliotheken  figuiiren  Kirchenschriftsteller 
und  Profanautoren  nebeneinander^),  letztere  oft  imter  dem 
Titel:  „libri  scholares".  Vii'gil,  der  ältere  und  jüngere  Donat, 
Priscian  und  eine  Menge  anderer  grammatischer  Werke  spielen 
unter  denselben  die  Hauptrolle^).  Die  grosse  Anzahl  von  Virgil- 
handschriften,  besonders  die  in  aller  Eile  hingeworfenen,  die  für 
die  Textkritik  so  gut  wie  nichts  bieten,  beweist,  wie  sehr  man 
den  Dichter  in  den  Schulen  gebrauchte.  Einige  Virgilcodices 
tragen  noch  heute  die  Widmung  an  irgend  einen  Heiligen,  z.  B. 
den  h.  Martinus  oder  h.  Stephanus,  meistens  den  Schutzpatron  der 
Kirche  oder  des  Klosters,  welchem  das  Manuscript  geschenkt  war*). 


1)  Herausgegeben  von  Amati,  im  Archivio  storico  III  ser.  T.  III,  1 
(1866)  p.  207  f. 

2)  Am  Ende  eines  Handschriftencataloges  des  Klosters  Pomposa  (im 
11.  Jahrb.  verfasst)  bemerkt  der  Verfasser,  in  Voraussicht  dass  der  eine 
oder  andere  am  Vorhandensein  heidnischer  Manuscripte  in  jener  Biblio- 
thek Anstoss  nehmen  könnte,  „  .  . . .  Sed  ....  non  ignoramus  futurum  fore 
quosdam  supertitiosos  et  malevolos ,  qui  ingerant  procaci  cura  indagare 
cur  idem  venerabilis  abbas  Hieronymus  voluit  gentilium  Codices  fabulas- 
que  erroris,  exactosque  tyrannos,  divinae  inserere  ventati,  paginaeque 
librorum  sanctorum.  Quibus  respondemus  etc."  Vgl.  Blume,  Iter  Itali- 
cum  11,  p.  117. 

3)  Vgl.  die  Beispiele  bei  Zappert  a.  a.  0.  Note  42,  denen  sich  noch 
viele  hinzufügen  Hessen. 

4)  In  einer  Vaticanhds.  des  Virgil  (No.  1570)  aus  dem  10.  oder  11. 
Jahrh.  finden  sich  nach  der  Erklärung  des  Mönches,  dass  er  den  Codex 
abgeschrieben  hat,  „um  sich  zu  beschäftigen  und  etwas  nützliches  zu 
leisten",  die  Worte:  ,,Quem  (codicem  Vergili)  ego  devoveo  Domino  et 
Sancto  Petro  perpetualiter  permansurum  per  multa  curricula  temporum, 
propter  exercitium  degentium  puerorum  laudemque  Domini  et  Aposto- 
lorum  principis  Petri."  Ueber  einen  andern ,  dem  h.  Stephanus  gewid- 
meten Codex  s.  Pez,  Thesaur.  I,  Dissert.  isag.  XXV.  In  einem  Codex 
der  Berner  Bibliothek  heisst  es:  „Hunc  Vergili  codicem  obtuUt  Berno, 
gregis  B.  Martini  levita,  devota  mente  Domino  ut  eidem  Beato  Martino 
perpetuiter  habendum;   ea  quidem  ratione   ut  perlegat  ipsum   Albertus 


90  Vü'gil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

Oft  waren  solche  Handschriften  auch  durch  ihren  Einband,  ihre 
Miniaturen  oder  als  kalligraphische  Kunstwerke  sehr  kostbar  und 
wurden  dann  mit  den  Bibeln,  Messbüchern,  Breviarien,  Leuchtern, 
Kelchen  und  Ostensorien  merkwürdiger  Weise  in  dem  Inventar  der 
Kostbarkeiten  von  Klöstern,  Abteien  und  Kirchen  aufgeführt. 

Siebentes  Kapitel. 

Der  Inhalt  des  vorangehenden  Kapitels  scheint  vielleicht  wegen 
seines  allgemeinen  Charakters  von  dem  besonderen  Zwecke  unserer 
Aufgabe  mehr  als  nöthig  abgelenkt  zu  haben.  Und  doch  steht 
mit  jenem  Inhalte  der  Name  Virgils  im  engsten  Zusammenhange. 
Aus  der  Art,  wie  man  ihn  zum  Ausdruck  des  Hasses  und  der 
Verachtung  der  Liebe  und  Achtung  für  die  alten  heidnischen 
Schriftsteller  gebrauchte,  spi-iugt  in  die  Augen,  dass  man  ihn  als  Haupt- 
repräsentanten der  antiken  Tradition  ansah;  und  wir  begi'eifen,  unter 
welchen  Bedingungen  sich  sein  Ruhm  jene  lange  Epoche  des 
Mittelalters  hindurch  erhalten  konnte.  Eben  dies  aber  müssen 
wir  jetzt  im  einzelneu  und  mehr  aus  der  Nähe  betrachten. 

Wenn  die  Ersten  der  Kirche  und  des  Staates  etwas  für  das 
Studium  der  sieben  Künste  thuen  wollten,  so  geschah  dies,  abge- 
sehen von  dem  Beispiel,  welches  die  grossen  Kirchenväter  gegeben 
hatten,  zunächst  zum  Zwecke  der  heiligen  Studien.  So  handelten 
Cassiodor,  Beda,  Alcuin  imd  andere.  Nicht  zu  vergessen  ist  auch 
in  erster  Linie  das  von  Karl  dem  Grossen  i.  J.  787  an  die  Aebte 
und  Bischöfe  gerichtete  Circular.  Der  Monarch  sagt  darin,  dass 
er  in  den  ihm  aus  mehreren  Klöstern  zugesandten  officieUen  Schrift- 
stücken eine  grosse  Rohheit  des  Ausdrucks  wahrgenommen  habe, 
was  wol  sicher  daher  rühre,  dass  man  das  Studium  der  Literatur 
vernachlässige.  „Deshalb",  bemerkt  er  weiter,  „befüi-chten  wir, 
dass,  wenn  man  nicht  mehr  zu  schreiben  versteht,  man  auch  nicht 
mehr  verstehen  wird,  die  heiligen  Bücher  auszulegen.  Wie  schädlich 
schon  die  Wortfehler  sind,  so  wissen  wir  doch,  dass  die  Denkfehler 
noch  viel  schlimmer  sind.  Wir  ermahnen  Euch  daher,  das  Studium 
der  Literatur  nicht  nur  nicht  zu  vernachlässigen,  sondern  darin 
auch  eifiige  Fortschritte  zu  machen,  damit  Ihr  sicher  und  leicht 
in  die  Mysterien    der  heiligen  Schriften  eindringt.   Da  sich  in  den- 


consobrinus  ipsius  et  diebus  vitae  suae  sub  praetextu  B.  Martini  babeat, 
et  post  suum  obitum  iterum  reddat  S.  Martine."  De  Sinoer,  Catal.  cod. 
MSS.  bibl.  bern.  I,  627. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  91 

selben  auch  Figuren,  Tropen  und  anderer  Redeschmuck  finden, 
so  ist  es  klar,  dass  jeder  um  so  leichter  deren  geistige  Bedeutung 
erfasst,  je  mehr  er  dazu  durch  den  Sprachunterricht  vorbereitet 
ist."  ^)  Das  war  gewiss  das  sicherste  Bollwerk,  welches  die  klas- 
sische Literatur  vor  ihrem  gänzlichen  Verfall  bewahrte.  Indem 
Karl  der  Grosse  bestimmte,  dass  die  heiligen  Schriften  die  Grund- 
lage der  Erziehung  bilden  sollten,^)  sorgte  er  zugleich  überall  für 
Sprachlehrer  und  belebte  so,  wie  allbekannt,  auch  den  profanen  Theil 
des  Volksunterrichtes  ^).  Aber  die  Kirchenschriftsteller  betrachteten 
die  alten  Autoreu  nicht  blos  als  Meister  in  Tropen  und  Figuren; 
wenn  sie  in  ihren  Werken  eine  Stelle  fanden,  die  ihnen  zum  Be- 
weise ihrer  Glaubenssätze  dienen  konnte,  so  bedienten  sie  sich  der- 
selben gern,  manchmal  sogar,  indem  sie  dazu  erst  den  Sinn  ver- 
drehten oder  verfälschten.  Da  nun  Virgil  als  ein  Mann  von  un- 
gemeiner Weisheit,  als  erster  unter  den  alten  Dichtern  galt  und 
den  Begriffen  von  Zucht  und  Sitte  am  wenigsten  entgegenstand, 
so  übte  er  auch  auf  viele  christliche  Theologen  einen  grossen  Ein- 
fluss  aus.  Man  verkehrte  lieber  mit  ihm,  als  mit  den  andern 
heidnischen  Dichtern  und  verschmähte  es  nicht,  ihn  zu  citiren,  ent- 
weder zum  Beweise  gewisser  Glaubenssätze  des  Christenthums, 
oder  wenigstens  um  zu  zeigen,  dass  er  unter  allen  Heiden  sich 
am  wenigsten  vom  Christenthum  entfernte.  Die  zahlreichen  Virgil- 
centonen  christlichen  Inhaltes  zeigen  nicht  nur,  wie  der  Dichter 
bei  den  literarisch  gebildeten  Christen  noch  gerade  so  beliebt  war, 
als  bei  den  Heiden,  sondern  geben  auch  den  lebhaften  Wunsch 
zu  erkennen,  einen  Stoff,  mit  dem  sich  der  Geist  so  sehr  be- 
schäftigte, aiich  den  Empfindungen  des  Herzens  zu  assimiliren.  Die 
bewunderten  Klänge  des  Dichters  wollte  man  den  Ideen  des  neuen 
Glaubens  anpassen,  sie  dadurch  moralisch  verbessern  und  reinigen 
von  dem  einzigen  Fehler,  den  der  Christ  in  ihnen  wahrnahm,  dem 


1)  Encycl.  de  literis  colendis  bei  Sirmond.  Cono.  Gali.  II, 
p.  127. 

2)  Balut,  I,  327.  (Capitular.  v.  J.  789). 

3)  Vgl.  J.  Launoii,  De  scholis  celebrioribus  seu  a  Carolo  Magno 
seu  post  eundem  Carolum  per  occideutem  instauratis  über,  in  dem 
Iter-Germanicum  von  Mabillon,  Hamburg  1717;  und  Baehr,  De 
literarum  studiis  a  Carolo  Magno  revocatis  ac  schola  Palatina  instaurata, 
Heidelb.  1856.  Bekannt  ist,  dass  Virgil  in  dieser  schola  Palatina  einen 
Ehrenplatz  behauptete,  und  sich  manche  Akademiker  nach  ihm  und 
seineu  Werken  nannten;  so  gab  es  einen  Virgil,  einen  Dametas,  einen 
Menalias  u.  s.  w. 


92  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

Geiste  des  Heidenthums  ^).  Uuter  den  übrigen  heidnischen  Autoreu 
galt  Virgil  für  den,  auf  welchen  man  die  Worte  des  Evangeliums 
anwenden  konnte:  ,,sie  hörten,  dass  Jesus  vorüberging"  (Math. 
20j  30).  Es  erregte  Mitleid,  wenn  man  bedachte,  dass  zur  Zeit 
der  falschen  und  lügenhaften  Götter  dieser  grosse  Mann  geboren 
ward,  den  seine  Werke  und  das  über  sein  Leben  überlieferte,  als 
eine  so  schöne  und  lautere  Seele  darstellten,  die  vor  allen  fähig 
war,  Christi  Wort  anzunehmen.  Er  ist  daher  der  erste  unter  denen,  die 
Dante,  in  welchem  doch  das  religiöse  Gefühl  des  Mittelalters  am 
treuesten  und  tiefsten  zum  Ausdruck  kam,  nicht  wagte,  unter  die 
Verdammten  zu  setzen,  sondern  an  den  Ort  brachte,  der  für  die 
ohne  Schuld  dem  Christenthume  fernstehenden  bestimmt  war.  Das 
Gefühl  des  Mitleidens  sprechen  am  besten  jene  zu  Mantua  noch 
im  15.  Jahrhixndert  in  der  St.  Paulsmesse  gesungenen  Verse  aus, 
in  denen  ex'zählt  wird,  wie  der  Apostel  Paulus  nach  Neapel  ge- 
gangen sei  um  Virgil's  Grab  zu  besuchen  und  dort  heisse  Thränen 
vergossen  habe,  indem  er  aiisrief:  „Was  wäre  aus  dir  geworden, 
grösster  Dichter,  wenn  ich  dich  noch  am  Leben  gefunden  hätte  !"^) 
Andererseits  war  es  von  den  ersten  Apologeten  an  üblich  gewesen, 
einen  auch  im  Heidenthum  vorhandenen  sich  dem  Christenthume 
nähernden  Geist  nachzuweisen.  So  scheint  man  z.  B.  zur  Zeit 
des  Arnobius  von  heidnischer  Seite  an  den  Senat  eine  Eingabe  ge- 
macht zu  haben,  mit  der  Bitte,  gewisse  Bücher  zu  vernichten,  die, 
wie  Cicero's  de  natura  deorum,  nicht  gerade  die  stärkste  Seite  des 
Heidenthums  zeigten  und  den  Christen  Gelgenheit  zu  Angriffen 
gaben  ^).  Aus  solchem  Ideengang  entwickelten  sich  Legenden, 
wie  die  von  der  Bekehrung  des  Seneca,  Plinius  u.  a.,  welche  auch 
von  aufgeklärten  Männern  und  lange  Zeit  hindurch  geglaubt 
wurden.     Ich  selbst  habe  noch  in  einer  Schule  in  Rom  die  Worte 


1)  „Vergilium  cecinisse  loquar  pia  munera  Christi."  Proba,  Praef. 
ad  Cent.;  „dignare  Maronem,  Mutatum  in  melius  divino  agnoscere 
vcrsu"  sagt  ein  Grammatiker  bei  seiner  Widmung  eines  Virgilcentons 
von  christlichem  Inhalt  an  den  Kaiser  Honorius.  Vgl.  Riese,  Anth. 
lat.  735. 

2)  „Ad  Maronis  mausoleum,  Ductus  fudit  super  eum,  Piae  rorem  la- 
crymae;  Quem  te,  inquit,  reddidissem.  Si  te  vivum  invenissem,  Poetarum 
maxime!"  Bettinelli,  Risorg.  d'Ital.  II,  18.  Daniel,  Thes.  Hymnolog. 
V,  266.  Mit  Unrecht  hat  man  behauptet,  dass  jene  Worte  noch  heute 
in  Mantua  während  der  St.  Paulsmesse  gesungen  würden. 

3)  Arnob.  Adv.  gentes  111,  7.  Vgl.  Bernhardy,  Grundr.  d.  röm. 
Litt.  p.  92. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  93 

wiederholen    hören,    die    Cicero    sterbend    ausgerufen    haben    soll: 
„causa  causarum  misererò  mei!" 

Augustin,  Hierouymus,  Lactanz,  Miuucius  Felix  und  andere 
Kirchenväter  und  Schriftsteller  citiren  oft  Vii-gilverse,  in  denen  sie 
philosophische  und  theologische  Grundsätze  erkennen,  die  mit 
christlichen  eine  gewisse  Aehnlichkeit  haben,  wie  die  von  der  Einheit, 
Spiritualität  und  Allmacht  Gottes  ^  ).  Doch  brauchen  wir  uns  hier- 
bei nicht  aufzuhalten,  da  dasselbe  auch  bei  anderen  antiken 
Schriftstellern  wiederkehrt  und  also  für  Virgil  nicht  besonders 
characteristisch  ist^).  Bemerkenswerther  ist,  dass  der  Dichter  sich 
durch  seine  4.  Ecloge  unter  den  Christen  den  Rang  eines  Pro- 
pheten erwarb,  der  Christi  Erscheinen  voraussagte^).  Die  Vor- 
ahnung einer  bevorstehenden  Erneuerung  der  Welt  in  einem  Zeit- 
alter des  Glückes,  der  Gerechtigkeit,  der  Liebe  und  des  Friedens, 
die  mit  dieser  Erwartung  zusammenhängende  Geburt  eines  Kindes, 
das  alte  Ansehen  .  der  Sibylle ,  auf  welche  die  ganze  Weissagung 
zurückgeht,  das  alles  war  in  der  That  gar  zu  verlockend  für  die 
Christen,  als  dass  sie  dabei  nicht  hätten  an  die  Geburt  Christi 
denken  sollen,  sowie  an  die  Erneuerung  der  Welt,  die  er  in  seiner 
reinen  imd  milden  Lehre  der  Menschheit  verheissen  hatte.  Es 
würde  zu  weit  führen,  hier  die  Ursachen  und  Schicksale  der  Mes- 
sianischen  Weissagung  bei  den  Juden  und  in  der  griechisch-römi- 
schen Welt  zu  verfolgen  und  an  die  sonderbaren  und  langen 
Arbeiten  der  Sibyllisten  sowol  in  jüdischem  wie  christlichem 
Sinne  zu  erinnern.  Genug,  dass  zu  dieser  complicirten  und  nur 
schwer  ohne  Yorurtheile  und  störende  Eindrücke  zu  behandelnden 
Geschichte  auch  die  schon  bei  Schriftstellern  des  4.  Jahrhimderts 
häufige  christKche  Erklärung  der  vierten  Ecloge  gehört.  Die 
ausführlichste     Auslegung    der     Art   findet     sich      in     einer     vor 


1)  Vgl.  Piper,  Vergilius  als  Theolog  und  Prophet  des  Heidenthums 
in  der  Kirche,  im  Evangelischen  Kalender  v.  J.  1862  p.  17 — 55. 

2)  Es  fehlt  nicht  an  Sammlungen  derartiger  auf  das  Christenthum 
bezogenen  Stellen  z.  B.  in  einem  Ms.  der  Wiener  Bibliothek:  „Veterum 
quorundam  scriptorum  graecorum  ethnicorum  praedictiones  et  testimonia 
de  Christo  et  Christiana  religione,  nempe  Aristotelis,  Sibyllae,  Piatonis, 
Thucydidis  et  Sophoclis."  Vgl.  Oehler,  im  Philologus  XIII,  752. 
XV,  328. 

3)  Vgl.  Verworst  Essai  sur  la  4.  Eclogue  de  Virgile.  Paris  1844. 
Freymüller,  Die  Messianische  Weissagung  in  Virgils  4.  Ecloge.  Metten 
1852.  Beide  Schriften  sind  mir  nicht  zu  Gesicht  gekommen.  Piper 
a.  a.  0.  p.  55  —  80.  Creuzenach,  Die  Aeneis,  die  vierte  Ecloge  und  die 
Pharsalia  im  Mittelalter.  Frkf.  a.  M.  1864.  p.  10—14. 


94  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

Ecclesiastikern  gehaltenen  Rede  des  Kaisers  Consantin^).  Hält 
mau  sich  an  Eusebius,  der  uns  dieselbe  niittheilt,  so  wäre  sie 
erst  vom  Kaiser  lateinisch  gehalten  und  dann  von  den  Auslegern 
in's  Griechische  übersetzt  worden^).  Jedenfalls  lässt  die  Ueber- 
setzung  der  Ecloge  in  griechische  Verse  ^),  die  sich  in  jener  Rede 
findet,  leider  die  Thätigkeit  der  alten  Sibyllisten  erkennen.  Sie 
entfernt  sich  mehrmals  willkürlich  vom  Originale  und  verkehrt 
den  Sinn  in  der  Absicht,  ihn  der  in  der  Rede  behandelten  christ- 
lichen Erklärung  anzupassen"*).  Der  Kaiser  findet  also  bei  seiner 
speciellen  Untersuchung  des  Gedichtes  darin  die  Weissagung  auf 
das  Erscheinen  Christi  aus  mehrfachen  Gründen  ausgedrückt:  Die 
zurükkehrende  Jungfrau  ist  Maria;  die  neue  vom  Himmel  gesandte 
Nachkommenschaft  Jesus;  die  Schlange,  die  nicht  mehr  sein  wird, 
der  Versucher;  das  Amomum,  welches  überall  wächst,  ist  die  zahl- 
reiche christliche  Gemeinde,  gereinigt  von  der  Sünde  {ä^cofiog  = 
untadelhaft)  u.  s.  w.  Er  behauptet,  dass  Virgil  mit  klarem  Be- 
wusstsein  von  Christus  geweissagt,  aber  dunkel  gesprochen  und 
auch  heidnische  Götter  in  seinen  Gedankenkreis  mit  hineingezogen 
habe,  um  nicht  dem  Heidenthum  zu  sehr  vor  den  Kojjf  zu  stossen  und 
sich  den  Zorn  des  Fürsten  zuzuziehen.  Die  Kirchenschriftsteller 
dagegen,  welche  die  Ecloge  ihi  Interesse  ihres  Glaubens  auslegten, 
glaubten  nicht,  dass  Virgil  den  Sinn  der  Sibyllinischen  Weissagung 
verstanden  habe:  der  Dichter  habe  dieselbe  nur  auf  die  Geburt 
eines  Sohnes  des  Polio  oder  aus  einem  anderen  vornehmen  Hause 
anwenden  wollen.  Zur  selben  Zeit  fasste  auch  Lactanz  die 
Ecloge  im  christlichen  Sinne  auf,  bezog  sie  aber  als  Anhänger 
der  Lehre  vom  tausendjährigen  Reiche  nicht  auf  die  Geburt 
Christi,  sondern  auf  seine  verheisseue  Wiederkehr,  als  triumphiren- 
der  Herrscher  der  Gerechten''').  .  Augustin,  der  die  Existenz  von 
heidnischen,  das  Erscheinen  Christi  verkündigenden  Propheten  zu- 
gibt, citirt  ebenfalls  die  Ecloge,  wendet  aber  besonders  die  Verse 


1)  Coustautini  M.  Oratio  ad  sauet,  coet.  c.  19—21.  Diese  Rede 
bildet  den  Gegenstand  einer  noch  immer  nicht  vollendeten  Arbeit  von 
liossiguol,  Virgile  et  Constantin  le  grand,  Paris  1845.  Der  Autor  ver- 
spricht darin  den  Beweis,  dass  die  Rede  ein  Werk  nicht  des  Constantin 
sondern  des  Eusebius  ist. 

2)  Euseb.  Vit.  Const.  IV.  32. 

3)  Zuletzt  herausgegeben  von  Heyne,  Excurs.  I  ad  Bue.  und  Ros- 
signol  a.  a.  0.  p.  96  ff. 

4)  Rossignol,  a.  a.  0.  p.  181  ff. 

5)  Lactant.  Div.  instit.  1.  VII,  c.  24. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  95 

13 — 14  auf  den  Erlass  der  Sünden  durch  die  Verdienste  deb  Heilan- 
des an^). 

Gegen  die  Meinung  derer,  die  Virgil  für  einen  Christen  ohne 
Christus  halten,  erhebt  sich  Hieronymus.  Er  verspottet  das  als 
leeres  Gerede  und  Possen  und  stellt  es  auf  eine  Reihe  mit  den 
Virgilcentonen  und  ähnlichen  Albernheiten^). 

Trotzdem  muss  man  bemerken,  dass  eine  bestimmte  theolo- 
gische Lehre  und  manche  Stelle  im  Evangelium  dazu  hindrängte, 
auch  imter  den  Heiden  Propheten  von  Christi  aufzusuchen.  Es 
existirten  ferner  sibyllinische  Orakel,  welche  wie  das  berühmte 
Akrostichon  von  Christus  sprachen,  aber  die  Ungläubigen  sagten, 
dass  sie  ein  apokryphes  Machwerk  der  Christen  seien;  das  war 
in  der  That  richtig  und  das  Gegentheil  schwer  zu  beweisen.  Daher 
genoss  denn  aber  gerade  die  auf  das  sibyllinische  Orakel  gebaute 
Ecloge  Virgils,  welche  doch  auf  keinen  Fall  für  apokryph  gelten 
konnte,  das  höchste  Ansehen  und  von  diesem  Gesichtspunkte  aus 
betrachten  sie  sowol  Constantin  in  seiner  Rede,  wie  Augustin. 
So  erschien  Virgil  selbst  denen,  welche  nicht  glaubten,  dass  er  die 
Bedeutimg  jener  Ecloge  erkannt  habe,  auch  in  seiner  Unwissenheit 
als  ein  Glaubenszeuge.  Indem  aber  diese  Anschauung^)  albnälig 
populär  wurde,  ward  Virgil  der  Begleiter  der  Sibylle  und  trat  zu- 


1)  „Nam  omuino  non  est  cui  alteri  praeter  dominum  Christum  dicat 
genus  humanum: 

Te  duce,  si  qua  manent  sceleris  vestigia  nostri, 

Irrita  perpetua  solvent  formidine  terras. 
Quod  ex  Cumaeo,  id  est  ex  Sibyllino  Carmine  se  fassus  est  transtulisse 
Vergilius;  quoniam  fortassis  etiam  iUa  vates  aliquid  de  unico  Salvatore 
in  spiritu  audierat  quod  necesse  habuit  confiteri."  Augustin.,  Epist.  137; 
adVolusian.  e.  12.  Opp.  ed.  Bened.  T.  II,  p.  309  f.  vgl.  Epist.  258  e.  5. 
Upp.  II,  670;  de  civit.  X,  27. 

2)  Quasi  non  legerimus  Homerocentones  et  Vergiliocentones  ;  ac 
non  sic  etiam  Maronem  sine  Christo  possimus  dicere  Christianum  qui 
scripserit:  lam  redit  et  virgo  etc.  PuerUia  sunt  haec  et  circulatonun  ludo 
similia,  docere  quod  ignores."  Hierou.  Epist.  54.  ad  Paulin.  e.  7.  Opp. 
I.  273. 

3)  Vgl.  Fulgentius  ,De  contin.  Vergü.'  p.  761;  Scholl.  Bern.  (ed. 
Hagen)  p.  775  fiF.  Christianus  Druthmar  (9.  Jahrh.)  bemerkt  zu 
Matthäus  20,  30:  ,,audierunt  quia  Jesus  transiret"  —  „Judaei  audierunt 
per  prophetas,  gentes  quoque  non  per  omnia  ignoraverunt,  sed  sophistae 
eorum  similiter  denuntiaverunt;  unde  illud  Maronis:  lam  nova  progenies 
etc."  Bibl.  Patr.  max.  (Lugd.)  XV  147.  S.  auchAgnellus,  Lib.  Pon- 
tific;  Vit.  Gratios.  c.  2  bei  Muratori,  Script,  rer.  It.  II,  p.  1  u.  180; 
Cosm.  Prag.,  Chronicon  bei  Pertz,  Mon.  Germ.  IX,  p.  30. 


96  Virgil  iu  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

gleich  mit  David,  Jesaias  uud  den  andern  Propheten  in  den  Hei- 
ligendarstellungen oder  Mysterien  auf.  Diese  zur  Legende  ge- 
wordene Idee  berührte  sich  dann  wiederum  auf  die  verschie- 
denste Weise  mit  der  volksthümlichen  Vorstellung  vom  Zauberer 
Virgil,  worüber  im  zweiten  Theile  gehandelt  werden  soll.  Aus 
derselben  Anschauimg  entstanden  ferner  Legenden,  welche  die  Be- 
kehrung von  Heiden  infolge  jener  vierten  Ecloge  erzählten,  z.  ß. 
die  durch  Dante  berühmt  gewordene  Bekehi-ung  des  Statins^)  und 
die  der  drei  Heiden  Seeundianus,  Marcellianus  und  Verianus,  welche 
plötzlich  erleuchtet  durch  die  Verse  „Ultima  Cumaei"  aus 
Christenvei-folgern  Märtyrer  wurden^).  Eine  andere  Legende  be- 
richtet, wie  der  Bischof  von  Fiesole,  Donatus  (9.  Jahrb.),  kurz 
vor  seinem  Tode  in  der  Versammlung  der  Confratres  erschien  und 
bei  der  Ablegung  seines  Glaubensbekenntnisses  vor  ihnen  die 
Worte  des  Dichters:  „Jam  nova  progenies  etc."  vorbrachte,  worauf 
er  seinen  Geist  aufgab^). 

Pabst  Innocenz  HL  citirte  jene  Verse  zur  Bekräftigung  des 
Glaubens  in  einer  Weihnachtspredigt '^),  und  im  christlichen  Sinne 
wui-den  sie  auch  von  grossen  Geistern  des  Mittelalters  wie  Dante  ^), 
Abälard^)  und  Marsiliiis  Ficinus^)  aufgefasst.  Auch  von  der  christ- 
lichen Kunst  finden  wir  Virgil  in  den  Kirchen  sehr  oft  unter  den 
Propheten  Christi  dargestellt.  Im  Chore  der  Kathedrale  von  Za- 
mora  (12.  Jakrh.)  in  Spanien  findet  sich  unter  den  zahlreichen 
Figuren  der  Propheten  des  alten  Testamentes  der  römische 
Dichter,  kenntlich  durch  das  beigeschriebene  „progenies*)".  In  der- 
selben Weise  figurirt  Virgil  in  den  Malereien  Vasari's  in  einer 
Kii-che  von  Rimini,  und  in  den  Fresken  Rafaels  in  S.  Maria  della 
Pace  in  Rom  ist  die  Cumäische  Sibylle  durch  die  Worte  „Jam 
nova  progenies"  gekennzeichnet.  Seit  dem  Wiedererwachen  der 
Wissenschaften  stritten  die  Gelehrten  für  und  wider  die  christ- 
liche Auslegung  "jener  Ecloge'')    und    noch  heute,    wo   das   Mittel- 


1)  Vgl.  Ruth  in  Heidelb.  Jahrb.  1849.  p.  905  S. 

2)  Vincent.    Bellovac.    Spec.    bist.   XI    c.    50;    Act.    SS.    Aug. 
II,  407. 

3)  Ozanam,  Documeus  inédits.  p.  55. 

4)  Serm.  II  in  fest.  Nativ.  Dom.  Opp.  p.  80. 

5)  Purgator.  XXII,  p.  67  ff. 

6)  Introd.  ad.  Theolog.  lib.  I,  c.  21;  Epist.  7  ad  Helois.  p.  118. 

7)  De  Christ,  relig.  c.  24. 

8)  S.  Street,  Seme  acouut  of  gothic   architecture  in  Spain.    (Loud. 
1869)  p.  95. 

y)  Vgl.  Piper  a.  a.  0.  p.  75  ff. 


Virgil  in  der  liiteratur  bis  auf  Dante.  97 

alier  zwai-  s(;lion  lange  zu  sein  aufgehört  hat,  aber  es  doch  noch 
viele  gibt,  welche  gern  einige  Hinterlassenschaften  desselben  auf- 
bewahren möchten,  fehlt  es  nicht  an  solchen,  welche  die  alte  Fa- 
belei  für  ernst  nehmen^). 

Achtes  Capitel. 
Wenn  sich  auf  der  einen  Seite  die  Classiker  und  besonders 
Virgil  den  Christen  durch  ein  Verdienst  empfahlen,  so  gab  es 
andererseits  auch  ein  Mittel,  den  Widerwillen  der  Christen  gegen 
die  Immoi'alität  und  den  Widersinn  der  antiken  Mythen  zu  mil- 
dern. Lange  vor  dem  Christenthum  hatten  ja  schon  Philosophen, 
wie  Xenophanes,  Heraklit  a.  a.  ihr  Verdammungsurtheil  gegen 
die  Dichter,  welche  die  Mythen  fortpflanzten,  ausgesprochen.  Doch 
bestand  zwischen  ihnen  und  dem  Geiste  der  Nation  ein  zu  enges 
Band,  als  dass  jene  excentrischen  Meinungen  irgend  welche  Wir- 
kung hätten  haben  können.  Andere,  welche  toleranter  waren  und 
die  so  wunderbaren  Erzeugnisse  des  nationalen  Geistes  besser  zu 
würdigen  verstanden,  suchten  die  Sagen  und  die  Autorität  der 
grossen  Dichter  mit  den  Resultaten  der  Philosophie  in  Einklang 
zu  setzen  und  kamen  so  auf  die  sich  in  solchen  Fällen  von  selbst 
darbietende  Allegorie^),  welcher  vor  allen  die  Stoiker  eine  wissen- 
schaftliche Weihe  gaben.  Waren  sie  wdoch  in  Folge  der  grossen 
Bedeutung,  welche  in  ihrem  System  die  religiöse  Idee  einnahm, 
so  wie  infolge  des  Zusammenhanges  zwischen  dieser  Idee  und  der 
practis.chen  Moral  ganz  besonders  darauf  angewiesen.  Eben  darum 
konnten  sie  auch  den  bestehenden  Volksglauben  nicht  vernichten, 
sondern  mussten  ihn  als  ein  wichtiges  Element  berücksichtigen, 
und  seine  eigentliche  Bedeutung  feststellen^).  Das  Mittel  der 
Allegorie  musste  aber  noch  viel  mehr  in  Aufnahme  kommen,  als 
die  antike  Religion  nicht  mehr  einer  Klasse  von  kalten  Denkern 
gegenüber  stand,  sondern  auf  Tod  und  Leben  mit  der  einer  soweit 
fortgeschrittenen  Entwicklung  des  Geistes  viel  mehr  homogenen 
Religion,  sowie  dem  Fanatismus  von  Leuten,  welche  zur  Erlangung 
des  Sieges    alle    Mittel    in  Bewegung    setzten,    zu    streiten    hatte. 


1)  Z.  B.  Ver  wer  st  iu  der  erwähnten  Dissertation.  Vgl.  Schmitt, 
Redemption  du  genre  humain  aunoncée  par  les  traditions  de  tous  les 
peuples.  (trad.  de  Tallem.  par  Henrion)  Paris  1827,  p.  122  ff. 

2)  Vgl.  Gräfenhan,  Gesch.  der  klass.  Philologie  im  Alterth.  I, 
p.  211  ff. 

3)  Vgl.  Zell  er,  Die  Philosophie  der  Griechen,  III,  1,  p.  290  f. 
300  ff. 

Comparetti,    Virgil  im  Mittelalter.  7 


98  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

In  jenen  langen  und  erbitterten  Kämpfen  diente  die  Allegorie,  mit 
der  ja  Jedermann  vertraut  war,  auf  beiden  Seiten  als  vorzüglichste 
Vertheidigungswaffe.  Die  Heiden  griffen  zur  Allegorie,  weil  ihre 
Eeligion,  überwältigt  durch  die  nunmehr  reife  Kraft  des  Ver- 
standes, den  natürlichen  Drang  in  sich  fühlte,  sich  mit  diesem  zu 
vereinen.  Als  dann  in  der  letzten  Phase  der  antiken  Religion 
sich  auch  der  Zugang  zu  den  positiven,  dogmatischen  und  mehr 
theologischen  Religionen  des  Orients,  welche  mehr  als  der  alte  natura- 
listische Mythos  mit  Abstractionen  angefüllt  waren,  eröfifnete,  so 
diente  auch  dieser  Umstand  dazu,  den  Sieg  des  Christenthumes  vor- 
zubereiten. Eine  zwar  gutgemeinte  aber  nicht  sehr  kritische  Philo- 
sophie breitete  ihren  Mantel  über  die  gar  zu  argen  Blossen  der 
antiken  Götter  und  Heroen  aus,  welche  doch  immer  wieder  aus 
den  lebendigen  Quellen  der  allgemeinen  Cultur  vor  Jedermanns 
Augen  auftauchten.  Dies  vermochte  nun  zwar  nicht  die  antike 
Religion  vor  der  Niederlage  zu  bewahren,  aber  beschützte  doch 
die  antike  Literatur  vor  der  Christenheit,  die  entweder  noch  im 
Kampfe  begriffen  war  oder  ruhig  die  Früchte  ihres  Triumphes 
genoss.  Allegorie,  Anagoge  und  Symbol  galten  im  Christenthum 
selbst  für  etwas  ganz  gewöhnliches.  Die  Aussprüche  der  Propheten 
und  die  Gleichnisse  Jesu  hatten  die  Christen  längst  daran 
gewöhnt,  unter  der  materiellen  Bedeutung  der  Worte  einen  tiefen 
und  verborgenen  Sinn  zu  suchen.  Selbst  die  Bibel,  die  gött- 
liche Basis  von  Judenthum  und  Christenthum,  welche  doch 
von  den  Werken  der  klassischen  Dichter  so  ganz  verschieden 
war,  musste  sich  später  vielfach  mit  den  Fortschritten 
der  Erfahrung  und  Reflexion  auseinander  setzen.  Schon  die 
alexandrinischen  Juden  machten  starken  Gebrauch  von  der  Alle- 
gorie, um  (so  sagten  sie,  denn  in  Wahrheit  thaten  sie  das  um- 
gekehrte) die  Philosophie  mit  der  Bibel  in  üebereinstimmung 
zu  bringen.  Bekannt  ist  ferner,  wie  sich  die  christliche  Exegese 
zu  jeder  Zeit  der  Allegorie  bedient  hat^).  Man  erklärt  dieselbe 
oft  ungerechter  Weise  für  das  Product  einer  kalten  Berechnung 
oder  einen  frommen  Betrug  zu  religiösen  Zwecken.  Die  Allegorie 
ist  ein  Mittel,  dessen  sich  gleichsam  instinctiv  und  auf  Treu  und 
Glauben  diejenigen  bedienen,  deren  Geist  zu  gleicher  Zeit  von  zwei 
sich  entgegengesetzten,  und  doch  nicht  zurückzuweisenden  Kräften 


1)  Schon  Celsus,  der  sich  der  Allegorie  für  die  heidnischen  Mythen 
bediente,  klagte  Christen  und  Juden  des  Missbrauchs  dieses  Mittels  für 
ihre  Mythen  an;  IV",  50,  51. 


Virgil  in  der  Litoiatur  bis  auf  Dante.  99 

beherrscht  wird.  Sie  ist  das  Resultat  einer  dialectischeii  Halluci- 
nation,  die  aus  warmer  Ueberzeugung  und  einer  lebhaften  und  kühnen 
Empfindung  entspringt. 

Die  Allegorie  ward  von  den  Alten  bei  der  Erklärung  ihrer 
Mythen  und  besonders  bei  der  Darstellung  derselben  durch  die 
Dichter  angewandt,  welche  ja  in  Ermangelung  eines  religiösen 
Codex  die  alleinige  Autorität  für  den  allgemeinen  Glauben  waren. 
Die  einzigen  alten  Poeten  jedoch,  welche  eine  vollständige  allego- 
rische Auslegung  erfuhren,  waren,  freilich  in  einer  ganz  beson- 
deren Weise,  Homer  und  Virgil.  Homer  war,  theils  wegen  seines 
vorhistorischen  Alters,  theils  wegen  der  wunderbaren  Kraft  seines 
Genius  von  jeher  die  oberste  Autorität  für  den  Volksglauben  ge- 
wesen. Hesiod  genoss  ein  solches  Ansehen  erst  in  zweiter  Linie,  und 
man  begreift,  wie  Herodot  dazu  kam,  Homer  den  Vater  der  grie- 
chischen Religion  imd  Moral  zu  nennen.  Die  zahlreichen  allego- 
rischen Erklärungen  Homers,  welche  von  den  Philosophen  ausgingen, 
verbreiteten  sich  daher  auch  über  die  Philosophenschulen  hinaus  ^). 
Virgil,  der  doch  Homer  gegenüber  ein  wesentlich  moderner  Dichter 
ist,  besass  lange  nicht  diese  Autorität,  und  so  lange  er  ein  moderner 
Dichter  war,  konnte  auch  sein  Gedicht,  so  viel  Maximen  man  auch 
aus  demselben  zog,  nicht  als  eine  allegorische  Composition  be- 
trachtet werden.  Seneca  sagt  uns,  was  Virgil  bei  dem  Grammatiker 
und  Philosophen")  galt.  Letzterer  suchte  in  dem  Dichter  noch 
keine  Allegorien  (Seneca  würde  als  Feind  der  Allegorien  sonst  da- 
von gesprochen  haben),  sondern  beschränkte  sich  darauf,  die  vor- 
handenen philosophischen  Gedanken  des  Dichters  zu  entwickeln. 
Als  jedoch  der  geistige  Gesichtskreis  ein  anderer  wurde,  und  der 
Dichter  eine  ganz  unvei'hältnissmässige  Bedeutung  gewann,  blieb 
auch  er  nicht  von  der  allegorischen  Auslegung  verschont.  Das 
geschah  indessen  nur,  weil  die  Allegorie  Mode  war,  und  die 
zu  einer  phantastischen  Speculation  sieh  hinneigenden  Menschen 
meinten,  dass  ein  so  weiser  Dichter  wie  Virgil  nothwendig  unter 
den  einfachen  Sagen  der  Aeneis  etwas  tieferes  und  bedeutenderes 
verborgen  habe.  Man  erklärte  also  den  Virgil  allegorisch,  nicht 
um  die  antike  Religion  vor  den  Angriffen  der  Christen  zu  verthei- 
digen,  sondern  einzig  und  allein  von  einem  philosophischen  Stand- 
punkte aus,   und   weil  sich   eben  von  der  Weisheit  Virgils   eine   so 


1)  Vgl.  Bernhardy,  Griech.  Litt.  II,  1,  p.  -201  f. 

2)  Epist.   108,  24—29. 

7^ 


100  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

sonderbar  übertriebene  Vorstellung  gebildet  hatte.  Deshalb  be- 
dienten sich  denn  auch  bei  seiner  Erklärung  Heiden  wie  Christen 
mit  gleicher  Ueberzeugung  und  ohne  Polemik,  der  Allegorie,  Der 
verborgene  Sinn,  den  sie  aufsuchten,  war  rein  ethischer  und 
philosophischer,  man  möchte  sagen  religiöser  Natur  und  bezieht 
sich  gewöhnlich  auf  die  Schicksale  des  menschlichen  Lebens  in 
seinem  Streben  nach  Vervollkommnung. 

Bei  dem  Verluste  so  vieler  Denkmäler  der  alten  Literatur 
sind  uns  heute  nur  spärliche  Reste  jener  Auslegung  geblieben,  wie 
wir  schon  bei  der  Erwähnung  des  Donat,  Servius  und  Macrobius 
bemerkten.  Der  beträchtlichste  Ueberrest  besteht  in  dem  Werke 
des  Fabius  Planciades  Fulgentius,  eines  christlichen  Schriftstellers, 
dessen  Lebenszeit  sich  noch  nicht  genau  hat  bestimmen  lassen^), 
der  aber  sicher  nicht  jünger  als  das  6.  Jahrhundert  ist.  Die 
Schrift  „De  Continentia  Vergiliana",  in  welcher  Fulgentius  nach- 
weist „was  Virgil  enthält"  oder  vielmehr  „was  in  ihm  verborgen 
ist"  muss  als  eins  der  merkwürdigsten  Bücher  des  lateinischen 
Mittelalters  und  das  am  meisten  charakteristische  Denkmal  für  den 
Ruhm  des  Dichters  inmitten  der  Barbarei  der  chi'istlichen  Zeit  gelten  "''). 
In  der  Von-ede  erklärt  der  Autor,  dass  er  sich  auf  die  Aeneis  be- 
schränken will,  weil  Bucolica  und  Georgica  von  so  tiefem  mystischem 
Inhalte  seien,  dass  es  unmöglich  wäre,  denselben  ganz  zu  erfassen. 


1)  Sicher  ist  nur,  dass  Fulgentius  jünger  als  der  von  ihm  citirte 
Marcianus  Capella  ist,  der  nach  den  Untersuchungen  seines  Herausgebers 
Eyssenhardt  (Leipz.  1866)  vervollständigt  von  L.  Müller  (Neue  Jahrb. 
f.  Phil.  u.  Päd.  1867  p.  791  f.)  etwa  um  4.31»  geschrieben  haben  muss.  Was 
aber  den  Endpunkt  seiner  Lebenszeit  anlangt,  so  hat  man  zu  keinem 
positiven  Resultate  gelangen  können.  Zink  (der  Mytholog  Fulgentius, 
Würzburg  1867)  setzt  die  Redaktion  des  Mythologicon  zwischen  480 
und  484  an.  Reifferscheid,  der  sich  dabei  der  von  ihm  ans  lacht  ge- 
zogenen, und  wahrscheinlich  demselben  Fulgentius  angehörenden  Schrift: 
„de  aetatibus  mundi  et  hominibus"  bedient,  setzt  die  Abfassung  des 
Mythologicon  in  die  Zeit  des  Königs  Hunnerich  (.523)  fest.  L.  Müller 
(N.  .Tahrb.  1867,  p.  796)  nahm  das  Jahr  456  an.  Jungmann  (Quaestiones 
Fulgentianae  in  den  Acta  societatis  philologae  Lipsiensis,  ed.  Fr. 
Ritschelius  Lipsiae  1871.  1,  p.  49  ff.)  meint,  dass  F.  um  480  geboren 
und  das  Buch  Mythologicon  523  oder  524  verfasst  sei.  lieber  die 
älteren  Ansichten  vgl.  L  er  seh  „De  abstrusis  sermonibus."  Rom  1844, 
p.  1  f. 

2)  „De  Continentia"  ist  publicirt  in  den  Mythographi  latini  von 
van  Staveren  (Lugd.  Bat.  1742).  Eine  moderne  ki-itische  und  bessere  Aus- 
gabe existirt  nicht. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  101 

Er  verzichtet  also  darauf^)  weil,  wie  er  meint,  ihm  das  nöthige 
Wissen  dazu  fehle,  da  ja  das  erste  Buch  der  Georgica 
sich  ganz  auf  die  Astrologie,  das  zweite  auf  die  Physik  und 
Medizin,  das  dritte  auf  die  Wahrsagekunst,  das  vierte  auf  die 
Musik  bezöge,  ja  am  Ende  sogar  apotelesmatisch  würde,  eine  Auf- 
zählung, die  sich  auch  bei  den  Bucolica  wiederholt.  Der  gute 
Manu  will  eigentlich  als  Philosoph  gelten,  „aber",  sagt  er,  „indem 
ich  die  etwas  abschmeckend  gewordene  Schärfe  der  Chrysippischen 
Niesswurz  bei  Seite  lasse ,  will  ich  mich  lieber  mit  den  Musen 
unterhalten"  und  hierauf  lässt  er  fünf  Hexameter  folgen,  in  denen 
er  für  das  grosse  Werk  was  er  unternimmt  die  Gunst  der  Musen 
anruft,  und  zwar  „aller  neun,  weil  eine  nicht  genug  sein  würde  ^). 
Durch  deren  Hilfe  wird  es  ihm  zu  Theil,  den  Geist  Virgils  vor 
sich  erscheinen  zu  sehen.  Das  Benehmen  dieser  ehr^vürdigen  Er- 
scheinung ist  höchst  imponii-end  und  ernst.  Der  Dichter  ist  ganz 
versunken  in  den  Gedanken  neuer  Schöpfungen.  Mit  einer  Be- 
scheidenheit, die  eigenthümlich  von  der  schwatzhaften  Eitelkeit, 
wie  sie  sich  hier  und  in  den  andern  Schriften  des  Fulgentius  zeigt, 
absticht,  bittet  der  Verfasser  den  Virgil,  von  seiner  Höhe  herab- 
zusteigen und  ihm  die  Geheimnisse  seiner  Poesie  zu  enthüllen, 
nicht  die  tiefsten,  sondern  nur  die,  welche  der  Verstand  eines 
armen  Barbaren  zu  fassen  vermag'^).  Virgil  verspricht  dies,  ob- 
gleich er  nur  mit  einer  fast  furchterregenden  Strenge  nnà  wie  im 
Zorne*)  zu  ihm  spricht,  ihn  auch  z.  B.  behan-lich  ,, Menschlein"  an- 
redet.   Er  erklärt  dann,  dass  er  in  den  zwölf  Büchern  der  Aeneis  ein 


1)  „Bucolicam  Georgicamque  omisimus  in  quibus  tarn  mysticae  sunt 
interstinctae  ratioues  etc."  p.  738.  ,,....  Ergo  doctrinam  mediocritatem 
teraporis  excedentem  omisimus,  ne  dum  quis  laudem  quaerit  norainis 
fragmen  reperiat  capitis"  p.  739.  lu  der  Bibliothek  von  Padua  existirt 
ein  Ms.  aus  dem  14.  Jahrh.  mit  dem  Titel:  „Fulgentius  super  Bucolica 
et  Georgica  Vergili"  (vgl.  Lerscb  p.  96).  Ich  habe  mich  jedoch  davon 
überzeugt,  daes  der  Name  des  Fulgentius  willkürlich  hinzugefügt  ist. 
Vgl.  meinen  Aufsatz  in  der  Revue  critique,  August  1869,  p.  136. 

2)  ,, Malus  opus  moveo,  nee  euim  mihi  sufficit  una,  Currite  Pierides 
etc."  p.  740. 

3)  „Serva  istaec,  quaeso,  tuis  Romanis  quibus  haec  nosse  laudabile 
competit  et  impune  subcedit.  Xobis  vero  erit  maximum  si  vel  extremas 
tuas  contigerit  pL-rstringere  fimbrias."  p.  742. 

4)  ,,Quatinus,  inquit,  tibi  discendis  non  adipata  crassedo  iugenii,  quam 
temporis  formido  periculo  reluctat,  de  nostro  torrentis  ingenii  impetu 
umulam  praelibabo  quae  tibi  crapulae  plenitudine  nauseam  movere  non 
possit.  Ergo  vacuas  fac  sedes  tuarum  aurium.  quo  mea  commigrare  possint 
eloquia"  p.  742. 


102  ^  irgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

Bild  lies  menschlichen  Leben  habe  geben  wollen.  Indem  er  aber 
daran  geht,  diesen  philosophischen  Gedanken  im  einzelnen  zu  ent- 
wickeln, hält  er  sich  ziemlich  lange  bei  dem  ersten  Verse  auf,  der 
den  Inhalt  des  Gedichtes  zusamment'asst,  und  kommt  erst  nach  den 
seltsamsten  Umschweifen  auf  die  verborgene  Bedeutung  der  drei 
Worte  „arma,  virum,  primus"  zu  sprechen.  „Aus  drei  Stufen", 
sagt  er,  „besteht  das  menschliche  Leben,  die  erste  heisst  „besitzen"; 
die  zweite:  „den  Besitz  regieren";  die  dritte:  „das  was  man  regiert, 
verherrlichen".  Diese  drei  Grade  findest  du  in  meinem  ersten 
Verse.  „Arma",  d.  h.  Tüchtigkeit,  bezieht  sich  auf  das  körper- 
liche; „virum"  d.  h.  Weisheit  auf  das  geistige:  „primus"  d.  h. 
Fürst  auf  das,  was  verherrlicht  und  schmückt;  so  dass  du  also 
hier  der  Reihe  nach ,  die  drei  Begrifte  ,haben ,  regieren  und 
v(*rherrlichen'  erhältst.  Auf  diese  Weise  habe  ich  s^'mbolisch  das 
normale  Verhältniss  des  menschlichen  Lebens  dargestellt;  zuerst 
die  Natur,  dann  die  Gelehrsamkeit,  endlich  das  Glück".  Darauf 
beginnt  der  Dichter  den  Stofl"  der  einzelnen  Bücher  zu  erklären. 
Vor  Fulgentius  scheint  er  dabei  freilich  wenig  Achtung  zu  haben; 
denn  er  sagt,  bevor  er  weitergehe,  wolle  er  sich  überzeugen,  dass 
er  nicht  etwa  arkadischen  Ohren  predige,  und  als  ob  er  zweifle,  dass 
jener  jemals  die  Aeneis  gelesen  habe,  fragt  er  ihn  nach  einer 
kurzen  Inhaltsangabe  des  ersten  Buches^).  Fulgentius  ist  dadurch 
keineswegs  beleidigt,  sondei-n  erfüllt  den  Wunsch  des  Dichters, 
worauf  denn  Virgil  wieder  fortfährt.  Wir  beschränken  uns  indessen 
hier  nur  auf  einen  kurzen  Abriss  des  Ganzen,  denn  die  Albern- 
heiten im  Einzelnen  durchzugehen,  wäre  für  uns  ebenso  lästig  wie 
für  den  Leser. 

Virgil  erklärt  also,  dass  der  Schiffbruch  des  Aeneas  die  Ge- 
burt des  Menschen  bedeutet,  welcher  unter  Schmerz  und  Thränen 
in  das  stürmische  Leben  eingeht;  Jmio  ist  die  Göttin  der  Geburt, 
und  Aeolus,  ihr  Diener,  das  Verderben").  Achates  bezeichnet  die 
Schmerzen  der  Kindheit''),  der  Gesang  des  Jü[)as  ist  der  Gesaug 
der  Ammen.  Die  «Begebenheiten  des  zweiten  und  dritten  Buches 
beziehen  sich  gleichfalls  auf  die  Kindheit,  die  begierig  ist  nach 
Fabeln  und  Wundergeschichten.     Auch    der   Cjclop    am  Ende    des 

1)  ,,Sed  ut  sciam  me  non  arcadicis  expromptare  fabulam  auribus, 
primi  nostri  continentiam  libri  narra."  p.  747. 

•2)  ,, Aeolus  enim  graece  quasi  Aiouolus  id  est  saeculi  iuteritus  dicitur" 
p.  748. 

3)  „Achates  enim  graece  quasi  àx^v  f&og  id  est  tristitiae  consuetudo." 
p.  7.Ó0. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  103 

di-itten  Buches  mit  dem  einen  Auge  auf  der  Stirn  ist  Symbol 
des  geringen  Verstandes  und  des  Hochmuthes,  welchen  Ulysses, 
das  heisst  der  Verstand,  bändigt.  Diese  Periode  schliesst  mit  dem 
Tode  und  dem  Begräbnisse  des  Vaters  Anchises,  das  heisst:  das 
lünd  wird  mündig.  Der  nun  freie  Mensch  (viertes  Buch)  ergibt 
sich  den  Genüssen  der  Jagd  und  der  Liebe.  Ein  Schwindel  (das 
Ungewitter)  bringt  ihn  zu  unerlaubten  Verhältnissen  (Dido),  bis  er, 
vom  Verstände  (Mercurius)  ermahnt,  wieder  zu  sich  kömmt;  die 
Flamme  der  Liebe  sinkt  in  Asche  zusammen  (Tod  der  Dido). 
Im  fünften  Buche  ruft  der  Geist  das  Andenken  an  den  Vater 
zurück  und  ergibt  sich  edlen  Uebungen  (Leicheuspiele  zu  Ehren 
des  AnchisesJ.  Der  triumphirende  Verstand  vernichtet  die  Werk- 
zeuge der  Verirrung  (Brand  der  Schiffe).  So  erstarkt  (sechstes  Buch), 
kehrt  er  zur  Weisheit  zurück,  (Apollo's  Tempel),  nachdem  er  zuvor  von 
seinen  Hallucinationen  befreit  ist  (Palinurus  ^)  und  die  Eitelkeit  ab- 
gethan  hat  (Begräbniss  des  Misenus)^).  Mit  dem  goldenen  Zweige, 
d.  h.  mit  dem  Verständniss,  welches  den  Zugang  zu  den  verborgenen 
Wahrheiten  eröffnet,  geht  er  auf  philosophische  Entdeckungen  aus 
(^Eingang  in  die  Unterwelt);  da  erscheinen  ihm  zuerst  die  mensch- 
lichen Uebel  in  ihrer  traurigen  Gestalt,  er  überschreitet,  geführt 
von  der  Zeit  (Charon)^),  die  durch  die  jugendlichen  Thaten  auf- 
geregte Welle  (Acheron'^),  er  hört  das  Wehgeschrei  der  sich  ent- 
zweienden Menschheit  (der  beiende  Cerberus)  und  erlangt  endlich 
die  süsse  Frucht  der  Weisheit.  So  schreitet  er  fort  in  der  Er- 
kenntniss  des  zukünftigen  Lebens,  in  der  Unterscheidung  des  Guten 
und  Bösen  und  denkt  über  die  Leidenschaften  (Dido)  und  Neigun- 
gen (Anchises)  seiner  Jugend  nach.  Nachdem  nun  der  Geist 
(siebentes  Buch)  verständig  geworden  ist,  entwächst  er  der  Zucht 
des  Lehrers  (Begräbniss  der  Amme  Cajeta),  gelangt  in  das 
ersehnte  Ausonien,  er  nimmt  au  Güte  zu^),  wählt  sich  zum 
Weibe  die  Mühe  (Lavinia)'')  und  macht  den  Guten  (Evander) 
zu  seinem  Gefährten  (achtes  Buch).  In  solcher  Genossenschaft 
lernt  er    die  Triumphe    der  Tugend    über   das  Böse  kennen  (Her- 


1)  ,, Palinurus     enim    quasi   Planonurus,     id    est     errabuoda    visio" 
753. 

2)  „Misio   eniin   graece   obruo    dicitur(?);   aivog  vero    laus  vocatur." 
753. 

3)  „Caron  vero  quasi  Cronon  id  est  temjjus"  p.  756. 

4)  „Acherou  enim  graece  sine  tempore  dicitur"  p.  756. 

5)  ,, Ausonia  enim  dna  rov  av^ävstv  dicitur,  id  est  creraento"  p.  763. 

6)  „Et  uxorem  petit  Laviniaui,  id  est  laborum  viam."  p.  763. 


1Q4  Viigil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

cules  und  Cacus).  Nachdem  er  sich  endlich  einen  Panzer  aus 
seiner  glühenden  Seele  gemacht  hat  (die  von  Vulcan  geschmiedeten 
AYaffen),  stürzt  er  sich  in  den  Kampf  und  streitet  (neuntes  bis 
zwölftes  Buch)  gegen  die  Raserei  (Turnus)^),  welche  geführt  von 
der  Trunkenheit  (Metiscus)  und  Hartnäckigkeit  (Juturna-diutuma), 
in  ilarem  Gefolge  die  Gottlosigkeit  (Mezentius,  der  Verächter  der 
Götter)  und  die  Thorheit  (Messapus)^)  hat.  Die  Weisheit  trium- 
phirt  schliesslich  über  sie  alle.  —  So  sonderbar  schon  der 
Inhalt  des  Werkes  in  dieser  gedrängten  Uebersicht  erscheinen 
muss,  wird  man  sich  doch  von  der  Sonderbarkeit  des  Originals 
kaum  eine  Vorstellimg  macheu  können.  Es  ist  klar,  dass  man 
für  blose  Phantastereien  keine  solide  Basis  verlangen  darf,  und 
doch  entbehren  sie  oft  nicht  einer  gewissen  geistigen  Feinheit  und 
Schönheit,  die  sie  anziehend  machen  kann.  Allein  das  Verfahren 
des  Fulgentius  ist  so  gewaltsam  und  unzusammenhängend,  jede 
Kegel  des  gesunden  Menschenverstandes  wird  so  offenbar,  man 
möchte  sagen  in  brutaler  Weise  mit  Füssen  getreten,  dass  man 
nicht  begreift,  wie  ein  gesunder  Geist  ein  solches  Narrenwerk  im 
Ernste  hat  unternehmen  können,  aber  noch  weniger,  wie  gesunde 
Geister  es  einer  ernsten  Uebei'leguug  für  werth  hielten.  Fulgen- 
tius kehrt  sich  so  wenig  an  irgend  ein  Gesetz,  dass  er  nicht  einmal 
seine  eigenen  Fictioneu  consequcnt  festhält  und  den  Virgil  hie  und 
da  sprechen  lässt,  als  wäre  er  Fulgentius^).  Zu  der  Gedanken- 
losigkeit kömmt  dann  noch  die  Unwissenheit  hinzu,  wie  wenn  Vir- 
gil z.  B.  den  Petronius  und  sogar  den  noch  späteren  Tiberianus 
citirt!  Dieser  groben  Nachlässigkeit  muss  mau  es  auch  zuschreiben, 
wenn  das  Buch,  so  wie  wir  es  besitzen,  keinen  Abschluss  hat;  denn 
der  Autor  vergisst  am  Ende  ganz,  dass  er,  nachdem  Virgil  so  lange 
geredet  hat,  nun  selbst  wieder  auftreten  und  sich  vom  Leser  verab- 
schieden muss*).  Au  ein  richtiges  Verhältniss  der  Theile  zu  einander 
ist  bei  dem  Werke  natürlich  nicht  zu  denken.  Ueber  den  ersten  Vers 

1)  ,, Turnus  euiui  graece  dicitur  quasi  d'ovgog  i'orc,  furibundus  sensus" 
p.  764. 

2)  „Messapus,  quasi  fttffwr  sttos"  p.  765. 

3)  Virgil  sagt  an  einer  Stelle:  „Tricerberi  autem  fabulam  jam 
superius  exposuimus"  (p.  756).  In  Wahrheit  wird  hierüber  in  einem 
anderen  Werke  des  Fulgentius  'Mythologicon'  I,  5  gehandelt." 

4)  Ziuk  (a.  a.  ü.  p.  27)  glaubt,  dass  das  Ende  des  Werkes  abhan- 
den gekommen  oder  das  ganze  unvollendet  ist.  Jungmanii  a.  a.  0. 
p.  73,  beweist  aber,  dass  weder  das  eine  noch  das  andere  mögHch  ist. 
Man  sieht  deutlich,  wie  der  Autor  vom  8.  Buche  an  die  Lust  verliert 
und  nun  auf  diese  rohe  Weise  zum  Ende  eilt. 


Virgil  in  der  Literatur  big  auf  Dante.  105 

der  Aeiiels  verbreitet  sich  der  Verfasser  mehrere  Seiten  hing  und 
übersi^ringt  ganze  Bücher  mit  zwei  Zeilen.  Am  längsten  hält  er 
sich  beim  sechsten  Buche  auf,  welches,  wie  wir  gesehen  haben, 
schon  dem  Servius  für  das  tiefsinnigste  galt.  Von  der  Sprache 
darf  man  kaum  reden;  sie  ist  der  Abschaum  einer  unwissenden 
uud  geschmaklosen  Barbarei,  will  aber  doch  in  ihren  merkwürdig 
verdrehten  und  gekünstelten  Phrasen,  den  aus  allen  möglichen 
Orten  zusammengesuchten  uud  noch  dazu  falsch  angewandten 
fremdartigen  Wörtern  für  gewählt  gelten^);  die  willkürlichen  und 
gleichsam  mit  der  Axt  zugehauenen  Etymologien  dürften  sich  wol 
selbst  bei  keinem  alten  Schriftsteller  wdeder  finden. 

Bemerkenswerth  ist,  wie  Virgil  selbst  von  Fulgentius  darge- 
stellt wird;  er  erscheint  als  ein  mümscher,  finsterer  und  stolzer 
Mann,  also  grade  das  Gegentheil  jener  milden,  sanften  Bescheiden- 
heit, die  seine  Poesie  athmet,  die  ihm  alle  seine  Biographen  bei- 
legen und  die  Dante  so  trefflich  gezeichnet  hat.  Für  jene  bar- 
barischen Geister  musste  der  Idealtypus  des  Weisen  sich  mit 
Finsterniss  umhüllen,  wie  das  Wissen  der  Zeit  selbst,  das  wieder 
zum  poetischen  Mysterium  zurückgekehrt  war,  mit  dem  es  begonnen 
hatte.  Wie  man  nicht  nur  bei  Fulgentius,  sondern  schon  bei 
Macrobius  (besonders  in  seinem  Traum  des  Scipio),  bei  Marcianus 
Capella,  Boethius  und  so  vielen  Anderen  sieht,  erscheint  die  Ge- 
lehrsamkeit immer  verbunden  mit  einer  Art  von  poetischem  Rausche. 
Sie  tritt  von  Aussen  an  den  rohen  und  unvorbereiteten  Geist  heran, 
ihn  gleichsam  betäubend  und  fanatisirend,  und  bewirkt  z.  B.  bei 
Capella,  Boethius  und  Fulgentius  jenes  Ineiuandermischen  von 
Vers  und  Prosa.  Niemand  vermöchte  wol  in  solcher  krankhaften 
Aufgeregtheit  jenen  Funken  von  Poesie  zu  erkennen,  welchen  der 
Geist  hervorzubringen  vermag,  wenn  er  die  Wahrheit  erschaut. 
Der  grösste  Weise  musste  geradezu  als  ein  mystisches  gleichsam 
überirdisches  Wesen  erscheinen,  und  so  zeigt  sich  denn  auch  Virgil 
dem  Fulgentius.  Sieht  man  genauer  zu,  so  hat  sich  dieser  Typus  aus 
dem  entwickelt,  was  wir  schon  bei  Macrobius  und  überhaupt  bei  den 
Heiden  während  der  Zeit  des  Verfalles  wah]nahmeu.  Fulgentius 
.that  nur  noch  hinzu,  was  ihm  die  Barbarei  imd  Roheit  seiner  Zeit 
darbot.  Freilich  gab  es  in  dieser  auch  höher  begabte  Geister,  aber 
von  ihm  ist  der  Kreis  des  profanen  Wissens,  wie  er  sich  da- 
mals vorfand,  w^ol  am  getreusten  dargestellt.     Die  Grundidee  seiner 


1)  Die  Latinität   des  Fulgentius    bat  Zink  a.  a.  0.  p.  37-  62  genau 
untersucht. 


106  ^'irgil  i"  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

Ausleguug  kann  man  nicht  originell  nennen,  da  sich  dieselbe  schon 
vor  ihm  bei  Andern  findet.  Noch  weniger  originell  erscheint 
aber  die  Idee  seines  anderen  grösseren  Werkes,  des  Mythologicon. 
Wie  viel  davon  auf  seine,  wie  viel  auf  anderer  Kechnung  zu  setzen 
ist,  wird  nicht  leicht  zu  bestimmen  sein.  Für  unser  Thema  ist 
vor  Allem  der  Umstand  bemerkenswerth,  dass  Fulgentius,  obgleich 
er  sich  als  eifrigen  Christen  zeigt,  weder  Mythologicon  noch  De 
Continentia  mit  dem  apologetischen  Zwecke  verfasst  hat,  die  heid- 
nische Ueberlieferuug  mit  dem  Chi-istenthume  zu  versöhnen.  Nichts 
spielt  auf  den  Kampf  der  Christen  gegen  das  Heidenthum  an. 
Von  einer  Vertheidigung  desselben  gegen  irgend  welche  Angriffe 
ist  nicht  die  Rede;  die  eigentlich  bestimmende  Grundidee  des 
Werkes  ist  rein  philosophisch  und  bezweckt  die  Verschmelzung 
der  alten  Mythen  nicht  mit  dem  Christenthum,  sondern  der  Philo- 
sophie. Das  später  geschriebene^)  Buch,  „de  Continentia"  verhält 
sich  wie  ein  Anhang  zu  dem  Mythologicon.  Bei  der  Stellung,  die 
Virgil  in  der  damaligen  Cultur  einnahm,  musste  uatui-gemäss, 
nachdem  man  angefangen  hatte,  die  Allegorie  auf  die  philosophische 
Auslegung  der  zahllosen  alten  Mythen  anzuwenden,  ein  gleiches  sich 
auch  bei  der  Aeneis  wiederholen,  die  sich  aus  dem  ganzen  Sagen- 
kreise als  speciell  römisch  aussonderte.  Zu  der  allgemeinen 
Vorstellung  von  der  Erhabenheit  des  Alterthums  kam  aber  hier 
noch  die  Idee  eines  ausserordentlichen  Wissens  und  einer  wunder- 
baren Tiefe  des  Dichtergeistes  hinzu.  Darum  treten  im  Mytholo- 
gicon Urania  und  Pbilosophia,  in  De  Continentia  Virgil  selber 
redend  auf.  Fulgentius  zeigt  sich  also  als  ein  Nachfolger  der 
Stoiker,  wie  der  Philosophen  und  Grammatiker  der  Verfallzeit;  und 
sein  Christenthum  hat  auf  das  Werk  keinen  Einfluss.  In  De 
Continentia  sieht  mau  deutlich,  welche  bevorzugte  Stellung  Virgil 
bei  den  Christen  einnahm.  Es  herrscht  hier  die  Meinung,  dass  er 
vermöge  der  wunderbaren  Kraft  seines  Geistes  den  ethischen  und 
philosophischen  Grundsätzen  unserer  Religion  sehr  nahe  gerückt 
ist.  Wenn  er  z.  B.  etwas  äussert,  was  nach  dieser  nicht  zulässig 
ist,  so  fällt  ihm  Fulgentius  ins  Wort  und  drückt  sein  Erstaunen 
darüber  aus,  wieder,  welcher  sagen  konnte  ,,Jam  redit  et  virgo  etc.""), 


1)  Das  geht  auch  aus  der  Bemerkung  jj.  756:  ,,tricerberi  autem  fa- 
bulam  jam  superius  exposuimus"  hervor. 

2)  ,,0  vatum  latiiiris  autenta!  itane  tuum  ingenium  clarissimum  tam 
stultae  defensionis  fuscare  debuisti  caligiue?  qui  dudum  in  Bucolicis 
mystice  persecutus  dixeras:  „Jam  redit  et  virgo  etc."  p.  761. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  107 

in  eineu  solchen  Irrtbuiu  geratheu  kauu.  Virgil  antwortet:  „Wenn 
sich  bei  mir  nicht  unter  so  vielen  Wahrheiten  der  Stoiker  auch 
ein  epicuräischer  Irrthum  fände,  so  wäre  ich  kein  Heide.  Denn 
die  ganze  Wahrheit  zu  erkennen,  ist  nur  Euch  gegeben,  denen 
die  Sonne  der  Wahrheit  aufging.  Doch  davon  will  ich  hier  nicht 
reden".  Aehnlich  sind  zwei  Stellen,  wo  Fulgentius  mit  grossem 
Eifer  Worte  der  Bibel  oder  christliche  Grundsätze  anführt,  die  mit 
der  Ansicht  des  Dichters  übereinstimmen;  aber  Vii-gil  geht  nur 
mit  Widerstreben  auf  diese  Punkte  ein  und  an  zwei  anderen  Stellen 
antwortet  er  lieber  gar  nicht  auf  die  Einwürfe  des  Fulgentius^). 
Diese  Unterbrechungen,  die  mit  der  Grundidee  des  Werkes  gar 
nichts  zu  thun  haben,  ergeben  sich  ganz  natürlich  aus  der  An- 
schauungsweise der  Zeit  und  stimmen  mit  dem  Ideale  des  Vii'gil, 
wie  es  damals  dem  Christen  vorschwebte,  vollkommen  überein. 
Und  so  kommt  denn  der  Virgil  des  Fulgentius,  d.  h.  der  Virgil  der 
christlichen  Barbarei  auf  ganz  natürliche  nicht  gewaltsame  Weise 
dazu,  Sympathien  zu  erwecken,  welche  die  Unverträglichkeit  zwischen 
dem  Heiden  und  Christen  ausgleichen  sollen.  Dieses  Ideal,  in  dem 
sich  schon  die  mittelalterliche  Idee  offenbart,  dass  die  menschliche 
Vernunft  auch  ohne  Wunder  und  Oifenbarung  zu  Grundsätzen 
kommt,  die  dem  christlichen  Geiste  gleich  stehen,  ist  aber  nur 
ein  rohes  Vorspiel  dessen,  was  die  Poesie  Dante's  zur  höchsten 
Höhe  erhoben  hat. 

So  sehr  sich  Fulgentius  bemüht,  als  Gelehrter  oder  Denker 
zu  erscheinen,  ist  er  doch  nichts  weniger  als  ein  solcher.  Um 
seinem  Wissen  ein  überraschendes  Ansehen  zu  geben,  scheut  er 
sich  nicht,  Namen  von  Autoren  und  Werken  zu  erfinden,  die  es 
niemals  gegeben  hat'^):  ein  alter  Kunstgriff  übrigens,  dessen  man 
sich  mit  Erfolg  schon  in  mehr  erleuchteten  Zeiten  bediente^),  aber 
besonders  in  der  Verfallzeit  und  im  Mittelalter^).  Fulgentius  er- 
scheint unter  den  allegorisclien  Auslegern,  unter  welchen  sich  auch 


1)  P.  743,   746,  753,  755. 

•2)  Vgl.  Lersch,  a.  a.  Ü.  p.  19  ff.  Zink,  a.  a.  0.  p.  75  ff. 

3)  „Unde  improbissimo  cuique  pleraque  fingendi  licentia  est,  adeo 
ut  de  libris  totis  et  auctoribus  ut  succurrit,  mentiantur  tute,  quia  in- 
veniri  qui  nunquam  fuere  non  possunt."  Quintil.  I,  8,  21. 

4)  Bekannt  ist  u.  a.  dafür  der  Cosmograph  von  Ravenna.  Vgl.  ausser- 
dem Hercher,  „Ueber  die  Glaubwürdigkeit  der  neuen  Geschichte  des 
Ptolemäus  Chennus"  in  den  N.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Paed.  1853.  Suppl.  I, 
p.  269  ff.;  Zeller,  Vorträge  und  Abhandlungen  geschichtlichen  Inhalts, 
p.  297  ff. 


108  Virgil  iu  dei-  Literatur  bis  auf  Dante. 

wirklich  bedeutende  Leute  Huden,  gegen  seine  Vorläufer  und  Nach- 
läufer gehalten,  wie  eine  Carricatur.  Und  doch  war  er  zu  sehr 
Kind  seiner  Zeit,  als  dass  ihm  diese  nicht  hätte  Beifall  spenden 
sollen.  Das  naive  Mittelalter  glaubte  in  ihm  einen  Mann  von  grosser 
und  tiefer  Gelehrsamkeit  zu  sehen.  Wie  man  seine  Werke  schätzte 
und  gebrauchte,  beweisen  die  vielen  erhaltenen  Handschriften. 
Siegbert  von  Gemblou.K  (11.  Jahrhundert)  ist  fast  erschrocken  über 
so  viel  Wissensschärfe*)  und  bewundert  den  Mann,  der  es  ver- 
standen hat,  „in  dem  Kothe  Virgils  Gold  aufzusuchen")"!  Im 
Scholiasten  des  Germanicus  und  auch  iu  Hjgin's  Fabeln  finden 
sich  Stelleu,  die  aus  dem  Mytliologicon  interjiolirt  sind.  Der 
zweite  und  dritte  vaticanische  Mythograph  haben  ebenfalls  mehr 
oder  weniger  den  Fulgentius  benutzt;  eine  Thatsache  von  Bedeu- 
tung, wenn  man  bedenkt,  dass  die  Fabeln  Hygin's,  wie  die 
des  vatikanischen  Mytliographen  (besonders  des  ersten)  jedenfalls 
Schulbücher  waren^). 

Diese  allegorische  Auslegung  gedieh  ziemlich  gut  selbst  noch 
unter  der  kalten  Sonne  der  Scholastik.  Bernhard  von  Chartres 
behauptete  in  seinem  Commentare  zu  den  ersten  sechs  Büchern  der 
Aeneis,    dass  „Virgil    als    Philosoph    die  Natur    des    menschlichen 

Lebens  schildere so  wie  das  Thun  und  Leiden  des  Geistes, 

der  sich  auf  kurze  Zeit  im  Körper  befinde'*)."  Denselben  Gedanken 
nahm  auch  einer  der  bedeutendsten  Männer  des  12.  Jahrb.,  Johann 
von  Salisbury  auf.  Er  bemerkt,  dass  Virgil  „unter  dem  Schleier 
der  Mythen  die  Wahrheit  der  ganzen  Philosophie  darstellt'')"  und 


1)  „Hie  certe  omnis  lector  expavescere  potest  acumen  ingenii  eius 
qui  totani  fabularum  seriem  secundum  philosophiam  expositarum  trans- 
tulerit  vel  ad  rerum  ordinem,  vel  ad  humauae  vitae  moralitatem."  De 
script.  t'Ccles.  c.  28. 

2)  „Qui  totum  opus  Vergili  ad  physicam  rationem  refercus,  in  lutea 
quodammodo  massa  ami  metallum  quaesivit  "  Ebendas. 

3)  Vgl.  Zink,  a.  a.  0.  p.  13  ff.  Bcrnhardy,  Grundr.  d.  r.  Litt, 
p.  868. 

4)  „Scribit  enim  (Vergilius)  in  quantum  est  philosophus  humanae 
vitae  naturam.  Modus  vero  agendi  talis  est:  sub  integumento  describit, 
quid  agat  vel  quid  iiatiatur  humanus  spiritus  in  humane  corpore 
temporaliter  positus  etc."  Vgl.  Cousin,  Ouvrag.  inéd.  d'Abe'lard 
p.  283  ff. 

5)  „Procedat  poeta  Mantuanus,  qui  sub  imagine  fabularum  totius 
philosophiae  exprimit  vcritatom."  Poljxratic.  VI,  c.  22;  „Vergilium  in 
libro  (Aeneidos)  in  quo  totius  philoso])hiae  rimatur  arcana."  Polycratic. 
II,  c.  15. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Danto.  109 

findet  in  den  sechs  ersten  Büchern  der  Aeneis  auch  die  Entwick- 
hing der  menschhchen  Natur  geschildert.  Nach  ihm  ist  Aeneas 
der  Geist  als  Bewohner  des  Körpers,  „denn  Ennaios  heisst  Be- 
wohner." Im  Schiffbruche  des  ersten  Buches  erkennt  er  die  Schicksale 
der  Kindheit,  die  auch  ihre  Stürme  habe:  im  zweiten  Buche  das 
Wachsthum  und  die  unschuldige  Neugier  der  Jugend,  die  viel  Wahres 
und  Falsches  lerne  ;  im  dritten  die  Jugend  in  ihren  Irrthümern,  im 
vierten  die  unerlaubte  Liebe;  im  fünften  die  männliche  Reife 
und  das  Nahen  des  Alters:  im  sechsten  endlich  das  Erkalten  der 
Leidenschaften,  das  Abnehmen  der  Kräfte  und  das  höchste  Greisen- 
alter ^).  Wie  aber  Donat  einstmals  in  der  Reihenfolge,  in  welcher 
Virgil  seine  drei  Werke  schrieb,  eine  Beziehung  auf  die  drei 
grossen  Stufen  der  Menschengeschichte  zu  finden  meinte,  so  ent- 
deckte man  im  Mittelalter  darunter  die  von  der  damaligen  Philo- 
sophie allgemein  angenommenen  drei  psychologischen  Kategorien 
des  Lebens;  das  beschauliche  Leben  in  den  Bucolica,  das  empfin- 
dende in  den  Georgica  und  das  thätige  in  der  Aeneis^).  Es  gab 
kein  Buch,  keine  Erzählung  in  jener  Zeit,  worin  man  nicht  eine 
moralische  oder  philosophische  Auslegung  versucht  hätte,  und  ganz 
allgemein  war  die  Lehre  von  den  vier  Bedeutungen,  die  man  in 
jeder  Schrift  finden  könne:  nämlich  die  „wörtliche",  die  „allegorische", 
die  „moralische"  und  die  „anagogische"  Bedeutung.  Es  war  wie  eine  fixe 
Idee,  welche  die  Geister  gefangen  hielt,  in  jedem  Dinge  verborgene 
Beziehungen  aufzusuchen;  und  so  blieb  denn  die  Allegorie,  nach- 
dem sie  zur  Vereinigung  zwischen  Philosophie  und  poetisch  religiösen 
Erfindungen  des  Alterthums  gedient  hatte,  nachdem  sie  zwei  strei- 
tenden Religionen  zur  Vertheidigung  gedient  hatte,  als  ein  unter 
dem  Rüstzeuge  der  Theologie  am  meisten  gebrauchtes  Mittel,  das 
sich  besser  als  für  die  alte  Philosophie  für  die  Dialectik  des  Christen- 
thums  vei-wenden  liess.  Sie  bildete  einen  wichtigen  Bestandtheil 
iener  zwar  gebrechlichen  doch  nützlichen  Brücke  der  Scholastik,  die 


1)  Polycratic.  VIII  c.  24.  Vgl.  Schaarschmidt,  Johannes  Sares- 
beriensis,  p.  97  f. 

2)  „Et  sciendum  est  quod  Vergilius  considerans  trinam  vitam,  sci- 
hcet,  contemplativam  voluptuosam  et  activam,  opera  tria  conscripsit, 
scilicet  Bucolicam  per  quam  vitam  contemplativam  demonstrat,  et  Geor- 
gicani  per  quam  vita  voluptuosa  intelligitur  ....  et  Aeneidos  per  quam 
datur  intelligi  vita  activa."  Comm.  in  Verg.  Aen.  Cod.  Bibl.  S.  Marc. 
Venet.  cl.  XIII  (lat.)  n.  61;  col.  3.  Dieselben  Worte  aus  einem 
Codex  der  Wiener  Bibliothek  (14.  Jahrb.)  bei  Zappert,  a.  a.  0. 
p.   16. 


Ilo  Virgil  iu  der  Literatur  bis  auf  Dante.  « 

von  der  mönchischeu  Theologie  zur  Laieuspeculation  hiniiber- 
führte.  Die  Allegorie  blieb  uicht  nur  ohne  Widerspruch  in  der 
Auslegung  der  Schriftsteller  wie  in  der  Logik  bestehen,  sondern 
der  Geist  fühlte  sich  auch  in  seinen  wirklich  poetischen  Schöpfungen 
ganz  natürlich  zur  Allegorie  hingezogen,  wie  wir  aus  der  Divina 
C'omedia  sehen.  Dante  spricht  im  Convito  ausführlich  von  dieser 
Doctrin  und  unterlässt  nicht,  dabei  Virgils  zu  gedenken.  „II  figu- 
rato che  del  diverso  jirocesso  delle  etadi  tiene  Virgilio  neli'  Eneide". 
In  demselben  Buche  erklärt  er  auch  die  allegorische  Bedeutung 
der  Aeneis  fast  ebenso  wie  Johann  von  Salisbury^);  und  noch 
in  der  Renaisi-ance  haben  so  hervorragende  Leute  wie  Leon  Baptiste 
Alberti  und  Christophorus  Landinus  die  allegorische  Auslegung  auf 
Virgil  angewandt  "^). 

Neuntes  Capitel. 
Obgleich  sich  iu  den  Schulbüchern  einige  Mj-then  auf  alle- 
gorische Weise  nach  dem  Mythologicon  des  Fulgentius  interpretirt 
finden,  darf  man  doch  nicht  glauben,  dass  die  allegorische  Aus- 
legung der  Aeneis  in  „De  Continentia"  in  jenen  Elementarschulen 
der  Grammatik  benutzt  wurde,  in  denen  Virgil  das  Hauptlesebuch 
war.  Nach  geheimen  Bedeutungen  und  wunderbaren  V/issenstiefen 
suchten  doch  in  dem  Dichter  nur  Leute,  die  nicht  grade  für  die  Schule 
schrieben,  sondern  über  derselben  stehen  wollten ^j.  Wenn  der 
Lehrer  derartiges  hätte  auseinander  setzen  wollen,  so  wäre  er  zu 
einem  Specialcursus  über  Virgil  verpflichtet  gewesen.  Er  hätte 
die  ganze  Aeneis  in  einer  Weise  erläutern  müssen,  welche  dem 
Zwecke  des  Elementarunterrichtes  in  der  lateinischen  Grammatik, 
wozu  eben  die  Auslegung  Virgils  dienen  sollte,  widex'sprochen 
hätte.  Es  wäre  interessant,  die  Schulen  des  Mittelalters,  die 
Lehrer  und  ihren  Unterricht  kennen  zu  lernen  und  zu  sehen,  wie 
man  dabei  Virgil  benutzte,  und  welche  Vorstellung  sich  die  Schüler 
von   ihm    machten.      Aber  auf  diesem    damals    sehr    bescheidenen 


1)  Convito,  IV,  24,  26. 

2)  Christoph.  Landini  Disputation.  Camaldul.  lib.  Ili,  IV,  (in  P. 
Vergili  Maronis  allegorias). 

3)  Keiner  wird  die  Worte  des  Fulgentius,  die  dieser  an  Virgil  richtet, 
für  ernst  halten:  „tantum  illa  quaerimus  levia  quae  mensualibus  sti- 
pendiis  grammatici  distrahunt  puerilibus  auscultationibus."  (p.  742).  Das 
ist  nur  eine  Hyperbel  mit  der  der  Verfasser  die  tiefen  Abgründe 
des  Wissens  bei  Virgil  sowie  seine  eigne  Bescheidenheit  davor  aus- 
drücken will. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  111 

Zweige  der  geistigen  Thätigkeit  liegt  die  dichteste  Finsterniss  des 
Mittelalters  ausgebreitet,  nnd  eine  nur  schwache  Idee  davon  geben 
uns  die  zahlreichen  Denkmäler  des  Unterrichtes  jener  Epoche, 
die  Grammatiken,  sowie  die  Commentare  zu  Virgil  und  anderen 
Schriftstellern. 

Sehr  beträchtlich  ist  die  Zahl  der  grammatischen  Schriften,  die 
nach  dein  Falle  des  Reiches  während  des  Mittelalters  entstanden  sind 
und  theils  von  Leuten,  die  durch  ihre  Thätigkeit  auf  anderen  damals 
wichtigeren  Gebieten  sehr  berühmt  waren,  theils  von  Grammatikern 
von  Fach  verfasst  wurden.  Die  Schöi^fungen  der  einen  sind  so 
werthlos  wie  die  der  anderen,  aber  natürlich  noch  unbekannter, 
obgleich  viel  gebraucht,  die  der  zweiten  Klasse.  Schriften  dieser 
Gattung  prätendiren  so  wenig  Originalität,  beschränken  sich  auf 
einen  so  handwerksmässigen  Gebrauch  der  den  geistigen  Lebens- 
zielen der  Zeit  gegenüber  so  wenig  in  Betracht  kömmt,  dass  sie 
oft  gar  keinen  Verfassernamen  haben.  Bekannter  sind  schon  die 
Autoren,  die  sich  in  der  kirchlichen  Literatur  auszeichneten  und 
bei  dieser  ihrer  Thätigkeit  sich  aus  irgend  welchen  Gründen  ver- 
anlasst fanden,  zur  Grammatik  herabzusteigen.  Bei  den  wenigsten 
lässt  sich,  weil  sonstige  äussere  oder  innere  Kennzeichen  fehlen, 
das  genaue  Alter  bestimmen.  Viele  sind  gewiss  nicht  anonym 
erschienen,  aber  bei  dem  fortwährenden  Copiren  der  Schriften  für 
den  Schulgebrauch  sind  die  Namen  der  Verfasser  verloren  ge- 
gangen. Man  betrachtete  eben  diese  Bücher  als  gemeinsames 
Eigenthum  und  erlaubte  sich  daher  nach  Gutdünken  Kürzungen, 
Erweiterungen  und  Veränderungen.  Das  dauerte  bis  zum  Ende 
des  Mittelalters.  Im  13.  Jahrh.  bat  Alexander  von  Villedieu 
in  dem  Prologe  zu  seinem  Glossar  in  Versen,  die  Aenderangen 
oder  Zusätze  zu  seinem  Werke  nur  massig  am  Rande  zu  machen 
und  beklagt  sich  dabei  über  diesen  Missbrauch  ^).  Einen  wirklich 
philologischen  Zweck  verfolgte  man  ja  nicht  ;  nur  der  practische  war 
noch  massgebend.  So  schrieben  Cassiodor,  Isidor  und  die  Gelehrten 
der  irländischen  und  angelsächsischen  Schule  Beda,  Aldelm,  Clemens 
u.  a.,  sowie  diejenigen,  welche  durch  Carl  den  Grossen  aufgemuntert 
waren,  Smaragdus,  Alcuin  und  Rabanus  Maurus,  ihre  Grammatiken 
nur  für  die  Schulen.  Auch  die  von  der  Scholastik  beeinflussten 
Bücher  über  die  Theorie  der  Grammatik  haben  vom  12.  bis  15.  Jahrh. 


1)  „Si  quaecumque  velit  lector  addat  seriei 
Non  poterit  libri  certus  sie  textus  haberi." 

S.  Thurot,  a. 


112  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

keinen  pliiloloyischen  Werth.  Bei  diesen  Zuständen  war  es 
schon  ein  Verdienst,  wenn  überhaupt  etwas  geschrieben  wurde; 
um  das  ,wie'  kümmerte  man  sich  nicht.  Wenn  aber  selbst  hervor- 
ragende Männer  von  solcher  Geistesarmuth  waren,  so  erschrickt 
man  bei  dem  Gedanken  an  die  Barbarei  und  Unwissenheit,  welche 
unter  den  Elementarlehrern  vom  gewöhnlichen  Schlage  herrschon 
musste. 

Der  allgemeine  Gesichtskreis  war  in  der  That  so  niedrig,  dass 
es  den  Lehrern  ebenso  schwer  ward,  etwas  verständiges  voi'zutragen, 
wie  den  Schülern,  von  den  Lehrern  etwas  zu  profitiren.  So  kürzt, 
beschneidet  und  vermindert  man  denn  auf  alle  mögliche  Weise 
den  alten  Stoft":  „pro  fratrum  mediocritate",  wie  es  bescheiden  auf 
dem  Titel  eines  fälschlich  dem  Augustin  zugeschi-iebenen  Donatcom- 
pendiums  heisst^).  Bei  einem  gleichen  Werke,  welches  den  Namen 
des  Beda  trägt,  finden  sich  als  Vorwort  folgende  charakteristische 
Bemerkungen-):  „Das  Buch  des  Donat  ist  von  Vielen  derartig 
verdoi-ben  worden,  indem  Jedermann  nach  Gefallen  aus  eigener 
Erfindung  oder  von  andern  zufügte,  Declinationen,  Conjugationen 
\iud  ähnliches  einschaltete,  dass  nur  die  ältesten  Handschriften  den 
ursprünglichen  Text  darbieten.  Damit  mau  aber  nicht  meint,  dass 
wir  eben  so  gehandelt  haben,  wollen  wir  hier  bemerken,  wesshalb 
wir  die  vorliegende  Schrift  verfasst  haben.  Alle  wissen,  dass 
Donat  seine  ,,Ars  prior"  für  den  Schulunterricht  in  Fragen  und 
Antworten  abgefasst  hat,  wie  er  es  eben  für  die  zu  seiner  Zeit 
vorhandenen  Fähigkeiten  für  gut  hielt.  Da  wir  und  andere  nun 
aber  so  stumpf  und  unwissend  geworden  sind,  dass  wir  meist 
weder  fragen  noch  antworten  können,  so  haben  wir  im  Verhält- 
niss  der  Dürftigkeit  unserer  Ansprüche  dieses  Büchlein  geschrieben, 
das  zwar  für  mehr  unterrichtete  nicht  nöthig,  aber  doch  für  die 
weniger  fähigen  nützlich  sein  wird." 

Als  Carl  der  Grosse  noch  vermittelst  des  ulcerali  herrschenden 
Lateins  die  alten  Studien  wieder  erweckte,  kam  allmälig  das  vul- 
gäre   Neulatein    auf,    wie    früher    das    vulq-äre    Latein    der    nicht- 


1)  Ars  S.  Augustini  pro  fratrum  mediocritate  breviata,  bei  Keil, 
Gr.  lat.  V,  p.  494. 

2)  Cunabula  grammaticae  artis  a  Beda  restituta  bei  Beda, 
Opp.  I,  p.  2.  Im  Kataloge  der  Werke  Beda's  ist  die  Schrift  nicht  ver- 
zeichnet. Vgl.  Wright,  Biogr.  brit.  Ht.  anglo-sax.  per.  p.  271  ff.  Die  von 
uns  citirte  Einleitung  findet  sich  ohne  Namen  des  Autors  auch  unter 
den  Grammatici  latini  bei  Keil  (V,  p.  325),  dem  das  Vorhandensein  der- 
selben bei  Beda  entgangen  zu  sein  scheint. 


Yirgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  113 

lateinischen,  keltischen  oder  gennanischen  Stämme.  Und  während 
die  Cultnr  immer  tiefer  sank,  die  Völker  mit  einander  im  heissesten 
Kampfe  lagen,  traten  auch  schon  die  Nationalitäten,  die  früher  in 
der  römischen  Welt  zu  einer  Einheit  verschmolzen  waren,  in  ihren 
vei'schiedenen  Eigenthümlichkeiten  wieder  auseinander.  Die  Gram- 
matiker hatten  daher  doppelte  Mühe,  die  dem  Latein  schon  fast  Ent- 
fremdeten zu  diesem  wieder  zurückzuführen.  Die  Meisten  von  ihnen 
waren  von  nicht  lateinischer  Abkunft,  hatten  bereits  ein  eigenes 
Nationalbewusstsein  und  bekannten  oft  selbst,  wenn  sie  lateinisch 
schrieben,  ihre  eigene,  ihnen  dabei  sehr  hinderliche  Barbarei^).  So 
herrscht  denn  in  dem  Wüste  jener  grammatischen  Schriften  eine 
Unwissenheit  und  Gedankenverwirrung,  von  der  man  sich  kaum 
eine  Vorstellung  machen  kann.  Die  Latinität  ist  roh,  schwankend 
und  ganz  getrübt  durch  den  Einfluss  des  „Usus"^),  d.  h.  jenes 
barbarischen,  besonders  in  der  kirchlichen  Literatirr  angewandten 
Lateins,  der  ja  von  Leuten,  die  selbst  unfähig  waren,  sich  auf 
einen  nicht  kirchlichen  Standpimkt  zu  stellen,  sogar  gi-ammatische 
Autorität   zuerkannt  ward^).     Der  Mangel   eines  festen  Kriteriums 


1)  „ ....  et  inrisione  dignum.  arbitrabar ....  romanae  urbanitatis 
facuudia  disertissimis  rhetoribus,  me  poene  de  extremis  Germaniae  gen- 
tibus  ignobili  stir[)e  procreatum  ....  inter  talium  dissona  decreta  viro- 
rum  ex  persona  iudicis  disputando  judicare"  Anon.  Gramm,  (cod.  saec. 
XI)  bei  Keil,  De  quibusdam  grammaticis  p.  26.  Ekkehart  IV  sagt  in 
seiner  Schrift,  De  lege  dictamen  omandi: 

„Teutonicos  mores  caveas  nova  nullaque  ponas; 
Donati  puras  semper  memorare  figuras." 
Vgl.  Haupts  Zeitschr.  f.  deutsch.  Alt.  N.  F.  II,  p.  33.  „proprietas  autem 
eiusdem  verbi  latinis  magis  patet  quam  barbaris."  Ebend.  p.  52.  Be- 
merkenswerth  ist,  welche  Rücksicht  Gozbertus  (De  Mirac.  S.  Galli  bei 
Pertz,  Mon.  Germ.  II,  p.  22)  nimmt:  „si  quidem  nomina  eorum  qui 
scribendorum  testes  sunt  vel  fuenint,  propter  sui  barbariem^  ne  latini 
sermonis  inficiant  honorem,  praetermittimus."  Nicht  so  ElmoldusNi- 
gellus,  welcher  sich  sehr  unbedenklich  in  Versen  wie  die  folgenden 
Luft  macht  (Carm,  I,  373  ff.): 

„Parte  sua  princeps  Wilhelm  tentoria  figit 
Heripreth,  Liuthard,  Bigoque  sive  Bero, 
Santio  Libulfus  Hilthibreth  atque  Hisimbard 
Sive  alii  plm-es  quos  recitare  mora  est." 

2)  „Duplex  est  grammatica:  nam  est  quaedam  quae  dicitur  analogica 
et  alia  quae  dicitm*  magis  usualis."  S.  Thurot,  a.  a.  0.  p.  211. 

3)  Die  Grammatik  zu  misshandeln  vermochten  christliche  Schrift- 
steller schon  in  alter  Zeit,  wie  ihnen  die  Heiden  vorwarfen.  Man  sehe 
bei  Arnobius  (Adv.  gent.  I,  59),  auf  wie  rohe  Weise  dieser  dabei  die 
Christen  vertheidigt.. 

Coniparetti,   Viigil  im  Mittelalter.  g 


114  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

bewirkte  ein  allgemeines  Schwanken,  und  während  alles  auf  Au- 
toritäten beruhte,  hatte  man  sell)st  gar  keine  einigerinassen  rich- 
tige Vorstellung  von  diesen*).  !Man  tapi^te  im  Finsteren  herum, 
und  folgte  den  Worten  jedes  beliebigen  Buches ,  ohne  sich  au 
Widersprüche  zu  kehi'en. 

Es  ist  ein  verzweifeltes  Unternehmen,  heute  deiii  Wege  nach- 
spüren zu  wollen,  den  man  damals  bei  diesen  Arbeiten  einschlug. 
Wer  sich  aber  eiuigermassen  in  dieser  babylonischen  Verwirrung 
zurecht  gefunden  hat,  wird  sich  nicht  wundern,  wenn  er  aus  der- 
selben jene  monströse  Erscheinung,  die  zugleich  unser  Gelächter 
wie  unser  Mitleiden  erregen  kann,  ,,den  Virgil  von  Toulouse"^) 
sich  erheben  sieht.  Er  ist  vielleicht  der  einzige  originelle  Gram- 
matiker des  Mittelalters,  aber  seine  Originalität  macht  doch  mehr 
den  Eindruck  einer  grotesken  Ironie.  Gedanken,  Thatsachen, 
Xamen  von  Autoren,  Worte,  Regeln,  Theorien  erfindet  seine 
fruchtbare  Phantasie  ;  er  unterscheidet  zwölf  Arten  Latein  und  setzt 
den  Virgil  in  die  Zeiten  der  Sindfluth.  Und  dieser  merkwürdige 
^Nfann,  der  die  erste  gi-ammatische  Autorität  sein  will,  nennt  sich 
Virgilius  Maro!  Noch  Niemand  ist  im  Stande  gewesen,  seine  Per- 
sr.nlichkeit  ganz  zu  erklären:  man  bleibt  in  der  That  pei-jilex  vor 


1)  Notker  Balbulus,  einer  der  vielen  Mönche  dieses  Namens,  von 
St.  Gallen,  wichtig  für  die  Geschichte  der  Studien  des  Mittelalters,  sagt 
von  der  Grammatik  des  Alcuiu  in  seinem  „dialogus  de  grammatica": 
„Alcuinus  talem  grammaticam  condidit  ut  Douatus,  Nicomachus,  Dositheus 
et  noster  Priscianus  in  eins  comparatione  nihil  esse  videantur."  Vgl. 
Maitre,  les  t'coles  episcopales  et  monastiques  de  l'occident  etc.  i  Paris 
186G)  p.  220. 

2)  Einige  Schriften  dieses  Autors  hat  zum  ersten  Male  Mai,  Class, 
auctores  V,  p.  1  ff.  publicirt,  andere  Hagen,  Anecdota  Helvetica 
p.  189.  ff.  —  Ueber  denselben  ist  ausser  den  Bemerkungen  Mai 's  und  Hage  ns 
(s.  auch  Jahrb.  f.  Phil.  1869  p.  732  f.)  zu  vergleichen  Osann,  Beitr.  z. 
gr.  u.  röm.  Litt.  II,  p.  131  ff.;  Quicherat,  Fragm.  inéd.  de  litterat. 
latin,  in  der  Bibl.  de  Técole  des  chartes  II,  p.  130  ff;  Wuttke,  Ueber 
die  Aechtheit  des  Aethicus  p.  49;  Ozanam,  La  civilisatiou  chrétienne 
cbez  les  Francs  p.  420  ff.  H aase,  De  medii  aevi  studiis  philologicis 
p.  8;  Keil,  De  quibusd.  gramm.  inf.  aet.  p.  5.  Der  Autor  ist  zu  eigen- 
thümlich,  als  dass  sich  viele  Gelehrten  mit  ihm  ernstlich  haben  abgeben 
wollen.  Es  gibt  noch  keine  vollständige  Ausgabe  seiner  Werke.  Mein 
Versuch  für  ein  solches  Unternehmen  unbekannte  Hdss.  französischer 
Bibliotheken  zusammenstellen,  wurde  durch  die  Ereigni.sse  vorläufig 
unterbrochen.  Das  Alter  jenes  Virgil  ist  unbekannt.  Man  meint,  dass 
er  im  G.  Jahrhundert  gelebt  habe;  ältere  Hdss.  als  das  10.  Jahrhundert 
kenne  ich  nicht. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  115 

so  thörichteu  Phautasien,  Einen  Chaiiatan  kann  man  ihn  gar 
nicht  nennen,  wenn  man  den  Umfang  seines  Werkes  bedenkt,  das 
von  dem  herrschenden  Gedankenkreise  völlig  losgerissen  ist.  An 
eine  Satire  zu  denken  verbietet  aber  Art  und  Ton  der  Schrift. 
Man  nennt  ihn  excentrisch  oder  verrückt,  begi-eift  aber  dann  nicht, 
dass  sich  im  ganzen  Mittelalter  nicht  nur  keine  einzige  Stimme 
gegen  ihn  erhebt,  sondern  dass  er  wie  andere  Grammatiker  in  zahl- 
reichen Mannscrijjten  verbreitet  ist,  ja  dass  Beda,  der  Irländer 
Clemens  und  Andere  ihn  im  Ernste  als  Autorität  citiren.  Dazu 
kommt,  dass  sich  in  einer  anonymen  Schrift  unter  dem  Titel 
„Hisperica  famina"^)  und  in  dem  „Polyptychum"  des  Atto  von 
Vercelli^)  eine  sonderbare  aber  conventionelle  Latinität  findet, 
die  an  jenen  Virgil  erinnert,  der  also  vielleicht  gar  eine  angesehene 
Schule  gebildet  hat.  Wir  stehen  hier  in  der  That  vor  einer 
rein  pathologischen  Erscheinung,  welche  uns  den  Zustand  der 
Fäulniss  zeigt,  in  dem  sich  die  klassischen  Studien  im  Mittelalter 
befanden.  Nirgends  entdeckt  man  da  die  Thätigkeit  der  Vernunft; 
eine  krankhafte  Schlaffheit,  die  jedes  Wissen  ertödtet,  beherrscht 
das  von  phantastischen  Träumereien  erfüllte  Gemüth. 

Die  ersten  Grammatiker  blieben  immer  Donat,  Priscian,  Cha- 
risius,  Diomedes  und  die  anderen  Com]DÌlatoren  der  Verfallzeit. 
Um  sie  gruppirt  sich  die  Schaar  derer,  die  nur  von  ihnen  zehrten 
oder  neue  Irrthümer  hinzufügten  ;  wahrhaft  erstaunlich  ist  die 
die  Zahl  derjenigen,  welche  den  Donat  abkürzten,  umarbeiteten 
und  commentirten.  Die  Confusion  ging  dabei  so  weit,  dass  man 
die  Phantastereien  des  Grammatikers  Virgil  ganz  wie  den  Donat  und 
Priscian  citirte^).  Dieselbe  Verwirrung  offenbart  sich  auch  bei  der 
Exemplification  der  grammatischen  Lehren  und  der  Erklärung  der 
Schulautoren.  Noch  immer  herrscht  Virgil  dabei  als  erste  Auto- 
rität und  erster  Classiker  der  Schule^).  Aber  zu  den  alten  Schrift- 
stellern, welche  man  früher  auf  ihn  folgen  Hess,  haben  sich  als 
Muster  der  Latinität  Dichter  und  Schriftsteller  von  unterstem  Range 
gesellt:  Prudentius,  luvencus,  Sedulius,  Avitus,  Prosperus,  Paulinus 


1)  Publicirt  von  Mai,  Class,  auctores  V,  p.  479  ff. 

2)  Publicirt  von  Mai,   Scriptorum  vett.  nova  coUectio  VI,  p.  43.  ff. 

3)  Mau  vgl.  besonders  die  von  Hagen,  Anecdota  Helvetica  p.  82  ff. 
publicirte  Grammatik  eines  Anonymus  aus  einem  Codex  des  10.  Jahr- 
hunderts. 

4)  „Latinae  quoque  scientiae  valde  potatus  rivulis,  etiam  proprietate 
partium  aliquis  eo  melius  nequaqnam  usus  est  post  Vergilium."  Faric. 
Vit.  Aldhelmi  fol.  140,  b. 

8* 


116  Virgil  iu  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

und  Lactantius.  Das  begann  freilicli  schon  zu  Isidor's  Zeiten. 
In  dem  Buche  „De  dubiis  uominibus",  dessen  älteste  Handschriften 
ins  9.  Jahrh.  zurück  reichen^),  werden  nach  Virgil  Prudentius,  lu- 
vencus  und  Varrò  am  meisten  citirt^)  ;  dann  folgen  Paulinus,  Lactantius, 
Sidonius  u.  s.  w.  Manchmal  vereinigt  ein  Manuscript  Glossen 
über  Dichter,  die  in  gar  keiner  Beziehung  zu  einander  stehen,  wie 
z.  B.  über  Virgil  und  Sedulius  ").  Von  den  christlichen  Dichtern  wurde 
in  den  Schulen  am  meisten  Prudentius  gelesen,  „Pi^dentissimus 
Prudentius",  wie  ihn  Notker  Balbulus  nennt').  Er  ist  unter  den 
Christen  wol  der  bemerkeuswertheste  Nachahmer  Virgils.  Von 
seinen  zahlreichen  Manuscripten  stammt  das  eine  sogar  aus  dem 
6.  Jahrh.  Aber  auch  den  Text  der  Viilgata  erlaubt  sich  die 
fromme  Barbarei  jener  Grammatiker  neben  den  Dichtern  und 
Kirchenvätern  als  Autorität  für  die  Sprache  zu  citiren,  weil  er 
vom  heiligen  Geist  geschrieben  ist,  „welcher  mehr  weiss  als 
Donat"*). 

Smaragdus  ist  so  unwissend,  dass  er  die  beiden  Citate  des 
Donat  „Eunuchus  Comedia"  und  „Orestis  Tragedia"  für  die  Namen 
von  zwei  Schriftstellern  nimmt.  Vom  Griechischen  wissen  diese 
Leute  so  wenig,  dass  sie  nicht  die  gewöhnlichsten  Ausdrücke  zu 
erklären  verstehen  und  oft  ganz  überraschende  Etymologien  er- 
finden. „Poema"  soll  nach  Remigius  von  Auxerre  (9.  Jahrh.) 
„Positio"  und  „Emblema"  „Habundantia"  heissen^).  Von  den 
lächerlichen  Fragen,  die  man  aufwirft,  den  eingebildeten 
Schwierigkeiten,  den  sonderbaren  Auflösungen  kann  man  sich  gar 
keinen  Begrift'  machen.     Oft  wird  ein  Autor   an  Stelle  des  andern 


1)  Gramm,  lat.  ed.  Keil  V,  p.  5ü7  ff. 

2)  Gloss.  in  Vergilium  et  Sedulium,  Ms.  (9.  Jahrh.)  der  Bibliotbek 
von  Laon.  Vgl.  Catalogue  génér.  des  Mss.  des  bibl.  pubi,  des  départ. 
vol.  I,  p.  250. 

3)  „Si  vero  etiam  metra  requisieris,  non  sunt  tibi  uecessariae  gen- 
tilium  fabulae,  sed  habes  in  Christianitate  prudeutissimum  Pruden- 
tium  de  Mundi  exordio,  de  Martyribus,  de  Laudibus  Dei,  de  Patribus 
novi  et  veteris  Testamenti  dulcissime  modulantem."  Notker 
Balbulus,  De  iuterpretibus  divinar,  scripturar.  c.  7,  bei  Pez,  Thes. 
anecd.  I,  p.  9. 

4)  „In  bis  omnibus  Donatum  non  sequimur,  quia  fortiorem  in  Divinis 
Scripturis  auetoritatem  tenemus."  Smaragd,  bei  Thurot  a.  a.  0.  p.  81  ; 
„de  scala  et  scopa  et  quadriga  Donatum  et  eos  qui  semper  illa  dixerunt 
pluralia  non  sequimur,  quia  singularia  ea  ab  Spiritu  Sanato  cognovimus 
dictata."  Ebend. 

5)  Vgl.  Thurot,  a.  a.  0.  p.  65  ü.,  werthvoll  für  die  Keuntniss  der 
Grammatiker  des  Mittelalters. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  117 

citirt.  Wohiu  sich  der  Verstand  dieser  Leute  verirren  konnte,  sieht 
man  daraus^  wenn  sie  auch  die  Grammatik,  wie  oft  geschah,  mystisch 
erklärten  und  wenn  z.  B.  ein  Anonymus  des  9.  Jahrh.  bei  den 
drei  Personen  des  Verbums  an  die  Personen  der  göttlichen  Trinität^), 
oder  wie  Smaragdus  bei  den  acht  Kedetheilen  an  die  biblischen 
Zahlen  denkt  ^).  Wie  ernst  man  es  aber  mit  dem  Studium  der 
Orthogi-aphie  nahm,  geht  trotz  der  zahlreichen  Abhandlungen  über 
diesen  Stoff,  zur  Genüge  aus  den  vielen  Mauuscripten  hervor,  in 
denen  sich  die  vulgäre  Aussprache  des  Landes,  dem  der  Ab- 
schreiber angehörte,  erkennen  lässt'*'). 

Noch  schlimmer  ist  die  Verwirrung,  Willkür  und  Unwissen- 
heit, die  sich  in  den  auf  uns  gekommenen  Commentaren  der 
Schriftsteller  zeigt.  Auch  hier  kam  es  nur  auf  ein  hastiges 
Abkürzen,  Umgestalten  und  Literpoliren  an.  Wie  unter  den 
Grammatikern  Donat  und  unter  den  Dichtern  Virgil  die  erste 
Stelle  einnahm,  so  herrschte  in  der  Schule  unter  den  Auslegern 
Servius,  der  Trabant  des  grossen  Dichters.  Aber  die  Masse 
von  Noten,  die  seinen  Namen  tragen,  gehören  doch  zum 
grossen  Theil  erst  dem  Mittelalter  an,  das  bis  zum  15.  Jahrh. 
nicht  müde  ward,   seinen   Text   zu   interpoliren   und   zu  verderben. 


6)  Einige  Beispiele  bei  Keil,  De  quibusd.  grarum.  lat.  inf.  aet. 
p.  16. 

2)  „Personae  autem  verbis  accidunt  tres.  Quod  credo  divinitus  esse 
insiDiratum,  ut  quod  in  Trinitatis  fide  credimus  in  eloquiis  iuesse  videa- 
tur."  A  non.  Ms.  saec.  IX,  bei  Thurot,  a.  a.  0.  p.  65. 

3)  „Multi  plures  multi  vero  i^auciores  pai^tes  esse  dixerunt.  Modo 
autem  ceto  universalis  tenet  ecclesia;  quod  divinitus  inspiratum  esse 
uon  dubito.  Quia  enim  per  notitiam  latiuitatis  maxime  ad  cognitionem 
electi  veniuut  Trinitatis,  et  ea  duce  regia  gradientes  itinera  festinant  ad 
superam  tenduntque  beatitudinis  patriam,  necesse  fuit  ut  tali  oraculo 
latiuitatis  compleretur  oratio.  Octavus  etenim  numerus  frequenter  in 
divinis  Scripturis  sacratus  invenitur".  Smaragd,  bei  Thurot,  a.  a.  0. 
p.  65. 

4)  Vgl.  Schuchardt,  Der  Vokalismus  des  Vulgärlateins  I,  p.  17  ff. 
Bemerkenswerth  für  die  barbarische  locale  Aussprache  siud  einige  Ma- 
nuscripte  der  Seminarbibliothek  von  Autun,  die  aus  der  Zeit  vor  Carl 
dem  Grossen  herrühren  uud  mit  den  Inschriften  von  Autun  zu  ver- 
gleichen sind.  Vgl.  Cat.  gén.  des  Mss.  des  bibl.  pubi,  des  depart.  I,  n. 
20,  21,  23,  24,  27,  107.  —  Die  religiöse  Idee  macht  sich  sogar  bei  der 
Orthographie  geltend.  Hildemar  (9.  Jahrb.)  bemerkt  in  seinem  Commen- 
tare zu  der  „Regula  S.  Benedicti":  „sunt  multi  qui  distinguunt  volun- 
tatem  per  n  attinere  ad  Deum  et  volumtatem  per  m  ad  hominem, 
voluptatem  vero  per  p  ad  diabolum."  Vgl.  Schuchardt,  a.  a.  0. 
p.  4  f. 


113  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

Ausser  diesem  so  interpolirten  Servius,  Donat  und  Asper  ent- 
halten die  Bibliotheken  noch  viele  andere  mittelalterliche  Commen- 
tatoren  zu  Virgil  und  andern  Schriftstellern.  Die  grosse  Geduld  der 
heutigen  Philologen  hat  es  indessen  noch  nicht  vermocht  unter  dieser 
enormen  Masse  von  Erklärungen  das  heraus  zu  suchen,  was  möglicher- 
weise aus  alten  Quellen  geflossen  ist.  Die  von  Hagen  herausgegebenen 
Berner  Schollen  \)  machen  es  wahrscheinlich,  dass  sich  noch  manches 
Interessante  darunter  linden  Hesse.  Aber  in  all  diesen  Werken  des 
Mittelalters  zeigt  sich  eine  derartige  Unwissenheit,  dass  man  öfters 
verwundert  fragen  möchte,  ob  der  Aiitor  bei  Verstände  war.  Was 
soll  man  dazu  sagen  wenn  z.  B.  „efficiam"  mit  „effigiem,  ima- 
ginem"  erklärt  wird^),  oder  wenn  man  an  Stelle  des  „Quo  te,  Moeri, 
pedes"  liest  „Quot  Emori  pedes",  imd  darin  eine  Anspielung  auf 
die  vier  Füsse  eines  arabischen  Pferdes  mit  Namen  Emoris  ge- 
funden wird^)?  Ein  anderer  beginnt  seinen  Cominentar  zu  den 
Bucolica  mit  diesen  Worten:  „Zu  jener  Zeit,  als  Julius  Caesar 
der  Herrscher  des  Reiches  war,  herrschte  Brutus  Cassius  über  dio 
zwölf  Gaue  der  Etrusker;  es  brach  aber  ein  Krieg  aus  zwischen 
Caesar  und  Brutus  Cassius,  bei  dem  sich  Virgil  befand,  und  Brutus 
ward  besiegt.  Darauf  wurde  Julius  mit  einem  Schemel  er- 
schlagen"*)". In  einem  andern  Commentar,  den  ich  in  einer  Hand- 
schrift zu  Venedig  fand,  werden  die  auch  von  Servius  besprochenen 
drei  Stilarten  folgendermassen  unterschieden:  „Der  erhabene  Stil 
ist  der,  welcher  von  hohen  Personen  handelt,  von  Königen,  Fürsten, 
Baronen,  das  ist  der  Stil  der  Aeneis.  Der  mittlere  Stil  handelt 
\'>m  Miilelbtande  und  zeigt  sich  in  den  Georgica.  Der  niedrige 
Stil  handelt  von  den  Personen  untersten  Ranges  z,  B.  den  Hirten; 
dies  ist    der  Stil  der   Bucolica'')."     Ein    Commcntator  des  Juvenal 


1)  Scholia  bernensia  ad  Vergili  Georgica  atquc  Bucolica 
ed.  Herrn.  Hagen  Lips.  1867.  (Aus  den  Supplementen  zu  den  Jahrb.  i. 
rhil.)  vgl.  p.  696  tf. 

•2)  Ad.  Ecl.  Ili,  51,  Efficiam  „pro  effigiem,  imaginein"  Scholl.  Bern, 
p.  769. 

3)  Ad  Ecl.  IX,  1:  ,,alii  dicunt:  Emoris,  equus  velocissimua  Sara- 
cenorum,  quem  interdum  accipi  potest:  Quod  Emori  pedes,  id  est,  utinam 
quattuor  ut  nie  in  urbem  cito  veherent  ad  accusandum  Cladium"  (sicl) 
Seholl.  Bern.  p.  827. 

4)  Vgl.  Catal.  gén.  des  Mss.  des  bibl.  pubi,  des  dep.  I,  p.  428;  und 
II aase,  De  medii  aevi  studila  philologicis,  p.  7. 

Ò)  „Stilus  in  hoc  opere  est  sublimis ....  nam  est  raoncndum  quod 
triplex  est  stilus,  scilicet  sublimis,  mediocris,  et  infimus.  Sublimis  stilus 
est  qui  tractat  de  sublimibus  sive  maxirais  pcrsonis  et  rcgibus,  principi- 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  119 

strozt  förmlich  von  derartigen  Unsinnigkeiten*):  „Elenchus",  sagt 
'  er,  bedeutet  Titel  des  Buches,  und  kommt  vom  gi'iechischen  ,,elcos" 
(sie!),  welches  Sonne  heisst,  „weil  der  Titel  sein  Licht  wirft  auf  die 
ganze  Schrift,  so  wie  die  Sonne  die  ganze  Welt  erleuchtet;"  „Pro- 
vincia" hat  adverbiale  Bedeutung  und  heisst  „schnell",  ausserdem 
bedeutet  es  auch  „Vorsehung,  Gegend  und  Vaterland;"  „circenses" 
ist  abzuleiten  von  „circum  enses,  weil  auf  der  einen  Seite  der 
Strom  floss,  man  auf  der  andern  die  Schwerter  aufstellte  und  in 
der  Mitte  die  Wettläufe  stattfanden '^)".  Viele  Iri-thümer  erklären 
sich  aus  der  Thatsache,  dass  das  Latein  nicht  mehr  in  Gebrauch 
war  und  die  Volkssprache  die  üeberhand  bekam.  In  Ländern, 
wo  man  noch  lateinisch  oder  neulateinisch  sprach,  wäre  es  nicht 
möglich  gewesen,  wie  jener  wol  deutsche  Scholiast  des  Juvenal 
thut^i,  „umbella"  für  eine  Art  von  grünen  Steinen  zu  nehmen, 
oder  zu  sagen,  dass  „asparagus"  ein  kleiner  Fisch  oder  eine  Art 
von  Pilz  sei.  Dass  den  nicht  latemischen  Völkern  das  Latein 
sehr  sauer  wurde,  beweisst,  dass  man  sich  vom  7.  Jahrh.  an,  an 
Stelle  des  lateinischen  in  den  Glossen  des  keltischen  und  germa- 
nischen bediente;  für  die  lateinischen  traten  jetzt  keltische,  angel- 
sächsische und  althochdeutsche  ein,  die  eben  dadurch  für  die  Kennt- 
niss  jener  Sprachen  sehr  wichtig  sind  und  sich  bei  der  Bibel,  den 
kirchlichen  Schriftstellern,  sowie  klassischen  und  chi-istlichen  Dich- 
tern finden'^).  Unter  letzteren  ragt  besonders  Prudentius  hervor,  von 
dem  Kaumer  21  Handschriften  mit  althochdeutschen  Glossen  er- 
wähnt").   Unter  den  Klassikern  ist  natürlich   Virgil  der  au  Glossen 


bus  et  barouis,  et  hie  stilus  in  Aeneida  servatur;  mediocris  stilus  est 
qui  de  mediocribus  personis  tractat,  et  servatur  in  libro  Georgicorum; 
infimus  stilus  vel  humilis  ....  est  qui  tractat  de  iufimis  persouis,  et  quia 
pastores  sunt  inferiores  personae  hie  stilus  in  libro  Bucolicorum  servatur." 
Comment.  in  Verg.  Aen.;  cod.  (saec.  XV)  bibl.  S.  Marci,  lat.  class.  XIII, 
No.  61,  col.  6. 

1)  Bei  C.  Fr.  Hermann,  De  scholiorum  ad  luvenalcm  genere  de- 
teriore, Gotting.  1849,  p.  4  ff.  s.  Wagner,  De  lunio  Philargyrio  II,  11  ff. 

2)  Diese  Etymologie  von  „circenses"  findet  sich  auch  bei  Isidor, 
Orig.  XVIII,  27  und  bei  Cassiodor,  Variar.  IV,  51. 

3)  Vgl.  Hermann,  a.  a.  0.  p.  4. 

4)  Das  Buch  Aldhelm's,  ,,De  laude  virginitatis",  voll  von  Graecismen 
und  eigentlich  für  Frauen  geschiieben ,  ist  am  häufigsten  im  angelsäch- 
sischen glossirt,  dann  die  Evangelien,  Psalmen  und  Dichtungen  des  Pru- 
dentius, Prospei'us  und  Sedulius;  vgl.  Wright,  Biogr.  Brit.  lit. ;  Anglo- 
Saxon  period,  p.  51. 

5)  „Die  Einwirkung  des  Christenthums  auf  die  althochdeutsche 
Sprache."  p.  104  ff.,  p.  222. 


120  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

reichste,  es  gibt  sogar  alte  lateinisch-deutsche  Wörterbücher,  die 
uur  aus  Virgil-Glossen  fabricirt  sind^).  Ein  solches  Verfahren 
musste  schliesslich  zu  Uebersetzungen  führen.  Wir  übergehen  hier 
die  älteste  gothische  Bibelübersetzung,  welche  von  einem  beson- 
deren Standpunkt  betrachtet  sein  will.  Der  König  Alfred,  der 
Augustus  der  Angelsachsen,  übersetzte  im  9.  Jahrh.  den  Boethius 
und  „De  cura  pastorali"  des  Papstes  Gregor  ins  angelsächsische. 
Andere  mussten  ihm  aber  zu  diesem  Zwecke  den  Text  erst  in 
eine  einfachere  und  klarere  Gestalt  verwandeln.  An  den  Virgil 
hat  er  sich  nicht  gewagt,  obgleich  er  ihn  als  Vater  der  lateinischen 
Dichter  und  Schüler  des  Homer  betrachte'').  Der  Deutsche  Notker 
übersetzte  im  10.  Jahrh.  die  Bucolica,  Marcianus  C'apella,  Boethius 
und  andere  Autoren'^).  Mit  diesen  damaligen  Modeschriftstellern 
also  theilt  Virgil  die  Ehre  der  ersten  Uebersetzungen. 

Noch  weniger  als  von  der  Grammatik  ist  von  der  Rhetorik  des 
Mittelalters,  soweit  sie  sich  an  die  klassische  Rhetorik  anschliesst, 
zu  sagen.  Sie  wird  zwar  als  zweite  unter  den  sieben  Künsten  in 
Ehren  gehalten,  aber  hat  nichts  mehr  von  jenem  Glänze,  den  ihr 
selbst  in  der  Verfallzeit  noch  Ennodius,  Capella  u.  A.  liehen.  Auch 
hier  fehlt  es  nicht  an  Commentaren,  Umarbeitungen  und  Com- 
pendien  alter  Werke,  aber  sie  sind  nicht  so  zahlreich  wie  die 
gi-ammatischen  Schriften.  Von  der  alten  Rhetorik  ist  nur  noch  der 
Schematismus  übrig,  die  Terminologie,  einige  Definitionen  und  beson- 
ders jener  auf  die  Tropen  und  Figuren  bezügliche  Tlieil,  der  schon  im 


1)  Ueber  deutsche  Virgilglossen  vgl.  Wackernagel  in  Haupt's 
Zeitschrift  für  deiitsche  Alterth.  V,  327;  Steinmeyer,  De  glossis  qui- 
busdam  Vergilianis,  Berolini  1869,  und  desselben:  Die  deutschen  Virgil- 
glossen in  Haupt's  Zeitschr.  N.  F.  III,  1870,  p.  1  flf.  —  Einige  keltische 
Glossen  publicirt  von  Hagen,  Scholl.  Bern.  GDI. 

2)  „Libros  Boethii ....  planioribus  verbis  elucidavit  (episc.  Asscr) 
....  illis  diebus  labore  necessario,  hodie  ridiculo.  Sed  cnim  iussu  regis 
factum  est  ut  levius  ab  eodem  in  anglicum  transferreutur  sermoncm;" 
Wilh.  Malmesb.  p.  248. 

3)  ,,Theah  Omerus  se  goda  sceop,  the  mid  Crecmn  seiest  was;  se 
waes  Firgilies  lareow,  se  Firgilius  waes  mid  Laedenwarum  seiest."  Homer, 
der  gute  Dichter,  der  der  beste  unter  den  Griechen  war,  er  war  Virgils 
Lehrer,  dieser  Virgil  war  unter  den  Lateinern  der  beste.  Alfrcd's 
Boethius  ed.  Cardale  p.  327^  Wright,  Biogr.  brit.  lit.  ;  Anglo-sax. 
per.,  56. 

4)  Ueber  die  alten  Uebersetzungen  ins  althochdeutsche  s.  Räumer, 
Die  Einwirkung  des  Christenth.  etc.  cap.  2. 


Virgil  iu  der  Literatur  bis  auf  Dante.  121 

Altertbum  Elietorik  und  Grammatik  verband ^).  Die  christliche 
Redekunst  und  der  Stil  der  christlichen  Schriftsteller  hatten  ihre 
eigne  Natur  und  ganz  besondere  Hilfsquellen.  Wer  dies  erwägt, 
wird  sich  nicht  wundern,  wenn  die  Abhandlung  Alcuin's  über  die 
Rhetorik^)  mit  den  Definitionen  der  Klassen  der  Eede  beginnt, 
unmerklich  in  Bestimmungen  der  Dialektik  übergeht  und  ganz  mo- 
rahsch  mit  einer  Keihe  von  Definitionen  endet,  die  sich  auf  die 
Tugend  beziehen. 

Bei  den  Gedanken  und  Zwecken  der  christlichen  Schriftsteller 
war  der  Gebrauch  der  heiligen  Bücher  bei  der  Exemplification 
für  die  Rhetorik  gewiss  passender  als  für  die  Grammatik.  In  der 
That  findet  auch  bei  der  Rhetorik  ganz  dasselbe  Dui'cheinander- 
mischen  von  Autoren  wde  bei  der  Grammatik  statt  ^j.  Aber  trotz- 
dem ist  die  Anwendung  von  Beispielen  aus  den  heiligen  Schriften 
verhältnissmässig  nicht  so  gross,  wie  man  erwartet  und  wie  es 
manchem  Zeloten  erwünscht  gewesen  wäre.  Das  kam  daher, 
weil  das  grammatische  Studium  so  eng  mit  dem  rhetorischen 
zusammenhing  und  für  das  Profanstudium  überhaupt  die  eigent- 
liche Basis  war.  Abgesehen  von  dem  ganzen  alten  Apparate  der 
Terminologie,  der  Definitionen,  Eintheilungen  u.  s.  w.  musste  schon 
die  Autorität  der  Alten  gewahrt  bleiben,  weil  man  einerseits 
immer  noch  einiges  Interesse  für  diese  Studien  hatte,  anderer- 
seits es  aber  au  Energie  fehlte,  dieselben  von  Grund  aus  zu  re- 
formiren*). 


1)  Sie  ist  ein  Theil  der  „scientia  sermocinalis",  welche  das  ganze 
Trivium,  also  Logik,  Rhetorik  und  Grammatik  umfasst.  Ueber  die  Be- 
ziehungen der  Grammatik  zur  Rhetorik  im  Mittelalter,  besonders  zur 
Zeit  der  Scholastik,  vgl  Thurot,  a.  a.  0.  p.  470  ff. 

2)  ,,Disputatio  de  rhetorica  et  de  virtutibus,  sapientissimi  regis  Ka- 
roli  et  Alcuini  Magistri" ;  wiederabgedruckt  bei  Halm  in  den  Rhetores  la- 
tini minores  p.  5 2 3  ff. 

3)  „Cognoscite  ergo,  magistri  saecularium  litterarum,  hiuc  (ex  Scrip- 
tura  scilicet)  Schemata,  hinc  diversi  generis  argumenta,  hiuc  definitiones, 
hinc  disciplinarum  omnium  profluxisse  doctrinas,  quando  in  bis  litteris 
posita  cognoscitis,  quae  ante  scholas  vestras  longe  prius  dieta  fuisse  sen- 
titis.''  De  schematib.  et  tropis  apud  Cassiodor.  (Introd.),  in  Cassio  dori 
Opp.  (Migne)  n,  1270.  Vgl.  auch  die  oben  Seite  75.  citirte  Anmerkung 
Beda's. 

4)  In  einem  wol  aus  Gallen  herrührenden  Tractate  über  die  Rhetorik 
(in  einem  Codex  des  11.  Jahrh.)  heisst  es  sehr  bezeichnend  für  die  trau- 
rigen Umstände  in  denen  sich  jenes  Studium  im  Mittelalter  befand:  ,,01im 
disparuit,  cuius  facies  depingenda  est,  et  quae  nostram  excedit  memoriam, 
eam  qualis  erat  formare  difficile  est,    quia   multi  dies  sunt  ex  quo  de- 


122  Viigil  in  der  Liteiatuf  bis  auf  Dante. 

Virgil  behielt  auch  iu  der  Rhetorik  jetzt  noch  sein  altes  An- 
sehn, das  sich  von  den  alten  in  den  Schulen  gelesenen  Schrift- 
stellern herschrieb,  wenn  anch  das  Uebergewicht  Cicero's  weniger 
(ielegenheit  gab,  den  Dichter  in  den  Rhetorschnlen  zu  citireu.  Bei 
den  engen  Beziehungen  jedoch  zwischen  Grammatik  und  Rhetorik, 
die  von  demselben  Lehrer  vorgetragen  wurden,  musste  sein  Buch 
natürlich  auch  für  die  Rhetorik  höchst  wichtig  sein.  Gerbert  hielt 
wie  die  Rhetoren  der  Yerfallzeit  das  Studium  der  Dichter  Seitens 
der  Rhetoren  zum  Zwecke  des  guten  Ausdrucks  für  durcho.us  nöthig 
und  führte  seine  Schüler  in  die  Rhetorik  ein,  indem  er  ihnen 
N'irgil,  Statins,  Terenz,  Juvenal,  Persius,  Horaz  und  Lucan  erklärte'). 
In  einigen  Handschriften  findet  man  den  Theil  der  Schrift  des 
Maoroliius,  der  sich  auf  die  rhetorischen  Vorzüge  Virgils  bezieht, 
neben  der  Biographie  des  Dichters,  die  man  dem  Donai  zu- 
schreibt^). Jener  Abschnitt,  der  gleichsam  ein  Compendium  der 
Rhetorik  ist,  muss  im  Mittelalter  also  viel  benutzt  worden  sein, 
und  auf  ihn  bezieht  man  auch  einige  merkwürdige  Worte  über  Virgil, 
als  einen  Dichter,  der  im  Kleinen  die  Summe  der  Rhetorik  vereinige, 
in  dem  „fior  di  retorica"  des  Fra  Guidotti^). 

sinit  esse.  Oportcret  eaui  immortalem  esse,  cuius  amore  langueni  ita 
homines,  ut  abstractam  tam  diu  et  mundo  mortuam  resurgere  velint. 
Ubi  Cato,  ubi  Cicero,  domestici  eins?  nam  si  illi  redireut  ab  inferis,  haec 
illis  ad  usum  scrmouis  famularetur,  sine  qua  nihil  eis  certuni  constabat, 
qiiod  ventilandum  esset  pro  rostris.  (,!uid  antom  est  quod  in  suam  non 
rodigatur  originem?  Naturalis  cloquontia  viguit,  quousque  oi  per  doctri- 
nam  filia  Ruccessit  artificialis ,  quac  deinde  rhetorica  dieta  est.  Haec 
postquani  autiquitate  temporis  extincta  est,  illa  iterum  revixit;  unde 
hodieque  plurimos  cernimus  qui  in  causis  solo  naturali  instiiictu  ita  ser- 
mone callent,  ut  quae  velint  quibuslibet  facile  suadeant,  nee  tarnen  re- 
gulam  doctrinae  uUam  requirant."  Herausgegeben  von  Docen  in  den 
hJeiträgcn  zur  Gesch.  und  Literatur  des  Aretin,  VII,  283  ff.  Vgl.  den  von 
Wackernagel,  Zeitschr.  f.  deutsch.  Alterth.  IV,  p.  463  —  478  publi- 
cirten  Text  der  Öangaller  Rhetorik. 

1)  ,,Cum  ad  rhetoricam  suos  provehere  vellet,  id  sibi  suspectum  erat, 
quod  sine  locutionum  modis,  qui  in  poetis  discendi  sunt,  ad  oratoriam 
ai'tem  pervenir!  non  queat.  Poetas  igitur  adhibuit,  (piibus  assuescendos 
arbitrabatur.  Legit  itaque  ac  docuit  Marouem  et  Statiuni  Terentium- 
quc  poetas,  luvenalem  quoque  ac  Pei'sium  Horatiumque  satiricos, 
Lucanum  etiam  historiographum.  Quibus  assuefactos  locutionumquc 
niodis  compositos,  ad  rhetoricam  transduxit."  R  i  c  h  e  r.  Biet.  lib. 
III,  47. 

2)  So  in  einem  Ms.  der  Nationalbibliothek  zu  Florenz,  geschrieben 
von  Pier  Cennini. 

3)  „  ....  e  come  conteremo  per  lo  innanzi  del  versificato  che  fece  il 
grande  poeta  Virgilio  nel  tempo  che  fu  Attaviano  imperadore  Augusto, 


Virgil  in  dfx  Litrratnr  bis  auf  Dante.  123 

VirgilÌ!?che  Reminiscenzen  sind  bei  allen  Prosaikern  des  Mittel- 
alters häufig,  bei  Orosius  im  5.*)  wie  bei  Liutprant  im  10.  Jahrh.^). 
Aber  die  Rhetorik  hatte  besonders  im  Anfange  des  Mittelalters 
einen  grossen  Einfluss  auf  die  Poesie  und  rief  Schöpfungen  hervor, 
die  sich  speciell  auf  Virgil  beziehen;  diese  müssen  wir  nunmehr 
betrachten. 

Zehntes  Capitel. 

Was  wir  von  dem  Leben  Virgils  wissen,  ist  durch  die  Gram- 
matiker und  Rhetoren  auf  uns  gekommen  und  findet  sich  besonders 
in  den  für  die  Schulen  bearbeiteten  Virgilcommentaren  ;  denn  es 
war  ein  alter  Gebrauch,  der  Erklärung  der  Schriftsteller  in  den 
Schulen  einige  Notizen  über  ihr  Leben  vorauszuschicken.  Was  in 
diesen  Biographien  noch  aus  der  Zeit  der  ersten  Kaiserherrschaft 
stammt,  hat  jedoch  für  unseni  Zweck  weit  weniger  Werth  als  das,  was 
aus  der  Zeit  des  Verfalles  und  des  Mittelalters  herrührt.  Wir 
hielten  es  deshalb  für  gut  die  biographischen  Notizen  über 
Virgil  erst  hier  zu  besprechen  und  das  Ganze  der  Ueberlieferung 
vom  Standpunkte  des  Mittelalters  aus  zu  betrachten,  nachdem  wir 
die  Wandlungen  seines  Ruhmes  im  Kreise  der  Rhetorik  und  Gram- 
matik durch  mehrere  Epochen  hin  begleitet  haben. 

Ln  Verhältniss  zu  dem  Range,  den  Virgil  in  der  Literatur 
und  Schule  einnahm,  ist  über  sein  Leben  unter  allen  lateinischen 
Dichtern  das  Meiste  geschrieben  worden.  Eine  Menge  authentischer 
Nachrichten  v/erfen  ein  helles  Licht  auf  seine  historische  Persön- 
lichkeit, was  um  so  beraerkeuswerther  ist,  als  jene  nicht  wie  bei  Ovid 
aus  den  Werken  des  Dichters  selbst,  sondern  aus  biographischen  Docu- 
menten,  die  sich  zugleich  mit  dem  Ruhme  des  Dichters  verbreitet 
haben,  geschöpft  sind.  In  seinen  Werken  hat  Virgil  selten  Ge- 
legenheit, von  sich  selbst  zu  sprechen.  Thut  er  es  doch  dann 
und  wann,    so    geschieht    dies,    wie    in  den  Bucolica,   nur  auf  in- 


figliuolo  adottivo  di  Giulio  Cesare;  nell'  imperio  della  sua  dignitadc 
nacque  Cristo  glorioso  salvatoi-e  del  mondo:  il  quale  Virgilio  si  trasse 
tutto  il  costrutto  dello  intendimento  della  rettorica,  e  più  fece  chiara 
dimostranza,  sicché  per  lui  possiamo  dire  che  l'abbiamo,  e  conoscere  la 
via  della  ragione  e  la  etimologia  dell'  arte  di  rettorica;  imperocché 
trasse  il  grande  fascio  in  piccolo  volume  e  recollo  in  abbreviamento," 
Frate  Guidotto,  Fiore  di  rettorica,  bei  Nannucci,  Manuale  etc. 
IT,  118. 

1)  Vgl.  Hörne r,  de  Oros.  vii  p.  117  f. 

2)  Vgl.  Köpke,  Vit.  Liudprand.  p.   138. 


124  Virgil  iu  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

directe  uud  verborgene  Weise,  und  ohne  die  betreffenden  Bemer- 
kungen der  Coinmentatoren  gelänge  es  uns  kaum  die  Anspielungen 
zu  entdecken.  Natürlich  haben  schon  die  Zeitgenossen  über  einen 
Mann,  der  iu  so  exceptioneller  Weise  die  Aufmerksamkeit  auf  sich 
zog,  gar  viel  geschrieben^),  z.  B.  seine  Freunde  Varius  und  Melissus^). 
Auch  Andere,  die  nur  aus  den  Aeusserungen  solcher,  die  ihm 
nahe  gestanden,  schöpfen  konnten,  haben  Specialschriften  über 
sein  Leben  hinterlassen,  ^vie  Asconius  Pedianus,  der  sein  Buch 
gegen  die  Neider  des  Dichters  schrieb,  zu  einer  Zeit  als  er  noch 
das  giltige  Zeugniss  von  Zeitgenossen  über  Virgils  Leben  und 
Charakter  vorbringen  konnte.  Noch  in  den  letzten  Regierungs- 
jahreu  des  Tiberius  hatte  der  neunzigjährige  Seneca,  dem  die  aus- 
gezeichnetsten Männer  der  Augusteischen  Zeit  bekannt  waren,  von 
Virgil  erzählt^);  und  w^ie  es  immer  bei  so  berühmten  Persönlich- 
keiten zu  sein  pflegt,  mussten  sich  auch  hier  mündlich  über  den 
Dichter  viele  wahre  und  falsche  Anecdoten  fortpflanzen.  Die  münd- 
liche üeberlieferung  können  wir  bis  ins  2.  Jahrh.  verfolgen'^). 
Eben  in  dieser  Zeit  verfasste  Sueton  seine  gelehrte  historisch-lite- 
rarische Compilation  „De  viris  illustribus",  worunter  sich  auch  ein 
Abriss  über  das  Leben  Virgils  fand.  Die  Grammatiker  bedien- 
ten sich  derselben  später,  wenn  sie  für  ihre  Commentare  bio- 
graphische Notizen  zusammenstellen  wollten.  Heute  sind  nur  noch 
Fragmente  davon  erhalten;  aber  auch  das  Meiste,  was  wir  über 
Virgils  Leben  wissen,  besonders  aus  der  grössten  Biographie  Vir- 
gils,   welche    den   Namen    des    Aelius    Donatus^)   trägt,    (weil   sie 


1)  ,,  Amici  familiaresque  P.  Vergili  in  iis  quae  de  iugenio  moribusque 
eins  memoriae  tradiderunt."  Gell.  XVII,  10. 

2)  Vgl.  Quintilian  X,  3,  8;  Donat.  Vergib  Vit.  p.  58,  5;  Kibbeck, 
Prolegg.  p.  89. 

3)  ,,Et  Seneca  tradidit,  lulium  Montanum  poetam  solitum  dicere 
iuvolaturum  se  Vcrgilio  quaedam  etc."  Donat.  Vit.  Verg.  p.  61.  Unter 
dem,  was  von  Seneca  dem  älteren  auf  uns  gekommen  ist,  findet  sich 
die  Stelle  nicht. 

4)  ,,Nisus  grammaticus  audisse  se  a  senioribus  aiebat  etc."  Donat, 
Vit.  Verg.  p.  64. 

5)  Uebcr  die  Schriften,  die  den  Namen  des  Donat  tragen,  herrscht 
unter  den  Gelehrten  viel  Verwirrung.  Die  grössere  erhaltene  Biographie 
gehörte  zu  dem  heute  verlorenen  Commentare  des  Aelius  Claudius 
Donatus  und  nicht  zu  dem  des  Tiberius  Claudius  Donatus, 
wie  Fabricius,  Gräfenhan  (Gesch.  d.  klass.  Philos.  im  Alterth.  IV,  p.  317) 
u.  a.  meinten;  Reiff erscheid  a.  a.  0.  p.  400  f.  hat  dies  klar  nachge- 
wiesen und  trotzdem  findet  sich  der  Irrthum  wieder  bei  Teuf  fei  (Gesch. 
d.  röm.  Litt.  p.  898). 


Virgil  in  der  Literatur  bÌ8  auf  Dante.  125 

nämlich    dessen   im  4.   Jahrli.  verfasstem  Virgilcommeutar   voraus- 
ging) weist  auf  dieselbe  Quelle  zurück^). 

Der  Hauptbestand  der  uns  erhaltenen  Notizen  ist  kein  Special- 
wer-k  über  das  Leben  des  Dichters,  sondern  gleichsam  der  com- 
pendiose Artikel  eines  historisch-literarischen  Repertoriums.  Douat 
hat  den  Sueton  wörtlich  abgeschrieben,  und  in  dem  echten  Theil 
der  Biographie,  wie  er  sich  in  den  ältesten  imd  besten  Handschriften 
findet,  erkennt  man  deutlich  den  trocknen,  kalten  Stil  Suetons 
und  dessen  Art,  Anecdoten  ohne  das  Bindemittel  eigener  Reflexion 
aneinander  zu  reihen.  Obgleich  man  fühlt,  dass  es  sich  um  einen 
ganz  besonders  verehrten  imd  berühmten  Dichter  handelt,  ist  die 
Darstellung  der  Biographie  doch  rein  thatsächlich  und  realistisch; 
von  jener  Wärme,  mit  der  man  sonst  über  Virgil  zu  reden 
pflegte,  zeigt  sich  nichts.  Genau  denselben  Ton  schlagen  auch 
die  Kaiserbiographien  Suetons  an.  Auch  jener  kleine,  sicherlich  echte 


1)  Ich  citire  die  BiograiDhie  nach  der  Ausgabe  von  Reif  f  er  scheid, 
der  mit  Recht  den  echten  Theil  derselben  dem  Sueton  zugeschrieben 
hat:  „Suetoni  praeter  Caesarum  libros  reliquiae";  Lips.  18G0  p.  54  ft". 
Unentbehrlich  für  Kritik  und  Geschichte  dieser  alten  Biograi:»hie  ist  die 
Ausgabe  von  Hagen  (Scholia  Bernensia  ad  Vergil.  Bucol.  et  Georg. 
p.  734  &.,  in  der  auch  der  auf  die  bucolische  Poesie  bezügliche  Theil, 
der  unmittelbar  auf  die  Biographie  des  Donat  folgt,  hinzugefügt  wird. 
Die  „Fl.  (lies:  Ael.)  Donatus  L.  Munatio  suo  salutem"  übersehriebeno 
Vorrede  Donats  vor  der  Biographie  hat  Wölfflin,  Philologus  18GÜ, 
p.  154  herausgegeben.  Wölfflin,  Baehr  p.  3G7  und  andere  hielten  den 
Text  irrthümlich  für  eine  Vorrede  zur  Biographie,  was,  wie  Baehr  be- 
merkt, wegen  der  Worte  „de  multis  pauca  decerpsi"  mit  der  Ansicht, 
dass  dies  alles  Sueton  entlehnt  sei,  nicht  stimmen  würde,  aber  es  genügt, 
jene  Schrift  aufmerksam  zu  lesen,  um  zu  bemerken,  dass  sie  uicht  eine 
Vorrede  zur  Biographie  allein,  sondern  zum  ganzen  Commentare  bildet. 
Auf  die  Erläuterungen  des  Commentars  bezieht  sich  doch  gewiss  das, 
was  Donat  von  seiner  eigenen  Ansicht  sagt,  die  er  der  Meinung  der  An- 
dern beifügte  (admixto  sensu  nostro),  und  ebenso  kann  man  auch  nur 
die  Schlussworte  darauf  beziehen:  „si  euim  haec  grammatico,  ut  aiebas, 
rudi  ac  nuper  exorto  viam  monstrant  ac  manum  porrigunt,  satis  fecimus 
iussis."  —  Aus  dieser  Vorrede  wird  ersichtlich,  dass  das  ganze  Werk 
Donats,  trotz  seiner  eigenen  Hinzufügungen  wesentlich  Compilation  war. 
Wie  Macrobius  referirt  er  genau  die  Worte  der  Schriftsteller  ohne  ihren 
Namen  zu  nennen  :  „Agnosces  igitur  saepe  in  hoc  munere  conlatitio 
sinceram  vocem  priscae  auctoritatis.  Cum  enim  beeret  usquequaque 
nostra  interponere,  maluimus  optima  fide,  quorum  res  fuerat  eorum  etiam 
verba  servare."  Das  findet  seine  Anwendung  auch  in  der  dem  Sueton 
entlehnten  Virgilbiographie.  Ueber  die  Hdss.  und  den  Text  der  Biographie 
vgl.  Hagen,  a.  a.  0.  p.  676  ff.  683  ff. 


12C  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

Tlieil  der  Biographie,  der  die  wunderbaren  Vorzeichen  von  des 
J)ichters  zukünftiger  Grösse  erwähnt,  geht  wol  auf  Sueton  zurück, 
der  dabei  die  mündliche  Ueberlieferung  oder  Aufzeichnungen  älterer 
Schriftsteller  benutzt  haben  wii-d;  dahin  gehört  z.  B.  der  Ti-auni 
der  Mutter,  dass  das  Kind  nicht  schrie,  als  es  geboren  ward,  sowie 
die  Erzählung  von  dem  bei  seiner  Geburt  eingeptianzten  Pappel- 
zweige, der  schnell  eine  grosse  Höhe  erreichte  ^).  Anecdoten  solcher 
Art,  wie  sie  Sueton  in  allen  Kaiserbiographien  vorbringt,  sind 
eigentlich  im  ganzen  Alterthume  zu  gewöhnlich,  als  dass  man  sie 
als  besonders  charakteristisch  für  den  Ruhm  des  Dichters  ansehen 
könnte;  dennoch  darf  man  sie  nicht  mit  den  fabelhaften  Erzäh- 
lungen des  Mittelalters  verwechseln.  Vielleicht  ist  nicht  alles,  was 
Sueton  über  Virgil  geschrieben  hat,  von  Donat  wiedergegeben; 
jedenfalls  fand  dieser  Theil  des  Commentars  mehr  Beifall  als  alles 
Uebrige  und  erhielt  sich  als  ein  besonderes  Werk.  Man  las  ihn 
(las  ganze  Mittelalter  hindurch  und  benutzte  ihn  zu  zahlreichen 
kleinen  Biographien,  die  sich  neben  den  Commentaren  in  den  Vir- 
gil -  Handschriften  finden;  und  man  kann  geradezu  sagen,  dass  er 
in  der  literarischen  Ueberlieferung  die  Vorstellung  von  der  histo- 
rischen Persönlichkeit  des  Dichters  am  Leben  erhalten  hat'). 


1)  Interessant  und  nicht  unglaublich  ist  das  jener  Notiz  beigefügte 
Factum:  „quae  arbor  Vergili  ex  eo  dieta  atque  etiam  consecrata  est, 
summa  gravidarum  ac  fetarum  religione  et  suscipientium  ibi  et  rsolven- 
tium  vota."  Donat.   Vit.  Verg.  p.  55. 

2)  No.  158  der  Authologia  latina  (R.)  ist  ein  Epigramm  als  Unter- 
sclirift  unter  einem  Bilde  des  Dichters,  es  ist  aber  merkwürdig,  dass  ima 
bei  dem  Ruhme  des  Dichters  kein  einziges  ganz  treues  Abbild  desselben 
geblieben  ist.  Seine  Büsten  waren  in  öfleutlichen  wie  Privatbibliotheken 
(vgl.  Sueton  IV  34)  bis  in  die  Verfallzeit  hinein  sehr  gewöhnlich;  von 
einer  auf  ein  Abbild  Virgils  sich  beziehenden  Inschrift  des  5.  Jahrb. 
weiter  unten.  Bis  in  die  Zeiten  der  Renaissance  hinein  dauerte  die  Sitte 
der  Alten,  Virgilhandschriften  mit  dem  Bildnisse  des  Dichters  zu 
schmücken  (vgl.  Martial  XIV  186).  Das  älteste  ist  im  Codex  Vatieanus 
(4.  oder  5.  .Tahrh.)  erhalten.  Aber  bei  diesen  Miniaturen  machte  sich  sehr 
bald  die  Willkür  geltend,  irgend  einen  Schriftsteller  abzubilden;  auch 
die  Miniatur  des  Vaticanus  bietet  einen  sehr  wenig  bezeichnenden  Ty- 
pus dar.  Im  Mittelalter  bekümmerte  man  sich  noch  viel  weniger  um 
Treue  des  Portraits,  und  die  zahlreichen  Bilder  des  Dichters  in  den 
Handschriften  sind  ganz  verschieden,  willkürlich  und  phantastisch.  Bis- 
weilen trägt  der  Dichter  einen  langen  Bart,  manchmal  keinen,  öfters 
liat  er  dichtes  langes  Haupthaar,  dann  ist  er  wieder  kahlköpfig,  trägt 
eine  phiygische  Mütze  u.  s.  w.  Ich  habe  unter  den  vielen,  die  ich  ge- 
sehen habe,  auch  keine  einzige  ideale  Uebereinstiramung  finden  können. 
Die    verschiedenen   Handschriften    des    Dante  mit  dem  Bildnisse    dieses 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  127 

Im  Allgemeinen  findet  man  in  keiner  prosaischen  Biographie 
jene  Begeisterung,  mit  der  wir  sonst  von  Virgil  zu  hören  gewohnt 
sind.  Sie  haben  wol  alle  das  Bestreben,  in  dem  Dichter  etwas 
besonders  Hen'orragendes  zu  erkennen,  sind  jedoch  im  ganzen 
sehr  einfach  und  ohne  subjective  und  rhetorische  Färbung.  Das 
kam  daher,  weil  sie  keine  eigentlichen  Biograi^hien ,  sondern  nur 
Notizensammlungen  sind  mit  dem  Zwecke,  beim  Unterricht  als 
Einleitung  zu  den  Commentaren  zu  dienen,  deren  schwuuglosen 
Ton  sie  daher  ebenfalls  haben.  Donat  hatte  gewiss  keine  Ur- 
sache, als  er  sein  Buch  für  die  Schule  schrieb,  die  trockenen 
Nachrichten  Suetons  durch  die  eigene  Begeisterung  aufzufrischen, 
noch  weniger  aber  thaten  es  die,  welche  Auszüge  aus  dem  Donat 
gemacht  haben.  Dasselbe  gilt  auch  von  den  kurzen  biographischen 
Notizen,  welche  den  Commentaren  des  Probus ^J  und  Servius") 
vorausgehen.  Wenn  sich  nun  aber  die  hyperbolische  Begeisterung, 
die  sonst  die  ganze  Literatur  für  Virgil  kund  gab,  nicht  auch  in 
jenen  schmucklosen  Compilationen  zeigte,  so  war  sie  gleichsam 
das  Ferment,  in  Folge  dessen  man  zu  den  historischen  Notizen 
eine  Menge  von  irrthümlichen,  erfundenen  oder  verdrehten  That- 
sachen    hinzufügte,    von    denen    sich    einige   auch  in  den  Text  der 


Dichters,  zeigen  ja  auch,  wie  wenig  man  sich  an  die  Aehnlichkeit  des 
Portraits  kehrte,  obgleich  doch  Dante  der  Zeit  nach  den  Malern  viel 
näher  stand.  Zwei  Miniaturen  mit  dem  Bildnisse  Virgils,  unter  denen 
eine  von  Simone  Memmi  herrührt,  hat  Mai  herausgegeben:  „Virgili! 
Maronis  interpret.  vet."  Medici.  1818.  Die  Miniatur  des  Vaticanus  ist 
öfter  reproducirt  worden.  Man  vgl.  Visconti,  Icou.  rom.  p.  385  fl'. 
sowie  über  die  Büste  von  Man  tua  Labus,  Museo  di  Mantova  I,  p.  5  ff'.; 
Carli,  dissert.  sopra  un  antico  ritratto  di  Virgilio,  Mantova  1797. 
Mai  nardi  Dissert.  sopra  il  Busto  di  Virgilo  della  R.  Accad.  di  Man- 
tova. Mani  1833;  Raoul  Rochette  im  Journal  des  Savants,  1834 
p.  68  ff.  Beschreibung  Roms^  11,2,  p.  345  f.;  Müller,  Handb.  d.  Archäol., 
p.  734. 

1)  Ueber  jene  kurze  auch  von  Reifferscheid  (Suet.  reliq.  p.  52  f.) 
publicirte  Biographie  vgl.  Steup,  De  Probis  grammaticis,  Jenae  1871, 
p.  120  ff".  Er  meint,  dass  sie  zu  einem  Commentare  des  jüngeren  Valerius 
Probus  gehört  habe. 

2)  Reifferscheid  (Suet.  rei.  p.  398  f.)  glaubt,  dass  die  den  Namen 
des  Servius  tragende  Biographie  nicht  diesem  angehöre,  und  dass  dessen 
eigne,  die  er  selbst  in  der  Einleitung  zu  den  Bucolica  citirt,  verloren 
sei.  Gegen  diese,  von  Bahr  (R.  L.  p.  36G)  und  Teuffei  (R.  L.  p.  389) 
acceptirte  Ansicht  hat  Hagen  (Schob  Bern.  p.  G82)  gute  Gründe  vorge- 
bracht. Er  bemerkt,  dass  sich  jene  Biograi^hie  des  Servius  auch  in  einer 
Berner  Hds.  aus  dem  8  —  9.  Jahrhundert  findet. 


128  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

Biographie  eiugescblicheu  haben.  Das  ]\Iittelalter  drückte  auch 
dieser  seinen  besonderen  Stempel  auf,  und  eben  aus  diesem 
Gesichtspunkte  betrachtet,  gewinnt  sie  für  uns  ein  besonderes  In- 
teresse ^). 

Jenes  Eindringen  falscher  Elemente  in  die  Biographie  geschah 
ireilich  nicht  so,  wie  sich  die  Meisten  vorstellen,  wenn  sie  an  die 
Sage  vom  Zauberer  Virgil  denken  und  meinen,  dass  die  Inter- 
polationen in  den  Biographien  Virgils  davon  herrühren.  Dieser  Irr- 
thum  beruht  darauf,  dass  man  zwei  von  einander  ganz  verschie- 
dene Dinge,  näiiüich  die  Volkssagen  und  die  literarischen  fabelhaften 
Ueberliefemugeu  über  Virgil  miteinander  vermischt  hat.     Insofern 


1)  Die  den  Namen  des  Donat  tragende  ]3iograi)hie  hat  in  einigen 
Handschriften  von  denen  die  ältesten  nicht  über  das  14.  Jahrh.  hinaus 
reichen,  einen  Zuwachs  von  thörichten  und  nichts  weniger  als  authen- 
tischen Notizen  erhalten.  Ohne  diese  Interpolationen  kommt  sie  in 
Handschriften  vor,  die  bis  ins  9.  und  10.  Jahrh.  zurückreichen.  Sprache 
uud  Stil  dieser  Einschaltungen  machen  unglaublich  dass  sie  Donat  dem 
Texte  des  Sueton  hinzugefügt  habe.  (Vgl.  Hagen,  Scholl.  Bern  p.  G80; 
Roth  in  der  Germania  IV  p.  28.5).  Trotzdem  irrt  Roth  wenn  er  meint 
dass  sie  einem  neapolitanischen  Gelehrten  aus  der  ersten  Hälfte  des  12. 
Jahrh.  angehören,  denn  jene  Interpolationen  in  den  Handschriften  können, 
obgleich  sie  unter  einander  nicht  verschieden  sind,  nicht  das  Product 
eines  Einzigen  auch  nicht  aus  einer  Zeit  sein.  Der  Inhalt  einiger  von 
ihnen  findet  sich  bei  Servius,  Cassiodor  und  Aklhelm  wieder.  Der 
gelehrte  Neapolitaner  müsste  also  ein  für  seine  Zeit  ganz  überraschendes 
Werk  gelehrten  Fleisses  unternommen  haben.  Ausserdem  hat  Koth  niclit 
bedacht,  dass,  so  unbedeutend  jene  Interpolationen  sind,  sie  doch  im 
Ganzen  weit  weniger  roh  sind,  als  man  nach  der  Bildung  eines  Süd- 
italieners im  12.  Jahrh.  erwarten  konnte.  Man  erkennt  in  einigen  von 
ihnen  ganz  deutlich  Anecdoten,  welche  schon  zur  Verfallzeit  in  den 
Schulen  der  Grammatiker  bekannt  gewesen  sein  müssen.  Es  wäre  ganz 
unglaublich,  dass  sich  nicht  in  die  immer  von  Neuem  copirten,  zusammmen- 
gezogenen  und  ausgeschriebenen  Biographien  des  Dichters,  derartige 
Anecdoten  eingedrängt  haben  sollten.  Ich  zweifle  nicht  im  Geringsten 
daran,  dass  Aldhelm  und  Cassiodor  schon  in  einer  Biographie  Virgils  die 
Anecdoten,  auf  die  sie  wie  auf  bekannte  anspielen,  und  die  sich  auch 
in  die  Biographie  des  Donat  oder  Sueton  eingeschlichen  haben,  gelesen 
haben  werden.  Möglich,  dass  irgend  ein  Grammatiker  zu  der  Biographie 
des  Sueton,  die  Donat  nicht  veränderte,  bei  seiner  Benutzung,  das,  was 
man  sich  in  der  Schule  erzählte,  einschaltete.  Jedenfalls  glaube  ich, 
dass  die  Interpolationen  auch  in  den  jüngeren  Handschriften  einen  ziem- 
lich alten  Kern  enthalten,  der  sich  schon  in  einer  Biographie  vor  dem 
G.  Jahrh.  fand.  Er  ist  dann  durch  das  Mittelalter  hindurch  vergrössert 
worden,  bis  im  12.  Jahrh.  eine  Anecdote  hinzukam,  von  der  weiter  unten 
die  Rede  sein  wird. 


Virgil  in  der  läteratur  bis  auf  Dante.  12{> 

beide  aus  eiuer  übertriebenen  Vorstellung  von  der  Weisheit  des 
Dichters  hervorgingen,  ist  dafür  freilich  auch  eine  gemeinsame  Basis 
anzimehmen;  aber  eben  jene  Vorstellmig  ist  unter  dem  Volke 
von  viel  gröberer  Natur  als  in  der  Literatur,  und  vollends  ver- 
schieden ist  die  Art  und  Weise,  in  der  sich  auf  beiden  Gebieten 
die  „Weisheit  Virgils"  geltend  macht.  Der  Virgil  der  Volkssage 
verliert  ganz  den  Chai-akter  des  Dichters,  den  er  in  der  literari- 
schen Ueberlieferung  immer  festhält.  Die  letztere  erklärt  sich  wol 
hinreichend  durch  die  historischen  Erscheinungen,  die  wir  bis  jetzt 
untersucht  haben,  aber  nicht  so  der  Ursprung  der  Volkslegende, 
die  ganz  specielle  Ursachen  hat.  Natürlich  mussten  sich  beide 
Richtungen  schliesslich  begegnen,  aber  die  Volkslegende  über- 
schreitet vor  dem  12.  Jahrb.  zunächst  nicht  die  engen  Grenzen 
ihrer  Heimath,  um  sich  in  der  Literatur  auszubreiten.  Ihr  Einfluss 
auf  die  Biographien  des  Dichters  findet  sehr  spät  statt  und  ist 
auch  dann  nur  schwach  und  von  sehr  geringer  Ausdehnung.  In 
die  Biographie  des  Donat  ist  in  Handschriften  des  9.,  10.,  wie  in 
Ausgaben  des  15.  Jahrb.  eine  einzige  besonders  fabelhafte  Anec- 
dote  eingedrungen,  von  der  wir  später  reden  werden.  Eine  von 
Hagen  ^)  aus  einer  Berner  Handschrift  des  9.  Jahrh.  publicirte  Bio- 
graphie enthält  zwar  manchen  naiven  Zug,  aber  nichts,  das  an  den 
Zauberer  Virgil  erinnerte  wie  in  den  nach  dem  13.  Jahrh.  verfassten 
Biographien,  Im  zweiten  Theil  unseres  Werkes  werden  wir  sehen, 
wie  die  Volkssage  sich  nicht  früher  als  im  15.  Jahrh.  bei  Bona- 
mente  Alipraudi  mit  den  aus  dem  Donat  entlehnten  biogi-aphischen 
Notizen  vermischt. 

Versteht  man  unter  der  „literarischen  Legende"  alles  nicht 
authentische,  was  uns  über  Virgil  als  Dichter,  Schriftsteller  und  Ge- 
lehrten literarisch  überliefert  ist,  so  kann  man  nicht  gerade  sagen, 
dass  sich  in  derselben  etwas  für  den  Dichter  besonders  charakte- 
ristisches zeigt.  Die  Legende  zeigt  uns  nur,  wie  sich  sein  Ruhm 
durch  das  ganze  Mittelalter  ausbreitete  und  entsprang  wol  aus 
einer  Menge  einzelner  Anecdoten,  die  sich  den  historischen  Notizen 
angehängt  hatten,  und  die  zwar  historisch  undenkbar  sind,  aber 
doch  nichts  übernatürliches  bieten.  Derartige  Notizen  finden 
wir  zuerst  bei  den  Grammatikern  und  denen,  welche  den  Virgil 
studirten;  selten  sind  sie  das  Product  der  reinen  Fantasie,  ver- 
binden sich  aber  oft  mit  irgend  einer  historischen  Thatsache,  oder 
einem  Verse,    den    man    willkührlich    oder    doppelsinnig    auslegte. 


1)  Scholia  Bern.  p.  996  ff. 

Comparetti,  Virffil  im  Mittelaltor. 


130  Virgil  in  der  Litcratiir  bis  auf  Dante. 

Schou  bei  Asconius  Pediauus,  dann  bei  den  Grammatikern  und 
Commentatoreu  stösst  uns  bisweilen  ein  solches  „man  sagt"  auf. 
Als  man  später  sich  in  dichterischen  Uebungen  erging,  denen 
stets  Virgil  als  Autorität  vorschwebte,  als  beim  Wachsen  der  Un- 
wissenheit sich  die  Fäden  der  alten  üeberlieferung  verwirrten,  fand 
sich  auch  reichlichere  Gelegenheit,  irrthiimliche  und  sagenhafte 
Ideen  zu  produciren.  Bekannt  ist  das  Distichon:  „Nocte  pliiit  tota 
redeunt  spectacula  mane,  Divisum  imperium  cum  Jove  Caesar 
habet",  wie  die  Geschichte,  dass  sich  einst  Jemand  diese  Verse 
angeeignet,  und  Virgil  sich  deshalb  in  folgenden  ebenfalls  ohne  Namen 
publicirteu  Versen  beklagt  habe:  „Hos  ego  versiculos  feci,  tulit  alter 
honorem;  Sic  vos  non  vobis  .  .  .  etc."  Diese  Erzählung  wie  die 
Verse,  die  otfenbar  nicht  von  Virgil  herrühren,  blieben  im  ganzen 
Mittelalter  und  noch  in  der  Neuzeit  bekannt^)  Wir  finden  sie  in 
vielen  Virgil-Handschriften  verschiedener  Zeit  und  bei  mehr  als 
einem  mittelalterlichen  Schriftsteller,  im  Codex  Salmasianus*),  sowie 
l)ei  Cassiodor^)  und  Aldhelm"*).  Sie  müssen  also  schon  im  6.  und 
7.  Jahrh.  bekannt  gewesen  sein.  In  der  Biographie  des  Donai 
stehen  sie  nur   in  den   interpolirten  Handschriften •''Ì.     We^;halb  sie 


1)  Hierauf  bezieht  sich  ohne  Zweifel  der  Hexameter:  „Juppiter  in  coelis 
Caesar  regit  omnia  terris"  unter  dem  Titel  „Vergilius  de  Caesare";  Auth. 
lai  782  (R).  Obgleich  der  Hexameter  sich  nur  in  Hdss.  des  14.  und  15. 
Jahrhunderts  findet,  halte  ich  ihn  doch  für  ziemlich  alt.  Riese  vermuthet 
(Jahrb.  f.  Phil.  1869  p.  282)  darin  ohne  Grund  eine  Reminisceuz  an  Vers 
143  der  Elegia  de  Nuce:  „sed  neque  toUuntur,  nee  dum  regit  omnia 
Caesar,  Incolumis  etc." 

2)  Anth.  lat.  256,  267  (R.). 

3)  ,,Ut  est  illud:  Divisum  imperium  cum  love  Caesar  habet."  Cassiod. 
De  Orthogr.  c.  3.  (dies  Capitel  des  Cassiodor  ist  einem  unbekannten 
Grammatiker  Curtius  Valeriauus  entlehnt). 

4)  Aldhelm  citirt  als  einen  Vers  Virgils  ,,in  tetrastichis  theatrali- 
bus":  „Sic  vos  non  vobis  mellificatis  apcs."  (Aldh.  opp.  od.  Gii.  p.  309). 
Der  Ausdruck  ,.in  tetr.  theatr."  beweist,  dass  die  Verse  damals  nur  2 
Disticha  waren.  Als  solche  erscheinen  sie  denn  auch  im  Codex  Sal- 
masiauus  wo  das  Citat  der  Pentameter  des  2.  Distichons  ist.  Natürlich 
sind  die  3  anderen  Pentameter,  in  denen  das  „sie  vos  non  vobis"  mit 
dreimaliger  sogar  gereimter  Veränderung  wiederholt  wird,  später  hinzu- 
gefügt. Sie  finden  sich  schon  in  Hdss.  des  10.  Jahrh.  Die  2  letzten 
fehlen  in  einigen  Hdss.  Donizo's  (11.  Jahrh.),  der  auch  die  Anecdote 
erzählt.  (Vgl.  V  i  t.  M  a  t  h.  bei  M  u  r  a  t  o  r  i ,  Scriptor.  rer.  it.  V, 
p.  3G0). 

5)  Hagen  i,Jahrbb.  f.  Phil.  1869  p.  734)  glaubt,  dass  die  Erzählung, 
welche  jenen  Versen  voraus  geht,  nicht  älter  als  das  12.  Jahrh.  ist;  in- 
dessen setzen  die  Verse  jene  Erzählung  voraus,  die  also  eben  so  alt  sein 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  131 

dem  Virgil  zugeschrieben  wurden,  ist  schwer  zu  sagen;  vielleicht 
kamen  sie  zuerst  in  einigen  Handschriften  unter  die  Epigramme 
des  Dichters  und  galten  dann  in  den  Sammlungen  kleiner  Gedichte, 
wie  sich  eine  solche  im  Codex  Salmasianus  befindet,  als  sein  Eigen- 
thum  ^).  Anders  kann  man  sieht  nicht  erklären,  wie  in  demselben 
Codex  dem  Virgil  ein  Epigramm  zugeschrieben  wird,  welches  ein 
sententiöses  Distichon  aus  Ovid's  Tristien  ist^).  Sehr  bekannt 
war  unter  den  Commentatoren  auch  eine  andere  Erzählung,  die 
sich  auf  einen  den  Ascanius  betreffenden  Halbvers  „magnae  spes 
altera  Romae"  bezieht,  und  die  Bewimderung  für  den  Dichter,  den 
man  dem  grössten  römischen  Prosaiker  an  die  Seite  setzt,  aus- 
drückt. Es  soll  nämlich  Cicero,  als  er  im  Theater  die  6.  Ecloge 
von  der  Cj-tlieris  vortragen  hörte,  betroffen  diirch  das  Talent,  das 
sich  in  der  Composition  zeigte,  gefragt  haben,  wer  der  Verfasser 
sei,  und  als  er  es  erfahren,  ausgerufen  haben:  „magnae  spes  altera 
Romae!".  (Sich  selbst  hielt  er  natürlich  füi-  die  erste.)  Diese  Worte 
sollen  dann  von  Virgil  mit  Bezug  auf  Ascanius  in  die  Aeneis  auf- 
genommen sein.  Die  guten  Leute  bedachten  nur  nicht,  dass 
C'icero    schon    todt    war,   als   die    Eclogen    erschienen^).     Die    Er- 


muss.  Was  ihre  Form  betrifft,  so  ist  kein  Grund  vorhanden,  sie  nicht 
in  eine  Zeit  vor  dem  12.  Jahrb.  zu  versetzen.  Ich  zweifle  nicht,  dass  die 
beiden  Disticha  schon  in  die  Biographie  gekommen  waren,  als  der  Inhalt 
des  Codex  Salmasianus  zusammengesetzt  wurde.  Die  beiden  Epigramme 
imd  die  beiden  andern,  261  u.  264  R.,  die  so  nahe  bei  einander  im  Codex 
stehen  und  sich  alle  in  der  Biographie  vorfinden,  sind  wol  gewiss  auch 
aus  dieser  entnommen.  Merkwürdig  ist,  dass  wir  unter  Xo.  264  das  in 
der  Biographie  citirte  Distichon  des  Properz  ,,Cedite  romani"  haben. 
Das  Buch  „Cnutonis  regis  gesta",  in  welchem  sich  das  „Nocte  pluit"  als 
virgilisch  citirt  findet,  ist  sicher  um  die  Mitte  des  11.  Jahrh.  verfasst 
worden. 

1)  Auch  Hagen  (Jahrbb.  f.  Phil.  1869  p.  734)  hat  an  eine  ähnliche 
Erklärung  gedacht.  Abgesehen  davon,  dass  er  ganz  überflüssiger  Wei.se 
an  die  Volkssage  vom  Zauberer  Virgil  erinnert,  die  hier  gar  gar  nicht 
hingehört.  Seine  Meinung  dass  von  diesen  Versen,  bis  zur  Vorstellung 
vom  Zauberer  nur  ein  Schritt  sei,  zeigt,  dass  er  diesen  Gegenstand  nicht 
mit  seiner  gewohnten  Sorgfalt  untersucht  hat. 

2)  „Si  quotieus  peccant  homines  etc."  Ov.  Tr.  II,  33. 

3)  Cicero  starb  711  a.  u.  c,  die  Eclogen  sind  gewiss  nicht  älter  als 
713.  Vgl.  Ribbeck,  Proleg.  p.  8  f.  Aehnliche  Anachronismen  sind  häufig; 
so  schreibt  eine  andere  Handschrift  dem  Virgil  die  beiden  bekannten 
gewiss  alten  Elegien  zu,  die  sich  auf  den  bereits  todten  Mäcenas  beziehen. 
(Vgl.  Ribbeck,  Append.  Verg.  p.  61,  192  ff.)  Als  Mäcenus  starb,  war 
Virgil  schon  seit  11  Jahren  todt;  solche  Irrthümer  ereigneten  sich  aber  auch 


132  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

Zählung,  die  sich  auch  bei  Sen'ius  findet,  ging  als  ein  Zusatz  zu 
der  autheutiöcheu  Nachricht  von  dem  grossen  Erfolge  der  im 
Theater  recitirten  Bucolica  aus  den  Commentaren  in  die  Biographie 
über.  Ohne  Zweifel  liegt  ihr  irgend  ein  Ausspruch  über  Cicero 
und  Virgil,  die  Fürsten  der  römischen  Literatur,  zu  Grunde,  wobei 
man  jenen  Halbvers  auf  Virgil  anwandte").  —  Die  iuterpolirte 
Biographie  enthält  ferner  am  Schlüsse  sieben  oder  acht  Sentenzen, 
die  Virgil  bei  verschiedenen  Gelegenheiten  ausgesprochen  haben  soll. 
Einige  derselben  beruhen  wieder  auf  Versen  des  Dichters  selbst. 
Die  Sentenzen,  die  nicht  besonders  geistreich,  sondern  mehr  oder 
weniger  Gemeinplätze  sind,  schildern  den  Virgil  als  einen  milden, 
sanften,  verständigen  und  practischen  Manu.  Am  Hofe  wird  er 
in  gi'ossen  Elu-en  gehalten,  und  einige  der  Aussprüche  sind  Ant- 
worten auf  Fragen,  die  Mäcenas  oder  Augustus  au  ihn  richteten; 
die  Bewunderung  für  den  Dichter  macht  sich  in  einigen  dieser 
Anecdoten  sogar  in  Worten  Luft,  die  man  Virgil  selbst  in  den 
Mund  legte  ^).  Trotz  des  Colorites,  das  in  diesen  Notizen  das 
Mittelalter  verräth,  scheinen  sie  aber  doch  ihres  Inhaltes  wegen 
älter  zu  sein.  Einer  der  virgilischeu  Aussprüche,  der  sich  auf 
Ennius    bezieht,    wird    schon    im    0.  .lahrli.    von   Cassiodor   citirt''j. 


schon  vor  dem  Mittelalter.  Marti  al,  der  doch  wenigstens  ein  Jahrhun- 
dert jünger  als  der  Dichter  ist,  sagt  IV,  14.  „Sic  forsan  tener  ausus  est 
CatuUus,  Magno  mittere  passerem  Maroni,"  und  vergisst,  dass  Catull 
starb,  als  Virgil  erst  IG  Jahr  alt  war. 

1)  „Dicitur  autem  (ecl.  VI)  ingenti  favore  a  Vergilio  esse  recitata; 
adeo  ut,  cum  eani  postea  Cytheris  meretrix  cantasset  in  theatro,  quam 
in  fine  Lycoridem  vocat,  stupefactus  Cicero  cuius  esset  requireret,  et  cum 
eum  tandem  aliquando  agnovisset,  dixisse  dicatur  et  ad  suam  et  ilHus 
laudem:  Magnae  spes  altera  liomae;  quod  iste  postea  ad  Ascanium  trans- 
tulit,  sicut.  commentatores  loquuutur."  Servius  ad  Ecl.  VI.  11. 

2)  Den  Dichter  mit  seinen  eignen  Worten  zu  loben,  war  nichts  Sel- 
tenes. Kusticus  erwähnt  in  seinem  Briefe  an  den  Papst  Eucherius 
(5.  Jahrh.)  das  folgende  Epigramm,  das  er  unter  einem  Bilde  Virgils 
las,  und  iu  dem  ebenfalls  drei  Verse  der  Aeneis  (I,  607  tf.)  auf  den 
Dichter  augewandt  werden: 

„Vergilium  vatem  melius  sua  carmina  laudant; 

hl  freta  dum  fluvii  cunent,  dum  niontibus  umbrae 
Lu.strabuiit  conve.xa,  peius  dum  sidera  pascet, 

Semper  honos  nomenque  tuum  laudesque  manebunt." 

Vgl.  Sirmond,  ad  Sidon.  p.  34. 

3)  ,,....  ea  tuba  cum  volo  loquor  quae  ubique  et  diutissime  au- 
dietur."  Donat.  Verg.  Vit.  p.  C8. 

4)  „Cui  et  illud  apiari  polest  quod  Vergilius,  dum  Eunium  legeret, 
a  quodam  quid  faceret  impüsitus,  ri'spoiKÜt:    aurum    in  btercorc   quere." 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  133 

Bei  den  Alten  waren  Sammlungen  von  Aussprüchen  gi'osser 
Männer  sehr  beliebt,  und  wahrscheinlich  figurirten  dei'artige  Aus- 
sprüche Virgils  auch  in  seinen  Lebensbeschreibungen.  Sueton  und 
Donat  Hessen  sie  beiseite,  sie  pflanzten  sich  aber  in  der  kleineren, 
weniger  beachteten  gi-ammati sehen  Literatur  und  in  der  münd- 
lichen üeberlieferung  der  Schulen  fort.  Li  dem  Buche  des  Vale- 
rius  Maximus  finden  sie  sich  merkwürdigei-weise  nicht,  aber  dieser 
geschmacklose  Compilator,  der  doch  dem  Dichter  zeitlich  so  nahe 
stand  und  uns  die  werthvollsten  Nachrichten  über  ihn  hätte  geben 
können,  benutzte  Quellen,  in  denen  des  Dichters  nicht  gedacht 
werden  konnte.  Und  so  wii'd  in  seinem  ganzen  Werke  Virgil 
nicht  einmal  genannt. 

In  den  meist  aus  Donat  verfertigten  Biographien,  Avelche 
sich  vor  Virgilcommentaren  in  Handschriften  des  9.,  10.  imd  11. 
Jahrhunderts  finden,  begegnen  uns  keine  Anecdoteu,  die  besondere 
Aufmerksamkeit  verdienten.  Von  einer  übernatürlichen  Thätigkeit 
Virgils  ist  hier  noch  keine  Spur  zu  entdecken;  wol  aber  zeigt  sich 
eine  übertriebene  Vorstellung  von  seinem  besonders  philosophischen 
Wissen,  die  in  der  älteren  Biographie  noch  nicht  vorkommt,  ob- 
gleich sie  zur  Zeit  Donats  schon  existirte.  Merkwürdig  sind  in 
der  Beziehung  einige  sonderbare  Etjmologien  des  Namens  Virgils: 
die  Biogi-aphie  eines  Codex  des  9.  Jahrh.  erklärt  ihn  als:  „vere 
•gliscens",  weil  Vii'gil  der  berühmteste  Meister  hoher  Weisheit  und 
unerschöpflich  in  seiner  Fruchtbarkeit  sei,  wie  die  sprossende 
Pflanze  des  Frühlings  ^).  In  dem  Codex  Gudianus  (9.  Jahrhundert), 
der  das  Leben  des  Dichters  drei-  oder  viermal  ei'zählt,  heisst  es: 
„Maro  wurde  er  genannt  von  mare,  weil  er  von  Weisheit  über- 
floss  wie  das  Meer  von  Wasser"").  Nach  dem  12.  Jahi-hundert 
spitzt  sich  diese  Idee  in  einigen  Biographien  noch  mehr  zu,  obgleich 
man  hier  schon  den  Einfluss  der  in  die  Literatur  eingeführten  Volks- 
sage wahrnimmt.  In  einem  Virgilcommentare  eines  Codex  Mar- 
cianus  (15.  Jahrhundert)  ruft  der  Verfasser  der  Biographie  be- 
wundernd aus:  von  Virgil  könne  man  sagen  „omne  tenet  punctum". 


Cassiod.  De  inst.  div.  lit.  cap.  1  „Cum  is  (Marc)  aliquando  Enniutu  iu 
manu  haberet  rogareturque  quidnam  faceret,  respondit  se  aurum  colli- 
gere  de  stercore  Ennii."  Donat.  Vit.  Verg.  p.  67. 

1)  „  . . . .  alii  volunt  ut  a  vere  Vergilius ,  quasi  vere  gliscens  id  est 
crescens,  sit  nominatus.  Erat  enim  magnae  philosophiae  praeclarissimus 
praeceptor  et  multiplex  sicuti  vernalia  incrementa."  Hagen,  Scholl,  bem. 
p.  997. 

2)  Vgl.  Heyne,  ad  Donat.  Verg.  vit.  §  22. 


]^;J4  Virgil  iu  der  Literatur  bis  auf  Daute. 

ja,     mau   könne    auf    ibu    die    Worte    tles  Psalmisieu    anwenden: 
,,Ouine  quod  voluit  fecit";   und  deshalb  isagte  man  auch  von  ihm: 
„Hie  est  nuisarum  lumen  per  saecula  darum, 
Stella  poetarum  non  veneranda  parum"^). 
Dem  ganzen  Commentare  geht  das  Motto  voraus: 

„Omnia  divino  monstravit  Carmine  vates". 
Aber   unter   den   Fähigkeiten   Virgils    wird  hier  zuerst  ausführlich 
die  Magie    genannt,    von    der   in    keiner   Biographie   vor   dem   12. 
Jahrhimdert  die  Rede  ist^). 

Ausser  den  fabelhaften  Nachrichten  über  Virgil  in  den  Bio- 
graphien linden  sich  solche  nun  aber  auch  bei  den  mittelalterlichen 
Schriftstellern.  Schon  die  Erklärer  der  Bucolica  dachten  oft  ganz 
grundlos  an  Dinge,  auf  die  der  Dichter  allegorisch  anspiele.  So 
soll  nach  einem  Commentare  aus  dem  9.  Jahrhundert  Vii'gil  eine 
öffentliche  Dichterschule  gehalten  haben,  und  darauf  bezöge  sich 
der  Vers  „formosam,  resonare  doces  Amarj'^llide  sylvam"^).  Merk- 
würdig ist  der  colossale  Anachronismus  eines  Angelsachsen,  der 
einige  bildliche  Ausdrücke  wörtlich  versteht  und  den  Virgil  für 
einen  Zeitgenossen,  Schüler  vmd  Freund  Homers  ansieht^).  In 
einer  sonderbaren  Gedankenverwirrung  versichert  Paschasius  Rathbert, 
dass  die  Sibylle  die  10  Eclogen  in  Person  vor  dem  Senat  recitirthabe''). 


1)  „De  eo  potest  dici  illud  oratoris:  omne  tcnet  punctum;  de  quo  ait- 
Macrobius:  Vergilius  nullius  disciplinae  expers  fuit;  uude  dictum  ost  du 

eo:  Hie  est  musarum  etc ;  potest  dici  illud  psalmistae:  omnia  quac- 

cumque  voluit  fecit."  Cod.  Marc.  lat.  ct.  XIII,  No.  LVI,  col.  2.  „ideo 
Vergilius  proprio  nomine  vates  vel  poeta  antouomastice  nuncuiiatur 
sicut  beatus  Paulus  apostolus,  et  Aristoteles  philosophus."  Ders. 
col.  3  a. 

2)  „Et  fuit  magnus  magicus,  multum  enim  se  dedit  arti  magicae  ut 
patet  ex  illa  ecloga  ,,Pastorum  musam  Damonis  et  Alphesiboei."  coi. 
8;  „ex  faucibus  sanguinem  spuebat  sed  per  medicinam  sc  sanabat, 
erat  euim  magnus  medicus  et  astrologus."  col.  13. 

;])  Formosam  etc ,,tropice  ad  Maronem  hoc  dicitur  doceutem 

iu  Roma  artem  poeticam.  Amaryllis  Komam  allegorice  sigaificat."  Hagen, 
Scholl,  bern.  p.  1000. 

4)  Omerus  waes  —  east  mid  Crecum  —  on  thaem  leod-scipe  — 
leotha  craeftgast,  —  Firgilies  —  freond  and  larcow  —  thaem  maeraii 
sceope  —  magistra  betst.  —  Metres  of  13oeth.  ed.  Fox  p.  137.  Diese 
metrische  Version  des  Boethius  hat  man,  wie  Wright  (Biogr.  brit.  lit.; 
Auglo-sax.  period,  p.  56  f.  400  ff.)  zeigt,  mit  Unrecht  dem  König  Alfred 
zugeschrieben. 

5)  „Legimus  vero,  quod  Sibylla  decem  eclogas  Vergila  in  senatu 
saltavit."  Pasch.  Rathb.  in  Matth.  Ev.  c.  35;  und  Bibl.  max.  vett.  patr. 
XIV,  p.  130. 


Viigil  in  der  Literatur  bis  auf  Daute.  135 

Alexander  Neckam  erzählt,  dass  die  in  dem  C4edichte  Culex 
geschilderte  Begebenheit  Virgil  selbst  begegnet  sei  und  so 
Jene  Dichtung  veranlasst  habe.  Später  widerruft  er  das  und  sagt,  ^ 
dass  er  sich  durch  die  Lesung  des  Gedichtes  von  dem  Irrthum* 
jener  Nachricht  überzeugt  habe^).  Wahrscheinlich  ist  dagegen  die 
Ueberlieferung,  dass  Virgil  von  Augustus  kleine  Geldsummen  er- 
halten habe"-),  und  besonders  wussten  die  Grammatiker  von  einer 
reichen  dem  Dichter  von  Augustus  zu  Theil  gewordenen  Bejohnnng 
für  die  ergreifenden  Verse:  „Tu  MarceUus  eris  etc.",  die  auf 
Octavia  solchen  Eindruck  machten.  In  dem  Commentar  des  Servius 
heisst  es,  dass  ihm  dafür  feierlichst  das  baare  Geld  in  aes  grave, 
ausgezahlt  sei=^),  und  die  interpolirte  Biographie  setzt  als  Summe 
10,000  Sesterzen  für  jeden  Vers  fest^).  Später  verbindet  sich 
diese  Nachricht  mit  der  Geschichte  von  den  Versen  „Nocte  pluit 
tota  etc."  in  sonderbarer  Weise.  Benzo  von  Alba  (11.  Jahrh.) 
sagt,  dass  Vii-gil  füi-  diese  Verse  Geld  m  Unmasse  und  die  Frei- 
heit'erhielt^).  Dasselbe  versichert  Donizo*^).  Alexander  von  Telese 
(12.  Jahi-h.)  behauptet  sogar,  dass  Virgil  von  Augustus  die  Stadt 
Neapel  und  die   Provinz  Calabrien  zu  Lehen   erhielt^).      Hier  ver- 


1)  Vergilius  igitur  repatrians  dulcibus  Athenis  relictis  etc.  etc. 
tìod  quid-^  Rara  fides  ideo  est  quia  multi  multa  loquuntur.  Hoc  adjicio 
quia  postquam  librum  Vergili  de  culice  inspexi,  aHum  esse  tenorem 
relationis  adverti.  Ut  euim  refert  Vergilius,  pastor  qmdam  etc.  Alex. 
Neckam,    De    naturis    rerum    (ed.   Wright,    Lond.    1863)    cap.    109, 

P.    190    f.  ,  r    X  i.  <;      n        1 

2)  „Ab  Augusto  usque  ad  sestertium  ceuties  honestatus  est.  1  rolj. 
Vit.  Verg.  bei  Reiff  er  scheid,  Suet.  etc.  p.  53. 

3)  Et  constat  hunc  libram  tanta  pronuntiatione  Augusto  et  Octaviae 
esse  recitatum,  ut  fletu  nimio  imperarent  silentium,  msi  Vergilius 
fiiiem  esse  dixisset,  qui  pro  hoc  aere  gravi  donatus  est."  Serv.  ad.  Aen. 
VI,    862.    Vgl.    Mommsen,    Geschichte    des    römischen   Muuzweseus, 

^'"     4)'    Defecisse  fertur  (Octavia),  atque  aegre  focillata   deua  sestertia 
pro  singulo  versu  Vergüio  daii  jussit."  Donat,  Vir.  vit.  p.  62. 
5)  „Liber  cum  rebus,  Maro,  cunctis  esto  diebus 
Et  de  thesauro  lulii  sis  dives  in  auro. 
Certe   pro    duobus    carminibus    a    lulio    Caesare    est   honomtus    duplici 
honore  VergiUus."  Ad  Henric.   IV   imp.;    Lib.  1,   30.  (Bei    Pertz,    XIII 

^'"     6)  Vit.  Mathild.  bei  Muratori,  Scriptor.  rer.  it.  V.  p.  360. 

7)  Nam  si  Vergilius,  maximus  poetarum,  apud  Octavianum  impera- 
torum  t'antum  promeruit  ut  pro  duobus  quos  ad  laudem  sui  ediderat 
versibus   Neapolis  civitatis,  simulque  Calabriae  dominatus  caducam  ab  eo 


136  A'ir^Ml  in  der  Literatur  bis  auf  Daute. 

mischt  sich  also  schon  die  literarische  Legende  mit  der  VolkMige. 
wie  wir  weiter  unten  sehen  werden. 

Aeussert  sich  nun  bei  den  in  Prosa  geschriebenen  Biographien 
nicht  jener  Ton  der  Begeisterung,  so  klingt  derselbe  dagegen  voll 
und  laut  in  den  poetischen  Schöpfungen,  die  sich  mit  dem  Dichter 
beschäftigen,  wieder.  Die  klassische  Dichtkunst  des  Mittelalters 
hatte  ja  stets  Vii-gil  als  Muster  vor  Augen.  In  ihm  fand  sie  da> 
reichste  rhetoi-isch-poetische  Material  vor;  die  Themen  für  die  Uebuu- 
gen  in  der  Versification  wurden  aus  ihm  geschöpft,  und  handelten 
nicht  blos  über  seine  Werke,  sondern  sogar  über  die  Verdienste 
des  Dichters  und  die  Begebenheiten  seines  Lebens.  So  entstand  im 
6.  Jahrhundert  die  schwülstige,  vom  Grammatiker  Phokas  verfasste 
Biographie  in  Versen,  deren  Bombast  man  schon  nach  der  ihr 
vorhergehenden  Sapphischen  Octe  abmessen  kann^).  Aber  viele 
Einzelheiten  aus  dem  Leben  des  Dichters  waren  durch  die  in  den 
Schulen  gelesenen  Biographien  und  die  Erklärung  besonders  der 
Bucolica  bekannt  geworden.  Die  hervorragendsten  unter  ihnen 
wurden  dann  wüeder  zu  besonderen  Aufgaben  für  die  poetischen 
Uebungen  verwandt.  Die  Leser  der  Bucolica  kannten  alle  die  (Je- 
schichte  von  den  verlorenen  Besitzungen,  die  Virgil  durch  Augustiis" 
Gnade  und  die  Vermittlung  des  Mäcenas  wie  seiner  Freunde 
wieder  erlangte.  Von  dieser  für  den  Dichter  wie  für  seinen  Be- 
schützer gleich  ehrenvollen  Begebenheit  wurde  mehr  als  ein  latei- 
nischer Poet   begeistert,   so  Martial^),   Sidonius^j  u.  a.     In   einem 

receperit  retributionem,  multo  melius  etc."  Alloq.  ad  rej?.  Roger  bt-i 
Muratori,  Script,  rer.  it.  V,  p.  644.  Auf  diese  Grossmutb  des  Augustus 
spielt  auch  Wilhelm  von  Apulien  am  Schlüsse  seines  Gedichtes  an: 

,, Nostra,  Rogere,  tibi  cognoscis  carmina  scribi; 

mente  tibi  laeta  studuit  parere  poeta; 

semper  et  auctores  hilares  meruere  datores. 

Tu,  duce  romano,  dux  dignior  Oetaviano, 

sis  mihi,  quaeso,  boni  spes,  ut  fuit  ille  Maroni." 
Bei  Muratori,  Script,  rer.  it.  V,  p.  278. 

1)  Sie  beruht,  wenige  Abweichungen  abgerechnet,  auf  der  Biograjibie 
Suetoiis  bei  Donat.  Vgl.  Reifferscheid,  Suet.  pract.  Caes.  rcl. 
p.  40a  f.,  der  auch  diesen  Text  (p.  68  S.)  aufgenommen  hat.  Derselbe 
ündet  sich  ausserdem  in  vielen  Sammlungen,  z.  B.  bei  Riese,  Anth.  lat. 
No.  671. 

2)  „Jugera  perdiderat  miserae  vicina  Cremonae 
flebat  et  abductas  Tityrus  aeger  oves; 

Risit  Tuscus  eques  paupertatemque  malignam 

reppulit  et  celeri  iussit  abire  fuga."  Mart.  Vili,  56. 

3)  Sidon.,  Carm.  III,  IV;  Auct.  panegyr.  Pison.  v.  217  ff.  Vgl.  Haupt 
im  Hermes  III,  p.  212. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  137 

Codex  des  10.  Jahrhundert  findet  sich  über  diesen  StolT  eine 
poetische  Epistel,  die  Virgil  an  Mäcenas  richtete,  als  seine  Besitzungen 
in  Mantua  an  die  Veteranen  gekommen  waren  ^).  Ein  Epigramm 
der  Anthologie  bezieht  sich  auf  Virgils  Bruder  Flaccus,  den  jener 
nach  den  Erklärern  und  der  älteren  Biographie  in  dem  Daphnis 
der  5.  Ecloge  verewigte^).  Unter  all  den  direkt  aus  der  Biographie 
stammenden  Notizen  wurde  aber  nichts  so  oft  wiederholt  als  der 
Befehl  des  sterbenden  Virgil,  seine  Aeneis  zu  verbrennen;  ein 
Thema,  das  sich  natürlich  ausserordentlich  für  Declamationen  eignete 
und  auch  mehrfach  dafür  verwandt  worden  ist.  Schon  zur  Zeit 
des  Gellius  und  Sueton"  verfasste  Sulpicius  Apollinaris  drei  darauf 
bezügliche  Disticha,  die  auch  in  der  Biographie  erhalten  sind^). 
Die  Disticha  des  Codex  Salmasianus,  welche  die  an  Augustus  ge- 
richtete Bitte  der  Römer  ausdrücken,  den  Willen  des  Dichters 
nicht  vollstrecken  zu  lassen,  sind  sjDäter  geschrieben  worden^). 
Aber  die  Declamation  in  dem  berühmten  „Ergone  supremi s  etc.", 
die  vielleicht  zu  der  Biographie  des  Phokas  gehörte,  schlägt  einen 


1)  Veröffentlicht  von  Use n er  im  Rh.  Mus.  XXII  p.  628  aus  einem 
St.  Gallev  Codex  des  10.  Jahrb.,  in  dem  es  die  Ueberschrift  :  „Marc  Mae- 
cenati  salutem"  führt.  Ohne  diesen  Titel  auch  in  anderen  Hdss.  Bei 
Riese,  Anth.  lat.  686  (Vgl.  Vol.  I,  p.  2  n.  XXIII).  Weder  Usener  noch 
Riese  haben  den  wahren  Inhalt  des  Gedichtes  erkannt,  sondern  meinten, 
es  sei  eine  Klage  über  die  ti-aurigen  Zustände  Italiens,  das  die  Barbaren 
inne  hatten.  —  Donizo  spricht  in  dem  Streite  zwischen  Mantua  und 
Canossa  weitläufig  über  diese  Begebenheit  Virgils  mit  Angabe  einiger 
Einzelheiten,  welche  die  Biographie  nicht  enthält.  Vit.  Math,  bei  Mura- 
tori, Script,  rer.  it.  V,  p.  360. 

2)  „Tristia  fata  tui  dum  fles  in  Daphnide  Flacci 
Docte  Maro,  fratrem  dis  immortalibus  aequas." 

Anth.  lat.  (R.)  No.  778. 

3)  „lusserat  haec  rapidis  etc."  Donat,  Vit.  Verg.  p.  63,  und  in  den 
verschiedenen  Ausgaben  der  Anthologia  lat.  Den  Namen  desselben  Sul- 
picius tragen  die  3  verschiedenen  Disticha  von  gleichem  Inhalte,  die  den 
Inhaltsangaben  der  Bücher  der  Aeneis  vorausgehen.  L.  Müller  (Rh.  Mus. 
XIX,  p.  120)  glaubt  mit  Recht,  dass  die  Originaldisticha  die  in  der  Bio- 
grapie  erhaltenen  sind. 

4)  „Temporibus  laetis  etc."  Anth.  lat.  No.  242  (R.).  Die  ältesten 
Virgilausgaben  und  auch  einige  Hdss.  schreiben  diese  A'^erse  dem  Cor- 
nelius Gallus  zu.  In  einem  Codex  Vaticanus  (No.  1586)  aus  dem  15. 
Jahrhundert  heisst  es:  „Egerat  Vergilius  cum  Varrone  (soll  heissen  Vario) 
antequam  de  Italia  recessisset^  ut  sì  quid  sibi  accideret,  Aeneidam  com- 
bureret,  quod  adimplere  volens  et  Cornelius  Gallus  hoc  sentiens,  Caesari 
pro  parte  Romanorum  et  totius  orbis  supplicavit  ne  combureretur,  in 
hunc  modum  videlicet:  Temporibus  laetis  etc." 


138  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

noch   viel    erliabeuereu    Ton   an,    indem    sie    den   Augustus    selbst 
redend   einführt  ^). 

Auch  die  ComiDOsitionen  Virgils  selbst  wie  kiu-zere  iu  der  Bio- 
graphie erhaltene  Dichtungen  wurden  als  Stoff  für  derartige  Uebungeu 
benutzt,  z.  B.  das  Epigramm,  das  Virgil  als  Jüngling  gegen  den  Lehrer 
und  luiuber  Balista  verfasst  haben  soll.  Dassellie  hatte  eine  grosse 
Berühmtheit  erlangt,  wurde  dann  aus  der  Biographie  herausge- 
nommen und  mit  andern  Dichtungen  Virgils  imd  anderer  zusammen- 
gestellt ^J.  Es  war  von  mehr  als  einem  Dichter  der  Schule  nach- 
geahmt worden,  und  wir  besitzen  etwa  sechs  Variationen  über  das 
Thema,  die  dann  von  einem  Interpolator  in  die  Biographie  des 
rhokas  eingeschoben  sind^).  An  derartigen  Uebuugen  betheiligten 
sich  Schüler  wie  Lehrer  in  gleicher  Weise.  In  der  Verfallzeit 
war  es  sogar  Gebi'auch,  dass  mehrere  Dichter  an  ein  und  dem- 
selben Thema  sich  im  Wettstreit  miteinander  versuchten.  Die 
„zwölf  scholastischen  Dichter"  oder  „die  zwölf  Weisen"^),  die  einen 
Hauptbestandtheil  der  Anthologie  bilden  und,  wenn  man  bedenkt, 
wie  sorgfältig  sie  in  mehreren  Handschriften  erhalten  sind,  grossen 
Beifall  gefunden  haben  müssen,  bieten  ein  bemerkenswerthes  Bei- 
spiel   dafür.      Unter    den    verschiedenen    Stoffen,    Beschreibungen, 


1)  Anth.  lat.  Xo.  672  (R.).  Diese  Declamation  iu  Versen  war  sehr 
Iterühmt,  und  Neuere  haben  sie  wie  im  Ernste  als  dem  Augustus  ange- 
hörig citirt.  Von  einer  alten  Nachbildung  ist  nur  der  Schiusa  erhalten 
(.„Nescio  quid,  fugiente  anima  etc."),  Anth.  lat.  No.  655  (R.).  Als  Probe 
der  Emphase  diene  der  letzte  Vers,  in  welchem  Augustus  von  Vir- 
gil sagt: 

„aeterna  resonante  Camoena 
Laudctur,  placeat,  vivat,  relegatur,  ametur!" 

2)  Donat,  Vit.  Verg.  p.  58;  Anth.  lat.  No.  261  (R.).  Die  Grabsehriit 
des  Bischofs  Mamertus,  in  der  sich  eine  Reminiscenz  des  ersten  Verses 
des  Epigrammes  zeigt,  beweist,  dass  dies  schon  am  Ende  des  4.  Jahr- 
hunderts bekannt  war;  vgl.  L.  Müller  in  den  Jahrb.  f.  Phil.  (1866 
[).  865).  Auch  in  einem  Distichon  der  Elegia  de  Nuce  (v.  43  f.) 
hat  Riese  eine  Reminiscenz  ad  den  2.  Vers  des  Virgilischen  Distichons 
entdeckt,  zieht  aber  daraus  einen  falschen  Schluss  auf  das  Alter  der 
Elegie.  Das  Epigramm  gegen  Balista  blieb,  unabhängig  von  dem  „Über 
opigrammaton''  Virgils  zu  dem  es  vielleicht  gehört,  während  des  ganzen 
Mittelalters  bekannt. 

3)  In  2  Nachbildungen  ist  das  Distichon  in  einen  Vers  zusammen- 
gezogen; Phoc.  Vit.  Virg.  V.  15  ff. 

4)  Vgl.  über  diese  Dichter  S  c  h  e  n  k  1  ,  Zur  Kritik  späterer  la- 
teinischer Dichter  (Sitzungsbericht  der  Wiener  Akademie  1863,  Juni, 
p.  52  ff". 


Virgil  iu  der  Literatur  bis  auf  Dante.  139 

mythologisfheu  Begebenheiten,  Lobpreisungen  irgend  einer  Person 
.>iud  ber^onders  die  beliebt,  die  schon  früher  von  irgend  einem  be- 
rühmten Dichter  wie  Virgil  oder  Ovid  bearbeitet  waren.  Die  be- 
rühmte Grabschrift,  die  nach  der  Biogi-aphie  Vii-gil  sich  selbst  ver- 
fasst  haben  soll^),  wurde  von  jedem  der  zwölf  Dichter  zunächst 
iu  je  einem  Distichon  imd  dann  zu  zwei  Disticha  erweitert 
bearbeitet'^).  Hierhin  gehören  auch  die  versificirten  Inhaltsgaben 
zu  verschiedenen  Dichtungen  Virgils'^).  Ihre  gi-osse  Anzahl  und 
Mannigfaltigkeit  beweisen  uns,  dass  auch  diese  Uebung  in  der 
Schule  wol  ein  Gegenstand  des  Wettstreites  war.  Die  Meisten  derselben 
beziehen  sich  auf  die  Aeneis,  einige  auch  wol  auf  die  Bucolica 
\md  die  Georgica  ^).  Jedes  Buch  der  Aeneis  hat  deren  mehrere,  bald 
aus  einem,  bald  aus  vier,  fünf,  sechs  oder  zehn  Versen  bestehende  *"). 
Eine  Composition  aus  eilf  Hexametern  von  ungewissem  Alter  gibt 
die  Gesammtsumme  aller  Verse  Virgils  und  ihren  Inhalt  an^j. 
Die  dem  Sulpicius  Apollinai-is  zugeschriebenen  sechs  Hexasticha 
dürften  wol  das  älteste  Beispiel  dieser  Classe  von  Arbeiten  sein, 
bei  denen  nicht  selten  Vii-gils  eigene  Worte  angewandt  werden. 
Sie  sind  in  einem  Codex  Vaticanus  des  5.  oder  6.  Jahrhunderts 
erhalten.  Ungefähr  derselben  Zeit  gehören  die  Decasticha  mit 
ihren  vorhergehenden  fünf  Disticha  an,  als  deren  Verfasser  sich 
Ovid  nennt  ^).  Wir  sehen  daraus  die  enge  Beziehung,  iu 
welcher  damals  Virgil  und  Ovid  für  die  Schule  mit  einander  stan- 
den. Derartige  Uebungen  gehen  nun  durch  das  ganze  Mittelalter. 
Sie    wurden    zwar    nicht  Virgil    allein   gewidmet,    aber    ihm    doch 


1)  Vgl.  die  Uebuugen  über  4  Ovidverse,  betreffend  die  vier  Jahres- 
zeiten (Metam.  II,  27  ff.),  No.  566,  ff.  (R.). 

2)  „Mantua  me  genuit  etc."  Douat,  Vit.  Verg.  p.  63.  Schon  in  einem 
Epithaph  zu  Ehren  Lucans  hat  ein  Grammatiker  jenes  Distichon  nach- 
geahmt: „Corduba  me  genuit,  rapuit  Nero,  praelia  dixi",  citirt  von  Ald- 
helm  (7.  Jahrb.);  Vgl.  L.  Müller  iu  den  Jahrb.  f.  Phil.  XCV  (1867) 
1>.  500;  Usener,  Scholia  in  Lucani  Bellum  ci\'ile  p.  6. 

3)  Anth.  lat.,  507—518,  555,  556  CR.). 

i)  Vgl.  L.  Müller,  Ueber  poetische  Argumente  zu  Virgils  Werken 
im  Rh.  Mus.  XIX,  p.  114  ff. 

5)  Anth.  lat.,  2.  (R.)  aus  Hdss.  des  2.  Jahrb.  Vgl.  Ribbeck,  Tro- 
legg.  p.  379. 

6)  Anth.  lat.  1,  634,  654,  591,  653,  874.  (R.). 

7)  Anth.  lat.  717  (R.). 

8)  Anth.  lat.  1.  (R.);  Ribbeck,  Prolegg.  p.  369  ff.;  L.  Müller, 
a.  a.  0.  p.  115  S.,  der  mit  Recht  vennuthet,  dass  sie  einem  Africaner 
aus  dem  5.  oder  6.  Jahrhundert  angehören  können. 


140  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

mehr  als  allen  aiuleni  iateiuischen  Dichtern.  In  der  Anthologie 
stehen  einige  Epigramme  zum  Lobe  des  Dichters,  die  meist  darauf 
hinauslaufen,  dass  er  in  der  Aeneis  mit  Homer,  in  den  Bucolica 
mit  Theokrit  und  in  den  Georgica  mit  Hesiod  verglichen  wird^). 
Eins  der  Epigi-amme  theilt  uns  den  von  Quintilian  erwähnten 
Ausspruch  des  Domitius  Afer  mit^).  Zwei  Disticha  wollen  in  sehr 
erhabenem  und  geschraubtem  Stil  dem,  „der  in  kleiner  Barke  das 
weite  "Meer  Mai'o's  durchschiflfen  will",  eine  Anweisung  geben"*). 
Schliesslich  fand  sich  Stoff  für  diese  Uebungen  in  Stellen  aus  den 
grösseren  Werken  Virgils,  die  man  ja  auch  füi-  die  Declamationen 
in  Prosa  benutzt  hatte.     Die  Anthologie  bietet  dafür  manche  Bei- 


li Anth.  lat.  713  (Virgil  und  Homer-);  No.  777  (Virgil,  Theokrit, 
Ilesiod,  Homer)  „Vate  Syracosio  etc."  ging  vielleicht  der  Sammlung  der 
kleineren  Jugendgedichte  Virgils  voraus.  (Vgl.  L.  Müller  in  den  Jahrb. 
f.  Phil.  1867,  p.  803  ft").  Mau  hat  wol  noch  nicht  bemerkt,  dass  das  Epi- 
gramm No.  788:  „Maeonium  quisquis  romanus  uescit  Homerum,  Me  legat 
et  lectum  credat  utrumque  sibi"  nach  dem  ersten  Distichon  der  Ars 
amatoria  verfertigt  ist:  „Si  quis  in  hoc  artera  populo  non  novit  amandi. 
Me  legat  et  lecto  carmine  doctus  aniet."  Aus  allen  Comraentaren  und 
den  Biographien  geht  hervor,  dass  die  Grammatiker  ihrer  Auslegung  ge- 
wöhnlich die  Bemerkung  von  der  Nachahmung  Virgils  dieser  3  Autoren 
vorausschickten.  —  Wie  Virgil  mit  Homer,  so  wird  Lucan  in  dem  Epigr. 
Xo.  233  (vgl.  Schmitz  und  L.  Müller  in  den  Jahrb.  f.  Phil.  p.  ^99^ 
mit  Virgil  verglichen.  Dem  Ende  des  Mittelalters  gehört  das  von  Kiese 
eben  deshalb  ausgeschlossene  Ejiigramm  über  Virgil  an  No.  855  (Meyer): 
,,  Alter  Homerus  ero  vel  eodem  maiorHomero,  Tot  clades  numero  dicerc 
si  poterò."  Diese  nicht  auf  Virgil  zu  beziehenden  zwei  Verse  gehören  zu 
einer  mittelalterlichen  Dichtung  über  die  Zerstörung  Troias.  Vgl.  Du 
Méril,  Poésies  poiml.  lat.  ant.  au  XII  sièc.  p.  313. 

2)  „De  numero  vatum  si  quis  seponat  Homerum, 
Proximus  a  primo  tunc  Maro  primus  erit. 

At  si  post  priinum  Maro  seponatur  Homerum, 

Longe  erit  a  primo,  quisque  secundus  erit.' 
Das  Epigramm  wird  dem  Alcimus   Avitus  zugeschrieben;   Anth. 
1  a  t.    No.    740  (R.).    Vergi.    Quintilian.    X,     1 ,    86    und    p.    18    unseres 
Werkes. 

3)  „Qui  modica  pelagus  transcurris  Untre  Maronis 
Bis  senos  Scyllae  vulgo  cave  scopulos. 

Sed  si  more  cupis  nautae  contingere  portum 

Carbasus  ut  Zephyris  desine  detur  ovans; 

Tumque  salis  lustra  reliquos  ope  remigis  amnes; 

Sic  demum  cymbam  poftus  habebit  opis." 
Veröffentlicht  von  L.  Müller  aus  einer  Hds.  des  10  —  11.  Jahrh.  im  Rh. 
Mus.  XXHI,  p.  657;  Riese,  Anth.  lat.  No.  788. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  141 

spiele^).  Besonders  erkennt  man  die  retliorische  Schule  in  den 
sogenannten  „Virgilthemen"  wieder,  die  eigentlich  dem  Studium 
der  Declamation  augehörten.  Es  sind  Variationen  über  Verse  des 
Dichters,  in  denen  der  Zeitgeschmack  sich  in  den  lärmendsten 
Uebertreibungen  gefällt;  hierhin  gehören  z.  B.  die  Anrede  der 
Dido  an  den  Aeneas  (IV,  365  ff.),  des  Aeneas  an  Andromache 
(III,  311  ff.),  des  Sacas  an  Turnus  (XII,  653  ff.)^).  Wir  besitzen 
sogar  einen  Brief  der  Dido  an  Aeneas^),  in  dem  das  Virgilianische 
Thema  in  der  Art  Ovid's  behandelt  ist,  eine  "Klage  über  die  Zer- 
störung Troja's,  gewiss  aus  dem  späten  Mittelalter  stammend"^),  wie 
man  aus  dem  Rhythmus  sieht,  u.  a. 

Diese  poetisch  rhetorischen  Uebungen  zur  Ehre  Virgils  kann 
man  nicht  eigentlich  Producte  des  Mittelalters  nennen;  sie 
gehören  vielmehr  dem  Anfang  desselben  und  den  letzten  Zeiten 
der  Kai serherr Schaft  an;  besonders  war  das  5.  und  6.  Jahrhundert 
in  diesen  Versificationen  thätig.  In  der  Schule  entstanden  und 
durch  Schulmänner  verbreitet,  wurden  sie  von  diesen  ohne  Bedenken 
]nit  den  kleineren  Poesien  der  antiken  grossen  Meister  zusammen- 
geworfen; und  daraus  entsprang  dann  jene  sonderbare  Verwirrung 
der  Namen,  welche  die  kritische  Anordnung  der  lateinischen  Antho- 
logie so  erschwert.  In  der  Wichtigkeit,  die  man  diesen  niederen 
und  obscuren  Producten  beilegte,  zeigt  sich  so  recht  deutlich  die 
Ermattung  der  klassischen  Poesie,  die  noch  eine  Weile  in  der 
künstlichen  Athmosphäre  der  Rhetorik  fortlebt  und  schliess- 
lich bis  zu  dem  Grade  herunterkömmt  und  abmagert,  dass  das 
ganze  Skelett,  auf  das  sie  sich  noch  stützt,  sichtbar  wird.  Diese 
letzte  Phase  der  lateinischen  Poesie  haben  wir  also  vom  Stand- 
punkte des  Mittelalters  aus  betrachten  wollen,  das  ja  zugleich  mit 
dieser  auch  die  grossen  Vorbilder  aus  dem  Alterthum  übernimmt. 
Durch  sie  allein  gelingt  es  jenem  ganz  vom  Mönchsthum  eingeeng- 
ten Zeitalter,  den  Spuren  der  klassischen  Poesie  einigermassen  nach- 
zugehen. 


1)  Vgl.  No.  46  (de  Turno  et  Fallante),  77  (de  Niso  et  Euryalo),  99  (de 
Lauconte),  924  (in  Aeneam)  in  der  Anth.  lat.  (R.). 

2)  Anth.  lat.  (R.)  255,  223  (dem  Coronatus  zugeschrieben),  244. 
Dasselbe  Thema  wie  in  223  hatEnnodius  (Dist.  28,  „Verba  Didouis  etc.") 
in  einer  Declamation  in  Prosa  behandelt.  Um  eine  Idee  von  diesen 
versificirten  Declamationen  zu  bekommen,  vgl.  No.  128  u.  23. 

3)  Anth.  lat.  (R.)  No.  83. 

4)  Du  Méril,  Poesie«  populaires  latines  ante'rioures  au  XII  siècle, 
p.  309  ff. 


142  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

EilftesCapitel. 

Es  gibt  wol  kaum  zwei  Dinge  die  so  schroff'  einander  gegen- 
über stehen,  als  das  Heidenthum  dem  Christenthum.  In  der  Art 
wie  beide  Religionen  die  äussere  und  innere  Welt  betrachten,  ist 
gar  keine  grössere  und  tiefere  Diff"erenz  denkbar.  Der  Geist  des 
Christenthums  hat  vor  Allem  die  Fähigkeit  zu  absorbiren,  er  i-uft 
die  ganze  Seele  des  Menschen  zu  sich  und  concentrirt  sie.  auf  eine 
Idee.  Alle  Gefühle  und  Leidenschaften,  alle  Neigungen,  die  auf 
künstlei'ische  Productionen  ausgehen,  formt  er  um,  macht  sie  sich 
gleichartig  und  lenkt  sie  auf  ein  einziges  Ziel  hin.  Alle  poetischen 
Eingebungen  laufen  a\if  den  einen  Punkt  hinaus:  zu  lieben,  zu 
trauern,  zu  frohlocken  und  zu  leben  in  Gott.  Gott  ist  also  die  Basis, 
in  der  sich  alle  Neigungen  und  Leidenschaften,  Begeisterung,  Hoff"- 
nung  und  Angst  der  Menschenseele  auflösen  und  beruhigen.  Da- 
mit ändert  sich  vollkommen  der  Horizont  des  Lebens,  und  alle 
Zwecke  des  Daseins  nehmen  eine  andere  Gestalt  an.  Das  Auge 
schaut  ängstlich  auf  das  Problem  vom  Leben  jenseit  des  Grabes, 
und  die  ganze  Thätigkeit  des  Menschen  ist  allein  darauf  gerichtet. 
Das  irdische  Leben  ist  eine  Last,  eine  Pilgerfahrt,  eine  hai-te  und 
schwere  Probe,  und  jetzt  zum  ersten  Male  hört  man  von  einem 
weltlichen  Leben,  von  einer  schädlichen  und  gefährlichen  Welt, 
von  der  der  fromme  Mann  sich  fern  halten  soll.  Das  Gewissen 
muss  eine  heftige  Revolution  durchmachen,  um  sich  selbst,  die 
Gesellschaft,  und  die  Natur  von  diesem  Standpunkte  aus  betrachten 
zu  können.  Die  poetischen  Ideale,  die  in  einer  Zeit  spontaner 
Aeusserung  geschaff'en  waren,  als  der  noch  nicht  im  Zwiespalte 
befindliche  Geist  die  ganze  Welt  auf  sich  selbst  bezog,  auf  sie 
vertraute,  sie  liebend  vergötterte  und  doch  zugleich  in  ihr,  wie  in 
t'inem  treuen  Spiegel  sein  eigenes  Bild  anschaute,  mussten  natür- 
lich alle  Gemüther  abstossen,  denen  das  menschliche  Wesen  in 
seinen  Beziehungen  zu  seines  Gleichen  zur  Natur  und  Gottheit 
ganz  neu  und  anders  erschien.  Aus  dieser  Anschauung  musste 
schliesslich  die  Askese  der  Eremiten  und  j\Iönche  hervoi'gehen; 
und  wie  konnte  da  der  Geist  noch  fähig  bleiben,  die  Schönheit 
der  Antike  und  der  künstlerischen  Ideale  Virgils  und  Homers  in 
sich  aufzunehmen? 

Wenn  sich  das  Christenthum  blos  auf  eine  religiöse  Reform 
der  Juden  beschränkt  hätte,  so  wäre  es  durch  seine  Natur  zu  einer 
Poesie  von  ganz  besonderem  Charakter  geführt  woi-den,  die  eine 
zweite    von    der  ersten  freilich  sehr  verschiedene  Phase   der   alten 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  143 

biblischen  Poesie  gebildet  hätte;  denn  in  der  christlichen  Idee  liegt 
ein  Humanitätsgeftthl,  eine  feine  und  liebliche  religiöse  Empfindung, 
die  Christus  und  seinen  Anhängern  einen  ganz  anderen  Charakter 
gibt,  als  ihn  David,  Jesaias  und  die  begeisterten  Männer  des  alten 
Gesetzes  gehabt  hatten.  Gemeinsam  wäre  ihr  und  der  alten  Juden- 
poesie gewesen,  dass  sie  nicht  aus  einer  Schule  entsprungen  war 
und  keinen  künstlerischen  Zweck  verfolgte.  Nichts  musste  natür- 
lich der  ältesten  christlichen  Anschauung  mehr  widersprechen,  als 
jener  künstlerische  Schematismus  in  seiner  Gesuchtheit  und  Ge- 
ziertheit, der  von  dem  ethischen  und  religiösen  Zwecke  so  weit 
entfernt  war.  Christus  verhielt  sich  jeder  Cultur  gegenüber  in- 
different, theils  weil  er  in  dürftigen  Verhältnissen  geboren  ward, 
in  Palästina  lebte  und  nicht  wie  so  viele  andere  Juden,  die  ins 
Ausland  gingen,  von  der  griechisch-romanischen  Cultur  berührt 
wurde,  theils  auch  infolge  der  rein  geistigen  und  mystischen  Natur 
seiner*  Lehre.  Zum  christlichen  Ideale  gehört  zuerst  die  Einfach- 
heit, welche  sich  der  antiken  Culturwelt  scharf  gegenüberstellt. 
Die  höchste  christliche  Poesie  entsprang  also  nicht  auf  künst- 
lerischem Gebiete,  von  dem  sich  die  wärmsten  christlichen  An- 
hänger fern  hielten.  Sie  oifenbarte  sich  weniger  in  poetischen 
Formen,  als  in  Gedanken  und  Empfindungen,  die  auf  die  einfachste 
Art  ausgedrückt  wurden.  Ohne  einen  Vers,  ohne  auch  nur  den 
Gedanken  zu  dichten,  blos  auf  den  Antrieb  hin,  den  die  neue  so 
warm  gehegte  Idee  dem  Geiste  gab,  erzeugte  sie  das  Ideal  Christi, 
ohne  Zweifel  ihre  erhabenste  poetische  Schöpfung,  deren  begeist- 
ernde Wirkung  nicht  wenig  zu  jener  wunderbaren  Erscheinung 
von  den  Millionen  Neophyten  und  Märtyrern  beitrug.  Von  der- 
selben einfachen  und  formlosen  Art  sind  auch  die  poetischen  Er- 
giessungen  des  Franciscus  von  Assisi  und  die  „Nachfolge  Christi", 
ein  später  aber  treuer  Nachklang  des  wahrsten  und  ursprüng- 
lichsten Christenthumes. 

Indem  sich  nun  aber  die  neue  Lelu-e  in  der  griechisch-römischen 
Welt  ausbreitete,  fand  sie  den  Boden  durch  die  positiven  wie  ne- 
gativen Elemente  der  Verfallzeit  wol  vorbereitet  und  war  nichf 
die  alleinige  Ursache,  dass  diese  Zeit  einen  von  der  glänzenden 
aber  unwiderruflich  verloren  gegangenen  Vergangenheit  so  ver- 
schiedenen Charakter  annahm.  In  einem  ganz  deutlich  sichtbaren, 
langsamen  Processe  durchdrang  sie  die  Poren  der  griechisch-römi- 
schen Gesellschaft  und  gestaltete  diese  um,  freilich  nicht,  ohne 
sich  selbst  bedeutend  umzugestalten.  Das  Proselytenthum ,  das  in 
ihr    el)en    so    stark    war    als    in   Rom    der   Geist    der    Eroberung, 


1  44  Virgil  in  der  Literatur  bis  anf  Dante. 

zwang  sie,  der  Xothwendigkeit  nachzugeben  und  sich  zu  Verinit- 
telungen  zu  verstehen.  Das  erste  derartige  Zugeständniss  war 
der  Entschluss  sich  zu  bilden,  zu  unterrichten  und  die  griechisch- 
römische Cultur  anzunehmen.  Diese  war  zu  lebenskräftig,  als 
dass  das  Christenthum  nicht  danach  hätte  streben  müssen,  sie  sich 
zu  assimiüren,  um  schliesslich  durch  sie  selbst  neuen  Einfluss  auf 
ihre  Gestaltung  zu  gewinnen.  Merkwürdig  in  der  That,  wenn  man 
an  das  Ideal  von  Christus  und  das  der  Evangelisten  denkt!  Die 
Christen  konnten  jetzt  Maler  und  Bildhauer  werden.  Dichter  und 
Versmacher  und  nach  einem  Ausdrucke  ihres  religiösen  Gefühles 
suchen,  da  wo  Christus  niemals  daran  gedacht  oder  gestattet 
hätte,  es  zu  suchen.  Und  hier  zeigte  sich  der  erste  von  den  vielen 
Widersprüchen,  die  der  fromme  Glaube  auf  alle  Weise  zu  bemän- 
teln strebte,  und  von  denen  das  Christenthum  sich  noch  heute  nicht 
befreit  hat. 

Indem  also  das  Christenthum  die  Formen  der  antiken  Kunst 
annahm,  ist  es  dabei  doch  nie  weiter  als  bis  zu  einer  Art  von 
Verkleidung  gekommen,  deren  Sonderbarkeit  kaum  ein  geschickter 
Dichter  zu  mildern  verstand.  Nicht  selten  wird  der  Wider- 
spruch zwischen  Form  und  Idee  grotesk  und  lächerlich,  wenn  man 
eben  nicht  mit  den  Augen  des  Glaubens  schaut,  der  ja  das,  was 
ihn  selbst  betrifft,  natürlich  entschuldigen  kann.  Die  christliche 
Idee  fand  wol  den  Boden  zu  ihrem  Vortheile  vorbereitet,  aber 
sie  fand  keine  künstlerische  Formen,  die  ihr  passten  und  ent- 
sprachen. Den  Triumphen  des  Christenthums  kam  zwar  der 
Mysticismus,  zu  dem  sich  schliesslich  die  alte  Welt  hinneigte,  vor- 
trefflich zu  statten  ;  dieser  aber  war  ein  Zeichen  des  alternden  Verfalls, 
nicht  einer  energisch  jungen  Zeit  und  hatte  die  Kunst,  anstatt  sie 
zu  verjüngen,  und  zu  erneuern,  nur  immer  tiefer  in  Verfall  ge- 
zogen. 

Für  das  Herz  und  den  Verstand  war  die  alte  Kunst 
erstorben.  Nur  noch  in  den  Schulen  und  in  der  allgemeinen 
Bildung  fristete  sie  ein  Scheinleben.  Die  leeren  Formen  benutzte 
nun  das  Christenthum  und  füllte  sie  anstatt  mit  profanem  mit 
heiligem  und  christlichem  Stoffe  aus.  Waren  dieselben  doch  schon 
in  so  mechanischer  Weise  verwandt  worden,  dass  Jeder,  der  nach 
ihnen  griff,  meinte,  sie  allen  möglichen  Empfindungen  anpassen  zu 
können.  Nun  war  das  aber  schon  die  zweite  Umwandlung,  die 
sie  durchzumachen  hatten.  Ursprünglich  in  Griechenland  ent- 
standen, war  es  nur  durch  die  Anstrengungung  der  glänzendsten 
Repräsentanten   des   römischen    Geistes   möglich   gewesen,    sie    auf 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  145 

die  römische  Denkweise  anzuwenden.  Weit  gewaltsamer  war  die 
zweite  Wandlung,  weil  jetzt  der  poetische  und  künstlerische  In- 
halt dem  sie  in  Griechenland  wie  in  Eom  gedient  hatten,  ver- 
nichtet werden  sollte.  Ein  solches  Verfahren  konnte  nur  in  einem 
Zeitalter  stattfinden,  in  welchem  die  Khetorik,  die  ja  die  ganze 
Literatur  beherrschte,  das  Gefühl  für  die  enge  Beziehung  zwi- 
schen den  Kimstformen  und  dem  Geiste  der  Menschen  verdrängt 
hatte. 

Prudentius,  Sedulius,  Arator,  Juvencus  und  so  viele  andere 
christliche  Dichter^)  ahmen  Virgil  nach,  indem  sie  das  Leben 
Christi,  das  der  Heiligen  oder  biblische  Begebenheiten  in  Hexa- 
metern darstellen.  Andere  folgen  Horaz  oder  Ovid,  indem  sie  in 
Distichen  oder  trochäischen  und  jambischen  Gedichten  christliche 
Ideen  behandeln.  Das  waren  aber  gewaltsam  erzwungene  Arbeiten, 
in  denen  die  moralischen  Eaisonnements  wol  ganz  ernst  gemeint 
wai'en,  an  denen  aber  die  wahre  Poesie  des  Christenthumes  doch 
keinen  oder  nur  geringen  Antheil  hatte.  Das  Evangelium  in  Versen 
zu  umsehreiben,  machte  zwar  aus  der  Schulübung  ein  christliches 
Werk,  aber  raubte  auch  zugleich  der  schlichten  evangelischeu  Er- 
zählung ihre  ganze  Poesie ,  indem  es  diese  mit  einem  unnatürlichen 
Schmucke  belud. 

Die  Leute  jedoch,  die  in  der  römischen  Cultur  erzogen,  immer 
die  antiken  Musterdichtungen  vor  Augen  hatten,  musste  es  nach 
Annahme  des  Christenthumes  mit  Genugthung  erfüllen,  jene  Lücke 
wenn  auch  in  vxngenügender  Weise  ausgefüllt  zu  sehen.  Die 
Hexameter  des  Priesters  Juvencus,  welche  einen  Sturm  schilderten, 
erinnerten  sie  au  die  schöne  Beschreibung  Virgils,  und  mehr  als  ein 
Gedicht  des  Prudentius  rief  ihnen  den  Horaz  ins  Gedächtniss. 
Zu  einer  Zeit,  in  der  die  Poesie  nur  als  Rhetorik  und  Verskunst 
geschätzt  wurde,  konnte  es  nicht  darauf  ankommen,  dass  jene 
Dichtungen  blos  die  antike  Form  hatten,  die  eigentlich  christliche  Poesie 
aber  nur  schwach  zur  Geltung  kam.    Die  Dichtkunst  war   christlich 


1)  Zapp  er  t  (a.  a.  0.  Anm.  53,  p.  20  ff.)  hat  eine  Menge  von  Vir- 
gilreminiscenzen,  die  sich  in  lateinischen  Dichtungen  des  Mittelalters  vom 
Ó.  bis  12.  Jahrhundert  finden,  zusammengestellt.  Die  Sammlung  gibt 
aber  in  ihrer  geringen  Ausdehnung  keine  rechte  Vorstellung  von  der 
Sache,  da  sich  dasselbe  Verfahren  auch  auf  Ovid  und  andere  Dichter 
anwenden  liesse.  Die  Virgilelemente  in  der  lateinischen  Poesie  des  Mittel- 
alters complet  zusammen  zu  stellen,  wäre  ein  colossale«  Unternehmen, 
was  aber  die  zu  Grunde  liegenden  Thatsachen  in  keinem  andern  Lichte 
erscheinen  lassen  würde. 

Comparetti,   Virgil  im  Mittelalter.  JQ 


146  Virgil  in  der  Literatur  bi?  auf  Dante. 

nur  durch  den  Inlialt,  heidnisch  in  der  Form.  Wenn  ein  christ- 
licher Dichter  den  heiligen  Stoff  einmal  bei  Seite  Hess,  so  standen 
die  klassischen  Typen  so  mustergiltig  vor  ihm,  dass  man  ihn, 
wie  wh-  bei  Ausonius  sehen,  kaum  von  einem  Heiden  unterschei- 
den kann.  Dies  bestätigte  sich  vor  allem  im  Beginn  des  Mittel- 
alters und  -der  Renaissance,  als  sich  die  lateinische  Dichtung  der 
Christen  mehr  als  je  gestattete,  auf  ein  weltliches  Gebiet  abzu- 
schweifen ;  ebendeshalb  musste  auch  zur  Zeit  des  Mönchsthunis 
die  lateinische  Poesie  so  allgemein  fast  nur  auf  heilige  Stoffe  an- 
gewandt werden.  Aber  auch  als  es  noch  Heiden  gab,  Hessen  sich 
die  damals  noch  eifrigen  Christen,  wie  sie  eben  aus  dem  Kampfe 
hervorgegangen  waren,  so  gut  wie  gar  nicht  auf  weltliche  Dich- 
tungen ein.  Schon  damals  wurde  Cultur  und  Poesie  zumeist  vom 
Clerus  repräsentirt,  nur  selten  traten  Laien  als  Dichter  auf.  Man 
konnte  also  schon  genau  voraussehen,  in  welcher  Weise  sich  die 
Gesellschaft  und  die  Cultur  gestalten  werde,  sobald  das  Heiden- 
thum  ganz  zu  existiren  aufgehört  haben  würde.  Der  Charakter 
des  Mittelalters  zeigt  sich  in  dem  Uebergewicht  der  religiösen 
Idee,  die  jede  Thätigkeit  und  jeden  Stand  der  Gesellschaft  bis 
ins  innerste  Mark  durchdringt.  Das  sich  entwickelnde  Christen- 
thum  war  eben  nicht  in  der  römischen  Welt  aufgegangen,  sondern 
hatte  diese  in  sich  aufgehen  lassen.  Die  menschliche  Thätigkeit 
wird  nun  in  scharfer  Absonderung  auf  die  verschiedenen  Stände 
vertheilt  und  mit  dem  Triumph  über  das  Heidenthum  entwickelt 
sieh  auch  die  erste  radicale  Spaltung  zwischen  Laien  und  Clerikem. 
Den  ersteren  bleibt  die  Pflege  des  materiellen,  den  letzteren  die 
des  geistigen  Lebens.  Dem  Laien  erscheint  es  ganz  natürlich, 
wenn  die  Bildung  nicht  seine  Sache  ist.  Er  schämt  sich  deshalb 
eben  so  wenig,  als  es  eiue  Schande  für  ihn  ist,  nicht  Cleriker 
zu  sein,  und  schliesslich  bedeutet  Cleriker  einen  gelehrten  Mann,. 
Laie  den  Nichtgelehrten.  Jeuer  ist  zwar  ausgezeichnet,  dieser 
aber  nicht  verachtet.  Eben  darum  coucentriren  sich  die  Cultur 
und  das  geistige  Leben,  die  das  Eigenthum  einer  religiösen  Kaste 
geworden  sind,  in  der  Religion.  Der  Einfluss  dieses  Standes,  der 
vom  Fürsten  bis  zum  Bauer  das  Herz  und  den  Verstand  Aller  in 
der  Hand  hatte,  zeigte  sich  in  allen  Schichten  der  Gesellschaft. 

Alles  das  bestimmt  den  Charakter  der  mittelalterlichen  latei- 
nischen Poesie  von  klassischer  Form.  Ein  künstliches  Produkt 
der  Schule  wird  sie  vom  Clerus  auf  das  religiöse  Gebiet  über- 
tragen. Von  anderen  Empfindungen  schliesst  sie  sich  ab,  aber 
selbst   die   profanen  Stoffe  z.    B.   die   versificirte    Dar.stellung   einer 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  147 

historischen  Begebenheit,  zeigen  doch  in  ihren  moralisirenden  Ten- 
denzen den  kirchlichen  und  religiösen  Standpunkt.  Die  Barbarei 
und  Unwissenheit  in  der  Anwendung  der  poetischen  Mittel,  die, 
wie  wir  gesehen  haben,  in  den  Grammatik-  und  ßhetorenschulen 
des  Mittelalters  herrscht,  ist  ganz  dieselbe  in  den  Gedichten 
dieser  Art.  Dieselben  dienen  ja  nicht  dem  Ausdruck  einer 
Leidenschaft  oder  einer  Empfindung,  noch  sind  sie  die  besonnene 
und  feine  Nachahmung  eines  bestimmten  Kunsttypus,  sondern  sie 
gelten  lediglich  als  ein  Zeitvertreib  und  eine  Uebung  in  der 
Versraacherei.  Einer  solchen  Zerstreuung  und  Erholung  konnte 
man  wol  „ad  majorem  dei  gloriam"  einige  Stunden  widmen. 
Ein  wahrer  Dichter,  der  nichts  ist,  als  ein  solcher,  wäre  diesen 
Leuten  schon  eben  dadurch  widerlich  gewesen.  Lactanz,  Aldhelm, 
Alcuin,  Beda,  Rhabanus  Maurus  und  Andere  machen  ihre  latei- 
nischen Verse  zur  Unterhaltung,  so  wie  man  heute  eine  Partie 
Billard  spielt,  und  finden  einen  Spass  daran.  Hunderte  von  Räth- 
selu,  Logogrjphen,  Anagrammen,  Akrosticha  und  ähnliche  Kindereien 
zu  produciren.  Auch  in  diesen  lateinischen  Gedichten  mittelalter- 
licher Mönche  zeigt  sich  so  recht  der  Charakter  der  Dichtung  der 
Verfallzeit,  abgesehen  davon,  dass  die  antiken  Formen  jetzt  viel 
roher  behandelt  werden  und  ihre  Existenz  noch  weit  mehr  in 
Frage  gestellt  ist,  als  früher,  wo  sie  dem  Schulzwecke  dienten^). 
Man  begreift  übrigens,  wie  sich  in  der  kirchlichen  Literatur  die 
sprachliche  Form  in  der  der  Kii'che  stets  eigenen  stereotypen  Weise, 
und  der  Einfluss  des  Geschmackes,  welcher  eben,  als  die  Kirche 
sich  in  der  römischen  Welt  organisirte,  der  heiTSchende  war, 
fixiren  musate.  Rhetorik  und  Declamation,  ein  ewiges  unverstän- 
diges Wiederholen  von  Phrasen  und  Gemeinplätzen ,  der  falsche 
\uid  übertriebene  Schmuck  conventioneller  Epitheta,  dazwischen  ein 
Aufputzen  mit  Stellen  aus  beliebten  Schriftstellern  erhielten  sich 
in  der  lateinischen  Literatiir  der  Kirche  ebenso  unverändert  wie 
die  Liturgie  und  das  Ritual.     Wir  finden  dieselbe  Eigenthümlich- 


1)  Leyser,  De  ficta  medii  aevi  barbarie,  imprimis  circa  poesim  la- 
tinam,  Heimst.  1719,  hat  sich  vergebens  bemüht,  die  lateinische  Poesie 
des  Mittelalters  zu  vertheidigen.  Denselben  Gedanken  hat  Wright:  On 
the  auglo-Jatin  poets  of  the  twelfth  Century  (in  seinen  Essays  on  subjects 
connected  with  the  literature,  populär  superstitious  and  history  of  Eng- 
land in  the  middle  ages.  Vol.  I,  p.  176—217)  mit  besserer  Begründung 
ausgeführt.  Aber  die  Vorzüge  beschränken  sich  doch  auf  einige 
Ausnahmen.  Vgl.  auch  Baehr,  Geschichte  d.  röm.  Literatur  im  Karolin- 
gischen Zeitalter,  cap.  II. 

10* 


148  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

keit  bei  Augiistiu,  Cassiodor,  Gregor  und  Thomas  von  Aquino, 
wie  in  den  neuesten  Allocutionen  und  Rundschreiben  des  Papstes 
und  den  modernen  religiösen  Schriftstellern,  so  weit  sie  Katholiken 
sind.  Eben  weil  diese  in  ihrer  Cultur,  ihrer  Empfindung  und 
Dialektik  mittelalterlich  sind,  mühen  sie  sich  vergebens  ab,  die 
moderne  Wissenschaft  zu  bekämpfen,  die  sich  nicht  um  sie  be- 
kümmern kann. 

Die  Lage,  in  welcher  sich  die  christliche  Poesie  befand,  wurde 
ganz  unerträglich.  Im  Alterthum  waren  Religion  und  Poesie 
Schwestern,  oft  sogar  identisch  miteinander.  Die  Mythologie,  die 
selbst  eine  poetische  Schöpfung  war,  bildete  ganz  abgesehen  von 
den  poetischen  Idealen,  in  denen  sie  zur  Geltung  kam,  einen  so  we- 
sentlichen Bestandtheil  des  poetischen  Hausrathes ,  dass  man  un- 
möglich in  der  antiken  Form  Christus  und  die  Heiligen  besingen 
konnte,  ohne  dass  nicht  zugleich  Apoll  mit  den  neun  Musen  und 
der  ganze  heidnische  Olymp  in  das  Gedicht  mit  eindrang.  Es  ist 
allerdings  richtig,  dass  jene  Gestalten  vor  der  neuen  Religion  ihren 
religiösen  Charakter  ganz  aufgaben  und  nur  ihren  poetischen  Werth 
beibehalten  konnten  ;  wie  denn  in  der  That  ihr  Fortleben  in  der  euro- 
päischen Poesie  bis  auf  die  Neuzeit  überraschend  genug  ist^).  Das 
konnte  jedoch  ohne  grossen  Schaden  nur  geschehen,  wenn  eine 
Kunst  neue  Formen  annahm,  in  denen  das  Erbe  der  älteren  zwar 
modificirt  aber  doch  noch  richtig  zur  Erscheinung  kam.  In  einer 
Kunst  aber,  die  nur  nachahmte  und  deren  Form  antik  war,  musste 
jene  selbst  oder,  wie  wir  es  in  der  Renaissance  sehen,  die 
neue  Idee,  auf  die  mau  sie  anwenden  wollte,  dabei  verlieren. 
Diese  Unverträglichkeiten  wurden  von  vielen  Mönchen  um  so  eher 
bemerkt,  je  mehr  das  Christenthum  ihren  Geist  beherrschte,  und 
sie  dachten  wol  auch  daran,  das  Missverhältniss  zu  vermeiden^). 
Aber  wollten  sie  ihr  Gefühl  retten,  so  thaten  sie  wieder  durch 
die  komischen  Mittel,  zu  denen  sie  griffen,  der  Kirnst  Schaden, 
wie  wenn  sie  an  Stelle  der  alten  poetischen  Anrufungen: 
„domine  labia  mea  aperies"  oder  gar  noch  schlimmer,  „der  welcher 


1)  Wie  diese  heterogenen  Elemente  miteinander  verschmolzen,  hat 
Piper  gezeigt  in  seinem  gelehrten  Werke  „Mythologie  der  christlichen 
Kunst,  von  der  ältesten  Zeit  bis  ins  sechszehnte  Jahrhundert",  Weimar, 
1847—51. 

2)  „Sed  Stylus  ethuicus  atque  poeticus  abjiciendus; 
Dant  sibi  turpiter  oscnla  lupiter  et  schola  Christi." 

Bernard.  Morlan.  de  conteniiit.  p.  80. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  149 

die  Eselin  Balaam's  sprechen  Hess  u.  s.  w."  sagten^).  Und  doch 
hat  jene  so  lebhafte  und  so  intensive  Empfindung  sich  schliesslich 
emancipii-t.  Sie  dui'chbrach  die  Fesseln,  die  sie  in  den  klassischen 
Formen  gefangen  hielt,  und  fand  einen  Ausweg  in  der,  wie  die 
Zeit  es  verlangte,  einfachen,  volksthümlichen  Latinität,  welche  das 
Organ  der  Liturgie  und  des  christlichen  Glaubens  blieb.  Indem 
das  Ohr  dem  Volksgesange  lauschte,  der  wie  natürlich  aus  der 
lebendigen  Volkssprache  auch  neue  Khythmen  entwickelte,  hörte  es 
nur  noch  den  Accent  und  nicht  mehr  die  Quantität  der  Sjlben. 
In  den  so  entstandenen  lateinischen  rhythmischen  Poesien  bewegte 
sich  das  Mittelalter  viel  freier  und  offenbarte  seine  Stimmung  viel 
reiner  und  natürlicher.  Prudentius  und  die  anderen  gelehrten 
christlichen  Dichter  haben  niemals  in  ihren  Versen  so  viel  wahre 
und  wirklich  gefühlte  Poesie  geoffenbart,  als  sich  in  dem  „Dies 
irae"  und  ähnlichen  Dichtungen  zeigt,  die  sich  durch  Sprache  und 
Vers  durchaus  von  den  Klassikern  unterscheiden.  Hier  hören  wir, 
wie  die  Seele  zagt  und  zittert,  wie  sie  fürchtet  und  hofft  und 
voll  Begeisterung  sich  emporschwingt.  Man  braucht  aus  dem  In- 
halt des  Gedichtes  gar  kein  Glaubensbekenntniss  zu  machen  und  kann 
doch  diese  schöne  und  zarte  Poesie  empfinden,  eben  weil  sie  wirk- 
lich aus  der  Seele  des  Menschen  entspringt  und  sich  auf  eine  all- 
gemein menschliche  Empfindung  stützt,  während  man  die  rhetori- 
sii-enden  Künstler  von  Oden  und  Hexametern  gar  oft  fragen  möchte, 
ob  sie  es  auch  ernst  mit  ihren  Worten  meinen. 

Diese  neue  Poesie,  deren  hervorragendste  Leistung  der  latei- 
nischen Kirchensprache  und  der  religiösen  Empfindung  angehören, 
entspringt  aus  derselben  frischen  Quelle,  der  auch  die  neue  Laien- 
dichtung der  Volksliteratur  entquillt.  Ihre  Erscheinung  entsprach 
so  dem  Zeitgeiste,  dass  sie  selbst  die  Poesie  der  Schule,  der  sie 
lange  zur  Seite  ging,  beeinflusste.  Aus  dem  Bildimgsstofle ,  den 
die  Schule  bewahrte,  zog  die  Volkspoesie  Gedanken,  Namen  und 
Thatsachen.  Dafür  lieh  sie  wieder  der  Schule  oft  ihre  Rhythmen 
oder  zerstörte  die  alten  metriscTien  Typen,  indem  sie  die  Quan- 
tität der  Sylben  vergessen  Hess  und  Accent  imd  Reim  zur  Geltung 
brachte. 


1)  „Vix  muttii-e  queo,  mutum,  precor,  os  aperito, 
Ipso  docens  asinam  quae  doceat  Balaam." 
Heriger.   (10.  Jahrb.)  Gest.  Leodiens.  bei  Pertz,  Mon.    Germ.  IX,    177. 
Vgl.  die  Stellen  aus  Paulinus  Nolanus,   Sigbert  u.  a.  bei  Zappert 
a.  a.  0.  Anm.  61. 


150  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

Diese  kurzen  Bemerkungen  über  die  lateinis^chen  Dichtungen 
des  Mittelalters  sollen  zeigen,  wie  jene  damals  die  Cultur  beherr- 
schende Kaste  eben  so  wenig  bei  ihrer  gelehrten  Thätigkcit,  wie  in 
der  Nachahmung  der  alten  Muster  eine  Vorstellung  vom  Alter- 
thume  hatte.  Daraus  erklärt  sich  auch,  wie  wenig  jene  Leute  für 
das  aesthetische  Verständniss  Virgils  beftihigt  waren  ;  ihrem  mangel- 
haften Studium  entsprach  ihre  gelehrte  Production  ganz  genau  ; 
Wir  können  uns  jetzt  zu  der  neuen  Literatur  der  Volkspoesie 
wenden  und  müssen  nunmehr  die  Stellung  unseres  Dichters  in 
diesem  neuen  Elemente  betrachten.  Bevor  wir  uns  jedoch  auf  dieses 
nexie,  von  dem  vorher  besprochenen  so  durchaus  verschiedene  Gebiet 
begeben,  ist  es  nöthig,  zuvor  die  hauptsächlichsten  charakteristischen 
Züge  der  Vorstellung,  die  das  Mittelalter  vom  Alterthum  hatte, 
noch  einmal  zusammenzufassen. 


Zwölftes    Capitel. 

Die  Thatsache,  dass  im  Mittelalter  das  Studium  des  Griechi- 
schen ganz  aus  dem  westlichen  Europa  verschwindet,  ist  für  die 
damalige  Vorstellung  vom  Alterthum  und  für  das  Verhältniss 
Virgils  zu  derselben  von  bedeutenden  Folgen  gcAvesen.  Jene 
Spaltung,  die  zunächst  zwischen  Rom  und  Byzanz  bestehend, 
dann  aber  mit  dem  Verfalle  des  Reiches  und  dem  Vordringen 
des  Christenthumes  besonders  seit  Justinian  sich  über  den  ganzen 
Occident  und  Orient  erstreckt,  und  in  der  Religion  mit  dem 
Schisma  des  Photius  und  der  Trennung  beider  Kirchen  endigt, 
durchdringt  in  gleicher  Schärfe  auch  die  gesammte  Bildung  und 
das  Studium.  Obgleich  das  Christenthum  zu  den  Völkern  latei- 
nischer Cultur  zuerst  in  griechischer  Sprache  gekommen  war  und 
der  Text  der  Evangelien  wie  der  Kirchenväter  Basilius,  Chrysos- 
tomus,  Dionysius  Areopagita  u.  A.  griechisch  ist,  war  doch  die 
Kirche,  seitdem  sich  das  Centrum  des  Christenthums  in  Rom  fest- 
gesetzt hatte,  und  von  doi-t  aus  eine  gleichsam  von  Rom  unzertrenn- 
liche Weltherrschaft  ausgeübt  wurde,  wesentlich  römisch  und  la- 
teinisch geblieben.  Das  allgemeine  Organ,  dessen  sie  sich  dabei 
bediente,  war  die  lateinische  Sprache,  und  so  sorgte  sie  allein  für 
die  Fortdauer  der  römischen  Literatur,  wenngleich  mit  jener  den 
profanen  Zwecken  gegenüber  gewöhnlichen  Nachlässigkeit.  Aber  es 
trat  sowol  in  den  Ländern  lateinischer  wie  griechischer  Cultur 
der  Verfall  ein.  Das  Band,  was  sie  zusammengehalten  hatte, 
zerriss,    und  die  Anziehungskraft,    welche    die    römische  Welt  auf 


Virgil  iu  der  Literatur  bis  auf  Dante.  151 

so  viele  griechisrche  Schriftsteller  ausgeübt  hatte,  machte  jetzt  dem 
Misstraueu  und  gegenseitiger  Antipathie  Platz.  Aus  der  Cultur 
des  westlichen  Europas  verschwand  jenes  griechische  Element,  das 
so  tief  in  die  römische  Bildung  eingedrungen  war,  einen  solchen 
Hauptbestandtheil  der  literarischen  Productionen  der  Römer  bildete 
und  so  wesentlich  für  deren  volles  Verständniss  war.  Hier  und 
dort  findet  sieh  wol  ein  Dilettant,  der  ein  wenig  Griechisch  ver- 
steht oder  ein  Lehrer,  der  seinen  Schülern  eine  schwache  Vor- 
stellung davon  gibt'),  aber  die  sichere  Kenntniss  des  Griechischen 
ist  eine  grosse  Seltenheit,  und  selbst  die,  welche  den  Ruf  genossen, 
es  zu  verstehen,  vermochten  kaum  eine  Zeile  ohne  die  gröbsten 
Fehler  zu  übersetzen.  Selbst  die  ausgezeichnetsten  unter  dem  lateini- 
schen Clerus  bekunden  die  grosseste  Unwissenheit.  Die  gewöhn- 
lichsten griechischen  Worte,  die  für  Kirche  und  Schule  unentbehr- 
lich waren,  erklärte  man  in  Glossaren  i;nd  encyklopädischen  Re- 
pertorien.  Irrthümlich  haben  einige  neuere  Gelehrte  in  Folge 
dieses  oder  jenes  griechischen  Wortes,  das  bei  einem  mittelalter- 
lichen Schriftsteller  vorkömmt,  bei  demselben  eine  Kenntniss  des 
Griechischen  vorausgesetzt.  Abgesehen  von  lateinischen  Ueber- 
setzuugen  einiger  Bücher  des  Aristoteles,  wusste  man  von  der  alten 
griechischen  Literatur  und  von  Griechenland  selbst  nur  das,  was  man 
mittelbar  aus  den  lateinischen  Schriftstellern  dafür  auffinden  konnte. 
Homer  war  nur  aus  dem  lateinischen  Auszuge  in  Versen  bekannt, 
für  dessen  Verfasser  man  nicht  selten  ihn  selber  oder  den  the- 
banischen  Pin  dar  hielt  ^j.     Wenn  die  mittelaltei-licheu  Schriftsteller, 


1)  Einige  Ausnahmen  von  dem  was  ich  hier  bemerkte  finden  sich 
bei  Gramer,  De  graeeis  medii  aevi  studiis.  Sundiae  1849 — 53.  Le  Glay, 
Sur  l'étude  du  gi-ec  dans  les  Pays-Bas  avant  le  quinzième  siècle. 
Cambrai,  1828;  Egg  er,  L"Hellenisme  en  France.  Paris,  1869;  Young, 
On  the  history  of  Greek  Literature  in  England  from  the  earliest  times 
to  the  end  of  the  reign  of  James  the  first,  Cambridge,  1862;  Warton, 
On  the  introduction  of  learning  iu  England,  im  1.  Bande  seiner  History 
of  english  poetry.  Lond.  1840  p.  LXXXII  ff.;  Gradenigo,  Intorno 
agli  italiani  che  dal  secolo  XI  intìn  verso  la  fine  del  XIY  seppero  di 
Greco,  in  den  Miscellanea  di  varie  operette.  Bd.  Vili,  Venezia  1744. 
Eine  Geschichte  der  griechischen  Studien  in  Italien  während  des  Mittel- 
alters wäre  gewiss  von  besonderem  Interesse,  obgleich  die  von  der  By- 
zantinischen Herrschaft  ausgehenden  Einflüsse  auf  die  Cultur  in  einigen 
Provinzen  nicht  so  bedeutend  waren,  als  man  meint. 

2)  Hugo  von  Trimberg  (13.  Jahrhundert)  setzt  diesen  lateinischen 
Homer    nach    Statius    an.     Der    Grund,     den     er    dafür     anführt,    be- 


152  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

wie  oft  geschieht,  i;uter  den  grossen  Dichtern  der  Alten  Homer 
lind  Virgil  nebeneinander  stellen,  wie  es  ja  auch  die  Römer  thaten, 
so  wiederholen  sie  nur  mechanisch  eine  Bemerkung  der  lateinischen 
Autoren  oder  eine  Schultradition.  Von  der  Beziehimg  beider 
zu  einander  konnten  sie  natürlich  keine  Idee  haben.  Homer  war 
ein  leerer  Xame;  als  grösster  Dichter  der  Alten  und  erster  Profan- 
schriftsteller galt  für  die  Schule  Virgil.  Er  nahm  also  unter  dem 
ganzen  Comjilex  der  erhaltenen  antiken  Literatur  wie  im  Unter- 
richte eine  viel  höhere  Stellung  als  bei  den  Alten  ein,  die  ja 
auch  die  griechischen  Dichter  in  der  Schule  lasen.  Aber  neben 
dieser  Oberherrschaft  Virgils  in  der  klassischen  Uebei-lieferung 
war  doch  diese  selbst  in  den  tiefsten  Verfall  gerathen.  Bei  der 
geistigen  Thätigkeit  und  Bildung  der  Zeit  blieb  für-  diese  Tra- 
dition nur  noch  ein  beschränktes  Gebiet  übrig,  das  noch  dazu  durch 
Vorurtheile  und  Irrtbümer  in  ein  ganz  schiefes  Licht  gerückt  war. 
Die  C4eistlichen  hatten  ja,  wenn  sie  sich  mit  Profanstudien  ab- 
gaben, eigentlich  andere  Hauptbeschäftigungen.  Cassiodor  empfiehlt 
zwar  seinen  Mönchen  diese  Studien,  setzt  aber  doch  hinzu,  dass 
man  zur  wahren  Weisheit  auch  ohne  Literatur  gelangen  könne. 
„Nichtsdestoweniger",  meint  er,  „ist  es  gerathen,  von  ihr  eine 
massige  Kenntniss  zu  erlangen,  nicht  als  ob  wür  darum  hoflfen 
könnten,  gerettet  zu  werden,  sondern  weil  wir  wünschen,  dass,  in- 


weist,   wie    wenig    das    westliche  Europa    im    Mittelalter    von    Honitr 
wusste  : 

„Sequitur  in  ordine  Statium  Homerus 

qui  nunc  usitatus  est,  sed  non  ille  verus; 

nam  ille  Graecus  extitit  graeceque  scribebat, 

sequentemque  Veri,'ilium  Aeneidos  habebat, 

qui  principalis  extitit  poeta  latinorum; 

sic  et  Homerus  claruit  in  studiis  Graecorura. 

Hie  itaque  Vergilium  praecedere  deberet, 

si  latine  quispiam  hunc  editum  haberet. 

Sed  apud  Graecos  remaneus  nondum  est  translatua; 

hinc  minori  locus  est  hie  Homero  datus, 

quem  Pindarus  philosophus  fertur  transtulisse 

Latinisque  doctoribus  in  metrum  convertisse." 
Vgl.  Haupt,  Monatsschr.  d.  Beri.  Akad.  18.54,  p.  147;  L.  Müller,  Ho- 
merus latinus  im  Philologus  XV  p.  47ä  ff.  und  im  Rhein.  Mus.  N. 
F.  XXIV,  p.  492  f.  —  Wenu  die  mittelalterlichen  Schrift.steller  von 
einem  damals  gelesenen  und  bekannten  Homer  sprechen,  so  meinen  sie 
im  allgemeinen  diesen  lateinischen  Homer.  Es  ist  daher  ein  grober  Irr- 
thum,  wenu  Wright  (Biogr.  Brit.  lit.  I,  p.  40)  meint,  Homer  sei  in  den 
Schulen  des  Occidentes  bis  ins  13.  Jahrh.  gelesen  worden. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  153 

dem  wir  sie  im  Vorbeigehen  studiren,  uns  der  Vater  des  Lichtes 
die  wahrhaft  heilsame  und  wolthätige  Weisheit  schenken  wird"^). 
Diese  Worte  kennzeichnen  hinreichend  die  Stellung,  die  der  Clerus 
im  Mittelalter  den  Profanstudien  gegenüber  einnahm.  Die  ganze 
Hauptkraft  und  Thätigkeit  des  Geistes  war  auf  Theologie  und 
Askese  gerichtet  nnd  erging  sich  dabei  in  den  Abstrac- 
tionen  der  Dialectik  und  speculativen  Philosophie.  Hierin  fanden 
die  hervorragendsten  Geister  ihre  Nahrung,  jedes  andere  Studium 
war  für  die  Kinder  eine  Vorbereitung  zu  höheren  Dingen,  für  die 
Erwachsenen  ein  Zeitvertreib;  sich  aber  ausschliesslich  mit  ihm 
zu  befassen,  erschien  geradezu  als  frivol  und  der  Würde  eines 
Geistlichen  nicht  angemessen.  Selbst  ein  Schriftsteller,  welcher 
Sylvester  IL  wegen  seiner  Kenntniss  der  Mechanik  und  Mathe- 
matik, nicht  der  Magie  anklagte,  gestand  doch  ofifen,  „dass  er 
sich  gar  zu  sehr  den  weltlichen  Studien  ergab"  ^).  Dies  war  aber 
nicht  bloss  die  Anschauung  derer,  welche  die  Profanstudien,  weil 
sie  sich  auf  die  Autorität  der  Heiden  stützten,  verachteten  und 
verdammten,  sondern  auch  der  Leute,  welche  sie  billigten  und  zu 
fördern  strebten.  Daher  die'  vielen  Widersprüche  unter  den  Zeit- 
genossen selbst;  die  einen  beklagen  den  Verfall  der  Studien,  die 
andern    sagen,    dass    sie   zu    sehr   blühen^);    aber    an   eine  Blüthe 


1)  „Sciamus  tamen  non  in  solis  litteris  positam  esse  prudentiam, 
ned  sapientia,m  dare  Deum  unicuique  prout  vult .  .  .  .  si  tamen,  divina 
grafia  suffragante,  nòtitia  ipsarum  rerum  sobrie  ac  rationabiliter  inqui- 
ratur,  non  ut  in  ipsis  habeamus  spem  provectus  nostri,  sed  per  ipsa 
transeuntes  desideremus  nobis  a  Patre  luminum  proficuam  salutaremque 
sapientiam  debere  concedi."  Cassi  od.  Instit.  div.  e.  28. 

2)  „Studiis  saecularibus  nimium  deditus."  Anon.  Zwettling.  Vgl. 
Hock,  Gerbertus,  e.  13. 

3)  „Cum  studia  saecularium  litterarum  magno  desiderio  fervere  cogno- 
8cei*em,  ita  ut  magna  pars  hominum  per  ipsa  se  mundi  prudentiam  cre- 
deret  adipisci,  gravissimo  sum,  fateor,  dolore  permotus,  quod  scripturis 
divinis  magistri  publici  deesseut,  cum  mundani  auctores  celeberrima 
procul  dubio  traditione  pollerent."  Cassio d.  Praef.  ad  div.  inst. ;  „Unde 
miror  sàtis  quod  non  velini  mystica  Dei  sacramenta  ea  diligentia  jjer- 
scrutari  qua  tragoediarum  naenias  et  poetarum  figmenta  sudantes  cupiunt 
investigare  labore."  Paschas.  Rathbert.  (9.  Jahrb.),  in  Math.  p.  411  f. 
(Bibl.  Patr.  max.  XIV);  „Alii  autem  studiis  incitati  carminum  ad  nae- 
niarum  garrulitates  alta  divertunt  ingeuia,  famam  autem  veritatis  ergo, 
Dei  sanctorum  memorando  gesta....  fabulis  delectati,  non  pavent  sub- 
cludere."  Gumpold  beiPertz,  Mon.  Germ.  bist.  IV,  213;  ,,Cumque  gen- 

tilium    figmenta,    sive    deliramenta    cum    omni    studio  videamus in 

gyranasiis    et  scholis   publice  celebrata  et  cum  laude   recitata,   dignum 


154  Viigil  in  der  Literatur  bis  auf  Daute. 

war  unter  dies^en  Yerhältuisseu  gar  nicht  zu  deuken,  wenngleich 
jene  trotz  der  Gegenbestrebungeu  niemals  zu  existiren  aufgehört 
haben.  Wer  die  Geschichte  dieser  Zeiten  schreibt,  w'ird  als  be- 
nierkenswerth  verzeichnen  müssen,  wenn  er  ab  und  zu  ein  Lebens- 
zeichen der  klassischen  Studien  wahrnimmt.  Wie  die  Bettler 
schleichen  sie  von  einem  Kloster  zum  andern,  selten  dass  sich  ein 
Fürst  ihrer  annimmt:  auf  Karl  den  Grossen,  der  sie  kaum  zu- 
reichend beschützt,  folgt  Ludwig  der  Fromme,  der  sie  verabscheut. 
Es  war  aber  nicht  allein  der  heidnische  Geist  der  alten  Literatm-, 
der  von  ihrer  Beschäftigung  abhielt,  sondern  im  Allgemeinen  mehr 
der  weltliche  Charakter  dieser  Studien.  Das  ästhetische  Gefallen 
erschien  wüe  eine  sündliche  Emiifindung  oder  Ausschweifung.  Auch 
die  Erholung  musste  erbaulich  und  fromm  sein.  Die  vom 
Mönchsthum  beherrschte  Bildung  hatte  nicht  mehr  den  Zweck,  den 
Geist  zu  verfeinern  und  zu  verschönern,  sondern  ihn  zu  reinigen 
und  nach  den  theologischen  Vorschriften,  die  das  Christenthum 
repräsentii-en  sollten,  für  seinen  überirdischen  Zweck  zu  heiligen. 
Vorher  hatten  die  lateinischen  Schriftsteller  mit  den  Griechen,  jetzt 
mit  den  heiligen  Schx'iften  zu  concnrriren,  was  viel  gefährlicher 
für  sie  war.  Letztere  waren  ja  eben  die  Klassiker  der  Epoche,  an 
denen  der  Geist  sich  bildete,  und  in  denen  er  dem  moralischen 
Zwecke  des  Lebens  entsprechend  seine  passendere  Nahrung  fand. 
Schon 'in  den  Büchern  des  alten  Testamentes  finden  wir  jene  Uni- 
versalität der  Religion,  welche  die  ganze  Menschheit  durchdringt 
und  regiert  und  ebenso  wesentlich  für  das  .christliche  wie  das 
jüdische  Ideal  gewesen  ist.  Auf  ihnen  basirte  aber  vor  allem 
in  jener  Zeit  die  moralische  und  religiöse  Erziehung.  Ihnen  zur 
Seite  standen  Virgil  und  die  alten  Häupter  der  profanen  Erzie- 
hung; freilich  in  jenem  ungeheuren  Abstände  des  Menschenwortes 
vom  Gotteswort,  der  Achtung  vor  der  Literatur  von  der  Verehrung 
der  Eeligion.  Obgleich  es  als  Profanation  erscheinen  konnte,  diese 
Bücher  als  Denkmal  der  Literatur  zu  betrachten  und  sie  den 
Klassikern  an  die  Seite  zu  stellen,  blieb  ihnen  doch  ein  literarischer 
Character.     Besonders,    was    die  Poesie    anlangt,   übten   sie  durch 


duximus  ut  sanctorum  dieta  et  facta  describantur,  et  descripta  ad  lau- 
dem  et  honorem  Christi  referantur."  Histor.  Eliensis  bei  Gale, 
Scriptores  bist.  brit.  p.  463. 

1)  „Poetica  carmina  gentilia  quae  in  juventute  didicerat  respuit, 
nee  legere,  nee  audire,  nee  decere  voluit."  Thegan.,  Vit.  Ludovic. 
Pii.  §  19. 


Virgil  iu  der  Literatur  bis  auf  D-.iute.  155 

ihre  fortwährende  Anwendung  in  der  Liturgie,  im  Gebete  uud  der 
erbaulichen  Literatur  einen  bedeutenden  Eiufluss  aus.  Sie  ge- 
wöhnten den  Geist  an  poetische  Formen  und  an  ein  poetisches  Ge- 
präge, das  sich  auf  das  schroffste  von  dem  klassischen  Typus  unter- 
scheidet. Dazu  kam,  dass  sie  weit  mehr  mit  den  warmen  Empfin- 
dungen des  Gläubigen  harmonirten,  und  aus  eben  diesem  Grunde 
gaben  die  im  Schulgebrauch  noch  immer  vorhandenen  klassischen 
Formen  allmälig  ganz  ihr  Leben  auf.  Man  drang  nicht  mehr  iu 
den  Geist  der  alten  Poesie  ein,  und  wurde  unfähig,  ihn  unabhängig 
von  irgend  einem  religiösen  Vorurtheil  und  blos  mit  dem  Auge 
des  Laien  zu  beurtheileu.  Zum  Verständniss  einer  fremden  und 
nicht  mehr  lebendigen  Poesie  muss  der  Geist  sich  in  jene  erhabenen 
Regionen  aufschwingen,  in  denen  er  mit  klarem  Blicke  die  verschie- 
denen Formen  und  Phasen  der  menschlichen  Productivität  erschaut. 
Um  aber  eine  dem  Mittelalter  so  entgegengesetzte  Poesie  zu  ver- 
stehen, wie  die  der  Alten  ist,  musste  der  Geist  erst  eine  ganz  be- 
sondere Schule  durchmachen,  die  den  Geschmack  in  eine  andere 
Bahn  lenkte  und  ihm  Dinge  zeigte,  die  höher  stehen  als  die  ge- 
wöhnlichen Erscheinungen  des  Lebens.  Von  selbst  kann  man  nicht 
dahin  gelangen.  Es  bedarf  vielmehr  einer  grossen  Anstrengung  in 
der  eben  so  individuellen  wie  universellen  Erziehung  und  Bildung, 
die  wir  aber  nicht  bei  einem  Mönche  des  Mittelalters  voraussetzen 
können.  Die  Cultur  des  Mittelalters  ist  in  jeder  Beziehung  zu 
arm,  schwach  und  vernachlässigt,  als  dass  sie  den  Geist  über 
die  gewöhnliche  Anschauungsweise  zu  erheben  vermöchte.  Huma- 
nismus ist  dieser  Zeit  etwas  Unbekanntes.  Der  am  Meisten  welt- 
lich gesinnte  Mönch,  der  sich  in  die  alten  Schriftsteller  verliebt 
hat,  ist  immer  noch  ungebildeter,  als  der  schlechteste  Latinist  aus 
der  Renaissance.  Eben  darum  verstehen  Mönch  wie  Laie  de.s 
Mittelalters  die  neue  nationale  volksthümliche  Dichtung  der  Zeit 
besser,  als  die  klassische,  und  nur  so  erklärt  sich  das  Ein- 
dringen der  Volkspoesie  in  die  Klöster,  sowie  der  Umstand,  dass 
gerade  die  Mönche  vornehmlich  es  sind,  w^elche  jene  neuen  Volks- 
dichtungen sow'ol  in  lateinischer  wie  volksmässiger  Sprache  sammeln 
und  pflegen.  Wer  nicht  das  Eigenthümliche  dieser  Abirrung  von 
den  antiken  literarischen  Idealen,  so  wie  die  Unfähigkeit  des  ganzen 
Mittelalters  sie  zu  verstehen  begreift,  wird  auch  niemals  ganz  die 
Renaissance  begreifen. 

Der  Cleriker  des  Mittelalters  nahm  nur  eine  kleine  Summe 
des  alten  Wissens  auf  und  diese  selbst  doch  nur  äusserlich  und 
unter    falschen    Gesichtspunkten;    darum   darf    man    fi'eilich    nichl 


156  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

sagen,  dass  das  Wissen  der  Alteu  nicht  etwas  Grosses  für; 
ihn  war.  Der  bigotteste  und  fanatischste  Asket  trügt  kein  Be- 
denken, wenn  er  von  den  Alten  hört,  sie  für  unendlich  weise  zu 
halten,  so  wie  er  ja  auch  den  Geist  der  Finsterniss,  den  bösen 
Versucher  füi-  weise  hält  und  ihm  oft  die  Kunst  der  Alten  zu- 
schreibt. Ein  solches  ürtheil  ist  aber  nur  die  Folge  der  Autorität 
und  des  Nimbus,  in  welchem  nun  einmal  die  Namen  eines  Plato, 
Aristoteles,  Homer,  Cäsar,  Cicero,  Virgil  u.  s.  w.  jenen  Leuten  er- 
schienen. Oft  war  es  auch  das  Resultat  rein  negativer  Gründe,  vor 
allem  aber  der  Unwissenheit,  welche  jene  Vorstellung  der  Weis- 
heit vergrösserte  und  verfälschte.  Das  Christenthum  leugnete  ja 
nicht  die  wunderbare  Kraft  des  Verstandes,  aber  übertrieb  sie, 
und  vergi-össerte  dadurch  das  Verdienst  des  Glaubens.  Einem 
nothwendigen  Conflicte  zwischen  Vernunft  und  Glauben  konnte 
doch  der  Christ  nicht  beistimmen.  Er  verdammte  also  nicht 
das  gesammte  Alterthum,  sondern  unterschied  nur  zwischen  den 
Gebieten  beider  und  zeigte,  wo  sie  sich  berühren  und  trennen. 
So  kam  er  dazu,  Vernunft  und  Glauben  in  Einklang  zu  bringen, 
die,  wie  er  meinte,  nicht  durch  feindlichen  Widerspruch  sondern 
nur  durch  ihr  Gebiet  von  einander  geschieden  seien.  Für  den  Welt- 
verächter des  Mittelalters  hat  das  Alterthum  wol  staunenswerthe 
Dinge  vollbracht,  aber  es  irrte,  weil  ihm  die  göttliche  Erleuchtung 
fehlte,  und  ist  deshalb  eben  dem  Geiste  so  gefährlich.  Die  Thätig- 
keit  der  Vernunft  wird  ja  nach  dem  Christenthume  nicht  ausge- 
schlossen, sondern  durch  den  Glauben  nur  berichtigt  und  vervoll- 
ständigt. Für  den  Gläubigen  gebührt  natürlich  der  Primat  dem 
Glauben;  je  mehr  sich  die  Seele  in  ihn  versenkt,  desto  weniger 
Freiheit  erhält  der  denkende  Geist.  Darum  war  jenes  Dilemma 
ganz  allgemein  zugestanden:  entweder  sagt  uns  die  Vernunft  etwas 
anderes  als  der  Glaube  und  dann  irrt  sie,  oder  sie  stimmt  mit 
jenem  überein  und  dann  ist  sie  überflüssig.  Das  eben  war  die 
Anschauung  des  Mönchsthums  im  Mittelalter.  Jene  grosse  philo- 
sophische Bewegung,  die  mit  Scotus  Erigena  begann  und  den  Werth 
der  Vernunft  anerkannte,  erregte  den  Unwillen  der  religiösen 
Autorität.  Ihr  zur  Liebe  geschah  es  gewiss  nicht,  dass  das  erst 
schüchtern,  dann  sich  energisch  hei-vorwagende  Wort  von  der 
Thätigkeit  der  Vernunft  ausgesprochen  wurde,  das  schliesslich  den 
Glauben  auf  Gewissen  und  Empfindung  beschränkte,  ihn  von 
der  Erforschung  der  Wahrheit  ausschloss  und  so  die  moderne 
Wissenschaft  schuf. 


Aus  diesen  Anschauungen    ging   also  jene   übertriebene    und 


• 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  157 

faL^che  Vorstellung  von  der  Weisheit  der  Alten  hervor.  Eine 
einzige  Idee  behen-schte  ja  die  ganze  christliche  Thätigkeit  und  in 
dem  Lichte  dieser  erschien  auch  dem  Christen  das  Alterthum 
Man  fragte  nur  nach  seiner  moralischen  Seite,  die,  je  nach  dem 
man  sich  die  Sache  vorstellte,  theils  sichtbar,  theils  verborgen  war. 
Neben  dem  moralischen  und  philosophischen  Gesichtspunkte  war  der 
ästhetische  gar  nicht  voi-handen. 

Damit  hing  auch  die  grosse  Verkehi-theit  der  historischen  Vor- 
stellung vom  Alterthurae,  die  das  Mittelalter  hatte,  zusammen. 
Neben  den  geschichtlichen  Büchern,  welche  die  Vorzeit  in  Erin- 
nerung brachten,  las  man  die  Bücher  der  Juden,  die  als  Glaubeus- 
autorität  obenan  standen  und  die  Geschichte  ab  ovo  mit  einer 
Kosmogonie  und  Anthropogonie  begannen,  die  mit  dem  jüdisch- 
chi-istlicheu  Monotheismus  im  Einklang  stand.  Sie  imponirten 
den  Gläubigen  nicht  allein  durch  die  Menge  fabelhafter  Geschichten, 
die  ganz  verschieden  von  den  antiken  durch  die  Literatur  überlieferten 
Mythen  waren,  sondern  auch  durch  ihre  Art,  die  Geschichte  zu 
betrachten.  Nachdem  das  Christenthum  die  nationalen  Schranken 
des  Judenthums  durchbrochen  hatte,  um  die  ganze  Menschheit  in 
Gott  zu  umfangen,  war  von  demselben  Standpunkte  aus,  in  dem 
sich  die  Juden  Gott  gegenüber  betrachteten,  der  Gesang  „In 
exitu  Israel  de  Egypto",  der  symbolische  Hymnus  der  wieder  ge- 
wonnenen Menschheit  geworden. 

Die  Idee  von  dem  göttlichen  Lamme,  welches  die  Sünden  der 
Welt  trägt  imd  der  wirkungsreiche  Eifer  des  Apostelthums  Hessen 
in  der  Betrachtung  der  Universalget^chichte  natürlich  vor  allem 
jene  Momente  hervortreten,  welche  zu  jener  Vorstellung  beitrugen; 
das  Gottesreich,  die  Sünde  der  verin-ten  und  gespaltenen  Men- 
schen, und  die  Vereinigung  der  Menschheit  zu  einer  Heerde 
und  unter  einem  Hirten,  erleuchtet  und  gesegnet  durch  den  gna- 
denreichen Tod  Christi.  So  zeigten  sich  in  der  Geschichte 
vor  allem  zwei  bedeutende  Momente.  Eine  lange  Epoche  des 
Irrthums  und  der  Blindheit  und  eine  lange  Epoche  der  Reinigung 
und  Wahrheit.  In  der  Mitte  stand  das  Kreuz  von  Golgatha.  Am 
Meisten  -sympathisch  war  dabei  die  Geschichte  von  der  wiederge- 
borenen Welt,  die  in  pathetischer  und  poetischer  Weise  von  den 
Kämpfen,  Märtyrern  nnd  Triumphen  der  Gläubigen  erzählte.  AUes 
Uebrige  betrachtete  man  nur  in  Beziehung  hierauf  entweder  als 
Negation,  als  entfernte  Uebereiustimmung  oder  als  Vorbereitung. 
•  In  dieser  Vorstellung  ragten  aber  besonders  zwei  Städte  hervor, 
das  Jerusalem   der  Juden   und  Christi,    die  Stadt   der  Vergangen- 


158  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

heit,  und  Rom,  der  mit  dem  Blute  der  Märtyrer  benetzte  Sitz  Petri 
und  seiner  Nachfolger,  der  heilige  Mittelpunkt  der  lebenden  Christen. 
Die  Geschichte  dieser  beiden  Städte  vereinigte  sich  nur  in  einem 
feierlichen  Augenblicke:  als  nämlich  Christus  geboren  ward  und 
lebte  und  die  grossen  Apostel  ihre  Thätigkeit  begannen;  vou 
da  an  verschwindet  Jerusalem,  und  Rom  tritt  an  seine  Stelle. 
Aber  die  Erinnerungen  der  Christen  hingen  vor  allem  an  dem 
kaiserlichen  Rom.  Keine  Periode  der  Geschichte  war  im  Mittel- 
alter für  die  Leute  anziehender.  Das  Papstthum,  die  Kirchenväter, 
die  Beziehungen  des  Christenthumes  zum  Reich  in  seinen  Anfängen 
Kämpfen  und  Siegen,  die  Entwicklung  der  Kirche,  die  Elemente 
der  heiligen  und  profanen  Bildung,  alles  führte  auf  diese  Epoche 
zurück.  Der  Mittelpunkt  der  religiösen  Erinnerungen  war  Christus, 
der  politischen  Octavianus  Augustus,  unter  welchem  Christus  ge- 
boren war*).  Die  Gläubigen  haben  nie  aufgehört,  es  als  eine 
wunderbare  Begebenheit  zu  preisen,  dass  die  Anfänge  des  Christen- 
thumes mit  den  Anfängen  des  Kaiserthumes  zusammenfielen,  und 
Christus  geboren  ward,  als  die  Römer  in  der  Fülle  ihrer  Macht, 
ihres  Reichthums  und  ihrer  Talente  standen,  als  der  Frieden  über 
das  weite  römische  Reich  herrschte  und  unter  den  scheinbar 
glücklichsten  Auspicien  ein  Zeitalter  der  Erneuerung  begann.  Da 
ist  denn  vor  allem  bemerkenswerth,  dass  Christus  gi-ade  diesem 
Glanz  entgegentrat  und  die  Welt  von  jener  Höhe,  die  sie  damals 
erreicht  hatte,  so  weit  zurückstossen  sollte.  Es  war  aber  kein 
Wunder,  sondern  nur  die  Folge  der  Geschichte,  wenn  die  neue 
Religion  den  Sieg  davon  trug.  War  doch  die  Zeit  auf  eine  all- 
gemeine Erneuerung  vorbereitet;  die  müde  Gesellschaft  sehnte  sich 
nach  etwas  Neuem,  und  die  allgemeinen  Ziele  des  Christenthumes 
wären  Träume  geblieben,  wenn  sie  nicht  unter  so  verschiedeneu 
Völkern  die  durch  den  starken  Arm  der  Römer  hervorgebrachte 
Gleichartigkeit  gefunden  hätten.  Das  sahen  auch  die  Christen  ein, 
und    wie    die  Gläubigen    stets    die    Geschichte    durch    das    Prisma 


1)  „Finis  consummationis  imperii  romani  fuit  tempore  (Jctaviani  im- 
peratoria: ante  quem  et  post  quem  sub  nullo  imperatore  romanum  im- 
perium  ad  tantum  culmen  pervenit:  cuius  anno  42  dominus  noster  J.  C. 
natua  fuit,  toto  orbe  romano  sub  uno  principe  pacato;  ad  significaudum 
quod  ille  rex  coeli  et  terrae  natus  esset  in  mundo  qui  coelestia  et  terrestria 
ad  invicem  conoordaret."  Engelbert.  Admont.,  De  ortu  et  fine  rom. 
imp.  20.  Diesen  Gedanken  wiederholen  alle  Chronisten  des  Mittelalters. 
Vgl.  über  die  auf  Augustus  bezüglichen  Ideen  imd  christlichen  Legenden  ' 
Mass  mann,  Kaiserchronik  III,  p.  547  ff. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Daute.  159 

ihres  Glaubens  betrachteten,  so  meinte  man  auch  in  dieser  Vorbe- 
reitung das  Werk  Gottes  zu  erkennen,  der  seit  lange  dafür 
gesorgt  hatte,  dass  die  Zeit  endlich  reif  wurde  für  das  Er- 
scheinen des  Heilandes^).  Dies  glaubten  alle,  welche  in  der  Vor- 
sehung den  Schlüssel  der  Geschichte  erblicken,  wie  ja  auch  die 
Hebräer  in  Mitte  der  alexandrinischen  Cultur  den  Begebenheiten 
göttliche  Ursachen  beimassen^).  Unzweifelhaft  trugen  zu  dieser 
Ansicht  die  Schicksale  Roms  viel  bei;  die  gigantische  Grösse  der- 
selben gab  auch  den  Römern  und  den  Alten  überhaupt  eine 
Vorstellung  von  dem  besonderen  Schutze  der  Gottheit.  Diese 
vor  allem  zur  Zeit  des  Augustus  herrschende  Idee"*),  die  Virgil 
so  erhaben  dargestellt  hat,  die  Idee,  dass  eine  alte  Schicksalsbe- 
stimmung und  ein  göttlicher  behaiTÜcher  Wüle  die  Ereignisse  vor- 
bereitet und  gelenkt  habe,  weichte  zur  Gründung  und  Grösse  Roms, 
jenes  wolthätigen  Mittelpunktes  der  Menschheit,  führen  musste, 
nahm  also  auf  diese  Weise  ihren  Fortgang  und  wurde  nun  in 
christlichem  Sinne  reproducirt.  Im  Mittelalter  glaubten  die  Kirchen- 
väter und  die  ältesten  christlichen  Dichter  ganz  fest,  dass  Gott 
jene  Stadt  luid  ihre  grossartigen  Eroberungen  gewollt  habe,  damit 
sie  als  Mittelpunkt  der  Welt  der  Sitz  der  Statthalter  Christi 
sein  könne  ^). 

Mit  dem  Sinken  der  politischen  Gewalt  Roms  hörte  aber  der 
Eiufluss  dieses  Mittelpunktes  nicht  auf,  sondern  änderte  sich  nur. 
An  Stelle  des  Kaiserreiches  trat  das  Papstthum  und  die  katholische 
Kirche,  die  in  der  Universalität  ihres  Characters,  ihrer  Zwecke 
und  Einrichtungen,  die  alte  Kaiserherrschaft  gleichsam  fortsetzte. 
Auf   die    Kraft    des  Armes,    folgte   jetzt   die   des  Geistes;  freilich 


1)  So  u.  a.  Lasaulx,  Zur  Philosophie  der  röm.  Gesch.  München 
1861  (iu  den  Acten  der  Baierischen  Academie),  ein  für  die  Geschichte 
jeuer  Ansicht  nützliches  Buch. 

2)  Ol  ftfv  yÙQ  ini  rijs  otxovfiévTjs  ndvTsg  sißl  'Pcofioitoi 8ixa  yuQ 

&SOV  avaTTJvai,  rrjXfnavzrjv  rjyi(ioviocv  dövvarov.  Fl.  Joseph.  B.  J. 
2,  16,  4. 

3)  Unter  den  vielen  Stellen  lateinischer  Autoren ,  die  diesem  Gedanken 
Ausdruck  geben,  seien  die  dem  Romulus  in  den  Mund  gelegten  Worte 
des  Livius  erwähnt  (I,  16):  „ahi  nuncia  Romanis,  Coelestes  ita  velie, 
ut  mea  Roma  caput  orbis  terrarum  sit:  proinde  rem  militarem  colant, 
sciantque  et  ita  posteris  tradant,  nullas  spes  humanas  armis  romanis  re- 
sistere posse.  Haec  locutus  sublimi«  abiit." 

/  4)  „Romanam  urbem  Deus  praeviderat  christiani  populi  principalem 
sedem  futuram,"  Thomas.  A  quin.  De  regim.  princ.  1,  14.  Vgl.  Dante, 
Inf.  2,  19  und  viele  andere. 


160  Virgil  in  der  Ijiteratur  bis  auf  Dante. 

war  diese  nicht  neu;  denn  auch  das  weite  römische  Reich  war 
nicht  blos  durch  materielle  Mittel  zusammengehalten  worden,  son- 
dern repräsentirte  nicht  minder  eine  kräftige,  dauerhafte  moralische 
Einheit,  welche  die  politische  Zerstückelung  lange  überlebte.  Als 
Erbin  und  Wiederherstellerin  jeuer  gi-ossen  römischen  Schöpfung 
hatte  sich  die  Kirche  an  die  Stelle  des  Reiches  mit  ganz  derselben 
Kraft  und  Ausdehnung  der  Gewalt  gesetzt,  so  dass  sie  in  der  That 
als  die  erste  Macht  der  Welt  erschien,  der  alle  anderen  unter- 
geordnet waren.  Indem  aber  die  lürche  die  abstracte  Idee  der 
kaiserlichen  Weltherrschaft  fortsetzte,  spiegelte  sich  ihre  Gewalt 
auch  in  der  Autorität  der  weltlichen  Grossen  ab,  die  ja  ebenfalls 
jenes  hohe  Ideal  der  Kaiserherrschaft  begünstigten.  Karl  der  Grosse 
wollte  dasselbe  verwirklichen,  betrachtete  es  aber  nicht  als  eine 
neue  Schöpfung,  sondern  als  eine  Restauration  und  Fortsetzung, 
und  sah  deshalb  in  Rom  das  Haupt  jener  Macht.  Der  rohe  ger- 
manische „Kunec"  trachtete  darnach,  Caesar  (Kaiser)  zu  werden  und 
vergass  oft  in  seinem  Uebermuthe,  dass  die  Macht,  welche  ihm 
seine  Autorität  verlieh,  der  seinigen  bei  weitem  überlegen  war, 
und  in  Wirklichkeit  ihn  bemeisterte.  Und  wenn  auch  dann  und 
wann  die  Zügel,  von  schwacher  Hand  geführt,  rissen,  so  beugte 
doch  mancher  Kaiser  sein  Haupt  unter  der  Wucht  jener  Gewalt 
tiefer  in  den  Staub,  als  es  je  .  die  von  den  Römern  bezwungenen 
Könige  gethan  hätten:  für  uns  Italiener  die  einzige,  wenn  auch 
geringe  Genugthuung,  die  uns  dieser  lange,  traurige  Zeitraum  der 
Geschichte  darbietet. 

Die  Vorstellung  von  der  Weltherrschaft  wird  besonders  nach 
Karl  dem  Grossen  so  herrschend,  dass  die  ganze  Geschichte  nur 
als  eine  Aufeinanderfolge  grosser  Monarchien  dargestellt  wird, 
denen  der  göttliche  Wille  die  Macht  und  Herrschaft  über  viele 
Völker  überträgt^).  Bei  dieser  Auffassung  der  Geschichte  nimmt 
daher  Griechenland,  das  nicht  erobernd  aufgetreten  war,  eine 
untei-geordnete  Stellung  ein,  und  nur  die  Zeit  Alexanders  tritt 
hei-vor.  Was  die  ältere  römische  Zeit  betrift't,  die  doch  der  Ge- 
schichte der  Kaiserzeit  an  Moralität  und  Tugend  weit  überlegen 
war,  so  pflegen  nur  einige  hervorstehende  Eroberungen  der  Re- 
publik erwähnt  zu  werden.  Das  Mittelalter  hat  nur  für  die  Idee 
der   bereits    constituirten   Kaiserherrschaft    und    ihren    pyramidalen 


1)  Vgl.  hierüber  imd  über  den  historischen  Gebrauch,  den  man  von 
dem  Traume  Daniels  oder  Nebucadnezars  machte,  die  IJeuierkuiigf'n  von 
Massmann,  Kaiserchronik,  III,  p.  356— .364. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  l6l 

Aufbau  von  Autoritäten  Geschmack,  worin  eben  sein  Ideal  von 
der  politischen  Gesellschaft  und  der  kaiserlichen  Monarchie  besteht; 
darum  springt  man  auch  ohne  Weiteres  von  der  Gründung  Roms 
auf  die  Zeiten  Cäsars  und  Augusttis'  über. 

Die  damals  bekannteste  Partie  der  alten  Historie  ist  die  Ge- 
schichte des  Reiches  j  das  sich  dem  Christenthum  unterwirft,  eine 
Partie,  die  man  natürlich  vom  christlichen  Standpunkte  aus  be- 
trachtet und  die  daher  ganz  verkehrt  und  umgeben  von  Legenden 
erscheint.  Rom  bleibt  immer  moralisch  „caput  mundi",  und  keine 
Stadt  des  Occidentes  vermag  auch  nur  entfernt  den  Glanz  und  die 
Bedeutung  zu  erreichen,  die  in  den  majestätischen  Ruinen  Roms 
wohnen  oder  auch  nur  das  Ansehen,  welches  das  Römerthuni  Byzanz 
zu  verleihen  wusste,  zu  erlangen.  Die  Städte  der  mittelalterlichen 
Fürsten  spielen  in  der  Geschichte  eine  dunkle  Rolle,  die  in  keinem 
Verhältnisse  zu  den  Thateu  der  Herrscher  steht.  Die  Nationali- 
täten begannen  zwar  sich  moralisch  und  politisch  in  der  Schöijfung 
einer  neuen  Literatur  wie  in  den  neuen  politischen  Gruppen,  in 
die  Europa  zerfiel,  zu  unterscheiden.  Allein  das  geschah  doch  nur 
langsam  und  fast  unbemerkbar.  Ein  Werk  der  Reflexion,  welches 
jenes  zwar  starke,  aber  doch  nur  dunkle  Gefühl,  das  in  den 
Geistern  das  moderne  Europa  vorbereitete,  auf  ein  Princip  zurück- 
geführt hätte,  gab  es  noch  nicht.  Das  öffentliche  Recht  beruhte 
noch  nicht  auf  der  Idee  des  Völkerrechtes  und  der  Nationalität, 
sondern  auf  ganz  entgegengesetzten  Grundsätzen,  die  sich  im  Feudal- 
wesen und  in  dem  Gedanken  des  Kaiserreiches  darstellten. 
Uebrigens  waren  die  Nationalitäten  selbst  noch  gar  nicht  so  von 
einander  geschieden,  wie  sie  es  zu  sein  strebten.  Aus  so  verschie- 
denen Elementen  hervorgegangen,  konnten  sie  sich  nur  allmälig 
entfalten,  und  ihre  politische  Thätigkeit  musste  noch  lange  dauern, 
bevor  sich  ihre  moralische  Individualität  ganz  mid  fest  ausgebildet 
hatte;  daher  kam  es,  dass  es  trotz  der  nationalen  Entwickelungen 
eine  Empörung  gegen  gewisse  Gedanken  nicht  gab,  sondern  diese 
im  Gegentheil  immer  anerkannt  wurden.  In  einer  historisch  ganz 
begründeten  Antipathie  standen  sich  besonders  die  germa- 
nischen und  romanischen  Nationen  getrennt  gegenüber.  Die  Deut- 
schen, die  zwar  auch  schnell  verdorben  waren,  aber  noch  gewisse 
Ideen  von  ihren  wilden  und  einfachen  Vorvordern  bewahrt  hatten, 
die  Tacitus  den  kraftlosen  Römern  entgegen  stellte,  wie  er  sie 
jedem  civilisirten  Volke  hätte  gegenüber  stellen  können,  betrach- 
teten die  Welschen  oder  die  romanischen  Völker  als  schlecht  ge- 
sittet und  verdorben,  während  sie  anderseits  kein  Bedenken  trugen, 

Comparetti,  Virgil  im  Mittelalter.  ]X 


162  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

sich  selbst  barbarisch  und  roh  zu  nennen  ^),  so  wie  die  geistige  und 
bürgerliche  üeberlegenheit  und  den  hohen  Primat  des  römischen 
Stammes  anzuerkennen.  Daher  jene  allgemeine  Achtung  und  Ehr- 
furcht nicht  freilich  auf  materiellem,  sondern  auf  idealem  Gebiete, 
mit  der  alle  Völker  auf  Rom  schauten,  und  die  jeden  Gedanken 
an  eine  Rivalität  ausschloss.  Sie  zeigt,  sich  in  tausend  verschie- 
denen Weisen,  in  Worten  und  Gedanken,  in  den  Thaten  der  deut- 
schen Kaiser,  die  sich  römische  nannten,  wie  in  dem  Herzuströmen 
der  Pilger  zu  dem  Palladium  der  Gesellschaft  und  Christenheit;  in 
den  naiven,  zu  ihrem  Gebrauche  verfassten  Führern  Roms  „den 
Wundem  der  goldenen  Stadt",  in  den  begeisterten  Ausdrücken,  in 
welchen  sich  unzählige  mittelalterliche  Schriftstellern  ergehen, 
kurz  in  einer  Menge  von  Thatsachen, .  die  wir  hier  gar  nicht  alle 
verzeichnen  können^).  Es  sei  nur  noch  als  charakteristisch  erwähnt, 
dass  so  viele  Völker  iind  fürstliche  Familien  bestrebt  waren,  bis 
auf  die  Sage  von  ihrem  Ursprünge  Rom  und  den  Römern  nachzu- 
ahmen, als  ob  sie  von  den  Helden  Troja's  abstammten,  und 
sich  durch  die  verschiedensten  Sagen  mit  der  Vergangenheit 
Roms  in  Verbindung  zu  bringen^).     Jeder  sieht   ein,   welchen  Ein- 


1)  „Auditoribus  usus  erat  lacialiter  fari  ncque  ausus  est  quisquara 
eoram  magistro  lingua  barbara  loqui."  Bruno  Vit.  S.  Adalberti,  5  (bei 
Pertz,  Script,  rer.  Germ.  IV,  p.  .577).  Sehr  gewöhulicb  ist  es,  wenu 
die  nicht  lateinischen  Schriftsteller  des  Mittelalters  sich  und  ihre 
Sprache  barbarisch  nennen.  Mau  sehe  die  in  den  ludices  dar  Script, 
rer,  Germ,  unter  dem  Artikel  barbar us  verzeichneten  Stellen  und  unsere 
Anmerkung  Cap    9.  S.  113. 

2)  Die  umfangreiche  und  complicirte  Geschichte  Roms  im  Mittel- 
alter ist  für  den  Gläubigen,  wie  für  den  Freidenker  ein  Stoff  von  hohem 
Interesse.  Gibbon,  Papencordt,  Gregorovius  und  Reumont  haben 
sie  ausführlich  bearbeitet  und  besonders  die  beiden  letzteren  mit  zwar 
vei-schiedenen  aber  gleich  lebhaften  und  starken  Empfindungen  vorge- 
tragen. Gregorovius  hat  sich  an  seinem  an  Umfang  und  Gesichtspunkten 
so  reichen  Werke  als  Gelehrter  und  Dichter  zugleich  gezeigt  und 
ein  Buch  geschaffen,  das  ebenso  anziehend  für  den  Gelehrten  wie  den 
Laien  ist 

3)  Vgl.  Gr aesse.  Die  grossen  Sagenkreise  des  Mittelalters  p.  66. 
Bergmann,  La  fascination  de  Gulfi  p.  27  f  ;  Reiffenberg,  Chron. 
rimée  de  Philippes  Mouskes.  I,  p.  CCXXXVI,  der  auch  Neuere  anführt, 
die  jene  Fabeln  des  Mittelalters  für  ernst  genommen  haben.  Vgl.  Roth, 
Die  Trojanersage  der  Franken  in  Pfeiffer's  Germania  1,  34  und 
Zarncke  in  den  Sitzungsberichten  d.  säcbs.  Ges.  d.  Wiss.  1868  p.  257  ff. 
n.  284.  Brann,  Die  Trojaner  am  Rhein,  Bonn  1856  Creuzenach,  Die 
Aeneis  etc.  im  Mittelalter  p.  26  ff. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  iG3 

fluss    die   Aeneis    und   ihre   Popularität    auf    diese  Tendenz    haben 
musste  ^). 

Die  noch  unvollkommene  Entwickelung  der  Nationalität,  be- 
sonders was  abstracte  Vorstellungen  betrifft,  ermöglichte  den  Ge- 
danken der  Kaiserherrschaft,  welche  durch  die  Tradition  der  Cul- 
tur  und  manche  Seiten  des  politischen  und  religiösen  Lebens  deut- 
lich mit  der  Gegenwart  verknüpft  war.  Aber  sie  ermöglichte  sie 
nur  eben  als  Idee  und  nicht  als  etwas  anderes.  Die  Eestaui-ation 
der  alten  Kaiserhen-schaft  war  ein  Unding,  und  die  Ansammlung 
der  Völker  imter  einem  Scepter  konnte  nur  vorübergehend  sein.  Das 
Geheimniss  des  alten  Bindemittels,  dessen  sich  die  Römer  bedienten, 
war  verloren,  und  es  zeigten  sich  auch  die  Individualitäten  der  ein- 
zelnen Völker  schon  zu  lebenskräftig,  als  dass  man  sie  wie  früher 
zu  einem  Organismus  hätte  verschmelzen  können,  üebrigens  fehlte 
es  den  Germanen,  die  bei  dem  Verfalle  der  römischen  Welt  das 
Uebergewicht  gehabt  hatten,  wie  sich  bis  auf  unsere  Tage  gezeigt 
hat,  an  der  Fähigkeit,  sich  andere  zu  assimiliren;  ja,  es  schieden 
aus  ihi-er  Masse  sogar  mehrere  Stämme  aus,  die  sich  der  neu- 
lateinischen Xationalität  assimilirten.  Nichts  desto  weniger  ent- 
wickelte sich  der  Gedanke  von  der  Kaiserherrschaft  nicht  blos  in 
den  erhabenen  Phantasien  eines  Denkers,  sondern  auch  in  den 
Thaten  der  grossen  Fürsten:  und  hier  zeigt  sich  wieder  jenes  für-  das 
Mittelalter  so  charakteristische  Missverhältniss  zwischen  dem  geistigen 
Gehalte  der  Cultur  und  der  Praxis.  Die  Zeit  bereitete,  ohne  es 
zu  wissen  und  zu  wollen,  in  stetem  Hinschauen  auf  die  antike 
Welt  und  im  Streben  sie  zu  resta,um-en,  die  Xeuzeit  vor  :  sie 
gleicht  einem  Manne,  der  vorwärts  schreitet,  während  er  vermöge 
einer  merkwürdigen  Hallucination  rückwäi-ts  zu  gehen  meint.  Nie- 
mals erschien  einer  Zeit,  wenn  man  sie  nach  ihren  Vorstellungen 
und  Aeusserimgen  beurtheilt,  der  Gedanke  an  Fortschritt  und 
Revolution  mehr  zuwider,  als  dem  scheinbar  ganz  unbeweg- 
lichen Mittelalter,  und  doch  ist  niemals  eine  sociale  Bewegung  so 
lebendig,  allgemein,  vielfältig  und  umgestaltend  gewesen,  als  gera>le 
im  Mittelalter,  in  welchem  sich  Empfinden  und  Denken  der  Gesell- 
schaft so  völlig  veränderten.  Hierin  liegt  vornehmlich  der  Schlüssel 
für  alle  Unregelmässigkeiten  und  Abirrungen  dieser  Epoche,   wie   tur 


1)  Vgl.  D  unger,  Die  Sage  vom  trojauiscbeu  Kriege  in  den  Be- 
arbeitungen des  Mittelalter*  und  ihren  antiken  Quellen  (Leipz.  1869), 
p.  19. 

11* 


1C4  Viigil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

so  viele  Erscheinungen,  in  denen  sich  Alterthnm  und  Neuzeit  mit 
einander  berühren. 

Diesen  Vorstellungen  gemäss  musste  Virgil  von  allen  andern 
Dichtern  am  meisten  bewundert  und  geliebt  werden.  Jenes  römische 
(iefühl,  welches  er  besonders  zum  Ausdruck  gebracht  hat'),  klang 
in  dem  Geiste  der  gebildeten  Leser  wie  ein  historischer  Wieder- 
liall  nach.  Auch  die  Zeit,  der  er  angehörte,  und  aus  der  er  so 
hervorragt,  galt  unter  allem,  was  man  vom  Alterthum  wusste,  als 
der  glänzendste  und  bekannteste  Mittelpunkt.  Der  Anfang  der 
Kaiserherrschaft  unter  Augustus  und  die  Nähe  Christi  waren  für  eine 
literarische  Berühmtheit  wie  Virgil  die  günstigste  Bedingung,  den 
Geistern  des  Mittelalters  zu  impouireu,  und  trugen  nicht  wenig 
zu  der  Vorstellung,  die  man  von  dem  Dichter  hatte,  bei.  Damit 
verband  sich  die  religiöse  und  philosophische  Seite  seines  Ruhmes, 
seine  Annäherung  an  die  christliche  Idee  und  seine  Ausstattung 
mit  einem  ausserordentlichen,  tiefen  universellen  Wissen.  Man  be- 
trachtete zwar  damals  die  alten  Schzüftsteller  und  Dichter  ohne 
Ausnahme  als  „Philosophen";  die  Schule  der  Grammatiker  und 
Rhetoreu  brachte  aber  doch  besonders  die  Dichter  zur  Geltung, 
und  unter  ihnen  galt  wieder  Virgil  als  der  erste.  Er  war  also 
weit  bekannter  und  volksthümlicher,  als  die  anderen  Schriftsteller, 
obgleich  die  gebildeteren  und  bedeutenderen  Männer  ihn  in 
Wahrheit  nicht  für  den  einzigen  Weisen  des  Alterthums  hielten. 
Als  im  12.  Jahrhundert  jene  starke  geistige  Bewegung  und  jener 
wissenschaftliche  Eifer  erwachte,  erlangte  zwar  Aristoteles  in  der 
Philosophenschule  seine  Berühmtheit  und  galt  als  ebenso  allwissend; 
aber  Virgil  behielt  trotzdem  den  ersten  Rang,  weil  sein  Ruhm 
nicht  eigentlich  auf  der  Philosophenschule  beruhte,  sondern  auf  den 
allgemeinsten  und  elementarsten  Studien  des  Lateinischen,  von 
denen  doch  Aristoteles  ganz  und  gar  ausgeschlossen  war.  Für 
Virgil  blieb  die  Schule  der  Grammatiker  der  Mittelpunkt  und 
Haiiptwirkungskreis.  Zwar  machte  sich  auch  hier  die  neue  Rich- 
tung der  durch  die  Scholastik  rejiräsentirtcn  Schule  geltend;  Lehrer, 


1)  „nie  (Homerus)  in  laudem  Graecorum,  hie  autem  (Vergilius)  in 
gloriam  Komanorum  conscripsit."  Verg.  vit.  (9.  Jahrh.)  bei  Hagen,  Scholl, 
beru.  p.  997.  Andere  betrachten  ihn  als  den,  welcher  Octavian  besungen 
hat,  den  Repräsentanten  römischer  Grösse  für  das  Mittelalter:  „Aeneida 
conscriptam  a  Vergilio  quis  poterit  inütiari  ubique  laudibus  respoudere 
Octaviani;  cum  paeue  nihil  aut  plane  parum  eius  mentio  videatur 
nominatim    interseri  ?"    C  n  n  t  o  u  i  s    r  c  g  i  s    g  e  s  t  ii ,    (11.  .Talirhundert) 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  165 

die  damals  einen  groöseu  Ruf  genossen,  verfertigten  poetische 
Bücher  zum  Schulgebrauch,  die  einen  grossen  Erfolg  hatten.  Aber 
die  Alexandreis  des  Walter  von  Lille,  eine  Nachahmung  der  Aeneis, 
die  in  den  Schulen  viel  gelesen  wurde,  that  doch  der  Autorität 
des  grossen  Dichters  fiii-  Grammatik  und  Schule  keinen  Eintrag; 
eben  so  wenig  wie  die  vielgebrauchten  grammatischen  Schriften 
eines  Alexander  von  Villedieu,  eines  Petrus  Elias  und  Anderer 
den  Ruhm  des  Donat  verringerten. 

Fassen  wir  Alles  zusammen,  so  zeigt  sich  der  Ruhm  Virgils 
im  Mittelalter  auf  historischem,  philosophisch -religiösem  und 
grammatisch-rhetorischem  Gebiete;  letzteres  ist  die  niedrigste  und 
rohste  Stufe,  aber  doch  die  materielle  Grundlage  für  die  anderen. 
Die  ästhetische  und  künstlerische  Seite  kömmt  dabei  gar  nicht  in 
Betracht,  was  auch  ganz  unmöglich  war,  wenn  man  die  Ausdehnung 
bedenkt,  welche  die  andei-en  Seiten  hatten. 


Dreizehntes  Capitel. 

Was  vor  Allem  den  Charakter  des  Mittelalters  bestimmt  und 
Grund  zu  dieser  Benennung  gibt,  ist  ein  gegenüber  der  Neuzeit 
und  dem  Alterthume  negatives  Verhalten.  In  dieser  Beziehung  er- 
scheint das  Mittelalter  wie  eine  Zeit  der  Verirrung,  über  die  sich 
hinweg  das  alte  und  moderne  Europa  die  Hand  reichen  und  an- 
einander anschliessen.  Dieser  Gedanke  schwächt  sich  jedoch  ab,  wenn 
man  aus  dem  Negativen  in  das  Positive  tibergehen  will  und  die 
inneren  Beziehungen  dieser  drei  historischen  Abschnitte,  ihre  Ur- 
sachen und  Uebergänge  studirt,  die  ja  nach  physiologischen  Ge- 
setzen vorhanden  sein  müssen.  Analysirt  man  die  Vorstellung,  die 
das  Mittelalter  vom  Alterthum  hatte,  so  entdeckt  man  leicht  seine 
Beziehung  sowol  zu  diesem  wie  zur  Renaissance.  In  der  Zeit  des 
Verfalls  liegen  die  Elemente,  welche  zu  jener  Verirrung  des  Mittel- 
alters führen  mussten,  und  in  diesem  selbst  die  Vorbereitung 
für  die  Renaissance.  Zwei  Hauptrichtungen  stellen  sich  in  dieser 
langen  Periode  dar,  die  bis  auf  einen  gewissen  Grad  mit  einander 
verbunden  sind,  schliesslich  aber  doch  die  historische  Theilung 
in  zwei  Epochen  bewirken  :  es  gibt  ein  lateinisches  Mittelalter,  das 
dem  Alterthume  näher  steht  und  in  seiner  ganzen  überkommenen 
Cultur  mehr  auf  jenes  zurückweist,  und  ein  volksthümliches  Mittel- 
alter, das  neue  Elemente  offenbart  und  sich  von  jeder  Tradition  los- 
löst. Geistliche  und  Laien,  deren  Trennung,  wie  wir  bereits  bemerkten, 
für  das  Mittelalter  charakteristisch  ist,  vereinigen  sich  im  Ganzen 


IQQ  Virgil  iu  der  Literatur  bis  auf  Daute. 

in  diet^eu  beiden  Iviclituugen,  wenn  auch  nicht  zu  ganz  gleichen 
Theilen.  In  der  ersten  gehört  die  Initiative  und  das  Uebergewioht 
den  Geistlichen  an,  in  der  zweiten  den  Laien.  Die  Thätigkeit  der 
Letzteren  bringt  es  endlich  zur  Renaissance,  die,  wie  wir  sehen 
werden,  ihren  Urspniug  in  der  volksthümlicheu  und  weltlichen 
Literatur  hat^). 

Das  klassische  Alterthum  mit  Virgil  an  der  Spitze,  welches 
der  ganz  anders  gearteten  Bewegung  der  rein  kirchlich  gesinnten 
Geister  des  Mittelalters  zu  folgen  hatte,  gleicht  der  Sonne,  welche 
durch  eine  dunstige  Atmosphäre  scheinend,  weder  erleuchten,  noch 
wärmen  und  befruchten  kann.  Dies  hörte  erst  auf,  als  die  Studien 
nach  lind  nach  in  die  Hände  der  Laien  gekommen  waren.  Aus 
der  Bekehrung  Europa's  zum  Christenthiim  folgte  das  Uebergewicht 
des  Clerus  und  das  des  Glaubens  über  die  Vernunft.  Ganz  na- 
türlich musste  bei  einer  so  grossen  und  wirksamen  Begebenheit  auch 
die  in  den  Gemüthern  erregte  Begeisterung  eine  lang  anhaltende 
sein.  Europa  hatte  jene  Periode  enthusiastischer  Einbildungen 
und  jene  fanatische  Concentration  auf  eine  Idee,  wie  sie  allen 
Neubekehrten  eigen  ist,  durchzumachen.  In  dieser  ersten  Periode 
beschränkte  sich  die  geistige  Bewegung  auf  den  Clerus,  bis  endlich 
die  Reflexion  das  Uebergewicht  bekam,  und  mit  der  Thätigkeit  der 
Laien  auf  dem  neuen  Gebiete  die  zweite  Periode  beginnt. 

Einige  persönliche  Bestrebungen  Karls  des  Grossen,  so  wie 
Massregeln,  die  er  in  Betreif  des  profanen  Unterrichtes  vornahm, 
haben  die  Vorstellung  erweckt,  als  sei  dieser  Fürst  Urheber  einer 
ersten  Renaissance.  Aber  davon  war  seine  Thätigkeit  weit  entfernt. 
Indirect  ist  er  wol  jenen  Studien  nützlich  gewesen,  aber  er  be- 
günstigte sie  nur  um  den  geistlichen  Studien  dienen  zu  können. 
Ich  weiss  nicht,  ob  mich  bei  der  harten  Beurtheilung  dieses  Fürsten 
eine  bei  einem  Italiener  natürliche  Voreingenommenheit  bestimmt 
hat.  War  er  es  doch,  welcher  dem  Papstthume  jene  starke 
weltliche  Macht  verlieh,  die  ganz  Europa  so  unermessliches  Leid 
gebracht  hat  und  der  Fluch  Italiens  ist.  Es  kömmt  mir  vor,  als 
ob  seiner  historischen  Persönlichkeit  als  Volksfürst,  Gesetzgeber 
und  Krieger  ein  etwas   gar   zu   starker  Geruch   von  Heiligkeit  an- 


1)  Mit  dem  Erwachen  der  Thätigkeit  der  Laien  entstehen  auch 
Antbipathien  zwischen  den  beiden  Klassen,  die  oft  in  heftigen  Worten 
Ausdruck  finden.  Eine  Inschiift  in  der  Kirche  St.  Martini  in  Worms 
lautet  : 

„Cum  mare  siccatur  et  daemon  ad  astra  levatur, 

Tunc  primo  laicus  fit  clero  Sdus  amicus." 


Virgil  iu  der  Literatur  bis  auf  Dante.  167 

haftet.  Er  war  vor  Allem  der  „homo  Papae",  und  kein  christlicher 
Monarch  ist  je  den  Insassen  der  Klöster  willkommener  gewesen, 
die  darum  auch  eifrig  um  die  Ausarbeitung  der  Legende  bemüht 
waren,  aus  der  jener  für  die  italienischen  Dichter  so  lächerliche, 
und  von  Ariosi  mit  so  feiner  Ironie  dargestellte  Typus  des  „guten 
Karl",  (buon  Carlone)  entsprang.  Karl  der  Grosse  hatte  bei  dem 
l^aienunterricht  nur  den  kii'chlicheu  Zweck  im  Auge  und,  statt  die 
Laien  zu  lebendiger  Thätigkeit  anzutreiben,  Hess  er  sie  in  der  bar- 
barischen und  unfx'uchtbaren  Herrschaft  des  Clerus,  den  er  durch 
neue  Stiftungen  immer  mächtiger  machte.  Karl  der  Grosse  war 
gewaltig  durch  seine  eiserne  Energie  und  entfaltete  ein  Organi- 
sationstalent, das  sich  bei  den  Volksfürsten  seiner  Zeit  nicht 
wiederfindet,  aber  dem  durch  und  durch  deutschen  Charakter  ging 
vor  allem  jene  Schärfe  und  Feinheit  des  Blickes  ab,  durch  welche 
sich  die  italienischen  Männer  der  Kirche  auszeichneten,  die  das  so 
wunderbar  feste  Gebäude  der  Kirche  zu  organisiren  wussten. 
Ihm  fehlte  der  Gedanke  und  der  Muth  zu  dem,  was  die  grösste 
Reform  seiner  Zeit  gewesen  wäre,  die  bürgerliche  Gesellschaft  von 
dem  eingedrungenen  Clerus  zu  säubern  und  die  Laien  zur  geistigen 
Herrschaft  anzutreiben.  Eine  vollständige  Revolution  hätte  seine 
Zeit  fi-eilich  nicht  gestattet,  doch  durfte  ein  wahrhaft  genialer  und 
die  Zukunft  vorausschauender  Geist  sie  vorbereiten.  Allein  Karl 
that  gerade  das  Gegentheil  davon.  Vielleicht  wäre  nur  ein  Ita- 
liener und  zwar  ein  Nichtgeistlicher  durch  die  Ueberlieferungen  und 
die  Anlage  seiner  Nation  befähigt  gewesen,  eine  solche  Revolution 
durchzuführen,  aber  mehr  als  tausend  Gründe  mussten  verhindern, 
dass  ein  Italiener  jene  weltliche  Macht  erlangte,  die  Karl  der 
Grosse  besass.  —  Bedenkt  man  diesen  Mangel  eines  wahren  Im- 
pulses, wie  er  von  diesem  Fürsten  hätte  ausgehen  können,  so  ist 
es  eine  um  so  imponirendere  Erscheinung,  wenn  dann  endlich  die 
Seele  zu  neuer  Thätigkeit  erwacht,  so  viele  eingeschlummerte 
Empfindungen  wieder  aufleben  und  jene  lebenskräftige  und  frucht- 
bare Bewegung  beginnt,  die  allmälig  bis  zu  Dante,  Michel  Angelo 
und  Galilei  führt.  Indessen  haben  wir  diesen  Gedanken  nur  zu 
verfolgen,  soweit  er  die  Vorstellung  vom  Alterthum  und  Virgil 
betrifft. 

Wie  ein  Bach,  bevor  er  sein  sprudelndes  Wasser  zum  Lichte 
bringt,  lange  ungesehen  unter  dem  Erdboden  hinfliesst,  so  führten 
die  Volkssprachen  Europas  unter  der  Decke  der  lateinischen  Lite- 
ratur und  der  Römerwelt  ein  unbeachtetes  Dasein,  bis  der  Zu- 
sammenhang zwischen  diesen   und   dem    menschlichen  Geist  immer 


1j33  Viipil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

lockerer  wurde,  und  jene  in  ihrer  Irischen  Natürlichkeit  hervor- 
sprangen. Dies  geschah  aber  auf  zwei  Arten,  Einerseits  erschienen 
sie  auf  dem  Gebiete  der  alten  Cultur  in  der  Form  von  Glossen 
und  Uebersetzungen  profaner  wie  kirchlicher,  lateinischer  Autoren, 
anderseits  waren  sie  der  Ausdruck  lebendiger  Empfindungen,  Träger 
nationaler  Gedanken,  die  bis  dahin  in  der  Literatur  nicht  bekannt 
waren,  und  strebten  danach,  eine  von  der  klassischen  unabhängige 
Literatur  zu  entwickeln.  Diese  sich  widersprechenden  Elemente 
hätten  sich  in  der  Fortbildung  der  lebenden  Sprachen  nicht  be- 
gegnen können,  wenn  es  damals  eine  Vorstellung  vom  Alterthura 
gegeben  hätte,  wie  sie  die  Ivenaissance  hatte,  als  Humanismus  und 
Klassicismus  das  volksthümliche  Element  aus  der  Literatur  heraus- 
trieben und  erdrückten.  Im  Mittelalter  war  das  durchaus  anders. 
Jene  Emancipation  des  Volksthümlichen  galt  als  so  berechtigt, 
dass  es  sogar  die  unbewegliche  Härte  des  Klosters  überwand,  imd 
der  Mönch  aus  seinem  Geisteszwange  auch  einmal  zu  einer  natür- 
lichen Empfindung  zurückkehren  und  auf  einen  Augenblick  Mensch 
werden  konnte.  Freilich  gab  es  auch  hier  wieder  Bedenken;  denn 
die  alten  heidnischen  Vorstellungen  der  Völker  Europas  kamen  in 
der  nationalen  Volkspoesie  sehr  zur  Geltung,  und  gar  manche  er- 
hoben ihre  Stimme  gegen  die  „eitlen  und  nichtigen"  Volkslieder. 
Aber  wenn  man  verstanden  hatte,  sich  mit  der  antiken  Literatur 
abzufinden,  die  doch  für  den  Geist  nur  eine  fremde  Erscheinung 
war,  so  musste  das  viel  leichter  mit  den  theuren  Erinnerungen  an 
Vaterland,  Muttersprache  und  Jugendeindrücke  geschehen,  Dinge  die 
man  nicht  zu  lernen  braucht  und  nur  schwer  vergessen  kann. 
Eine  folgenreiche  Thatsache!  Die  gegen  die  Cultur  gleichgültige 
Volkspoesie  war  ihrer  Natur  nach  weltlich  und  behielt  diesen  Charakter 
auch,  wenn  der  Clerus  an  ihrer  Schöpfung  Theil  nahm.  In  ihr  mischte 
sich  also  Volk  und  Clerus,  die  Trennung  hörte  auf,  und  die  Laien 
strebten  nach  der  geistigen  Überherrschaft.  So  unterstützte  die 
Geistlichkeit  ohne  es  zu  wissen  eine  Bewegung,  die  sie  schliesslich 
ihres  unbestrittenen  Einflusses  auf  die  Herzen  der  Menschen 
beraubte  und  die  Kirche  oft  genug  zwang,  den  Bannstrahl  zu 
schleudern.  Aber  unzählige  moralische  wie  materielle  That- 
sachen  der  Zeit  beweisen  es,  dass  die  Alleinherrschaft  des  Glau- 
bens vorübergehen  \md  die  Vernunft  ihre  Rechte  fordern  sollte.  Die 
Gründe  für  die  Volkspoesie  waren  so  mächtig  und  innerlich,  dass 
sie  auch  das  Lateinische  beeinflussten.  Es  entstand  nun  jene  rhyth- 
mische Volksdichtung,  die  lediglich  dem  Mittelalter  angehört  und 
grade  wie  die  Dichtungen  in  der  Volkssprache  ihre  Klassiker  auf- 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  169 

weist  ^).  Dies  lässt  sich  uur  verstehen,  wemi  man  daö  merkwürdige 
Scheinleben  der  lateinischen  Sprache  in  jener  Zeit  betrachtet;  die- 
selbe war  nicht  mehr  lebende  Sprache  im  eigentlichen  Sinne  des 
Wortes,  aber  doch  noch  immer  von  einem  so  ausgedehnten  Ge- 
brauche, dass  sich  in  ihr  eine  ganz  ähnliche  Bewegung  wie  bei 
der  Volkspoesie  geltend  machen  musste.  Im  12.  Jahrhundert  be- 
gann jene  für  Wissenschaft  und  Kunst  so  fruchtbare  Bewegung, 
die  in  der  Geschichte  des  menschlichen  Geistes  eine  grosse  Epoche 
bezeichnet.  Die  Laien  führten  jetzt  die  -wirksame  Verschmelzuug 
zwischen  der  romantischen  Ritterpoesie,  die  ihrem  Ursprünge  nach 
volksmässig  war,  mit  der  Cultur  und  dem  überlieferten  Wissen 
durch.  Dagegen  zeigten  sich  die  s.  g.  Vaganten  und  Goliarden, 
deren  lateinische  Poesien  ein  nichts  weniger  als  klassisches  Ge- 
präge tragen,  weil  sie  lateinisch  schrieben  und  gebildet  waren, 
als  Geistliche  und  legten  gegen  die  Laien,  die  nicht  zur  Schule 
gehörten,  die  tiefste  Verachtung  an  den  Tag^j.  Eben  dieser  Ge- 
brauch des  Latein  und  seine  Beziehungen  zur  Volkssprache 
brachten  der  Volksliteratur  die  Namen  des  Alterthums  näher,  als 
es  irgend  ein  anderer  Umstand  gekonnt  hätte ,  mochte  sich  nun 
die  Poesie  des  Volkes  in  der  heimischen  oder  lateinischen  Sprache 
äussern.  Hieraus  folgte,  dass  das  in  eine  so  neue  Strömung  ge- 
brachte Alterthum  abermals  eine  Verwandlung  erlitt,  indem  es 
sich  nun  nicht  mehr  mit  den  kirchlichen  und  klösterlichen  Ideen, 
sondern  mit  romantischen  Vorstellungen  verband.  Es  kömmt  vor, 
dass  zur  selben  Zeit  z.  B.  Ovid  allegorisch  und  nach  moralischem 
Princip  erklärt  wird,  während  die  pathetischen  Empfindungen  und 
Thatsachen,  die  er  schildert,  nach  der  romantischen  und  ritterlichen 


1)  Thomas  von  Capua  (12—13.  Jahrh.)  unterscheidet  im  ,,dictamen" 
(Summa  dictaminis  bei  Hahn,  Coli.  mon.  l,  280)  drei  Hauptarten:  „pro- 
saicum  ut  Cassiodori,  metricum  ut  Vergili _,  ritmicum  ut  Primatis."  Man 
vermuthet  dass  jener  Primas  der  Primasso  des  Boccaccio  (Decani.  I,  7) 
sei.  Vgl.  Grimm,  Kl.  Schriften  III,  p.  41  ff.  und  P.  Meyer,  Documentti 
manuscripts  de  Taue.  litt,  de  la  France  conserve's  dans  les  bibl.  de  lu 
Gr.  Bret,  I,  p.  16  ft'. 

2)  Ein  Fahrender  schreibt: 

„Aestimetur  autem  laicus  ut  brutus 

Nam  ad  artem  surdus   est  et  mutus." 
Ein  anderer: 

„Literatos  convocat  decus  virginale 

Laicorum  execrat  pectus  bestiale." 
Vgl.  Hubatsch,   die  lateinischen  Vagantenlieder  des  Mittelalters.  (Gör- 
litz, 1870),  p.  22. 


17<i  Virgil  iu  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

Anschauung  umges>tiiltet  werden.  So  beeintlusste  die  volksthüiuliclie 
neue  Bewegung  sogar  die  Elemente  der  Cultur,  gestaltete  die 
Sjirache  wie  die  alten  dichterischen  Formen  umi  Begebenheiten  auf 
ihre  Weise  um  und  suchte  den  Widerspruch,  der  für  uns  darin 
liegt,  zu  verdecken. 

Die  künstlerische  und  geistige  Thätigkeit  gehörte  nun  also 
entweder  den  Gelehrten  und  der  Schule  an  oder  sie  war  volks- 
thümlich  lind  romantisch.  Die  scholastische  Vorstellung  vom  Alter- 
thume  war  dem  Clerus  des  ältesten  Mittelalters  eigen,  gelangte 
aber,  gereinigt  und  vervollständigt  bis  zur  Renaissance,  während  die 
romantische  Vorstellung  vom  Alterthum,  die  gegen  Ende  des  Mittel- 
alters aus  der  weltlichen  Richtung  enstanden  war,  der  volksthüm- 
lichen  und  romantischen  Literatur  allein  zu  eigen  blieb.  Es  ist 
daher  nicht  wunderbar,  wenn  oft  ein  Dichter  zugleich  gelehrte 
Werke  und  romantische  Poesien  in  einheimischer  wie  lateinischer 
Sprache  schaft't.  Die  scholastische  Vorstellung  vom  Alterthum  be- 
einflusste  nicht  sonderlich  die  künstlerische  Empfindung  und  liess 
daher  für  die  romantische  Vorstellung  noch  Raum  genug  übrig. 
Wie  die  letztere  auf  Virgil  einwirkte,  haben  wir  erst  im  zweiten 
Theile  des  Werkes  zu  untersuchen.  —  Nicht  in  allen  Ländern  des 
westlichen  Europas  nahm  das  Alterthum  eine  romantische  Form 
au,  wie  ja  auch  die  Volksliteratur  in  einigen  Ländern  früher,  in 
anderen  später  begann.  Dies  hatte  seinen  Grund  darin,  dass  die 
klassischen  Studien  in  dem  einen  Lande  dem  Geiste  näher  standen 
und  lebenskräftiger  waren,  als  in  dem  anderen.  Die  nicht  latini- 
sirten  Völker  keltischen  oder  germanischen  Stammes  gaben  sie 
zuerst  auf,  erst  später  Frankreich  und  die  Provence;  dann  folgten  auch 
Italien,  Spanien  und  Portugal  diesem  Beispiele.  In  Italien  mussten 
sie  natürlich  mehr  als  irgendwo  heimisch  sein;  betrachtete  man  doch 
dies  Land  als  den  eigentlich  klassischen  Boden.  Die  Vulgärsprache 
und  das  Latein  standen  sich  hier  weniger  schroff  entgegen.  Erstere 
war  nicht  nur  Tochter  des  Letzteren  und  eine  natürliche  und  ge- 
setzmässige  Umgestaltung  desselben,  sondern  besass  bei  aller  Indi- 
vidualität noch  so  viel  von  der  Muttersprache  in  sich,  dass  sie  sich 
am  leichtesten  den  klassischen  Formen  anschmiegen  konnte.  Sie 
war  daher  unter  den  lebenden  Sprachen  die  klassische  Sprache  der 
Renaissance,  welche  sich  ja  auch  zuerst  in  Italien  und  dann  erst 
in  anderen  Ländern  entwickelte. 

Einzelne  Ausdrücke  nichtlateinischer  Schriftsteller  des  Mittel- 
alters und  die  Erwähnung  von  Schulen,  welche  Laien  in  Italien 
bildeten,  hat  einige  moderne  Gelehrte  zu  der  Ansicht  geführt,  dass 


Virgil  in  der  Literatiu-  bis  auf  Dante.  171 

daselbtit  schon  vor  Entwickelung  der  Yolksliteralur  die  Bildung  der 
Laien  grösser  als  anderswo  gewesen  sei,  und  diese  Thatsache  hat 
man  mit  der  Renaissance  iu  Verbindung  gebracht^).  Ich  kann 
indessen  nicht  glauben,  dass  dies  der  Fall  gewesen  sei;  der  Be- 
weis dafüi-  lässt  sich  hier  nicht  liefern,  aber  das  muss  man  we- 
nigstens zugeben,  dass  sich  die  Laien  in  Italien,  bevor  es  eine 
Volksliteratur  gab,  durchaus  nicht  productiver  zeigten,  als  in  an- 
deren Ländern.  So  paradox  es  auch  klingt,  sind  doch  die  eigent- 
lichen Vorlcäufer  der  Renaissance  nicht  in  der  Ueberlieferung  der 
antiken  Elemente  zu  suchen,  sondern  in  den  Elementen  der  Neue- 
rung ;  nicht  in  der  lateinischen,  sondern  in  der  Volksliteratur.  Bei 
dem  italienischen  Volke  zeigte  sich  zwar  das  deutliche  Bestreben,  sich 
die  klassische  Bildung  anzueignen,  jedoch  erst  in  dem  Augenblicke, 
als  sich  die  Volksliteratur  entwickelte.  Die  Initiative  hierfür 
lag  auch  beim  Clerus,  und  vorausgesetzt,  dass  die  Laien  in 
Italien  gebildeter  gewesen  wären,  so  war  ihre  Bildung  doch  weder 
an  Umfang  noch  Richtung  anders  als  die  des  Clerus.  Mönch  und 
Laie  hatten  dieselbe  Vorstellung  vom  Alterthume,  und  es  dauerte 
lange,  bis  auch  der  Letztere  sich  von  den  mittelalterlichen  Ideen 
losriss,  imd  seine  Studien  so  einsichtsvoll  wurden,  wie  sie  sich  in 
der  Renaissauce  zeigten.  Es  galt  ja,  den  Geist,  dem  durch  den  kirch- 
lichen Einfluss  alles  Verständniss  für  das  Antike  abgeschnitten  war, 
ganz  und  gar  zu  reformiren,  zu  entwickeln  und  zu  erheben,  und 
seine  eingeschlummerten  Kräfte  zu  erwecken.  Das  konnte  aber  nur 
geschehen,  wenn  er  sich  ganz  von  der  Tradition  losriss.  Die  Be- 
wegung, in  welche  die  neue  Kunst  und  die  Volkspoesie  den  Geist 
versetzte,  führte  ihn  dahin,  eine  richtige  Idee  vom  Alterthum  wieder 
zu  gewinnen,  während  der  Gebrauch  des  Lateinischen  nach  klassi- 
schen Vorbildern  nur  eine  unfruchtbare  Stagnation  bewirkte.  Das 
zeigte  sich  klar  in  dem  Unterschiede  von  Originalität  und  (Genialität  bei 
Dante  und  anderen,  je  nachdem  sie  lateinisch  oder  italienisch  schrieben. 
Die  Italiener  traten  also  in  ganz  gleicher  Weise  wie  die  an- 
deren Völker  in  die  das  moderne  Leben  hervorrufende  Bewegung 
ein,  aber  jener  geistige  Aufschwung,  der  aus  der  Schöpfung  eines 
neuen  Kunsttypus  entstand,  war  doch  bei  ihnen  weit  mächtiger, 
weil  ihre  Volksliteratur,  obwol  sie  sich  später  als  anderswo 
entwickelte,  grösser,  künstlerischer  und  monumentaler  war, 
und   es   ihnen  zuerst  gelang,  das   Plebejische  in    der  Kunst   abzu- 


1)  Es  ^st  die  Behauptung  Giesebrechts:  „de  litterarum  studiis 
apud  Italos  primis  medii  aevi  saeculis."  Berlin  1845.  Vgl.  Burckhardt, 
Die  Cultur  der  Renaissance  in  Italien,  p.  173  ff. 


172  A^irgil  in  der  Literatur  bis  auf  Daute. 

streifen.  Bei  ilem  rciu  Volksthümlicheu  hielt  sieh  die  iliilienit^che 
Poesie  wenig  auf');  ein  nationales  Epos  von  phantastischem 
Charakter  und  volksmässigem  Ursprung  hat  sie  nicht  geschaffen, 
weil  im  italienischen  Volksbewustsein  selbst  unabhängig  von  der 
Cultur  die  Geschichte  und  das  reale  Alterthum  eine  Hauptrolle 
spielten,  Elemente  die  sich  mit  einer  epischen  Schöpfung  nicht  ver- 
tragen; und  dies  Verhältniss  bestätigte  sich  nicht  nur  durch  <las, 
was  die  Italiener  dachten,  sondern  auch  durch  die  Vorstellung, 
die  das  übrige  Europa  von  Italien  hatte.  Nicht  einmal  an  volks- 
mässigen  lateinischen  Lyrikern  war  die  Halbinsel  so  reich  wie  an- 
dere Länder^),  imd  auch  die  Volkslyrik  gab  bald  das  Volksmässige 
auf  und  gelangte  schneller  zu  künstlerischer  Vollendung. 

Wer  die  Volksliteratur  des  gesammten  Mittelalters  betrachtet, 
wird  finden,  dass  nicht  alle  Literaturen  der  Völker  gleich  tahig 
waren,  einen  klassischen  Charakter  anzunehmen  und  so  ein  Cultur- 
element  für  die  künftige  Zeit  abzugeben.  Die  künstlerische  Mittel- 
mässigkeit,  zu  der  die  volksthümlichen  Literaturen  in  Deutschland, 
der  Provence  und  Frankreich  gelangten,  war  von  ziemlich  gleichem 
Werthe.  Dieselben  bezeichneten  nur  eine  vorübergehende  Phase, 
wie  ja  auch  die  verschiedenen  Volksdialekte  zu  (Irunde  gingen, 
ohne  sich  literarisch  zu  entwickeln  und  eine  feste  Gestalt  zu  ge- 
winnen. Die  Renaissance  bewirkte  daher  einen  gi-ossen  Riss 
zwischen  diesen  Literaturen  und  der  modernen  Zeit  der  betreffenden 
Völker.  Man  vergass  jene  Sprachen  und  Literaturen  ganz  und 
gar  und  lernt  sie  auch  heute  nur  noch  auf  gelehrtem  Wege 
kennen  mit  Hilfe  der  Grammatik,  des  Wörterbuches  und  der 
Uebersetzuug.  Nur  die  italienische  Nation  vermochte  es,  in  der 
Sprache  und  Literatur  des  Volkes  den  Klassicismus  zu  en-eichen, 
ja  man  dachte  hier  schon  in  theoretischen  Werken  über  das  „vol- 


1)  Vgl.  hierüber  Wolf,  Ueber  die  Lais,  Sequenzen  und  Leiche, 
p.  112  u.  223  f. 

2)  Ich  kann  dies  indess  nicht  so  bestimmt  behaupten,  da  nur  die 
italienischen  Gelehrten  bis  jetzt  die  Wichtigkeit  dieser  literarischen  Denk- 
mäler noch  nicht  eingesehen  zu  haben  scheinen  und  die  Bibliotheken 
wenig  nach  solchen  durchforscht  haben.  Die  bekannten  lateinischen 
Vaganteulieder  geben  selten  Anzeichen  italienischen  Ursprunges.  Die  Idee, 
dass  der  beste  Dichter  unter  ilnien  Italiener  ist,  ist  von  Burckhardt 
a.  a.  0.  p.  174  f.  zu  leichtgläubig  aufgenommen.  Die  Hdss.,  die  mau  bis 
jetzt  von  diesen  Compositionen  kennt,  gehören  nicht  italienischen  Biblio- 
theken an.  Und  abgesehen  von  den  Vagantenliedern  scheint  Italien  auch 
an  lateinischen  Volksliedern  im  Mittelalter  ärmer  als  andere  Länder. 
Vgl.  Du  Méril,  Poesies  populaires  latines  du  moyen  àge.  Paris  1847. 


Yirgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  173 

gare  illustre"  und  die  neue  poetische  Tendenz  nach  \),  als  anderswo 
noch  keine  Rede  davon  war.  Das  Ziel  wurde  anfangs  unabhängig 
von  einer  Nachahmung  oder  Reproduction  des  Antiken  verfolgt. 
Letzte  und  unvermeidliche  Bedingung  der  neuen  Kunstform  war 
wie  bei  der  römischen  Kunst,  „la  gloria  della  lingua"  und  „il 
bel  parlar  gentile  ^)".  Darum  sind  die  Trecentisten  auch  die  wahren 
Klassiker  der  Italiener,  welche  zu  der  nachfolgenden  italienischen 
Literatur  und  Cultur  in  die  engste  Beziehung  treten,  und  bis  auf 
den  heutigen  Tag  jenen  viel  näher  stehen,  als  die  gleichzeitigen 
Schriftsteller  den  anderen  Nationen.  Man  dehnt  zwar  die  Be- 
zeichnung klassisch  im  Deutschen  auch  auf  Wolfram  von  Eschen- 
bach, Gottfried  von  Strassburg  und  die  andern  hervorragenden 
mittelhochdeutschen  Dichter  aus,  die  doch  kaum  für  jene  Periode 
der  Literatur  klassisch  sind.  Aber  trotz  der  Bemühungen  der  Gelehrten, 
die  freilich  von  einem  nationalen  Gesichtsijunkte  aus  betrachtet, 
die  höchste  Bewunderung  verdienen,  werden  jene  Dichter  in  Folge 
der  grossen  Kluft,  die  sie  von  der  Gegenwart  trennt,  doch  nie- 
mals die  Bedeutung  für  die  nationale  Cultur  erreichen,  welche  für  die 
Italiener  ihre  alten  Dichter  haben,  die  sich  um  den  erhabenen  und 
wahrhaft  italienischen  ,, Dante  Alighieri"  schaareu. 


1)  Vgl.  Bartsch,  Zu  Dante's  Poetik  im  Jahrbuch  der  deutschen 
Dantegesellschaft  III,  p.  303  ff. 

2)  Nach  dieser  Seite  hin  äusserte  sich  besonders  der  künstlerische 
Instinct  bei  den  Italienern.  Da  alles  dem  Geschmacke  des  einzelnen 
überlassen  blieb,  und  die  Schriftsprache  sich  noch  nicht  völlig  fixirt 
hatte,  wurde  es  den  kleineu  Geistern  viel  schwerer,  italienisch  als  la- 
teinisch zu  schreiben.  Hierfür  ist  eine  Stelle  aus  einem  Sieneser  Codex 
(Fior  di  Virtù)  bezeichnend:  „poiché  di  vocaboli  volgari  sono  molto  igno- 
rante, però  che  io  gli  ho  poco  studiati;  anche  perche  le  cose  spirituali,  oltre  non 
si  possono  sì  propriamente  esprimere  per  paravole  volgari  come  si  sprimono 
per  latino  e  per  grammatica,  per  la  penuria  dei  vocaboli  volgari.  E  perciò 
che  ogni  contrada,  et  ogni  terra  ha  i  suoi  jaropri  vocaboli  volgari  diversi  da 
quelli  de  l'altre  terre  et  contrade;  ma  la  grammatica  et  latino  non  è 
così,  perchè  è  uno  apo  tutti  e  latini.  Però  vi  prego  che  mi  perdoniate 
se  non  vi  dichiaro  perfettamente  le  sententie  et  le  verità  diquesto 
libro."  Bei  De  Angelis,  Capitoli  dei  Disciplinati  etc.  (Siena,  1818).  Vor 
einem  hen-ischen  Geschmacke  also  mnsste  man  um  Entschuldigung  bitten, 
wenn  man  sich  zu  schwach  fühlte.  Das  Latein,  wie  roh  es  auch  war, 
hiesB  damals  „grammatica",  weil  es  bestimmtere  Regeln  hatte  und  das 
künstlerische  Bedürfniss  dabei  nicht  zur  Geltung  kam.  Dies  Wort  ,,gi'am- 
matica"  hat  Pott  (Zeitschr.  f.  vergi.  Sprachforsch.  T,  p.  .31.S)  merkwür- 
diger Weise  nicht  verstanden. 


174  Virgil  iu  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

Vierzehntes  Capitel. 

Nach  all  dem  Gesagten  wird  man  den  geschichtlichen  Grund 
verstehen,  weshalb  die  erhabenste  Schöpfung  und  edelste  Gestal- 
tung der  mittelalterlichen  Vorstellungen  über  Virgil  sich  am  Ende 
des  Mittelalters  in  Italien  zeigt,  und  zwar  nicht  als  Werk  eines 
Geistlichen,  sondern  eines  Laien.  Wer  die  Beziehungen  zwischen  der 
geistigen  Entwickelung  und  der  Geschichte  von  dem  Ruhme  Vir- 
gils  aufmerksam  verfolgt  hat,  wird  jene  Anziehung,  die  Virgil  auf 
Dante  ausübt,  der  gi'össte  lateinische  auf  den  grössten  italienischen 
Dichter,  nicht  für  einen  Zufall  halten. 

Dante  zeigt  sich  in  seinen  Kenntnissen  und  seiner  geistigen 
Richtung  ganz  als  Mann  des  Mittelalters,  der  sich  völlig  von  den 
Männern  der  Renaissance  unterscheidet.  Er  ist  weder  Gramma- 
tiker, noch  Philolog  und  Humanist  von  Profession,  sondern  ein 
warmer  und  enthusiastischer  Geist  von  hervorragend  poetischer  Rich- 
tung. Für  jede  grosse  und  erhabene  Empfindung  ist  er  empfìinglich, 
aber  beherrscht  von  einem  Verstände,  dem  es  ein  unwiderstehliches 
Bedürfniss  war,  sich  in  den  tieft-ten  Speculationen  zu  ergehen.  Er 
besitzt  die  ganze  encyklopädische  Kenntniss  der  Scholastik;  freilich 
stets  mit  der  vorwiegenden  Neigung  für  den  speculativen  Theil. 
Diesem  ordnet  er  auch  die  Literatur,  selbst  die  volksmässige  unter, 
die  er  doch  sowol  in  der  Comedia  wie  in  seiner  Lyrik  und  Prosa 
in  einer  bis  dahin  noch  nicht  dagewesenen  Weise  vertieft.  Alle 
strebsamen  Geister  der  Zeit,  zu  denen  er  auch  gehörte,  hatten  eben 
jene  speculative  Tendenz.  Aber  was  Dante  auszeichnet,  ist  die 
Verbindung  der  Speculation  mit  der  Poesie  und  zwar  grade  der 
volksthümlichen,  von  der  die  anderen  Gelehi'ten  die  Speculation 
fernhielten.  Darum  kann  man  Dante  nach  seinen  Studien 
und  seiner  Thätigkeit  zum  Clerus  rechnen,  in  Wahrheit  ist  er 
Laie,  nicht  nur  seinem  Stande,  sondern  auch  seiner  Empfindung 
und  Tendenz  nach,  und  bei  keinem  mittelalterlichen  Schriftsteller 
geht  die  Wissenschaft  so  in  den  Laien  über.  Jetzt  erhebt  sich 
die  Thätigkeit  der  Laien  aus  der  niederen  Sphäre  des  Volksmässigen 
zur  wirklichen  Kunst  und  Wissenschaft.  Die  für  die  Zeit  bewun- 
derungswürdig kühne  That,  die  Volkssprache  zum  Organ  eines 
Werkes  zu  machen,  das  nach  seinen  geschichtlichen  und  wissen- 
schaftlichen Momenten,  wie  nach  der  darin  enthaltenen  historisch- 
philosophischen Speculation  so  überaus  gross  ist,  zeigt  allein,  wie 
hoch  jener  göttliche  Geist  über  den  Zeitgenossen  steht.  Alle  Ele- 
mente der  Gegenwart  und  Vergangenheit  weiss  er  zu  beherrschen 


Yirgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante  175 

und  verbindet  sie  in  originellster  Weise  harmonisch  mit  dem,  was 
seine  Zeit  bewegt^).  Es  war  ein  allgemeines  Bedürfniss,  den 
Privatbesitz  der  Wissenschaft  für  eine  Kaste  aufzulösen,  und 
manche  hervorragende  Männer  hatten  dies  trotz  der  Vorurtheile 
ihrer  Zeit  empfunden.  Auch  der  Zeitgenosse  Dantes,  Raimundus 
Lullus,  ein  starker  Geist,  hatte  das  Streben  danach,  aber  was  er 
als  volksthüralicher  Schriftsteller  und  Dichter  dafür  that,  war  dürftig 
genug  und  lässt  die  wunderbare  Schöpfung  Dantes  nur  in  um  so 
hellerem  Lichte  erscheinen^).  In  dieser  Beziehung  ist  Dante  in 
der  That  ein  Vorläufer  der  Renaissance;  er  ist  es  aber  auch  in 
seinem  Studium  des  klassischen  Alterthums. 

Sein  Werk  ist  der  Grundlage,  nicht  dem  Zwecke  nach  eucyklo- 
pädisch;  Vernunft  und  Religion,  die  beiden  grossen  Triebfedern 
der  geistigen  Thätigkeit  seiner  Zeit,  halten  sich  in  jener  erhabenen 
Conception  das  Gleichgewicht,  und  nicht  aus  ihrem  Widerspruche 
miteinander,  sondei-n  ihrer  Hannonie  entspringt  die  Poesie 
Dante's.  Die  Theologie  steht  für  Dante  wie  für  alle  Scholastiker 
obenan,  die  Philosophie  ist  ihr  nur  dienende  Magd.  Die  Vernunft 
nimmt  aber  bei  ihm  einen  ganz  anderen  Ehrenplatz,  als  in  den 
philosophischen  Schulen  ein.  Sie  ist  füi-  ihn  nicht  nur  das  Organ  der 
Gegenwart,  sondern  er  betrachtet  sie  in  ihi-er  herrlichen  Geschichte 
und  wird  von  Enthusiasmus  entflammt,  wenn  er  sieht,  welche 
Eroberungen  sie  gemacht  hat.  Sie  zeigt  sich  ihm  im  Alterthum, 
dessen  Werke  ihm  direct  bekannt  sind,  nicht  etwa  aus  Anthologien  und 
Repertorien,  wie  so  manchem  hervorragenden  Scholastiker'^),  denen 


1)  „Questo  (volgare)  sarà  quel  pare  orzato  del  quale  si  satolleranno 
migliaia  e  a  me  ne  soverchieranno  le  sporte  piere.  Questo  sarà  luce 
nuova,  sole  nuovo  il  quale  sorgerà  ove  l'usato  tramonterà,  e  darà  luce 
a  coloro  che  sono  in  tenebre  e  oscurità,  per  lo  usato  sole  che  a  loro 
non  luce."  (Convito  I,  13).  Wie  klein  und  lächerlich  erscheint  vor  der 
wunderbaren  Sehergabe  jenes  gewaltigen  Geistes  der  Hochmuth,  mit 
welchem  die  „Alten"  der  Zeit  auf  das  Italienische  herabblicken, 
wenn  sie  wie  Giovanni  del  Virgilio  (carm.  v.  15)  dem  Dante 
riethen,  sein  Gedicht  lateinisch  zu  schreiben,  weil  ,,clerus  vulgaria 
temnit  !" 

2)  Sehr  richtig  hat  Erdmann,  Grundriss  der  Gesch.  der  Phil.  I 
p.  367  (2  Ausg.)  mit  wenig  Worten  in  der  Beziehung  Dante  und  Rai- 
mundus  Lullus  mit  einander  verglichen. 

3)  Abälard  gesteht  geradezu,  dass  er  die  klassischen  Citate  aus 
zweiter  Hand  hat  (Op.  p.  1045)  „quae  enini  superius  ex  philosophis 
collegi  testimonia,  non  ex  eorum  scriptis,  quonim  panca  novi,  imo  ex 
libris  Sanctorum  Patrum  collegi." 


176  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

es  ja  nur  um  die  Speculation  ihrer  Zeit,  nicht  aber  um  die  directe 
Kenntniss  der  Geschichte  des  Wissens  und  der  älteren  grossen 
Producte  des  menschlichen  Geistes  zu  thuu  war.  Das  Alterthum 
wurde  also  von  Dante  in  dieselbe  erhabene  Sphäre  versetzt,  zu 
der  er  ja  auch  die  Volkssprache  und  die  Laienthätigkeit  erhoben 
hatte.  Wir  empfinden,  wie  es  seine  Anziehungskraft  freier  ausübt 
und  ahnen  die  Nähe  der  Renaissance^). 

Dante  war  weit  entfernt  davon,  das  Alterthum  so  zu  kennen 
wie  später  Poliziauus.  Im  Allgemeinen  ruht  seine  Kenntniss  des 
Alterthums  auf  derselben  Grundlage  wie  bei  dem  Clerus.  Seine 
klassischen  Studien  beschränken  sich  auf  den  von  der  Schule  vor- 
geschriebenen Kreis.  Er  versteht  nicht  einmal  Griechisch^)  und 
von  den  lateinischen  Schiiftstellern  kennt  er  vielleicht  wenigere,  als 
Rhabanus  Maurus  und  Johann  von  Salisbury').  Seine  gramma- 
tischen Studien  gehen  nicht  über  die  im  Mittelalter  gewöhnlichen 
Kenntnisse  hinaus*).  Da,  wo  er  von  alten  Autoren  spricht,  ge- 
wisse Etymologien,  Definitionen  oder  eine  literaturgeschichtliche 
Auffassung  vorbringt,  erkennt  man  oft  die  Fehler,  die  in  den 
Schulen  des  Mittelalters  gemacht  zu  werden  pflegten,  wieder''). 
Als  Latinist  steht  er  tief  unter  den  späteren  Humanisten,  ja  man 
muss  sagen,  dass  viele  seiner  Zeitgenossen  ein  besseres  Latein 
schrieben. 


1)  Die  Beziehungen  Dantes  zur  Renaissance  haben  nur  oberflächlich 
berührt  Burckhardt,  a.  a.  0.  p.  199  und  Voigt,  Die  Wiederbelebung 
des  klasäischeu  Humanismus  p.  9  ff.,  ausführlicher  Weg  e  le,  Dante 
Alighieris  Lebeu  etc.  p.  568  ff.  und  Schuck  in  der  unten  citirten 
Schrift. 

2)  Dass  Dante  kein  Griechisch  verstand,  muss  jeder  einsehen,  der 
selber  Griechisch  versteht  und  sich  mit  dem  Mittelalter  beschäftigt  hat. 
Cavedoni  hat  hierüber  das  uöthige  zusammengestellt  in  seinen:  „Osser- 
vazioni critiche  intorno  alla  questione  se  Dante  sapesse  il  greco."  Modena 
1860.  Vgl.  auch  Schuck  a.  a.  0. 

3)  Ueber  Dantes  klassische  Studien  vgl.  Schuck:  Dantes  klassische 
Studien  und  Brunetto  Latini  in  den  Neuen  Jahrb.  f.  Phil.  1865,  2.  Ab- 
theilung p.  253—289. 

4)  Ueber  Cicero's  Laelius  sagt  er:  „E  avvegnaché  duro  mi  fosse 
prima  entrare  nella  loro  sentenza,  finalmente  'ventrai  tant'  entro  quanto 
l'arte  di  grammatica  ch'io  avea  e  un  poco  di  mio  ingegno  potea  fare." 
Convito  II,  13. 

5)  Merkwürdig  sind  seine  Vorstellungen  über  die  Tragödie  und  Co- 
mödie.  Aus  seinen  Werken  geht  nicht  hervor,  dass  er  Plantus,  Terenz 
oder  den  Tragiker  Seneca,  die  doch  im  Mittelulter  bekauut  waren,  kennt. 
Die  Terenzstelle,  auf  die  sich  Inf.  XVIII,  133  bezieht,  ist  \vo\  dem  Lae- 
lius entlehnt. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  177 

Was  Dante'ö  Anschaixuug  vom  Altertlium  betrifft,  so  weicht 
seine  Bildung  nicht  von  der  kirchlichen  des  Mittelalters  ab,  und  das 
Alterthum  stellt  sich  ihm  unter  einem  keineswegs  richtigen  Ge- 
sichtspunkt dar.  Als  Gelehrter  ist  er  Scholastiker,  und  seine 
geistige  Richtung  geht  auf  eine  philosophisch-theologische  Specu- 
lation  aus.  Als  Scholastiker  betrachtet  er  auch  das  Alterthum,  und  mit 
der  allegorischen  Auslegung  ist  sein  tiefer  Geist  so  vertraut,  dass  er 
sich  selbst  allegorisirt,  und  sich  ihm  die  philosophischen  und  theo- 
logischen Ideen  während  er  dichtet  unter  Bildern  und  Sj^mbolen 
darstellen,  die  eine  Hauptrolle  in  seiner  Schöpfung  spielen.  Allegorien 
findet  er  mit  leichter  Mühe  nicht  nur  in  Virgil,  sondern  auch  in 
Lucan,  Ovid  vmd  Andern^)  und  beschränkt  die  allegoi'ische  Aus- 
legung nicht  blos  auf  poetische  Erfindungen,  sondern  wendet  sie 
ganz  in  der  Weise  des  Mittelalters  auch  auf  historische  Thatsachen 
an,  die  ihm,  ohne  dass  er  ihre  Realität  aufgibt,  als  allegorische  oder 
mystische  Symbole  einer  Idee  erscheinen. 

Aber  Dante  unterscheidet  sich  doch,  was  das  Studium  des 
Alterthums  betrifft,  stark  von  den  kirchlichen  Schriftstellern.  Als 
Laie  und  Weltmann  zwar  fromm,  aber  nicht  asketisch  gesinnt, 
hat  er  eine  erhabene  Vorstellung  von  der  menschlichen  Vernunft, 
und  obgleich  er  sie  für  beschränkt  hält,  verehrt  er  die,  welche 
sie  unabhängig  von  einer  Offenbarung  und  vor  Christi  Geburt  zur 
Darstellung  brachten.  Er  kennt  die  Alten  deshalb  nicht  nur  aus 
der  Schule  und  hält  ihr  Studium  nicht  blos  für  eine  unvermeid- 
liche Nothwendigkeit,  sondern  studirt  sie  selbst,  nicht  als  Philolog 
und  Humanist,  sondern  als  Dichter  und  Denker.  Der  scholastische 
Zweck  ist  damit  fast  ganz  aufgegeben,  vind  die  Alten  dienen  jetzt 
einer  wissenschaftlichen  Thätigkeit.  Dante  ist  fi-eilich  nicht  der 
Begründer  einer  solchen,  denn  schon  die  Scholastik  hatte  das  Stu- 
dium des  Aristoteles  betont,  aber  er  verehrte  Philosophen,  Prosaiker 
und  Dichter  in  gleicher  Weise  ^).  Dabei  legte  er  für  Letztere  eine 
aus  seiner  Richtung  leicht  erklärbare  Vorliebe  an  den  Tag,  die 
wir  bei  dem  Clerus  des  Mittelalters  natürlich  in  der  Weise  nicht 
finden.  Hier  ist  nicht  mehr  von  Verdacht,  Furcht  und  Beschrän- 
kungen gegenüber  den  Schriften  der  Heiden  die  Rede,  um  ganz 
von  dem  Hasse  zu  schweigen,  den  so  viele  alte  Asketen  gegen  die 
Heiden  äusserten.    Dante  steht  mit  den  Repräsentanten  der  mittel- 


1)  Convito,  II,  1.  IV,  25,  27,  28. 

2)  Von  einem  Ausspruche  luvenaVs  sagt  er  einmal:  „e  in  questo  (con 
reverenzia  il  dico)  mi  discordo  dal  poeta."  Convito,  IV,  29. 

Comparetti,    Virgil  im  Mittelalter.  12 


178  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

alterlichen  Cultur  so  wenig  auf  einer  Stufe,  dass  er  nicht  nur  mit 
den  antiken  Dichtem  ganz  vertraut  umgeht,  sondern  sogar  jene 
besonders  beliebten  christlichen  Dichter^),  Prudentius,  Sedulius, 
luvencus  u.  A.  ganz  bei  Seite  lässt,  was  bei  einem  so  christlich 
gesinnten  Manne  überraschen  muss.  Ja,  er  nennt  sie  nicht  einmal, 
obgleich  er  doch  in  der  theologischen  Literatur  wol  bewandert 
war  und  den  kirchlichen  Liedern  poetischen  Werth  beiraass.  Dante 
.war  in  viel  höherem  Grade  christlicher  Dichter,  als  jene, 
welche  das  Christenthum  in  widerstrebende  Formen  einzwängen 
wollten.  Er  schaffte  eine  Formel  für  das  Christenthum  von 
eigenem  Gepräge,  die  freilich  nur  dem  theologisch-philosophischen 
Christenthum  angepasst  ist,  wie  es  aus  der  katholischen  Kirche, 
d.  h.  der  Vereinigung  des  Christenthumes  mit  der  griechisch-latei- 
nischen Cultur  und  der  römischen  Welt  hervorging.  Dreizehn  Jahr- 
hunderte hindurch  hatte  sich  dasselbe  scheinbar  unauflöslich  mit 
Elementen  der  antiken  Cultur  verbunden.  Dante  repräsentirt  den 
erhabenen  Augenblick,  wo  beide  sich  znerst  die  Waage  halten. 
Der  Augenblick  musste  voi'übergehend  sein,  aber  Dante  wollte  und 
konnte  ihn  nicht  als  solchen  betrachten.  Er  stand  ja  der  religiösen 
Idee  nicht  feindlich  gegenüber,  war  auch  kein  Freidenker^),  noch 
konnte  er  voraussehen,  dass  jene  Thätigkeit  des  Verstandes,  die  das 
Alterthum  wieder  zu  Ehren  brachte,  schliesslich  die  religiöse  Empfin- 
dung abschwächen  und  eine  fortwährende  Abnahme  des  Christen- 
thums  zwar  nicht  in   den  äusseren  Formen  aber  in  dem  Gewissen 


1)  Eberhard  von  Bethune,  eine  grammatische  Autorität  der  Zeit^ 
verlangt,  dass  man  diese  Dichter  in  der  Schule  lesen  solle.  (Tractat.  Ili, 
De  versificatione).  Ein  anderer  ebenso  bedeutender  Manu,  Alexander 
von  Villedieu  empfiehlt  die  Lecture  der  christlichen  Dichter  (besonders 
seiner  eignen  Werke),  und  räth  vom  Lesen  der  Alten  ab.  VgL  Thurot, 
a.  a.  0.  p.  98. 

2)  Scartazzini  („Dante  Alighieri,  seine  Zeit  etc."  Biel,  1869,  p.  232 
ff.  und  „Zu  Dantes  innerer  Entwickelungsgeschichte"  in  den  Jahrb. 
d.  deutschen  Dantegesellschaft  III,  19  ff.)  behauptet,  gestützt  besondere 
auf  den  letzten  Gesang  des  Purgatoriums,  dass  der  Dichter  zu  einer  be- 
stimmten Lebenszeit  dem  Zweifel  anheimfiel,  ohne  dass  er  darum  je 
Skeptiker  oder  indifferent  ward.  Auch  ich  habe  mich  nie  davon  über- 
zeugen können,  dass  ein  über  seine  Zeitgenossen  so  hervorragender  Geist, 
niemals  oder  wenigstens  auf  Augenblicke  am  christlichen  Glauben  ge- 
zweifelt haben  sollte.  Das  konnte  jedoch  immer  nur  vorübergehend  sein, 
denn  es  war  damals  unmöglich,  auf  dialektischem  Wege  und  mit  ruhigem 
Gewissen  den  Zweifel  zu  begründen.  Der  kräftigste  Geist  war  zu  macht- 
los, die  harte  Schale  der  Religion  zu  durchbohren.  Die  Erfahrungswissen- 
schaft aber  war  noch  nicht  vorhanden. 


Virgil  iu  der  Literatur  bis  auf  Dante.  179 

der  Menschen  bewirken  musste.  Die  Kirche  sah  das  ein  und 
erklärte  jener  Bewegung,  wie  Dante,  einem  ihrer  hervor- 
ragendsten Repräsentanten,  den  Krieg,  und  die  Thatsachen  haben 
bewiesen,  dass  sie  dabei  ihr  Interesse  ganz  richtig  wahrgenommen 
hatte. 

Jene  Hinneigung  Dante's  zum  Alterthum  steht  in  genauer  Be- 
ziehung mit  seiner  Empfindung  für  die  autike  Poesie.  Er  ist  ja  in 
erster  Linie  immer  Dichter.  Weib,  Vaterland,  Natur,  Glaube  und 
Wissen,  Alles  erscheint  ihm  poetisch.  Wie  die  alten  Mönche  er- 
blickt er  zwar  das  Alterthum  durch  das  Prisma  der  Philosophie  und 
Theologie,  daneben  aber  fühlt  er  in  sich  die  poetische  Empfindung 
der  Alten  erwachen,  wie  sie  ein  Mönch  nie  gefühlt  hat.  Sein 
speculativer  Geist  will  alle  Gegenstände  einer  poetischen  Empfin- 
dung, den  christlichen  Glauben  und  die  antike  Ueberlieferung,  die 
Liebe  zu  Weib  und  Vaterland  und  die  Liebe  zur  Wahrheit  philo- 
sophisch mit  einander  verbinden.  Aber  sein  dichterisches  Gefühl 
ist  dabei  nicht  einseitig,  sondern  universal  und  steht  fast  auf  der 
Stufe  des  modernen  Menschen,  der  die  Poesie  des  Aeschylos  und 
Vii'gil  wie  die  David's,  Shakespeare's  und  Goethe's  zu  würdigen 
weiss.  Hierin  eben  zeigt  sich  die  grösste  Kluft  zwischen  ihm  und 
dem  mönchischen  Mittelalter  :  Dante  empfindet  so  lebhaft  die  Poesie 
des  Alterthums,  dass  er  zu  ihrem  Ausdrucke  nicht  mehr  die  la- 
teinische Sprache  und  den  lateinischen  -Vers  nöthig  hat;  die 
Sprache  des  Volkes  ist  ihm  vielmehr  der  natürlichste  und  will- 
kommenste Ausdruck  seiner  Empfindungen.  Wenn  ein  Dichter 
Bilder  von  solchem  Gepräge  wie   das   folgende   zu    schafl"en  weiss: 

„Quale  nei  plenilunii  sereni 

Tri  via  ride  fra  le  ninfe  eterne" 
abgesehen  von  so  vielen  anderen,  die  seit  Jahrhunderten  kein  la- 
teinischer Versmacher  hätte  schaifen  können,  braucht  man  wol  nicht 
erst  zu  fragen,  ob  Dante  eine  Empfindung  für  die  alte  Poesie 
hatte.  Unwiderstehlich  stellten  sich  dem  Geiste  des  Dichters  die 
Gestalten  des  Alterthums  dar,  ohne  dass  man  ihn  je  einen  Nach- 
ahmer nennen  könnte.  Bilder  und  Gleichnisse  schöpfte  er  oft  aus 
der  Natur  wie  seinen  ßeiseerinnerungen ,  aber  zumeist  aus  der 
Geschichte  und  Poesie  des  Alterthums.  So  vertraut  wie  er  mit 
dem  poetischen  antiken  Stofi'e  war,  wollte  oder  konnte  sich  kein 
mittelalterlicher  Schriftsteller  zeigen^). 


1)  Ueber  das  antike  Element  in  Dante  vgl.   Fauriel,  Dante  et  les 
origines  de  la  langue   et  de  la  litt.  ital.  II.  p.  420  ff.;   er  hat  aber  dabei 

12* 


180  Virgil  in  der  Literatur  l»is  auf  Dante. 

Daute  wird  besonders  von  zwei  erhabenen  EnipBndungen  be- 
herrscht, der  Liebe  zum  Vaterlaude  und  der  Liebe  zur  Erkenntniss 
der  Wahrheit.  Alle  Neigungen  fasst  er  in  dem  Worte  „amore" 
zusammen,  das  bei  ihm  die  weiteste  Bedeutung  erhält  und  auch 
die  Liebe  zum  idealisirten  Weibe,  womit  er  einen  mystischen  Be- 
BegriflF  verbindet,  bezeichnet.  Jene  beiden  Empfindungen  vereinigen 
sich  eng  mit  einander  in  seiner  politisch-historischen,  wie  theo- 
logisch-philosophischen Anschauimg  und  zeigen  sich  in  dem  Eifer, 
mit  dem  er  das  Gebiet  des  Wissens  durchdringt.  Die  Hauptnahrung 
für  den  Geist  findet  er  dabei  in  dem  rein  menschlichen  Alterthum, 
in  der  Stellung  des  antiken  Ideals  in  jener  von  ihm  ersehnten  po- 
litischen Organisation  und  in  der  historischen  Grundlage,  auf  der 
seine  patriotischen  Ideen  beruhen.  Mit  seiner  glühenden  Liebe  zu 
Italien  steht  die  Liebe  zum  Alterthum  in  engster  Beziehung.  Der 
Zusammenhang  zwischen  Römern  und  Italienern  erscheint  ihm  als 
ein  nie  unterbrochener:  die  römische  Geschichte  beginnt  mit  Aeneas 
und  geht  bis  auf  seine  Zeit.  Als  Poet  und  Patriot  empfindet  er 
den  Ruhm  der  Römer  als  den  Ruhm  der  Italiener.  Für  ihn  gibt 
es  in  der  Geschichte  keinen  andern  Gesichtspunkt,  als  den  im 
Mittelalter  allgemeinen,  insofern  er  sich  auf  die  römische  Gescljichte, 
die  auf  die  Idee  vom  Weltreiche  hinausläuft,  beschränkt.  Was  Nicht- 
ilalienera  nur  als  ein  abstracter  Gedanke  erschien,  indem  sie  sich 
von  der  Geschichte  der  Cultur  und  Religion  leiten  liessen,  das 
empfand  und  betrachtete  er,  der  Italiener,  als  die  Grundlage  für 
rechtmässige  Erwartungen  der  Nation.  Wie  diese  Empfindungen 
in  der  „Divina  Comedia"  und  in  seiner  Prosa  Ausdruck  gefunden 
haben,  ist  Jedermann  bekannt. 

Diese  Kraft  des  Nationalgefühls  erklärt  uns  Dante's  Vorliebe 
für  Virgil.  Er  betrachtet  ihn  als  einen  vor  allen  nationalen  Dichter, 
„la  nostra  maggior  Musa"  und  „il  nostro  maggior  poeta".  Mit 
grosser  Bewegung  erkennt  er  in  den  Erzählungen  des  Dichters 
die  alte  Geschichte  Italiens  und  meint,  dass  für  Italiens  Wol 

„ morì   la   vergine  Camilla 

Eurialo  e  Turno  e  Niso  di  ferute." 
Es  genügt,  hierbei  den  Leser  an  das  zu  erinnern,  was  wir  über  die 
Aeneis  gesagt  haben,  die  erhabenste  poetische  Offenbarung  des  rö- 
mischen Gefühls.    Zahllose  Stellen  aus  der  Divina  Comedia,  besonders 
der  schöne  Gesang  über  den  Siegeslauf  des  römischen  Adlers,  das  Buch 


nicht  beobachtet,  bis  zu  welchem  Grade  dies  Element  Dante  eben  so 
geläufig  war,  wie  dem  ganzen  Mittelalter.  Hierfür  hat  Piper,  Mytho- 
logie der  christl.  Kunst  I,  p.  255  ff.  mehr  gethan. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  181 

über  die  Monarchie  und  alles,  was  er,  gestützt  auf  Virgil,  über  die 
Rechtmässigkeit  der  römischen  Herrschaft  sagt,  zeigen,  wie  er  bei 
solchen  Empfindungen  mit  Virgil  harmoniren  musste.  Es  klingt 
unglaublich,  aber  ist  doch  wahr,  dass  dies  Gefühl,  das  Dante  zu 
jener  bekannten  politischen  Utopie  führte,  eben  in  dem  wurzelte, 
was  jene  Utopie  vereiteln  musste,  in  der  Idee  einer  nationalen  In- 
dividualität ^j.  Dante  hat  gut  reden,  dass  er  ein  Weltbürger  sei; 
seine  patriotischen  Ergiessungen,  seine  in  Vers  und  Prosa  bezeugte 
Vorliebe  für  die  alten  wie  modernen  „latini",  sein  Enthusiasmus 
für  Rom,  den  Ruhm  Italiens,  der  Eifer,  mit  dem  er  das  Ansehn 
der  italienischen  Sprache  vertheidigt  gegen  jene  „Abscheulichen", 
welche  die  Sprache  des  Volkes  verachten^),  machen  ihn  zum 
grossesten  Repräsentanten  der  italienischen  nationalen  Idee  und 
zeigen,  dass  er  sich  vielmehr  als  Italiener,  wie  als  Weltbürger 
fühlte.  Die  Geschichte  sagt  uns,  welche  Stellung  für  Italien  in 
dem  „Weltreiche"  vorhanden  wäre.  Jene  Idee  war  aber  nicht  Dante's 
Eigenthum,  sondern  allen,  welche  dieselbe  schon  gehegt  hatten,  ab- 
gesehen von  den  Beziehungen,  die  sie  dabei  zwischen  Papstthum  und 
Kaiserreich  festhielten,  war  Italien  immer  als  der  Mittelpunkt  für 
die  E^iserherrschaft  erschienen.  Dante  fand  also  in  der^eneis  nicht 
etwa  nur  die  Grundlage  für  eine  nüchterne  politische  Theorie,  son- 
dern auch  ein  Object  seines  glühendsten  Enthusiasmus.  Wer  sich  in 
die  verschiedenen  Epochen  der  Geschichte  zu  versetzen  vermag,  wird 
begreifen,  wie  Virgil  im  13.  Jahrhundert  einem  solchen  italienischen 
Denker  und  Patrioten  erscheinen  musste.  Für  die  Italiener  war 
es  eine  moralische  Unmöglichkeit,  ohne  das  römische  Alterthum 
zu  ihrer  Nationalitätsidee  vorzudringen.  Der  Zauber,  den  jenes  auf 
sie  ausübte,  als  die  neue  Bewegung  begann,  hatte  trotz  aller 
Utopien  seinen  Grund  in  dem  Nationalgefühl.  Die  tragikomische 
Geschichte  Cola  Rienzi's  ist,  so  thöricht  auch  das  ganze  Beginnen 
erscheint,  in  ihren  Ursachen  doch  hochpoetisch  und  grossartig.   Die 


1)  „Nos  autem  cui  mundus  est  patria  velut  piscibus  aequor,  quam- 
quam Sarnum  biberimus  ante  dentes,  et  Florentiam  adeo  diligamus,  ut 
quia  dileximus  patiamur  iniuste  etc."  De  vulg.  eloq.  I,  c.  6.  Für  den 
Verbannten,  dessen  Patriotismus  tief  verwundet  war,  war  die  abstracte 
Vorstellung  von  der  Idee  einer  allgemeinen  Verbrüderung  der  Menschen 
ein  Trost. 

2)  „  ....  e  tutti  questi  cotali  sono  gli  abominevoli  cattivi  d'Italia  che 
hanno  e  vile  questo  prezioso  volgare,  lo  quale  se  è  vile  in  alcuna  cosa 
non  è  se  non  in  quanto  egli  suona  nella  bocca  meretrice  di  questi 
adulteri."  Convito,  I,  11. 


132  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

Idee  des  KaiseiTeiches  musste  ein  italienischer  Gedanke   sein,   wie 
die  Kaiserherrschaft  wirklich  eine  italienische  That  war. 

Virgil  wird  also  von  Dante  nicht  blos  bewundert,  weil  er  der 
Ueberlieferung  nach  einen  so  grossen  Ruhm  geniesst.  Dante  sieht 
vielmehr  ein,  dass  die  Ueberlieferung  Virgil  mit  Recht  als  den  grossesten 
römischen  Dichter  betrachtet  und  würde  das  sogar  aus  sich  selbst 
wissen.  Er  kennt  ja  zur  Genüge  die  Abhängigkeit  so  vieler  Dichter 
von  Virgil,  denen  er  als  „onore"  und  „lume"  erscheint,  er  weiss, 
dass  ihm  Alle  Ehre  erweisen  („fanno  onore"),  und  mit  Recht  („di 
ciò  fanno  bene")  ;  er  weiss,  welche  Stellung  die  Geschichte  dem  Homer 
anweist  („che  le  muse  allatar  più  ch'altri  mai"),  obwol  er  ihn  in 
Wirklichkeit  nicht  kennt  ^),  und  für  ihn  ist  daher  Virgil  der  grosseste 
Dichter,  dem  Homer  selber  Ehre  erzeigt,  indem  er  ihm  an  der 
Spitze  der  anderen  Dichter  wie  ein  erhabener  Fürst  entgegenkömmt. 
Als  Dichter  ist  er  sich  der  hohen  Vollendung  der  Aeneis  bewusst; 
auf  dieses  Kunstwerk  ist  er  als  Italiener  stolz,  weil  lateinisch  und 
italienisch  die  beiden  Nationalsprachen  Italiens  sind,  und  Virgil  der 
Ruhm  der  Römer  ist.  Er  zeigte:  „ciò  che  potea  la  lingua  nostra". 
Den  lebhaften  und  tiefen  Eindruck,  den  die  Aeneis  noch  mehr 
als  die  Bucolica  auf  ihn  gemacht  hat,  nimmt  man  an  vielen  »gellen 
seines  Werkes  wahr.  Mit  Recht  kann  er  daher  sprechen  vom  „lungo 
studio  e  '1  grande  amore",  die  er  dem  Virgil  gewidmet  hat.  Wie 
er  aber  über  die  wirkungsreiche  Sprache  Virgils  denkt,  zeigt  er 
da,  wo  er  Beatrice  zum  Virgil  sagen  lässt: 

„Venni  quaggiù  dal  mio  beato  scanno 
Fidandomi  nel  tuo  parlare  onesto 
Ch'onora  te  e  quei  ch'udito  l'hanno." 

Inf.  II,   112. 
Er  kennt  die  Aeneis  von  Anfang  bis   zu  Ende^),   aber  wie  anders 
kennt  er  sie  doch,  als   jene   Leute,    welche   die   Poesie   des  Virgil 


1)  Die  Trojanische  Sage  kennt  er  nur  aus  lateinischen  Schriftstellern 
und  nur  in  einer  Vermischung  mit  mittelalterlichen  Vorstellungen,  wie 
man  aus  seiner  Schilderung  des  fantastischen  Unterganges  des  Odysseus 
(Inf.  XXVI,  91  S.)  sieht.  Nicht  einmal  Dictys  und  Dares  scheint  er  ge- 
kannt zu  haben,  eben  so  wenig  wie  den  Homerus  latinus.  Vgl.  Convito 
I,  7.  Den  Homer  citirt  er  gewöhnlich  nach  Aristoteles,  ein  Mal  nach  Horaz. 
Vgl.  Schuck,  a.  a.  0.  p.  272  tf. 

2)  Virgil  sagt  ihm: 

„ e  così  canta 

L'alta  mia  tragedia  in  alcun  loco; 
Ben  lo  sai  tu  che  la  sai  tutta  quanta". 

Inf.  XX,  112. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  183 

nur  zerrissen  um  Centoneu  daraus  zu  machen.     Er  fühlt  sich  von 
glühendem  Enthusiasmus  hingerissen: 

„  .  .  .  .  della  divina  fiamma 
Onde  furo  allumati  più  di  mille 
Deir  Eneide  dico  ')". 

Die  Art,  wie  Dante  den  Virgil  in  seinen  kleineren  Werken  be- 
nutzt, zeigt,  dass  dieser  sein  Lieblingsschriftsteller  war,  der  schon 
seinem  Geiste  nahe  stand,  bevor  er  ihn  noch  zum  Begleiter  seiner 
mystischen  Reise  gemacht  hatte,  und  es  gibt  in  der  ganzen  ita- 
lienischen Culturgeschichte  nichts  edleres  und  grossartigeres,  als  die 
wunderbare  und  geheimuissvolle  Genossenschaft  zweier  Rej)räsen- 
tanten  der  beiden  glänzendsten  Epochen  derselben,  deren  enger  Zu- 
sammenhang dadurch  klar  zu  Tage  tritt^). 

Als  Dichter  ist  Dante  in  jeder  Beziehung  schöpferisch,  und 
nichts  steht  ihm  ferner,  als  Nachahmung  trotz  seiner  Verehrung  für 
die  alten  Dichter  und  Virgil  im  Besonderen;  unterlag  er  doch  dem 
Einfluss  derselben  bei  seiner  Sehöpfimg  keineswegs.  Dichter  von 
solchem  Gepräge  sind  aber  auch  schöpferisch,  selbst  wenn  sie  nach- 
ahmen wollen.  Reminiscenzen,  die  Dante  aus  dem  Studium  der 
Alten  schöpfte,  sind  zahlreich  und  zeigen  sich  in  Namen,  Thatsachen  und 
Formeln  ;  aber  im  Allgemeinen  ist  der  Typus  seiner  Poesie  ganz  und 
gar  original.  Wenn  er  z.  B.  die  Strafe  des  Pier  delle  Vigne  schildert, 
so  hat  ihm  dazix  nach  eigener  Aussage  Virgil  nach  der  Erzählung 
von  Polydor  das  Vorbild  gegeben,  und  doch  ist  Beiden  nichts 
weiter  gemeinsam  als  der  Stoff;  Stil  und  Form  sind  ganz  verschie- 
den. Der  rhetorische  Schmuck,  die  Häufung  von  Epiphonemen  und 
der  nach  antikem  und  speciell  römischem  Geschmacke  dem  Ton 
des  Epos  zukommende  Wortreichthum  bei  Virgil  finden  ihren 
schärfsten  Gegensatz  in  der  einfach  klaren  Natürlichkeit,  wie  dem 
Mangel  jeder  declamatorischen  Tendenz  bei  Dante.  Als  dieser 
seine  Schilderung  mit  dem  Verse  schloss:  „e  stetti  com'è  1'  uom 
che  teme",  lag  ihm  gewiss  nichts  ferner,  als  der  Gedanke  Virgil 
nachzuahmen  in  dessen: 

„Obstupui  steteruntque  comae  et  calor  ossa  reliquit." 


1)  Purg.  XXI,  94. 

2)  Unglaublich  ist,  wie  Heeren  (Gesch.  d.  klass.  Litt,  im  Mittelalter 
I,  p.  320)  sagen  konnte:  „Selbst  die  Rolle,  die  Virgil  in  Dante's  Gedichte 
spielt  zeigt  wol,  dass  er  ihn  mehr  aus  Nachrichten  anderer  als  aus  eigner 
Einsicht  kannte." 


Ig4  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

Er  muss  diesen  tiefen  Abstand    auch   gefühlt   haben  und  wenn  er 
zu   Virgil  sagt: 

„Tu  se'   solo  colui,  da  cu'io  tolsi, 

Lo  bello  stile  che  m'ha  fatto  onore", 
darf  man  nicht  denken,  dass  er  nach  dem  Muster  Virgil's  habe 
dichten  wollen,  sondern  seine  Worte  sind  so  zu  verstehen,  wie 
wenn  Aeschylos  sagte,  dass  seine  Tragödien  nur  Brocken  seien, 
die  er  vom  Tische  Homers  auflese.  Auf  die  charakteristische  Form 
der  Poesie  Dante' s  passen  jene  Worte  gar  nicht.  Und  wenn 
schon  die  Divina  Comedia  keine  Nachahmung  des  Antiken  ist,  so 
sind  es  noch  viel  weniger  seine  älteren  Dichtungen,  durch  welche 
er  bereits  früher  berühmt  geworden  war,  und  auf  welche  sich  doch 
jene  Worte  auch  beziehen  sollen.  Die  Lyvik  Dante's  ist  von  ganz 
modernem  Charakter  und  hat  nichts  mit  Virgil  und  den  Alten 
gemeinsam.  An  einem  andern  Orte  sagt  jedoch  Dante,  was  er  mit 
jenen  Worten  meint  ^).  Den  eigentlichen  Charakter  des  „dolce  stil  nuovo", 
den  er  eingeführt  zu  haben  sich  rühmt,  definirt  er  nämlich  so: 

„ (juando 

Amor  m'  ispira,  noto,  ed  in  quel  modo 

Ch'ei  detta  dentro  vosignificando." 
Die  Poesie  den  Eegungen  des  wahren  Gefühls  unterzuordnen,  sie 
immer  „dietro  al  dittatore"  gehen  zu  lassen,  das  nennt  er  seinen 
„neuen  Stil",  der  sich  also  nicht  auf  die  künstlerische  Form,  sondern 
vielmehr  auf  ihren  subjectiven  Grund  bezieht,  welcher  bei  zwei  sonst 
verschiedenen  Dichtern  wol  identisch  sein  kann.  Unter  dem  Worte 
„amore"  will  übrigens  Dante  ganz  besonders  die  geistigen  Bestre- 
bungen verstanden  wissen. 

Der  poetische  Stil  Dante's  folgt  aus  der  Hai-monie  der  Em- 
pfindung und  des  Gedankens.  Er  ist  ganz  das  Werk  einer  inneren 
Thätigkeit  und  nicht  äusserliche  Nachahmung;  weder  eine  unüber- 
legte Improvisation,  noch  eine  trockene  Darstellung  von  allegori- 
sirten    philosophischen    Gedanken ^J:    er    ist    wahre    Poesie,    aber 


1)  Witte  hat  diese  Worte  auf  die  Schrift  „De  Monarchia"  beziehen 
wollen,  aber  der  Dichter  sagt  uns  deutlich  dass  der  Stil  seiner  Dich- 
tungen sein  Ruhm  geworden  ist.  Gegen  Witte  tritt  Wegele  (Dante 
Aligheri  p.  348  f.)  -auf,  doch  hat  auch  er  nicht  den  Sinn  der  Stelle  ver- 
standen, indem  er  den  Ausdruck  „stile"  auf  die  Worte  und  die  formale 
Nachahmung  des  Virgil  bezieht. 

2)  Hierhin  würde  die  Definition,  die  Perez  (La  Beatrice  svelata, 
p.  65  ff.)  von  dem  „neuen  Stile"  gibt,  führen.  Die  Allegorie  bei  Dante 
zu  läugnen  ist  unmöglich;  aber  diese  war  nur  ein  ganz  natürlicher  Aus- 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  18o 

Poesie  der  Reflexion.  Mit  Recht  stellt  sich  Dante  den  der 
Tiefe  und  der  Subjectivität  entbehrenden  Dichtungen  eines  „Buo- 
naggiunta"  eines  „Jacopo  Notaio'^  u.  A.,  wie  auch  jenen  „gi'ossi" 
(„rohen'')  entgegen,  von  denen  er  in  seinen  prosaischen  Schriften 
spricht.  Was  die  künstlerische  Ausarbeitung  und  die  Tiefe  des 
Gedankens,  die  sich  nach  der  mittelalterlichen  Vorstellung  in  den 
poetischen  Formen  verbirgt,  betrifft,  so  steht  ihm  unter  Allen  Virgil 
am  höchsten.  Mit  einem  Worte,  Dante's  sich  kühn  über  die  volks- 
thümliche  und  gewöhnliehe  Poesie  erhebende  Kunst  ist  klassisch,  nicht 
weil  sie  die  Klassiker  nachahmt,  sondern  weil  sie  den  künstlerischen 
Adel  derselben  hat;  und  jetzt  wii'd  man  verstehen,  weshalb  Dante, 
„lo  bello  stile"  aus  Virgil  geschöpft  haben  will^). 

Fünfzehntes  Capital. 
Alles  dies  führt  uns  zum  Verständniss  der  Erscheinung  Vir- 
gils  in  der  Divina  Comedia.  —  Es  leuchtet  ein,  dass  der  Dante'sche 
Virgil  natürlich  nicht  mit  dem  historischen  gleichbedeutend,  son- 
dern eine  ideale  Persönlichkeit  ist,  hervorgegangen  aus  den  Vor- 
stellungen, welche  das  Mittelalter  über  den  Dichter  hegte.  Nur  muss 
man  nicht  glauben,  dass  Dante  aus  rein  äusseren  Gründen  den  Virgil 
zum  Führer  wählte,  weil  ihm  beim  Suchen  nach  einem  solchen 
der  Ruhm  des  Dichters  am  meisten  imponirte.  Es  ist  der  „Di- 
vina Comedia"  eigen,  dass  man  niemals  die  Person  und  Sub- 
jectivität des  Autors  aus  den  Augen  verliert.  Dante  hat  uns 
darin  seine  ideale  Welt,  die  er  in  sich  selbst  trug,  offenbaren 
wollen,  und  so  konnten  ihn  auch  nicht  äussere  Gründe  zur  Wahl 
seines  Führers  bestimmen.  Wenn  er  ein  rein  didaktisches  Gedicht  hätte 
schreiben  wollen,  in  welchem  es  sich  nicht  um  seine  eigene  Person 


druck  der  Gedankentiefe,  die  Dante  vom  Dichter  verlangt.    Darum  ist 
er  jedoch   weit   entfernt   davon   in    ihr    das   Wesen  der  Poesie    zu   er- 

blicken.  , .  i    T^•  i, 

1)  Der  erste  Freend"  Dante's  Guido  Cavalcanti  war  auch  Dich- 
ter vom  neuen  Stil  und  Dante  sagt  selbst,  wie  sehr  sie  in  ihrer  Ansicht 
über  die  italienische  Poesie  übereinstimmten.  Das  wäre  unmöglich,  wenn 
man  Inf  X  63:  „Forse  cui  Guido  vostro  ebbe  a  disdegno",  wie  viele 
gethan  haben,  wörtlich  erklären  wollte,  als  sei  Guido  ein  Verächter 
Virgil's  und  der  Alten.  Da,  wo  der  Vers  vorkommt,  handelt  es  sich  um 
die  erhabenste  Idee,  welche  der  Pilgerfahrt  Dante's  zu  Grunde  liegt 
Die  Differenz  zwischen  beiden  Männern  bezieht  sich  lediglich  aut 
speculative  Tendenzen  und  philosophische  Gedanken.  Vgl.  Perez, 
a.  a.  0.  p.  382  f.  und  besser  d'Ovidio  im  Propugnatore,  III,  2 
p.  167  ff. 


186  Virgil  in  dor  Literatur  bis  auf  Dante. 

handelte,  so  hätte  er  leicht  Andere  wühlen  können  oder  auch  gar, 
wie  Andere  thaten  und  wozu  ja  die  Symbolik  des  Mittelalters  ein- 
lud, Namen,  die  blose  Ideen  personificirten  z.  B.  „Pistis  und  Sophia", 
und  nicht  „tJeatrice  und  Virgil."  Aber  die  Beziehung  zwischen  der 
Divina  Comedia  und  Dante's  innerer  Entwickelung  war  so  eng, 
dass  nur  solche  ihn  auf  seiner  idealen  Reise  begleiten  konnten, 
die  in  der  That  seinem  Cìeiste  in  allen  Schicksalen  nahe  gestanden 
hatten.     Das  waren  Beatrice  und  Virgil. 

Beatrice  ist  eine  historische  Persönlichkeit,  zu  welcher  den 
Dichter  eine  Jugendneigung  hingezogen  hatte.  Als  er  jedoch  diese  seine 
Liebe  ideal  umgestaltete,  verstand  er  darunter  etwas  mystisches, 
zwar  immer  noch  das  Ziel  seiner  tiefsten  Neigungen,  aber  ganz 
ohne  die  ursiirüngliche  Bedeutung.  Wer  die  Divina  Comedia  liest, 
ohne  von  Dante  etwas  weiter  zu  wissen  und  seine  „Vita  nuova" 
zu  kennen,  kann  Beatrice  für  eine  Erfindung  halten.  Virgil  bleibt 
dagegen  immer  eine  concrete  Erscheinung  und  nicht  ein  bioser 
Ausdruck  für  eine  Idee.  Er  war  Dante's  Lieblingsschriftsteller; 
aus  ihm  schöpfte  ér  Stoff  für  seine  Gedanken  und  er  wie  Beatrice 
wurden  jetzt  in  jene  Strömung  gezogen,  in  der  Dante  seine  Ideale 
zu  verwirklichen  suchte.  Die  Ideale,  welche  der  Beatrice  zu  Grunde 
liegen,  sind  nicht  reine  Schöpfung  Dante's,  sondern  das  Resultat 
mittelalterlicher  Ideen;  dasselbe  findet  auch  für  Virgil  statt,  nur 
mit  dem  Unterschiede,  dass,  während  der  Process,  mit  welchem 
sich  aus  mittelalterlichen  Idealen  die  Erscheinung  der  Beatrice 
gestaltet,  lediglich  sich  in  Dante  vollzogen  hat,  die  Elemente  des 
Virgilideals  bereits  zerstreut  im  Mittelalter  vorhanden  waren  und 
nur  vom  Dichter  in  einer  bestimmten  Persönlichkeit  zusammenge- 
fasst  zu  werden  brauchten;  freilich  that  dies  Dante  nicht  blos  in 
äusserlicher  Weise,  sondern  selbst  wieder  als  Interpret  mittelalterlicher 
Vorstellungen.  Trotzdem  ist  sein  Virgiltypus  bei  weitem  erhabener, 
als  ihn  je  das  Mittelalter  selbst  hat  schaffen  können. 

Dante  bezieht  sich  in  seinen  Schriften,  ii^  denen  er  doch  so 
oft  den  Vii-gil  citirt,  niemals  auf  eine  Autorität  wie  Macrobius 
undFulgentius,  von  denen  er  wahrscheinlich  gar  nichts  weiss.  Erkennt 
eine  allegorische  Auslegung  der  Aeneis  und  erwähnt  sie  als  allge- 
mein bekannt;  vielleicht  geht  sie  auf  Fulgentius  zurück  und  war 
bei  den  Scholastikern  wie  Bernhard  von  Chartres  und  Johann  von 
Salisbury  in  Gebrauch;  Dante  hat  sie  vielleicht  bei  seinen  philo- 
sophischen Studien  in  Paris  kennen  gelernt;  übrigens  hätte  ihm 
Fulgentius,  der  den  Typus  des  Virgil   so   roh   und  einseitig  aufge- 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  187 

fasst  hat,  nur  Missbehagen  erwecken  müssen.  Dante  kennt  in  der 
That  nur  die  Biogi-aphie  Virgils'j. 

Wir  befassen  uns  nicht  mit  der  Polemik  der  Ausleger,  die 
auf  verschiedene  Weise  erklärt  haben,  was  Dante  unter  seinen 
beiden  Führern  verstanden  habe.  Wir  haben  nur  die  Beziehungen 
des  Dante'schen  Vii-gil  zur  Literatur,  und  sein  Verhältniss  zum 
Clerus  des  Mittelalters  zu  untersuchen. 

Dante  hat  seine  Reise  als  eine  Pilgerfahrt  zjim  Wole  seiner 
Seele  dargestellt.  Bei  dieser  Vision  muss  die  Seele,  bevor  sie  all- 
mälig  zur  Anschauung  des  Erhabensten  gelangt,  von  dem  Unreinen 
sich  befreien,  durch  das  „temporal  fuoco  e  1'  eterno"  hindiirch- 
gehen  und  sich  durch  die  Betrachtung  des  Unmoralischen,  das  sie 
verdirbt,  und  ihrer  ewigen  Strafen  bessern.  So  gereinigt  taucht 
sie  ein  in  die  Gewässer  Lethe  und  Eunoe,  und  nun  wird  der  Geist 
fähig,  die  ewige  Idee  zu  erkennen.  Dabei  hat  Dante  zwei  Führer, 
einen  mehr  realen  für  den  Theil,  in  welchem  die  Seele  auf 
menschlichem  Gebiete  sich  zu  reinigen  und  für  die  himmlische 
Vision  vorzubereiten  hat,  und  einen  mehr  mystischen,  da  wo  die 
Seele  sich  in  die  überirdische  Sphäre  der  Vollkommenheit  erhebt, 
wo  sie  „la  gloria  di  colui  che  tutto  move"  im  höchsten  Glänze 
sieht.  Da  sich  der  erste  Theil  zum  zweiten  nur  wie  Mittel  zum 
Zwecke  verhält,  muss  sich  auch  Vii-gil  der  Beatrice  unterordnen, 
von  der  er  ja  Dante  zugesandt  wird.  Ln  Anschauen  der  trau- 
rigen Wirklichkeit  ist  also  ein  tugendhafter,  berühmter  und  weiser 
Heide  Dante's  Führer  und  Meister;  in  der  Betrachtung  der  höchsten 
Idee  der  Seligkeit  ist  ein  symbolisches  und  ideales  Weib  die  Füh- 
rerin, dessen  Name  den  Dichter  an  seine  reinste  Neigung  erinnert. 
Sie  bezeichnet  die  erhabene,  begnadete  und  erleuchtete  Speculation 
des  Geistes,  die  sich  nur  im  Chi-istenthume  findet.  Virgil  kann,  so 
weit  er  auch  auf  dem  Wege  der  Vervollkommnung  vorschreitet, 
sich  niemals  in  den  Gewässern  Lethe  und  Eunoe  ganz  erneuern, 
noch  auch  zu  jenem  reinen  Stande  des  Menschen  vor  dem  Sünden- 
falle zurückkehren.  Beatrice  dagegen  ist  vollkommen  und  geniesst 
alle  Vortheile  des  vergossenen  Blutes  Christi.  Sie  hat  deshalb  wol 
Virgil's  Kenntniss,  aber  nicht  dieser  ihre.  Abgesehen  von  den  leider 
zu  zahlreichen  Auslegungen,  die  man  beiden  Personen  untergelegt  hat, 
bleibt  unbezweifelt,  dass  Beatrice,  mag  man  darunter  Theologie, 
Philosophie  oder  etwas  Anderes  verstehen,  ihren  Platz  nur  im 
Christenthume  findet  und  sich  von  Virgü  vor  Allem  nur  durch  den 


1)  Vgl.  Inf.  I,  67  ff.  Purg.  III,  25  ff.  VII,  4  ff.  XVIII,  82  f. 


188  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

geoffenbarten  Glauben  unterscheidet.     Dies  beweist  z,  B.  auch  die 
Stelle,  wo  der  Dichter  Virgil  sagen  lässt  ^)  : 
„  .  .  .  .  quanto  ragion  qui  vede 
Dir  ti  poss'  io,  più  in  là  t'  aspetta 
A  Beatrice,  ch'è  opra  di  fede." 
Es   findet   zwischen    Virgil    und    Beatrice    kein    Widerspruch    statt, 
weil   Dante    die    Harmonie    zwischen  Vernunft  und   Glauben    aner- 
kennt;  vielmehr  herrscht  ein  gutes  Einvernehmen  zwischen   ihnen, 
wie   sich  denn  auch  die  diesen  Gestalten   zu  Grunde  liegende  Idee 
auf  eine  Einheit   zurückführen    lässt.     Es    sei   uns   jedoch   erlaubt, 
uns  hierbei  nur  mit  Virgil  zu  beschäftigen.     Fassen  wir  noch  ein- 
mal kurz  die  Gründe  zusammen,  die  Dante  bestimmten,  Virgil  zum 
Führer  zu  nehmen. 

Erstens  war  Virgil  Dante's  Lieblingsschriftsteller  und  der 
grösste  Dichter,  den  er  kannte.  Er  wusste  den  Adel  seiner  Kunst 
mehr  zu  würdigen,  als  irgend  einer  im  Mittelalter,  und  betrachtete 
ihn  als  Meister  für  seinen  eigenen  poetischen  Stil;  er  bewunderte 
in  ihm  den  Sänger  des  italienischen  Ruhmes;  an  der  Aeneis  reifte 
sein  eigener  Gedanke  von  der  Weltherrschaft,  füi*  welche  ihm  Virgil 
nicht  als  bioser  Theoretiker,  sondern  als  schlagender  historischer 
Beleg  diente.  Ferner  aber  sali  Dante  nach  der  damals 
geläufigen  allegorischen  Auslegung  in  der  Aeneis  eine  Pilgerfahrt 
des  Menschen  auf  dem  Wege  der  Beschaulichkeit  und  Vervollkomm- 
nung, die  er  selbst  zum  Gegenstände  seines  Gedichtes  machte.  Bei 
seiner  Vorstellung  von  dem  Verhältnisse  der  Vernunft  imd  des 
Glaubens  zueinander,  von  der  Kraft  des  Geistes,  der  ohne  Offen- 
barung zur  Erkenntniss  grosser  Wahrheiten  gelangen  konnte,  erhob 
sich  Virgil  über  die  Dichter  des  Alterthums  besonders  durch  seine 
Reinheit  imd  Erleuchtung.  Zeitlich  stand  er  Christus  am  nächsten 
und  war  ohne  es  zu  wissen  sein  Prophet.  Indem  aber  Dante  den  Stoff 
seines  Gedichtes  zusammenstellte,  gab  ihm  Virgil  die  erste  Anre- 
gung, er  entlehnte  aus  ihm  viele  Einzelheiten  für  seine  Reise  durch 
die  Todtenwelt  und  benutzte  ihn  überhaupt  mehr  als  irgend  einen 
andern  Schriftsteller  in  seinem  grossen  Werke'"'). 

Aus  all  diesem  geht  hervor,  wie  innerlich  berechtigt  Dante  war, 
sich  Virgil  zum  Führer  zu  wählen.  Es  ist  das  eben  so  wenig  eine  reine 
Erfindung  aus  äusseren  Rücksichten,  wie  die  Wahl  der  Beatrice 
zur  zweiten  Führerin.  Dabei  darf  man  nicht  vergessen,  dass  Dante 


1)  Purg.  XVIII,  46  ff. 

2)  Man  sehe,  wie  oft  Guido  da  Pisa  bei  Erzählung  der  Begeben- 
heiten aus  der  Aeneis  Gelegenheit  hat,  Dante  zu  erwähnen. 


Virgil  lu  der  Literatur  bis  auf  Dante.  189 

vor  Allem  ein  schopferischer  Dichter  ist,  und  dass   es  nur  seinem 
titanischen  Geiste  möglich  war,  die  Speculation  in  die  Poesie  ein- 
zuführen. Wenn  er  zwischen  einem  Philosophen  und  einem  Dichter 
zu  wählen  hat,   so  entscheidet  er  sich  für  den  letzteren.  Er  unter- 
hält sich  am  meisten   mit  Künstlern  und  Dichtem,  vor    allem  mit 
Virgil,    d£wan    mit    Statius,    Sordello,    Arnaldo    und    Casella.     Jene 
Männer  „di  cotanto  senno,"  unter  denen  er  der  sechste  im  Limbus 
ist,  sind  sämmtlich  Dichter.  Als  Dichter  zu  gelten,  ist  sein  eigener 
heissester  Wunsch.   Dies  ist  sein  Verdienst,  weshalb  er  denkt,  aus 
dem  Exile   zurückkehren   zu    dürfen,  wie  er   sagt:    „al    bell'    ovile 
ov'io  dormii  agnello",    und   die  Diehtei'krone  hofft  er  zu    erwerben 
in  seinem  „bei  Sau  Giovanni,"  wo  er  die  Taufe  empfing: 
„Con  altra  voce  ormai;  con  altro  vello 
Ritornerò  poeta,  ed  in  sul  fonte 
Di  mio  battesmo  prenderò  il  cappello"  ^). 
Diese  seine  Vorliebe  für  die  Kunst,  die  er  mit  seinem  Führer  theilt, 
schildert    er    wimderbar    schön  an    jener   Stelle,   wo  sie   Beide  zu 
ihrer  grossen  Bestürzung  bemerken,  dass  sie  das  erhabene  Ziel  ihres 
Weges  unter  dem  Zauber  des  süssen  Gesanges  verfehlt  haben ''^). 

Die  Gelehrten  haben  es  natürlich  gefunden,  dass  Dante,  als  er 
einen  Repräsentanten  der  von  der  Offenbarung  unabhängigen  mensch- 
lichen Vernunft  suchte,  nach  Virgil  griff,  der  im  Mittelalter  als 
fast  allwissend  und  als  Christ  galt.  Niemand  hat  aber  die  Frage 
aufgeworfen,  warum  der  scholastisch  gebildete  Dante  nicht  den 
Aristoteles  wählte.  Nach  des  Dichters  eigenen  Worten  war  ja 
dieser  und  nicht  Virgil  „maestro  di  color  che  sanno,"  und  die 
Allwissenheit  schiieb  man  ihm  nicht  weniger  als  dem  Dichter  der 
Aeneis  zu.  Dante  betrachtete  Aristoteles  als  oberste  Autorität  in 
der  Philosophie,  als  den  Meister  des  Verstandest)^  und  in  der  That 
galt  ja  in  der  Scholastik  Aristoteles  mehr  als  Virgil*).    Es  fehlte 


1)  Parad.  XXV,  1  ff. 

2)  Purg.  II,  106  ff. 

3)  „ ....  in  quella  parte  dove  aperse  la  bocca  la  divina  sentenzia 
d'Aristotile  da  lasciare  mi  pare  ogni  altnii  sentenzia."  Convito  IV,  17. 
Vgl.  über  die  Autorität  des  Aristoteles  Convito,  IV,  G. 

4)  Der  merkwüi-digste  Ausdruck  für  den  Primat  des  Aristoteles  zur 
Zeit  der  Scholastik,  ist  das  Fabliau  „la  bataille  des  VII  ars".  Darin 
heisst  es  u.  a.  : 

„Aristote,  qui  fu  a  pie 
Si  fist  chéoir  Gramaire  enverse. 
Lors  i  a  point  mesire  Perse, 
Dant  luvenal  et  daut  Grasce, 


190  Virgil  iu  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

auch  nicht  an  Legenden,  die  von  seiner  Weisheit  erzählten;  man 
glaubte,  er  sei  ein  Christ,  so  weit  dies  überhaupt  möglich  war, 
und  disputirte  im  Ernst  darüber,  ob  seine  Seele  im  Paradiese 
sei  ^).  Ja,  auch  iu  dem  theoretischen  Theil  seiner  Weltherrschafts- 
idee stützte  sich  Dante  auf  den  grossen  Philosophen,  aber  —  Aristo- 
teles war  ein  Grieche  und  kein  Römer  ^).  Als  Dichter  war  er  Dante 
unbekannt,  und  es  fehlte  jene  innere  Verwandtschaft,  die  zwischen 
ihm  und  Virgil  bestand;  .darum  konnte  Aristoteles  nicht  sein  Füh- 
rer sein. 

Auch  der  Virgil  der  Divina  Comedia  zeigt  wie  jede  Schöpfung 
des  grossen  Dichters  das  Verhältniss  Dante's  zum  Mittelalter.  Die 
mittelalterliche  Vorstellung  von  Virgil  findet  sich  auch  hier,  aber 
der  schöpferische  Geist  Dante's  hat  ihr  seinen  eigensten  Stempel 
aufgeprägt  und  aus  den  rohen  Elementen,  die  nur  unser  mit- 
leidiges Lächeln  erwecken  konnten,  eine  der  edelsten  Erscheinun- 
gen geschaffen.  Von  den  alten  Vorstellungen  wusste  er  einige 
weise  zu  entfernen,   andere   zu    reinigen   und    fein   umzuarbeiten^). 


Virgile,  Lucain  et  Etasee 

Et  Sedule,  Propre,  Prudence, 

Aratur  Omer  et  Térence: 

Tuit  chapelèrent  sor  Aristote 

Qui  fu  fers  com  chastel  sor  mote." 
Vgl.  Jubinal,   Oeuvres   compi,   de  Ruteboeuf,    II,   p.   426.   Propre  ist 
nicht,    wie    Jubinal   meint,    Properz,    sondern    der    christliche   Pros 
per  US. 

1)  Vgl.  Lambertus  de  Monte,  Quid  probabilius  dici  possit  de 
salvatione  Aristotelis  Stagiritae.  Col.  1487.  Einst  nannte  Tertullian  den 
Aristoteles  „patriarcha  haereticorum"  und  später  Luther:  „hostis  Christi." 
In  dem  französischen  Gedichte  „Enseignements  d'Aiüstote"  spricht  Aristo- 
teles von  Christus  und  dem  Christenthume  wie  ein  Christ.  Vgl.  Hist.  Litt, 
de  la  France  XIII.  p.  115—118  und  Ruth,  Studien  über  Dante  Allighieri 
p.  258  S. 

2)  Dante  zeigt  da,  wo  Virgil  von  Diomedes  und  Odysseus  mit  ihm 
si^richt  (Inf.  XXVI,  73  ff.)  deutlich,  dass  er  die  Griechen  nur  aus  latei- 
nischen Uebersetzungen  kennt: 

„Lascia  parlare  a  me;  ch'io  ho  concetto 
Ciò  che  tu  vuoi;  eh'  e'  sarebber  schivi, 
Perchè  ei  fur  Greci,    forse  del  tuo  detto." 
Und  vor  Guido  di  Montefeltro  (Inf.  XXVII,  33)  sagt  ihm  Virgil: 
„  . .  . .  parla  tu,  questi  è  Latino." 

3)  Dante  war  sich  seines  Verständnisses  des  Virgil  und  des  Adels, 
den  er  dessen  Person  verlieh,  bewusst.  Nur  hierauf  bezieht  sich  wol, 
was  er  von  Virgil  sagt  (Inf.  I,  9): 

„che  per  lungo  silenzio  parca  fioco." 
Dass  Virgil   seit  langer  Zeit  vergessen  war,  konnte  Dante  damit  nicht 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  191 

Zu  seiner  Zeit  hatte  sich  schon  die  Volkssage  von  Virgil  in  die 
romantische  wie  die  gelehrte  Literatur  eingedrängt.  Dante 
kannte  sie  ganz  gewiss,  wie  ja  auch  sein  „dolcissimo  Gino"  sie 
kaimte,  der  sie  in  Neapel  vom  Volke  gehört  hatte;  dennoch  ist 
es  ein  gi-osser  Irrthum,  wenn  man,  wie  fast  alle  modernen  Aus- 
leger gethan  haben,  bei  dem  Virgil  Dante's  an  jene  Volkssage 
gedacht  hat.  In  dem  ganzen  Gedichte  ist  keine  einzige  Stelle 
aufzufinden,  in  welcher  Virgil  nur  von  fern  als  Zauberer,  Thau- 
maturg  u.  s.  w.  erscheint^).  Man  braucht  nur  an  die  erhabene 
Idee  zu  denken,  die  Dante  von  Virgil  hat,  an  die  Verehrung,  die 
er  ihm  zoUt,  um  zu  fühlen,  wie  sehr  ihm  jene  neapolitanischen 
Volkssagen  über  Virgil  widerstreben  mussten.  Zur  Genüge  zeigt 
auch  die  Art,  wie  er  Zauberer  und  Astrologen  behandelt,  dass 
solche  Künste  für  ihn  nicht  den  grossen  Weisen  ausmachten,  wie 
sie  es  beim  Volke  thaten  ;  sondern  die  Weisheit,  die  er  dem  Virgil 
zuschreibt,  schloss  grade  jene  Künste  aus.  Derselbe  hätte  ja  sonst 
in  der  Unterwelt  neben  Guido  Bonatti,  Asdeute  u.  A.,  die  er  doch 
keineswegs  bewundert,  Platz  nehmen  müssen").  Für  seinen  Virgil 
hat  Dante  nur  seine  eigenen  Ideale  zum  Massstab  gemacht,  aber 
Zauberei  war  sein  Ideal  gewiss  nicht. 

Ein  Mann,  der  so  hoch  von  den  alten  Dichtern  dachte  und 
die  Kunst  zu  solcher  Vollendung  führte,  konnte  sich  nicht  für 
eine  rein  volksthümliche  Sage  begeistern,  die  sich  an  einen  Dichter 
wie  Virgil  anhing.  Als  Künstler  und  Denker  ist  Dante  ein  stolzer 
Aristoki-at.  Nicht  einmal  alle  literarischen  Ueberlieferungen,  die  da- 
mals über  Virgil  umliefen,  hat  er  mit  seiner  erhabenen  Schöpfung 
verknüpft.  Und  so  reinigte  er  vielmehr  diese  Gestalt  von  manchen 


meinen,  denn  er  nennt  ihn  selbst   „famoso  saggio"  und   sagt,   dass   sein 
Ruhm  „ancor  nel  mondo  dura." 

1)  Daher  der  Fehler,  den  einige  Ausleger  begangen  haben,  indem 
sie  in  den  Versen  (Inf.  IX,  22): 

„Ver'  è  ehe  altra,  fiata  quaggiù  fui 
Congiurato  da   quella  Eriton  cruda 
Che  richiamava  l'ombre  a'  corpi  sui" 
eine  Ansjjielung  auf  die  Zauberkraft  Virgils  vermutheten.  Aber  wer  den 
Künsten  einer  Zauberin  erliegt,   ist   noch  kein  Zauberer.     Dante  glaubt 
zwar  wie  viele  seiner  grossen  Zeitgenossen  an  die  Magie,  hält  sie  aber 
für  Sünde. 

2)  Inf.  XX  sagt  Virgil  von  den  Zauberern  v.  28  „Qui  vive  la 
pietà  quand'  è  ben  morta;"  v.  117.  „Delle  magiche  frodi  seppe  il 
giuoco";  V.  121  „Vedi  le  triste  che  ....  fecer  malie  con  erbe  e  con 
imago." 


192  Virgil  iu  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

Flecken,  die  sie  in  den  Augen  der  Christen  entstellten,  Virgil 
war  gewiss  kein  obscüner  Dichter,  sondern  zeichnete  sich  unter  den 
andern  durch  eine  gewisse  Keuschheit  aus  ^).  Nichtsdestoweniger 
waren  die  in  der  Aeneis  wie  in  den  Bucolica  vorkommenden 
erotischen  Partien  manchem  Asketen,  als  etwas  Sinnliches  und 
Lascives  anstössig.  Ausserdem  las  man  von  ähnlichen  Dingen  auch  in 
der  Biographie,  und  verglichen  mit  den  Bucolica  hätten  diese 
Thatsachen  den  Virgil  verurtheilt,  in  den  Kreis  derer  einzutreten, 
die  wider  die  Natur  sündigten  ^),  wohin  Dante  kein  Bedenken  trug, 
den  Schulmeister  Pi-iscian  und  seinen  eigenen  Lehrer  Brunetto 
zu  bringen.  Was  die  Reiulieit  der  Virgilischen  Grundsätze  be- 
trifft, so  glaubte  man  allerdings  im  Mittelalter,  dass  sie  dem 
Christenthume  sehr  nahe  standen,  aber  aucli  dass  Virgil  als  Heide 
später  in  viele  besonders  epikuräische  Irrthümer  verfallen  sei.  So 
hatte  ihn  ja  schon.  Fulgentius  dargestellt;  seine  Biographie  nennt 
ihn  Schüler  eines  Epikuräers,  und  epikuräische  Grundsätze,  die  ja 
bei  einem  Dichter  seiner  Zeit  gauz  natürlich  sind,  fehlen  auch  nicht 
ganz  in  seinen  Werken.  Alles  dies  aber  Hess  Dante  bei  Seite, 
theils,  weil  für  ihn  jene  Flecken  vor  den  grossen  Verdiensten  des 
Dichters  verschwanden,  theils,  weil  ihm  allegorische  Auslegungen 
gestatteten,  jene  Stellen  anders  aufzufassen.  In  dem  Kreise  derer, 
die  gegen  die  Natur  sündigten,  schweigt  Vh-gil;  aber  die  liebens- 
würdige und  zärtliche  Weise,  in  welcher  Dante  zu  seinem  Lehrer 
Brunetto  spricht,  zeigt,  wie  er  um  der  Verdienste  willen  solche 
Fehler  vergessen  konnte.  Vom  Epikuräismus  hat  Dante  keine  voll- 
kommene Vorstellung,  er  begi-eift  nur  ungefähr  aus  Cicero  „De 
finibus",  dass  Epikur  das  Vergnügen  für  den  Zweck  des  Menschen 
hielt.     Die  Hauptschuld  aber,    um    derentwillen    er    die   Epikuräer 


1)  Vgl.  Klotz,  „de  verecundia  Vergili"  iu  den  „Opuscula  varii  ar- 
gumenti":  p.  242  ff. 

2)  Aus  diesem  von  der  Biographie  und  den  Commentatoren  aus- 
gehenden Vorwurfe  entstand  die  sagenhafte  und  anachronistische  Vor- 
stellung, dass,  als  Christus  geboren  ward,  alle  Sodomiten,  und  unter  ihnen 
auch  Virgil,  starben.  So  Salicetus  bei  Emanuel  de  Maura,  Lib. 
de  Ensal.  sect.  .3,  c.  4,  No.  12;  Vgl.  Naudé,  Apologie  pour  tous  les 
grands  personnages  soup9onnés  de  magie  p.  628  f.;  Herder  hat  in  den 
Kritischen  Wäldern  (II,  p.  188  „Ueber  die  Schamhaftigkeit  Virgils"  mit 
wenig  Glück  Virgil  von  diesen  Anklagen  zu  vertheidigen  gesucht;  vgl. 
Genthe  Leben  und  Fortleben  des  P.  Vergilius  Maro,  p.  28  ff. 

3)  „Siccome  pare  Tullio  reciture  nel  primo  di  Fine  de'beni.  Conv. 
IV,  6.  De  natura  deorura,  das  ihm  reichere  Notizen  über  die  Epi- 
kuräer hätte  geben  können,  kennt  er  nicht. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  193 

in  den  Inferno  bringt,  besteht  darin,  dass  sie  „l'anima  col  corpo 
morta  fanno",  was  er  doch  von  Virgil,  der  selbst  das  Todtenreich 
geschildert  hatte,  nicht  sagen  konnte.  Darum  berichtet  ihm  Virgil 
in  jenem  Gesänge  von  den  Epikuräern,  als  ob  er  niemals  deren 
Irrthümer  gethejlt  habe.  Dieser  Eeinigungsprocess,  der  sich  an 
Virgil  vollzieht,  ist  die  That  Dante's,  welcher  Alles  in  abstracte 
und  ideale  Regionen  erhebt,  von  Allem  nur  das  wesentlich  Charakte- 
ristische erblickt  und  die  wirklichen  Unvollkommenheiten  übersieht, 
die  einer  kleinen  realistischen  Kritik  nicht  entgangen  sein  würden. 
Deshalb  befindet  sich  der  Selbstmörder  Cato  auch  nicht  bei 
denen,  die  gegen  sich  selbst  Gewalt  brauchten,  unter  welchen  wir 
doch  so  pathetische  Erscheinungen  erblicken,  sondern  er  bewahrt 
jene  hohe  Würde,  wie  Allen  bekannt  ist.  Wenn  Dante  von  Rom 
und  der  Weltherrschaft  spricht,  so  erwähnt  er  auch  die  idealen 
Figuren  eines  Aeneas,  Caesar,  Arigust,  Trajan  und  Justinian,  aber 
die  hässlichen  Gestalten  römischer  Kaiserherrschaft,  die  er  nach 
der  historischen  Ueberlieferung  und  der  mittelalterlichen  Sage  nur 
unter  die  Verdammten  hätte  bringen  können,  wie  z.  B.  Nero, 
nennt  er  niemals. 

Virgil  erscheint  zwar  in  der  Divina  Comedia  viel  christlicher, 
als  in  der  mittelalterlichen  Tradition;  doch  unterscheidet  der  Dichter 
genau,  was  Virgil  im  Leben  und  was  er  nach  dem  Tode  war. 
Virgil  spricht  immer  wie  ein^  längst  Gestorbener,  der  seit  Jahr- 
hunderten auf  einem  ihm  seiner  Verdienste  wegen  angewiesenen 
Platze  lebt.  Mit  seinem  Tode  fiel  der  Schleier  von  seinen  Augen, 
in  dem  jenseitigen  Leben  sah  er  die  Wahrheiten  ein,  welche  er 
früher  nicht  erkannt  hatte,  und  gestand  seinen  Irrthum,  den  er  frei- 
lich wider  Willen  begangen  hatte,  eine  Lage,  welche  er  mit  allen 
Todten  und  sogar  den  Verdammten  theilt.  Dies  ist  eine  christ- 
liche Idee,  und  in  diesem  Puncte  stimmte  Dante's  Virgil  mit  dem 
des  Fulgentius  überein.  Auch  hei  Letzterem  spricht  Virgil  wie 
ein  Schatten  aus  dem  Todtenreiche  ;  er  nennt  zwar  nicht  seine 
Stellung  unter  den  Todten,  aber  gibt  doch  zu  erkennen,  dass  er 
Wahrheit  und  Ii-rthum  einigermassen  zu  unterscheiden  gelernt 
habe;  die  Erinnerung  daran  ist  ihm  peinlich  und  er  verweilt  des- 
halb nicht  gern  lauge  bei  diesem  Gegenstande.  Ganz  anders 
Dantes  Virgil  :  dieser  weiss  von  den  „falschen  und  lügenhaften  Göttern" 
seiner  Zeit,  kennt  den  Christengott,  und  darum  kann  ihn  auch  Dante 
bitten  : 

„Per  quel  Dio  che  tu  non  conoscesti." 
Er    weiss,    dass    dieser    Gott    eine     „sustanzia    in     tre    persone" 

Comparetti,    Virgil  im  Mittelalter.  13 


194  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

ist,  und  keuut  die  Wolthat,  „dass  Maria  geboren  hat."  Alles 
das  sieht  er  ein,  wie  ihm  auch  viele  Begebenheiten  nach  seinem 
irdischen  Leben,  sogar  von  den  Zeitgenossen  Dante's,  die  eben  in 
die  Welt  gekommen  sind,  bekannt  sind.  Er  erwähnt  den  Nimrod  ^) 
und  citirt  die  Genesis  wie  den  Ai'istoteles^).  Wenn  er  aber  Alles 
bedenkt,  was  er  jetzt  weiss,  so  wird  er  traurig  über  seine  Lage 
wie  über  die  des  Plato,  Aristoteles  und  anderer  grosser  Heiden, 
deren  Verstand  allein  zum  ewigen  Leben  nicht  ausreichte^).  Jedoch 
spricht  Virgil  über  die  christlichen  Wahrheiten  nicht  wie  ein  gewöhn- 
licher Todter;  der  Dicliter  konnte  sich  ja  auch  das  Wissen  jenes 
Mannes  nur  so  erhaben  vorstellen,  wie  die  Ueberlieferung  es  von 
seiner  historischen  Person  ausgesagt  hatte.  Das  Leben  Virgil's  nach 
dem  Tode  steht  demnach  nicht  im  Widerspruche  mit  seinem  fi'üheren 
Leben,  imd  der  Dichter  leugnet  nicht  das,  wozu  ihn  einst  die  blosse 
Vernunft  gebracht  hatte.  Ja,  als  Dante  einmal  zweifelt,  beweisst 
ihm  Virgil,  dass  sein  Ausspruch: 

„Desine  fata  deùm  flecti  sperare  precando", 
richtig  verstanden,  mit  der  christlichen  Lehre  über  die  Kraft 
des  Gebetes  für  die  Seelen  im  Fegefeuer  gar  nicht  im  Wider- 
spruch stehe*).  In  der  idealen  Region,  welcher  Virgil  als  Symbol 
angehört,  ist  der  Dichter  immer  bestrebt,  diese  lieber  eins  timmung 
aufrecht  zu  erhalten  und  einige  Abweichungen  übergeht  er  dabei 
absichtlich  mit  Stillschweigen.  Obgleich  Dante  von  Virgil  die 
Grundbedeutung  von  der  Fahrt  ins  Todtem-eich  erfährt,  dieselbe 
aber  im  einzelnen  nach  der  christlichen  Tradition  umgestaltet,  so 
werden  doch  die  Differenzen  zwischen  der  Schilderung  Dante's  und 
der  Beschreibung  des  Ortes  durch  Virgil  niemals  berührt.  Dante 
unterscheidet  bei  den  alten  Dichtern  die  dargestellte  Idee  von  dem 


1)  „Questi  è  Nembrotto  per  lo  cui  mal  ceto 
Pure  un  linguaggio  nel  mondo  non  s'  usa. 

Inf.  XXXI,  78. 

2)  „Se  tu  ti  rechi  a  mente  Lo  Genesi"  Inf.  XI,  106.  „La  tua  Etica" 
Ib.  80;  „la  tua  Fisica",  v.  102. 

3)  „  ....  E  disiar  vedeste  senza  frutto 
Tai  che  sarebbe  lor  disio  quetato, 
Ch'  eternamente  ò  dato  lor  per  lutto. 
Io  dico  d'Aristotele  e  di  Plato, 

E  di  molti  altri.  —  E  qui  chinò  la  fronte 
E  più  non  disse  v  rimase  turbato. 

Purg.  Ili,  43. 

4)  Purg.  VI,  28  ff. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  195 

poetischen  Ausdrucke,  der  .sie  einhüllt,  und  gebraucht  deshalb  die 
mythologischen  Namen  und  Bilder  nicht  nur  als  Symbole,  sondern  auch 
als  rein  poetische  Elemente  ^j.  Von  dem  Gange  des  Aeneas  in  die 
Unterwelt  hat  er  die  nach  seiner  Meinung  zu  Grunde  liegende 
wahre  Idee  entlehnt,  von  dem  formalen  Theil  dagegen  nimmt  er 
nur  einige  Thatsachen,  während  er  andere  umgestaltet,  ohne  dass 
dies  bei  der  idealen  Beziehung  zwischen  ihm  und  Virgil  Gegenstand 
des  Gespräches  wird"). 

Die  Vorstellung  von  der  Reinigung  des  Geistes  und  der  Er- 
kenntniss  grosser  Wahrheiten  aus  eigener  Kraft  musste,  auf  eine 
bekannte  literarische  Persönlichkeit  angewandt,  nothwendig  auf  die 
Vorstellung  von  einem  ausserordentlichen  Wissen  und  einer  ency- 
klopädischen  Gelehrsamkeit  führen,  und  deshalb  ist  Dante's  Virgil 
so  weise,  wie  ihn  Macrobius,  Fulgentius  und  das  ganze  Mittelalter 
geschildert  haben.  Freilich  offenbart  er  nicht  sein  ganzes-  Wissen, 
aber  man  sieht,  dass  es  vorhanden  ist  und  nur  beschränkt  wird, 
wo  Beatiices  Herrschaft  anfängt.  Die  Allwissenheit  VirgiFs,  die 
ihm  das  Mittelalter  zuschrieb,  zeigt  sich  also  bei  Dante  als  etwas 
ganz  Evidentes  und  Vernünftiges.  Die  Kenntniss  des  Mittelalters  ging 
auf  Encyklopädie  aus,  und  encyklopädisch  war  auch  die  gelehrte 
Richtung  Dante's.  Man  betrachtete  ja  meist  die  alten  Dichter  als 
Weise  und  Philosophen  ;  auch  Dante  betrachtete  sie  als  solche  ■^),  aber 


1)  Schön  und  bezeichnend  für  die  Art,  wie  Dante  von  den  antiken 
Mythen  dachte,  ist  Purg.  XXVIII,  139  ff.,  wo  Matelda  in  Gegenwart  des 
Virgil  und  Statius  ihre  Hede  also  beschliesst: 

„—  Quelli  che  anticamente  poetaro 
L'  età  dell'  oro  e  suo  stato  felice 
Forse  in  Parnaso  esto  loco  sognaro. 
Qui  fu  innocente  l'umana  radice, 
Qui  primavera  sempre,  ed  ogni  frutto; 
Nettare  è  questo  di  che  ciasun  dice.  — 
Io  mi  rivolsi  addiettro  allora  tutto 
A'miei  Poeti,  e  vidi  che  con  riso 
Udito  avevan  l'ultimo  costrutto." 

2)  Vgl.  hierüber  Fauriel,  Dante  et  les  origines  etc.  II,  p.  435  ff.  ; 
Ozanam  (Dante  et  la  philosophie  cathol.  au  treiz.  siècle,  p.  324  ff.) 
hat  ausführlich  die  Visionen  und  poetischen  Fahrten  ins  unsichtbare 
Reich  bei  den  Vorläufern  Dantes  untersucht.  Zum  Verständniss  der  ori- 
ginellen Schöpfung  Dante's  verhilft  die  Arbeit  jedoch  wenig,  der  sich 
mit  diesen  s.  g.  Vorläufern,  Virgil  ausgenommen,  so  gut  wie  gar  nicht 
berührt. 

3)  So  nennt  er  die  Dichter,  denen  er  im  Limbus  begegnet  (Inf.  IV, 
110)  z.  B.  Virgil  Inf.  VII,  3.  XII,  6.  XIII,  47  und  Statius  Purg.  XXIIT, 
8;  XXXIII,  15. 

13* 


198  Virgil  in  der  Literatur  Ins  auf  Dante. 

inüiTiäclien  uml  unaugenehmen  Pedanten  und  aub  sich  selbst  einen 
armen  „homunculus"  machen.  Der  Virgil  des  Fulgentius  ist  das 
Produci  unwissender  Barbarei,  die  das,  was  sie  zu  preisen  sucht, 
in  den  Staub  zieht,  der  Virgil  Dante's  das  Produci  einer  genialen 
Reformation,  die  das  Gesunkene  wieder  erhebt. 

Der  feine  Taci  Dante's  zeigt  sich  auch  in  den  leichten  Schatten, 
die  er  dem  Bilde  Virgils  gegeben  hat,  und  infolge  deren  dieser  in  Be- 
zug auf  Vollkommenheit  hinter  anderen  zurücksteht.  Er  nennt 
nicht  nur  Männer  aus  dem  Alierthum,  die  vollkommener  waren  als 
Virgil,  sondern  kömmt  durch  die  eigenen  Verse  desselben  auf  die 
Idee,  dass  er  Caio  und  jenen  Ripheus,  den  Virgil  als  ,justissimus 
unus  qui  fuit  in  Teucris"  bezeichnet,  in  das  Pai-adies  versetzt.  Der 
nach  der  Ueberlieferung  idealisirte  Typus  des  Cato  ^)  erscheint 
als  heilig,  majestätisch  und  ehrwirrdig,  aber  als  strenger  Stoiker,  ein 
„atrox  animus"  ohne  jede  irdische  Empfindung,  und  steht  an  Cha- 
rakter wie  Verdienst  über  Virgil.  Zu  solcher  Vollkommenheit  wie 
Caio  gelangte  Virgil  nicht,  aber  nach  der  meisterhaften  Zeichnung 
des  Dichters  steht  er  nicht  nur  auf  viel  vertrauterem  Pusse  mit 
Dante  als  Caio,  bevor  jener  zur  Vollkommenheit  gelangt,  sondern, 
ohne  ii-gend  ein  historisches  oder  realistisches  Element  der  Bio- 
graphie zu  Hilfe  zu  nehmen,  stellt  Dante  seinen  Charakter  als  einen 
solchen  hin,  der,  was  Cato  imd  noch  mehr  Beatrice  unmöglich  wäre, 
gewissen  leichten  Irrthümern  uniei'liegen  durfte.  Bezeichnend  dafür 
ist  die  Stelle,  wo  Virgil  sich  durch  den  Gesang  Casella's  unter- 
halten lässt,  aber  noch  mehr  die,  wo  Virgil  den  Cato  durqh  die 
Erwähnung  der  Marzia  zu  bewegen  sucht.  Die  strengen  Worte, 
mit  denen  Caio  solche  Empfindungen  zurückweist,  nur  an  die  „donna 
del  ciel"  denkend,  die  Virgil  auf  jenem  Wege  lenkt,  zeigen  deut- 
lich den  Unterschied  jener  beiden  Seelen  auf  dem  Wege  ihrer 
Reinigung. 

Auf  dem  Grade  der  Vervollkommnung  beruht  der  Haujitge- 
danke,  aus  dem  sich  die  Begleiter  und  Führer  Dantes  symbolisch 
erklären.  In  der  Unierw^eli  leitet  Virgil  mit  sicherem  Schritte,  aber 
im  Fegefeuer  wird  er  unsicher  und  fühi-t,  nachdem  er  sich  bei  anderen 
über  den  Weg  erkundigt  hat.  So  weit  in  der  Vervollkommnung  ge- 
langte er  nicht,  da  ihm  die  „drei  heiligen  Tugenden"  fehlten.  Ein- 
mal gesellt  sich  zu  ihnen  Statius,  dessen  Poesie  ein  Ausläufer  der 
virgilischen  ist,  und  der  nicht  blos   als  Dichter,   sondern  auch  als 


lì  Vgl.  Wolff,  Cato  der  jüngere  bei  Dante,  im  Jahrb.  d.  deutschen 
Dantegesellsch.  II,  225  ff. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  199 

Christ  dem  Virgil  gegenübertritt,  was  dieser  ja  selbst  geworden 
wäre,  wenn  er  nach  Christus  gelebt  hätte.  Au  dieser  Stelle  kömmt 
Dante  mit  grosser  Kunst  zum  ersten  Male  auf  die  in  der  ersten 
Belöge  enthaltene  Prophezeihvmg  von  Christus,  wie  sie  sich  das 
Mittelalter  vorstellte,  zu  sprechen.  Virgil,  der  selbst  in  dem  Ge- 
dichte von  Christus  nicht  gesprochen  hat,  wird  so  zu  sagen  durch 
Statius  ergänzt,  welcher  die  Bedeutung  jener  Weissagung  verstehen 
konnte  imd  sich  deshalb  zum  Christenthum  bekehrte.  Er  ruft  daher 
als  begeisterter  Verehrer  Virgils  aus: 

„E  per  esser  vissuto  di  là  quando 

Visse  Virgilio  assentirei  un  sole 

Più  ch'io  non  deggio  al  mio  uscir  di  bando." 
Darauf  folgt  jene  schöne  Stelle,  in  der  er  den  vor  ihm  stehenden 
Dichter  erkennt  und  ihm  seine  ganze  Dankbarkeit  ausdrückt. 

„ tu  prima  m'inviasti 

Verso  Parnaso  a  ber  delle  sue  grotte, 

E  prima  appresso  Dio  m'alluminasti. 

Facesti  come  quei  che  va  di  notte 

E  porta  il  lume  dietro  e  a  sé  non  giova, 

Ma  dopo  sé  fa  le  persone  dotte. 

Quando  dicesti:  —  secol  si  rinnova 

Torna  giustizia  e  primo  tempo  umano 

E  progenie  scende  dal  elei  nuova. 

Per  te  poeta  fui,  per  te  cristiano  etc." 
Trotz  seiner  Bekehrung  ist  aber  doch  Statius  nicht  zur  reinen 
Vollkommenheit  gelangt,  die  er  vielmehr  erst  jetzt  durch  seine 
Keinigimg  im  Pui-gatorium  erlangt  ;  darum  verschwindet  Virgil,  so- 
bald Beatrice  erscheint,  während  Statius  bleibt  und  mit  ihr  und  Dante 
das  Paradies  betritt.  Doch  von  hier  an  vergisst  ihn  der  Dichter,  der 
sich  nur  noch  an  Beatrice  hält. 

Hieraus  also  entwickelt  sich  die  sj^mbolische  Idee,  die  der 
Erscheinung  Virgils  zu  Grunde  liegt.  Dante  strebt  nicht  nur  nach 
eigener  VoUkoinmenheit,  sondern  nach  einer  Verwirklichung  des 
Ideals  der  menschlichen  Gesellschaft,  welches  ein  Reich  der  Ge- 
rechtigkeit, der  Moi'al  und  der  Religion  sein  und  deshalb  auch 
der  Vollkommenheit  und  dem  Glücke  des  Einzelnen  am  meisten 
entsprechen  soll.  Die  Unterscheidung  zwischen  Geistigem  und  Welt- 
lichem, zwischen  Papst  und  Kaiser  bildet  die  Grundlage  dieses 
Gedankens.  Aeneas  und  Paulus  sind  seine  Vorläufer  bei  jener 
Reise,  und  auf  dem  Grunde  des  Universums  erblickt  er  als  die 
grössten  ihm  bekannten  Sünder,   die,   welche  Caesar  und  Christus 


20()  Virgil  iu  der  Literatur  bis  auf  Daute. 

verratheu  haben.  Diese  Ordnung  der  Dinge  stellt  sich  ihm  als  eine 
nach  ewigen  Gesetzen  von  Gott  gewollte  Thatsache  dar,  die  sich 
in  der  Geschichte  offenbart  und  vom  Glauben  bestätigt  wird.  Jenes 
Ideal  verwirklicht  sich  daher  in  allen  guten  Seelen,  denen  er  auf 
seiner  Fahrt  begegnet,  vor  Allem  aìjer  in  seineu  Führern.  ^lau  begreift, 
wie  die  Idee  von  der  weltlichen  Kaiserherrschaft  in  der  Weisheit 
Virgils  mit  einbegriffen  sein  muss,  sowol  in  dem  Virgil  der  Literatur 
wie  der  Allegorie ').  Der  historische  Virgil  steht  als  Zeitgenosse  des 
guten  Augustus  und  als  Anhänger  eines  friedlichen  Zustandes  des 
Reiches  jener  Begebenlieit  am  nächsten,  durch  welche  Rom 
„lo  loco  santo 
U'  siede  il  successor  del  maggior  Piero" 

werden  sollte,  und  war  selbst  der  Sänger  des  Weltreiches,  aber 
er  hatte  auch  allegorisch  das  beschauliche  Leben  besungen  und  die 
vollkommenste  Ordnung  der  menschlichen  Gesellschaft  demgemäss 
begriffen.  Zu  sagen,  dass  Virgil  bei  Dante  nur  die  Idee  der 
Kaiserherrschaft  repräsentire,  wäre  eben  so  falsch,  wie  die  Be- 
hauptung, in  der  Divina  Commedia  zeige  sich  nur  die  politische 
Idee  Dantes.  Jene  Vorstellung  vom  Kaiserreiche  muss  Virgil 
auch  in  symbolischer  Weise  repräsentiren,  weil  nach  Dante  die 
menschliche  Vei'nunft  die  Rechtmässigkeit  des  römischen  Kaiser- 
thums  und  die  Vollkommenheit  seines  Ideals  von  der  menschlichen 
Gesellschaft  anerkennen  muss.  Was  die  mittelalterliche  Ueberliefe- 
rung  von  der  Beziehung  A'^irgils  zur  Weltherrschaft  betrittst,  so  hat 
der  Dichter  nur  Elemente  vorgefunden,  die  noch  keinen  bestimmten 
Ausdruck  gewonnen  hatten.  Auf  den  Gedanken  der  Weltherrschaft 
Avar  im  Mittelalter  die  Thätigkeit  vieler  Fürsten  gerichtet.  Nie- 
mand hatte  ihn  jedoch  wie  Dante  in  einer  politischen  Theorie  ent- 
wickelt und  mit  der  tiefsten  Speculation  über  die  Geschichte  der 
Menschheit  verknüpft"). 


1)  Von  diesem  Staudpunkte  aus  ist  der  Dante'sche  Virgil  von  Ruth 
(Studien  über  Daute  Allighieri.  Tübing.  1855  p.  203  ff.)  untersucht 
worden,  worauf  wir  verweisen.  Von  demselben:  „Ueber  die  Bedeu- 
tung des  Virgil  in  der  Diiäna  Commedia"  in  den  Heidelb.  Jahrb.   1850. 

•2)  Vor  Dante  und  dem  Mittelalter  hat  Augustin  von  einem  histo- 
risch-philosophischen Standpunkte  aus  den  Virgil  als  Sänger  der 
römischen  Macht  aufgefasst.  Allein  er,  wie  sein  Schüler  Orosius  sahen 
das  Sinken  Roms  und  hörten  wie  man  dem  Christenthume  davon  die 
Schuld  beimass.  Auf  der  einen  Seite  stand  ihnen  das  heidnische  Rom 
noch  zu  nahe,  auf  der  anderen  war  auch  das  Christenthum  noch  nicht 


Virgil  in  der  Literatur  bis  aiif  Daute.  201 

Sechzehntes  Capitel. 

Bei  aller  Begeisterung,  die  Virgil  seit  der  Zeit  des  Augustus 
hervorrief,  ist  er  doch  niemals  in  so  grossartiger,  ernster  und 
wahrer  Weise  verherrlicht  worden,  wie  von  Dante.  Obwol  sich 
dabei  mittelalterliche  Ideen  als  Grundlage  erkennen  lassen,  hat 
doch  Dante  die  Grenzen  derselben  weit  überschritten.  In  der 
ganzen  Entwickelung  des  Mittelalters  ist  Nichts,  was  sich  mit  der 
Divina  Commedia  vergleichen  liesse.  Ohne  Beispiel  ist  alles  das, 
was  Dante  direct  aus  den  Ideen  seiner  Zeit  geschöpft  hat.  Nie- 
mand hatte  bis  dahin  den  Virgil  so  begriffen.  So  weit  nun  aber 
der  Dante' sehe  Virgil  über  das  mittelalterliche  Mass  hinaus  geht, 
kann  man  ihm  gleichsam  als  Correctiv  eine  andere  mittelalterliche 
Darstellung  des  Vii-gil  entgegenstellen,  die  ebenfalls  zur  Zeit  Dantes 
entstand.  Es  ist  dies  der  Virgil  des  Dolopathos,  ein  Werk 
von  romantischem  Charakter,  das  ein  wenig  gebildeter  Mönch  ver- 
fasst  hat.  Die  Vorstellung  von  Virgil  zeigt  sich  darin  auf  der 
letzten  Stufe  der  literarischen  Entwickelung  und  dem  volksthüm- 
lichen  Standpunkte  schon  sehr  nahe,  während  der  Dante'sche  Virgil 
jener  hohen  geistigen  Sphäre  angehört,  in  der  sich  die  literarische 
Ueberlieferung  des  Mittelalters  schon  zur  klassischen  Empfindimg 
der  Renaissance  entwickelt. 

DerDolopathos  wurde  im  1.3.  Jahrhundert  von  einem  der  Abtei 
Hauteseille  in  Lothringen  angehörenden  Mönche  Johann  verfasst 
und  dann  von  einem  gewissen  Herbers  in  französische  Verse  ge- 
bracht^). Folgendes  ist  der  kurze  Inhalt  des  Buches:  —  Der  zur 
Zeit  des  Augustus  lebende  Dolopathos,  König  von  Sicilieu,  schickt 
seinen  Sohn  Lucinian  nach  Rom,  um  ihn  von  Virgil  unterrichten 
zu  lassen.     Dieser  unterweist   ihn   in   allen    Zweigen    des  Wissens, 


als  Verfolger  aufgetreten.  Und  so  konnten  sie  unmöglich  zu  der  Vor- 
stellung Dante's  kommen,  zu  der  ja  das  ganze  Mittelalter  beigesteuert 
hatte. 

1)  ,,Li  romans  de  Dolopathos"  publie  pour  la  première  fois  en  en- 
tier  par  Ch.  Brunet  et  Anat.  de  Montaiglou,  Paris  (Jannet)  1856. 
In  einigen  Hdss.  findet  sich  ein  lateinischer  Text  des  Dolopathos,  den 
Mussafia  publicirt  hat  und  als  das  Original  des  Mönches  von  Hauteseille 
betrachtet  („Ueber  die  Quelle  des  altfranzösischen  Dolopathos."  Wien 
1865;  und  „Beiträge  zur  Literatur  der  sieben  Weisen  Meister,"  Wien, 
1868.).  —  Der  lateinische  Text  ist  jetzt  vollständig  herausgegeben  von 
H.  Oesterley:  „Johannis  de  Alta  Silva  Dolopathos."  Strassburg  1873.  cf.- 
Gaston  Pai^is  in  der  „Romania"  II,  481  £F. 


202  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

besonders  in  der  Astronomie.  Unterdessen  stirbt  die  Frau  des 
Uolopathos,  der  König  heirathet  eine  andere  und  sendet  nach  seinem 
Sohne.  Mit  Hilfe  der  Astrologie  sieht  Virgil  voi-aus,  dass  Luci- 
uian  von  einem  grossen  Unglücke  bedroht  wird,  und  befiehlt  ihm 
daher,  völliges  Stillschweigen  zu  beobachten,  so  lange  er  ihm 
nicht  selbst  das  Reden  erlaube.  So  kömmt  Lucinian  bei  seinem 
Vater  au,  bleibt  aber  auf  alle  au  ihn  gerichtete  Fragen  st\nnm. 
Da  jedes  Mittel  fehlschlägt,  verpflichtet  sich  die  Königin,  ihn  zum 
Sprechen  zu  bewegen  und  erklärt  ihm,  nachdem  sie  alle  ihre 
Künste  versucht  hat,  ihre  Liebe,  ohne  jedoch  Erwiederung  zu  fin- 
den. Darüber  empört,  und  um  die  Folgen  ihres  Schrittes  besorgt, 
sinnt  sie  auf  den  Tod  des  Lucinian  und  klagt  ihn  an,  als  ob  er 
ihr  habe  Gewalt  anthun  wollen.  Der  König  verurtheilt  den  Sohn 
zum  Tode,  aber  zum  Glücke  kömmt  ein  Weiser  an,  der  eine  Ge- 
schichte erzählt  und  dadurch  Aufschub  der  Hinricht\ing  um  einen 
Tag  bewirkt.  Dasselbe  thueu  andere  Weise,  die  nach  ihm  an- 
kommen, bis  am  siebenten  Tage  Virgil  erscheint,  auch  seine  Erzählung 
zum  Besten  gibt  und  Lucinian  zu  sprechen  befiehlt.  Dieser  macht 
nun  Alles  oftenbar,  und  die  Königin  wii'd  lebendig  verbrannt. 
Die  Erzählung  fìihrt  dann  weiter  fort  bis  zum  Tode  des  Dolo- 
pathos  und  Virgils.  Darnach  wird  Christus  geboren,  einer  seiner 
Jünger  predigt  in  Sicilien,  und  Lucinian,  der  sich  bekehrt,  stirbt 
als  Heiliger.  —  Wir  haben  hier,  wie  Jedermann  sieht,  eine  Version 
der  bekannten  indischen  Erzählung  von  den  sieben  Weisen,  die  in 
der  Literatur  des  Orients  wie  des  Occidents  gleich  reich  vertreten 
ist^i.  Unter  ihnen  nimmt  jedoch  der  Dolopathos  eine  besondere 
Stellung  ein,  besonders  in  der  Art  wie  er  den  Virgil  behandelt. 
In  den  europäischen  Darstellungen  dieser  Geschichte  wird  der  Fürst 
gewöhnlich  sieben  Weisen  zur  Erziehung  übergeben,  in  denen  aus 
dem  Orient,  an  deren  Spitze  das  jetzt  verlorene  Buch  des  Sindi- 
bäd^)  steht,  gewöhnlich  dem  Sindibàd  selbst,  als  dem  weisesten 
imter  allen.  Vielleicht  hatte  der  Mönch  von  Hauteseille  von  dieser 
letzteren  Wendung  der  Geschichte  gehört  und  brachte  nur  Virgil 
an  die  Stelle  des  Sindibàd.  Dazu  bewog  ihn  wol  seine  Anschauung 
als  Cleriker.     Seine  Vorstellung  von  Virgil   ist   nicht   wie    bei  an- 


1)  Vergi.  d'Ancona,  Il  libro  dei  sette  savi  di  Roma.  Pisa 
1864. 

2)  Geschichte  und  erste  Gestalt  dieses  Buches  habe  ich  in  meinen 
„Ricerebe  intorno  al  Libro  di  Sindibàd",  Mailand  1869  nachzuweisen 
gesucht. 


Virgil  iu  der  Literatur  bis  auf  Dante.  203 

dem  Verfaü^sern  derartiger  Romane  rein  volksthümlicli,  sondern  er  kennt 
den  Dichter  aus  seinen  Werken,  aus  denen  er  auch  dann  und  wann 
Verse  citirt  ^).  Seine  Kenntnisse  gehen  sogar  so  weit,  dass  er  den 
zur  Geschichte  erfundenen  Rahmen  ganz  dem  Virgil  angepasst  hat: 
Die  Begebenheit  ereignet  sich  in  der  Zeit  des  jiugustus,  und  das 
Weib,  welches  Augustus  dem  Dolopathos^)  gibt,  ist  die  Tochter 
des  Agi'ippa,  während  in  anderen  Texten  der  „sieben  Weisen", 
in  denen  Virgil  nicht  auftritt,  der  Kaiser  Diocletian,  Pontian  oder 
eine  andere  beliebig  erdachte  Person  ist.  Auch  der  griechische 
Name  Dolopathos,  dessen  Bedeutung  der  Verfasser  erklärt"^),  und 
den  er  selbst  erfunden  hat,  beweisen  seine  Bildung,  während  er 
als  Mönch  den  heiligen  Augustin  "*)  citirt  und  dem  Schlüsse  des 
Buches  eine  religiöse  Wendung  gibt. 

Obgleich  das  Werk  eines  durch  die  Schule  gebildeten  Mannes, 
ist  es  seiner  Tendenz  nach  doch  durchaus  romantisch,  und  man 
würde  vergebens  in  den  vom  Autor  hierzu  erfundenen  historischen 
Thatsachen  nach  Consequenz  suchen.  Er  weiss,  dass  Virgil  aus 
Mantua  ist,  lässt  ihn  aber  auch  dort  sterben  und  versetzt  Mantua 
nach  Sicilien.  Freilich  verwechselt  er  Sicilien  nicht  mit  Neapel,  wie 
viele  seiner  Zeitgenossen,  sondern  weiss,  dass  Palermo  die  Haujit- 
stadt  des  Landes  ist;  aber  er  respectirt  doch  die  Geschichte  nur 
bis  zu  einem  gewissen  Grade.  Er  redet  von  einem  alten  Testa- 
mente unter  den  Heiden,  bevor  Christus  erschien ""i ,  spricht  von 
Bischöfen,  Aebten,  Mönchen,  Herzögen,  Grafen  und  Baronen,  macht 
aus  Augustus  einen  Kaiser  der  Romagna  und  König  der  Lombardei 
und  aus  Dolopathos  seinen  Vasallen.  Dem  entspricht  auch  der 
Typus  des  Vii-gil,  der  aber  zu  seiner  Erklärung  nicht  die  volks- 
thümliche  Herkunft  und  die  Sage  vom  Zauberer  nöthig  hat.  Virgil 
ist  hier  der  grosse  Meister  des  profanen  Wissens  und  hat  nur  den 
Fehler,    Heide   zu   sein   und  Nichts   vom   einigen  Gotte  zu  wissen. 


1)  V.  12369  ff.  (Aen.  Vili,  40  f.). 

2)  Dolopathos  stammt  aus  Troia: 

„De  Troie  fu  sea  parentez" 

3)  „Por  ce  ot  nom  Dolopathos 
Car  il  soufri  trop  en  sa  vie 
De  doleur  et  de  tricherie." 

4)  V.  12890  f.  (August.  D.  c.  D.  XVIII,  17—18). 

5)  „Je  sais  tot  le  Viez  Testament" 


V.  162. 


V.  164  ff. 


V.  4780. 


204  Vügil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

Er  war  ein  hoch  geachteter  Mann  und  grosser  Philosoph;  Niemand 
war  berühmter  und  mehr  geehrt  von  Augustus  als  er^);  Könige 
und  Kaiser  beugten  sich  vor  seinem  Worte,  und  durch  seine  Ge- 
lehrsamkeit und  Kunst  erschien  er  als  der  vollendete  „Cleriker": 

A  icel  tans  à  Rome  avoit 

I.  philosophe,  ki  tenoit 

La  renomée  de  clergie; 

Sages  fu  et  de  bone  vie; 

D'une  des  citez  de  Sezile 

Fut  néz;  on  Tapeloit  Virgile; 

Le  citéz  Mantue  ot  à  non. 

Virgile  fut  de  grant  renom; 

Nus  clers  plus  de  lui  ne  savoit; 

Par  ce  si  grant  renon  avoit; 

Onkes  poetes  ne  fu  tex 

S'il  créust  qu'il  ne  fust  c'uus  Dex^). 

Dieser  König  der  Weisen  war  Lehrer,  aber  natürlich  vor  einem 
.sehr  aristokratischen  Auditorium.  Lucinian  wird  von  ihm  sehr 
höflich  empfangen.  Als  er  die  Schule  betrat,  fand  er  Virgil  auf 
seinem  Katheder  sitzen:  er  war  angethan  mit  einem  kostbaren  mit 
Pelz  gefütterten  Mantel  ohne  Aermel  und  einer  prächtigen  Pelz- 
mütze. Die  Kapuze  hatte  er  zurückgeschlagen;  vor  ihm  auf  dem 
Boden  sassen  die  Söhne  vieler  gi'ossen  Barone  und  mit  dem  Buche 
in  der  Hand  hörten  sie  seiner  Lehre  zu: 

Assis  estoit  en  sa  chaière; 
Une  riche  chape  forrée 
Sans  manches,  avoit  afublée, 
Et  s'ot  en  son  chief  im  chapel 
Qui  fu  d'une  moult  riche  pel; 
Tret  ot  arrier  son  chaperon. 
Li  enfant  de  maint  haut  baron 
Devaut  lui  à  terre  séoient, 


1)  „Cesar  ot  par  toute  la  vile 

Commandé  quo  tuit  l'ennoraisseut 
Et  seignorie  li  portaissent." 


v.  1652  ff. 


2)  v.  1257  ff. 

3)  V.  1318  ff. 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  205 

Qui  ses    paroles    entendoient, 
Et  chacun  son  livre  tenoit 
Einssi  comme  il  les  enseignoit. 
Der  Unterricht  ist  zunächst  ganz  elementar.  Virgil  unterweist  den 
Lucinian  im  Lesen  und  Schreiben,  dann  im  Lateinischen  und  Grie- 
chischen.     Schliesslich  macht   er   ihn  zum  vollkommenen  Gelehrten 
indem  er  ihn  in  den  sieben  freien  Künsten  unterweist,  mit  der  Gram- 
matik, der  Mutter  aller,  anfangend,  und  indem  er  Alles    in   einem 
eigens  für  ihn  verfassten   so   kleineu  Büchelchen    zusammendrängt, 
dass  er  es  in  der  geschlossenen  Hand  verbergen  kann  : 

Torne  ses  feuilles  et  retorne; 

Les  VII  ars  Überaus  atorne 

En  I.  volume  si  petit 

Que,  si  com  l'estoire  me  dit, 

Il  le  po'ist  bien  tot  de  plain 

Enclorre  et  tenir  eu  sa  main. 


Premier  li  enseigne  Gramaire 
Qvii  mere  est,  et  prevosto,  et  maire, 
De  toutes  les  arts  liberax  etc.  ^). 
Wir  sehen  hier  unter  dieser  Verkleidung  den  Virgil  der  mittelalterlichen 
Schule    sowie    der    Grammatiker    und    Verfasser    von    Compeudien 
für    di3    sieben  Künste.     Die  Astrologie,    nicht    identisch    mit    der 
Zauberei,  tritt  nach  romantischer  Vorstellung  zu  dem  Ideale  eines 
Weisen  als    unentbehrlicher   Bestandtheil   hinzu"),     üebrigens   war 
sie  schon  für  die  ganze  Fassung  der  Erzählung  unvermeidlich.  Der 
fromme  Mönch  glaubt   an   die   McJglichkeit  jener   Weissagung,    die 
in  Gottes  Willen  liege  ^),  und  damit   stimmt   denn  auch  die  Weis- 
sagung über  Christus  überein.  In  der  That  sind  es  die  bekannten 
Verse  der  vierten  Ecloge*),  welche  den  Lucinian  zum  Christenthume 
bekehren,  und  dies  sind  auch  die  letzten  Beziehungen  zwischen  dem 
Dolopathos  und  der  literarischen  Ueberlieferung  von  Virgil. 

Der  Virgil  Dante's  und   des  Dolopathos  bilden  zwei  Extreme 
in    der    Literatur     des     Mittelalters:     die     Schöpfung    eines    aus- 


1)  v.  139G  ff. 

2)  „La  VII  est  Astrenomie 

Qui  est  fins  de  toute  clergie." 
Image    du    monde    bei    lubinal,    Oeuvres    compi,    de    Rnteboeuf,    II, 
p.  424. 

3)  Das  erklärt  er  ausführlich  v.  1162  ff. 

4)  V.  12530  ff'. 


204  Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante. 

Er  war  ein  hoch  geachteter  Manu  uud  grosser  Philosoph;  Niemand 
war  berühmter  und  mehr  geehrt  von  Augustus  als  er^);  Könige 
uud  Kaiser  beugten  sich  vor  seinem  Worte,  und  durch  seine  Ge- 
lehrsamkeit uud  Kunst  erschien  er  als  der  vollendete  „Cleriker": 

A  icel  tans  ù  Rome  avoit 

I.  philosophe,  ki  tenoit 

La  renomée  de  clergie; 

Sages  fu  et  de  bone  vie; 

D'une  des  citez  de  Sezile 

Fut  néz;  on  Tapeloit  Virgile; 

Le  citéz  Mantue  ot  à  non. 

Virgile  fut  de  graut  renom; 

Nus  clers  plus  de  lui  ne  savoit; 

Par  ce  si  grant  reuon  avoit; 

Onkes  poftes  ne  fu  tex 

S'il  cróust  qu'il  ne  fust  c'uus  Dex^). 

Dieser  König  der  Weisen  war  Lehrer,  aber  natürlich  vor  einem 
.sehr  aristokratischen  Auditorium.  Lucinian  wird  von  ihm  sehr 
höflich  empfangen.  Als  er  die  Schule  betrat,  faud  er  Virgil  auf 
seinem  Katheder  sitzen;  er  war  angethan  mit  einem  kostbaren  mit 
Pelz  gefütterten  Mantel  ohne  Aermel  und  einer  prächtigen  Pelz- 
mütze. Die  Kapuze  hatte  er  zurückgeschlagen;  vor  ihm  auf  dem 
Boden  sassen  die  Söhne  vieler  grossen  Barone  und  mit  dem  Buche 
in  der  Hand  höx'teu  sie  seiner  Lehre  zu: 

Assis  estoit  en  sa  chaière; 
Une  riche  chape  forrée 
Sans  manches,  avoit  afublce. 
Et  s'ot  en  son  chief  un  chapel 
Qui  fu  d'une  moult  riche  pel; 
Tret  ot  arrier  son  chaperon. 
Li  enfant  de  maint  haut  baron 
Devaut  lui  à  terre  séoient, 


1)  „Cesar  ot  par  toute  la  vile 
Commandé  que  tuit  rennoraisseut 
Et  seignorie  li  portaissent." 

2)  v.  12.57  ff. 

3)  v.  1318  fi. 


V.  1652  fi". 


Virgil  in  der  Literatur  bis  auf  Dante.  205 

Qui  ses    paroles    entendoient , 
Et  chacun  son  livre  tenoit 
Eiiissi  comme  il  les  enseignoit. 
Der  üuterricht  ist  zunächst  ganz  elementar.  Virgil  unterweist  den 
Lucinian  im  Lesen  und  Schreiben,  dann  im  Lateinischen  und  Grie- 
chischen.     Schliesslich  macht   er    ihn  zum  vollkommenen  Gelehrten 
indem  er  ihn  in  den  sieben  freien  Künsten  unterweist,  mit  der  Gram- 
matik, der  Mutter  aller,  anfangend,  und  indem  er  Alles    in   einem 
eigens  für  ihn  verfassten   so   kleinen  Büchelchen    zusammendrängt, 
dass  er  es  in  der  geschlossenen  Hand  verbergen  kann: 

Tome  ses  feuilles  et  retorne; 

Les  Vn  ars  überaus  atorne 

En  I.  volume  si  petit 

Que,  si  com  Testoire  me  dit. 

Il  le  poist  bien  tot  de  piain 

Enclon-e  et  tenir  eu  sa  main. 


Premier  li  enseigne  Gramaire 
Qui  mere  est,  et  prevoste,  et  maire, 
De  toutes  les  arts  liberax  etc/). 
Wir  sehen  hier  unter  dieser  Verkleidung  den  Virgil  der  mittelalterlichen 
Schule    sowie    der    Grammatiker    imd    Verfasser    von    Compendien 
für-    die    sieben  Künste.     Die  Astrologie,    nicht   identisch    mit    der 
Zauberei,  tritt  nach  romantischer  Vorstellung  zu  dem  Ideale  eines 
Weisen  als    unentbehrlicher   Bestandtheil   hinzu-).     Uebrigens   war 
sie  schon  für  die  ganze  Fassung  der  Erzählimg  unvermeidlich.  Der 
fromme  Mönch  glaubt   au   die   Möglichkeit  jener   Weissagung,    die 
in  Gottes  Willen  liege  ^),  und  damit   stimmt   denn  auch  die  Weis- 
sagung über  Christus  überein.  In  der  That  sind  es  die  bekannten 
Verse  der  vierten  Ecloge*),  welche  den  Lucinian  zum  Christenthume 
bekehren,  und  dies  sind  auch  die  letzten  Beziehungen  zwischen  dem 
Dolopathos  und  der  literarischen  Ueb erlief erung  von  Virgil. 

Der  Virgil  Dante's  und   des  Dolopathos  bilden   zwei  Extreme 
in    der    Literatur     des     Mittelalters:     die     Schöpfung    eines    aas- 


1)  v.  1396  fif. 

2)  „La  vn  est  Astrenomie 

Qui  est  fins  de  tout«  clergie." 
Image    du    monde    hei    lubinal,    Oeuvres    compi,    de    Ruteboeuf,    II, 
p.  424. 

3)  Das  erklärt  er  ausführlich  v.  1162  ff. 

4)  v.  12530  ff. 


206  Virgil  in  der  Literatur  Ijìs  auf  Dante. 

erwählten  Dichters  und  die  triviale,  dem  Komautiöcheu  nahe 
kommende  eines  Mannes  von  gewöhnlicher  Bildung.  Beide  Autoren 
gehen  von  der  Schule  aus,  aber  der  eine  übertrifft  sie  durch  Adel 
imd  Höhe,  der  andere  durch  Armuth  und  Ixohheit.  Vor.stellungeu 
von  Virgil,  die  sich  auf  dem  Gebiete  der  rehi  gelehrten  Anschauung 
nach  Dante  zeigen,  gehören  der  Renaissance  an  und  sind  hier  also 
auszusclüiessen.  Der  Virgil  des  Dolopathos  dagegen  führt  uns  durch 
das  romantische  Element  das  ihm  inue  wohnt,  zu  dem  zweiten  Theil 
unseres  Werkes. 


Virgil  in  der  Volkssage. 


Maint  autres  grant  clerc  ont  esté 
Au  monde  de  grand  poesté 
Qui  aprisrent  tote  lor  vie 
Des  sept  ars  et  d'astronomie  ; 
Dont  ancuns  i  ot  qui  a  leur  tens 
Firent  merveille  por  lor  sens; 
Mais  eil  qui  plus  s'en  entremist 
Fu  Virgiles  qui  mainte  en  fist, 
Por  ce  si  vos  en  conterons 
Aucune  dont  oi  avons. 

L'Image  du  Monde. 

Erstes  Capitel. 

Die  Volkspoesie  des  Mittelalters  und  die  klassische  Dichtkunst 
erscheinen  uns  heute  nach  Form  und  Inhalt  in  einem  so  scharfen 
Gegensatze  zu  einander,  dass  wir  glauben,  es  könne  die  erstere 
nur  aus  einer  revolutionären  Tendenz  gegen  die  letztere  hervor- 
gegangen sein.  Aber  ein  Kampf  zwischen  Klassicismus  und  Ro- 
mantik, wie  er  in  der  modernen  Zeit  zu  Tage  getreten  ist,  und 
auf  welchem  eben  jene  Vorstellung  beruht,  fand  im  Mittelalter  in 
Wahrheit  nicht  Statt.  Die  Volksliteratui-  war  eben  so  wenig  eine 
Reaction  gegen  die  antike  Poesie,  als  sich  die  Republiken  des 
Mittelalters  aus  einer  Revolution  gegen  die  Monarchieen  entwickelt 
haben.  Das  wäre  schon  deshalb  unmöglich  gewesen,  weil  es  in 
jener  Zeit,  wie  wir  gesehen  haben,  ja  bei  der  Geistlichkeit  wie  bei 
den  Laien  gar  kein  richtiges  und  lebendiges  Verständniss  für  das 
Alterthum  gab.  Das  Lateinische,  welches  damals  beinahe  noch  wie 
eine  lebende  Sprache  angewandt  wurde,  diente  als  Bindeglied 
zwischen  der  antiken  Ueberlieferung  und  den  von  dieser  unab- 
hängigen neuen  Schöpfungen.  Während  es  nämlich  Elemente  des 
Alterthums  in  sich  aufl^ewahrte ,  war  es  zugleich  der  Ausdruck 
lebendiger  Empfindungen  und  hatte,  um  sich  diesen  anzuschmiegen, 
auch  in  der  Poesie  jene  veränderte  Form  angenommen,  welche 
man  dem  klassischen  Ideale  gegenüber  als  „Con-uption"  bezeichnet. 
Es  gibt  wol  keine  Dichtung,  deren  Stoff  dem  Mittelalter  so  aus- 
schliesslich angehöi-t,  wie  das  Walthariu slied:  und  doch  ist  dasselbe 


208  Virgil  in  der  Volkssage. 

iu  lateinischeu  Hexametern  abgefasst  und  enthält  so  viele  Virgil- 
reminisceuzeu,  class  man  deutlich  sieht,  der  Dichter  war  durch  die 
Schule  gebildet  worden  und  hatte,  \yie  jeder  Gelehrte,  den  Virgil 
fleissig  gelesen  ^).  Und  ganz  das  gleiche  findet  bei  einer  Menge 
l)iosaischer  wie  iioetischer  lateinischer  Erzählungen  des  Mittelalters, 
deren  Stoft'  der  Volkspoesie  angehiirt,  Statt.  Diese  selbst  aber  ver- 
achtet das  Alterthuin  n\it  seinen  Dichtungen  keineswegs,  sondern 
spricht  davon  stets  mit  Bewunderung  und  ordnet  sich  gewisser- 
massen  demselben  unter,  indem  sie  sich  auf  seine  Autorität  beruft 
und  öfter  sogar  Stellen  aus  antiken  Werken  wörtlich  wiedergibt^). 
Eh  ist  etwas  ganz  gewöhnliches,  dass  der  romantische  Erzähler  als 
Quelle  seiner  Darstellung  irgend  ein  wirklich  vorhandenes  oder 
erfundenes  lateinisches  Buch  anführt*). 

Allerdings  gibt  es  bei  einigen  Völkern  Euroiia's  eine  ältere 
Periode  der  Volksdichtung,  welche  ausschliesslich  national  ist  und 
sich  noch  nicht  mit  fremden  Elementen  vermischt  hat.  Es  ist  dies 
die  Periode ,  in  welcher  die  skandinavischen ,  germanischen  und 
keltischen  Völker  iu  den  epischen  Liedern  ihrer  Vorfahren  noch 
das  Andenken  an  eine  der  römischen  Civilisation  und  der  Annahme 
des  Clu-istenthums  vorhei-gehende  Zeit  bewahrt  haben.  Allein  die 
erhaltenen  schriftlichen  Denkmäler  zeigen  uns,  dass  diese  Periode 
nur  von  kurzer  Dauer  war.  Schon  die  schriftliche  Aufzeichnung 
jener  Gesänge  liefert  den  Beweis  für  den  Einfluss  einer  nicht- 
nationalen Cultur:  bediente  man  sich  doch  dabei  der  lateinischen 
Schi'ift!  Zahlreicher  ist  die  Klasse  von  Volksdichtungen  des  Mittel- 
alters, in  denen  sich  das  Nationale  mit  Elementen  allgemeinerer 
Natur  verbindet ,  welche  die  verschiedenen  Nationalitäten  zu  einer 
bürgerlichen,  geistigen  und  religiösen  Einheit  verschmolzen.    Noch 


1)  S.  Grimm  und  Schmeller,  Lateinische  Gedichte  des  10.  und 
11.  Jahrb.  p.  65  ff.  und  Cholevius,  Geschichte  der  deutchen  Poesie 
nach  ihren  antiken  Elementen;  I,  20  ff.  In  dem  lateinischen  rhythmischen 
Liede  der  Soldaten  von  Modena  (10.  Jahrh.)  wird  die  gewiss  aus 
Virgil  bekannte  Erzählung  von  Sino  ei-wähnt.  Vgl.  Du  Her  il,  Poes, 
pop.  lat.  ant.  au  XII.  siècle  p.  268. 

2)  Zappert  (Vii-gil's  Fortleben  im  Mittelalter  p.  7.  ff.  Anm.  64  ff.) 
hat  die  Virgilreminiscenzen  bei  den  Volksdichtern  zusammengestellt.  Aber 
er  begnügt  sich  mit  zu  allgemeinen  Beziehungen  und  seine  Behauptungen 
gelten  nur  für-  einen  kleinen  Theil  der  Stellen.  Auf  seine  Art  könnte 
man  auch  beweisen,  dass  indische  oder  persische  Dichter  den  Virgil  ge- 
lesen haben. 

3)  Vgl.  Reiffenberg,  Chron.  rimée  de  Philippcs  Mouskes. 
p.  CCXXXV  ff. 


Virgil  in  der  Volkssage.  201' 

reicher  ist  aber  endlich  die  Gruppe  von  Dichtungeu,  ans  denen  die 
nationalen  Bestandtheile  ganz  verschwunden  und  nur  noch  die 
Allen  gemeinsamen  Elemente  der  Empfindung,  Bildung  und  Re- 
ligion als  poetische  Zwecke  bemerkbar  sind.  Diese  Gruppe, 
welche  weniger  als  die  beiden  anderen  dem  eigentlichen  Epos 
angehört,  offenbart  sich  in  einer  Menge  von  phantastischen  Er- 
zählungen in  Vers  und  Prosa,  wie  in  der  romantischen  Lyrik,  dem 
Ausdrucksmittel  einer  Empfindung,  die  ja  keinem  Lande  aus- 
schliesslich und  allein  eigen  war.  In  der  Periode,  als  die  grosse 
Umwandlung  der  nationalen  Elemente  und  ihre  Verschmelzimg  mit 
universalen  Gedanken  besonders  der  Religion  und  Bildung  vor 
sich  ging,  als  die  Texte  der  Volksdichtungen  in's  Lateinische  und 
dann  wieder  umgekehrt  die  lateinischen  Texte  in  die  Volks.sprache 
übertragen  wurden,  war  es  die  Geistlichkeit,  welche  als  Träger  der 
Bildung  und  Religion,  d.  h.  der  die  Verschmelzung  bewirkenden 
Elemente,  auch  als  der  Urheber  jener  Umwandlung  zu  betrach- 
ten ist. 

In  dieser  ganzen  Epoche  einer  allgemeinen  Vereinigung  und, 
man  kann  wol  auch  sagen,  der  Verwirrung  genoss  die  besonders 
thätige  Phantasie  eine  übermässige  Freiheit.  Die  Geister  des  Mittel- 
alters weichen  in  ihren  Gewohnheiten  und  Aeusseruugen  in  der 
That  völlig  von  der  Art  und  Weise  normaler  Zeiten  ab,  und  man 
begreift,  wie  durch  das  Uebergewicht  der  Allegorie  selbst  bei  der 
ernstesten  geistigen  Thätigkeit  die  Verschmelzung  verschiedenartiger 
Ideen  etwas  ganz  gewöhnliches  werden,  die  Erforschung  der  Natur 
der  Dinge  und  ihre  richtige  Darstellung  verhindern  musste,  und 
die  stets  zur  Verwirrung  geneigte  Phantasie  in  der  Thätigkeit  des 
Verstandes  kein  Correctiv  mehr  finden  konnte,  wie  es  ihr  in  der 
Kritik  geübte  Zeiten  gewähren.  Wenn  man  auch  hie  und  da  in 
den  phantastischen  Schöpfungen  des  Mittelalters  einen  vernünftigen 
Zweck  wahrnimmt,  so  gibt  es  doch  wieder  solche,  die  man  nur 
von  einem  pathologischen  Gesichtspunkte  aus  betrachten  kann,  und 
die  sich  nicht  erklären  liesse,  wenn  es  nicht  für  gewisse  Aus- 
schreitungen ein  Naturgesetz  gäbe.  Wer  den  verschiedenen  Charakter 
der  antiken  und  mittelalterlichen  Poesie  genau  betrachtet,  wird 
bemerken,  dass  die  leere  Phantasie  und  die  falsche  Sentimentalität, 
mit  welcher  das  Mittelalter  endigt,  auf  ganz  denselben  Ursachen 
beruhen,  wie  die  Rhetorik  und  Declamatiou  des  untergehenden 
Alteiihums. 

Mit  diesem  Uebergewichte  der  Phantasie  hing  nun  eine  ausser- 
ordentliche Vorliebe  für  das  Wunderbare  und  ein  allgemeines  Be- 

Comparett  i,    Virijil  im  Afittelulter.  14 


210  Virgil  in  der  Volkssage. 

dürfniss  nach  abenteuerlichen  Erzählungen  zusammen,  welches  sogar 
zur  Personification  der  „Frau  Aventiure"  führte  *).  Und  da  sich  Alle 
in  diesem  Tranke  berauschen  wollten,  konnte  nur  die  vielseitigste 
erfinderische  Thätigkeit  jenen  Durst  stillen.  Auch  die  Erzählung 
aus  dem  Alterthum  musste  sich  dem  Ideale  der  Zeit  gemäss  zur 
romantischen  Verkleidung  hergeben.  Was  uns  aber  heute  dabei 
lächerlich  und  erzwungen  erscheint,  hatte  damals  diesen  Charakter 
nicht:  jene  Verkleidung  war  ja  nur  ein  etwas  bestimmterer  Aus- 
druck für  die  naive  Anschauung,  mit  der  man  allgemein  die  Er- 
zählungen aus  dem  Alterthum  betrachtete.  Die  verschiedenai-tigsten 
Stoffe  nahmen  jetzt  eine  gemeinsame  Färbung  an,  und  weil  man 
nur  schwer  die  Anschauungsweise  der  Gegenwart  aufzugeben  ver- 
mochte, kam  man  schliesslich  anf  Tvpen  hinaus,  die  sich  trotz 
der  verschiedenen  Namen,  Oerter  und  Thatsachen  ganz  gleich 
sahen.  Die  kirchliche,  klassische  und  orientalische  Erzählung,  die 
Mythologie  und  Geschichte,  die  skandinavische,  keltische  und  ger- 
manische Sage  erschienen  jetzt  in  romantischer  Form.  Das  Alter- 
thum trat  ganz  wie  die  Gegenwart  selbst  auf:  der  antike  Heros 
ward  ein  Ritter,  die  Heroine  eine  Edelfrau  und  die  Götter  des 
Heidenthums  wurden  zu  Zauberern  vom  verschiedensten  Gepräge; 
Nero  betet  zu  Muliammed,  der  Saracene  zu  Apollino,  und  auch  die 
Liebe,  von  welcher  die  antike  Mythe  und  Geschichte  handelte,  wird 
zu  einer  romantischen  Empfindung.  J)ie  alten  Dichter  und  Schrift- 
steller endlich  werden  Philosophen,  Weise  und  Gelehrte,  natürlich 
stets  mit  jener  Uebertreibung  und  Ven'ückung  der  Gesichtspunkte, 
die  wir  schon  in  der  Ueberlieferung  der  Schule  und  bei  den  Ge- 
lehrten des  Mittelalters  gefunden  haben,  die  sich  aber  imter 
der  unumschränkten  Herr.schaft  der  Phantasie  noch  bedeutend 
steigert. 

Bei  dieser  Umwandlung  behauptet  unter  allen  alten  Autoren 
Virgil  auch  in  der  Romantik  dieselbe  hervorragende  Stellung, 
welche  er  bei  den  Gelehrten  und  in  der  Schule  einnahm.  Jedoch 
war  jetzt  nicht  nur  der  Ruhm  des  Dichters,  sondern  auch  sein 
Werk  als  Erzählung  den  neuen  Einflüssen  ausgesetzt,  die  sich 
zwar  für  jenen  wie  für  dieses  auf  verschiedenen  Gebieten  geltend 
machten,  aber  doch  in  Beziehung  zu  einander  standen.  Für  den 
romantischen  Dichter  gal)  es  aus  der  ganzen  alten  Dichtkunst, 
Mythe  und  Geschichte  nichts  Anziehenderes,  als   die  kriegerischen 


1)  VtTgl.    Grimm,    Frau    Aventiure    in    seiuen    Kleinen    Sehr.    1, 
83  ft-. 


Vii-fril  in  der  Volksaage.  211 

Tliaten  der  Helden,  die  wunderbaren  Begebenheiten  und  die  Liebes- 
abenteuer. Alles,  was  die  antike,  wie  die  auf-' ihr  beruhende  la- 
teinische Literatur  des  Mittelalters  in  dieser  Beziehung  darbot, 
wurde  als  Stoff  oder  als  Ausschmückung  für  jene  Darstellungen 
verwandt:  die  trojanische  Geschichte  nach  Virgil,  nach  dem  Pseudo- 
Dares  und  anderen  lateinischen  Texten,  die  thebanische  nach 
Statins,  die  wunderbaren  Fabeln  über  Alexander  nach  lateinischen 
Uebersetzungen  aus  dem  Griechischen,  die  Geschichte  Caesar's  und 
der  römischen  Eroberungen  nach  Lucan,  so  wie  endlich  der  ganze 
reiche  mythologische  Schatz,  welchen  die  Metamorphosen  des  Ovid 
enthalten^)  —  Alles  dies  ging  jetzt  in  die  Literatur  über  und  .lieferte 
den  Stoff  für  freie  Uebersetzungen  und  Umarbeitungen,  bei  denen 
die  Romantik  an  Stelle  der  antiken  Idee  auftrat.  Der  eigentliche 
Mittelpunkt  und  Heerd  dieser  Schöpfungen  ist  von  der  zweiten 
Hälfte  des  12.  Jahrhunderts  an  Frankreich;  von  dort  aus  verbreiten 
sie  sich  in  Uebersetzungen,  Nachahmungen  und  Umarbeitungen 
über  ganz  Europa,  besonders  in  Deutschland,  welches  nächst  Frank- 
reich hierin  am  meisten  thätig  war.  Benoit  de  Sainte-More,  Lambert 
li  Cors,  Heinrich  von  Veldeke,  Albert  von  Halberstadt,  Herbort 
von  Fritzlar  u.  a.  haben  derartige  Werke  geschrieben,  welche 
ungemein  beliebt  und  bekannt  waren"). 

Das  Gefallen  an  der  antiken  Sage  und  Geschichte,  wie  ihre 
phantastische  Weiterbildung  war  freilich  schon  früher  vorhanden, 
als  die  eigentliche  Romantik;  noch  bevor  die  Volksliteratur  sich 
entwickelte  und  mit  den  Elementen  der  überlieferten  Cui  tur  ver- 
band, gab  es  in  der  gelehrten  Litei-atur  des  Mittelalters  unter  den 
Schöpfungen  der  Geistlichkeit  eine  ähnliche  Arbeit,  wenngleich  in 
derselben  noch  die  Vorstellung,  welche  die  Schule  vom  Alterthume 
hatte,  so  wie  die  moralisirende  Richtung  der  Kirche  durchaus  vor- 
herrschten. Unter  den  antiken  Mythen  war  die  vom  trojanischen 
Kriege  die    berühmteste    und    am    häufigsten   bearbeitete^).     Virgil 


1)  Der  König  Alfons  sagt:  „El  Ovidio  mayor  (Metamorfosi)  non  es 
ài  entra  ellos  (d.  h.  den  Alten)  sinon  la  theologia  et  la  ßiblia  dellos 
entre  los  gentiles".  —  Grande  et  general  estoria  I,  8,  e.  7.  Vergi. 
Amador  de  los  Rios,  Hist.  crit.  de  la  lit.  espan.  Ili, 
p.  603. 

2)  Eine  sehr  verständige  und  eingehende  historisch-kritische  Unter- 
suchung über  die  Umwandlung  des  antiken  Stoffes  in  einen  romantischen 
findet  man  bei  Cholevius,  a.  a.  0.  cap.  3—9. 

3)  Vgl.  Dung  er,  Die  Sage  vom  Trojanischen  Kriege  in  den  Be- 
arbeitungen des  Mittelalters  und  ihren  Quellen.  Leipz.  1869. 

14* 


212  Virgil  in  der  Volkssage. 

als  die  oberste  Autorität  für  diese  Sage,  welche  Kom  mit  Troja 
verknüpfte  und  «de  wir  sahen,  unter  den  Völkern  und  Fürsten 
Europa's  die  Mode  aufgebracht  hatte,  nach  dem  trojanischen  Ur- 
sprünge der  Familien,  als  dem  charakteristischen  Kennzeichen  ihres 
Adels  zu  suchen,  hatte  auch  durch  seinen  Eintluss  dazu  beige- 
tragen, dass  die  Erzählung  vom  trojanischen  Kriege  so  beliebt  war 
und  schliesslich  mehr  Sym'pathien  für  die  Trojaner  als  fiü"  die 
Griechen  erweckt  wurden.  Dies  geht  schon  aus  dem  Umstände 
hervor,  dass  der  dem  Dares  zugeschriebene  Text,  den  man  von 
einem  zur  Zeit  des  Ki-ieges  lebenden  Trojaner  verfasst  glaubte, 
beliebter,  als  der  nach  griechischer  Auffassung  geschriebene  Text 
des  Dictys  war.  Man  strafte  sogar  den  Homer  Lügen,  wenn 
man  bemerkte,  dass  er  in  seiner  Darstellung  von  Dares  ab- 
wich ^). 

Wie  nun  aber  schon  der  ganze,  besonders  durch  die  Aeneis 
]>erühmt  gewordene  Theil  der  trojanischen  Sage  zur  romantischen 
Erzählung  wurde,  so  geschah  dies  natürlich  noch  weit  mehr  mit 
der  Aeneis  selbst.  Und  in  der  That  verfasste  Benoit  de  Saint- 
More  ausser  seinem  „Roman  von  Troia"  auch  noch  einen  ,, Roman 
des  Aeneas^)".  In  dieser  neuen,  dem  Kreise  der  Schule  ganz  fern 
stehenden  Aeneis  kam  das  rein  Historische,  so  wie  alles  das,  was 
etwa  durch  mythologische  Vorstellungen  den  antiken  Ursprung  des 
Gedichtes  verrieth,  erst  in  zweiter  Linie  in  Betracht.  Mehr,  als 
irgend  etwas  anderes,  musste  in  der  Aeneis  das  Element  der  Liebe 
und  die  Darstellung  des  verliebten  und  umstrittenen  Weibes,  d.  h. 
Dido's  und  Lavinia's,  auf  den  Dichter  der  Romantik  anziehend 
wirken.  Und  so  entstand  denn,  indem  man  den  Stoff  des  Epos 
theils  kürzte,  theils  erweiterte  oder  umgestaltete,  ein  romantisches 
Gedicht,  in  welchem  die  antiken  Namen  zwar  geblieben  waren, 
aber  die  erzählten  Begebenheiten,  Titel  der  Personen,  Schilderungen, 
so  wie  Ton  und  Farbe  des  Ganzen  vielmehr  der  Gegenwart  und 
der   ritterlich-höfischen  Anschauung   derselben    entsprachen.     Diese 


1)  So  auch  Guido  delle  Colonne.  Vgl.  Duugor,  a.  a.  0. 
p.  19  f. 

2)  Publicirt  vou  Joly,  Benoit  de  Saiute-More  et  le  Roman  de 
Troie,  ou  Ics  métamorphoses  d'Homère  et  l'epopèe  greco-latine  au  moyon- 
age.  Paris,  1870.  Der  „Roman  d'Eneas",  der  gewiss  auch  von  Benoit 
herrührt,  ist  noch  nicht  herausgegeben.  Ein  Stück  des  Anfanges  gab 
Paul  Heise  in  seinen  „Romanische  inedita"  p.  31  ff.  aus  einem  Cod. 
Laur.  heraus.  Ein  Auszug  aus  dem  ganzen  bei  Pey  „Essai  sur  li  Ro- 
mans d'Eneas  d'aprés  les  Mss.  de  la  bibl.  imp."  Paris  1856. 


Virgil  in  der  Volkssage.  213 

Schöpt'uug  fand  grossen  Beifall;  noch  mehr  aber  als  der  französische 
Text,  wurde  die  deutsche  Bearbeitung  des  Heinrich  von  Veldeke 
berühmt,  der  in  Folge  seiner  „Eneit"  als  das  Haupt  einer  grossen 
deutscheu  Dichterschule  galt^). 

Man  darf  diese  romantische  Umgestaltung  der  antiken  Er- 
zählungen nicht,  wie  es  wol  auf  den  ersten  Blick  scheinen  könnte, 
als  eine  eigentlich  volksthümliche  Schöpfung  auffassen,  die  ohne 
Kenntniss  der  klassischen  Literatur  zu  Stande  gekommen  wäre. 
Vielmehr  war  sie  auf  eine  aristokratische,  höher  stehende  Gesell- 
schaft berechnet  und  das  Product  der  höfisch  gewordenen  Volks- 
literatur. Ihre  Verfasser  sind  gebildete  Laien  oder  Geistliche  und 
haben  bei  ihrer  Arbeit  den  lateinischen  Text  vor  Augen,  auf  dessen 
Autorität  sie  sich  oft  ausdrücklich  berufen").  Hierbei  schufen  sie 
selbst  nicht  eigentlich  etwas  -Neues,  da  ja  vielmehr  Alles  schon  vorher 
entstanden  war,  sondern  fassten  nur  mit  mehr  Verständniss  des 
Stoffes  und  Zweckes  in  einem  besonderen  Werke  zusammen,  was 
sich  in  der  romantischen  Literatur  und  der  Volkspoesie  im  Allge- 
meiuen  bereits  vorfand.  Die  antiken  Namen  und  Begebenheiten, 
die  selbst  bei  den  Geistlichen  nicht  mehr  von  einem  richtigen 
Verständniss  des  Alterthums  begleitet  waren,  drangen  nun  als  ein 
Element  der  Cultur  in  die  neue,  volksthümliche  Kunst  ein,  be- 
rühi-ten  sich  mit  der  doi-t  herrschenden  Empfindung  und  assimilirten 
sich  derselben.     Jeder    Volksdichter    kennt   und   nennt   die  Namen 


1)  Publicirt  von  Ettmüller,  Heinrich  von  Veldeke,  Leipz.  1852, 
mit  dem  franz.  Texte  verglichen  von  Pey,  L'Eneide  de  Henri  de 
Veldeke  et  le  Roman  d'Mneas,  Jahrb.  f.  rem.  u.  engl.  Litt.  H,  p.  1  ff. — 
Gervinus,  Gesch.  d.  deutsch.  Dicht.  I.  p.  272  ff.  urtheilte  ohne  Kennt- 
niss des  franz.  Textes.  Besser  Cholevius,  a.  a.  0.  p.  102  ff.,  obgleich 
auch  er  die  Bezeichnungen  zum  Original  damals  noch  nicht  kennen 
konnte.  Das  Falsche  in  Gervinus'  Urtheil  hat.  E.  Wörner  „Virgil  und 
Heinrich  von  Veldeke"  (Zeitschr.  f.  deutsche  Philol.  von  Höpfner  und 
Zacher  III,  126  ff  )  berichtigen  wollen  und  zugleich  gemeint  dem  Minne- 
sänger durch  Vergleichung  mit  dem  grossen  lateinischen  Dichter  einen 
Dienst  zu  erweisen.  Ueber  das  Lob,  welches  Wolfram  von  Eschenbach  und 
Gottfried  von  Strassburg  dem  Heinrich  ertheilen,  urtheilt  Gervinus 
richtig.  Ueber  die  merkwürdigen  Miniaturen  in  der  Berliner  Hdss.  dieses 
Gedichtes  s.  Piper,  Mythologie  d.  ehr.  Kunst.  I,  246  ff  und  Kugler, 
Kleine  Schriften. 

2)  Auch  Heinrich  von  Veldeke,  der  sich  unmittelbarer  auf  das  fran- 
zösische Original  stützt,  citirt  den  Virgil  häufig:  „so  saget  VirgiJiüs  der 
märe",  ,,so  zeit  Virgilius  der  helt".  Vergi,  auch  das  was  er  p.  26,  v. 
18  f.  sagt. 


214  Virgil  in  der  Volkssage. 

des  Aeneas,  der  üido,  Lavinia  u.  s.  w.^),  und  unter  den  Erzählungen 
der  Troubadours  finden  sich  antike  mit  romantischen  Stoffen  ver- 
mischt''). Der  fruchtbare  Chrestien  de  Troies  spricht  in  seinem 
romantischen  Gedichte  „Erec"  von  einem  prächtigen  Sattel,  auf 
welchem  die  ganze  Geschichte  des  Aeneas  dargestellt  war^).  Na- 
türlich war  für  alle  diese  Dichter,  mochten  sie  Laien  oder  Geist- 
liche sein,  von  der  antiken  Idee  der  Sage  nicht  mehr  die  Rede. 
Dies  hätte  auch  nur  ein  Missverhältniss  erzeugt,  da  ja  jede  Kunst- 
foi'm  aus  inneren  Gründen  ihre  eigene  Betrachtungsweise  hat. 
Andererseits  aber  hob  doch  die  neue  Kunstgattung  nicht  ganz  die 
Thätigkeit  des  Gedankens  auf,  sondern  entwickelte  sich  neben  einer 
altüberlieferten  Cultur  und  gelehrten  Beschäftigung,  die  eben  zu 
der  Zeit,  als  sich  jene  Romane  ausbreiteten,  von  den  Geistlichen 
zu  den  Laien  überging;  und  so  geschah  es,  dass  die  romantische 
Darstellung  ebenso  beliebt  war,  wie  der  antike  Stoff,  von  welchem 


1)  Eine  reiche  Sammlung  von  Beispielen  hierfür  bei  Bartsch,  Al- 
brecht von  Halberstadt  und  Uvid  im  Mittelalter,  Quedliub.  und  Leipz. 
1861  (p.  XI-CXXVII). 

2)  „Qui  vele  ausir  diverses  contea 
De  reis,  de  marques  e  de  comtes 
Auzir  ne  poc  tan  can  si  volo. 


L'autre  comtava  d'Eneas 

E  de  Dido  consi  remat; 

Per  lui  doleuta  e  mesquina; 

L'autre  contava  de  Lavina 

Con  fes  lo  bren  al  cairel  traire 

A  la  gaita  de  Tauzor  traire  etc." 
Roman    de   Flamenca   pubi,    von    Paul    Meyer    v.    609    ff.    p.    19    f. 
Vgl.  auch  Guiraut   de  Calanson  bei  Diez,   Poesie    der  Troubadours 
p.  199,  und  andere  Stellen  bei  Gr aesse,  Die   grossen  Sagenkreise   des 
Mittelalters  p.  7  ff. 

3)  „Si  fu  eutaillée  l'estoire 

Coment  Eneas  mut  de  Troie 

Et  com  à  Cartagc  à  grant  joie 

Dido  en  son  lit  le  re^ut; 

Coment  Eneas  la  devut, 

Coment  eie  por  lui  s'ocist; 

Coment  Eneas  puis  conquist 

Laurente  e  tote  Lombardie, 

Et  Lavine  qui  fu  s'amie." 
Ueber  andere  Volksdichter    in   Bezug   auf  die  Schicksale   des  Aeneas  s. 
Bartsch    a.  a.  0.  p.  XXI  tf.   u.   CXXII  f.     Der  „Roman   de  Brut"   von 
Wace  beginnt    mit    einem   Auszuge    aus    der    Aeueis   zum    Zwecke    der 
Genealogie  des  Helden  des  Romanes. 


Virgil  in  der  Volkssage.  215 

man  sich  so  weit  entfernte,  und  den  man  jetzt  für  die  Laien  in 
die  Volkssprache  übersetzte,  ohne  dass  darum  etwa  die  romantische 
Bearbeitung  daneben  als  Parodie  oder  auch  nur  als  sonderbar  er- 
schienen wäre.  Und  dies  ist  nicht  das  einzige  Gebiet,  auf  welchem 
das  Mittelalter  zwei  für  uns  so  widerstrebende  Dinge  mit  einander 
vereinigt. 

Jene  Umgestaltung,  welche  das  Werk  Vii-gils  erlitt,  durften 
wir  schon  deshalb  nicht  übergehen,  weil  sie  mit  dem  Ruhme  des 
Dichters  selbst  in  Beziehung  steht.  In  der  That  gibt  es  einen 
idealen  Virgil,  dem  man  eine  derartig  veränderte  Aeneis  zu- 
schreiben könnte.  Es  ist  der  Virgil  des  Dolopathos,  jenes  Vorbild 
eines  hohen  Geistlichen,  der,  umgeben  von  Herzögen,  Baronen, 
Bischöfen,  Aebten,  Höflingen,  Frauen  und  turnierenden  Rittern  doch 
zugleich  Dichter  ist^),  obgleich  er  im  Gedichte  selbst  nicht  dazu 
kömmt,  dies  zu  beweisen.  Wenn  Herbers  ihn  als  Dichter  einer 
Aeneis  hätte  auftreten  lassen  wollen,  so  wäre  es  gewiss  nicht  die 
antike,  sondern  eine  romantische  Aeneis  gewesen,  die  er  ihm  bei- 
gelegt hätte.  Die  moralische  Erzählung,  welche  Virgil  im  Dolo- 
pathos vorträgt,  ist  in  der  That  nach  Form  und  Inhalt  durchaus 
romantisch^). 

Wir  sahen,  wie  jener  Typus  des  Virgil  im  Dolopathos  un- 
mittelbar aus  der  literarischen  und  scholastischen  Idee  des  Mittel- 
alters entsprang.  Der  „clerc"  und  „la  discipline  di  clergie"  be- 
deuten den  Gelehrten  und  die  Gelehrsamkeit  der  Schule,  wie  sich 
solche  eben  in  jener  Zeit  darstellten.  In  der  romantischen  Dich- 
tung, die  völlig  frei  und  von  der  Schule  unabhängig  ist,  erhielt 
aber  Alles,  was  von  dieser  herkömmt,  den  Charakter  des  Wunder- 
baren, wie  Etwas,  das  man  nur  von  fern  sieht,  oder  das  fremd 
an  den  Geist  herantritt.  Das  Wunderbare  verleiht  daher  auch  gern 
den  Namen,  welche  aus  dem  Kreise  der  Schule  stammen,  seinen 
Glanz.  Bei  Virgil  war  das  um  so  eher  möglich,  als  dessen  Name 
schon  durch  die  Literatur  und  Schule  mit  dem  Scheine  des  Wunder- 
baren und  Imponirenden  umgeben  war.  Es  musste  demnach  der 
Virgil  der  Schule    in    der  Romantik    ebenso    folgerichtig    zu   dem 


1)  „Onkes  poetes  ne  fu  tax"  v.  1267. 

2)  Es  ist  die  Erzählung  von  dem  Chevalier  à  la  trappe,  die 
mit  einer  anderen  verbunden  die  Novelle  Tofano  e  monna  Ghita 
im  Decameroue  bildet  (VIII,  4).  Vgl.  hierüber  d'Ancona,  Il  libro 
dei  sette  savi  di  Roma  p.  112  flF.  p.  120;  Oesterley  zu  Pauli 's 
Schimpf  und  Ernst  p.  678  und  Benfey,  Pantschat,  I,  331. 


216  Virgil  ili  der  Volkssagc. 

Viigil  des  Dülopalhüs^  werden,  wie  aus  der  antiken  Aeueis  eiu 
Aeneat>ron)an  geworden  war.  Sollte  auch  der  Verfasser  des  Üolo- 
pathos  seinem  Stande  oder  seiner  Bildung  nach  ein  Geistlicher 
sein,  so  zeigt  sich  doch  in  jenem  Typus  des  Gelehrten  eine  rein 
volksmässige  Vorstellung  von  der  AVissenschaft,  deren  Wesen  bei 
dem  merkwürdigen,  man  möchte  sagen  optischen  Standpunkte 
dessen,  der  sie  betrachtet,  ganz  von  selbst  phantastisch  und 
wunderbar  wird.  Wie  jeder  grosse  Weise,  ist  auch  Virgil  Astrolog 
oder,  wie  man  sagte,  Astronom,  und  aus  der  Sternkmide  Hoss 
seine  Kenntniss  der  zukünftigen  Dinge.  Das  hielt  damals  Nie- 
mand für  unmöglich,  ja,  bedenkliche  Leute,  wie  der  Verfasser  des 
Dolopathos ,  bemerkten  geradezu,  dass  so  etwas  nur  mit  Gottes 
Willen  geschehen  könne.  So  weit  also,  nämlich  bis  zu  dem  Bilde 
eines  in  allen  Zweigen  des  Wissens,  also  auch  in  der  Astrologie 
bewanderten  Weisen,  vermochte  es  die  in  die  Romantik  über- 
gehende gelehrte  Vorstellung  zu  bringen. 

Das  Wunderbare,  das  ein  so  wesentlicher  Bestandtheil  der 
romantischen  Erfindung  war,  hatte  aber  unter  seinen  reichen  Aus- 
drucksmitteln den  Typus  des  „Zauberers"  aufzuweisen,  welcher,  so 
wenig  wahrhaft  poetisch  auch  derselbe  ist,  doch  in  den  Erzählungen 
jener  so  leichtgläubigen  und  nach  dem  üebermenschlicheu  und  Wunder- 
baren so  begierigen  Zeit  eine  sehr  hervorragende  und  wirkungs- 
reiche Figur  ausmachte  ^).  Jeder  Zauberer  ist  natüi-lich  ein  Weiser, 
aber  nicht  umgekehrt  jeder  Weiser  ein  Zauberer;  beide  Begriffe 
sind  vielmehr  gesondert  und  unabhängig  von  einander.  Die 
Zauberei  ist  eigentlich  ein  Zuwachs  grosser  Weisheit,  im  juora- 
lischen  Sinne  aber  auch  eine  Verschlechterung.  Es  gibt  zwar  eiu 
Verhältniss ,  bei  welchem  die  Zauberei  als  rein  wissenschaftliche 
Beschäftigung  i;nd  darum  erlaubt  erscheint,  nur  muss  man  fest- 
halten, dass  die  Idee  eines  Zauberers  nicht  innerhalb  der  Wissen- 
schaft oder  der  Schule  entstand.  Ich  glaube  nicht,  dass  sich  der 
scholastische  Tyjjus  des  Vii-gil  lediglich  auf  dem  natüi-lichen  Wege 
einer  Ideenassociation  in  den  Typus  des  Zauberers  hätte  ver- 
wandeln können.  Für  die  Umwandlung  eines  „Weisen"  in  einen 
Zauberer  gibt  es,  was  die  Männer  des  Alterthums  anlangt,  nur 
wenig  Beispiele,  welche  auch  meist  auf  eine  augenblickliche  Ver- 
tauschung der  Namen  hinauslaufen.     Bei  keinem  unter  ihnen  aber 


1)  Vgl.  ilo  iäcu  kränz,  Geschichte  der  deutsch.  Poesie  im  Mittel- 
alter p.  67. 


Yirgil  in  der  Volkssage.  217 

hat  .sich  die  Inognipliische  Legende  «o  weit  ausgedehnt,  wie  bei 
Virgil.  Es  musste  also  unabhängig  von  der  Literatur  im  Volke 
eine"  besondere  Vorstellung  über  Virgil  vorhanden  sein  ,  und  unsere 
Untersuchung  wird  uns  in  der  That  zeigen,  dass  die  Vorstellung 
von  dem  Wunderthäter  und  Zauberer  Virgil  lediglich  im  Volke 
entstand,  während  sie  erst  später  in  die  Literatur  überging,  als 
sie  dort  verwandte  Elemente  vortand.  Jene  Vorstellung  aber  ist 
italienischen  Ursprungs. 

Was  die  Italiener  auch  im  Mittelalter    auszeichnet  und  ihnen 
in  der  Geschichte    und  Cultur  vor  den    anderen  Völkern  Europa'« 
eine  höhere   Stellung    einräumt,    ist  der  Umstand,    dass    sie  mehr 
als  irgend    ein   anderes   Volk    an   phantastischen  Schöpfungen  arm 
«ind.  ''üie  Romantik  ist,  so    weit   sie   sich   in   der   Erfindung   von 
Erzählungen  äussert,   in  Italien   kaum   vorhanden.     Auch  was  das 
Kitterthum  betrifft,  verhall   sich  Italien  fast  ganz  passiv  und  gibt 
in  diesem  Punkte    nur  einem  unvermeidlichen  Einflüsse   nach,  der 
von  aussen  herandringt,  aber  doch  zeigt,  wie  wenig  jene  Schöpfung 
mit  den  Bestrebungen  des  Landes  harmonirt.  Unter  den  vom  Aus- 
lande hereingebrachten  Erzählungen    waren    auch  in  Italien  einige 
französische  Texte  der  trojanischen  Geschichte  behebt,  weit  weniger 
der  „Roman  des  Aeneas^)".    Virgil  Óvid  und  andere  alte  Dichter 
wurden  schnell   in  italienische  Prosa   übersetzt 2),   und    zwar    ohne 
grosse  Veränderung,    abgesehen  von  den  üblichen  moralischen  Zu- 
ihaten,  mit  welchen  man  besonders  den  Ovid  bedachte.    Guido   da 
Pisa,  der  die  Schicksale  des  Aeueas  beschrieben  hat,  offenbart  zwar 
in    einigen    Ausdrücken   den    Eiufluss    des    Mittelalters,     aber    er 
war  doch  weit  entfernt  von  einer  romantischen  Erzählung  und  wich 
von  Virgil  nur  da  ab,  wo  er  sich  auf  die  Autorität  anderer  alter 
Schriftsteller  stützte.  Die  Phantasie  fand  in  Italien  grössere  Hinder- 
nisse  als    irgend   w^o   anders,    sei   es,    dass    in    dem    italienischen 
Charakter    der    Verstand   überwiegt,    oder    sei    es,    dass   die  über- 
lieferte Cultur,    so  niedrig    sie    auch    war,    in   Italien  mehr  als  in 
anderen  Ländern  heimisch  war  imd  festere  Wurzeln  hatte.   Italien 

1)  In  der  noch  ungedruckten  Fiorita  von  Armannino  ist  der 
Roman  d'Eneas  benutzt.  Vgl.  Mussafia,  Sulle  versioni  italiane  della 
storia  Troiana  p.  48  ff.  ,  .  . 

2)  Veri  Gamba  „Diceria  bibliografica  intorno  ai  volgarizzamenti 
italiani  d°elle  opere  di  Virgilio"  in  der  „Antologia  di  Firenze"  voi.  II 
(1821)  p  164  fi-  ,L'Eneide  di  Virgilio  volgarizzata  nel  buon  secolo  della 
lin-ua  da  Ciampolo  di  Meo  degli  Ugurgieri."  Florenz  1858.  Diese  Ueber- 
setzung  entstand  gewiss  nicht  früher  als  die  Divina  Commedia. 


218  Virgil  iu  der  Volkssage. 

l)leibt  im  ^Mittelalter ,  obgleich  besiegt,  zerrissen  \nu\  verwildert, 
(loch  für  die  Geschichte  und  Cultiu-  ein  idealer  Mittelpunkt,  und 
das  Bewusstsein  davon  geht  den  Italienern  niemals  verloren  '). 
Darum  sucht  man  bei  ihnen  vergebens  nach  Erscheinungen,  wie  sie 
sich  in  anderen  Ländern  finden,  in  denen  weniger  starke  und  un- 
mittelbar wirkende,  gi'osse  historische  Erinnerungen,  welche  die 
ei^ische  Form  nicht  annehmen  konnten,  vor  dem  Geiste  der 
Menschen  standen.  Damit  soll  nicht  gesagt  sein,  dass  die  Italiener 
nicht  auch  ihre  Volkssagen  haben,  welche  das  Alterthum  und  die 
Anlange  verschiedener  Städte  behandelten.  Wenn  erst  die  histo- 
rischen Studien  in  Italien  sich  wieder  mehr  entwickelt  haben, 
werden  auch  gewiss  noch  viele  solcher  Sagen  zu  Tage  treten. 
Thatsache  ist,  dass  das  Andenken  an  die  alte  römische  Welt  bei 
den  Barbaren  viel  lebendiger,  als  bei  den  Italienern  auf  die 
Phantasie  gewirkt  hat.  Nur  der  kleinste  Theil  von  Sagen,  welche 
sich  auf  das  römische  Alterthum  beziehen,  sind  in  Italien  ent- 
standen; die  meisten  derselben,  die  sich  in  Italien  finden,  sind  von 
aussen  hereingebracht. 

Die  in  Italien  selbst  entstandenen  Sagen  haben  öfters  antike, 
historische  odei  mythologische  Begebenheiten,  häufiger  noch  antike 
Monumente  zu  ihrem  Gegenstande,  oft  aber  auch  nur  die  Namen 
antiker  Persönlichkeiten.  Viele  erlauchte  Namen  des  alten  Rom's 
erhielten  sich  im  Andenken  des  Volkes,  losgelöst  von  ihren  ge- 
schichtlichen Thaten,  zwar  nicht  ganz  ohne  eine  mit  der  Geschichte 
im  Einklang  stehende  Charakteristik,  aber  doch  in  einer  Auffassung, 
wie  sie  eben  dem  beschränkten  Geiste  des  Volkes  und  den  Er- 
zählungen alter  Frauen  eigen  war,   von   denen    schon  Dante  sagt: 

„  .  .  .  .  traendo  alla  rocca  la  chioma. 

Favoleggiava  colla  sua  famiglia 

De'  Troiani,  e  di  Fiesole,  e  di  Koma." 

Mit  diesen  Namen  verknüpfte  nun  die  Phantasie  des  Volkes  fabel- 
hafte Erzählungen  aller  Art,  je  nach  den  Vorstellungen,  die  man 
von  jenen  Personen  hatte.  Caesar,  Catilina,  Nero,  Trajan  u.  a.  sind 


1)  „During  the  gloomy  and  disastrous  ceuturies  which  followed  the 
downfall  of  the  roman  empire,  Italy  had  preserved  in  a  far  greater  de- 
gree  than  any  other  part  of  western  Europe  the  traces  of  ancient  ci- 
vilisation.  The  night  which  desceuded  upon  her  was  the  night  of  an 
arctic  feunimer.  The  dawn  began  to  reappoar  before  the  last  reflection 
of  the  preceeding  suiisct  had  fudcd  from  the  horizoii."  Macaulay,  Ess. 
on  Macchiavelli  p.  04. 


Virgil  in  der  Volkssage.  219 

solche  Persnnlichkeitt'ii  der  Sage  geworden,  haben  aber  doch  ihren 
ganz  verschiedenen  Charakter  iu  derselben  bewahrt.  Nichtsdesto- 
weniger treten,  da  sich  natürlich  die  Zahl  der  von  der  Sage  dar- 
gestellten Typen  nur  auf  die  hervorragenden  Erscheinungen,  die 
das  Volk  versteht,  beschränkt,  mehrere  derselben  zu  einer  einzigen 
Gruppe,  wie  der  des"  Weisen,  des  Zauberers,  des  Tyrannen  u.  s.  w. 
zusammen  und  nehmen  gemeinschaftlich  Theil  an  dem  betreffenden 
Kreise  der  Sagen,  welche  die  verschiedenen  Erzähler  dann  wieder 
bald  auf  die  eine,  bald  auf  die  andere  Person  beziehen. 

Eins  der  leuchtendsten  Beispiele  hierfür  ist  die  Virgilsage, 
welche  in  Neapel  entstand  und  sich  dann  in  der  europäischen 
Literatur  verbreitete,  zunächst  eher  ausser-  als  innerhalb  Italiens. 
Sie  war  die  Schöpfung  des  niederen,  abergläubischen  Volkes,  gleich 
weit  entfernt  von  künstlerischen  wie  literarischen  Zwecken,  und 
gründete  sich  auf  locale  Erinnerungen,  auf  die  Thatsache  von  des 
Dichters  langem  Aufenthalte  iu  Neapel  und  die  Berühmtheit 
seines  Grabes  daselbst.  Die  Sage  bezog  sich  ferner  aach  auf  Orte 
der  Umgegend,  auf  Bilder  und  Denkmäler,  mit  denen  dieselbe  aus- 
geschmückt war,  und  welchen  Virgil  eine  wunderbare  Kraft  ver- 
liehen haben  sollte.  Dieser  Glaube  erhielt  sich  im  Volke,  ohne 
irgend  eine  poetische  oder  künstlerische  Form  anzunehmen;  im 
übrigen  Italien  wusste  man  wenig  davon,  und  wenig  Gewicht  legte 
man  in  Neapel  selbst  dai-auf,  aber  -  Ausländer,  welche  Neapel  be- 
suchten, nahmen  sich  der  Sage  an  und  führten  sie  in  die  Literatur 
ein,  iu  welcher  sie  sich  gleichzeitig  in  romantischen  und  volks- 
mässigen  Schöpfungen,  wie  gelehrten  lateinischen  Arbeiten  ver- 
breitete. Hier  wie  da  fand  sie  den  Virgil  schon  zu  jenem  Typus 
des  Weisen  reducirt,  welcher  ganz  dazu  angethan  war,  sich  mit 
ihr  zu  verbinden.  Vom  12.  Jahrhundert  an  begegnet  man  daher 
zugleich  mit  dem  Aufblühen  der  eigentlich  romantischen  Poesie 
in  der  Literatur  einer  neuen  Entwickelungsstufe  für  den  Ruhm 
Virgil's,  deren  verschiedene  Wandlungen  und  Gestaltungen  wir 
nunmehr  zu  untersuchen  haben.  Von  der  bis  jetzt  betrachteten 
unterscheidet  sich  dieselbe  dadurch,  dass  sie  von  Voi'stellungen, 
welche  unabhängig  von  der  Schule  im  Volke  entstanden,  ausgeht, 
obgleich  natürlich  die  gelehrte  Vorstellung,  die  man  zuletzt  von 
dem  Dichter  hatte,  zu  der  volksmässigen  in  einem  gewissen  Ver- 
hältnisse steht.  Volksmässig  nennen  wir  jene,  nicht  als  ob  sie 
der  Literatur  ganz  fremd  wäre  —  denn  wir  müssen  ihre  Ge- 
schichte im  Gegentheil  mit  Hilfe  von  Schriften  zusammenstellen, 
die   zum   grössteu    Theil    gerade    keinen    volksmässigen    Charakter 


220  Virgil  in  der  Yolkssage. 

haben  —  sondern  weil  nie  aus  dem  Volke  enii^prungen  itst  und 
sich  aus  volkythülulichen  Gedanken  gebildet  hai.  Ohne  dies  Ele- 
ment wäre  die  literarische  Ueberlieterung,  so  roh  und  verdorben 
sie  auch  war,  niemals  zu  jener  Sage  gekommen,  von  welcher  sich 
ja  auch  in  der  That  vor  dem  zwölften  Jahrhundert,  selbst  nicht 
in  den  Zeiten  der  grössten  Barbarei,  eine  Spur  zeigt,  bis-  endlich 
irgend  Jemand,  der  sie  dem  neapoliianischen  Volke  abgelausclit 
hatte,  sie  in  die  Literatur  einführte. 

Das  unvernünftige  Durcheinandeiniischen  aller  Allen  von 
(legenständen  in  den  Kepertorien,  Encyklopädieu,  Compendieu, 
Handbüchei'n  und  ähnlichen  Werken  lateinischer  wie  volksmässiger 
Sprache  besonders  in  der  letzten  Periode  des  Mittelalters  ist  ge- 
rade so  sonderbar,  wie  die  zügellose  Massenproductiou  der  phan- 
tastischen Schöpfungen  der  Zeit.  In  ihnen  zeigt  sich  der  Ab- 
lagerungsort  des  Mittelalters  für  klassische,  christliche  und  romantische 
Ideen,  für  Mythos,  Geschichte,  Sage  und  Roman  zugleich.  Der 
„Novellino",  welcher  zur  Unterhaltung  geschrieben  ist,  die  „Gesta 
Romanorum",  die  durch  merkwürdige  moralische  Erzählungen  er- 
bauen sollen,  Vinceuz  von  Beaiivais  mit  seinem  chaotischen  „Spe- 
culum  historiale"  und  andere  Verfasser  gelehrter  Werke  sprechen 
von  Caesar,  Arthur,  Tristan,  Alexander,  Aristoteles,  Saladin,  Karl 
dem  Grossen  und  Merlin  in  gleicher  Weise  und  mit  demselben 
Ernst.  Walter  Burley  beschreibt  in  seinem  „Leben  der  Philo- 
sophen" mit  grossem  Ernste  auch  das  Leben  Virgil's  und  sagt, 
dass  derselbe  ein  Philosoph  zu  nennen  sei,  weil  er  Zauberer  Avar 
und  die  Geheimnisse  der  Natur  kannte.  Es  gibt  kaum  ein  Buch 
aus  jener  Zeit,  in  welchem  man  nicht  Sagen  über  Virgil  erwarten 
könnte.  In  einer  Epoche,  in  welcher  die  Leichtgläubigkeit  so  all- 
gemein war,  bildete  das  niedere  Volk  nicht  allein  die  Klasse  der 
Gesellschaft,  welche  keinen  Antheil  au  der  Bildung  und  Literatur 
nimmt;  obgleich  aber  die  Zahl  der  Gebildeten  damals  weit  geringer 
als  etAva  zur  Zeit  der  Renaissance  war,  ist  doch  die  Kluft  zwischen 
Gebildeten  und  Ungebildeten  lange  nicht  so  gross,  als  in  der  mo- 
dernen Zeit. 


ZAveites  Capitel. 

Nach  Allem,  was  bis  jetzt  bemerkt  ist,  kann  es  nicht  auffallen, 
wenn  wir  die  ältesten  Nachrichten  über  den  Virgil  der  Volkssage 
aus  schriftlichen  Quellen  schöpfen  müssen,  und  zwar  gerade  aus 
solchen,  die  nicht  für  das  Volk  geschrieben,  sondern  von  Gebildeten 


Virgil  in  der  Volkssage.  221 

verfasst,  für  die  höchste  Klasse  der  Gesellschaft  bestimmt  und 
iu  lateinischer,  nicht  volksmässiger  Sprache  dargestellt  waren. 
Wir  nennen  unter  den  hier  in  Betracht  kommenden  Autoren  vor 
allen  andern  vier:  Konx*ad  von  Querfurt,  der  Kauzler  Kaiser  Hein- 
rich's  VI,  sein  Stellvertreter  in  Neapel  und  Sicilien  und  zuletzt 
Bischof  in  Hildesheim;  Gervasius  von  Tilbury,  Professor  der  Uni- 
versität zu  Bologna  imd  Marschall  des  Königreiches  j^relat;  Alexander 
Xeckam,  ein  Milchbruder  des  Richard  Löwenherz,  Professor  an  der 
Universität  zu  Paris,  Abt  von  Cirencester  und  zugleich  einer  der 
erträglichsten  lateinischen  Verskünstler  seiner  Zeit;  endlich  Johann 
von  Salisburj^  An  ihrer  Spitze  stehen  für  uns  Konrad  und  Ger- 
vasius, die  uns  nicht  nur  als  die  Ersten  ausführlich  von  den  Virgil- 
sagen  sprechen,  sondern  auch  den  neapolitanischen  Ursprung  der- 
selben andeuten,  was  unsere  Untersuchung  im  folgenden  bestätigen 
wird.  In  der  That  erwähnen  sie  jene  Sagen  als  lebend  unter  dem 
Volke,  aus  dessen  Munde  sie  dieselben  vernommen  haben. 

Konrad  spricht  von  ihnen  iu  einem  aus  Sicilien  an  seineu  alten 
Freund,  den  V^orgesetzten  des  Klosters  zu  Hildesheira,  im  Jahre 
1194  gerichteten  Briefe  ^),  in  welchem  er  seine  italienischen  Keise- 
eindrücke  beschreibt.  Dieser  Brief  ist,  abgesehen  von  seiner  Wichtig- 
keit für  unsere  Untersuchung,  auch  deshalb  ein  merkwürdiges 
Schriftstück,  weil  er  uns  den  geistigen  Standpunkt  der  gebildeten 
Reisenden  veranschaulicht,  welche  damals  Italien  besuchten.  Der 
Ruhm  dieses  Landes  regte  ihre  Einbildungskraft  so  auf,  und  der 
Art  war  das  Ideal,  was  sich  ihre  Phantasie  von  demselben  in  der 
Ferne  geschaffen  hatte,  dass  es  selbst  die  Wirklichkeit  nicht  zu 
zerstören  vermochte.  Unzählige  merkwürdige  Geschichten,  die  man 
sich  berichtete,  klassische  Erinnerungen,  die  man  sich,  wenn  auch 
nicht  immer  mit  völliger  Klarheit,  von  der  Schule  her  bewahrt 
hatte,  gingen  bunt  in  den  Köpfen  der  Reisenden  durcheinander, 
welche,  wie  in  einem  Zauberlande,  etwas  Anderes  und  mehr  als 
die  Wirklichkeit  zu  sehen  vermeinten.  Anders  wenigstens  kann 
man  sich  nicht  mehrere  grobe  Missverständnisse  des  guten  Kanzlers 
erklären,  die  er  mit  einer  unglaublichen  Ernsthaftigkeit  vorträgt. 
Wie  viel  schöne  Dinge  hat  er  nicht  in  Süditalien  gesehen,  den 
Olymp,  den  Parnass,  die  Hipokrene  !  Uud  er  ist  glücklich,  dass  sie 
innerhalb  der  Grenzen  der  deutschen  HeiTSchaft  liegen.     Nachdem 


1)  In   den   „Scriptores    rerum    brunsvicensium"   herausgegeben   von 
Leibnitz,  II,  p.  C95-G98. 


222  Virgil  in  der  Yolkssago. 

er  mit  grossem  Schauder  durch  die  Strudel  der  Scylla  und  Charybdis 
gefahren  ist,  glaubt  er  irgendwo  nach  Skyros  zu  gelangen,  wo 
Thetys  den  Achill  verborgen  hielt  ;  er  freut  sich,  in  Taormina  das 
Labyrinth  des  Minotauros  zu  sehen,  wofür  er  nämlich  das  alte 
Theater  hielt,  und  macht  die  angenehme  Ikkanntschaft  der  Saracenen, 
welche  wie  St.  Paul  die  beneidenswerthe  Fähigkeit  besitzen  sollten, 
Sehlangen  durch  ihren  Speichel  zu  tödteu.  Wenn  nuiu  bedenkt, 
dass  Mandeville  den  Felsen  gesehen  haben  will,  an  welchem  „der 
lliese  Andromeda"  angebunden  war,  so  wird  man  den  Brief  Kon- 
rad's  eben  so  wenig  wunderbar  finden,  wie  zahllose  andere  der- 
artige Erzählungen  der  damaligen  Reisenden.  Aufföllig  bleibt  dabei 
nur,  dass  der  Schreiber  jenes  Briefes  ja  nicht  als  einfacher  Dile- 
tant  der  Archäologie  oder  Tourist  nach  Italien  gekommen  war, 
sondern  als  Minister  Heinrich's  VI,  von  dem  er  den  abscheulichen 
Befehl  hatte,  die  Mauern  der  Stadt  Neapel  zu  zerstören,  was  er 
auch  pünktlich  ausführte.  Dessenungeachtet  wagt  er  ganz  getreu- 
lich den  Glauben  des  neapolitanischen  Volkes  zu  Ijerichten,  dass 
Virgil  die  Mauern  Neapel' s  gegründet  und  ihr  zum  Schutze  ein 
kleines  Abbild  der  Stadt  verliehen  habe,  das  in  einer  fest  ver- 
schlossenen Flasche  aufbewahrt  gewesen  sei.  Wenn  irgend  einer 
au  der  Wirksamkeit  dieses  Palladiums,  welches  Neapel  vor  jedem 
feindlichen  Versuche  bewahren  sollte,  zweifeln  durfte,  so  musste 
es  Konrad  sein,  da  doch  die  Stadt  von  den  Kaiserlichen  selbst 
eingenommen  wurde.  Wie  aber  kein  Mensch  tauber  ist,  als  der, 
welcher  nicht  hören  will,  so  gibt  es  auch  keinen  Gläubigeren,  als 
den,  welcher  glauben  will.  Konrad  bemerkt  nämlich,  dass  jenes 
Palladium  deshalb  nicht  wirksam  war,  weil,  wie  die  Kaiserlichen 
entdeckten,  im  Glase  der  Flasche  ein  Sprimg  war.  Man  ist  ge- 
neigt, dabei  an  einen  Scherz  zu  denken,  wenn  dies  nicht  der  Ton 
des  Briefes  und  die  andern  absurden  Märchen,  die  der  Schreiber 
mit  vollem  Ernste  erzählt,  verböten. 

Weiter  schrieben,  wie  Konrad  erzählt,  die  Neapolitaner  dem 
Vii-gil  zu:  ein  broncenes  Ross,  das,  so  lange  es  wolerhalten  blieb, 
die  Pferde  davor  bewahrte,  sich  die  Glieder  zu  brechen,  eine 
broncene  Fliege  über  einem  Festungsthore,  welche  die  Fliegen  von 
der  Stadt  verscheuchte,  und  eine  Fleischbank,  in  der  sich  das 
Fleisch  sechs  Wochen  frisch  erhielt;  da  ausserdem  Neapel  bei  den 
vielen  Krypten  und  unterirdischen  Bauten  sehr  von  Schlangen 
heimgesucht  war,  so  verbannte  Virgil  diese  Thiere  unter  die  soge- 
nannte „Porta  Ferrea".  Als  die  Kaiserlichen  die  Mauern  nieder- 
rissen, hielten  sie,    wie  Konrad    sagt,    zaudernd  vor  diesem  Thore 


Virgil  in  der  Volkssage.  223 

iiine,  weil  sie  fürchteten,  es  möchten  alle  jene  Schlangen  hervor- 
kommen. 

Sehr  lästig  musste  für  Neapel  der  feuerspeiende  Vesuv  sein, 
aber  Virgil  wusste  auch  hierfür  Abhilfe  zu  schaffen,  indem  er  ihm 
gegenüber  die  broncene  Statue  eines  Mannes  aufstellte,  der  eben 
im  Begriff  war,  seinen  Pfeil  von  der  Sehne  des  Bogens  abzu- 
schiessen.  Das  hielt  den  Berg  lange  Zeit  in  Ruhe;  als  aber  eines 
schönen  Tages  ein  Bauer,  der  sich  darüber  wunderte,  dass  jener 
so  lange  mit  gespanntem  Bogen  stehen  könnte,  daran  rührte  und 
bewirkte,  dass  der  Pfeil  abflog,  traf  dieser  den  Rand  des  Kraters, 
und  seit  der  Zeit  begann  der  Berg  wieder  Feuer  und  Rauch  zu 
speien. 

In  seiner  Sorge  für  das  Gemeinwol  richtete  Virgil  bei  Bajä 
und  Pozzuoli  öffentliche  Bäder  ein,  die  für  alle  Krankheiten  heil- 
sam waren,  und  schmückte  sie  mit  Gipsfiguren  aus,  welche  die 
einzelnen  Krankheiten  darstellten  und  die  dafür  passenden  Bäder 
anzeigten. 

Endlich  erzählt  uns  auch  Konrad,  was  man  in  Neapel  von 
den  Gebeinen  des  Dichters  glaubte:  Dieselben  sollen  sich  in  einem 
vom  Meere  umgebenen  Castell  befinden;  wenn  sie  aber  mit  der 
Luft  in  Berührung  kommen,  so  wird  es  überall  finster,  ein  Sturm 
bricht  los,  und  das  Meer  wird  aufgeregt;  „dies",  sagt  er,  „haben 
wir  selbst  gesehen  und  erfahren." 

Eine  Hauptquelle  für  die  Volkssagen  ^)  ist  Gervasius  von  Til- 
bury,  der  seine  „Otia  imperialia"')",  eine  Art  Encyklopädie,  welche 
die  absurdesten  Notizen  jeden  Kalibers  enthält,  1212  als  Unter- 
haltungsschrift für  den  Kaiser  Otto  IV.  verfasste.  Was  er  unter 
Wunderbar  versteht,  sagt  er  selbst  in  folgenden  Worten:  „Wunder- 
bar nennen  wir  die  Dinge,  welche  wir  nicht  verstehen,  obgleich 
sie  natürlich  sind;  sie  werden  wunderbar,  weil  wir  nicht  wissen, 
warum  sie  sind;"  dabei  citirt  er  die  Beispiele  des  Salamanders,  der 
iiii  Feuer  lebt,  des  Kalkes,  der  sich  m;r  im  Wasser  entzündet, 
und  fährt  dann  fort:    „Niemand  glaube,    dass    ich  Fabelhaftes   be- 


1)  Den  ganzen  darauf  bezüglichen  Theil  gab  mit  gelehrten  Be- 
merkungen heraus:  Lieb  recht  „Des  Gervasius  von  Tilbury  Otia  im- 
perialia  in  einer  Auswahl  etc."  Hannover  1856. 

2)  Bei  Leibnitz,  a.  a.  0.  I,  p.  881  ff.  Obgleich  des  Gervasius  Werk 
aus  dem  Jahre  1212  stammt,  gehen  doch  seine  Neapolitanischen  Er- 
innerungen auf  eine  frühere  Zeit  zurück.  Er  citirt  z.  B.  eine  Begeben- 
heit a.  d.  J.  1190  und  eine  andere  a.  d.  J.  1175. 


224  Virgil  ili  der  Volkssage. 

richte es  gibt  Dinge,  welche   über   den    menschlichen  Verstand 

gehen  und  darum  oft  für  nicht  wahr  gehalten  werden,  obgleich 
wir  uns  ja  auch  von  den  Dingen,  die  uns  täglich  umgeben,  keine 
Rechenschaft  geben  können."  Mit  solchen  Grundsätzen  kann  Ger- 
vasius  natürlich  weit  kommen  und  er  bedient  sich  derselben  in  der 
That  oft  genug.  Es  sei  gestattet,  hier  eine  Hanptstelle  anzuführen, 
in  welcher  er  von  Virgil  spricht;  sie  ist  von  Bedeutung,  weil  sie 
uns  nach  Neapel  versetzt  fam  Ende  des  zwölften  Jahrhunderts) 
und  uns  Gelegenheit  gibt,  die  noch  lebendige  Sage  am  Orte  ihrer 
Entstehung  zu  beobachten. 

Nachdem  auch  Gervasius  von  der  Fleischbank  und  den 
Schlangen  erzählt  hat,  fährt  er  fort:  „Ein  Drittes  habe  ich  selbst 
erfahren,  obgleich  ich  damals  noch  unverständig  war;  aber  da  mir 
ein  glücklicher  Zufall  die  Kunde  davon  gab,  wurde  ich  von  einer 
Sache  überzeugt,    die,    wenn    ich    sie   nicht   selbst  erfahren  hätte, 

Niemand    geglaubt    haben    würde In    dem  Jahre    (1190),  als 

St.  Jean  d'Acre  belagert  wurde,  befand  ich  mich  eben  zu  Salerno, 
als  sich  ein  unerwarteter  Gast   bei  mir  einstellte ....    Philipp,  der 

Sohn    des   erlauchten    Patriziers,    Grafen    von    Salisbury Nach 

einigen  Tagen  beschlossen  wir,  nach  Neapel  zu  reisen,  in  der 
Hoffnung,  dort  ein  Schiff  zu  finden,  auf  welchem  ma)i  die  Ueber- 
fahrt  (nach  England?)  ohne  viel  Zeit-  und  Geldverlust  machen 
könnte.  In  Neapel  angekommen,  begaben  wir  uns  in  das  Haus 
des  Giovanni  Pinatelli,  Archidiakon's  von  Neapel,  der  iu  Bologna 
mein  Zuhörer  im  kanonischen  Recht  gewesen  war  und  durch  seine 
Kenntniss,  seine  Werke  und  die  Geburt  eine  hohe  Stellung  inne 
hatte.  Freundlich  aufgenommen,  nannten  wir  ihm  den  Grund  un- 
serer Reise,  und  um  unseru  Wunsch  zu  erfüllen  begab  er  sich, 
während  man  das  Essen  zubereitete,  mit  uns  ans  Meer,  Es  war 
kaum  eine  Stunde  verflossen,  so  hatten  wir  für  den  gewünschten 
Preis  ein  Schiff  gemiethet,  und  auf  unser  Drängen  wird  die  Ab- 
reise beschleunigt.  Beim  Nachhausegehen  reden  wir  davon,  wie 
es  möglich  war,  dass  sich  alle  unsere  Wünsche  so  schnell  erfüllen 
konnten.  Da  sprach  der  Ai-chidiakou,  weil  er  sah,  wie  betroffen 
wir  über  den  glücklichen  Erfolg  waren:  „Saget  mir,  zu  welchem 
Thore  seid  Ihr  hereingekommen"?  Nachdem  ich  ihm  dasselbe  ge- 
nannt, sprach  der  weise  Mann:  —  »Nun,  da  begreife  ich,  dass 
Euch  das  Glück  so  günstig  gewesen  ist;  aber  sagt  mir  doch  genau, 
durch  welche  Seite  des  Thores  Ihr  gekommen  seid?"  Wir  ant- 
woi-teten:  „Als  wir  vor  dem  Thore  waren  und  eben  zur  linken 
Seite  eintreten  wollten,  ging  uns  unerwartet  ein  mit  Holz  Iteladener 


Virgil  iu  der  Volkssage.  225 

Esel  voraus,  und  um  diesem  auszuweichen  mussten  wir  auf  der 
rechten  Seite  eintreten."  —  Darauf  der  Archidiakon:  —  „Auf  dass 
Ihr  wisset,  welche  wunderbaren  Dinge  Virgil  in  dieser  Stadt  ver- 
richtet hat,  lasst  uns  zu  jenem  Thore  gehen,  und  ich  werde  Euch 
zeigen,  welch  schönes  Denkmal  Virgil  von  sich  auf  Erden  gelassen 
hat."  —  Dort  angekommen,  zeigt  er  vms  in  die  Wand  zur  rechten 
Seite  des  Thores  eingelassen,  einen  Kopf  aus  parischem  Marmor, 
von  sehr  heiterem,  lachendem  Ausdruck.  Auf  der  linken  Seite  be- 
fand sich  ebenfalls  ein  Marmorkopf,  aber  von  ganz  anderem  Aus- 
druck. An  den  Augen  erkannte  man  eine  weinende  Person,  und 
musste  an  Jemand  denken,  der  über  ein  trauriges  Ereigniss  klagte. 
„Mit  diesen  beiden  Bildern",  sagte  der  Ax-chidiakon ,  „hängt  das 
Schicksal  der  Eintretenden  zusammen,  wenn  sie  nicht  etwa  mit 
Absicht  den  linken  oder  rechten  Weg  wählen,  sondern  sich  ganz 
dem  Zufalle  überlassen:  wer  zur  Rechten  eintritt,  dem  gelingt 
Alles  sogleich  ;  wer  zur  Linken,  der  hat  Unglück,  und  kein  Wimsch 
erfüllt  sich  ihm.  Ihr  seht  also,  wie  ihr  des  Esels  wegen  rechts 
habt  gehen  müssen,  und  euch  so  eure  Eeise  nach  Wunsch  aus: 
fällt."  —  Gervasius  wäre  durch  diese  Begebenheit  beinahe  zum 
Fatalisten  geworden,  aber  er  beugt  sich  vor  Gott  und  ruft  aus: 
„Von  deinem  Willen,  Herr,  hängt  Alles  ab,  und  nichts  kann  ihm 
widerstehen." 

Einige  Virgilsagen,  die  Gervasius  erzählt,  stimmen  mit  denen 
bei  Konrad  überein,  abgesehen  von  den  Abweichungen,  die  sich 
stets  bei  mündlichen  Ueberlieferungeu  finden.  So  verdankt  die 
Fleischbank  nach  Gervasius  ihre  Kraft  einem  Stück  Fleisch,  welches 
Virgil  in  eine  Wand  derselben  einliess,  und  das  Fleisch  erhält 
sich  nicht  blos  sechs  Wochen,  sondern  unendlich  lange  frisch.  Die 
Schlangen  wurden  von  Virgil  unter  einer  Bildsäule  (sigillum)  bei 
der  Porta  Nolana  eingeschlossen.  In  Betreff  der  Fliege  und  der 
Bäder  findet  sich  keine  Abweichung.  Dagegen  ist  der  Bericht  des 
Gervasius  über  die  gegen  den  Vesuv  gerichtete  Statue  ein  an- 
derer: die  Bildsäule  stand  nach  ihm  nämlich  auf  dem  Monte 
Vergine,  hatte  keinen  Bogen  in  der  Hand,  sondern  eine  Trompete 
vor  dem  Munde,  und  damit  vermochte  sie  den  Wind  zurückzu- 
blasen,  der  den  Rauch  und  die  Asche  des  Vesuvs  auf  jene  Felder 
führte.  „Unglücklicher  Weise"^  bemerkt  Gervasius,  „sei  es,  dass 
das  Alter  sie  zerstört  hat,  oder  neidische  Menschen  sie  zerschlugen, 
erneuern  sich  jetzt  die  alten  Uebel  des  Vesuvs." 

Gervasius  spricht  zwar  weder  von  dem  Rosse  und  Palladium, 
noch  von  den  duixh  Virgil  gegi'ündeten  Mauern,  aber  er  sagt  uns 

Comparetti,  Virgil  im  Mittelalter.  15 


22G  Virgil  in  der  Volkssage. 

zuerst,  dass  Virgil  vermöge  seiner  mathematischen  Kenntniss  es 
einzurichten  verstand,  dass  in  der  Grotte  von  Pozzuoli  niemals 
ein  Hinterhalt  gelegt  werden  könne,  und  dass  er  auf  dem  Monte 
Vergine  einen  Garten  anpflanzte,  in  welchem  alle  heilkräftigen 
Kräuter  wuchsen,  z.  B.  das  Kraut  „Lucia",  welches,  wenn  es  von 
einem  blinden  Schäfchen  berührt  wird,  dieses  sehend  macht. 

Nach  Roth^J  in  seinem  interessanten  Aufsatze  über  den 
Zauberer  Virgil  wäre  auch  Alexander  Xeckam  in  Italien  gewesen 
und  hätte  die  Virgilsagen  aus  dem  neapolitanischen  Volke  geschöpft. 
Aber  Neckam  sagt  nicht  nur  nicht ,  wie  Roth  glaubt ,  dass  er  die 
wunderbare  Fliege  gesehen  habe,  sondern  er  spricht  nicht  einmal 
von  ihr.  Als  Roth  schrieb,  war  die  Abhandlung  „De  naturis  rerum" 
noch  nicht  bekannt  gemacht"),  und  Roth  konnte  noch  keine  Kennt- 
niss von  der  Abhandlung  Michel's  haben,  in  welcher  jene  auf  den 
Zauberer  Virgil  bezügliche  Stelle  ganz  wiederholt  ist^). 

Wir  wissen  von  Neckam's  Leben  so  wenig'*),  dass  man  schwer 
wird  feststellen  können,  ob  er  in  Neapel  gewesen  ist,  oder  nicht. 
In  seinem  Gedichte  „De  laudibus  divinae  sapientiae",  welches  er  im 
Alter  verfasst  hat,  spricht  er  von  seinem  Widerwillen  gegen  lange 
Reisen,  den  Schnee  des  Mont  Cenis  und  die  Pfade,  die  Hannibal 
ging;  er  sagt,  dass  er  keinen  Wunsch  habe,  nach  Rom  zu  gehen, 
und  begründet  das  in  einer  für  die  Hauptstadt  der  Christenheit 
wenig  schmeichelhaften  Weise").  Ich  glaube  also,  dass  er  nicht 
nach  Italien  gekommen  ist.  Die  Zeit  der  Abfassung  von  „De  na- 
turis rerum"  ist  ungewiss.  Es  ist  jedoch  wahrscheinlich,  dass  das 
Werk  in  dem  letzten  Jahrzehend  des  zwölften  Jahrhunderts  ver- 
fasst wurde;  denn  Neckam  lebte  von  1157 — 1217,  sein  Werk  war 


1)  „üeber  den  Zauberer  Virgilius"  in  Pfeiffer's  Germania  IV,  (1859) 
p.  257—298.  Vgl.  p.  264. 

2)  „Alexandri  Neckam  De  naturis  rerum  libri  duo",  with  the  poem  of 
the  same  author  „De  laudibus  divinae  sapientiae,"  edited  by  Thomas 
Whright.  London,  1863. 

3)  „Quae  vices  quaeque  mutatioues  et  Virgilium  ipsum  et  ejus  car- 
mina per  mediam  aetatem  exceperint  explanare  tentavit  Franciscus 
Michel."  Paris  1840.  Vgl.  p.  18  ff. 

4)  S.  Wright,  Biographia  Britannica  literaria  II,  449  ff.  und  des 
selben  Vorrede  zu  De  naturis  rerum;  vgl.  Hist.  litt,  de  la  France  XVI 11, 
521  ff.;  Du  Meril,  Poésies  inédites  du  moyen-age,  p.  169  ff. 

5)  ,,Romae  quid  facerem?  metiri  nescio,  libros 
Diligo,  sed  libras  respuo.  Roma  vale." 

P.  448. 


Virgil  in  der  Volkssage.  227 

bereits  am  Ende  des  zwölften  Jahrhunderts  bekannt,  und  er  selbst 
citirt  darin  schon  andere  grössere  Arbeiten  von  sich^j.  Daraus 
würde  folgen,  dass  die  Virgilsagen  zu  jener  Zeit  in  Europa  unab- 
hängig von  den  Schriften  des  Gervasius  und  Konrad  bekannt  ge- 
wesen sein  müssen.  Aber  wir  werden  sehen,  dass  die  Sage  schon 
früher  in  Neapel  entstanden  sein  muss ,  und  andere  Besucher  der 
Stadt  sie  weiter  verbreitet  haben. 

Drittes  Capitel. 
Nachdem  wir  somit  Neckam  von  der  Zahl  der  Schriftsteller, 
welche  die  Virgilsagen  am  Orte  ihrer  Entstehung  selbst  kennen 
gelernt,  ausgeschlossen  haben,  liegt  uns  nunmehr  ob,  die  älteste 
Beschaffenheit  jener  Sagen  zu  untersuchen,  um  ihre  wahre  Natur 
und  inneren  Gründe  zu  erkennen.  Die  Leser  werden  schon  bemerkt 
haben,  dass  Virgil  in  dieser  ältesten  Form  der  Sage  als  Beschützer 
der  Stadt  Neapel  erscheint,  und  dass  die  ihm  zugeschriebenen 
wunderbaren  Werke  zumeist  in  einem  Talisman  bestehen.  Abge- 
sehen von  den  Ueberlieferungen  des  Alterthums  so  wie  den 
während  des  Mittelalters  von  semitischen  Völkern  in  Europa  ver- 
breiteten Vorstellungen,  war  in  Süditalien  der  Glaube  an  Talis- 
mane durch  die  byzantinische  Herrschaft  gewiss  wieder  aufge- 
frischt worden.  Ganz  in  derselben  Weise,  wie  man  in  Neapel  mit 
Virgil  verfuhr,  schrieb  man  in  Konstantinopel  dem  ApoUonius  von 
Thyana  ähnliche  Werke  zu;  und  wie  natürlich,  geschah  dies  auf 
Grund  verschiedener  Monumente  der  Stadt.  So  betrachtete  man 
den  berühmten  ehernen  Dreifuss,  von  welchem  man  noch  heute 
ein  Stück  im  Hippodrom  sieht,  als  einen  Talisman.  Die  Sage^) 
berichtete,  dass,  als  Byzanz  einmal  von  Schlangen  heimgesucht 
wurde,  man  den  weisen  Apollonius  von  Thyana  hinberief,  um  die 
Plage  zu  entfernen.  Dieser  errichtete  eine  Säule  mit  einem  Adler 
darauf,  der  in  seinen  Krallen  eine  Schlange  hielt,  und  von  der 
Zeit  an  verschwanden  die  Schlangen.  Die  Säule  bestand  noch 
zur  Zeit  des  Niketas  Koniates  (fl216)^)  und  wurde  erst  zerstört, 
als    die   Stadt   in  .  die   Hände   der   Lateiner  fiel ,    die   Sage    erhielt 


1)  So  folgert  richtig  Wright  ia  seiner  Vorrede  p.  XIII,  f. 

2)  Sie  findet  sich  bei  Niketas  Koniates,  Glykas,  Hesychius  Milesius. 
Vgl.  Fr  ick.  Das  plataeische  Weihgeschenk  zu  Constantinopel,  in  den 
Jahrb.  f.  Phil.  u.  Paed.  III,  Suppl.  p.  554  ff. 

3)  De  signis  Constant,  cap.  VIII,  p.  861.  Bk. 


228  Virgil  in  der  Volkssage. 

riich  aber  nichtsdestoweniger  \mà  wurde  nun  auf  das  Fragment 
des  antiken  Dreifusses  angewandt,  welches  in  der  That  aus  drei 
in  einander  geringelten  Schlangen  besteht.  Weiter  berichtete  man 
von  Konstantinopel,  dass  Apollonius  die  Fliegen  der  Stadt  durch 
eine  broncene  Fliege,  die  Mücken  durch  eine  broncene  Mücke  und 
auf  dieselbe  Weise  die  Skorpionen  und  anderes  Ungeziefer  ver- 
trieben hatte  ^).  Dieser  Glaube  beschränkte  sich  nun  aber  nicht 
blos  auf  Neapel  und  Konstantinopel.  Im  sechsten  Jahrhundert 
finden  wir  ihn  auch  in  Paris:  „Man  erzählte  sich  dox't",  berichtet 
uns  Gregor  von  Tours,  ,,dass  die  Stadt  in  alten  Zeiten  geweiht  sei, 
um  sie  vor  Bränden,  Schlangen  und  Mäusen  zu  schützen.  Als  man 
den  Abzugskanal  des  Pont-Neuf  reinigte,  fand  man  eine  Schlange 
und  eine  Maus  von  Bronce  -)  ;  man  räumte  dieselben  weg,  und  seit 
der  Zeit  begannen  unzählige  Mäuse,  Schlangen  und  Brände  die 
Stadt  heimzusuchen^)." 

Alte  üeberlieferungen  des  Heidenthums  sprachen  gleichfalls 
von  Fliegen  und  Insecten,  die  von  überirdischen  Wesen  verfolgt 
worden  waren.  So  erzählte  man,  dass  auf  diese  Weise  die  Fliegen 
vom  Tempel  des  Hercules  im  Forum  boarium  und  von  einem  Berge 
in  Kreta  fortgescheucht  waren '^).  Solinus  berichtet^):  —  „die 
Cicaden  bei  Reggio  sind  stumm,  was  um  so  wunderbarer  ist,  weil 
diese  Thiere  in  dem  ganzen  Lande  der  Lokrer  viel  lauter  sind,  als 
irgend  wo  anders.  Granius  gibt  uns  dafür  den  Grund  an:  „Als 
nämlich  eines  Tages  Hercules  hier  schlief,  und  die  Cicaden  lärmten, 
befahl  ihnen  der  Gott,  still  zu  sein,  und  seit  der  Zeit  schweigen 
sie  auch  heute  noch."  Das  ChristeLsthum,  welches  dem  heidnischen 
Aberglauben    so   viel   Freiheiten   zugestehen   musste,   hatte    ebenso 


1)  Codin,  De  signis,  p.  30  u.  3G;  De  aedif.  Const.  p.  62;  Nie. 
Calli  St.,  Hist.  eccles.,  III,  IH. 

2)  Derartige  Talismane  wurden  oft  vergraben,  und  es  gab  eine  Zeit, 
in  der  man  dazu  lebendige  Menschen  benutzte!  Vgl.  PI  in.  Nat,  hist. 
28,  (3)  und  Lieb  recht,  Eine  altrömische  Sage  im  Philologus,  XXI, 
p.  687  ff. 

3)  Hist.  Fr.,  VIII,  33.  Vgl.  Fournier,  Hist.  du  Pont-neuf.  I,  p.  19 
ff.  S.  Liebrecht  zu  Gervasius  p.  98  ff.  und  Naude,  Apologie  des  gr. 
personnes,  acc.  de  magie,  p.  624.  Auch  Albertus  Magnus  wurde  eine 
goldene  Fliege  zugeschrieben,  welche  alle  Fliegen  verjagte.  Vgl.  P. 
Anton.  De  Tarsia,  Hist.  Cupersan.  p.  26.  (im  Thes.  Graev.  et  ßur- 
mann,  tom  IX,  p.  5). 

4)  Plin.,  hist.  nat.  X,  29  (45);  XXI,  14  (46). 

5)  Collect,  rer.  memor.  p.  40  (ed.  Mommsen). 


Viigil  in  der  Volkssage.  229 

nicht  nur  seine  Heiligen,  welche  Fliegen  und  andere  Insecteu  ver- 
bannten, wie  den  St.  Bernhard,  St.  Gottfried,  St.  Patricius 
u.  s.  w.,  sondern  sogar  Bannformeln ,  die  officiell  dafür  festgesetzt 
waren  ^). 

Es  ist  nicht  wahrscheinlich,  dass  in  Neapel  der  Glaube  an 
solche  Schutzmittel  nur  auf  Erzählungen  beruhte  und  sich  nicht 
vielmehr  auf  bestimmte  Gegenstände  bezogen  haben  sollte'"^).  Gewiss 
knüpfte  er  sich  auch  hier  an  vorhandene  Kunstwerke,  denen  das 
Volk  eine  höhere  Kraft  beimass.  Als  dann  einmal  die  Phantasie 
des  Volkes  diese  Richtung  eingeschlagen  hatte,  war  es  ein  Leichtes, 
die  Zahl  solcher  Talismane,  „die  einstmals  vorhanden  waren,  jetzt 
aber  nicht  mehr  sind",  zu  vermehren. 

Ganz  besonders  alt  unter  denselben  scheint  die  eherne  Fliege 
gewesen  zu  sein.  Schon  vor  Konrad  und  Gervasius  erwähnte 
sie  und  die  darauf  bezügliche  Sage  Johann  von  Salisbury,  der 
Neapel  und  Italien  gut  kannte;  sagte  er  doch  im  Jahre  1160,  er 
sei  bereits  zehn  Mal  über  die  Alpen  gegangen  und  habe  zwei  Mal 
Süditalien  durchwandert^). 

Dieser  geistreiche  und  wirklich  bedeutende  Mann  erzählt  uns 
folgende  Anekdote:  „Man  berichtet,  dass  Virgil  den  Marcellus,  als 
dieser  darauf  ausging,  Vögel  zu  vernichten,  gefragt  habe,  ob  er 
nicht  lieber  einen  Vogel  haben  wolle,  mit  dem  man  die  anderen 
fangen  könne,  oder  eine  Fliege,  welche  alle  anderen  Fliegen  ver- 
tilge? Marcellus  sprach  darauf  mit  Augustus,  und  dieser  entschied 
sich  dafür,  dass  man  eine  Fliege  verfertige,  welche  die  Fliegen 
von  Neapel  vertrieb.  Sein  Wunsch  wurde  erfüllt,  und  hieraus 
sieht  man,  dass  man  dem  eigenen  Vortheil  den  gemeinsamen  Nutzen 
vorziehen  muss*)." 

Die  Namen  des  Marcellus  und  Augustus,  welche  auf  diese 
Weise  mit  Virgil   in  Beziehung  gesetzt  sind,    können  vielleicht  an 


1)  Vgl.  Liebrecht  zu  Gervas.  p.  105;  Laianne,  Curiosités  des 
traditioDS  etc.  p.  218.  Menabrea,  De  l'origine,  de  la  forme  et  de 
l'esprit  des  jugements  rendus  au  moyen-age  contro  les  animaux.  Cham- 
béry,  1845. 

2)  Vgl.  Springer,  Bilder  aus  der  neueren  Kunstgeschichte  (Bonn, 
1867)  p.  19  f. 

3)  Vgl.  Schaarschmidt,  Joh.  Saresberiensis,  p.  31. 

4)  Polycraticus,  I,  4.  Geschrieben  1159.  Vgl.  Schaarschmidt, 
a.  a.  0.  p.  143. 


230  Virgil  in  der  Volkssage. 

den  volksthümlichen  Ursprung  jener  Sage  zweifeln  lassen.  Man 
darf  jedoch  nicht  vergessen,  dass  die  neapolitanische  Volkssage  grade 
den  Marcellus  als  Hen-n  von  Neapel  und  Virgil  als  dessen  Minister 
betrachtete.  In  der  „Cronica  di  Partenope"  werden  die  Schicksale  Vir- 
gil's  in  die  Zeit  versetzt,  „als  Octavian  den  Marcellus  zum  Herzog  der 
Neapolitaner  machte."  —  Der  anonyme  Verfasser  eines  satirischen 
Gedichtes  gegen  die  Geistlichen  aus  dem  Jahre  1180,  spielt  in 
folgendem  Verse  auf  die  Fliege  des  Virgil  an: 

„Formantem  (video)  aereas  muscas  Virgilium  ^).'' 
Diese  Fliege,  welche  sich  nach  Konrad  in  der  Grösse  eines  Frosches 
auf  einem  Festungsthore  befand ,  wurde  später  an  ein  Fenster 
des  Castell  Capuano  und  endlich  nach  Castell  Cicala,  das  in  der 
Folge  Castell  St.  Angelo  hiess  und  von  den  Priestern  von  Santa 
,  Chiara  zei-stört  ward,  versetzt,  wo  sie  ihre  Kraft  verlor.  Die  „Cro- 
nica di  Partenope"  citirt  sogar  einen  Alexander  (aber  gewiss  nicht 
Neckam),  welcher  sie  noch  gesehen  haben  will. 

Die  beiden  steinenieu  Köpfe  an  der  Porta  Nolana,  welche,  wie 
der  alte  neapolitanische  Schriftsteller  Scoppa  "J  sagt,  ,, Porta  di 
Forcella"  hiess,  waren  wirklich  vorhanden,  und  Scoppa  will  sie  selbst 
noch  als  Kind  an  dem  Thore  gesehen  haben,  bevor  der  König 
Alfons  VI.  von  Arragonien  dasselbe  zerstörte  und  die  Köpfe  nach 
Poggio  Reale  brachte.     Das  eherne  Pferd   befand    sich  noch   1322 


1)  Apocalypöis  Goliae  episcopi,  bei  Wright,  Early  poems  attributed 
to  Walter  Mapes,  p.  4. 

2)  Vergi.  Jo.  Scoppae  Parthenopei  in  diverses  auctores 
collectanea  ab  ipso  revisa  etc.,  Neapel,  1534  p.  20  fi.  Die  auf  Virgil  be- 
züglichen Stellen  in  diesem  Buche,  die  nicht  leicht  aufzufinden  sind,  hat 
mir  mein  Freund,  Prof.  De  Blasis  in  Neapel  mitgetheilt,  dem  ich  auch 
sonst  manche  Aufklärung  für  mein  Werk  verdanke.  —  Minieri  Riccio 
schreibt  in  seinem  „Catalogo  dei  libri  rari"  (Neapel  18G1)  Vol.  I,  p.  llOf. 
folgendes:  „Lo  Scoppa  che  scriveva  nel  giugno  1507,  distrugge  affatto 
lo  sciocco  racconto  tradizionale  del  Summonte  intorno  a  sifiatte  teste. 
Costui  riferisce  che  una  giovane  viissalla,  essendo  ricorso  ad  Isabella  di 
Aragona  per  essere  stata  violentata  dal  suo  feudatario,  Isabella  ordinò 
che  il  barone  la  sposasse,  e  dopo  le  nozze  lo  fece  decapitare;  che 
quindi,  a  memoria  di  questo  fatto,  si  fossero  collocate  in  marmo  quelle 
due  teste  su  quella  porta  della  città  che  guarda  il  mercato  dove  sofi'rì 
l'ultimo  supplizio  il  barone.  Racconto  ch'io  confutai  fin  dall'  anno  1844 
nelle  mio  Memorie  degli  scrittori  nati  nel  reame  di  Napoli 
prima  che  avessi  letto  il  libro  dello  Scoppa."  Gervasius,  der  älter  ist  als 
Scoppa,  noch  mehr,  dass  Minieri  Recht  hat. 


Virgil  in  der  Volkssagc.  231 

im  Hofe  der  Hauptkirche  Neapels.  Die  Zeit  und  die  Barbarei  der 
Leute  haben  es  später  vernichtet.  Das  Volk  erzählte  sich  jedoch, 
dass  die  Hufschmiede,  denen  das  Pferd  Schaden  zugefügt  hatte, 
ihm  den  Bauch  ausschlugen,  so  dass  es  seine  Kraft  verlor,  und 
dass  dann  die  Priester  der  Hauptkirche  1322  das  Metall  zu  Glocken 
umgiessen  Hessen.  Der  Kopf,  welcher  sich  erhalten  hat,  befindet 
sich  noch  heute  im  Nationalmuseum  von  Neapel  und  kann  uns 
eine  Vorstellung  von  den  gewaltigen  Proportionen  dieses  Kunst- 
werkes geben  ^).  Auch  die  Erzählung  von  der  Statue,  welche  Virgil 
gegen  den  vom  Vesuv  herkommenden  Wind  aufstellte,  scheint  auf 
einer  wirklich  vorhandenen  Bildsäule  zu  beruhen.  Scoppa  sagt,  dass 
sich  dieselbe  an  dem  früher  „Ventosa",  dann  „Reale'^  genannten 
Thore  befand,  „wo",  so  fügt  er  hinzu,  „noch  jetzt  einige  Marmor- 
figuren stehen^)."  Was  das  Palladium  der  Stadt  betrifft,  von 
welchem  Konrad  spricht,  und  welches  er  selbst  in  Händen  gehabt 
haben  will,  so  ist  an  dessen  Existenz,  wie  es  beschrieben  wird, 
nämlich  einem  kleinen  Abbilde  der  Stadt  in  einer  Flasche,  wol 
nicht  zu  zweifeln.  Auch  heute  noch  staunt  ja  das  Volk  derartige 
Merkwürdigkeiten  an,  und  es  ist  daher  nicht  wunderbar,  wenn 
dergleichen  im  Mittelalter  als  ein  übernatürliches  Werk  von 
wunderbarer  Kraft  erschien.  Vielleicht  ging  jener  Schatz  in  den 
Händen  der  Kaiserlichen  zu  (irunde.  Die  Legende  erfand  an  seiner 
Stelle  später  ein  Ei^),  welches  sich  in  einer  gläsernen  Flasche  be- 
fand, die  selbst  wieder  von  einem  eisernen  Gefässe  umschlossen 
war.  Diese  Form  der  Sage  entstand  jedoch  erst,  nachdem  das 
alte,  von  Wilhelm  L  1154  erbaute  und  von  Friedrich  H^.  er- 
weiterte Schloss,    „Castello  marino"    oder    „Castello    di  mare  )"  m 


1)  Vergi.  Gali  a  ni,  Del  dialetto  napoletano.  Napoli,  1779, 
p.  98  ff. 

2)  Schon  im  ó.  .Jahrhundert  wird  eine  Statue  in  Sicilien  erwähnt, 
die  das  Feuer  des  Aetna  wie  feindliche  Einfälle  abhielt.  (Olympiodor 
bei  Photius,  cod.  90).  Von  einer  ähnlicben  Statue  ist  die  Rede  im 
Leben  des  S.  Leo,  des  Thaumaturgen  und  Bischofs  von  Catania  (8.  Jahr- 
hundert). Vergi.  Acta  SS.  Febr.  Ili,  p.  224  und  Liebrecht  zu  Gervas. 
p  106  ff  u  262.  Wie  Liebrecht  richtig  bemerkt,  steht  diese  sicilische 
Legende  in  Beziehung  mit  der  alten  Sage  vom  Agrigentmer  Empedokles 
und  seiner  ehernen  Statue  in  Girgenti. 

3)  Ueber  diesen  Aberglauben  s.  Liebrecht  in  Pfeifler's  Germania 
V,  p.  483  ff.;  X,  p.  408. 

4)  So  nennen  es  Pietro  d'Eboli,  Falcone  Beneven- 
tano  u.  a. 


232  Virgil  in  der  Volkssage. 

„Castel  dell'  uovo"  verwandelt  wurde.  So  viel  ich  weiss,  lässt 
sich  die  letztere  Benennung  nicht  vor  dem  vierzehnten  Jahrhundert 
nachweisen.  In  den  Statuten  des  durch  Ludwig  von  Aujou  1352 
gestifteten  Ordens  des  heiligen  Geistes  hat  es  den  Titel  „Castellum 
ovi  incantati"  ').  Auf  die  Sage  bezieht  sich  auch  die  räthselhafte 
Inschrift  aus  dem  vierzehnten  Jahrhundert,  welche  in  der  Samm- 
lung Signorili  erhalten  ist^)  : 

„Ovo  mira  novo  sie  ovo  non  tuber  ovo, 
Dorica  castra  cluens  tutor  temerare  timeto." 
Wie  man  nun  Virgil  als  den  beschützenden  Wolthäter  Neapel's 
darstellte,  indem  man  ihm  jene  Talismane,  die  Mauern  der  Stadt, 
ja,  die  Stadt  selbst  zuschrieb,  so  führte  man  auf  ihn  auch  die 
Einrichtung  der  im  Mittelalter  wegen  ihrer  Heilkraft  berühmten 
Bäder  von  Pozzuoli  zurück^).  Der  Gebrauch,  an  den  Bädern  durch 
Inschriften^)  die  verschiedenen  Krankheiten  anzuzeigen,  besonders 
wenn  verschiedene  Quellen  neben  einander  entsprangen,  findet  sich 
auch  u.  a.  bei  den  Bädern  von  Bourbon  rArcbambault*'').  Benjamin 
von  Tudela  (fll73)  spricht'')  von  einer  Petroleuraquelle  und  sehr 
besuchten  heilkräftigen  Bädern  in  der  Nähe  von  Pozzuoli,  ohne 
jedoch  des  Virgil  zu  gedenken.  Richard  Endes  ^)  erwähnt  in  seinem 
1392  verfassten  Gedichte  die  Inschriften,  sagt  aber  nichts  von 
Virgil;  desgleichen  La  Sale  in  einer  Abhandlung   über  die  Moral, 


1)  Montf  aucon,  Mounmens  de  la  monarchie  frau(,"aise,  tom  II, 
p.  329. 

2)  De  Kossi,  Prime  raccolte  d'antiche  iscrizioni  etc.  (Roma  1852) 
p.  92.  Koth's  Versuch  (a.  a.  0.  p.  263),  die  Inschrift  auszulegen,  ist 
misslungen. 

3)  Vgl.  die  hierüber  gesammelten  Stellen  im  Thesaurus  von  Grae- 
vius  und  Burmann,  pars  IV,  tom.  IX. 

4)  Konrad  spricht  von  Bildern,  die  meisten  andern  Schriftsteller  nur 
von  Inschriften. 

5)  „A  Borbo  avio  ri.sc  bains; 

Quis  volc,  fos  privatz  o  estrains, 

S'i  pot  mout  ricamen  bainar. 

En  cascun  bain  pogras  trobar 

Escrih  a  que  avia  obs." 
Le  Roman   de  Flamenca,    public  par  P.   Meyer.   Paris,    1865,   p.  45; 
Vgl.  p.  XIII. 

6)  Itinerarium  (ed.  A  s  h  e  r),  I.  p.  42.  Vgl.  D  u  M  é  r  i  I ,  De 
Virgile  Tenchanteur,  in  seinen  „Mólanges  archéologiques  et  littéraires," 
p.  436. 

7)  Vgl.  Meyer,  Roman  de  Flamenca,  p.  XIII. 


Virgil  in  der  Volkssage.  233 

die  Le  Grand  d'Aussi^)  citirt,  Burkhard^),  dei-  jene  Oerier  1404: 
besuchte  n.  a.  Die  Volkssage  verknüpfte  mit  den  Bädern  von 
Pozzuoli  den  Namen  des  Virgil  und  die  Vorstellung,  dass  sie  für 
jede  Krankheit  heilsam  wären.  Der  wolthätige  Dichter  wollte  so 
besonders  für  die  Armen  sorgen  und  sie  von  den  Aerzten  befreien, 
„welche",  wie  die  Cronica  di  Partenope  sagt^),  „ohne  Er- 
barmen bezahlt  sein  wollen."  Aber  die  Aerzte,  welche,  wie  es  in 
einem  altfranzösischen  Gedichte  heisst,  „Ont  fait  maint  mal  et 
maint  bien^)'',  fanden  dabei  ihre  Rechnung  nicht;  die  berühmtesten 
aus  der  Schule  von  Salerno  sahen  vielmehr  ihre  Einkünfte 
dadurch  so  vermindert,  dass  sie  heimlich  die  Inschriften  der  Virgil- 
bäder  vernichteten  ;  die  Armen  wussten  also  nun  dort  keine  Heilung 
mehr  zu  finden.  Aber  der  Legende  nach  strafte  Gott  die  Aerzte, 
indem  diese  auf  ihrer  Rückkehr  von  einem  heftigen  Sturme  ergriffen 
wurden,  so  dass  sie  „zwischen  Capri  und  La  Minerva  ertranken, 
einer  ausgenommen,  welcher  das  Geschehene  erzählte^)."  Dies  Er- 
eigniss,  das  sich  bei  Gervasius  und  Konrad  erzählt  findet,  wird 
auch  von  Burkhard  und  Anderen,  die  aber  nicht  mit  der  Erzählung 
den  Namen  des  Virgil  zusammenbringen,  berichtet.  Ja,  die  Sage  gab 
sich  geradezu  das  Ansehen  der  Geschichte  und  erzählte  von  einem 
gerichtlichen  Documente  aus  dem  Jahre  1409,  in  welchem  es 
hiess  : 

Bei  Pozzuoli  habe  man  nahe  bei  dem  „Tre  Colonne^'  genannten 
Orte  die  folgende  Inschrift  gefunden: 

,,Sir  Antonius  Sulimela,  Sir  Philippus  Capogrossus,  Sir  Hector 
de  Procita,  famosissimi  medici  salernitani  supra  parvam  navim  ab 
ipsa  civitate  Salerni  Puteolos  transfretaveruut ,  cum  ferreis  instru- 
mentis  inscriptioues  babieorum  virtutum  deleverunt  et  cum  rever- 
terunt,  fuerunt  cum  navi  miraculose  submersi**)." 

Dies  also  war  die  Virgilsage  in  ihrer  ersten  Gestalt:  Virgil 
lebte    in  Neapel,    herrschte    über   die  Stadt,  oder  hatte  wenigstens 


1)  Vgl.  Du  Méril  a.  a.  0. 

2)  Joh.  ßurchardi  diari  um,  ed.  ab.  Ach.  Genare  Ili,  Flor. 
1854.  p.  317. 

3)  Cap.  29. 

4)  Vgl.  Du  Méril,  a.  a.  0. 

ò)  Cren,  di  Partenope,  cap.  29. 

6)  Vgl.  Panvinio,  Il  forest,  istr.  alle  antichità  di  Pozzuoli  etc. 
p.  100.  De  Renzi,  Storia  della  medicina  in  Italia,  II,  p.  148.  Mazza, 
Urbis  Salernitanae  historia  (im  Thes.  Graev.  et  Burm.  tom  IX,  p.  IV), 
p.  72  f.         • 


234  Virgil  iu  der  Volkssagc. 

vermöge  seiner  Beziehungen  zum  Hofe  Theil  an  der  Regierung 
und  hat  auf  jede  Weise  für  das  Gemeinwol  Neapel'«  gesorgt. 
Ausserdem  gab  es  zu  Neapel  einige  antike  oder  mittelalterliche 
Kiuistwerke,  denen  das  Volk,  wie  das  ebenso  an  anderen  Orten 
geschah,  eine  überirdische  Kraft  beimass.  Wir  haben  gesehen,  in 
welchem  Glänze  der  Weisheit  Virgil's  Name  bei  den  Gelehrten 
des  Mittelalters  strahlte.  Das  neapolitanische  Volk  konnte  daher 
bei  dieser  allgemeinen  Vorstellung,  die  man  von  seinem  Beschützer 
hatte,  jene  Talismane  auch  nur  dem  Virgil  zuschreiben. 

Einen  Zauberer  Virgil  haben  wir  aber  darum  noch  nicht  vor 
uns;  wenn  auch  Konrad  von  „ars  magica"  und  ,,magicae  iucantationes" 
spricht,  vermittelst  deren  Virgil  jene  Talismane  geschaffen  haben 
soll,  so  versteht  er  doch  darunter  nur  die  natürliche  Magie  d.  h. 
die  Kenntniss  verboi-gener  Naturgeheimuisse  ^).  Man  glaubte  da- 
mals wirklich,  dass  sich  durch  mechanische,  astrologische  und  mathe- 
matische Combinationen  Wunder  verrichten  Hessen,  ohne  dass  mau 
dabei  an  Teufelskünste  dachte  und  den,  der  die  Wunder  ver- 
richtete, verabscheute,  zumal  wenn  seine  Künste  zum  Wole  der 
Menschheit  beitrugen.  Und  so  erscheint  auch  Virgil,  wie  wir  ge- 
sehen haben,  in  der  ältesten  Form  der  Sage  in  der  That  nicht 
nur  als  ein  unschuldiger  Mensch,  sondern  sogar  als  ein  grosser 
Wolthäter,  und  kein  Schriftsteller,  welcher  die  neapolitanische  Virgil- 
sage  erwähnt,  denkt  dabei  an  Teufelskunst.  Gervasius  schreibt 
die  vLrgilischen  Werke  einer  „ars  mathematica"  oder  „vis  mathesis" 
zu.  Boccaccio,  zu  dessen  Zeit  die  Sage  schon  ihren  Charakter  sehr 
verändert  hatte,  sagt,  dass  Virgil  jene  Werke  zu  Neapel  „con 
l'aiuto  della  strologia"  geschaffen  habe,    und   nennt  ihn  einen,  so- 


1)  Die  Wunder  des  Apollonius  von  Tbyana  schreibt  Pseudo-Justin 
(5.  Jahrh.)  „der  tiefen  Kenntniss  der  Naturkräfte  und  ihren  Antipathien 
und  Sympathien  zu."  Vgl.  Roth,  a.  a.  0.  p.  280.  Gewiss  war  es  nicht 
die  Schwarzkunst,  welche  Albertus  Magnus  ausgeübt  haben  will:  „cuius 
etiam  veritatem  nos  ipsi  sumus  experti  in  magicis."  Oper.  t.  III.  (Lugd. 
1625)  p.  23.  In  Betreff  des  von  ihm  geschaffenen  sprechenden  Kopfes 
sagt  ein  alter  italienischer  Schriftsteller  :  ,,e  non  fu  per  arte  diabolica 
ne  per  negnomanzia  però  che  gli  grandi  intelletti  non  si  dilettano  di 
cioè;  poiché  è   cosa   da  perdere  l'anima   e'I    corpo,   che  è    vietata   tale 

arte  dalla  fede  di  Cristo."    Er  schuf  ihn  „per  la  sua  grande  sapienza 

a  sì  fatti  corsi  di  pianeti  e  calcola  così  di  ragione  ch'ella  favellava." 
Rosario  della  vita  di  Matteo  Corsini  bei  Z  am  brini,  Libro  di  novelle 
antiche,  p.  74. 


Virgil  in  der  Volkssage.  235 

lenissimo  strologo^)",  ein  Gedanke,  dem  wir  ja  schon  im  Alter- 
thum  bei  Servius  u.  A.  begegnet  sind. 

Das  Volk  zog  also  in  Neapel  nur  die  thatsächlichen  Folge- 
rungen aus  der  Vorstellung,  welche  sich  bei  den  Gelehrten  der 
Zeit  von  Virgil  gebildet  hatte,  und  darum  konnten  auch  diese 
wiederum  an .  derartigen  Erzählungen  keinen  Anstoss  nehmen.  Da 
jedoch  jene  Vorstellung  ganz  allgemein  verbreitet,  die  Sage  selbst 
aber  nur  in  Neapel  entstanden  war,  fragt  es  sich,  wie  es  möglich 
war,  dass  Virgil  den  Neapolitanern  so  bekannt  war,  dass  man  ihn 
zum  Urheber  der  Talismane,  an  die  man  glaubte,  machen  konnte. 
Dies  also  wäre  die  einfachste  Form,  auf  welche  sich  die  Frage 
nach  dem  Ursprünge  der  Sage  zurückführen  lässt.  Ehe  wir  nun 
aber  an  die  Beantwortung  derselben  gehen,  ist  es  uöthig,  eine 
Thatsache  zu  erwähnen,  die  wir  nicht  übergehen  können. 

Gervasius  von  Tilbury  erzählt,  wie  folgt:  „Zu  den  Zeiten  des 
Königs  Roger  von  Sicilien  stellte  sich  demselben  ein  englischer 
Gelehrter  vor  und  bat  den  König  um  eine  Gnade.  Dieser,  ein  er- 
lauchter und  ausgezeichneter  Mann,  antwortete  :  —  Bitte  du  selbst 
um  das,  was  du  willst,  ich  werde  es  dir  geben.  —  Es  war  aber 
jener  ein  grösser  Schriftsteller,  wol  bewandert  im  Trivium  und 
Quadrivium,  dazu  ein  eifriger  Physiker  und  Astronom.  Er  sagte 
also  dem  Könige,  dass  er  nicht  ein  Vergnügen  für  den  Augenblick 
suche,  sondern  etwas,  das  dem  Menschen  gering  erscheine,  und  bat 
um  die  Gebeine  Virgil's,  wo  sie  sich  auch  in  des  Königs  Reiche 
finden  sollten.  Der  König  willfahrte  ihm,  und  der  Gelehrte,  mit 
königlichem  Handschreiben  versehen,  begab  sich  nach  Neapel,  wo 
ja  Virgil  seine  Kraft  in  so  vielen  Stücken  bewiesen  hatte.  Er  gab 
die  Briefe  ab,  und  die  Neapolitaner,  welche  das  Grab  Virgil's 
nicht  kannten,  also  auch  die  Erfüllung  des  Wunsches  für  unmög- 
lich hielten,  versprachen  ihm  behilflich  zu  sein.  Endlich  gelang 
es  dem  Gelehrten  durch  seine  Kunst  die  Gebeine  im  Grabe  aufzu- 
finden, und  zwar  im  Innersten  eines  Berges,  wo  sie  auch  nicht 
die  geringste  Spalte  verrathen  konnte.  Man  grub  nun  an  diesem 
Orte  nach  und  stiess  nach  langer  Anstrengung  auf  ein  Grab,  in 
welchem  man  die  wolerhaltene  Leiche  Virgil's  und  ausser  anderen, 
auf  die  Studien  des  Dichters  bezüglichen  Schriften  unter  seinem 
Kopfe  ein  Buch,  mit  dem  Titel  „ars  notoria^/'   fand.  Man  räumte 


1)  Commento  sopra  Dante.  Inf.  I,  70. 

2)  Die  von  Evasmus  verspottete   ars  notoria  ist  keine   Teufelskunst, 
sondern  gründet  sich  auf  praktische   Beobachtungen.   Cornelius  Agrippa 


236  Virgil  in  der  Volkssage. 

die  Gebeine  und  die  Asche  weg  und  der  Gelehrte  nahm  da«  Buch. 
Inzwischen  erinnerten  sich  aber  die  Neapolitaner  an  die  Wolthaten, 
welche  Virgil  der  Stadt  erwiesen  hatte,  und  aus  Furcht,  dass 
Neapel,  der  Gebeine  des  Dichters  beraubt,  zu  Grunde  gehen  würde, 
beschlossen  sie,  sich  dem  königlichen  Befehle  zu  widersetzen,  Sie 
glaubten,  dass  Virgil  sein  Begräbuiss  eben  deshalb  im  Innersten 
eines  Berges  angeordnet  habe,  damit  seine  Werke  durch  das  Fort- 
räumen der  Gebeine  nicht  ihre  Kraft  verlören.  Der  Herzog  von 
Neapel  Hess  also  durch  mehrere  Bürger  die  Gebeine  in  einen  Sack  thun 
und  diesen  nach  Castel  di  Mare  bringen,  wo  sie,  hinter  eisernen 
Riegeln  verwahrt,  den  Schaulustigen  gezeigt  werden  konnten.  Man 
fragte  den  Gelehrten,  was  er  mit  den  Gebeinen  habe  thun  wollen, 
und  dieser  antwortete,  dass  er  durch  gewisse  Formeln  aus  ihnen 
die  ganze  Kunst  Virgil's  habe  erlernen  wollen:  er  wäre  schon  zu- 
frieden gewesen,  wenn  er  sie  nur  auf  vierzig  Tage  gehabt  hätte. 
Er  begnügte  sich  indessen  mit  dem  Buche  und  ging  von  dannen. 
Wir  selbst  haben  mit  Hilfe  des  hochwürdigen  Giovanni  da  Napoli  ') 
zur  Zeit  des  Papstes  Alexander  einige  Auszüge  aus  diesem  Zauber- 
buche zu  sehen  bekommen  und  uns  von  der  Wirksamkeit  desselben 
überzeugt." 

Diese  merkwürdige  Erzählung  findet  sich  bei  Andrea  Dan- 
dolo^) (1330)  und  in  der  „Cronica  di  Partenope"  wieder,  aus 
welcher  sie  auch  Andrea  Scoppa  geschöpft  hat.  Ausser  Gervasius 
spricht  nur  noch  sein  Zeitgenosse  Johann  von  Salisbury  in  seinem 
„Polycraticus"  von  einem  ähnlichen  Factum.  Er  sagt,  dass  er 
einen  gewissen  Ludwig  gekannt  habe,  der  sich  lange  in  Apulien 
aufhielt  und  „nach  langen  Fasten  und  Kasteiungen  endlich  als 
Frucht  seiner  Anstrengungen  nach  Gallien  zwar  nicht  den  Geist, 
aber  doch  die  Gebeine  Virgil's  brachte^)."  Es  ist  nicht  unwahr- 
scheinlich, dass  es  sich  hier,  wne  Roth  glaubt,  um  dieselbe  Person 
handelt,  von  der  Gervasius  spricht;  denn  Johann  von  Salisbury 
war  zur  Zeit  des  Königs  Roger  in  Neapel,  und  der  Ausdruck  „in 
Gallias"  schliesst  nicht  aus,  dass  der  Mann  ein  Engländer  (Anglus) 
war*),    als    welchen    ihn  Gervasius    bezeichnet.     Ich    kann    jedoch 


schrieb  ein  Buch  darüber.  S.  Liebrecht,  ad  Gervas.  p.  161.  Vgl. 
Roth,  a.  a.  0.  p.  294.  Man  vergi,  auch  den  Virgilius  Cordubensis 
darüber. 

1)  Er  starb  nach  Leibnitz  1175. 

2)  Muratori,  Scriptores  rer.  ital.,  XII,  p.  283. 

3)  Polycraticus,  2,  23. 

4)  Vgl.  Roth,  a.  a.  O.  p.  295. 


Virgil  in  der  Volkssage.  237 

nicht  mit  Koth  übereinstimmen,  wenn  er  in  dieser  Begebenheit 
den  Hauptkeim  für  die  Entstehung  der  neapolitanischen  Virgilsagen 
erblickt. 

Die  Erzählung  des  Gervasius  setzt  das  Vorhandensein  der 
Legende  voraus.  Es  ist  gar  nicht  unmöglich,  dass  sich  ein  ex- 
centrischer  Engländer  in  den  Kopf  gesetzt  habe,  die  Gebeine  Vir- 
gil's  zu  bekommen,  um  daraus  durch  eine  magiscAe  Operation 
jenen  Schatz  verborgener  Weisheit  zu  erlangen.  Der  Umstand  je- 
doch, dass  die  Neapolitaner  die  Auslieferung  verweigerten,  so  wie 
der  Grund  dieser  Weigerung  selbst,  beweist,  dass  Virgil's  Ruhm 
wegen  seiner  zum  Schutze  der  Stadt  aufgeführten  Werke  und  seiner 
dort  aufbewahrten  Gebeine  schon  in  Neapel  verbreitet  war.  Dass 
man  das  Grab  Virgil's  entdeckte  und  dies  so  grossen  Eindruck  auf 
die  Neapolitaner  gemacht  haben  soll,  glaube  ich  bezweifeln  '  zu 
müssen,  wenn  auch  Gervasius  sagt,  die  Neapolitaner  hätten  das 
Grab  vorher  nicht  gekannt.  Wenn  man  an  die  ungeheure  Berühmt- 
heit und  Autorität  Virgil's  im  Mittelalter  denkt,  so  müsste  jene 
Entdeckung  des  Grabes  nicht  allein  auf  die  Neapolitaner,  sondern 
auf  die  ganze  literarische  Welt  den  grössten  Eindruck  gemacht 
haben;  und  doch  spricht  ausser  Gervasius  kein  einziger  von  der- 
selben. Sieht  man  genauer  zu ,  so  scheint  es  vielmehr,  dass  die 
Erzählung  von  dem  Engländer  bei  Johann  von  Salisbury  mit  einer 
Legende  verknüpft  worden  ist,  deren  Zweck  es  war,  über  einen 
Sack  mit  menschlichen  Gebeinen  in  Castel  di  Mare,  in  welchen 
man  die  Gebeine  Virgil's  zu  besitzen  glaubte,  Aufschluss  zu  geben, 
und  zugleich  irgend  ein  Buch  über  Geheimkünste  accreditiren  sollte, 
welches  Gervasius  gesehen  haben  will  und  von  dem  er  sagt,  es 
stamme  aus  dem  Grabe  Vii-gll's.  Wir  dürfen  nicht  vergessen,  dass 
Johann  von  Salisbury  von  jenem  Ludwig  wie  von  einer  historischen 
Persönlichkeit  spricht ,  die  er  kennt  und  über  die  er  sich  lustig 
macht,  während  Gervasius,  der  einige  Decennien  später  schrieb, 
von  ihm  mehr  wie  von  einer  sagenhaften  Persönlichkeit  spricht, 
und  Johann  von  Salisbury  sogar  schon  die  Geschichte  von  der 
broncenen  Fliege  kennt,  woraus  folgt,  dass  man  in  Neapel 
ganz  unabhängig  von  den  thörichten  Versuchen  jenes  Ludwig  von 
Virgil's  Wunderwerken  redete.  Es  ist  also  nicht  möglich,  in  jener 
Geschichte  des  Gervasius  das  Hauptmotiv  für  die  Entstehung  der 
Virgilsage  zu  finden^). 


1)  Derselben  Meinung   ist  auch  Schaarschmidt,  Johannes   Sares- 
beriensis  nach  Leben  etc.  p.  99. 


238  Virgil  in  der  Volkssage. 

Es  steht  femer  ganz  fest,  dass  man  schon  vor  den  Zeiten 
Roger's  von  dem  Protectorate  Virgils  über  Neapel  und  seiner 
Regierung  daselbst  zu  erzählen  wusste.  Alexander  von  Telese 
(i.  J.  1136)  sagt  ausdrücklich,  dass  Virgil  wegen  seines  Distichon's 
„Nocte  pluit  tota  etc."  von  Augustus  Neapel  und  die  Provinz  Ca- 
labrien  zu  Lehen  erhielt'). 

Vermögen  ^vir  also  aus  der  Erzählung  des  Gervasius  nicht 
die  Folgerungen  wie  Roth  zu  ziehen,  so  gestehen  wh-  doch  anderer- 
seits zu,  dass  sich  aus  dem  Vorhandensein  des  Grabes  Virgil's  in 
Neapel  ganz  besonders  das  Fortleben  seines  Ruhmes  unter  dem 
Volke  erklärt.  Auf  die  Authenticität  dieses  vermeintlichen  Virgil- 
grabes  kömmt  es  dabei  nicht  an  -).  Historisch  beglaubigt  ist,  dass 
Virgil  seinem  Wunsche  gemäss  in  Neapel  begraben  wurde  und 
zwar,  wie  es  in  der  Biogi"aphie  heisst,  auf  der  Strasse  nach  Puteoli 
in  der  Nähe  des  zweiten  Meilensteines^),  Vermuthlich  ging  diese 
Notiz  aus  der  von  Sueton  verfassten  Biographie  (98  — 138  n.Chr.) 
in  seiner  Schrift  „De  viris  illustribus"  in  die  Lebensbeschreibung 
Virgil's,  die  man  dem  Donat  zuschreibt,  über;  sie  wird  aber  auch 
durch  andere  Nachrichten  bestätigt,  welche  beweisen,  dass  Virgil's 
Grab  eine  Hauptzierde  Neapel' s  war  und  wie  der  Tempel  eines 
Gottes  von  den  Reisenden  besucht  wurde.  Silius  Italiens  war  ge- 
wöhnt, dasselbe  wie  ein  Gotteshaus  zu  betreten,  „adire  ut  templum", 
Statins  nennt  es  geradezu  einen  „Tempel",  und  noch  im  fünften 
Jahrhundert  wird  es  von  Sidonius  Appollinaris  „ein  Ruhm  Neapel's" 


1)  Bei  Muratori,  Script,  rer.  it.  V.  p.  637,  644.  Der-selbe  Autor 
hält  auch  Neapel  für  unbezwingbar  und  scheint  dies  dem  Virgil  zuzu- 
schreiben: ,,Adeo  ipsa  inexpugnabilis  constat  ut  nisi  famis  periculo 
coartata  nuUatenus  comprehendi  queat.  Nempe  buiusmodi  urbis  dominus 
olim,  Octaviano  Augusto  annuente,  Virgilius  maximum  poetarum  extitit. 
Vgl.  Roth  a.  a.  0.  p.  288  ff. 

2)  Es  ist  auffallend,  dass  sich  von  den  bedeutenderen  Archä.ologen 
bis  heute  Niemand  ernstlich  mit  dem  Grabe  Virgils  beschäftigt  hat.  Im 
allgemeinen  zweifelt  man  an  der  Authenticität  des  seit  einigen  Jahr- 
hunderten dafür  geltenden  Grabes.  Peignot,  Recherches  sur  le  tombeau 
de  Virgile  (Dijon  1S40,  ist  durchaus  ohne  Bedeutung.  Die  Angabe  in  der 
Biographie  ist  aber  ganz  bestimmt  und  glaubwürdig  und  nach  derselben 
wären  etwaige  Ausgrabungen  vorzunehmen,  welchen  jedoch  Untersuchungen 
über  die  Topographie  des  alten  Neapels  vorhergehen  müssten. 

3)  „Ossa  eins  Neapolim  translata  sunt  tumuloque  condita,  qui  est 
via  puteolana  intra  lapidem  secundum."  Donat.  Vit.  Vergib  p.  63. 


Virgil  in  der  Volkssage.  239 

genannt^).  Es  versteht  sich  daher  von  selbst,  dass  das  Volk, 
welches  diesem  Cultus  zuschaute,  Virgil's  Andenken  bewahren 
musste,  wenn  uns  auch  für  das  älteste  Mittelalter  davon  nicht 
bestimmte  Nachrichten  überliefert  sind,  aus  dem  einfachen  Grunde, 
weil  damals  die  Schriftsteller  für  dergleichen  kein  Interesse  hatten. 
Nach  dem,  was  wir  jedoch  über  den  nie  erloschenen  Ruhm  des 
Dichters  wissen,  können  wir  schliessen,  dass  das  neapolitanische 
Volk  viele  Jahrhunderte  hindurch  an  die  Nachfrage  aller  Reisenden 
nach  Virgil's  Grab  gewöhnt  sein  musste. 

Es  ist  also  nicht  unmöglich,  dass  die  Volkssage  von  dem 
Grabe  Virgil's  als  einer  Bürgschaft  für  das  Wol  der  Stadt, •  so 
wie  die  von  Konrad  mitgetheilte  Idee,  dass  Sturm  und  üngewitter 
entstünde,  sobald  die  Gebeine  des  Dichters  aus  dem  Grabe  ge- 
nommen würden,  von  sehr  altem  Datum  sind.  Bereits  in  den  ältesten 
Virgilsagen,  z.  B.  in  der  von  der  heiligen  Unverletzlichkeit  der 
Grotte  von  Puteoli,  unweit  welcher  sich  noch  heute  das  sogenannte 
Grab  Virgil's  befindet,  spielt  letzteres  eine  Rolle.  Aehnliche  Sagen 
waren  schon  im  Alterthume  gewöhnlich;  so  sahen  u.  a.  die  Athener 
in  dem  Besitze  der  Gebeine  des  Oedipus  ein  Glück  für  die  Stadt, 
und  von  dem  Hügel,  in  welchem  Antäus  begraben  sein  sollte,  hiess 
es,  dass,  wenn  man  davon  etwas  Erde  wegnehme,  es  augenblicklich 
zu  regnen  anfange^). 

Der  Dichter,  welcher  bei  Mantua  geboren  war  und  in  Neapel 
begraben  sein  wollte,  musste  diese  Stadt  wol  sehr  lieb  haben.  Wir 
wissen,  dass  er  lange  dort  im  Genüsse  der  Bequemlichkeiten,  die 
ihm  sein  hoher  Beschützer  verschafft  hatte,  lebte  und  in  jener 
wundervollen  Gegend  einen  grossen  Theil  seiner  unsterblichen 
Dichtungen  vollendete.  Aus  seiner  Biographie  geht  hervor,  dass 
seine  sanfte  und  bescheidene  Persönlichkeit  den  Neapolitanern 
bekannt  war,  und  diese  den  Dichter  sehr  charakteristisch  „Par- 
thenias"   nannten^).     Ich   zweifle   ferner    nicht    daran,    dass    sein 


1)  „Non  quod  Mantua  contumax  Homero 
adiecit  latialibus  loquelis, 

aequari  sibimet  subinde  livens 
busto  Parthenopem  Macroniano." 

Sid.  Apoll.  Carni.  IX. 

2)  Pomp.  Mela,  De  Chorogr.  III.  106  (ed.  Parthey).   Vgl.  auch  Raw- 
linson,  ad  Herodot.  I,  66. 

3)  „  ....  et  ore  et  animo  tam  probum  constat,  ut  Neapoli  Parthenias 
vulgo  appellatus  sit."  Donat.  Vit.  Verg.  p.  57. 


240  Virgil  in  der  Volkssage. 

Name  auch  an  einigen  Landgütern,  die  er  hier  besass,  haften  ge- 
blieben sein  wird. 

Man  denke  z.B.  an  jenen  Garten  des  Virgil,  den  er  der  Sage  nach 
auf  dem  Monte  Vergine  hatte,  und  welcher  nach  Gervasius  alle 
möglichen  Heilkräuter  enthielt!  Wie  ich  aus  verschiedenen  Docu- 
menten  ersehe,  hiess  der  Berg  früher  „Mons  Virginis",  „Mons 
Virginum"  und  „Mons  Virgilianus".  Giovanni  Nusco,  Verfasser  der 
Biographie  des  Wilhelm  von  Vercelli^)  und  Stifter  der  Congre- 
gation  aus  der  Kirche  von  Monte  Vergine,  sagt,  dass  der  Berg 
früher  „Mons  Virgilianus"  geheissen  habe,  und  bedient  sich  auch 
sel8st  dieser  Benennung.  Roth^)  läugnet  das  und  bemerkt,  dass 
man  von  dem  Berge  in  einigen  Documenten,  die  aus  der  Zeit  des 
Heiligen  stammen,  sagt  „Mons  qui  Virginis  vocatur"  und  von  der 
Kirche  „S.  Maria  Montis  Virginis".  Dass  aber,  als  man  den  Namen 
des  Berges  änderte,  die  einen  den  älteren  Namen  beibehielten,  die 
anderen  sich  des  neueren  bedienten,  ist  gar  nicht  wunderbar.  Auch 
der  Verfasser  der  „Vita  des  h.  Wilhelm"  war  Zeitgenosse  des 
Heiligen,  und  wurde  1132^)  unter  die  Priester  von  Monte  Vergine 
aufgenommen,  zehn  Jahre  vor  Wilhelm's  Tode  und  sechs  Jahre 
nach  Einweihung  der  Kirche.  Daran  z^'eifeln  wollen,  dass  er  sich 
bei  seiner  Benennung  „Mons  Virgilianus"  an  eine  örtliche  Ueber- 
lieferung  hielt,  heisst  die  Sache  sich  mit  Gewalt  leicht  machen, 
um  so  mehr,  wenn  man  bedenkt,  dass  der  Verfasser  als  Mitglied 
der  Congregation  gewiss  den  Titel  „Mons  Virginis  Mariae"  dem 
heidnischen  Titel  „Mons  Virgilii^'  vorgezogen  haben  würde,  Avenn 
nicht  die  Ueberlieferung  stärker  gewesen  wäre.  Wenn  auch  einige 
Frommen  in  ihren Scheukungsacten  von  „Mons  Virginis"  sprechen, 
so  wurde  die  alte  ueberlieferung  doch  noch  1197  sogar  vom 
Papste  Coelestinus  HI  anerkannt,  welcher  in  einer  Bulle  jenes 
Kloster  mehr  als  einmal  „Monasterium  sacrosanctae  Virginis 
Mariae  de  Monte  Virgilü"  nennt*).  Da  aber  eine  Oertlichkeit  sehr 
wol  mehrere  Namen  zu  gleicher  Zeit  haben  kann,  so  ist  es  mög- 
lich, dass  jener  Virgilberg,  bevor  man  ihn  nach  der  Jungfrau  Maria 
nannte,  auch  „Mons  Virginum"  hiess,  wie  wir  aus  Gervasius  sehen. 
Der   hier   vermuthlich   aus   der  Heidenzeit   vorauszusetzende  Cultus 


1)  Acta  Sanctorum  Juu.  V,  p.  114  fi". 

2)  a.  a.  0.  p.  287. 

3)  Acta  SS.  Jun.  V,  p.  112  d. 

4)  Casto,   La  vera  istoria   dell'   origine    e    delle  cose    notabili   di 
Monte  Vergine,  p.  123  flf. 


Virgil  in  der  Volkssage.  241 

der  Vesta  und  Cybele  würde  diese  Benennung  vollkommen  er- 
klären ^).  Jedenfalls  kann  der  Name  „A' irgilberg",  an  welchem 
gar  nicht  zu  zweifeln  ist,  und  die  neapolitanische  wie  die  Local- 
Sage^),  die  hier  einen  Garten  des  Virgil  annimnät,  gar  nicht  besser 
erklärt  werden,  als  durch  eine  Besitzung  Virgil's  an  diesem  Orte. 
Das  lässt  sich  jetzt  freilich  nicht  mehr  positiv  beweisen,  wol  aber 
lässt  sich  beweisen,  dass  man  kaum  ein  Jahrhundert  nach  dem 
Tode  des  Dichters  von  seinen  hier  befindlichen  Besitzungen 
sprach. 

Aulus  Gellius'^j  sagt  nämlich,  er  habe  in  einem  Commentare*) 
die  Notiz  gefunden,  dass  die  Verse: 

„Talern  dives  arat  Capua  et  vicina  Vesevo 
Ora  jugo^  etc." 

von  Virgil  erst  mit  der  Lesart  „Nola  jugo"  veröffentlicht  worden 
seien,  dass  aber  der  Dichter  später,  nachdem  er  die  Nolaner  ver- 
gebens um  die  Erlaubniss  ersucht  hatte,  Wasser  auf  sein  nahes 
Landgut  leiten  zu  dürfen,  aus  Aerger  über  den  abschläglichen  Be- 
scheid der  Nolaner  den  Namen  ihrer  Stadt  aus  seinen  Versen 
vertilgt  und  das  Wort  „ora"  an  Stelle  derselben  gesetzt  habe. 
Gellius  sagt  freilich,  dass  er  nicht  für  die  Wahrheit  der  Erzählung 
bürgen    wolle;    es   genügt    aber   zu  wissen,    dass  ein  Schriftsteller 


1)  Die  locale  Ueberlieferung,  die  alle  Historiker  von  Monte  Vergine 
erwähnen,  meldete,  dass  der  Berg  früher  nach  einem  Heiligthume  der 
Cybele  benannt  wurde.  Auch  die  Benennung  ,,Vestaberg"  leitete  ma« 
von  einem  Tempel  der  Vesta  am  Fusse  des  Berges  ab,  Giordano,  Ci'O- 
niehe  di  Monte  Vergino,  p.  27,  38,  45. 

2)  Eine  alte  Hds.  von  Monte  Vergine  aus  dem  13.  Jahrh.  mit  der 
Vita  des  h.  Guglielmo  sagt:  ,,Nuncupatur  Mons  Virgilianus  a  quibusdam 
operibus  et  nialeficiis  Virgilü  niantuani  poetae  inter  latiuos  principia; 
construxerat  enim  hie  maleficus  daemonum  ciiltor  eorum  ope  bortulum 
quemdam  omnium  genere  herbarum  cunctis  diebus,  et  temi)oribus,  maxime 
vero  aestatis  poUentem,  quarum  virtutes  in  foliis  scriptas  monachi  qui- 
dam nostri  fide  digni  fratres,  qui  praedictum  montem  inhabitant,  apertis 
vocibus  testantur,  saepe  cabu  in  praedictum  hortum,  non  semel,  dum 
per  juga  montis  solatìi  causa  errarent,  iucidisse,  nihilomus  intra  hortum 
huiusmodi  maleficio  afiectos  esse,  ut  nec  herbas  tangere  valuisse,  nec 
qua  via  inde  egressi  sint,  cognovisse  retulerunt.  Deinde,  mutato  nomine 
Virgilii,  Virgineus  appellatur  a  semper  Virgine  Maria,  cni  templum  po- 
situm  est."  Bei  Giordano,  Croniche  di  Monte  Vergine  p.  92. 

3)  Noct.  att.  Il,  213.  Vgl.  Serv.  ad  Aen.  Yll,  740. 

4)  Kretschmer  (De  A.  Geli.  font.  p.  77)  und  Merckliu  (N.  Jahr- 
bücher f.  Philol.  1861  p.  722)  denken  an  einen  Virgilcommentar  des 
Hygin. 

Comparetti,  Virgil  im  Mittelalter.  ]Q 


242  Virgil  in  der  Volkssage. 

des  zweiten  Jahrhunderts,  gestützt  auf  ältere  Gewührsniüuner,  ganz 
ausdrücklich  von  Besitzungen,  welche  Virgil  in  der  Gegend  von 
Nola  gehabt  haben  soll,  redet,  was  auch,  da  Virgil  so  oft  hier 
verweilte,  nichts  weniger  als  unwahrscheinlich  ist^).  Jetzt  verlegt 
die  Sage  den  wunderbaren  Garten  nach  Avella^)  an  die  Abhänge 
des  Monte  Vergine,  also  ganz  in  die  Nähe  von  Nola  und  verknüpft 
sich  auf  diese  Weise  nach  zehn  Jahrhunderten  mit  der  Nachricht 
des  Gellius,  deren  sie  sich  zu  ihrer  Erklärung  bedient^).  Auch 
das  ist  nicht  unmöglich,  dass  die  Sage  von  Heilkräutern  sich  auf 
einen  hier  wirklich  einmal  vorhandenen  derartigen  Garten,  wie  wir 
solche  öfter  im  Mittelalter  finden,  bezieht  ■*). 

Ich  habe  mich  absichtlich  bei  diesem  Gegenstande  länger  auf- 
gehalten, weil  sich  daraus  beweisen  lässt,  wie  der  Name  Virgil's 
in  der  Ueberlieferung  des  Volkes  in  jenen  Gegenden  fortwährend 
erhalten  blieb.  Viele  Sagen  aus  dem  Mittelalter  zeigen  ganz  den- 
selben Charakter.  In  dunklen  Zeiten  entstanden,  brauchen  sie 
lange  Zeit  zu  ihrer  Entwickelung  und  erscheinen  dann  mit  einem 
Male  in  der  Literatur  in  vollkommener  Gestalt.  Bei  der  Virgil- 
sage  sind  wir  im  Stande,  aus  der  Geschichte  ihren  ersten  Ursprung 
und  den  Eindruck,  welchen  Virgil's  Persönlichkeit  auf  die  Nea- 
politaner machte,  zu  erkennen,  infolge  dessen  nach  Jahrhunderten 
Virgil  im  Schimmer  der  Sage  ganz  verändert  erscheint.  Er  ist 
nicht  mehr  der  Augusteische  Dichter,  der  herrlichste  aller  römischen 


1)  So  meint  auch  Ribbeck,   Prolegg.  p.  25. 

2)  Die  Cronica  di  Partenope  versetzt  ihn  oberhalb  AvoUa's  „appresso 
Mercholiano".  Mercogliano  liegt  jedoch  Avellino  näher  als  Avella,  und 
deshalb  meint  vielleicht  Roth  (a.  a.  0.  p.  220)  es  müsse  Avellino  anstatt 
Avella  gelesen  werden.  Aber  S coppa  sagt  ausdrücklich:  „supra  Abellam 
nunc  Avellani  quam  Virgilium  in  Georg,  maliferam  . . .  nuncupat."  Gior- 
dano (Cron.di  Monte  Vergine,  p.85  ff.)  behauptet  sogar,  dass  Virgil  in  Avella 
seinen  Sommeraufenthalt  nahm.  Natürlich  konnte  die  Sage  die  Localität 
eines  solchen  Wundergartens  nicht  genau  bestimmen.  In  der  erwähnten  Hds. 
heisst  es,  dass  einige  Mönche  ihn  gesehen  haben  wollten,  da  sie  zufällig 
iu  ihn  hiueiugeriethen  und  dann  nicht  wussten,  wie  sie  herauskommen 
sollten.  Dasselbe  erzählten  andere  Mönche  im  17.  Jahrhundert,  und 
Giordano  verzeichnet  .sogar  ihre  Namen!  Cron.  di  Monte  Vergine, 
p.  92  ff. 

3)  Bemerkenawerth  ist,  dass  die  beiden  neapolitanischen  Sagen,  von 
den  Schlangen  und  den  marmornen  Köpfen  sich  auf  das  Nolanische  Thor 
beziehen. 

4)  Vergi,  das  Epigramm  370  der  Anthologia  latina  (Meyer):  „De 
horte  domini  Oageis,  ubi  omnes  herbae  mediciuales  plantatae  sunt." 


Virgil  in  der  Volkssage.  243 

Poeten,  sondern,  was  ja  die  Neapolitaner  mehr  interessii-en  musste, 
ein  Mann  von  umsichtigem  Geiste,  der  die  Stadt  Neapel  in  be- 
neidenswerther  Weise  ausgeschmückt  und.  so  geliebt  hat,  dass 
er  ihr  noch  im  Grabe  nahe  sein  wollte.  Den  ältesten  Bestand theil 
der  Sage  bildet  daher  die  Vorstellung  von  dem  Protectorate,  welches 
Virgil  über  Neapel  ausübte.  Und  in  der  That  findet  sich  dieselbe 
mit  den  ältesten  Nachrichten,  welche  wir  über  den  Virgil  der  uea- 
politanii^chen  Sage  besitzen,  verbunden  bei  Johann  von  Salisbur}^, 
wo  er  von  der  broncenen  Fliege  spricht,  und  bei  Alexander  von 
Telese,  welcher  uns  berichtet,  dass  Neapel  und  Calabrien  von  Au- 
gustus  Virgil  zu  Lehen  gegeben  seien.  Mit  dieser  ursprünglichen 
Vorstellung,  in  welcher  die  Sage  recht  eigentlich  wurzelt,  verknüpft 
sich  eine  andere  für  die  Bildung  des  Mittelalters  bezeichnende 
Thatsache.  Seneca  spricht  nämlich  im  Anfange  des  sechsten  Buches 
seiner  „Qiiaestiones  naturales"  von  einem  starken  Erdbeben,  welches 
Campanien  unter  dem  Consulate  des  Regulus  und  „Virginius"  ver- 
wüstete ;  Neapel  blos  blieb  „leniter  ingenti  malo  perstricta".  Nun 
werden  einige  gewiss  „Virgilius"  für  ,, Virginius"  gelesen  haben, 
und  da  man  nicht  wusste,  was  ein  Consul  zur  Zeit  Virgil's  war, 
schloss  man  daraus,  dass  Virgil  „Consul  von  Neapel"  gewesen  sei. 
Noch  Padre  Giordano,  der  Abt  von  Monte  Vergine,  welcher  1649 
eine  Chronik  seines  Klosters  zusammenstellte,  erzählt,  dass  Virgil 
von  Augiistus  zum  Consul  von  Neapel  gemacht  sei,  als  Collegen 
im  Amte  aber  den  Regulus  gehabt  habe,  und  citirt  dann  die 
Stelle  des  Seneca  vom  Ausbruche  des  Vesuv  ^).  Wir  können  auch 
vermuthen,  dass,  wenn  Alexander  von  Telese,  ein  Geistlicher, 
w^elcher  unweit  Neapel  in  Samnium  lebte,  von  dieser  Stadt  wie 
von  einem  Lehen  Virgil's  spricht,  dies  mit  jener  Senecastelle  im 
Zusammenhange  steht,  welche  von  einem  Mönche  aus  Süditalien 
missverstanden,  nun  die  Veranlassung  bildete,  die  volksthüraliche 
Vorstellung  vom  Protectorate  Virgil's  über  Neapel  zu  übertreiben.  — 
Es  bleibt  nunmehr  nur  noch  übrig,  das  Resultat  unserer  Unter- 
suchung in  einigen  Worten  zusammenzufassen. 

In  der  ältesten  Form  der  Sage  unterscheiden  wir  zwei  ver- 
schiedene Bestandtheile,  erstens:  Virgil's  Berühmtheit  und  seine 
Liebe  zu  Neapel,  und  zweitens:  den  Glauben  an  einige  öffentliche 
ihm  zugeschriebene  Talismane;  jener,  der  sich  auf  historische  That- 
sachen  und  örtliche  Ueberlieferungen  gründet,  gehört  Neapel  aus- 
schliesslich   an    und    geht    vielleicht    noch    auf  die  Lebenszeit  des 


1)  Croniche  di  Monte  Vergine  p.  84. 

16^ 


244  Virgil  in  der  Volkssage. 

Dichters  zurück;  dieser  ist  jüngeren  Datums  und  findet  sich  bei 
vielen  mittelalterlichen  Sagen,  die  sich  auf  antike  Monumente  be- 
ziehen, ist  also  nicht  ausschliesslich  neapolitanisch.  Die  Vorstellung 
des  Mittelalters  von  der  imbegrenzten  Weisheit  Virgil's  und  die 
Erinnerung  an  die  Zuneigung  des  Dichters  zu  Neapel  wurden  dann 
das  Bindeglied  zwischen  jenen  beiden  Bestandtheilen  und  bewirkten, 
dass  mau  dem  Dichter  zu  Neapel  Werke  des  Gemeinwols  zu. 
schrieb,  die  man  für  die  Schöpfungen  eines  tiefen  und  verborgenen 
Wissens  ansah,  wie  man  ähnliches  in  anderen  Städten  anderen 
Männern  beilegte.  Eine  verächtliche  Vorstellung  ist  in  dieser  Form 
der  Sage  durchaus  noch  nicht  vorhanden,  und  der  Gedanke  an 
Bosheit  und  Teufelskunst  noch  ganz  ausgeschlossen. 

Ersieht  man  nun  hieraus  die  Art  und  Weise,  wie  die  Sage 
entstand,  so  bleibt  nur  noch  zu  untersuchen  übrig,  in  welcher  Zeit 
dies  geschah  d.  h.,  wann  unter  dem  neapolitanischen  Volke  zuerst 
der  Glaube  an  jene  Talismane  aufkam  und  mit  denselben  den 
Namen  Virgil's  verknüpfte.  Allein  die  schriftlichen  Zeugnisse,  welche 
uns  zu  Gebote  stehen,  antworten  auf  diese  Frage  nicht.  Die  älteste 
Erwähnung  der  Sage  findet  sich  zuerst,  wie  wir  sahen,  bei  Johann 
von  Salisbury,  also  nicht  vor  der  Mitte  des  zwölften  Jahrhunderts. 
Daraus  folgt  freilich  nicht,  dass  jene  Vorstellungen  nicht  schon 
früher  unter  den  Neapolitanern  vorhanden  waren.  Wer  das  Mittel- 
alter kennt,  weiss,  wie  oft  die  Bildung  und  Fortpflanzung  der 
Sagen  unter  dem  Volke  lange  im  verborgenen  bleiben,  bis  sie  mit 
einem  Male  bei  den  Schriftstellern  auftauchen,  und  wie  wahr- 
scheinlich es  ist,  dass  ein  grosser  Theil  der  Sagen  vergessen 
worden  und  ganz  unbekannt  geblieben  ist.  Nichts  hindert  uns  zu 
glauben,  dass  jene  Virgilsagen  älter  als  das  zwölfte  Jahrhundert 
sind.  Dass  sie  aber  gerade  in  dieser  Zeit  zum  ersten  Male  an's 
Licht  traten,  darf  nicht  Wunder  nehmen,  wenn  man  bedenkt,  dass 
eben  in  jenem  Jahrhundert  das  innere  Leben  der  italienischen 
Städte  sich  entwickelte,  besonders  Neapels,  welches  aus  seiner 
Vereinzelung  in  das  neue,  von  Roger  gegründete  Königreich  über- 
ging und  vermöge  seines  Wachsthumes  alsbald  die  Hauptstadt 
eines  ansehnlichen  Beiches  wurde. 

Indem  wir  aber,  was  die  Entstehung  der  Sage  betrifft,  bis  zu 
diesem  Zeitpunkte  vorgedrungen  sind,  bestätigt  sich  uns,  dass  das 
Eigenthümliche  derselben  in  dieser  ihrer  ältesten  Gestalt  ihrem 
Ursprünge  so  wie  den  allgemeinen,  oben  von  uns  gemachten  Be- 
merkungen durchaus  entspricht:  Virgil  erscheint  als  einer,  der  die 
tiefen  Geheimnisse    der   Natur   kennt    und    sie   zum  Wole   der  von 


Virgil  in  der  Volkssagc".  245 

ihm  geliebten  Stadi  anwendet.  Er  ist  weniger  Zauberer,  als  vielmehr 
Gelehrter  und  versteht  sich  auf  Dinge,  die  dem  gemeinen  Manne 
nicht  verständlich  sind.  Und  so  gibt  sich  uns  bei  der  Umwandlung 
des  Ruhmes  des  Dichters  ein  Gesetz  zu  erkennen ,  welches  fast 
dasselbe  bei  dem  neapolitanischen  Volke,  das  die  Erinnerung  an 
seinen  alten  Beschützer  bewahrte,  wie  bei  den  Gelehrten  ist,  welche 
gewohnheitsmässig  fortfuhren,  seine  Gedichte  zu  lesen  und  sie 
der  Ueberlieferung  nach  zu  bewundern.  Daher  kam  es,  dass  jene 
neapolitanischen  Sagen,  nachdem  sie  kaum  in  die  Literatur  einge- 
drungen waren,  vermöge  der  Vorstellung,  welche  die  Gelehrten  da- 
maliger Zeit  von  Virgil  hatten,  den  Boden  zu  ihrer  Aufnahme  so 
wol  vorbereitet  fimden,  dass  sie  darin  Wurzel  fassteu  und  bei  ihrer 
Fortpflanzung  mit  wahrhaft  überraschender  Schnelligkeit  entarteten. 

Viertes  Capitel. 

Dass  sich  Volkssagen,  die  'von  Munde  zu  Munde  und  von 
einem  Schriftsteller  zum  andern  gehen,  umwandeln,  ist  ein  ganz 
bekanntes  und  feststehendes  Gesetz.  Ein  kleiner  Kern  der  Sage 
pflegt  aber  besondei-s  auf  zwei  Weisen  grosse  Ausdehnung  anzu- 
nehmen, entweder,  indem  er  von  der  Phantasie  des  Volkes  im  Laufe 
der  Zeit  übertrieben  und  erweitert  wird,  oder  indem  sich  andere 
schon  vorhandene,  vereinzelte  oder  zu  anderen  Gruppen  gehörige 
Sagen  an  ihn  ansetzen.  Im  Allgemeinen  findet  die  Veränderung 
nach  der  ersten  Art  dann  statt,  wenn  Sagen,  zumal  solche,  denen 
eine  locale,  geschichtliche  oder  überlieferte  Begebenheit  zu  Grunde 
liegt,  den  Boden,  in  welchem  sie  entstanden  sind,  verlassen.  Wenn 
eine  Sage  der  Art  aus  ihrer  Heimath  in  ein  anderes  Land  zieht, 
so  kann  sie  dort  nicht  das  gleiche  Interesse  finden,  sondern  wird 
zunächst  missverstanden  und  umgestaltet.  Dem  Gefühle  der  Nea- 
politaner widerstand  es,  dem  Virgil  Teufelkskünste  zuzuschreiben 
und  zu  glauben,  dass  der  Beschützer  Neapel's  sich  unehrenhafter 
Mittel  zum  Wole  der  Stadt  bedient  habe;  das  änderte  sich  aber, 
sobald  die  Sage  sich  in  Europa  verbreitete. 

Von  der  „Ars  mathematica"  und  der  „Astrologie"  war  zur 
,,Ars  diabolica"  nur  ein  Schritt,  und  es  gab  also  gar  keinen 
Grund,  weshalb  nicht  Virgil  dasselbe  Schicksal  wie  Gerbert  und 
andere  bei'ühmte  Mathematiker  und  Astrologen  erleiden  sollte,  die 
man  zu  Schwarzkünstlern  im  schwärzesten  Sinne  des  Wortes  machte^). 


1)  Nach  der  mittelalterlichen  Etymologie:    „mantia,    graece   divi- 
natio  dicitur,  et  nigro,  quasi  nigra,  unde  Nigromantia,  nigra  divinatio, 


246  Virgil  iu  tler  Volkssagc. 

Der  Uebergang  war  aber  um  yo  leichter,  da  es  sich  bei  Virgil 
um  einen  Heiden  handelte.  Viele  Geistliche  des  Mittelalters  liebten 
es  ja,  wie  bereits  bemerkt  ist,  die  grossen  Schriftsteller  des  Alter- 
thums  in  Misseredit  zu  bringen,  indem  sie  dieselben  wegen  ihrer 
Kenntnisse  und  Talente,  die  sie  besonders  den  höllischen  Mächten 
verdanken  sollten,  als  Anbeter  des  Teufels  darstellten:  Vorurtheile, 
die  zwar  nicht  der  gesanimten  Geistlichkeit  eigen  waren,  sich  aber 
doch  lange  genug  erhielten. 

Bedenkt  mau  diesen  Umstand,  so  wird  man  die  Veränderungen 
und  Erweiterungen  erklären  können,  welche  die  Virgilsage  erlitt, 
als  sie  mit  reissender  Schnelligkeit  das  civilisirte  Europa  durchlief 
und  der  zügellosen  Phantasie  der  Bänkelsänger  anheimtiel.  Diese 
mussten,  da  sie  gezwungen  waren,  ihre  Zuhörer  zu  fesseln  und 
ihren  Handwerksgenossen  Concurrenz  zu  machen,  vor  allen  Dingen 
auf  ein  reiches  Repertorium  von  Erzählungen  bedacht  sein,  um  im 
Falle  der  Missbilligung  ihrer  Zuhörer^)  den  Stoff  rasch  wechseln 
zu  können  und  zugleich  ihre  Kenntniss  aller  möglichen  Sagenkreise 
zu  entfalten''').  Man  begreift,  mit  welcher  Begier  sie  sich  eines 
jeden  neuen  Stoffes  bemächtigt  haben  werden.  Auch  die  Virgilsage 
tiel,  nachdem  sie  Neapel  vei'lassen  hatte,  in  ihre  Hände  und  war 
im  Anfange  des  dreizehnten  Jahrhunderts  schon  ganz  bekannt.  In 
einem  langen  Gedichte  des  Troubadours  Giraud  de  Calan9on,  das 
wol  zwischen  1215 — 1220^)  verfasst  ist,  wird  ausführlich  von  dem 
gesprochen,  was  ein  geschickter  Bänkelsänger  zu  wissen  braucht. 
Der  Aufzählung  aller  der  Instrumente,  die  er  spielen  muss,  der 
Künste  und  Sprünge  die  er  zu  macheu  hat,  folgt  ein  langes  Re- 
gister von  Erzählungen,  theils  Romanen,  theils  Novellen  in  Versen. 


quia  ad  atra  dacmonioium  vincula  utcntcs  se  adducit."  Sic  ist  also  keine 
ars  liberalis,  denn:  „sciri  libere  potest,  sed  opurari  sine  daemonum  fa- 
miliaritate  nullatenus  valet."  So  in  einer  Wiener  Hds.  bei  Reiffenberg, 
Chron.  rim.  de  Philippe  Mouskes,  I,  p.  6. 

1)  Darauf  spielt  eine  Stelle  aus  der  „Gemma  Ecclesiastica"  dos 
Giraldus  Cambrensia  (1197)  an  mit  Beziehung  auf  einige  Priester:  ,, Simile« 
sunt  cantantibus  fabulas  et  gesta,  qui  videntes  cantilenam  de  Laudcrico 
non  piacere  auditoribus,  statini  incipiunfc  cantare  de  Wacherio;  quod 
si  non  placuerit,  de  alio."  Giraldi  Cambrensis  opera,  ed.  Brewer,  il, 
(Lond.  1862),  p.  290. 

2)  Graessc,  Die  grossen  Sagenkreise  des  Mittelalters,  p.  6  tf. 

3)  Hist.  litt,  de  la  France,  t.  XVII,  p.  580. 


Virgil  in  der  Volkssago.  247 

Darunter  finden  sich  denn  auch  Virgilsagen '),  und  zwar  sowol  die 
vom  Wundergarten,  wie  andere  nicht  neapolitanischen  Ursprungs, 
von  denen  später  die  Rede  sein  wird.  Jedermann  sieht  ein ,  wie 
diese  „Cantores  francigenarum",  welche  Dichter,  Gaukler  und  Possen- 
reisser  in  einer  Person  waren,  mit  den  Legenden  umspringen 
mussten.  Kam  es  ihnen  doch  nur  darauf  an,  die  Zuhörer  zu 
fesseln  und  denselben  das  Geld  aus  der  Tasche  zu  locken.  Es 
versteht  sich  ganz  von  selbst,  dass  Virgil  unter  ihren  Händen  ein 
Schwarzkünstler  ersten  Ranges  werden  musste. 

Nicht  viel  anders  war  aber  das  Schicksal,  welches  Virgil  bei 
den  Schriftstellern  zu  Theil  wurde.  Im  Dolopathos^)  zeigte  sich 
uns  Virgil,  obgleich  er  schon  in  Folge  der  literarischen  Ueber- 
lieferung  bereits  zu  einer  ganz  idealen  Figur  geworden  war,  noch 
ohne  Beziehung  zur  Magie.  In  der  französischen  Uebersetzung 
des  Dolopathos  in  Versen,  welche  Herbers  im  dreizehnten  Jahr- 
hundert anfertigte,  findet  sich  nur  eine  einzige  Anspielung  auf 
Zauberei.  Es  heisst  dort  nämlich  von  dem  Büchlein,  in  welchem 
Virgil  die  sieben  freien  Künste  für  seinen  Schüler  Lucinian  zu- 
pammengefasst  hatte,  dass  der  Dichter  dasselbe,  als  er  starb,  so 
fest  in  der  Hand  gehalten  habe  und  zwar 

„Par  engiu  et  par  nigromance 
Dont  il  sot  tote  la  science^)", 

dass  man  es  ihm  nicht  entreissen  konnte.  Freilich  hat  hier  die 
„Zauberei"  noch  ein  ziemlich  unschuldiges  Aussehen*).  Man  weiss 
nicht,  ob  Dam  Gehan,  der  erste  Verfasser  des  Dolopathos ,' diese 
Geschichten  aus  eigenem  Antriebe  wegliess,  oder,  als  er  im  Jahre 


1)  E  de  Virgili 

Com  de  la  conca  a  saup  cobrir 

E  del  vergier 

E  del  pesquier 

E  del  foc  que  saup  escantir. 
Diez,  D.  Poesie  d.  Troubadours,   p.  109.   G  ras  ss  e,   a.   a.   0.    p.   21  ff. 
Fauriel,  Hist.  de  la  poesie  prov.  IH,  p.  495. 

2)  Vgl.  Theil  I,  Gap.  16. 

3)  Li  Romans  de  Dolopathos,  publié  par  MM.  Ch.  Brunei  et  Anat. 
de  Montaiglon.  Paris  (Jannet),  p.  384. 

4)  Roth  bringt  mit  Unrecht,  wie  auch  u.  a.  Grimm  (Die  Sage  von 
Polyphem,  p.  4.)  that,  den  lateinischen  Text  des  Dolopathos  mit  der 
H istoria  Septem  sapientium  zusammen.  Letztere  ist  nicht  das  Original, 
sondern  die  lateinische  Umarbeitung  des  „Roman  des  sept  sages."  Ich 
kann  dies  jedoch  hier  nur  andeuten. 


248  Virgil  in  der   Volkssagc. 

1184  das  Buch  veifasste \i,  noch  nicht  gekannt  hat.  Jedenfalls 
spricht  vor  Gervasius  und  Konrad  schon  Neckam,  welcher,  wie 
wir  sahen,  wol  nicht  in  Neapel  war,  von  den  Wunderwerken 
Virgil's. 

Abgesehen  von  der  Fleischbank  erzählt  nämlich  Xeckam,  dass 
Virgil")  vermittelst  eines  goldenen  Blutegels")  Neapel  von  deu 
zahllosen  Blutegeln,  welche  das  Wasser  verdarben,  befreite,  dass 
or  eine  eherne  Brücke  baute,  auf  der  man  überallhin  gelangen 
konnte,  und  seinen  Garten  mit  einer  gleich  einer  Mauer  undurch- 
dringlichen Luftschicht  umgab.  Von  einer  anderen  Sage ,  die  er 
ausserdem  erwähnt,  soll  weiter  unten  die  Rede  sein. 

Ein  Schriftsteller,  welcher  schon  vor  Gervasius  einige  Virgil- 
sagen  kannte,  ist  ferner  der  Mönch  Elinandus,  der  Verfasser  einer 
im  Mittelalter  viel  gelesenen  lateinischen  Chronik*),  die  Vincenz 
von  Beauvais  in  sein  „Speculum  historiale"  aufgenommen  hat. 
In  dieser  Chronik,  welche  bis  zum  Jahre  1204:  reicht,  spricht  Eli- 
nandus, ausser  von  der  broncenen  Fliege,  den  Bädern,  der  Fleisch- 
bank und  dem  Garten,  in  dem  es,  wie  er  sagt,  niemals  regnet, 
zum  ersten  Male  von  einem  Glockenthurme  des  Virgil,  der  sich, 
wenn  die  Glocken  erklangen,  mit  diesen  bewegte^),  und  erwähnt 
dann  auch  gleich  Neckam  die  „Salvatio  Romae".  Die  Nachricliteu, 
Avelche  wir  über  Elinandus  besitzen''),  so  wie  der  Charakter  einiger 
von  ihm    erwähnten  Sagen    machen  .es    nicht  wahrscheinlich,   dass 


1)  Dies  Datum  scheint  mir  das  richtigste  zu  sein.  Vgl.  Güdcke, 
Orient  und  Occident,  III,  p.  395.  Die  französische  Uebersetzung  von 
Herbers  gehört  gewiss  ins  13.  Jahrhundert. 

2)  De  naturis  rerum,  cap.  174.  Nach  Neckam  referirt  die  Virgil  be- 
treffenden Erzählungen  W.  Burley,  De  vita  et  moribus  philosophorum, 
cap.  103. 

3)  Anders  Pseudo- Villani.  Nobile,  Descriz.  della  città  di  Napoli,  li, 
p.  781,  schreibt  wie  folgt:  „La  capella  di  S.  Giovanni  a  Pozzo  bianco 
segue  più  innanzi  al  principio  del  vicolo  dell'  arcivescovado,  anticamente 
detto  Gurgite;  ed  era  così  denominato  perchè  l'altro  vicolo  che  gli 
sta  dirimpetto,  aveva  fino  ad  un  secolo  fa  un  pubblico  pozzo  ornato  di 
marmo  bianco,  e  sovr'  esso  sanguisughe  scolpite,  di  cui  il  cronista  nostro 
Giovanni  Villani,  seguendo  l'ignoranza  del  volgo,  dice  che  Vii-gilio  Ma- 
rone sotto  la  costellazione  dell'  Aquario  aveale  fatte  scolpire  etc." 

4)  Publicirt  im  7.  Bande  der  Biblioth.  patr.  cistercensium  von 
T  i  8  s  i  e  r. 

5)  Vincenz  von  Beauvais  zweifelt  an  der  Erzählung,  weil  die  Er- 
findung der  Glocken  jünger  als  Virgil  sei.  (!) 

6)  Vgl.  Eist.  litt,  de  la  France,  t.  XVIII,  p.  87  ff. 


Virgil  in  der  Volkssage.  249 

er  jemals  in  Neapel'geweseii  ist.  Wir  tindeu  bei  ihm  wie  bei  Neckam 
bereits  die  Anzeichen  der  Verwandlung,  welche  die  Sage  ausser- 
halb ihrer  Heimath  erlitten  hatte.  Man  darf  ferner  nicht  ver- 
gessen, dass  Elinandus  fi-üher  ein  durch  seine  Gesänge  sehr  be- 
liebter Troubadour  war;  er  selbst  beklagt  diese  seine  Vergangen- 
heit^) und  sagt,  dass  es  keinen  öffentlichen  Ort,  kein  Fest 
gegeben  habe,  bei  welchem  er  nicht  seine  Stimme  habe  ertönen 
lassen.  Daher  kömmt  es  vielleicht,  dass  er  da,  wo  er  von  seiner 
Zeit  spricht,  sich  auf  keine  Thatsachen  einlassen  will,  sondern  nur 
von  Phantastereien  aller  Art,  Träumen,  Visionen,  Wundererschei- 
nuugeu  und  Legenden,  die  sich  besonders  auf  Virgil  beziehen  und 
in  denen  sich  der  alte  Troubadour  verräth,  spricht.  Vincenz  von 
Beauvais  und  Alberich  von  Trois-Fontaines  haben  dieselben  ge- 
treulich wieder  erzählt. 

Gewiss  hatten  auch  die  Deutscheu,  welche  den  französischen 
Dichtern  nachahmten,  eben  durch  diese  von  dem  Zauberer  Vii:gil 
zuerst  gehört.  Wolfram  von  Eschenbach  lässt  in  seinem  zwischen 
1203 — 1215  verfassten  und  aus  französischen  Quellen  abgeleiteten^) 
„Parzival"  vom  Zauberer  Virgil  seineu  Klinschor  abstammen, 
welcher,  wie  er  sagt,  in  „Terra  die  Lavoro"  geboren  ward,  und 
in  derselben  Weise  wird  Virgil  auch  von  andern  deutscheu  Dichtern 
während  des  dreizehnten  Jahrhunderts  behandelt;  hierhin  gehören: 
Boppo,  Frauenlob,  Rumeland,  der  Verfasser  des  Reinfrit  von 
Braunschweig  u.  A.^).  Während  also  einerseits  die  Virgilsagen 
von  Gauklern,  Minnesängern  und  Dichtern  aller  Art  theils  mündlich 
theils  schriftlich  fortgepflanzt  wurden,  erlangten  sie  anderseits  durch 
ihre  Aufnahme  in  viel  gelesene  wissenschaftliche  Bücher  und  Re- 
pertorien,  wie  die  des  Gervasius,  Neckam,  Elinandus,  Vincenz  von 
Beauvais  u.  s.  w.  eine  noch  grössere  Berühmtheit. 

Fünftes  Capitel. 

Erwägt  man  den  Standpunkt,  auf  welchem  sich  die  Literatur 
des  Mittelalters  befand,  so  wird  man  leicht  bemerken,  dass  sich 
an  dem   Virgil    der  neapolitanischen  Volkssage    gar   bald    die   ün- 


1)  „Non  scena,  non  circus,  non  theatrum,  non  amphitheatrum,  non 
forum,  non  platea,  non  gymnasium,  non  arena  sine  eo  resonabat."  De 
reparat.  lapsi,  p.  318. 

2)  Vergi.  Rochat  in  Pfeiffer's  Germania,  III,  81  ff.  und  IV, 
411  ff. 

3)  Vergi.  V.  d.  Hagen,  Gesammtabenteuer,  111,  p,  CXL  fi'. 


250  Virgil  in  der  Volkssape. 

möglichkeit  herausstellen  miisste,  denselben  mit  dem  ganzen  Ideen- 
krelse, mit  welchem  der  Name  des  Dichters  zusammenhing,  zu 
vereinigen.  Die  neapolitanische  Sage  hatte  Virgil  nur  mit  Neajiel 
in  Verbindung  gebracht.  Das  hörte  nun  auf,  sobald  die  Sage  sich 
ausbreitete.  In  der  That  hatte  ja  der  Aufenthalt  des  Dichters  in 
Neapel  in  der  literarischen  üeberlieferung  nur  eine  untergeordnete 
Bedeutung.  Als  eine  der  hervorragendsten  Persönlichkeiten  der 
antiken  Römerwelt  musste  Virgil  nothwendig  von  der  Sage  auch 
mit  der  Hauptstadt  des  Kaiserreiches  in  Berührung  gesetzt  werden.  Rom 
und  Virgil  waren  zwei  Begriffe,  die  sich  in  gewissen  Ideenkreisen  so 
nothwendig  gegeuteitig  anzogen,  dass  sich  auch  der  Virgil  der  Sage 
von  dem  Rom  der  Sage  nicht  trennen  liess.  Er,  der  so  viel  für 
Neapel  gethan  hatte,  sollte  für  das  goldene  Rom,  das  Hauijt  der 
Welt,  dessen  Ursprung  er  in  seinem  unsterblichen  Gedichte  ver- 
herrlicht hat,  nichts  gethan  haben?  Diese  Lücke  in  der  Sage 
wurde  denn  auch  ausgefüllt,  sobald  sie  begann,  sich  in  Europa 
zu  verbreiten.  Schon  bei  Alexander  Neckam  und  Elinandus  finden 
wir  eine  römische  Sage  mit  der  neapolitanischen  verknüpft.  Grosse 
Erfindungsgabe  war  dazu  nicht  nöthig.  Wenn  in  Neapel  der 
Glaube  an  jene  Talismane  auch  unabhängig  von  der  Berühmtheit 
Virgil's  vorhanden  war,  und  das  Volk  den  Namen  des  Dichters 
nur  auf  jene  Werke  übertrug,  so  gab  es  auch  in  Rom  seit  alter 
Zeit  ähnliche  Erzählungen,  und  es  war  also  nicht  schwer,  nach 
dem  Beispiele  Neapels  Virgil  mit  denselben  in  Beziehung  zu 
l)ringen.  Der  Unterschied  besteht  nur  darin,  dass  die  neapolita- 
nischen Virgilsagen  Werk  des  Volkes,  die  römischen  dagegen  durch 
Schriftsteller  und  Dichter  spater  von  aussen  herein  gebracht 
waren. 

Alexander  Neckam  erzählt,  dass  Virgil  in  Rom  einen  schönen 
Talast  erbaute  und  mit  Bildsäulen  ausschmückte,  welche  die  unter- 
worfenen Völker  darstellten  und  je  eine  Glocke  in  der  Hand 
hielten.  Sobald  eine  Provinz  auf  Abfall  sann,  begann  die  be- 
trefi'ende  Bildsäule  mit  der  Glocke  zu  läuten.  Darauf  schwang  ein 
broncener  Krieger,  der  auf  der  Spitze  des  Palastes  stand,  seine 
Lanze  nach  der  Richtung  hin,  wo  jene  Provinz  lag,  und  so  hatten 
die  Römer  Zeit,  Truppen  auszurüsten  und  konnten  die  Aufstän- 
dischen unterdrücken.  Merkwürdig  ist,  dass  Neckam,  welcher  hier 
dem  Virgil  diese  Wunderwerke  zuschreibt,  in  seinem  Gedichte  „De 
laudibus    divinae    sapientiae'j",    einem    Au.<zuge    aus    seinem 


1)  Dibt.  5.  v.  290  S.  (p.  447). 


Virgil  in  der  Volkssage.  251 

Buche  „De  naturis  rerum",  zwar  dieselbe  Sage  wiederholt,  sie 
aber  nicht  auf  Virgil  bezieht.  Fast  dasselbe  erzählt  unabhängig 
von  Ncckam  Elinandus,  welcher  aber  doch  auch  nicht  sicher  weiss, 
ob  jene  Schöpfung  von  Yirgil  herrührt;  er  sagt  nur:  ,,creditur  a 
quibusdam". 

Dass  sich  das  römische  A^olk  bei  seiner  Unwissenheit,  in 
welche  es  die  Geistlichkeit  wie  die  Barbaren  im  Mittelalter  gestürzt 
hatten,  von  den  vorhandenen  Denkmälern  der  Stadt  keine  Eechen- 
schaft  mehr  zu  geben  wusste  und  alle  möglichen  Sagen  auf  die- 
selben anwandte,  darf  um  so  weniger  auffallen,  als  ganz  dasselbe 
unter  dem  Volke  noch  zu  weit  erleuchteteren  Zeiten  stattfand.  Die 
Masse  von  Erinnerungen,  welche  auf  Kom  lastete,  war  so  gewaltig, 
dass  z\im  richtigen  Verständnisse  jedes  Denkmals  historische  Kennt- 
nisse gehörten,  die  keine  Stadtbevölkerung  besitzt.  Das  stolze 
Gefühl,  Nachkommen  der  Römer  zu  sein,  wurde  freilich  durch  jene 
erhabenen  Monumente  aufrecht  erhalten,  aber  die  Erinnerung  an 
Einzelheiten  beschränkte  sich  nur  auf  diesen  oder  jenen  Namen 
und  auf  Sagen.  Die  gewaltige  Grösse  dieser  Denkmäler  musste 
dagegen  noch  weit  mehr  die  sagenbildende  Thätigkeit  der  Fremden 
anregen,  welche  nach  Kom  mit  jener  Frische  des  Geistes  kamen, 
wie  sie  Völkern,  deren  Civilisation  noch  jung  ist,  eigenthümlich 
zu  sein  pflegt,  und  welche  unfähig,  die  Avunderbaren  Schöpfungen 
der  lömischen  Macht  zu  begreifen,  noch  von  den  Ueberbleibseln 
derselben  überwältigt  wurden.  Wenn  sie  dann  nach  Hause  kamen, 
erzählten  sie,  was  sie  gesehen  hatten,  nicht  ohne  Uebertreibung, 
imd  der,  welcher  ihnen  nacherzählte,  übertrieb  wieder:  so  bildete 
sich  die  Sage. 

In  vielen  derartigen,  bei  ausserrömischen  Schriftstellern  er- 
haltenen Erzählungen  zeigt  sich  die  blose  Thätigkeit  der  durch 
starke  Eindrücke  angeregten  Phantasie,  welche  fern  von  den  Oertern, 
auf  die  sich  die  Sage  bezog,  schafft  und  wirkt.  Die  weit  einfacheren 
und  weniger  phantastischen  römischen  Sagen  gründeten  sich  auf 
irgend  ein  noch  vorhandenes  Monument,  dessen  Bestimmung  und 
Namen  nur  die  Sage  veränderte;  so  erblickte  man  in  einem  ge- 
weihten Schiffe  die  Barke,  in  welcher  Aeneas  nach  Italien  ge- 
kommen   war^j.     Die    durch    Dante    verherrlichte    Erzählung    von 


1)  Procop.,  Bell.  Goth.  IV,  22.  Becker  denkt  an  ein  Modell  oder 
an  irgend  eine  Curiosität:  Handb.  d.  röm.  Alt.  I,  p.  161.  Nach  Wilhelm 
von  Malmesbury  (II,  c.  13)  [a.  d.  J.  1045]  hätte  man  iu  Rom  das  Grab 
des  Pallas  entdeckt:  „tunc  corpus  Pallantis  filii  Evandri  de  quo  Virgilius 


252  Virf^il  in  ilor  Volkssage. 

Tiajau  und  der  Wittwe  bctitaud  schon,  ehe  mau  sie  auf  Trajan 
anwandte  *).  Vielleicht  gab  das  Relief  eines  Triumphbogens, 
welches  den  Kaiser  zu  Ross  und  vor  ihm  knieend  die  unterworfene 
l'rovinz  darstellte,  den  Anstoss  dazu.  Der  Palast,  der  von  Neckani 
und  Eliuandus  dem  Yirgil  zugeschrieben  wird  und  im  Mittelalter 
unter  dem  Namen  „Salvatio  Romae^)"  wolbekannt  war,  ist 
aus  den  verworrensten  Erinnerungen  an  das  Pantheon,  Colosseum 
und  Capitol,  so  wie  an  die  Bildsäulen  der  verschiedenen  Nationen, 
welche  das  Theater  des  Pompejus  schmückten,  und  von  denen 
sich  Nero  in  Augenblicken  der  Gewissensqual  angegriffen  glaubte, 
entstanden;  das  Bindemittel  dazu  bildete  die  abergläubische  Vor- 
stellung von  der  Art  und  Weise,  wie  man  die  Bewachung  über 
ein  so  weites  Reich  ausüben  konnte.  Diese  Legende,  die  gewiss 
nicht  in  Italien  entstand,  wurde  überall  im  Mittelalter  erzählt, 
ohne  dass  dabei  Virgils  gedacht  wurde.  Bei  dem  Griechen  Kosmas 
(8.  Jahrh.)^),  wie  bei  anderen  Schriftstellern  wird  sie  zuerst  auf 
das  Capitol  bezogen,  welches  seitdem  als  eins  der  sieben  Wunder 
der  Welt  galt,  und  ich  vermuthe,  dass  der  erste  Grund  dazu  in 
der  Erzählung  von  den  Gänsen  des  Tempels  besteht,  die  einen 
Hauptruhm  des  Capitols  ausmachten,  und  dass  die  Sage  von  By- 
zanz  aus  sich  im  Orient  verbreitete.  Es  ist  dies  um  so  wahr- 
scheinlicher, da  sich  in  einigen  arabischen  Sagen  ein  Anklang  an 
dieselbe  Erzählung,  wobei  die  „Salvatio  Romae"  auf  Aegypten  un- 
gewandt wird,  so  wie  an  die  Geschichte  von  dem  wunderbaren 
Spiegel    findet,    von    der   sogleich    die   Rede    sein   wird*).     Später 


uarrat,  Romae  repertum  est,  ingenti  stupore  omnium.  Hiatus  vulueris 
quod  in  medio  pectore  Turnus  fecerat  quatuor  pedibus  et  semis  mensu- 
ratum  est."  Ich  zweifle,  dass  diese  Sage  von  gewiss  gelehrtem  Ursprünge, 
sich  auf  eine  wirkliche  Entdeckung  bezieht  und  von  irgend  einem  rö- 
mischen Archäologen  herrührt,  wie  Gregorovius,  Gesch.  d.  St.  Rom  IV, 
p.  6'26  meint. 

1)  Vgl.  Massmaun,  Kaiserchronik,  III,  753  ff. 

2)  Wird  auch  „Consecratio  statuarum"  genannt. 

3)  Mai,  Spicilegium  Romanum,  II,  p.  221. 

4)  Der  König  Sarca f  „fece  un  anitra  d'ottone  e  la  pose  alla  porta 
della  città  su  di  una  colonna  di  marmo  verde;  quando  uno  straniero  ve- 
niva nella  città  questa  anittra  batteva  le  ali  e  gridava  in  modo  che 
tutti  gli  abitanti  udivano,  e  così  arrestavano  Io  straniero."  Vgl.  Orient 
und  Occident,  I,  p.  331,  335,  340,  und  Liebrecht,  ebenda  III,  360,  363. 
Florus  spricht  bei  der  Erzählung  von  Manlius  nur  von  einer  Gans.  Auf 
dem  Schilde  des  Aeneas  bei  Virgil  ist  nur  eine  silberne  Gans.  Aen.  VIII, 


Virgil  in  der  Volkssage.  253 

wird  sie  daun  auch  auf  das  Pantheon  ^j  und  auf  das  Colosseum 
bezogen.  In  einer  dem  Beda  zugeschriebenen  Schrift  aus  dem 
achten  Jahrhundert  wird  die  Salvatio  Bomae  gleichfalls  als  eins 
der  sieben  Weltwunder  bezeichnet  '')  ;  desgleichen  in  einer  Wessobrunner 
Handschrift  des  achten  Jahrhunderts^)  bei  einem  Anonymus  von 
Salerno  aus  dem  zehnten  Jahrhundert*),  in  einer  vatikanischen 
Handschrift  des  eilften  Jahrhunderts^),  in  den  „Mirabilia  urbis 
Romae",  dem  bekannten,  später  vielfach  veränderten  Fremd 
führer'''),  der  aber  gewiss  schon  im  zwölften  Jahrhundert^) 
banden  war  und  endlich  auch  bei  Jacopo  da  Voragine 
dreizehnten  Jahrhundert«),  welcher  dabei  an  Teufelskunst  dehkt=^) 


len- 
V  or- 
ini 


652  ff.  Dante,  De  Monarch,  sagt:  „anserem  ibi  ante  non  visum  cecinisse 
Gallos  adesse."     Im  Soldatenliede    von  Modena  heisst   es:    (10.   Jahrb.). 

„Vigili  voce  avis  anser  candida 

fugavit  Gallos  ex  arce  romulea 

pro  qua  virtute   facta   est  argentea 

et  a  Romanis  adorata  ut  dea." 
bei  Du  Méril,  Poésies  pop.  lat.  ant.  au  XII  sièc.  p.  -200.  -  Massmann 
will  die  Sage  erklären,  indem  er  sie  auf  die  von  selbst  sich  bewegenden 
Statuen  neben  einigen  Uhren,  wie  sich  eine  solche  auch  auf  dem  Capitol 
befand,  bezieht;  Kaiserchr.  Ili,  425.  Er  hält  ihren  Ursprung  für  deutsch 
(p.  424);  derselbe  ward  aber  vielmehr  byzantinisch  sein. 

1)  So  auch  Lodovico  Dolce: 

„Non  la  Ritonda  or  sacra,  e  già  profana, 
Là  dove  tante  statue  erano  poste 
Che    avean   legata   al    collo   una   campana." 
,Jl  primo  volume  delle  op.  buri,  del  Berni  etc."  II,  p.  271. 

2)  Libellus  de  septem -orbis  miraculis,  bei  Beda,  Op.  I,  400. 

3)  Massmann,  Kaiserchr.  IH,  426. 

4)  Muratori,  Rer.  it.  scr.  II,  2  p.  272. 

5)  Preller  im  Philologus  I,  lO.S. 

G)  Graesse,  Beitr.  z.  Liter,  u.  Sage  d.  Mittelalt.  p.  10. 

7)  Die  erste  kritische  Ausgabe  der  „Mirabilia  Romae  ex  codd.  vatt. 
emendata"  von  Parthey,  Berol.  1865  dann  Jordan:  „Topographie  der 
Stadt  Rom  im'  Alterthum"  II,  Berlin  1871  p.  605  ff,  dessen  Aufsatz 
(p.  357  ff)  über  die  Geschichte  des  Textes  wichtig  ist.  Endlich  Urlichs 
(C.  L.)  im  „Codex  urbis  Romae  topographicus"  Würzburg.  1871 
p.  126  ff 

8)  Legenda  aurea,  n.  CLVII. 

9)  In  der  bereits  citiiten  Hds.  wird  sie  ein  Werk  der  Astrologie  ge- 
nannt: „Per  hanc  artem  Romae  senatores  necem  virorum  et  bella  in 
oris  barbaris  facta,  regumque  etregnorum  detrimentum,  statum  et  stabili- 
nientum  noverunt.  Vgl.  Reiffenberg,  Chron.  rim.  de  Philippe  Mouskes, 
I,  p.  628. 


254  Virgil  in  tkn-  Volkssage. 

Sie  alle  sprechen  von  dem  Wunderbau,  ohne  denselben  dem  Virgil 
zuzuschreiben,  was  wieder  andere  nach  Neckam  und  Elinandiis 
thaten^).  Um  diese  Sage  auf  Virgil  zu  beziehen,  bedurfte  es  je- 
doch eines  Bindemittels,  welches  die  letzte  Entwicklung  der  Sage 
bildet,  sobald  nämlich  der  Dichter  wieder  wie  in  der  literarischen 
Ueberlieferung  des  Mittelalters  zum  Propheten  Christi  wird.  Davon 
soll  im  nächsten  Capitel  gehandelt  werden.  Um  das  Verschwinden 
eines  so  herrlichen  Baues  zu  erklären,  berichtet  der  Anonymus 
von  Salerno,  dass  jene  Bildsäulen  nach  Byzanz  gebracht  und  dort 
vom  Kaiser  Alexander  (fölo),  der  sie  in  hohen  Ehren  hielt,  mit 
seidenen  Gewändern  bekleidet  wurden,  dass  aber  später  der  hei- 
lige Petrus  ihm  im  Traum  erschienen  sei  und  zornig  zugerufen 
habe:  „Ich  bin  der  er.>^te  der  TJümer",  worauf  der  Kaiser  plötzlich 
.starb. 

Auf  diese  Weise  tritt  also  der  Virgil  der  Sage  zuerst  in  Be- 
rührung mit  Rom.  Obwol  wir  wissen,  dass  Virgil  auf  dem  Estpiilin 
ein  Haus  besass'"^),  geht  doch  aus  seiner  Biographie  nicht  hervor, 
ob  er  daselbst  gewöhnlich  verweilt  habe^);  auf  keinen  Fall  blatte 
er  dort  ein  Andenken  wie  in  Neapel  zurücklassen  können.  Die 
Bevölkerung  einer  Kiesenhauptstadt  wie  Rom  konnte  unmöglich 
von  der  Persönlichkeit  Virgil's  einen  so  dauernden  Eindruck  em- 
pfangen, so  sehr  man  auch  sonst  den  Dichter  dort  zu  schätzen 
wusste.     Wo    wir   also   in   Rom  Virgil's  Namen    mit  irgend   einem 


1)  Die  reichste  Sammlung  von  hierauf  bezüglichen  Texten  bei  Mass- 
maun,  Kaiserchr.  111,  421  H".  Wir  fügen  hierzu  folgendeu  unedirten  italie- 
nischen Text:  ,,üua  porta  artificiata  era  in  Roma  sotto  il  monte  Giauiiolo 
dove  anticamente  abitò  il  re  (ìiauo  primo  re  d'Italia  da  cui  è  nominalo  il 
monte  Gianicolo.  La  detta  porta  era  di  metallo  ornata  maravigliosamente 
e  con  grande  artificio,  perocché  quando  Roma,  quella  nobilissima  città, 
aveva  pace,  stava  la  detta  porta  sempre  serrata,  e  quando  si  ribellava 
alcuna  provincia,  la  porta  per  sé  stessa  si  apriva.  Allora  li  romani  corre- 
viino  al  Pantheon,  cioè  S.  Maria  Rotonda,  dove  erano  iu  luogo  alto  statue 
le  quali  rappresentavano  le  provincie  del  mondo.  E  quando  alcuua  si 
ribellava,  quella  cotale  statua  voltava  le  spalle  e  però  li  romani  quando 
vedevano  la  statua  volta,  s  armavano  le  milizift,  e  prestamente  andavano 
iu  quella  parte  a  riacquistare'"  Libro  imperiale,  .3,  8  (cod.  S.  XV,  Magliii- 
becchiana  XXII,  9). 

2)  „Habuitque  domum  Romae  Esquiliis  juxta  hortos  Maeceu.itis, 
quamquam  secessu  Campaniae  Siciliaeque  plurimum  uteretur."  l)on;tt. 
Vit.  Verg.  p.  57. 

3)  „Si  quando  Romae,  quo  rarissime  commeabat,  viserotur  in 
publico  etc."  Donat.  Vit.  Verg.  p.  57. 


Virgil  in  der  Volkssage.  255 

Momente  verknüpft  finden,  da  war  es  nicht  die  Folge  einer  volks- 
tUümlichen  Ueberlieferung,  sondern  nur  der  Wiederliall  von  Virgil- 
sagen,  die  ausserhalb  Rom's  enstanden  waren. 

Sechstes  Capitel, 

Im  dreizehnten  Jahrhundert  finden  wir  die  Virgilsage,  die 
schon  über  ganz  Europa  verbreitet  war,  vielfach  erweitert  und  um- 
gestaltet besonders  in  viel  gelesenen  französischen  Volkspoesien. 
Hierhin  gehören  jene  im  Jahre  1225  unter  dem  Namen  „Image  du 
monde"  verfasste  und  ohne  Grund  dem  Walther  von  Metz  zuge- 
schriebene Art  von  Encyklopädie '),  der  „Roman  des  sept  Sages"), 
der  in  Vers  und  Prosa  in  alle  möglichen  Sprachen  übersetzt  eines 
der  populärsten  Bücher  in  Europa  war,  so  wie  der  von  Adéuès 
gegen  Ende  des  dreizehnten  Jahrhunderts^)  geschi'iebene  versificirte 
Roman  „Cleomadès". 

Im  Jahre  1319  erscheint  die  Virgilsage  in  dem  noch  nicht 
herausgegebenen*)  „Renart  contrefait",  so  wie  sich  ferner  Theile 
derselben  in  Sammlungen  von  Anekdoten  und  Erzählungen  finden, 
welche  zum  Gebrauch  der  Moralisten  und  Prediger  angelegt  waren 
und  zur  Erbauung  der  Gläubigen  allegorisch  ausgelegt  zu  werden 
pflegten.  Der  Art  sind  einige  Bearbeitungen  der  „Gesta  Roma- 
norura^)",  so  wie  die  von  diesen  abgeleitete  Schi'ift,  „Violier  des 
histoires   romaines^)".     Dem  dreizehnten  Jahrhundert  gehört    auch 


1)  Vgl.  Eist.  litt,  de  la  France  t.  XXIII,  p.  309;  Du  Méril,  Mélauges, 
p.  427  ff. 

2)  Keller,  Li  Romans  des  sept  Sages,  p.  CCIII  S.  153  ff;  Derselbe: 
Dyocletianus  Leben  von  Hans  von  Bühel  p.  57  ff.;  Loiseleur  Des- 
longchamps,  Essai  sur  les  fables  indiennes,  p.  150  ff.  D'Ancona,  11 
libro  dei  sette  Savi  di  Roma,  p.  50  ff.,  115  ff. 

3)  Hist.  litt,  de  la  Fr.  XX,  712  ff.  Du  Méril,  Mei.  arch.  435  ff; 
Li  Roumaus  de  Cleomadès,  per  Adénès  li  Rois,  pubi.  p.  1.  p.  fois  par 
André  van  Hasselt,  Brux.  1865—66,  I,  52—58. 

4)  Du  Méril,  Mélanges,  440  ff. 

5)  Gesta  romanorum  hrsg.  v.  Ad.  Keller,  Stuttg.  u.  Tübing. 
1842  und  deutsch  übersetzt  von  Graesse,  Dresden  u.  Leipz.  1847.  Vgl. 
Wartou,  Dissert.  on  the  Gesta  Romanorum  in  seiner  Historj^  of  eng- 
lish  poetry  I,  p.  CXXXIX  ff.  Douce,  Dissert.  on  the  Gesta  Romanorum 
in  seinen  Illustrations  of  Shakespeare.  (Lond.  1836)  519  ff.  Gesta  Roma- 
norum hrsg.  V.  H.  Oesterley,  Beri.  1871,  wovon  bis  jetzt  erst  das  erste 
Heft  erschienen. 

6)  Le  Violier  des  histoires  romaines,  nouv.  édit.  p.  M.  G.  Bruuet.  Paris 
(Jannet)  1858. 


256  Virgil  in  der  Volkssage. 

die  von  dem  Wiener  Jans  Enenkel  (1250)  in  Versen  abge- 
fasste  Weltchronik  an,  in  der  sich  gleichfalls  einige  Virgilsagen 
finden. 

In  allen  diesen  Bearbeitungen  gilt  natürlich  Rom  als  das  haupt- 
sächlichste Feld  für  Virgil'i?  Thätigkeit.  Die  neapolitanischen  Sagen 
blieben  dabei  bestehen  und  wurden  nur  auf  römischen  Boden  ver- 
setzt und  durch  römische  Sagen  erweitert.  Die  Sage  vom  ,^Caste] 
delio  vo"  hatte  ganz  ei'schr  ecken  de  Verhältnisse  angenommen:  es 
handelte  sich  jetzt  nicht  mehr  um  einen  einfachen  Talisman,  son- 
dern nach  der  „Image  du  monde"  ruhte  jetzt  die  ganze  Stadt 
auf  einem  Ei  und  gerieth  ins  Schwanken,  sobald  das  Ei  sich  be- 
wegte : 

„Que  quant  aucuns  l'uef  reniuait 

Toute  la  ci  té  en  crolait." 

Im  Cleomadès  heisst  es  hingegen,  dass  zwei  solche  im  Meere 
liegende  Schlösser  auf  einem  Eie  ruhten,  und  dass,  als  Jemand 
einmal  versuchte,  eins  der  Eier  zu  zerbrechen,  sofort  das  eine 
Schloss  untersank;  es  blieb  nur  das  andere  übrig,  welches  noch 
heute  in  Neapel  „auf  seinem  Eie"  zu  sehen  ist: 

„Encor  est  là  l'autres  chastiaus 
Qui  en  mer  siet  et  bons  et  biaus: 
Si  est  li  oes,  c'est  vérités, 
Seur  quoi  li  chastiaus  est  fondés." 

Die  Idee  der  „Salvatio  Romae"  verband  sich  ferner  mit  einer 
alten  orientalischen  Vorstellung  von  einem  Spiegel,  in  welchem  man 
alles  Zukünftige  erschauen  könnte.  „Benjamin  von  Tudela")"  er- 
wähnt einen  solchen  Spiegel  auf  der  Spitze  des  Leuchtthurmes  von 
Alexandria,  den  Alexander  dort  angebracht  haben  soll,  und  in 
welchem  man  bis  auf  fünfhundert  Parasangen  alle  Kriegsschiffe,  die 
gegen  Aegypten  heranzogen,  sehen  konnte ^j.   Die  „Salvatio  Romae" 


1)  Der  gauze  darauf  bezügliche  Theil  bei  v.  d.  Hageu,  Gesaninit- 
abeuteuer,  II,  513  ff. 

2)  Itinerario  I,  p.  155  ff.  (Asber.)  Vgl.  de  Guignes,  Memoires 
et  extraits  des  ^ISS.  etc.  I,  26;  Reinaud,  Monumens  arabes,  persans  et 
turcs  II,  418;  Loiseleur,  Essai  sur  les  fahles  indiennes,p.  153;  Norden, 
Voyage,  III,  1G3  ff. 

3)  Zwei  Spiegel  figuriren  auch  in  den  arabischen  Sagen  bei  Wüsten- 
feld, Orient  und  Occident  I,  331  ff.  Im  Titurel  hat  der  Presbyter  Jo- 
hannes einen  ähnlichen  Spiegel.  Vgl.  v.  d.  Hagen,  Briefe  in  die  Hei- 
math, IV,  119;  Oppert,  Der  Presbyter  Johanne.s  in  Sage  und  Geschichte, 


Virgil  in  der  Volkssage.  257 

verwandelte  sich  in  einen  eben  solchen  SjHegel,  welcher  in  dem 
„Roman  des  sept  Sages",  im  „Cleomadès"  und  „Renart  contrefait" 
dem  Virgil  zugeschrieben  wird.  Aus  dem  „Roman  des  sept  Sages" 
erfahi'en  wir  auch,  wie  dieser  Spiegel  leider  zu  Grunde  ging:  Ein 
fremder  König  —  je  nach  den  verschiedenen  Versionen  ist  es  ent- 
weder ein  Ungar,  Karthager,  Deutscher  oder  Apulier,  —  welcher  das 
Joch  der  Römer  nicht  mehr  ertragen  mochte,  nahm  das  Anerbieten 
dreier  Ritter  an,  die  den  Spiegel  zerschlagen  wollten:  In  Rom  au- 
gekommen, vergruben  sie  an  mehreren  Orten  Gold  und  gaben  sich 
für  Schatzgräber  aus.  Der  habgierige  Kaiser  gedachte  nun,  ihre 
Kunst  auf  die  Probe  zustellen,  und  darauf  gruben,  jene  ihr  eigenes 
Gold  aus.  Nachdem  sie  so  den  Kaiser  sicher  gemacht  hatten, 
sagten  sie  ihm,  dass  sieh  ein  grosser  Schatz  unter  dem  Pfeiler  des 
Si^iegels  finden  müsse,  und  wurden  beauftragt,  diesen  Schatz  zu 
heben.  Sie  zerstörten  den  Pfeiler,  legten  Holzstützen  unter  den 
Spiegel  und  steckten  diese  in  Brand.  Bei  Nacht  entflohen  sie,  imd 
der  Spiegel  zerbrach  in  tausend  Stücke.  Die  Römer  aber,  empört 
über  die  Zerstörung  ihres  Kleinods,  zwangen  den  Kaiser,  geschmolzenes 
Gold  zu  trinken.  —  Die  Erzählung,  deren  Schluss  an  die  bekannte 
Anekdote  aus  der  römischen  Geschichte  erinnert,  findet  sich  auch 
ohne  Beziehung  auf  Vii-gil  und  den  Spiegel  in  der  Novelle  des 
„Pecorone"  erzählt,  welche  folgenden  Titel  hat  :  „Chello  und  Janni 
von  Velletri    seben   sich   zum  Schaden   der  Stadt    Rom    als  Wahr- 


p.  175  ff.  Auch  Catharina  dei  Medici  soll  einen  solchen  Spiegel  gehabt 
haben.  Vgl.  Reinaud,  Monumens  arabes,  persans  et  turcs  II,  p.  418. 
G.  Batt.  Porta,  Magia  naturalis  (lib  XVII,  cap.  2)  gibt  sogar  die  Ge- 
heimmittel dazu  an:  „ut  speculis  planis  ea  cernantur  quae  longe  et  in 
aliis  locis  geruntur."  Nach  einer  Version  der  mittelalterlichen  Sage  soll 
sogar  das  Trojanische  Palladium  ein  solcher  Spiegel  gewesen  sein;  vgl. 
Caxton,  Troye  Boke,  11,  c.  22  bei  Du  Meril,  Me'l.  p.  470.  —  Auch  in 
unserer  Zeit  werden  derartige  Spiegel  in  den  Volkssagen  erwähnt;  vgl. 
Afanasieff,  Narodnyia  russkiia  skazki,  VII,  2,  41,  VIII,  18;  Schott, 
Walachische  Märchen,  5,  13;  Haltrich  Deutsche  Volksmärchen,  30  etc. 
Meist  sind  es  kleine  tragbare  Spiegel.  Einen  solchen  besass  auch  Virgil 
nach  den  Gesta  Romanorum  (c.  102,  Keller).  Mittelst  desselben  enthüllte 
er  einem  Ehemanne  die  Untreue  seiner  Gattin  und  ihre  Zauberkünste, 
mit  denen  sie  den  Ersteren  tödten  wollte.  Vgl.  v.  d.  Hagen,  Erzäh- 
lungen und  Märchen;  Scheible,  Das  Kloster  II,  126  tf.;  Simrock,  Die 
deutschen  Volksbücher  VI,  p.  380  ff.  Vielleicht  beziehen  sich  auf  diese 
Sage  die  in  einigen  Museen  aufbewahrten  magischen  Virgilspiegel.  Ueber 
den  Aberglauben,  der  im  Mittelalter  hieran  haftete  s.  Papencordt,  Cola 
da  Rieuzi,  c.  VI;  Orioli,  Biblioteca  italiana,  I,  1841,  p.  07—90;  Du 
Méril,  Mélanges,  p.  469  ff.;  Dunlop-Liebrecht,  p.  201. 

Comp  aretti,   Virgil  im  Mittelalter.  17 


258  Virgil  in  der  Volkssage. 

sager  aus.  An  dem  Hofe  des  Crassus  empfangen,  graben  sie  für 
diesen  Gold  aus,  welches  sie  selbst  erst  verborgen  hatten,  und 
sagen  ihm  dann,  dass  sich  unter  dem  s.  g.  Thurme  des  Tribunen 
ein  grosser  Schatz  befände^).  Crassus  lässt  Stützen  an  demselben 
aufstellen,  und  sie  zünden  den  Thurm  an;  in  der  Nacht  fliehen  sie 
aus  Rom,  aber  am  Morgen  stürzt  der  Thurm  ein  und  erschlägt 
viele  Römer  ^)".  In  dieser  Sage  handelt  es  sich  also  nur  um  die  soge- 
nannte „Torre  del  Tribuno",  in  welcher  „von  Metall  verfertigt  die  Bilder 
aller  derer  in  die  Aussenwaud  eingefügt  waren,  welche  in  Rom 
zu  Ruhm  oder  Triumphen  gelangt  waren,  und  galt  dieser  Thui-m 
für  das  Köstlichste,  was  Rom  besass."  Die  Novelle  steht  in  engster 
Beziehung  mit  einer  von  Flamiuius  Vacca  ^),  dem  Archäologen  des 
sechzehnten  Jahrhunderts,  erzählten  Geschichte,  welcher  aber  die 
Zerstörung  den  Goten  zuschreibt. 

Nachdem  nun  Virgil  einmal  zu  einem  vollkommenen  Zauberer 
geworden  war,  verknüpfte  man  mit  seinem  Namen  das,  was  man 
früher  auch  von  anderen  Männern,  denen  dasselbe  Schicksal  zu 
Theil  geworden  war,  erzählt  hatte.  Einer  der  bekanntesten  unter 
ihnen  war  Gerbert,  der  Papst  Sylvester  II.,  welcher  für  einen 
Zauberer  galt,  weil  er  sich  mit  Mathematik  und  Mechanik  zu  einer 
Zeit  abgab,  in  welcher  diese  Beschäftigung  als  höchst  anstössig 
für    einen    Geistlichen,     zumal    für    einen    Papst    erschien.       Eine 


1)  Vgl.  Gower,  Confessio  amantis  1.  5.  Froissart,  Poésies  p.  270. 
Hierauf  bezieht  sieh  auch  der  iu  dem  französischen  Gedichte  Bai  an  er- 
wähnte ,,Castiaus-Miróour"  von  Roui;  vgl.  G.  Paris,  Ilist.  poet.  de 
Charlemagne,  251. 

2)  Pecorone,  giorn.  5.  nov.  1.  —  Auch  der  Spiegel  von  Alexaudiüa 
wurde  nach  Benjamin  von  Tudela  von  einem  feindlichen  Griechen 
zerstört. 

3)  „Mi  ricordo  che  al  tempo  di  Pio  IV  capitò  in  Roma  un  Goto  con 
un  libro  antichissimo,  che  trattava  di  un  tesoro,  con  una  serpe,  ed  una 
figura  di  bassorilievo,  e  da  un  lato  aveva  un  cornucopio,  e  dall'  altro 
accennava  verso  terra;  te  tanto  cercò  il  detto  Goto  che  trovò  il  segno 
in  un  fianco  dell'  arco;  ed  andato  dal  Papa  gli  domandò  licenza  di 
cavare  il  tesoro,  il  quale  disse  che  apparteneva  a'  Romani  ;  ed  esso  man- 
dato dal  popolo  ottenne  grazia  di  cavarlo,  e  cominciato  nel  detto  fianco 
dell'  arco,  a  forza  di  scarpello  entrò  sotto  facendovi  come  una  porta,  e 
volendo  seguitare,  li  Romani  dubitando  non  minasse  l'arco  a'  sospetti 
della  malvagità  del  Goto,  nella  qual  nazione  dubitavano  regnasse  ancora 
la  rabbia  di  distruggere  le  romane  memorie,  si  sollevarono  contro  di  esso, 
il  quale  ebbe  a  grazia  di  andarsene  via,  e  fu  tralasciata  l'opera";  bei 
Nardi  ni,  Roma  antica;  (Nibby)  1,  p.  40. 


Virgil  in  der  Volkssage.  259 

Verwirrung  der  auf  Virgil  wie  Gerbert  bezüglichen  Sagen  war 
aber  um  so  leichter*  möglich,  als  viele  der  berühmtesten  Schriftsteller, 
wie  Gervasius  von  Tilbury,  Elinandus,  Vincenzius  von  Beauvais, 
Alberich  u.  A.  von  Beiden  zugleich  berichteten.  Ein  Beispiel  dieser 
Verwirrung  liegt  auch  in  den  oben  citirten  Gedichten  vor. 

In  den  „Mirabilia"  heisst  es,  dass  da,  wo  heute  in  Eom  die 
Kirche  S.  Balbina  steht  und  früher  das  „mutatorium  Caesaris"  sich 
befand,  ein  aus  „Asbestos"  angefertigter  Candelaber  stand,  der, 
einmal  angezündet,  nicht  mehr  ausgelöscht  werden  konnte,  wie  es 
ja  auch  die  Etymologie  des  griechischen  Wortes  sagt.  In  der  „Image 
du  monde"  werden  dem  Virgil  zwei  Wachskerzen  und  eine  ewig 
brennende  Lampe  zugeschrieben.  Im  „Cleomadès"  und  in  den 
„Sieben  Weisen^)"  handelt  es  sich  um  ein  immer  brennendes 
Feuer,  vor  welchem  die  Bildsäule  eines  Bogenschützen  steht,  jeden 
Augenblick  bereit,  den  Pfeil  gegen  das  Feuer  abzuschiessen,  und 
mit  der  hebräischen  Inschrift  versehen,  welche  aussagt:  „Wenn 
mich  Jemand  berührt,  so  werde  ich  treffen."  Eines  Tages  berührte 
ein  Naseweiser,  der  vielleicht  Hebräisch  verstand,  die  Bildsäule, 
der  Pfeil  flog  ab,  und  das  Feuer  erlosch  für  immer.  Dieselbe 
Sage,  die  hier  auf  Virgil  angewandt  ist^),  erzählte  man  schon  von 
Gerbert.  Es  hiess  nämlich,  dass  auf  dem  Marsfelde  eine  Statue 
mit  erhobenem  Zeigefinger  sich  befand,  auf  deren  Stirn  geschrieben 
stand  „hie  percute!"  Gerbert  errieth  zuerst  den  Sinn  der  Worte: 
er  beobachtete,  als  die  Sonne  im  Zenith  der  Bildsäule  stand,  wohin 
der  Schatten  des  Zeigefingers  fiel,  merkte  sich  die  Stelle  und  ging 
bei  Nacht  mit  einem  Dienei'^  dahin.  Nach  einigen  Beschwörungs- 
formeln öffnete  sich  vor  ihm  die  Erde,  und  er  trat  nun  in  einen 
unterirdischen  Raum,  welcher  mit  Schätzen  aller  Art  angefüllt 
war,    ein.     Auch    ein  Saal   war  hier   vorhanden,    in  welchem  über 


1)  So  auch  in  „Fleur  des  histoires"  von  Jean  Hansel.  Vgl.  Du  Meiil, 
Mélanges  p.  438. 

2)  In  der  Aeneit  des  Heinrich  von  Veldecke  ist  sie  auf  einen  weisen 
Geomatras  bezogen.  Im  Romans  d'Alexandre  (Michelant)  p.  46  hat  Plato 
eine  immer  brennende  Lampe: 

„En  miliu  de  la  vile  ont  drecié  un  piler. 
C.  pies  avoit  de  haut:  Piatons  le  fist  fever; 
Deseure  ot  une  lampe,  en  sou  I.  candeler 
Qui  par  jor  et  par  nuit  art  et  reluist  si  der 
Qua  partout  en  peut-on  et  venir  et  aler, 
Et  tons  voient  les  gaites  qui  le  doiveut  garder." 

17* 


260  Viigil  in  der  Volkssage. 

eiuem  Schilde  ein  prächtiger  Karfunkel  strahlendes  Licht  ausströmte. 
Eine  Menge  goldener  Ritter  standen  in  den  Hallen  versammelt, 
und  dem  Karfunkel  gegenüber  zeigte  sich  ein  Knabe  mit  ge- 
spanntem Bogen.  Kaum  berührte  man  etwas  von  den  Schätzen, 
so  machten  die  Ritter  Lärm  mit  ihren  Wafien.  Gerbert's  Diener 
vermochte  der  Verlockung  nicht  zu  widerstehen  und  steckte  ein 
kleines  Messer  in  die  Tasche.  Da  schwirrte  sofort  der  Pfeil  von 
der  Sehne,  der  Karfunkel  erlosch,  und  man  fand  den  Ausweg 
nicht  eher,  als  bis  das  Messer  wieder  auf  seinen  Platz  gelegt 
war^),  —  Die  Bildsäule  und  der  Schatz  werden  dem  VirgiLauch 
von  „Jans  Enenkel"  zugeschrieben,  während  andere  ")  weder  au  Gerbert 
noch  an  Virgil  denken  und  die  Geschichte  von  einem  Gelehrten 
berichten^).  Die  ganze  Erzählung  ist  übrigens  nur  eine  Variante 
von  dem  Märchen  der  Zobaide  aus  Tausend  und  eine  Nacht  ^). 

Wie  es  ferner  von  Gerbert  hiess,  dass  er  einen  Kopf^)  ge- 
schaffen habe,  welcher  die  Zukunft  weissagte,  und  dass  er  starb, 
weil  er  eine  Weissagung  desselben  nicht  verstanden  hatte  ^),  so  wird 
etwas  Aehnliches  auch  von  Virgil  in  der  „Image  du  monde"  und 
im  ,-,Renart  contrefait  berichtet^):  —  Als  Virgil  einst  jenen  Kopf 
über  eine  Reise,   die  er  vorhatte,  befragte,  erhielt  er  die  Autwort: 


1)  Gugliem.  Malmesb.,  De  Gest.  reg.  angl.  lib.  II,  c.  10;  Al- 
berich von  Trois  Fout.;  Chron;  jjars  11,  37—41.  Vinceuzo  di 
Beauvais,  Speculum  historiale  lib.  24,  c.  98  ff;  Hock,  Gerbertus 
c.  15. 

2)  V.d.  Hagen,  Gesaimntabenteuer;  II,  525tt".  Massmann,  Kaiserchr. 
III,  450. 

3)  Gesta  Roman,  c.  107  (Keller). 

4)  Loiseleur,  Panthéon  litt.  p.  100  und  derselbe,  Tausend  und  eine 
Nacht  p.  346. 

5)  Albertus  Magnus  schuf  einen  sprechenden  Kopf,  den  der  heilige 
Thomas  von  Aquino  entzwei  hieb;  auch  vom  Marquis  von  Villeiia  ward 
dasselbe  berichtet.  Tostado  (Sup.  num.  c.  XXI)  spricht  von  einem  bron- 
cenen  Kopf,  der  im  Dorfe  Tabara  weissagte.  Sein  Hauptgeschäft  bestand 
darin,  anzuzeigen,  wenn  sich  ein  Jude  im  Dorfe  fand;  dann  schrie  er: 
„Judaeus  adest"  solange  bis  man  den  Juden  vertrieb.  In  der  nordischen 
Mythologie  macht  Oden  den  Kopf  des  Riesen  Mimir  sprechend  und  be- 
fragt ihn  um  viele  Geheimnisse.  Vgl.  Thorpe,  Northern  mythology,  1, 
p.  15;  Simrock,  Edda,  p.  392. 

6)  Alberich  von  Trois  Fontaines,  Chron.  a.  a.  O.;  Hock,  Ger- 
bertus,  a.  a.  0. 

7)  Vgl.  Bart.  Sibylla  (Ende  des  1."^.  Jahrh.)  Percgriu.  ijnaest.  dee. 
III,  quest.  2. 


Virgil  in  clor  Volksstige.  261 

wenu  er  .seinen  Kopf  bewache,  würde  es  ,  ihm  gut  geben  ;  er  glaubte, 
dass  es  sich  um  den  prophetischen  Kopf  handle,  und  begab  sich 
auf  die  Reise.  Aber  da  er  sich  nicht  genug  vor  der  Sonne  schützte, 
befiel  ihn  eine  Gehirnentzündung  und  er  starb.  Man  sieht  deutlich, 
wie  die  Anwendung  derartiger  Erzählungen  auf  Virgil  doch  nur 
in  den  Kreisen  von  mehr  oder  weniger  Gebildeten  stattfinden 
konnte.  Und  in  der  That  heisst  es  in  der  Hauptbiographie  des 
Dichters,  dass  er  auf  einer  Reise  in  Folge  der  Sonnenhitze  starb  ^). 
Die  rein  volksthümliche  Sage  Neapels  weiss  davon  nichts. 

Der  Leser  muss  entschuldigen,  wenn  die  Reihe  derartiger  ein- 
faltiger Erzählungen  hier  immer  noch  nicht  zu  Ende  ist.  Für  die 
lästige  Arbeit,  die  in  der  Zergliederung  der  Phantastereien  besteht, 
entschädigt  hoifentlich  das  Resultat,  das  sich  daraus  für  die  Er- 
klärung einer  der  merkwürdigsten  Erscheinung  ergibt. 

Siebentes  Ca^iitel. 

In  der  Zeit,  welcher  alle  diese  Legenden  vom  Zauberer  Virgil 
angehören,  war  die  Vorstelhing  von  der  Sibylle,  die  das  Er- 
scheinen Christi  geweissagt  haben  sollte,  bereits  volksthümlich  ge- 
worden. Bei  den  Apologeten  entstanden,  hatte  sie  sich  unter  den 
kirchlichen  Schriftstellern  verbreitet  und  ging  dann  auch  in  den 
Anschauungskreis  des  Volkes  über,  so  dass  wir  ihr  vom  zwölften 
Jahrhundert  an  gleich  häufig  bei  kirchlichen  wie  weltlichen  Schrift- 
stellern begegnen;  und  ebenso  häufig  finden  wir  auch  die  Figur  der 
Sibylle  in  den  künstlerischen  Darstellungen  bis  zum  sechzehnten 
Jahrhundert^).  Die  Vorstellung  war  aber  für  Alle  um  so  zugäng- 
licher, da  ja  die  mittelalterlichen  Theologen  diesen  Theil  der  christ- 
lichen Lehre,  worin  der  Glaube  seine  sicherste  Bestätigung  und 
festeste  Stütze  fand,  stets  mit  Vorliebe  behandelt  hatten,  und 
Jedem  der  Sinn  einleuchtete,  der  in  den  bekannten  Versen  des 
Franciscaners    „teste    David   cum   Sibylla^)"    lag.     Diese    Berühmt- 


1)  „Dum  Megara  vicinum  oppidum  ferventissimo  sole  cognoscitlanguo- 
rem  nactus  est  eumque  non  intermissa  navigatione  auxit,  ita  ut  gravior 
aliquante  Brundisium  appellcret,  ubi  paucis  diebus  obiit."  Douat.  Vit. 
Verg.  p.  62  f. 

2)  Piper,  Mythologia  der  Christ.  Kunst  I,  p.  472  ff. 

3)  Schon  im  5.  Jahrh.  citirte  man  in  der  Kirche  um  Weihnachten 
die  Verse  der  Sibylle.  Vgl.  Du  Me'ril,  Origines  latiues  du  the'atre  mo- 
derne p.  185  f. 


262  Virgil  in  der  Volkssago. 

heit  der  Sibylle,  oder  vielmehr  der  Sibyllen,  war  also  das  Werk 
der  Kirche  und  folgte  aus  der  Art,  wie  dieselbe  mit  den  Gläu- 
bigen verkehrte  und  ihnen  die  Lehren  der  Religion  vermittelte. 
Vorzüglich  waren  der  Religionsunterricht,  die  Predigt  und  auch 
die  zwischen  Gottesdienst  und  Volkspoesie  in  der  Mitte  stehenden 
Mysterien  oder  Heiligendarstellungen  dazu  geeignet,  derartige 
Kenntnisse  und  Anschauungen  zu  verbreiten.  Indem  man  auf  eine 
naive,  anspruchslose  Weise  Stoffe  des  Glaubens  dramatisirte,  er- 
hielt die  Kirche  ein  Mittel  der  Popularität,  welches  vermöge 
seiner  Natur  wie  der  darin  liegenden  Beziehungen  zum  Ursprung 
und  zur  Geschichte  des  modernen  Theaters  merklich  dazu  beitrug, 
jene  Vorstellungen  auch  in  die  neuen  Literaturen,  welche  sich  zu 
ent\nckeln  begannen,  einzuführen. 

Wir  haben  gesehen,  wie  eng  der  Name  Virgil's  mit  der  Sibylle 
verknüpft  und  wie  geläufig  den  mittelalterlichen  Geistlichen  die 
vierte  Ecloge  wegen  der  darin  enthaltenen  Weissagung  war,  die 
man  auf  Christus  bezog.  Indem  aber  die  Figur  der  Sibylle  so 
populär  wurde,  blieb  es  auch  Virgil  mit  ihr,  um  so  mehr,  da 
dieser  ja  bereits  auf  einem  anderen  Wege  ganz  volksthümlioh  ge- 
worden war^).  Besonders  bot  sich  in  den  Weihnachtspredigten  die 
Gelegenheit  dar,  beide  Personen  neben  einander  zu  erwähnen.  In 
der  christlichen  Kunst  war  der  Dichter  oft  neben  der  Sibylle  dar- 
gestellt, oder  es  fanden  sich  wenigstens  die  betreffenden  Verse  aus 
der  vierten  f]cloge  verzeichnet"),  und  in  mehr  als  einer  Heiligen- 
darstellung traten  Virgil  und  die  Sibylle  neben  einander  auf  •*  ).  Schon 
im  eilften  Jahrhundert  figurirte  Virgil  in  dem  lateinischen  Myste- 
rium von  der  Geburt  Christi,   das  man  in    der  Abtei  des  h.  Mar- 


1)  „Evvi,  Femonoè,  quella  Sibilla 
Che  ridicea  li  risponsi  d'Apollo 
Che  delle  X  Sibille  fu  quella 

E  Virgilio  il  su'  dire  versificollo; 

Di  Cristo  disse  la  prima  novella 

E  del  die  del  giudicio  e  profetollo" 
L'Intelligenza  bei  Ozanam,   Documents  inédits,  p.   364  f.  Vgl.  auch 
das  altdeutsche  Gedicht:  Die  Erlösung  (Bartsch,  Quedlinb.  u.  Leipz.  1858) 
p.  56  ff.  V.  1903—1980. 

2)  Vgl.  Theil  I,  Ende  des  7.  Capitels. 

3)  Vgl.  Reidt,  Das  Geistliche  Schauspieides  Mittelalters  in  Deutsch- 
land; Frankf.  a.  M.  18(58  p.  27.  Ueber  die  Bibliographie  dieses  für  die 
Geschichte  des  modernen  Theaters  wichtigen  Theiles  s.  Hanns,  Lat. 
böhm.  Osterspiele  des  U-15.  Jahrb.  Prag,  1863,  p.  17  ff. 


Virgil  in  der  Volkssage.  263 

tial  zu  Limoges  darstellte,  unter  den  Propheten  Christi^);  des- 
gleichen in  einem  Mysterium  von  Rheims  ^)  :  Nach  Moses ,  Jesaias, 
Jeremias,  Daniel,  Habakuk,  David,  Simeon,  Elisabeth  und  Johannes 
dem  Täufer  ruft  der  Procentor  Virgil  mit  den  Worten 

„Vates  Maro  gentilium 

Da  Chi'isto  testimonium." 

herbei,  worauf  dieser  in  Gestalt  eines  Jünglings  auftritt  und  sagt: 

„Ecce  polo,  demissa  solo,  nova  progenies  est." 

Darauf  werden  Nebukadnezar  und  die  Sibylle  aufgerufen,  worauf 
sich  der  Procentor  zu  den  Juden  wendet  mit  den  Woiien  : 

„Judaea  incredula 

Cur  manes  adhuc,  inverecunda?" 

In  derselben  Weise  erscheint  Virgil  in  dem  Mysterium  von  den 
thörichten  Jungfrauen^)  und  in  andern  deutschen,  holländischen 
u.   s.    w.    Heiligendarstellungen'*).     In   einer   grossen   dramatischen 


1)  Bei  Monmerque  et  Michel,  Théatre  fran9ais  au  moyen-àge, 
p.  9;  Du  Meril,  Orig.  lai  du  the'at.  med.  p.  184.  Weinhold,  Weih- 
nachtsspiele, p.  70  f.  Ueber  die  Ableitung  dieser  Mysterien  und  ihre 
Beziehung  zu  einer  Weihnachtspredigt  des  h.  Augustin,  s.  Sepet,  Les 
prophètes  du  Christ,  etude  sur  'les  origines  du  théatre  au  moyen-àge,  in 
der  Bibl.  de  Fècole  des  Chartes,  1807.  (Tora.  III,  6.  se'r.)  p.  1  ff. 
210  ff'. 

2)  Vgl.  Du  Gange,  Gloss.  med.  et  inf.  lat.  (ed.  Henschel)  s.  v. 
festum  asinorum. 

3)  Wright,  Early  mysteries,  p.  62. 

4)  Vgl.  Weinhold,  Weihnachtspiele,  p.  74.  Du  Meril,  Melanges 
arch.  p.  456;  Mittelniederländisches  Osterspiel,  hrsg.  v.  Zacher  in  Haupt's 
Zeitschr.  f.  deutsch.  Alterth.  11,  310;  Piper,  Virgil  als  Theolog  und 
Prophet  im  Evangel.  Kalender  1862,  p.  72.  In  einem  französischen  Myste- 
rium von  der  Rache  Jesu  sprachen  im  Rathe  bei  Tiberius  zu  Gunsten 
Christi:  Terenz,  Boccaccio  und  Juvenal.  Letzterer  erinnert  daran,  dass 
sich  i.  J.  42  des  Octavius  das  Gerücht  verbreitete,  dass  eine  Jungfrau 
gebären  würde: 

„Le  noble  poete  Virgille 
Qui  lors  etoit  en  ceste  ville 
Composa  ancuns  mots  notables 
Lesquels  on  a  vu  veritables 
Et  plurieurs  grands  choses  en  dict 
Naguaires  avant  son  trespas." 
V.  L.  Paris,  Teiles  peintes  de  Reims,  p.  680. 


264  Virgil  in  clor  Volkssagc. 

Dichtung  des  Arnold  Imineöscn  (15.  Jhrh.)  citirt  merkwürdigerweise 
die  cumäische  Sibylle  den  Virgil  als  ihre  Autorität^). 

Jedoch  tritt  Virgil  nicht  immer  in  den  Mysterien  auf;  öfters 
mubs  die  Sibylle  allein  die  heidnischen  Propheten  repräscntiren. 
In  einem  lateinischen  Mysterium  von  der  Geburt  Christi  erkennt 
sie  die  Ankunft  des  Heilandes  an  dem  Stern,  welcher  die  heiligen 
drei  Könige  führte^),  und  nach  einem  spanischen  Dichter  soll  auch 
Virgil  diesen  Stern  gesehen  haben  ^). 

Dieser  volksmässigen  und  in  die  Romantik  eingedrungenen 
Vorstellung  entspricht  nun  eine  Schöpfung  der  Sage,  die  nach  ver- 
schiedenen Umgestaltungen  sich  endlich  mit  der  Idee  vom  Zauberer 
Virgil  vei'bindet.  Eine  Befähigung  Virgil's  zum  Christenthum  wird 
ja  schon  in  den  von  uns  citirten,  in  Mautua  gesungenen  latei- 
nischen Versen  vorausgesetzt,  welche  von  dem  Besuche  des  Apostels 
Paulus  am  Grabe  des  Dichters  erzählen*)  und  dabei  einer  Legende 
folgen,  die  nicht  ausschliesslich  Mantua  angehört,  sondern  auch  noch 
ausführlicher  in  der  „Image  du  monde"  erzählt  wird^).  Es  heisst 
da  nämlich,  dass  Paulus,  der  ein  gelehrter  Mann  war,  als  er  nach 
Rom  kam,  traurig  ward,  da  er  von  dem  jüngst  erfolgten  Tode 
Virgil's  hörte.  Ihm  waren  bereits  jene  Verse  bekannt,  die  sich  so 
trefflich  auf  den  Heiland  anwenden  Hessen,  und  so  beklagte  er  es. 


1)  „Sibilla  Cuniaca  quae  fuit  tempore  Tarquinii  prisci:  Ik  finde  ók 
van  dussen  saken  dat  de  meister  Virgilius  versehe  geniaket  hebbe,  de 
ludet  alsus: 

Magnus  ab  integro  etc." 

Der  Sündenfall  u.    die   Marienklage,    hrsg.    v.    Schönemaun    (Haniiov. 
1855)  p.  97;  Piper,  Virgil  u.  s.  w.  p.  73. 

2)  „Tertio  loco  Sibylla  gcsticuloso  procedat,  quae  iuspicicndo  stcllam 
cum  gestu  nobili  cantet: 

Haec  stellac  novitas 

Fert  novum  nuntium  etc." 
Carmina    burana    herausg.   von    S(chmeller)    Stuttgart    1847, 
p.  81. 

3)  „Virgilio  de  Mantua  fué  sabio  poeta 
ca  fue,  cl  priniero  quo  vide  cometa 

à  partes  de  Grecia  sus  vrayos  lan^audo." 
Frag   Diego   de  Valencia  im   Canconiero   de  Baena;   S.   Du  Méril, 
Mèi.  arch.  p.  460. 

4)  Theil  I  zu  Anfang  des  7.  Capitels. 

5)  Der  betreffende  Text  aus  der  Image  du  Monde  bei  Du  Méril, 
a.  a.  0.  456  ff. 


Vii-gil  in -der  Volkssage.  265 

dass  er  nicht  früher  gelebt  habe,  um  Virgil  zu  dem  Christeuthume 
bekehren  zu  können  : 

„Ahi  se  gè  t'  éusse  trouvé 

Que  gè  t' éusse  à  Dieu  donne!" 
Schliesslich  gelang  es  ihm,  den  Ort  aufzufinden,  wo  der  Dichter 
begraben  war;  der  Weg  dahin  war  fürchterlich:  Ein  heftiger  Wind 
stürmte,  und  schreckliche  Töne  Hessen  sich  vernehmen.  Der  Apostel 
konnte  zwischen  zwei  brennenden  Kerzen  Virgil  sitzen  und  rings 
um  ihn  auf  der  Erde  Bücher  zerstreut  liegen  sehen.  Von  der 
Decke  hing  eine  Lampe  herab,  und  vor  Virgil  stand  ein  Bogen- 
scbütz  mit  gespanntem  Bogen.  Das  sah  man  von  aussen,  aber 
herzutreten  war  nicht  leicht,  denn  am  Eingang  standen  zwei  eherne 
Männer,  die  gegen  jeden  Eintretenden  ihre  Hämmer  von  Stahl  in 
Bewegung  setzten.  Es  gelang  dem  Apostel  zwar,  letztere  zum 
Schweigen  zu  bringen,  aber  da  schoss  der  Mann  den  Pfeil  gegen 
die  Lampe  ab,  und  Alles  zerfiel  in  Staub.  Paulus  hätte  gern  die 
Bücher  genommen,  allein  er  musste  mit  leeren  Händen  um- 
kehren. 

Unter  den  Sagen,  welche  sich  auf  die  kurz  vor  Christi  Geburt 
geschehenen  Wunder  beziehen,  ist  besonders  die  von  S.  Maria  in 
Ara  coeli  in  Rom  berühmt:  Augustus  Hess  einst,  so  heisst  es,  die 
Sibylle  zu  sich  rufen,  um  sie  über  die  göttlichen  Ehren  zu  be- 
fragen, welche  ihm  der  Senat  bewilligt  hatte.  Jene  antwortete, 
dass  vom  Himmel  der  König  kommen  werde,  welcher  ewig  herr- 
schen solle.  Alsbald  that  sich  der  Himmel  auf,  und  Augustus  sah 
eine  Jungfrau  von  wunderbarer  Schönheit,  einen  Knaben  im  Arm 
haltend,  auf  dem  Altare  sitzen,  und  hörte  eine  Stimme,  die  rief: 
„das  ist  der  Altar  des  Gottessohnes."  Betend  fiel  er  nieder  und 
theilte  später  dem  Senat  das  Gesicht  mit.  Auf  dem  Capitol 
aber,  wo  die  Erscheinung  stattgefunden  hatte,  wurde  jene  Kirche 
gebaut,  die  noch  heute  S.  Maria  in  Ai-a  coeli  heisst.  Die  Sage 
findet  sich  schon  vom  achten  Jahrhimdert  an  bei  byzantinischen 
Schriftstellern,  in  der  „Legenda  aurea",  in  den  „Gesta  romano- 
rum",  den  „Mirabilia"  und  anderen  damals  viel  gelesenen 
Buchern''.  Die  Kunst  hat  jene  Sage  mehrmals  dargestellt,  und 
auch  noch  nach  dem  zwölften  Jahrhundert  finden  wir  sie  oft  von 
den   Schriftstellern   erwähnt  ;    Petrarca    spricht    von   ihr    in    einem 


lì  Vgl.  Massmann,  Kaiserchr.   III,   p.   553    ff.;  Piper,    Mvthol.   I, 
480  ff. 


266  Virgil  in  der  Volkssage. 

seiner  Briefe').  Die  Mirabilia  führen  neben  derselben  noch 
eine  andere  sehr  ähnliche  Sage  an,  welche  sich  auch  in  an  deren 
Schriften  aus  derselben  Zeit  erhalten  hat"-'):  Neben  seinem  Pa- 
laste, da,  wo  die  Tempel  der  Pietas  und  Concordia  waren,  stellte 
Roraulus  eine  Bildsäule  auf  mit  den  Worten  :  „sie  wird  nicht  eher 
fallen,  als  bis  eine  Jungfrau  gebären  wii'd."  Da  kam  Christus, 
und  die  Bildsäule  fiel  zur  Erde^).  Die  Erzählung  wird  auch  von 
andern  auf  die  Tempel  der  Minerva  oder  der  Pax,  welche  bei 
Christi  Geburt  einstürzten,  oder  auf  die  „Salvatio  Romae"  so  wie 
die  darin  enthaltene  Weissagung  auf  Virgil  bezogen.  Wo  Alexander 
Neckam  von  der  Salvatio  Romae  spricht,  fügt  er  hinzu:  „Als 
der  ruhmvolle  Dichter  gefragt  wurde,  wie  lange  die  Götter  jenen 
Bau  schützen  würden,  antwortete  er:  ,so  lange,  bis  eine  Jungfrau 
gebären  wird';  da  rief  man  ihm  freudig  Beifall  zu  und  sprach: 
,Wol,  so  wird  er  ewig  stehend  Wie  aber  der  Heiland  kam,  stürzte 
der  Palast  alsbald  zusammen'*)."  Mit  der  Einführung  des  Virgil 
verliert  die  Sage  natürlich  ihre  ursprüngliche  Bedeutung.  Der 
Ausspruch  des  Romulus  ist  eine  Prahlerei,  welche  die  Zukunft  zu- 
nichte macht;  und  Virgil's  Worte  haben,  wenn  man  die  Beziehung, 
in  welcher  der  Dichter  der  Legende  gemäss  zur  Sibylle  stand,  so 
Avie  seine  Stellung  unter  den  Propheten  Christi  bedenkt,  den  Werth 
einer  Prophezeiung. 

Ein  noch  nicht  veröffentlichtes  französisches  Gedicht,  von 
welchem  sich  eine  Handschrift  zu  Turin  befindet"''),  zeigt  eine 
weitere  Entwickelung  dieser  Virgillegende.  Das  Gedicht  ist  eine 
sonderbare  Darstellung,  die  aus  drei  Compositionen  zusammengesetzt 
ist,    von   denen    zwei,    „Vespasianus   oder  die   Rache   Jesu    an  den 


1)  Vgl.  Piper,  a.  a.  0.  I,  4S5  ff. 

2)  Massmann,  a.  a.  0.  p.  554  ff. 

3)  Die  Zeichen,  die  der  Geburt  Christi  vorausgingen  sind  in  den 
,, Flores  temporum"  von  Hermann  Gigas  so  erzählt:  ,,Fons  olei  Komao 
erupit;  vineae  Engaddi  balsamum  protulerunt;  omnes  sodomitae  obierunt; 
bos  et  asinus  ante  praesepe  genua  flexerunt;  idola  aegj-pti  corruerunt; 
imago  Romuli  cecidit;  templum  pacis  corruit;  mane  tres  soles  reperieban- 
tur  et  in  unum  paulatim  jungebantur;  meridie  circulus  aureus  in  coelo 
apparuit  in  quo  virginem  cum  puero  iCaesar  vidit,  et  mox  insonuit:  hie 
est  arcus  coeli."  Die  Varianten  bei  Massmann,  a.  a.  0.  557  f. 

4)  De  naturis  rerum  (ed.  Wright)  p.  310. 

5)  Cod.  gali.  XXXVI,  s.  Pasini,  Catal.  etc.  II,  p.  472.  —  Fol.  583. 
liest  man:  „Ces  livres  fu  escris  en  Tau  de  l'incarnation  MCCC  et  XI  an 
raois  de  joing." 


Virgil  in  der  Volkssage.  267 

Juden"  und  „die  Thaten  der  Lothringer"  schon  bekannt  sind^). 
Zur  Verbindung  beider  dient  die  Erzählung  von  den  Thaten  des 
heiligen  Severin,  welcher  einerseits  genealogisch  mit  Vespasian, 
andererseits  mit  Herois  und  Garin  von  Lothringen  verknüpft  ist. 
Aber  der  Verfasser  hat  sich  damit  nicht  begnügt,  sondei'n  dem 
„Vesjjasian"  ein  langes  Gedicht  vorausgeschickt,  welches  mit  der 
Schöpfung  der  Welt  beginnt,  alle  Begebenheiten  des  alten  und 
neuen  Testamentes  erzählt  und  mit  dem  Tode  Christi  endigt.  Bei 
seiner  heüigen  Geschichte  folgt  er  jedoch  nicht  der  Autorität  der 
Bibel,  sondern  hat  eine  rein  phantastische  Erzählung  geschaffen, 
deren  Grundlage  die  oben  erwähnte  Legende  ist:  Er  lässt  näm 
lieh  Virgil  die  ganze  lauge  Geschichte  selbst  vortragen.  In  der 
einzigen  mir  bekannten  Handschrift  fehlt  der  Anfang,  doch  genügt 
das  Vorhandene  für  unsere  Zwecke.  An  Stelle  des  guten  Octavian 
oder  des  Romulus  tritt  hier  ein  Kaiser  Noirons  li  arabis  auf,  ein 
Gegenstück  zu  dem  mittelalterlichen  Ideale  des  Nero,  ein  Anbeter 
des  Teufels  und  Muhammeds,  der  zu  Ehren  seiner  Götter  einen 
von  Gold  und  Edelsteinen  strahlenden  Palast  erbaut.  Nachdem  er 
dies  gethan,  ruft  er  den  Virgil  zu  sich  und  fragt  ihn:  „Da  du 
Alles  weisst,  so  sage  mir,  wie  lange  mein  Palast  stehen  bleiben 
wird?"  Darauf  Virgil:  „Er  wird  stehen,  bis  dass  eine  Jungfrau 
gebären  wird.''  —  „Also  wird  er  ewig  bleiben,  denn  das  ^\-ird 
niemals  eintreffen".  —  ,,Und  doch  wird  dem  einst  so  sein".  — 
Dreissig  Jahre  später  wird  Christus  geboren,  und  Nero's  Palast 
stürzt  zusammen.  Zornig  lässt  der  Kaiser  den  Virgil  rufen:  „Du 
hast  also  gewusst,  dass  die  Jungfrau  gebären  wird;  warum  hast 
Du  es  mir  nicht  gesagt?"  Und  da  nun  Virgil  von  dem  neuen 
Glauben  zu  sprechen  beginnt,  erhebt  sich  ein  Wortwechsel:  Nero 
will  nichts  von  jenem  Glaiiben  wissen.  Endlich  entschliesst  er  sich 
zu  einem  Kampfe  mit  Virgil,  und  es  wird  festgesetzt,  dass  der 
Sieger  dem  Gegner  den  Kopf  abschlagen  solle.  Virgil  nimmt  den 
Vorschlag  an,  aber  wünscht  vorher  noch  einmal  nach  Hause  zu 
gehen,  um  die  Seinen,  Hippokrates  und  seine  weisen  Freunde  zu 
sehen.  Er  geht,  ruft  sie  alle  zusammen  und  erzählt  ihnen  seinen 
Fall.  Hippokrates  schlägt  nun  in  seinen  Büchern  nach  und  sucht 
Alles  zusammen,  was  sich  auf  das  Erscheinen  Christi  bezieht.  Er 
theilt  es  Virgil   mit,   imd    dieser,    mit   so   unbezwinglichen  Waffen 


1)  Die  Hds.  ist  den  beiden  Herausgebern  der  ,, Thaten  der  Lothringer" 
Paulin  Paris  und  Du  Meril  unbekannt  geblieben.  Eine  Notiz  davon 
gab  Prost  in  der  Revue  de  l'Est,  1864  p.  5—9. 


268  Virgil  in  ilor  Vulk-ssago. 

aiisgerüslet,  euHeriit  sich  voll  Zuversicht.  Nero  bemerkt  nun,  dass 
der  Kampf  mit  ungleichen  Watten  geführt  wird,  sieht  sein  p]nde 
voraus  und  gibt  Virgil  Aufschluss  über  sein  eigenes  Wesen.  Er 
erzählt  ihm  die  alte  Geschichte  vou  Lucibel  oder  Lucifer,  von  den 
empörten  Engeln,  die  in  Dämonen  verwandelt  sind,  sagt,  dass 
auch  er  einer  von  diesen  sei,  und  spricht  von  ihrer  Mission  auf 
der  Erde,  von  der  Erbauung  Babylons  und  anderen  schönen  Dingen. 
Virgil  antwortet  ihm  stehenden  Fusses  mit  der  Erzählung  der 
ganzen  heiligen  Geschichte  von  der  Schöpfung  der  Welt  an,  und 
hier  ergiesst  sich  nun  die  Redelust  des  Dichtei's  in  unzähligen 
Versen;  von  Virgil  ist  nicht  mehr  die  Rede,  und  wir  erfahren 
nicht  einmal,  wie  der  Zweikampf  zwischen  Nero  und  Virgil  endet. 
Den  Schluss  bildet  eine  Scene,  die  in  der  Unterwelt  spielt  und  in 
der  Nero  und  Muharamed  mit  einander  reden;  man  kann  also 
daraus  schliesscn,  dass  Nero  von  Virgil  enthauptet  worden  ist.  — 
Man  darf  dieses  Gedicht  der  Form  wie  dem  Inhalte  nach  wol  als 
ein  wahres  Muster  von  Einfältigkeit  bezeichnen. 

Mit  diesen  Phantastereien  des  französischen  Troubadours  lassen 
sich  nun  der  deutsche  „Reinfrit  von  Braunschweig  ^)",  vermuthlich 
das  Werk  eines  Zeitgenossen,  so  wie  der  „Wartburgkrieg^)"  ver- 
gleichen. Wir  ziehen  die  Sage  aus  beiden  Gedichten,  wie  folgt, 
zusammen:  —  Auf  dem  Maguetberge  oder  Agetstein,  der  in  den 
mittelaltei'lichen  deutschen  Gedichten  oft  erwähnt  wird''),  wohnte 
ein  grosser  Schwarzkünstler,  ein  Fürst  von  Griechenland  oder  Ba- 
l)ylon,  Namens  Zàbulon  (d.  i.  Teufel),  welcher  das  Erscheinen  des 
Heilandes  schon  1 200  Jahre  früher  aus  den  Sternen  gelesen  hatte 
und  nun  alle  seine  Künste  anwandte,  dasselbe  zu  verhindern.  Zu 
diesem  Zwecke  erfand  er  die  Negromanzie  und  Astrologie  und 
schrieb  auch  Bücher  darübei\  Zur  Zeit  als  die  1200  Jahre  fast 
verflossen  waren,  lebte  aber  der  tugendhafte  Virgil,  welcher  zum 
Wole  der  Menschen  sich  alles  Besitzes  entäussert  hatte.  Als  dieser 
von  jenem  Zàbulon  erfahren  hatte,  schiffte  er  sich  ein  und  kam 
zum  Magnetberge.     Hit  Hilfe    eines  Ringes,    in    dessen  Rubin    ein 


1)  S.  den  Auszug  dea  Roiufiit  von  Gödckc:  Archiv  des  bist  Voreins 
für  Niedersachsen,  N.  F.  1849.  p.  270  ff. 

2)  Sinirock,  Wartburgkrieg,  p.  19.5  ff.  .303.  Vgl.  v.  d.  Ilagen, 
Briefe  in  die  Heimath,  lU,  p.  169  f.  Gcnthc,  Leben  und  Fortleben  etc. 
p.  68  f. 

3)  Vgl.  Cholevius,  Gesch.  d.  deutsch.  Poesie  nach  ihren  autiken 
Elementen  I,  96.  Bartsch,  Herzog  Ernst,  p.  CXLVHl  ff. 


Virgil  iu  der  Volkssage.  2Gi) 

Geist  iu  Gestalt  einer  Fliege  eingeschlosseu  war,  gelang  es  ihm, 
sich  der  Bücher  und  Schätze  des  Zauberers  zu  bemächtigen.  In- 
zwischen waren  die  1200  Jahre  verflossen,  und  die  Jungfrau  gebar 
Jesus.  — 

So  verband  sich  also  die  älteste  Vorstellung  vom  Propheten 
Vii-gil  mit  der  Sage  vom  Zauberer  Virgil,  welche  den  Dichter  im 
Besitze  eines  Zauberbuches,  aus  dem  er  jene  Künste  schöpfte,  dar- 
stellte ^).  Wir  erkennen  in  demselben  das  Buch  über  die  „ars 
notoria"  wieder,  welches  nach  Gervasius  jener  Engländer  in  Vir- 
gil's  Grabe  gefunden  hatte,  und  welches  hier  zu  dem  Buche  Za- 
bulous  geworden  ist,  wie  es  bei  anderen  Schriftstellern  zu  dem  von 
Salomon  verfassteu  Buch  über  Schwarzkunst  wird,  welcher  ja  in 
der  Geschichte  der  Zauberei  ebenfalls  eine  Rolle  spielt.  Im  Wart- 
burgkriege helsst  es,  dass  Virgil  jenes  Buch  Zabulons  nur  mit 
grosser  Anstrengung  erlangte').  —  In  andern  Versionen  steht  die 
Sage  aber  auch  in  gar  keiner  Beziehung  zu  der  Erscheinung  Christi. 

Ungefähr  zu  derselben  Zeit  einzahlt  „Enenkel"  in  seinem  „Welt- 
buch", wie  Virgil,  jener  „Sohn  der  Holle ^)"  sich  seine  ausser- 
ordentlichen Kenntnisse  der  Zauberei  verschafi"t  habe:  Als  er  näm- 
lich einst  in  einem  Weinberge  grub,  stiess  er  den  Spaten  so  tief 
in  die  Erde,  dass  er  eine  Flasche  traf,  in  welcher  zwölf  Teufel 
eingeschlossen  waren;  während  er  sich  noch  über  den  Fund  freute, 
fing  einer  der  Teufel  an  zu  reden  und  sagte,  dass  er  ihm  alle 
Geheimnisse  lehren  wolle,  wenn  er  ihn  befreie.  „Erst  lehrt  mir 
sie",  antwortete  Virgil,  „und  dann  will  ich  Euch  befreien".  So 
gaben  ihm  denn  die  Teufel  Unterricht  in  der  Magie,  Virgil  zer- 
brach die  Flasche  und  Hess  die  Geister  frei.  —  Der  in  der  Mitte 
des  vierzehnten  Jahi-hunderts  lebende  Dichter  Heinrich  von 
Müglin  erzählt  dieselbe  Begebenheit  in  einer  dem  Reinfrit  sehr 
nahe  kommenden  Weise,  ohne  aber  von  dem  Erscheinen  Christi 
zu  sprechen*):  Virgil  besteigt  mit  andern  Gefährten  in  Venedig 
ein  Schiff,    um    sein  Glück    zu    versuchen    und    kömmt    nach  dem 


1)  Etwas  Aehnliches  erzählt  die  Sage  vom   Zauberer  Heliodor    und 
Petrus  Barliarius. 

2)  ,,Wer  gab  dir  Zabulones  buch, 
sage  fürwert,  wiser  man. 

Das  Virgüius  öf  den  Agetsteine 
mit  grossen  nöten  gewan." 

3)  „Er  was  gar  der  helle  kint"  bei  v.d.  Hagen,  Gesammtabenteuer, 
11,  p.  513  ff. 

4)  Publicirt  von  Zin gerle  in  Pfeiffer's  Germania  V,  369  ff. 


270  Virgil  in  der  Volkssage. 

Magnetberge  'j,  dort  findet  er  in  einer  Flasche  eingeschlossen  einen 
Geist,  welcher  ihm  für  den  Preis  der  Freiheit  einen  Ort  nennt, 
wo  unter  dem  Haupte  eines  Todten  ein  Zauberbuch  liegt.  Es  ge- 
lingt Virgil,  dasselbe  zu  entdecken.  Kaum  aber  schlägt  er  es  auf, 
so  kommen  80,000  Teufel  heraus,  welche  ihm  zu  Diensten  stehen, 
und  durch  welche  er  eine  lange  Strasse  püasteni  lässt.  —  Im 
fünfzehnten  Jahrhundert  erzählte  Feljx  Hämmerlein  ^),  wie  ein  Geist 
in  der  Hoffnung  die  Freiheit  zu  erlangen,  deiu  Virgil  zum  Besitze 
des  Zauberbuches  Salomons  verholten  habe;  Virgil  lässt  -  also  den 
Geist  aus  der  Flasche  heraus;  da  er  aber  sieht,  welche  Ausdehnung 
derselbe  annimmt,  glaubt  er,  es  sei  doch  nicht  gut,  wenn  ein  Wesen 
dieser  Art  die  Freiheit  habe.  Er  stellt  sich  daher  einfältig  und 
sagt  :  „Du  kannst  gewiss  nicht  wieder  in  die  Flasche  hinein."  Der 
Teufel  sagt  „Ja",  Virgil  entgegnet  „Nein,  Nein",  bis  endlich  der 
Teufel  sich  klein  macht  und  zeigt,  dass  er  Recht  gehabt  hat.  Kaum 
ist  er  wieder  in  der  Flasche,  so  versiegelt  Virgil  dieselbe  mit  dem 
Siegel  Salomons  und  lässt  den  Teufel  für  immer  in  der  Flasche. 
In  jener  ihrem  Ursprünge  nach  rabbinischen  und  muhammedanischen 
Sage  von  dem  gefesselten  Geiste,  der  dem  Befreier  seine  Dienste 
anbietet,  erkennt  man  eine  Erzählung  aus  Tausend  und  eine  Nacht 
wieder,  welche  der  bekannten  Geschichte  vom  „hinkenden  Teufel" 
zu  Grunde  liegt.  Wie  auf  Virgil,  so  wird  aber  auch  dieselbe  Er- 
zählung auf  Paracelsus  angewandt  und  kehrt  ausserdem  noch  heute  in 
vielen  Volksmärchen  wieder^). 

So  durchwanderte  also  die  Sage  vom  Zauberer  Virgil  alle 
romanischen  wie  germanischen  Länder;  ja,  es  gab  keinen  Sclirifl- 
steller,  der  sie  nicht  kannte,  und  da  sie  so  reich  au  verschiedeneu 
Begebenheiten  und  so  berühmt  war,  eignete  sie  sich  auch  vor- 
trefflich dazu,  immer  neuen  Zuwachs  in  sich  aufzunehmen;  denn 
auch  für  die  Berühmtheit  einer  Sage  gilt  das  Wort  „Ün  ne  prete 
qu'aux  riches."     Ein   etwas    mehr   abstracter   Ausdruck  jener  Vor- 


1)  Beim  Alltritt  der  Reise  betet  er  inbrünstig  zu  Maria: 

„Maria  muter,  reine  meit, 
bbut  uns  vor  leit! 
wir  sweben  üf  wildes  meeres  vlnt, 
got  der  soll  uns  bewarn." 

2)  Do  nobilitate,  cap.  2,  fol.  VIII;  vgl.  Roth,  a.  a.  ü.  p.  298. 

3)  Vgl.  Dunlop-Liebrecht,  p.  185-483.  Üriram,  Kinder-  und 
Hausmärchen.  99.  Du  Morii,  Etudes  d'Archéol.  p.  463.  Jülg,  Ardschi- 
Bordschi  p.  70.  Benfey,  Pantschatautra  I,  115  ff.  Vernaleckeu,  Mythen 
und  Bräuche  des  Volkes  in  Oesterreich,  p.  262. 


Virgil  in    der  Volkssage.  27 i 

Stellung  von  Virgil  findet  sich  in  einem  merkwüi-digen  lateinischen 
Buche,  welches  zwar  keine  Virgilsagen  erzählt,  aber  doch  seines 
Inhaltes,  wie  des  Ansehens  wegen,  das  sich  der  Verfasser  gibt, 
hierher  gehört.  Der  Titel  des  Buches  lautet:  „Virgili!  cordubensis 
philosophia  ^)".  Demnach  wäre  jener  Virgil  von  Cordova  ein  ara- 
bischer Philosoph,  und  sein  Werk  zu  Toledo  im  Jahre  1290  aus 
dem  Arabischen  in's  Lateinische  übersetzt^).  Aber  der  Verfasser 
war  gewiss  kein  Araber  und  wusste  noch  weniger  etwas  von  ara- 
bischen Studien,  sonst  hätte  er  einen  arabischen  Philosophen  nicht 
Virgil  imd  als  seine  Zeitgenossen  Seneca,  Avicenna,  Averroes  und 
Algazel  nennen  können.  Der  Verfasser  ist  vielmehr  ein  Charlatan, 
jkvelcher  durch  Virgil's  Xamen  und  den  Schein  arabischer  Weis- 
heit auf  seine  Leser  Eindruck  machen  wollte.  Mit  unglaublicher 
Dreistigkeit  erzählt  er  am  Anfange  seines  Werkes,  dass  alle  grossen 
Gelehrten,  die  in  Toledo  zusammen  kämen,  bei  ihren  Verhandlungen 
ihn  zu  Käthe  zögen,  weil  sie  von  seiner  Kenntniss  aller  geheimen 
und  verborgenen  Dinge  erfahren  hätten,  die  er  sich  „durch  die 
Wissenschaft  der  Schwarzkunst  oder,  wie  andere  richtiger  sagen, 
durch  „Eefulgentia"  angeeignet  habe.  Mau  bat  ihn,  nach  Toledo  zu 
kommen,  aber  er  wollte  nicht;  und  so  begaben  jene  Wissbegierigeu 
sich  nach  Cordova.  Es  werden  nun  in  dem  Buche  alle  die  wich- 
tigen Verhandlungen  erörtert,  die  in  Bezug  auf  den  Grund  aller 
Dinge,  die  Welt  und  Seele  Statt  fanden,  so  wie  die  bedeutenden 
Mittheilungen  verzeichnet,  welche  der  Autor  jenen  Philosophen 
macht,  nachdem  er  bei  Gelegenheit  die  Geister  darüber  befragt 
hat.  Die  Ars  notoria  nennt  er  eine  heilige  Wissenschaft,  nur  dem 
zugänglich,  der  rein  von  Sünde  sei,  und  geschaffen  von  den  guten 
Engeln,  die  sie  dem  Könige  Salomo  niittheilten^).    Dieser  nämlich 


1)  PubUcirt  von  Heine  in  der  Bibliotheca  aueedotorum,  seu  veterum 
mouumentorum  ecclesiasticorum  coUectio  novissima.  Pars  I.  Lipsia  1848 
p.  211  S. 

2)  Hr.  Dr.  Steinschneider  äusserte  mir  seine  Zweifel  über  dies  Datum 
und  glaubte  nicht,  dass  das  Werk  vor  Raimondo  di  Pennaforte  ge- 
schrieben sei. 

3)  „Et  unus  magister  legebat  de  arte  notoria  quae  est  scientia 
saucta,  et  ita  debet  esse  sanctus  qui  eam  voluerit  legere  ;  similiter  et 
audientes  saucti  et  immaculati  et  sine  peccato  debent  esse  etc."  p.  242. 
Die  erfundenen  Xachrichteu,  die  der  Autor  in  Betreff  der  Unterweisungen 
in  der  Ars  notoria,  Pyromantia,  >;egromantia  und  Geometria,  die  in  Cor- 
dova von  specieUen  Lehrern  ertheilt  worden  seien,  gibt,  sind  im  Ama- 
dor  de  Los  Rios  für  baare  Münze  genommen  worden  (Hist.  crit.  de  la 
lit.  espan.  H,  159). 


272  Virgil  in  der  Volkssage. 

schloss  die  Geister  in  einer  Flasche  ein,  mit  Ausnahme  eines  Ein- 
zigen, welcher  lahm  war  und  nun  die  andern  befreite.  Zur  Zeit, 
als  Alexander  nach  Jerusalem  kam,  glückte  es  dem  Aristoteles, 
der  damals  noch  ganz  unwissend  und  unbekannt  war,  die  Bücher 
des  Salomo  zu  entdecken,  und  erst  von  da  an  wurde  er  ein  grosser 
Weiser.  —  Die  Latinität  dieses  Werkes  strotzt  von  grammatischen 
Fehlern,  und  der  philosophische  Inhalt  desselben  ist  eine  sonder- 
bare Mischung  von  jüdischen,  rabbinischen  und  christlichen  Lehren, 
unter  denen  die  von  der  Dreieinigkeit  Gottes  besonders  hervor- 
ragt. Auf  Virgil  bezieht  sich  eigentlich  nur  der  Name  des  Ver- 
fassers. Der  Grund  jedoch,  weshalb  sich  derselbe  „Virgil"  nennt, 
liegt  in  der  idealen  Vorstellung  vom  Zauberer  Virgil,  wie  ja  auch 
die  aus  der  Beziehung  des  Dichters  zum  grammatischen  Studium 
hervorgehende  ideale  Vorstellung  jenen  nicht  weniger  sonderbaren 
Grammatiker  dazu  geführt  hatte,  sich  „Virgil"  zu  nennen;  und  es 
ist  in  der  That  von  Bedeutung,  wenn  man  sieht,  wie  sich  die 
Ergebnisse  zweier  so  ganz  verschiedener  Entwickelungen  in  der 
Geschichte  des  Ruhmes  Vii-gil's  entsprechen,  so  dass  der  Name 
desselben  nicht  nur  mehrmals  von  dem  Wechsel  der  Cultur  beein- 
flusst  worden  ist,  sondern  auch  dieselbe  so  in  sich  aufgenommen 
hat,  dass  er  geradezu  zum  Symbol  und  Repräsentanten  derselben 
wird. 

Nichts  von  dem,  was  das  Volk  einem  Zauberer  zuschrieb,  blieb 
von  der  Sage  dem  Virgil  erspart:  nachdem  einmal  die  Vorstellung 
vom  Zauberer  Virgil  sich  gebildet  und  Wurzel  gefasst  hatte,  und 
der  Kern  der  Sage  bekannt  geworden  Avar,  fanden  sich  alle  Zu- 
thaten  von  selbst  ein.  Wie  alle  guten  Zauberer  in  Toledo  studili, 
haben  mussten,  so  auch  Virgil,  Gerbert  u.  A.  Elinandus  sagt:  „Die 
Gelehrten  gehen  nach  Paris,  um  die  freien  Künste,  nach  Bologna, 
um  die  Gesetze,  nach  Salerno,  um  die  Arzneien,  nach  Toledo,  um 
die  Teufelskunst,  und  nirgendshin,  um  die  guten  Sitten  zu  studireu"  ^). 
Es  war  jedoch  natürlich,  dass  die  Berühmtheit  des  Zauberers 
Virgil,  so  wie  der  Umstand,  dass  dabei  Neapel  eine  solche  Rolle 
spielte,  bewirkten,  dass  man  nun,  was  den  Ursiirung  der  Schwarz- 
kunst betraf,  auch  Neapel  als  Schwesterstadt  Toledo's  betrachtete^); 
und  eben  so  unvermeidlich  war  es,  dass  die  Romantik,  in  welcher 


1)  S.  Tissier,  Bibl.  cisterc.  VII,  257. 

2)  „De  Toulete  vint  et  de  Naples  qui  des  batailles  sont  les.chapes 
àunenuit  laNigroinance."  La  bataille  des  VII  arts  bei  Jubiual,  Oeuvres 
de  Ruteboef  II,  423. 


Virgil  ili  (lev  Volkssago.  273 

sich  so  viele  andere  Zauberer  begegneten,  auch  den  Virgil  mit 
einigen  von  diesen  in  Beziehung  setzte.  Im  Parcival  des  Wolfram 
von  JJschenbach  ist  der  Zauberer  Klinsor  aus  Terra  di  Lavoro  ge- 
bürtig, und  Virgil  sein  Vorfahr  ^).  Auch  an  einer  Berührung  Virgils 
mit  dem  Zauberer  Merlin  hat  es  nicht  gefehlt^).  Die  Sage  hatte 
sich  auf  diese  Weise  aus  einer  einfachen  Aufzählung  von  wunder- 
baren Werken,  mit  denen  mau  Virgils  Namen  verknüpfte,  zu  einer 
Reihe  von  Begebenheiten  umgestaltet,  welche  die  Persönlichkeit 
des  Zauberers  Virgil  charakterisirten  und  gleichsam  die  Elemente  zu 
einer  Biographie  desselben  abgaben.  In  der  Image  du  Monde  und 
Renart  contrefait  schloss  ja  schon,  wie  wir  gesehen  haben,  die  Er- 
zählung mit  dem  Tode  Virgils,  und  in  der  Image  du  monde  ward 
der  Dichter  also  beschrieben  : 

„II  fu  de  petite  estature 
maigres  et  corbes  par  nature, 
et  aloit  la  teste  baissant, 
toz  jors  vers  terre  resgardant: 
Car-  coustume  est  de  soutil  sage 
c'à  terre  esgarde  par  usage," 

ähnlich  wie  es  im  Dolopathos  heisst  : 

„Virgile  de  poure  estature 
et  petite  personue  estoit; 
com  philosophe  se  vesto  it." 

Ferner  gibt  es  in  der  Vii-gilsage  eine  vereinzelte  Gruppe  von 
Erzählungen,  die  nur  selten  auf  Virgil  bezogen  werden,  sich  nie- 
mals in  einer  Sammlung  von  Legenden  finden,  welche  von  der 
Zauberei  Virgils  berichten,  und  in  denen  der  Name  des  Dichters 
ganz  willkürlich  und  ohne  inneren  Zusammenhang  von  einem 
Compilator  mit  der  Darstellung  verwebt  wird.  Dies  zeigt  sich  be- 
sonders in  den  „Gesta  Romanorum",  einem  Repertorium,  welches 
die  verschiedensten  Schicksale  erfahren  hat.  Der,  welcher  an  die 
Stelle  eines    „magister"    in  der  Erzählung   von   der  Bildsäule,  die 


1)  „Sin  lant  heizt  Terre  de  Labor. 
Von  des  nachkomn  er  ist  erborn, 
der  euch  vii  wunder  het  erkorn 
von  Napels  Virgilius." 

Parcival  (Lachm.)  p.  309. 

2)  Bei  Bonamente  Aliprando. 

Comparetti,   Virgil  im  Mittelalter.  18 


274  Virgil  iu  der  Volkssage. 

alle  Uebertreter  des  Gesetzes  anklagte^),  deu  Namen  VirgiFs  setzte, 
hatte  gewiss  dabei  die  „Salvatio  Romae"  und  den  „Wunderspiegel" 
im  Sinne,  und  ebenso  dachte  der,  welcher  in  der  Erzählung  No.  102 
dem  Geistlichen,  der  einem  Ehenianne  die  Untreue  seiner  Gattin 
und  deren  Versuch,  ihn  durch  Zauberkünste  zu  tödten,  oÖenbart, 
den  Namen  Virgils  gab,  au  den  Zauberspiegel  desselben.  Beson- 
ders findet  sich  Virgil  in  die  deutschen  und  englischen  Texte  der 
„Gesta"  eingeflochten,  da,  wo  er  in  den  ältesten  Bearbeitungen 
noch  nicht  auftritt"^),  z,  B.  in  der  Erzählung  vom  Kauf  manne  von 
Venedig.  Diese  ünbeschränktheit  der  Phantasie  kann  uns  aber 
nicht  überraschen,  sondern  beweist  nur,  wie  bekannt  die  Sage  vom 
Zauberer  Virgil  allen  Erzählern  war.  Dieselben  kannten  Virgil 
aus  der  Sage  als  Erbauer  der  Stadt  Neapel  und  sclirieben  ihm 
nun  natürlich  auch  die  Erbauung  von  anderen  Städten  und  Ge- 
bäuden, besonders  in  Italien  zu^),  so  die  Häuser  auf  der  Insel 
Ponza^)  unweit  "Gaeta,  oder  die  Gründung  von  Brescia''),  letztere 
nach  einem  unedirten  französisch -italienischen  Gedicht. 


1)  Cap.  57  (Keller).  Vgl.  die  Note  von  Brunet  zum  Vidier  des 
bist.  rem.  p.  129  f.  Hierauf  spielt  auch  eine  von  Francowitz  (Flacius 
Illyricus)  in  seiner  Sammlung:  de  corrupto  ecclesiae  statu  (Basilea  1557) 
veröffentlichtes  Gedicht  an.     Die  Justitita  sagt  nämlich: 

„En  sie  meum  opus  ago 

ut  Romae  fecit  imago 

quam  sculpsit  Virgilius, 

quae  manifestare  suevit 

fures,  sed  caesa  quievit 

et  OS  clausit  digito; 

numquam    ultra    dixit    verbum 

de  perditione  rerum 

palam  uec  in  abdito." 

2)  Vgl.  Wright,  The  politicai  songs  of  England  from  the  reigu  of 
John  to  tbat  of  Edward  the  II,  p.  388. 

3)  Alardo  da  Cambrai  sagt  in  dem  „Diz  des  Philosophes"  : 

„Virgiles  fu  apres  li  sages: 
bien  fu  emploit's  ses  aages: 
grant  science  en  lui  habonda; 
mainte  riche  cito  fonda." 

4)  Ruy  Gonzales  de  Clavijo  (tl412)  sagt  von  Ponza:  „bay  en 
ella  graudes  edificios  de  muy  grande  obra  que  tizo  Virgilio."  S.  Tick  no  r, 
Hist.  ol'  spanish  lit.  I,  185. 

5)  Das  Gedicht  steht  in  einem  Ms.  (13.  Jahrb.)  der  Marciana  von 
Venedig,  und  hoisst  es  da  von  üggieri: 

„Et  albergò  a  un  bon  oster; 

quel  fo  Virgilio  qi  la  fondò  primcr" 


Virgil  iu  der  Volkssage.  275 

Wir  beschliessen  diese  Bemerkungen  mit  einer  zwar  wenig 
verbreiteten,  aber  beachtenswei'then  Erzählung,  welche  die  Virgil- 
sage  mit  Julius  Caesar  verknüpft. 

Die  Eömer  glaiabten  im  Mittelalter,  dass  die  vergoldete  Kugel 
auf  dem  Vaticanischeu  Obelisken  die  Asche  Julius  Caesar's  ent- 
hielte ^).  Darauf  beziehen  sich  die  dem  Marbod,  Bischof  von  Rom, 
zugeschriebenen  mittelalte rhchen  Verse,  welche  sich  nebst  der  Le- 
gende in  den  Mirabilia  finden  : 

„Caesar,  tantus  eras  quantus  et  orbis, 

Et  nunc  in  modico  clauderis  antro  ^)." 
Elinandus  ^)  fügt  zu  dieser  Inschrift  in  einer  seiner  Reden  noch  die 
folgenden  dem  Virgil  zugeschriebenen  Verse 

„Post  hiinc   quisque  sciat  se  ruiturum 

Et  jam  nulla  mori  gloria  toUat^)." 
hinzu.  Nach  einer  im  „Victorial"  des  Gutien-e  Diaz  de  Games 
(15.  Jahrb.)  erzählten  Sage  wurde  jener  Obelisk  von  Salomon  er- 
richtet, welcher  in  der  Kugel  seine  Gebeine  beisetzen  liess.  Als 
Julius  Caesar  stai-b,  ging  Virgil  nach  Jerusalem  und  verlangte  von 
den  Juden  das  Denkmal.  Diese  glaubten,  er  treibe  Spott  mit  ihnen, 
und  versprachen  ihm  dasselbe,  vorausgesetzt,  dass  er  ihnen  täglich, 
bis  dass  der  Obelisk  in  Rom  angekommen  wäre,  eine  gewisse  Summe 
auszahle.  Aber  Virgil  bevrirkte  durch  seine  Zauberkünste,  dass  der 
Obelisk  in  einer  Nacht  von  Jerusalem  nach  Rom  kam,  imd  so 
setzte  man  die  Gebeine  Caesar's  an  Stelle  der  des  Salomon  in  der 
Kugel  bei^). 


d.  h.  er  gründete  die  Stadt  B esgora,  die,  wie  aus  den  Toskanischen 
Uebersetzungen  hervorgeht,  Brescia  ist.  Ich  verdanke  diese  Notiz  meinem 
gelehrten  Schüler  Prof.  Rajna,  welcher  im  Begriffe  i.st,  eine  Arbeit  über 
das  Gedicht  zu  pubüciren. 

1)  Vgl.  Gregorovius,  Gesch.  d.  St.  Rom  III,  557  imd  Mass- 
maun,  Kaiserchronik  III,  p.  537  ff.  Dolce  (Op.  burt.  del  Berni  I,  parte 
II,  p.  271)  sagt  mit  Anspielung  darauf: 

„Non  la  Guglia,  ov'  è  il  pomo  che  accogliea 
II  cener  di  chi  senza  Durlindana 
Orbem  'terrarum  si  sottomettea." 

2)  Var:  „At  nunc  exigua  clauderis  urna." 

3)  Bei  Tissier,  Bibl.  patr.  cisterc.  VII,  222. 

4)  Vgl.  „Bruchstücke  aus  den  noch  ungedruckten  Theilen  des  Victo- 
rial von  Gutierre  Diaz  de  Games"  hrsg.  v.  L.  G.  Lemcke,  Marb.  1865 
p.  17  ff.  Le  Victorial  par  Gutierre  Diaz  de  Games  trad.  de  I'espagn.  par 

18* 


27G  Virgfil  in  der  Volkssage. 

Diese  ziemlich  vereinzelten  Tiruehstücke  der  Sage  liefern  keinen 
besonderen  Beitrag  zur  Schilderung  des  Zauberer' s  Virgil,  i;nd  mau 
würde  ohne  Nutzen  eine  Sammlung  sämmtlicher,  derartiger  Bei- 
spiele veranstalten.  Allein  das  Bild,  welches  wir  bis  jetzt  aus  der 
Betrachtung  der  Sage  gewonnen  haben,  ist  noch  nicht  abgeschlossen, 
wenn  mau  bedenkt,  dass  eine  der  Romantik  so  vertraute  Figur 
doch  unmöglich  ohne  Beziehung  zu  dem  schönen  Geschlecht  bleiben 
konnte;  und  so  wenden  wir  uns  denn  jetzt  zu  dieser  Seite  der 
Sage. 

Achtes  Capitol. 

Diejenigen,  welche  behaupten,  dass  das  Weib  dem  Christen- 
thum  und  Kitterthum  besonders  zu  Danke  verpflichtet  sein  müsse, 
geben  sich  einer  Täuschung  hin,  welcher  die  geschichtlichen  That- 
sachen  durchaus  nicht  entsprechen.  Es  haben  mich  zwar  einige 
Kritiker  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  ich  hier  der  allgemeinen 
Anschauung  entgegentrete,  ohne  die  meinige  hinreichend  zu  begrün- 
den. Allein  meine  Ansicht  ist  das  Ergebniss  eingehendster  Studien, 
und  ich  behalte  mir  vor,  an  einem  passenderen  Orte  ausführlicher 
auf  diesen  Gegenstand  zurückzukommen.  Das  Ideal  der  heiligen 
Jungfrau  wie  der  Dame  der  romantischen  Dichter  sind  Schöpfungen, 
welche  man  mit  der  sittlichen  Oi'dnung  nicht  vereinbaren  kann. 
Was  sollte  wol  ans  der  Menschheit  werden,  wenn  jedes  Weib  eine 
heilige  Therese  oder  eine  Isolde  wäre,  zwei  Gestalten,  die,  so  ver- 
schieden sie  sind,  für  die  Gesellschaft  gleich  verderblich  wären, 
weil  sie  die  Grundlage  derselben,  die  Familie  vernichteten.  Die 
Menschheit  hatte  eine  unerschöpfliche  Kraft  nöthig,  um  gegen 
diese  beiden  mächtigen  Prinzipien  anzukämpfen  ;  das  eine  derselben 
hätte  aus  der  Welt  eine  Einöde  geschaffen,  in  der  nur  noch  das 
Individuum  lebte,  das  andere  ein  Narrenhaus,  neben  dem  weder 
Moral  noch  Gemeinsinn  hätte  bestehen  können.  Auf  der  einen 
Seite  feierten  die  Kirchenväter  und  kirchlichen  Schriftsteller  das 
Coelibat  als  den  einzigen  Stand,  in  welchem  der  Mensch  zur 
Vollendung  gelange.  Eine  solche  Lehre  aber  ist  nicht  allein  un- 
vernünftig, sondern  unsittlich,  weil  egoistisch,  denn  sie  setzt  die 
Vervollkommnung   des   Menschen   in   offenen  Widerspruch  mit  den 


le  C^e  A.  de  Circouit  et  le  C*^  de  Puymaigre,  Paris  1867  p.  39  f.  542  f. 
Dieselbe  Erzählung  bei  d'Outremeuse,  Le  myreur  des  bist.  I.  p.  24.3 
(ed.  Borguet,  Brux.  18G4).  Auch  Rabelais  spielt  darauf  an,  da,  wo  er  sagt 
(II  c.  33):  Pour  ce  Ton  feit  dixsept  grosses  pommes  de  cui  vre,  plus 
grosses  que  celle  qui  est  à  Rome  à  Taiguille  de  Virgilo." 


Virgil  in  der  Volkssage.  277 

natürlichen  Gesetzen  der  menschlichen  Gesellschaft,  ja,  sie  stellt 
die  Existenz  der  Menschheit  selbst  in  Frage.  Wer  das  Mittelalter 
kennt  und  sich  jene  ganze  Schaar  von  Autoritäten  vergegenwärtigt, 
die  bei  jeder  Gelegenheit  die  Ehe  iind  das  Weib  durch  Eede, 
Schrift  und  Beispiel  in  Misscredit  zu  bringen  suchen,  dem  muss 
die  Heiligsprechimg  der  Ehe  geradezu  als  ein  Hohn  auf  das 
Christenthum  erscheinen.  Auf  der  anderen  Seite  trieb  aber  das 
Ritt^-thum,  welches  die  ehelichen  Bande  auflöste  und  dem  Weibe 
die  Grundlage  seiner  Würde,  die  Ehrbarkeit  und  Achtung  vor 
sich  selbst  entzog,  zu  ganz  denselben  für  die  Gesellschaft  tödtlichen 
Folgen.  So  kam  es,  dass  trotz  einiger  reiner  Frauengestalten  der 
christlichen  Legende,  trotz  des  dem  weiblichen  Geschlechte  bei 
Turnieren,  Liebeshöfeu  und  in  Romanen  gestreuten  '  Weihrauches, 
das  Weib  zu  keiner  anderen  Zeit  schändlicher  beleidigt,  verspottet 
und  erniedrigt  worden  ist,  als  im  Mittelalter,  und  zwar  in  den 
erwähnten  theologischen  Schriften  in  gleicher  Weise  wie  in  den 
Gassenliedem.  Eine  unglaubliche  Menge  von  meist  trivialen  imd 
schmutzigen  Anekdoten  trugen  zu  dieser  Erniedrigimg  des  Weibes 
bei,  und  was  unglaublich  klingt,  derartige  Erzählungen  finden  sich 
nicht  blos  in  ünterhaltungsschriften  sondern  auch  iu  den  Reper- 
torien  der  Prediger,  welche  dieselben  von  der  Kanzel  herab  vor- 
trugen, scheinbar  um  eine  Moral  daraus  zu  ziehen,  in  Wahrheit 
jedoch  oft  auch  nur  um  die  Lacher  auf  ihrer  Seite  zu  haben  ■^). 
Wer  derartige  Repertori en  kennt,  wii'd  den  unwilligen  Ausruf 
Dante's  verstehen: 

„Ora  si  va  con  motti  e  con  iscede 
A  predicare,   e  pur  che  ben  si  ride, 
Gonfia  il  cappuccio,  e  più  non  si  richiede." 

Eine  solche  erniedrigende  Anschauung  zeigt  auch  der  Theü 
der  Virgilsage,  welcher  sich  auf  das  Weib  bezieht.  In  der  ältesten 
und  bekanntesten  Erzählung  vom  verliebten  Virgil  tritt  der  Dichter 
iu  ein  Verhältniss  zu  einer  jungen  römischen  Kaiserstochter;  die 
Gluth  seines  Herzens  aber  findet  keine  Erwiderung,  und  seine 
grausame  Geliebte  erlaubt  sich  sogar,  den  grossen  Mann  zu  ver- 
spotten. Sie  stellt  sich  nämlich,  als  ob  sie  seinem  Flehen  Gehör 
gäbe,  und  schlägt  ihm  vor,  sich  bei  Nacht  in  einer  Kiste  an  das 
Fenster  des  Thurmes,    in    welchem    sie    wohnt,    empor    ziehen  zu 


1)  Vgl.  Graesse,  Gesta  Romanoi-um,  II,  p.  289.  Du  Méril;,  Poésies 
populaires  latines  du  mcyen-age,  p.  315. 


278  Virgil  in  der  Volkssage. 

lassen.  Virgil  geht  jubelnd  auf  den  Vorschlag  ein,  legt,  sich  in 
die  Kiste  und  fühlt,  wie  dieselbe  emporgehoben  wird.  So  geht 
die  Reise  bis  zu  einem  gewissen  Pmikte  ganz  gut,  als  das  Ge- 
fährt plötzlich  auf  halbem  Wege  anhält  und  bis  Tagesanbruch 
stehen  bleibt,  wo  denn  das  laute  Gelächter  des  römischen  Volkes 
ausbricht,  welches  die  ehrbare  Persönlichkeit  Virgil's  in  einer  so 
schwankenden  Situation  sieht.  Doch  damit  ist  die  Geschichte  noch 
nicht  zu  Ende.  Virgil,  welcher  endlich  wieder  festen  Boden  iinter 
seinen  Füssen  findet,  wäre  hart  bestraft  worden,  wenn  er  sich 
durch  seine  Kunst  nicht  der  Strafe  zu  entziehen  gewusst  hätte. 
Aber  die  Schmach,  die  man  ihm  angethan,  war  unverzeihlich,  und 
er  sann  auf  schreckliche  Rache  :  Er  bewirkte  deshalb,  dass  plötzlich 
alles  Feuer  in  Rom  erlosch,  und  machte  bekannt,  dass,  wer  neues 
haben  wollte,  es  unter  der  Kaiserstochter  finden  würde,  und  zwar 
müsse  ein  Jeder  für  sich  selbst  hingehen,  um  es  zu  holen,  da  sich 
das  Feuer  nicht  mittheilen  lasse.  So  geschah  es  in  der  Tbat: 
Die  Kaiserstochter  ward  auf  ötfentlichem  Platze  in  einer  nicht 
näher  zu  beschreibenden  Position  ausgestellt  imd  musste  sich  die 
Strafe  gefallen  lassen. 

Diese  Erzählung  besteht  aus  zwei  verschiedenen  Theileu,  die 
sich  auch  getrennt  von  einander  finden,  der  Verspottung  des  Dich- 
ters und  der  Rache  der  Prinzessin.  Als  Magier  tritt  Virgil  eigent- 
lich nur  in  dem  letzten  Theile  auf,  während  der  erste  gleich  zahl- 
losen anderen,  der  profanen  wie  der  heiligen  Geschichte,  der 
Ueberlieferung  des  Alterthums  oder  auch  der  reinen  Sage  ent- 
lehnten Erzählvmgen  des  Mittelalters  die  Idee  zur  Anschauung 
bringen  will,  dass  keine  Mannesgrösse  an  die  Bosheit  des  Weibes 
heranreiche.  Adam,  David,  Simson,  Hercules,  Hippokrates,  Aristo- 
teles und  eine  Menge  anderer  erlauchter  Geister  figurirten  in  der 
Liste  derer,  welche  der  Schlauheit  des  Weibes  zum  Opfer  fielen. 
Wenn  also  schon  Hippokrates  und  Aristoteles  ihren  Namen  für 
solche  Fabeleien  hergeben  mussteu,  so  verstand  sich  das  für 
Vii-gil,  dessen  Weisheit  noch  besonders  berühmt  war,  eigentlich 
ganz  von  selbst.  Als  Beleg  dafür  mögen  die  folgenden  französischen 
Verse  eines  Anonymus  dienen: 

„Par  femme  fut  Adam  deceu 
et  Virgile  moqué  en  fu, 
David  en  fist  faulx  jugement 
et  Salemon  faulx  testament; 
Ypocras  en  fu  enerbé. 


Virgil  in  der  Volkssage.  279 

Sauson  le  fort  deshonnoré; 
feinme  chevaucha  Aristote, 
il   n'est  rien   qiie   femme  n'assote  ^)." 

Eiistache  Deschamps  (14.  Jahrb.)  sagt: 

•„Par  femme  fu  mis  à  destruction 
Sanxes  li  fort  et  Hercules  en  rage, 
ly   roy  Davis  à  redargucion, 
si  fut  Merlins  soubz  le  tombel  en  caige; 
nul  ne  se  puet  garder  de  leur  langaige. 
Par  femme  fut  en  la  corbaille  à  Eomrae 
Virgile  mis,  dont  ot  moult  de  hontaige. 
II  n'est  chose  que  femme  ne  consumme^)". 

Später  liess  Bertrand  Desmoulins  in  seinem    Rosier  des  Dames 
die   Wahrheit  also  sxH-echen: 

„Que  fist  à  Sanson  Dalida 
quant  le  livra  aux  Philistins, 
n'à  Hercules  Dejanira 
quant  le  fict  mourir  par  venius? 
une  femme  par  ses  engins 
ne  trompa-elle  aussi  Virgile 
quant  à  uns  panier  il  fut  prins 
et  puis  pendu  emmy  la  ville  ^)?" 


1)  Aus  einem  Berner  Mauucript,  mitgetheilt  von  C  ha  baili  e ,  Li 
livres  don  Tresor  par  Brunetto  Latini,  p.  XVI.  Uebrigens  fällt  auf,  dass 
Brunetto  wo  er  (lib.  II,  p.  2  cap.  89)  von  dem  Unheil,  das  die  Weiber 
angerichtet  haben,  redet,  zwar  Adam,  David,  Salomon,  Sinison,  Aristo- 
teles und  Merlin,  aber  nicht  Virgil  erwähnt. 

2)  Aehnlich  die  von  Mila  y  Fontanals  (De  los  trovatore«  cn  Espaiìa 
p.  -435)  citirteu  Verse  des  Pan  de  Bellviure: 

„Por  fembre  fo  Salomó  engauat 

lo  rey  Daviu  e  Samssó  examen, 

lo  payra  Adam  ne  trencä  'l  mandament 

Aristotil  ne  fon  com  ancantat, 

e  Virgil,  fou  pendut  en  la  tor, 

e  sent  Joan  perde  lo  cap  per  llor 

e  Ypocras  morì  per  llur  barat." 

3)  S.  Recueil  de  Poésies  fran^.  des  XV  et  XVI  sièclcs  réunies  et  anno- 
téos  par  Anat.  de  Montaiglon,  V,  p.  195.  Montaiglon  citirt  dabei 
noch  andere  französische  Verse  aus  dieser  Epoche,  die  sich  auf  das 
Abenteuer  VirgiFs  beziehen,  aus  Gracian  Dupont,  der  Nef  des 
Princes  und  dem  Débat  de  Thomme  et  de  la  femme. 


280  Virgil  in  der  Volkssage. 

Zahllos  sind  die  Belege  für  diese  Anschauung,  welche  iu  der 
satirischen,  moralischen  una  komischen  Poesie  der  europiiischen 
Literatur  vom  dreizehnten  bis  sechzehnten  Jahrhundert  geradezu 
einen  Gemeinplatz  bildet^).  Von  Aristoteles  erzählt  eine  orienta- 
lische Darstellung,  dass  er  sich  seiner  Geliebten  zu  Gefallen  dazu 
verstanden  habe,  einen  Sattel  zu  tragen^),  und  nach  einem 
Fabliau  ^)  musste  Hippokrates  ganz  dasselbe  erleiden ,  was  man 
später  nur  dem  Virgil  zuschrieb  '^).  Ohne  den  Namen  beider  Männer 
kömmt  die  Geschichte  aber  auch  noch  in  einer  Novelle  des  Fortini^), 


1)  Wir  dürfen  auch  den  berühmten  Heinrich  von  Meissen  (Fiuucn- 
lob)  nicht  übergehen  der  die  Schlachtopfcr  weiblicher  List  der  Reihe 
nach  aufzählt: 

„Adam  den  crsteu  menschen  betroug  ein  wi]) 

Samsones  lip 

wart  durch  ein  wip  geblendet  etc." 

und  auch  den  Virgil  nicht  vergisst: 

„Vii-gilius 

wart  betrogen  mit  valscheu  sitten." 

Aber  der  galante  Frauenlob,  der  sonst  mit  Recht  diesen  Namen  führte, 
sieht  darin  nm-  die  Aufforderung,  die  Launen  seiner  Schönen  geduldig 
zu  ertragen.  Vgl.  v.  d.  Hagen,  Minnesinger,  HI,  p.  355. 

2)  Barbazan-Meon,  Fabliaux,  111,  96;  Le  Grand  d'Aussy,  Fa- 
bliaux,  I,  214.  V.  d.  Hagen,  Gesammtabeuteuer,  I,  LXXV  ff.;  Benfey, 
Pantschatautra  I,  461  ff.  —  Die  Anekdote  kehrt  auch  in  dem  zum  Ge- 
brauche der  Prediger  compilirten  Promptuarium  exemplorum  wieder. 
Vgl.  Du  Méril,  Mélanges  p.  474. 

3)  Le  Grand  d'Aussy,  Fabliaux,  1,  232  ff.  meint,  dass  der  Name 
des  Hi]>pokrate8  in  dieser  Erzählung  älter  als  der  des  Virgil  sei.  In  dem 
französchen  Roman  vom  h.  Graal  ist  das  Abenteuer  von  Hippokrates  er- 
zählt, die  Rache  ist  aber  anders,  insofern  Hippokrates  bewirkt,  dass 
sich  seine  Schöne  zur  Strafe  in  einen  abscheulichen  Zwerg  verlieben 
muss.  Vergi.  Paulin-Paris,  Les  romans  de  la  table  ronde  1, 
246  fi". 

4)  Auch  diese  Erzählung  stammt  wol  aus  dem  Orient,  wenngleich 
sich  bis  jetzt  in  der  orientalischen  Literatur  noch  nichts  Aelinliches  gezeigt 
hat.  Mit  den  tartarischen  Novellen  des  Gueulotte,  mit  denen  Hagen  und 
andere  die  Geschichte  haben  zusammenbringen  wollen,  hat  sie  doch  nur 
eine  sehr  entfernte  Aehnlichkeit. 

5)  „Un  pedante  credendosi  andare  a  giacere  con  una  gentildonna 
si  lega  nel  mezzo  perchè  ella  lo  tiri  su  per  una  finestra;  resta  appiccato  a 
mezza  via:  dipoi  messolo  in  terra  con  sassi  e  randelli  gli  fu  data  la 
corsa."  Fortini,  Novelle  5.  Hagen  imd  Roth  wollen  damit  die  Novelle 
Vili,  7  des  Decameron  und  eine  Stelle  des  Philocopus  Qi.  283.  Sanso- 
vino)  in  Beziehung  bringen.  Aber  gerade  in  der  Hauptsache  stimmt  der 
Vergleich  nicht. 


Virgil  iu  der  Volkssage.  281 

so  wie  in  einem  deut.scheu  ^)  und  französischen  noch  hente  bekannten 
Volksliede  vor^). 

Der  zweite  Theil  der  Erzählung  taucht  in  der  europäischen 
Literatur  schon  zwei  Jahi-hunderte  früher  auf,  bevor  man  denselben 
auf  Virgil  bezogen  hatte,  z.  B.  in  einem  alten  Texte  von  den 
„Acta"  des  Thaumaturgen  S.  Leo  ^),  welcher  im  achten  Jahrhundert 
in  Sicilien  lebte.  Diese  Acta  sind  aus  dem  Griechischen  übersetzt, 
und  die  Erzählung  stammt  gewiss  aus  dem  Orient.  In  der  That 
hndet  sich  dieselbe  mit  einigen  Abweichungen  in  einer  persischen, 
von  Defréméry*)  übersetzten  Geschichte  von  den  mongolischen 
Khans  Turkestans  und  Transoxiaua's,  wie  auch  in  einer,  einem 
arabischen  Sprichwort  zu  Grunde  liegenden  Anekdote^),  die  sich 
dann  unter  den  Byzantinern  verbreitet  haben  wird.  In  einer  neu- 
gi-iechischen  Schrift  aus  dem  vorigen  Jahrhundert  finden  wir  beide 
Theile  mit  einander  vereinigt  und  auf  den  Kaiser  Leo  den  Philo- 
sophen bezogen'').  Auf  Virgil  wurde  der  zweite  Theil  eher  als 
der  erste  angewandt,  und  zwar  scheint  das  älteste  Beispiel  dafür 
das  bereits  citii-te  Gedicht  des  Troiibadours  Giraud  de  Calan^on 
(nicht  später  als   1220)    zu    sein,    welcher   unter    anderen    Thaten 


1)  Aus  dem  15. — 16.  Jahrh.  unter  dem  Titel:  „Der  ScLroibiir  im 
Korl",  bei  Simrock,  die  deutschen  Volksbücher,  Vili,  396.  Vgl.  v.  d. 
Hagen,  Gesammtabenteuer  III,  CXLIII  und  Uh  land,  Schlitten  IV, 
512  ff. 

2)  De  Puymaigre,  Chants  populaires  recueilüs  daus  le  pays 
messin,  p.  151  f. 

3)  Acta  Sanctorum.  Feb.  III^  225.  In  der  englischen  Version  des 
Volksbuches  über  Virgil  heisst  es  dagegen  von  diesem,  dass  er  in  der 
Kaiserstochter,  die  eben  auf  der  Strasse  ist,  die  Vorstellung  erweckt,  als 
ob  sie  im  Wasser  stehe  und  sich  daher  das  Kleid  hoch  aufnimmt.  Vgl.. 
Gen  the,  Leben  und  Fortleben  des  P.  Virgilius  Maro  als  Dichter  und 
Zauberer  p.  56.  Die  Anekdote  findet  sich  auch  in  der  Sage  vom  Zauberer 
Heliodor:  „alias  (mulieres)  iter  facientes,  falsa  fluminis  specie  objeeta, 
indecore  nudaii  compulit,  et  per  siccum  pulverem  quasi  aquam  inambu- 
lare. Vgl.  Liebrecht,  Orient  und  Occident  I,  131.  Ebenso  macht  mich 
Liebrecht  auf  eine  gleiche  arabische  Sage  aufmerksam  bei  De  Hammer, 
Rosenöl,  I,  102.  Vgl.  auch  Weil,  Biblische  Legenden  der  Muselmänner, 
p.  267. 

4)  Journ.  asiat.,  IV.  sér.  19,  85  ff.;  Liebrecht  in  der  Germania 
X,  414  ff. 

5)  Freytag,  Arabum  proverbia  II,  445,  No.  124. 

6)  Liebrecht,  Neugriech.  Sagen  in  der  Zeitschr.  f.  deut.  Philol. 
V.  Höpfner  u.  Zacher,  H,  p.  183. 


282  Virgil  in  der  Volkssage. 

Virgils  auch  von  dem  Feuer  berichtete,  „das  er  auszulöschen  wus.ste" 
(„del  fbc  quo  saup  escautir").  In  der  „Image  du  monde"  wird  der 
ganze  zweite  Theil  ohne  den  ersten  erzählt.  Es  wäre  indcss  nicht 
unmöglich,  dass  man  diesen  unabhängig  von  jenem  mit  Virgil 
zusammengebracht  hätte,  noch  bevor  die  Idee  vom  Zauberer  Virgil 
entstand.  Virgil  tritt  darin  nur  als  ein  weiser  Mann  auf,  was  ge- 
rade die  Erzählung  als  Novelle  komischer,  als  Beispiel  massgebender 
macht.  Der  zweite  Theil  lässt  deutlich  erkennen,  dass  er  an  den  ersten 
nur  angeflickt  worden  ist:  Virgil  zeigt  sich  darin  als  mächtiger 
Zauberer,  während  er  im  ersten  Teile  der  Verspottung  ahnungs- 
los unterliegt. 

So  vereinigt  begegnet  nun  die  Erzählimg  in  einer  lateinischen 
Handschrift  aus  dem  dreizehnten  Jahrhundert')  und  in  der  Wclt- 
chronik  von  Jans  Enenkel^),  ferner  im  Renai't  contrefait  und  iu 
vielen,  besonders  deutschen  und  französischen,  aber  auch  englischen, 
spanischen  und  italienischen  Schriften  des  vierzehnten  bis  sech- 
zehnten Jahrhunderts;  unabhängig  von  den  Darstellimgen,  in  denen 
das  Factum  zugleich  mit  anderen  Virgilsagen  berichtet  wird,  er- 
wähnen die  meisten  dasselbe  in  spasshaften  wie  ernsten  Declama- 
tionen  über  das  Weib  i;nd  die  fleischlichen  Sünden.  Der  Spanier 
Jean  Ruiz  de  Hita  (1313)  erzählt  es  bei  Gelegenheit  des  „Pe- 
cado  de  Luxuria."  In  den  Zeiten  Ferdinand's  und  Isabellen's,  als 
Diego  de  Santo  Pedi-o  in  seinem  „Carcel  de  amor"  im  Interesse 
des  Weibes  es  aussprach,  dass  „uns  die  Weiber  mit  den  theolo- 
gischen, wie  den  Cardinal-Tugenden  beschenken  und  uns  mehr  als 
die  Apostel  zu  Katholiken  machen",  ward  die  Virgilanekdote  zum 
Spott  der  Weiber  in  einem  spanischen  Gedichte  citirt,  dessen  Titel 
sich  nicht  augeben    lässt  ^).     Im  Bunde    mit    der    Moral    tritt    die 


1)  Du  Morii,  Mélanges  p.  430. 

•2)  V.  d.  Hageu,  Gesammtabcntcuer  II,  515  fl'.;  Massmaun,  Kaiscr- 
thronik  III,  455  ff. 

3)  ,,Canconiero  de  obras  de  burlas  provocantes  a  ri.sa"  p.  152.  Aussei'- 
dcm  sind  hier  noch  als  bezüglich  auf  die  Sage  zu  erwähnen:  das  fran- 
zösische Gedicht  „Le  bätard  de  Bouillon"  (vgl.  llist.  litt,  de  la  Fr.  XXV, 
613);  eine  anonyme  Chronik  der  Bischöfe  v.  Lüttich.  (De  Siuner,  Ca- 
tal.  cod.  bibl.  bern.  II,  149);  Symphorien  Champier,  De  claris  medi- 
cinae  scriptoribus ,  tractat.  2;  Martin  Franc  ,, Champion  de.s  danics" 
fol.  CIV;  eineHds,  und  die  alte  Ausgabe  des  Lanzelot  iu  Prosa  (Hagen, 
Gesammtabenteuer  III,  p.  CXL);  Reinfrit  v.  Braunschweig.  (Hagen, 
a.  a.  0.  p.  CXL.     Das  "Weib  hcisst  hier  Athanata);  ein  altdeutsches  Lied, 


Virgil  in  der  Volkssage.  283 

Erzählung  nicht  nur  in  der  Literatur')  bis  zum  üebermass  auf, 
sondern  ward  auch  in  der  Kunst  in  Marmor,  Holz  und  Elfenbein 
dargestellt,  und  musste  sogar  in  den  Kirchen  die  Augen  der  Gläu- 
bigen ergötzen^).  Auch  in  Gemälden  und  Holzschnitten  hat  sie 
ihren  Ausdruck  gefunden  und  zählt  berühmte  Künstler  wie  Lucas 
von  Leyden,  Georg  Pencz,  Sadeler,  Hopfer,  Sprengel  u.  A.  zu  den 
Urhebern  derselben  ^), 

Unter  den  Italienern  scheint^  abgesehen  von  Alipraud,  von 
welchem  weiter  unten  die  Rede  sein  wird,  die  Erzählung  von 
Sercarabi  (1347 — 1424)  in  seiner  unedirten  Chronik  zuerst  auf 
Virgil  angewandt  worden  zu  sein'').  Die  Geschichte  war  so  be- 
kannt, dass  man  sogar  einen  der  Thürme  Roms  als  Ort  der  Hand- 
lung bezeichnete.  Nur  so  erkläre  ich  mir  den  „Torre  di  Vii-gilio" 
benannten    Thurm  der  Frangipani^),    so  wie  die  in  der  deutschen 


welches  anfängt:  „Her  Vilius  von  Astronome}'  ze  schule  gie"  (Hagen, 
a.  a.  0.  p.  CXLI);  Hawes,  Pastime  of  pleasure,  c.  XXIX;  Gowcr,  con- 
fessio  amantis,  1.  VIII,  fol.  189;  die  spanische  Tragikomödie  „La  Celestina", 
7.  Act;  Der  „Corbacho"  des  Erzpriesters  Talavera;  Diego  Martiuez 
im  Canconiorc  de  Baena  ed.  Michel,  II,  p.  29;  Diego  de  Valencia, 
ebenda  p.  87;  der  „Romance  de  don  Trista"  bei  Michel,  Tristan,  II, 
p.  302  ff.  u.  s.  w. 

1)  Ein  Metzer  Chronist,  Philipp  v.  VigneuIIes  beschreibt  ein  Fest, 
das  in  Metz  statt  fand,  bei  dem  zu  Ross  und  Wagen  David,  Alexander, 
Karl  der  Grosse,  Arthur,  Salomon  etc.  auftraten  und  fügt  dann  hinzu: 
„pareillement  estoit  en  I'uug  d'iceux  chariots  le  saige  Virgile  rpii  pour 
femmc  pendelt  à  une  corbeille."  S.  Puymaigre,  Chants  populaires  re- 
cueillis  dans  le  pays  messin,  p.  153  und  desselben  „Les  vieux  auteurs 
castillans"  Bd.  II,  p.  59. 

2)  L.  Langlois,  Stalles  de  la  cathédrale  de  Rouen,  p.  173;  De  la 
Rue,  Essais  historiques  sur  la  ville  de  Caen,  p.  97  ff.;  Montfaucon 
Ant.  expl.  Bd.  III,  Pars  III  p.  356. 

3)  Vgl.  Bartsch,  Peintre  graveur.  No.  16,51,87,88,130;  Graesse, 
Beiträge  p.  35  ff';  Bekker  und  von  Hefner,  Kunstwerke  und  Geräth- 
schaften  des  Mittelalters  und  Renaissance,  erste  Lieferung.  Auf  die  Ge- 
schichte von  dem  ausgelöschten  Feuer  bezieht  man  ohne  Grund  ein  Bild 
Malpicci's,  gestochen  von  Andreani  in  der  „Iconogr.  des  estampes  à  su- 
jets  galants"  par  M.  le  C.  D'I . .  .  (Genève  1868)  p.  501.  —  Auch  die 
Erzählung  von  Aristoteles  und  Phyllis  ward  in  einigen  Kunstwerken  dar- 
gestellt. Vgl.  Benfey,  Pantschatantra  I,  462. 

4)  „Novella  inedita  di  Giovanni  Sercambi."  Lucca  1865  (in  30  Exem- 
plaren gedruckt)  und  wiederholt  von  D'Ancona,  Novelle  di  Giovanni 
Sercambi"  Bologna,  1871  p.  265  ff. 

5)  Marangoni,  Memorie  dell'  anfiteatro  romano,  p.  51. 


2S4  Vir<?il  iu  der  Volkssage. 

Version    der  Mirabilia    des    fünfzehnten  Jahrlnmderls    und  iu  einer 
deutschen  gleichzeitigen  Schrift  über  die  sieben  Hauptkirchen  Kom.s 
eingeÜochtene  Anekdote').    Berni  erwähnt  auch^)  unter  den  Alter- 
thümcrn,  welche  von  den  Pilgern  gesehen  werden  müssen: 
„  .  .  la  torre  ove  stette  in  due  cestoni 
Virgilio  spenzolato  da  colei" 
Aeneas  Silvius  citirt  in  seinem  Gedichte:  „De  Euryalo  et  Lucretia" 
(1440)  den    ersten   Theil    der  Begebenheit   als  moralische  Ermah- 
nung, während  derselbe  iu  der  „Murtoleide"  die  Stelle  einer  Ver- 
wünschung einnimmt: 

„Possa  come  Virgilio  in  una  cistola 
Dalla  fenestra  in  giù  restar  pendente." 
In  dem  alteu  italienischen  Gedichte  „11  padiglione  di  Carlomaguo" 
heisst  es: 

„Ancora  sinede  Aristotil  storiare 
E  quella  femmina  che  l'ingannò, 
Che  come  femmina  lo  facea  filare 
E  come  bestia  ancor  lo  cavalcò, 
E'I  morso  iu  bocca  gli  facea  portare, 
E  tutto  lo  suo  senno  gli  mancò;  • 

Da  l'altra  parte  Virgilio  si  mirava 
Che  nel  cestone  a  mezza  notte  stava  ^)". 
Und  so    findet    sich    die  Erzählung    noch    in    vielen    anderen    ita- 
lienischen Texten  des  fünfzehnten    und   sechszehnten  Jahrhunderts. 
Unedirt  ist  bis  jetzt  eine  „Canzone  morale  in  disprezzo  d'amore'*)", 
welche  sich  in  einer  Handschrift  aus  dem  fünfzehnten  Jahrhundert 
in    der  Magliabecchiaua    zu    Florenz    fiudet.     Hier   gesellt   sich  zu 
Jupiter,  Aristoteles,  Salomon  u.  s.  w.  gleichfalls  Vii-gil: 
„Letf  hai  d'una  donzella  che  ingannava 
Virgilio  collocato  in  una  cesta, 
E  fuor  della  finestra 
Attaccato  lasciollo  in  fino  a  giorno." 


1)  Massmann,  Kaiserchr.  Ili,  4.'ì4. 

2)  „Il  primo  libro  delle  opere  di  M.  Francesco  Berni  e  di  altri."  (Leiden 
1823)  Tbl.  I,  p.  147. 

3)  Dieso  Octave,  die  sich  in  alien  Ausgaben  fiudet,  soll  nach  Prof. 
liajna  ebenso  wie  eilf  oder  zwölf  andere  iu  der  llds.  fehlen.  Die  älteste 
bekannte  Ausgabe  ist  aus  der  ersten  Hälfte  des  16.  Jahrhundert. 

4)  Cod.  40,  Pal.  II  f.  140b— 141b.  Mitgetheilt  durch  Raj na.  Das  dem 
Liede  vorausgehende  Gedicht  trägt  den  Namen  des  Guido  da  Siena, 
der  aber  ausgestrichen  ist.  An  seine  Stelle  trat  der  Name:  Messer 
Bartolomeo  da  Castello  della  Pieve. 


Virgil  in  clor  Volkssage.  285 

In  einem    noch   nicht   herausgegebenen    Gedichte    gegen   die  Liebe 
(aus  derselben  Zeit)  heisst  es: 

„E  tu  Virgilio  parasti  le  botte 
Che  sanno  dar  le  donne  a'  loro  amanti, 
Tu  ti  pensasti  rimetter  le  dotte 
Con  colei  che  ti  fea  inganni  tanti. 
A  casa  sua  tu  andasti  una  notte 


Fatto  lo'mposto  cenno,  ella  fu  presta, 
E  pianamente  aperse  la  finestra. 
Con  una  fune  una  cesta  legoe, 
Per  dimostrare  di  farti  contento, 
E  fuor  della  finestra  la  mandoe 
Dove  tu  eri  e  tu  v'entrasti  drento; 
Tiretti  a  mezza  via  e  poi  t'appiccoe 
A  un  arpion  per  tuo  maggior  tormento 
e  finoal  giorno  istesti  appiccato, 
Dal  popolo  e  da  lei  fosti  beffato  ^).'' 

In  dem  „Contrasto  delle  donne"  des  Antonio  Pucci")  geschieht  eben- 
falls des  Virgil  Erwähnung: 

„Diss  una  che  Virgilio  avia  'n  balia: 
—  Vieni  stasera,  ed  entra  nella  cesta 
E  collerotti  a  la  camera  mia.  — 
Ed  ei  v'entrò,  ed  ella  molto  presta 
Il  tirò  su;  quando  fu  a  mezza  via 
Il  canape  attaccò,  e  quivi  resta; 
E  la  mattina  quando  apparve  il  giorno 
Il  pose  in  ten-a  con  suo  grande  scorno, 
Risp.    Virgilio  avea  costei  tanto  costretta 
Per  molti  modi  con  sua  vanitade 
Ch'ella  pensò  di  farli  ime  befifetta 
A  ciò  che  correggiesse  sua  retade; 


1)  Das  mir  von  d'Ancona  mitgetbeilte  Gedicht  in  einer  Hds.  des 
Herrn  Guasti  beginnt:  „Or  mi  posso  doler  di  te  Tubbia"  und  endigt: 
„E  tu  ti  goderai  col  tuo  marito."  Der  6.  Vers  der  ersten  Octave  fehlt 
in  der  Hds. 

2)  Herausgegeben  von  d'Ancona  ira  Propugnatore,  1870,  I,  417  f. 
die  erste  Ausgabe  von  Brunet  (IV,  p.  121)  ist  sehr  selten,  und  ohne 
Namen  des  Verfassers. 


2SG  Virgil  iu  dor  Yolkssagc. 

E  fe'  quel  che  tu  dì  non  per  vendetta 
Ma  per  difender  la  sua  castitade; 
Ver'  è  che  poi,  con  sua  gi-ande  scienza, 
Fece  andar  sopra  lei  aspra  sentenza." 

Also  auch  die  italienische  Dichtkunst  jener  Zeit  wühlte  sich  diese 
Begebenheit  zum  Stoffe  für  ihre  Dichtungen,  Der  Holzschnitt  eines 
unbekannten  Verfassers  aus  der  altitalienischen  Schule  trägt  unter 
der  Darstellung 'derselben  Anekdote  folgende,  dem  Pucci  entlehnte 
Verse  : 

„Essendo  la  mattina  chiaro  il  giorno 
Il  pose  in  terre  con  suo  grande  scorno; 
Ver'  è  che  poi,  con  sua  gi-an  sapfenza; 
Contr'  a  costei  mandò  asjjra  sentenza  ^)." 

Ein  Bild  des  Peiin  del  Vaga,  welches  die  Scene  der  Rache  dar- 
stellte, hat  E.  Vico  in  einem  Stiche  reproducii't,  der  die  Unter- 
schrift trägt:  „Virgilium  eludeus  meritas  dat  foemina  poenas.  Roma 
1542^)."  Eine  Handschrift  der  „Trionfi"  des  Petrarca  in  der 
Laurenziana  weist  in  einer  Miniatur  vier  Schlachtopfer  des  Liebes- 
gottes nach:  den  spinnenden  Hercules,  den  geschorenen  Simson, 
Aristoteles  mit  dem  Sattel  und  Virgil  in  der  Kiste  ^). 

Der  zweite  Theil  der  Novelle  kömmt  in  einem  der  zahlreichen 
italienischen  Volksbücher  vor,  die  noch  fortwährend  gedruckt  werden, 
wird  aber  hier  freilich  nicht  auf  Virgil,  sondern  auf  Pietro  Bar- 
liario  (nicht  Pieti'o  Abelardo,  wie  einige  meinten)  bezogen  ''),  welcher 


1)  In  der  Dresdner  Sammlung;  beschrieben  von  Gracsse,  Beiträge, 
p.  35  f.  / 

2)  S.  Bartsch,  40  und  „Teonographie  des  estampes  etc." 
p.  7.S3. 

3)  Cod.  Strozz.  No.  174.  Man  sieht  Virgil  in  einer  Kiste  schwebend 
(ohne  den  Thurm)  und  vor  ihm  die  Prinzessin. 

4)  Das  Gedicht  führt  den  Titel:  „Vita  conversione  é  morte  di  Pietro 
Barliario  nobile  salernitano  e  famosissimo  mago,  composta  da  Filippo 
Cat aloni  romano."  Lucca.  —  Eine  andere  Redaction  des  Gedichtes,  je- 
doch ohne  die  citirte  Episode  trägt  den  Titel:  ,, Stupendo  miracolo  del 
crocifisso  di  Salerno  con  la  vita  e  morte  di  Pietro  Baiiardo  famosissimo 
mago,  opera  nuova  per  consolazione  dei  peccatori  posta  in  ottava  rima 
e  data  in  luce  daLuca  Pazienza,  napoletano."  Lucca,  1799.  Beide  Aus- 
gaben besitzt  Prof.  d'Ancona.  —  Man  glaubt,  dass  dieser  Pietro  Barliario 
(auch  Baiiardo  oder  Baialardo)  sich  mit  Alchymie  beschäftigt  habe  und 
darum  für  einen  Zauberer  galt,  sowie  dass  er  als  Mönch  unter  den  Beue- 
dictincru  von  Salerno  am  25.  März  1149  starb.     Mazza  will   sein  Grab 


Virgil  iu  der  Volkssage.  287 

wie  Virgil    in    mehr    als    einer  Hinsicht    die   Erbschaft    des  alten 
Zanberers  Heliodor  autrat; 

„Adirato  si  parte  indi  comanda 
A'demoni  che  tosto  abbiano  spento 
Tutto  il  fuoco  che  fosse  in  ogni  banda, 
Fosse  da  loro  estinto  in  un  momento. 
Onde  per  compir  l'opera  nefanda 
La  donna  fé  pigliar  con  gran  tormento, 
E  in  piazza  tw  portata  di  repente, 
Nuda,  parea  che  ardesse  in  fiamme  ardente. 

Correa  il  popol  tutta  in  folta  schiera 
A  provveder  di  fuoco  le  lor  case. 
Fra  le  piante  di  qiiella  in  tal  maniera 
Sorgea  la  fiamma,  onde  ciascun  rimase. 
E  l'uno  a  l'altro  darlo  invano  spera 
Che  presto  si  smorzava;  intanto  sparse 
La  Dea  eh'  ha  cento  bocche  un  gran  romore 
E  l'avvisonandò  al  governatore." 

Diese,  ausserhalb  Italiens  entstandene  Erzählung  war  aber 
nicht  die  einzige,  welche  den  Zauberer  Virgil  mit  dem  schönen 
Geschlechte  in  Verbindung  setzte.  —  Einige  Ueberreste  antiker  Vor- 
stellungen der  griechisch-römischen  wie  der  orientalischen  Welt, 
mehr  aber  noch  die  nationalen  Gebräuche  der  erobernden  deutschen, 
Barbaren  verbreiteten  im  Mittelalter  selbst  in  den  Ländern  einer 
feineren  Cultur  wie  Italien  die  Idee  und  Anwendung  der  Gottes- 
urtheile,  wobei  die  Gottheit  durch  ein  Wunder  die  Wahrheit  offen- 
baren sollte.  Bei  der  geringen  Achtung,  welche  das  Weib  genoss, 
galten  auch  sie  für  ein  Mittel,  den  Lebenswandel  des  schönen 
Geschlechts  auf  die  Probe  zu  stellen^).  Noch  fruchtbarer  indess, 
als  die  Phantasie  der  Eifersüchtigen,  die  nicht  müde  wurden,  alle 
nur  möglichen  Arten  von  Proben  aufzufinden,  war  die  Phantasie 
der  Novellisten,  Moralisten   und   Eomanschreiber ,   welche  zum  Be- 


gesehen und  darauf  gelesen  haben:  ,,hoc  est  sepulcrum  m.  magistri 
Petri  Barliari."  S.  Urbis  Salernitanae  bistoria  p.  33  f.  (bei  Graev.  et 
Burm.,  Thes.  IX,  4).  Vgl.  De  Renzi,  Storia  della  medicina  in  Italia,  H 
p.  118.  Das  neapolitanische  Volk  schreibt  dem  Barliario  die  Brücke 
des  Caligula  zu;  s.  Ampere,  L'empire  romain  à  Rome.  II,  9. 

1)  S.  die  reiche  Aufzählung  bei  Du  Meril,  Einleitung  zu  „Floire  et 
Blauceflor"  p.  CLXV  ff. 


288  Virgil  in  der  Volkssage. 

weise,  dass  die  weibliche  List  sich  selbst  dem  strengsten  Gottes- 
uitheil  zu  entziehen  wisse,  die  verschiedenai-tigsten  Anekdoten  er- 
sannen. Hierbei  fand  sich  Europa  ganz  im  Einklänge  mit  dem 
Orient,  wo  die  Lage  des  Weibes  die  alleniiedrigste  war,  und 
von  wo  man  auch  die  schändlichsten  Erzählungen  der  Art  heriiber- 
nahm. 

Mit  einer  derselben,  welche  gleich  bekannt  im  Orient  wie 
Occident  war,  wurde  auch  der  Name  Vii-gil's  vertlochten,  und  zwar 
in  ähnlicher  Weise  wie  bei  der  Geschichte  mit  der  Iviste.  —  Vir- 
gili), so  hiess  es,  verfertigte  in  Rom  einen  Kopf,  dessen  Mund 
geöflFnet  war.  Diejenigen,  welche  ihre  Keuschheit  oder  eheliche 
Treue  beweisen  sollten,  mussten  nun  ihre  Hand  in  den  Mund  des 
Kopfes  legen;  logen  sie,  so  blieben  ihre  Finger  in  dem  Munde. 
Ein  Weib,  das  sich  eben  rechtfertigen  sollte,  verstand  es  jedoch,  den 
Beweis  zu  vereiteln.  Sie  zwang  ihren  Galan,  sich  als  Nan-en  zu 
verkleiden,  und  sobald  er  ihrer  auf  dem  Platze,  wo  das  Gottes- 
nrtheil  vor  sich  gehen  sollte,  ansichtig  geworden  sei,  auf  sie  zu 
zu  laufen  und  sie  zu  umarmen.  So  geschah  es.  Das  Weib  stellte 
.sich  höchst  entrüstet,  aber  der  Ehemann  wollte  von  dem  armen 
Narren  kein  Aufhebens  machen.  Und  so  schwur  das  Weib,  dass 
sie  in  ihrem  ganzen  Leben  Niemand  iimarmt  hätte,  mit  A  usnahme 
ihres  Mannes  und  jenes  NaiTen.  Das  war  aber  die  Wahrheit,  und 
so  ging  ihre  Hand  unverletzt  aus  dem  schrecklichen  Munde  heraus. 
•Virgil  merkte  den  Betrug  und  musste  gestehen,  dass  die  Weiber 
doch  noch  schlauer  seien,  als  er  selbst. 

Diese  Erzählung  findet  sich  nur  mit  Veränderung  der  Namen 
und  Oertlichkeiten  im  (^'ukasaptati,  einer  Sammlung  indischer  No- 
vellen, sowie  in  der  Geschichte  von  Ardschi  Bordschi  Chan,  einem 
mongolischen,  aber  seinem  Ursprünge  nach  indischen  (Siuhàsanad- 
vàtrin9at)  Werke  ^)  wieder.     In  Europa   Avar   sie  schon  längst  be- 


1)  Vgl.  Jean  Hansel:  Fleur  des  Listoires  bei  Du  MériI,  Mclanges 
p.  444  f.;  die  „Faits  mevveilleux  de  Virgile";  „Kurzweilige  Gespräch" 
Frankf.  1563;  „Leben  und  Fortleben  des  P.  Virgilius  Marc'*  bei 
Genthe  p.  75;  Massmann,  Kaiserchr.  III,  449;  Schmidt,  Bei- 
träge, 139—141  f. 

2)  Vgl.  Benfey,  Pantschatiintra  I,  457;  Bartsch  in  Pfeiffers  Ger- 
mania V,  95  ff;  den  Text  der  moiiijfolischen  Erzählung  bei  Jülg:  „Er- 
zählung aus  der  Sammlung  Ardschi  Bordschi,  ein  Seitenstück  zum 
Gottesgericht  in  Tristan  und  Isolde"  (publicirt  18G7.  Innsbruck),  nnd  in 
desselben  gelehrtem  Werke  „Mongolische  Märchen"  (Innsbruck  1808J. 
Vgl.  meinen  Aufsatz  in  der  Revue  critiqne  18G7,  I,  p.  185  ff. 


Virgil  in  der  Volkssago.  289 

bannt,  wie  denn  Lei  Macrobius  eine  ihr  ganz  gleiche,  gewiss  altlatei- 
nischen Schriftstellern  entlehnte  Anekdote  zu  lesen  ist,  in  welcher 
nur  das  erotische  Element  fehlt  ^).  Dieselbe  machte  als  ein  Bei- 
spiel für  die  „Schlauheit  der  galanten  Frau"  die  Rundreise  durch 
ganz  Europa,  auch  unabhängig  von  dem  Namen  Virgils,  und  findet 
sich  z.  B.  im  französischen  Tristan  ^),  in  den  Novellen  Straparolas, 
Celio  Malispinis,  im  „Patranuelo  des  Timoneda  u.  s.  w.^).  So  viel 
ich  weiss,  wird  der  Name  Virgils  zuerst  in  einem  deutschen  Ge- 
dichte aiis  der  ersten  Hälfte  des  vierzehnten  Jahrhunderts  unter 
dem  Titel  :  „Von  einer  Bildsäule  in  Rom,  die  den  Ehebrecherinnen 
die  Finger  abbiss"  mit  der  Geschichte  verflochten*).  Das  Denkmal 
aber,  auf  welches  sich  dieselbe  bezieht,  steht  in  Rom  bei  S.  Maria 
in  Cosmedin  und  heisst  noch  heute  „Bocca  della  verità."  Es  ist 
die  antike  Maske  einer  Cloakenoifnung,  von  der  die  Mirabilia  er- 
zählten, dass  sie  wahrsagen  könne.  Eine  dabei  befindliche  Inschrift 
aus  dem  Jahre  1632  sagt  aus,  dass  man  beim  Schwören  die  Hand 
hinein  legen  musste,  was  auch  der  gewiss  noch  aus  dem  Mittel- 
alter stammende  Name  des  Platzes  bei  der  Kirche,  der  gleichfalls 
Bocca  della  verità  heisst,  bezeugt^).  Es  erklärt  sich  daraus  auch, 
wie  die  Erzählung  in  Rom  localisirt  und  dann  mit  Virgil  in  Zu- 
sammenhang   gebracht  worden  ist.     Die  deutsche  Bearbeitung  der 


1)  „Tremellius  vero  Scropha  cognominatus  est  eventu  tali.  Is  Tre- 
mellius  cum  familia  atque  liberis  in  villa  erat.  Servi  ejus,  cum  de  vicino 
scropha  erraret,  subreptam  conficiunt;  vicinus  advocatis  custodibus,  om- 
nia circumvenit,  ne  qua  afferri  posit:  isque  ad  dominum  appellat  restituì 
sibi  pecudem.  Tremellius  qui  ex  villico  rem  comperisset,  scrophae  cadaver 
sub  centonibus  conlocat  super  quos  uxor  cubabat;  quaestionem  vicino 
permittit.  Cum  ventum  est  ad  cubiculum,  verba  jurationis  concipit: 
nullam  esse  in  villa  sua  scropbam  nisi  istam,  inquit  quae  in  centonibus 
jacet:  lectulum  moustrat.  Ea  facetissima  juratio  Tremellio  Scrophae  cogno- 
nientum  dedit."  Macrob.  Sat.  I,  6,  30. 

2)  Michel,  Tristan  I,  199  S. 

3)  Dunlop-Liebrecht,  p.  500. 

4)  Publicirt  von  Bartsch  in  Pfeiffer's  Germania  IV,  237  ff. 

Tj)  Hagen  (Briefe  in  die  Heimatb,  IV,  106)  bemerkt,  dass,  wo  jetzt 
S.  Maria  in  Cosmedin  steht,  früher  ein  Tempel  der  Pudicitia  stand,  was 
also  der  Ursprung  der  Legende  erklärt.  Nahe  beim  Forum  boarium  war 
der  Tempel  gewiss,  allein  die  Archaeologen  (z.  B.  Becker-Marquardt, 
Handb.  d.  röm.  Alterth.  I,  480)  glauben  nicht,  dass  er  an  der  Stelle 
der  Kirche  gestanden  habe.  Die  älteste  Notiz  (in  den  Mirabilia)  über  die 
Sage  spricht  übrigens  nicht  von  Orakeln,  die  sich  auf  die  Keuschheit 
bezögen.     Vgl.  Beschreibung  der  Stadt  Rom,  III,  2,  p.  381. 

Couiparetti,  Virgil  im  Mittelalter.  19 


290  Virc;il  in  der  Volkssage. 

Mirabilia  aus  dem  fünfzehnten  Jahi'lmudert  nennt  in  der  That  be- 
reits den  Virgil  und  erzählt,  weshalb  der  Stein  später  seine  Be- 
deutung verlor^). 

Neuntes  Capitel. 

Wer  all  diese  mit  dem  Namen  des  Virgil  verknüiiften  Er- 
zählungen ordnen  und  einigen  Lücken  mit  der  Phantasie  nachhelfen 
wollte,  der  könnte  eine  vollständige  romantische  Biographie  des 
berühmten  Zauberers  zu  Stande  bringen,  wie  dies  denn  in  der 
That  aucli  geschehen  ist.  Bevor  wir  jedoch  derartige  Schöpfungen 
betrachten,  ist  es  nöthig,  auf  die  Schicksale  zu  sehen,  welche  die 
Virgilsage  in  dem  Lande  hatte,  wo  sie  zuerst  entstanden  war. 
Der  Leser  wird  sich  erinnern,  dass  mit  Ausnahme  der  Legenden, 
welche  Gervasius  und  Kourad  in  Xeapel  gehört  hatten,  alle  übrigen 
von  anderen  Ländern  her  nach  Italien  gekommen  waren;  obgleich 
jene  Erzählungen  sehr  bald  in  die  Literatur  übergingen,  kamen 
doch  nur  wenige  den  italienischen  Schriftstellern  zu  Ohren.  Der 
älteste  italienische  Beleg  für  die  Sage  ist  die  „Cronica  di  Parte- 
nope"  von  „Bartolomeo  Caraczolo  dicto  Carafa,  cavaliere  di  Napoli", 
die  bis  zum  Jahre  1382  geht^)  und  nach  der  Aussage  des  Au- 
toi'S  selbst  nur  eine  Compilation  aus  anderen  Chroniken  ist.  Der 
Verfasser  erzählt  demnach  über  Virgil  nicht  blos  das,  was  er  in 
Neapel  gehört,  sondern  auch,  was  er  bei  Gervasius  und  einem  ge- 
wissen Alexander  gefunden  hatte.  Wäre  unter  Letzterem  Alexander 
Neckam  zu  verstehen,  so  müssten  wir  sagen,  dass  er  „de  naturis 
rerum"  in  einer  verstümmelten  und   interpolirten  Handschrift  oder 


1)  Vgl.  Massmann,  Kaisercbr.  III,  449.  —  Die  Anekdote  ist  dar- 
gestellt auf  einigen  Holzschnitten  nach  Lucas  v.  Leiden.  Vgl.  (ausser 
Bartsch)  Passavant,  Le  Peintre  graveur  III,  9.  Ein  darauf  bezügliches 
Gemälde  in  einem  Hause  zu  Rom  erwähnt  die  Beschr.  d.  St.  Rom  111, 
2,  .382.  Hans  Sachs  schrieb  dem  Virgil  die  Construction  einer  Brücke  zu, 
auf  der  sich  beim  Tönen  eines  Glöckleins  kein  Ehebrecher  festhalten 
konnte.  Er  tröstet  damit  Arthur  und  zeigt  ihm,  in  wie  zahlreicher  (ie- 
sellschaft  er  sich  befinden  müsse.  Vgl.  v.  d.  Hagen,  Gesammt- 
abeuteuer,  III,  CXXXVI. 

2)  Der  Titel  der  Chronik  in  den  Hdss.  ist  auch  „Cbroniche  de  la 
inclita  cita  de  Napole  con  li  bagni  di  Puzzole  et  Ischia."  Hdss.  der  beiden 
ältesten  Ausgaben  sind  sehr  zahlreich.  S.  Brunet,  Manuel,  V,  1226  f. 
Das  auf  Virgil  Bezügliche  haben  Graesse,  Beitrüge,  p.  27  ff..  Vili  ari, 
Annali  delle  Università  toscane,  VIII,  p.  162  ff.  und  zum  Theil  auch  Ga- 
lla ni,  Del  dialetto  napoletano  p.  0!^>  ff.  publicirt. 


Virgil  in  der  Volkssago.  291 

in   irgend    einem    unvollstündigen    und    abweiclienden  Auszuge   bei 
einem  anderen  Scliriftsteller  gelesen  hat. 

Das,  was  uns  Gervasius  sagt,  finden  wir  auch  in  der  Chronik 
wieder:  es  ist,  einige  Bemerkungen  des  Verfassers  ausgenommen, 
die  bekannte  neapolitanische  Sage  des  zwölften  Jahrhunderts.  Virgil 
erscheint  als  der  Wolthäter  der  Stadt  zu  der  Zeit,  als  er  „con- 
sili ario  et  quasi  rectore  o  vero  maistro  di  Marcello"  und  von 
Octavian  zum  „duca  de  li  napolitani"  erwählt  worden  war.  Er 
legte , Wasserleitungen,  Quellen,  Brunnen  und  Cloaken  in  Neapel 
an;  er  führte  das  Carbonaraspiel^),  ähnlich  dem  Pisaner  „Giuoco 
del  Ponte"  ein,  jene  kriegerische  Uebung  in  fingirten  Angriffen, 
die  schliesslich  mit  tödtlichen  Zwisten  endete,  und  fügte  zu  den 
vorhandenen  Talismanen  eine  kupferne  Cikade  hinzu,  welche  alle 
anderen  Cikaden  von  Neapel  verjagte,  so  wie  einen  kleinen  stei- 
nernen Fisch  an  der  „preta  de  lo  pesce"  genannten  Stelle,  wodurch 
zahlreiche  andere  Fische  angelockt  wurden^).  Die  Idee  des  im 
Castello  dell'  Ovo  bewahrten  Palladiums  der  Stadt  bleibt  dieselbe. 
Auch  die  von  Gervasius  berichtete  Erzählung  von  dem  Verlangen 
jenes  excentrischen  Engländers  findet  sich  in  der  Chronik  wieder. 
Das  geheimnissvolle  Buch  soll  Virgil,  „wie  es  in  einer  alten 
Chronik  heisst,"  selbst  in  einer  Grotte  des  Monte  Barbaro,  wohin 
er  sich  oft  mit  einem  gewissen  Philomelus  begab,  unter  dem 
Kopie  des  Chiron  gefunden  haben  ^).  Obgleich  aber  dies  Buch  mit 
„Negromanzie"  bezeichnet  wii-d,  und  der  Verfasser  der  Chronik 
bei  Virgilischen  Werken    in    Neapel    an   „Magie"    denkt,    so  meint 


1)  Vgl.  Petrarca,  Epist.  de  rebus  fam.  V,  ep.  6. 

2)  Vgl.  Sacchetti,  Novelle  216:  „Maestro  Alberto  della  Magna 
giugendo  a  uno  oste  sul  Po  gli  fa  uno  pesce  di  legno  col  quale  pigliava 
quanti  pesci  volea." 

3)  Es  kann  wol  nur  der  Kentaur  Chiron  gemeint  sein,  der  in  der 
mythischen  Periode  der  Geschichte  der  Medicin,  die  sich  ja  im  Alter- 
thum  mit  der  Magie  berührte,  eine  Rolle  spielt.  Auf  Chiron  ward  auch 
ein  im  Mittelalter  sehr  gebrauchtes  Buch:  „Herbarium  Apulei  Platonici 
traditum  a  Chirone  Centauro  magistro  Achillis"  zurückgeführt.  Unter 
Philomelus  wird  wol  der  alte  Arzt  Philumenos  zu  verstehen  sein,  von 
dem  einige  Hausmittel  herstammen  sollen,  die  allerdings  magischen 
Operationen  sehr  ähnlich  sind  (S.  Becker -Mar  quardt,  Handb.  d. 
röm.  Alt.  IV,  117  ff.).  Möglich,  dass  die  Erzählung  des  Caracciolo  gar 
nicht  aus  dem  Volke  stammt,  sondern  erfunden  ist,  um  das  Werk  eines 
Vorläufers  des  Cardanus  und  Paracelsus  zu  empfehlen.  —  Nach  der 
neapolitanischen  Sage  ist  der  Monte  Barbaro  voll  von  Schätzen,  wie 
schon  Conrad  von  Querfurt  bemerkt. 

19* 


292  Virgil  in  der  Volkssage. 

er  damit  doch  bloss  die  Keuutniss  vom  Einflüsse  der  Plaueteu. 
Er  redet  von  Virgil  mit  grosser  Achtung,  nennt  ihn-  einen  ausge- 
zeichneten Dichter  imd  sieht  durchaus  nichts  Teuflisches  in  seinen 
Schöpfungen.  Die  Grotte  von  Pozzuoli,  welche  vor  jedem  Unheil 
bewahrt  sein  sollte,  hatte  Virgil  nicht  durch  Teufelskunst,  sondern 
mit  Hilfe  der  „Geometrie"  so  geschafl'eu. 

Natürlich  musste  das  auf  dem  Wege  nach  Puteoli  gelegene 
Grab  des  Dichters  der  Mittelpunkt  der  Virgilsagen  werden.  Und 
so  fügte  auch  später  Scoppa  zu  den  nach  der  Cronica  di  Parteuope 
wiedererzählten  Sagen  noch  folgende  Bemerkung  über  die  Grotte 
von  Pozzuoli  hinzu:  „Ich  weiss,  dass  Einige,  gestützt  auf  die  Au- 
torität des  Plinius,  nicht  davon  abzubringen  sind,  dass  die  Grotte 
von  Lucullus  und  nicht  von  Virgil  gemacht  sei.  Aber  ich  bleibe 
auf  Seiten  unserer  Chroniken,  weil  vom  Alterthunie  die  Alten  am 
meisten  wissen,  zumal  wenn  sie  im  Lande  einheimisch  sind."  Und 
wie  volksthümlich  diese  Anschauung  war,  beweist  der  Umstand, 
dass  der  Name  „Grotta  di  Virgilio"  noch  heute  vorhanden  ist,  so 
wie  die  Thatsache,  dass  Petrarca,  als  ihn  der  König  Robert  alles 
Ernstes  hierüber  befragte,  antwortete:  „Ich  erinnere  mich  nicht, 
jemals  gelesen  zu  haben,  dass  Virgil  die  Steine  behauen 
habe  ')." 

Die  Sage  muss  demnach  noch  im  vierzehnten  und  fünfzehnten 
Jahrhundert  in  Neajpel  existii't  liaben,  ohne  dass  man  hier  etwas 
von  dem  Zauberer  und  verliebten  Virgil  wusste.  Es  scheint,  dass 
nur  die  Sage  von  den  vier  Todtenköpfen,  welche  Virgil  in  Neapel 
aufstellte,  und  welche  dem  Herzog  Alles,  was  in  der  Welt  geschah, 
enthüllten,  von  aussen  hereingebracht  sei.  Hier  ist  die  der  „Sal- 
vatio  liomae"  und  dem  wunderbaren  Spiegel  zu  Grunde  liegende 
Idee  also  mit  dem  "sowol  Virgil  wie  Gerbert  zugeschriebenen  spre- 
chenden Kopfe  zusammengebracht. 

Der  Verfasser  der  Chronik  hat  sich  wol  gehütet,  die  Sage  zu 
erweitern  und  phantastisch  auszuschmücken.  Er  berichtete  sie  ganz 


1)  „Nusquam  memini  me  legisse  luarmorarium  fuisse  Virgilium." 
Itiner.  Syriac.  I,  560  (Ed.  Bas.  1581);  Theod.  a  Niem,  De  schisuiate, 
II,  22.  —  Als  Werk  Virgil's  wird  die  Grotte  u.  a.  citirt  von  T her- 
sander, Schauplatz  viel,  ungereimt.  Meyn.  II,  308,  554;  Jean  d'Autun, 
Chroniques,  I,  p.  321  etc.,  Marlowe,  Doctor  Faustus,  erster  Act,  Sc.  26 
sagt: 

„There  aaw  we  learned  Maro's  golden  tombe, 
the  way  he  out  an  english  mile  in  length 
thoroug  a  rock  of  stoue,  in  one  night's  space." 


Virgil  in  der  Volkssagc.  293 

einfach  als  Historiker,  weil  er  sie  im  Volke  gehört  und  Gervasius 
sie  aufgezeichnet  hatte  ;  aber  es  fiel  ihm  nicht  ein,  an  das  Märchen 
zu  glauben.  Am  Schlüsse  gibt  er  eine  Erklärung,  die  der  ge- 
sunden Vernunft  der  Italiener  alle  Ehre  macht  :  „Ich  könnte  von 
Virgil  noch  vieles  Andere  erzählen,  was  man  von  ihm  hört,  allein 
es  erschien  mir  meist  fabelhaft  und  falsch  zu  sein,  und  deshalb 
wollte  ich  den  Verstand  der  Leute  nicht  damit  beschweren.  Und 
dieweil  ich  schon  Vieles  von  Virgil  berichtet  habe,  woran  zu 
glauben  nicht  einmal  mir  einfällt,  bitte  ich  jeden  Leser,  mich  zu 
entschuldigen,  darum,  dass  ich  weder  den  wahren  oder  falschen 
Ruf  des  grossen  Dichters,  noch  das  Wolwollen,  welches  er  selbst 
gegen  das  berühmte  Neapel  hegte,  verringern  wollte.  Aber  die 
Wahi-heit  aller  Dinge  weiss  Gott  allein.  Ich  schreibe  nichts  Falsches 
oder  Unglaubliches,  ohne  den  Leser  darauf  aufmerksam  zu 
machen." 

Obgleich  die  Sagen  auch  im  südlichen  Italien  wol  bekannt 
waren,  so  verbreiteten  sie  sich  doch  sehr  langsam  auf  der  Halb- 
insel, Die  älteste  Erwähnung  glaube  ich  in  einem  Gedicht  des 
Ruggieri  von  Apulien  zu  finden,  der  wol  nicht  später  als  in  der 
ersten  Hälfte  des  dreizehnten  Jahrhunderts  gelebt  haben  wird  : 

„Aggio  poco  senno  alla  stagione, 
E  saccio  tutte  l'arti  di  Vii-gilio  ^)." 

In  dem  übrigen  Italien  erscheint  die  Sage  nicht  vor  dem  vier- 
zehnten Jahrhundert,  mischt  aber  dann  Originales  und  Einheimisches 
mit  Fremdartigem  zusammen.  Einige  Autoren  vùn  Toscana,  welche 
in  Neapel  gewesen  waren,  hörten  sie  dort  von  dem  Volke.  Boccaccio 
citirt  in  seinem  Dantecommentar  (1373)  nur  drei  Wunderwerke 
Virgil's  :  die  broncene  Fliege,  das  broncene  Pferd  und  die  Marmor- 
köpfe an  der  Porta  Nolana.  Er  bemerkt  dazu,  dass  Virgil  weit 
mehr  in  Neapel  als  in  Rom  lebte  und  dass  er  dorthin  von  Mai- 
land aus  kam^),  weil  er  ein  guter  Dichter  war  und  wusste,  „dass 


1)  Das  Gedicht,  welches  anfangt: 

„Giammai  null'  uom  non  ha  si  gran  ricchezza." 
findet  sich  in  dem  berühmten  Libro  reale  des  Vatican  (3793  No.  71)  das 
hoffentlich    in    nächster    Zeit   von    mir    und    d'Ancona    herausgegeben 
werden  wird.  Vgl.  Giron,  in  „Romanische  Studien"  v.  Boehmer  I,  (1821) 
p.  61  ff. 

2)  So  heisst  es  in  dem  interpolirten  Texte  der  s.  g.  Biographie  des 
Donat.     Nach  dem  achteren  Text  kommt  der  Dichter  direct  von  Mailand 


294  *  Virgil  in  der  Volkssagc. 

die  Dichter  Octavian  angenehm  seien".  Vor  ihm  spielte  Cino  da 
Pistoia  *)  auf  die  wunderbare  Fliege  an  in  den  Spottversen  gegen 
Neapel,  die  Ciampi  nicht  verstanden  hat: 

„0  sommo  vate,  quante  mal  facesti 

A  venir  qui;  non  t'era  me'   morire 

A  Pietola  colà  dove  nascesti? 

Quando  la  mosca,  per  l'altre  fuggire. 

In  tal  loco  ponesti 

Ov'  ogni  vespa  doveria  venire 

A  punger  quei  che  su  ne'  boschi  stanno." 

Der  Florentiner  Volksdichter  Antonio  Pucci  aus  dem  vierzehnten 
Jahrhundert  erwähnt  in  seinem  „Zibaldone",  von  dem  es  zwei  Hand- 
schriften in  Florenz  gibt"),  unter  den  Wunderwerken  Virgil's  die 
Fliege,  das  Pferd,  das  auf  dem  Ei  schwebende  Schloss,  den  Garten, 
die  zwei  Leuchter  und  eine  Lampe,  die  immer  brannten,  di^  List 
des  Weibes  und  Virgils  Rache,  den  sprechenden  Kopf,  die  Ge- 
schichte vom  Tode  des  Dichtei's  und  die  Wunderkraft  seiner  Ge- 
beine. Aber  er  verlegt,  wie  so  viele  fremde  Romandichter,  Virgil's 
Grab  nach  Rom.  Man  weiss,  dass  er  die  Dichtungen  der  Aus- 
länder kannte"');  dennoch  sprach  er  nicht  von  „Teufelskunst",  son- 
dern schrieb  die  Werke  Virgils  seiner  Kenntniss  der  Astrononüe 
zu,  so  wie  sie  Gidino  da  Somraacampagna  in  einem  an  Francesco 
Vannozzo  gerichteten  Sonnett^)  der  Kenntniss,  welche  Vii-gil  von 
den  Naturgeheimnissen  hatte,  zuschreibt: 

„Dell'  eccellente  fisico  Marone 

Che  circa  il  natural  pose  sua  cura." 

Während  aber  der  Virgil  der  neapolitanischen  Sage  Nichts  mit  jener 
lächerlichen    oder   hässlichen    Figur   gemein    hat,    die   sich    in  an- 


nach  Rom  (vgl.  Keifferscheid,   Suet.  p.  401),   wie   auch  Francesco  da 
Buti  in  seinem  Commentar  sagt. 

1)  „Poesie  di  Messer  Cino  da  Pistoia  race,  da  Seb.  Ciampi"  II,  157 
(3.  Ausg.).  Die  Meinung  Ciampi's,  dass  die  Satire  auf  Rom  und  nicht  aut 
Neapel  gehe,  wird  durch  die  citirten  Verse  widerlegt.  Das  „Animai  sì 
vile",  welches  in  alter  Zeit  dem  Reiche,  wo  „ogni  senso  ò  bugiardo  e 
fallace",  seinen  Namen  gab,  ist  die  Sirene  Parthenope. 

2)  Vgl.  d'Ancona  im  Propugnatore,  1870,  I,  397  S. 

3)  Vgl.  Wesselofsky,  „Le  tradizioni  popolari  nei  poemi  di  Antonio 
Pucci"  im  Ateneo  italiano,  Anno  I. 

4)  Publicirt  von  Zanella,  Verona  1858. 


Virj^il  in  der  Volkssage.  295 

deren  Länderu  aus  dem  Dichter  gebildet  hatte,  war  dies  doch  nicht 
im  übi'igen  Italien  ebenso  der  Fall.  Zu  Rom  ward  Virgils  Name 
ganz  nach  der  Art  der  ausländischen  Sage  mit  einigen  Monumenten 
der  Stadt  verknüpft  ^).  Der  Tempel  des  Jupiter  Pluvius  hiess  z.  B. 
„Casa  di  Virgilio"^),  die  Meta  Sudans  „Torre  di  Virgilio^)",  des- 
gleichen der  alte  Thurm  der  Frangipani*)  und  das  Septizonium 
„Scuola  di  Virgilio^)."  Nehmen  wir  hinzu,  dass  Petrarca  wegen 
seiner  Virgilstudien  von  Seiten  des  römischen  Hofes  harte  Unbill 
erfuhr,  so  ist  kein  Zweifel,  dass  Virgil  in  Rom  wie  anderswo  in 
dem  allerschlimmsten  Gerüche  der  Zauberei  stand.  Aber  älter  als 
in  anderen  Ländern  ist  diese  römische  Sage  auf  keinen  Fall.  Wenn 
man  bedenkt,  wie  sich  diese  Virgilsagen  mit  dem  Namen  Roms 
vermischt  hatten  imd  so  in  die  zum  Gebrauche  der  zahlreichen 
Besucher  der  Stadt  verfassten  Führer  übergingen,  so  begreift  man, 
dass  dieser  Umstand  genügte,  um  auch  die  Römer  mit  einem 
„Zauberer"  Virgil  bekannt  zu  machen  und  von  den  Letzteren  oder 


1)  Dass  sich  der  noch  heute  in  Rom  erhaltene  Strassenname  „Tor 
de'  specchi"  auf  den  Wunderspiegel  Virgil's  beziehe,  ist  eine  falsche  An- 
nahme von  Keller,  Hagen,  Massmanu  u.  A.  Gregorovius  (Gesch.  d.  St. 
R.  IV,  C29)  vermuthet  mit  Grund,  dass  der  Name  von  einer  Familie 
„De  Speculo"  oder  „De'  Specchi"  herstamme,  die  hier  ihre  Burg  hatte. 
Wer  freilich  mit  Erinnerungen  an  die  Virgilsagen  Rom  besuchte,  konnte 
sich  wol  auch  durch  jene  den  Strassennamen  erklären,  und  vielleicht 
ist  auch  mit  der  „Spiegelburg",  wohin  eine  deutsche  Version  das  Locai 
der  Virgilerzählung  verlegt,  nichts  Anderes  als  „Tor  de'  specchi"  gemeint. 
Vgl.  Massmann,  Kaiserchr.  III,  454. 

2)  Montfaucon  Diar.  ital.,  108. 

3)  Georg.  Fabricius,  Roma  (1587)  p.  21. 

4)  Von  Gregor  IX.  im  13.  Jahrb.  zerstört  (Vgl.  Marangoni,  Me- 
moire deir  Anfiteatro  romano,  p.  51. 

5)  S.  V.  d.  Hagen,  Briefe  in  die  Heimath  IV,  118.  —  Das  Septi- 
zonium Hess  Sixtus  V  zerstören.  Scuola  di  Virgilio  heisst  noch  heute  in 
Neapel  eine  Oertlichkeit  am  Meeresstrande,  wo  ein  Tempel  der  Venus 
Eupleia  oder  der  Fortuna  gestanden  haben  soll.  Ich  weiss  nicht,  ob  der 
Name  schon  im  Mittelalter  existirt.  In  dem  französischen  Volksbuche 
„les  faits  merveilleux  de  Virgile"  wird  eine  Zauberschule  Virgifs  in 
Neapel  erwähnt,  die  vielleicht  in  Folge  jener  Oertlichkeit  erfunden  ist. 
Ein  in  der  Nähe  wohnender  Fischer  erzählte  einem  Fremden,  dass 
Virgil  hier  dem  Marcellus  Unterricht  gegeben  habe.  In  der  Cronica  di 
Pärteuope  heisst  Virgil  in  der  That  der  Lehrer  des  Marcellus;  und  da- 
durch erklärt  sich  wol  zur  Genüge  jener  Name,  ohne  dass  man  die  An- 
nahme nöthig  hat,  es  sei  „scuola"  aus  „scoglio"  (Felsen)  ent- 
standen. 


296  Virgil  in  der  Volkssage. 

den  Fremden  sein  Name  mit  Oertliclikeilen  und  Denkmälern  Rom's 
in  Beziehung  gesetzt  wiu'de.  In  der  That  findet  sich  auch  in  den 
ältesten  Handschriften  der  „Mirabilia  urbis  Eomae"  (aus  dem 
zwölften  Jahrhundert)  zwar  wol  das  „Martyrologium"  d.  h.  „die 
Fasti"  des  Ovid  als  Autorität  citirt,  nicht  aber  Virgil,  und  zwar 
nicht  einmal  da,  wo  er  bei  der  Geschichte  von  Octaviau  und  der 
Sibylle  als  Prophet  hätte  genannt  werflen  müssen.  Wenn  Virgils 
Name  zu  dieser  Zeit  schon  an  irgend  einem  Monumente  gehaftet 
hätte,  so  würden  die  Mirabilia  gewiss  davon  gesprochen  haben. 
Aber  erst  nach  der  Verbreitung  der  Sage  ging  derselbe  in  die 
Mirabilia  über  und  wurde  dann  auch  in  Rom  bekannt. 

In  einer  Handschrift  der  Mirabilia  aus  dem  dreizehnten  Jahr- 
hundert findet  sich  zuei'st   bei  Erwähnung    des  Viminali«  folgende 

Nachricht:    „ von   hier    aus  (d.  h.  vom  Viminalis)    ging  Virgil, 

als  er  von  den  Römern  ergriffen  ward,  indem  er  sich  unsichtbar 
machte,  nach  Neapel;  und  daher  stammt  der  Ausdruck  „vado  ad 
Napulum."  Diese  rohe  Etymologie  bezieht  sich  auf  eine  noch  heute 
„Magnanapoli"  genannte  Strasse,  auf  welcher  man  zum  Viminalis 
emporsteigt.  Zu  Grunde  aber  liegt  auch  hier  natürlich  die  Sage 
von  der  Kiste  und  dem  Auslöschen  des  Feuers.  Wir  sahen  ja, 
wie  der  letzte  Theil  dieser  Erzählung  von  Alters  her  in  Süditalien 
bekannt  war  und  zuerst  auf  den  Zauberer  Heliodor,  dann  auf 
Virgil  und  Petrus  Barliarius  angewandt  wurde;  ebenso  schrieb  man 
das,  was  auf  jene  Begebenheit  folgte,  schon  dem  Heliodor  zu. 
Dieser,  so  hiess  es,  habe,  um  sich  der  verdienten  Strafe  zu  ent- 
ziehen, vermittelst  eines  Stöckchens,  ein  Schiff  mit  Segeln  und 
Matrosen  auf  die  Wand  gezeichnet,  dasselbe  dann  durch  Zauberei 
in  ein  wirkliches  verwandelt  und   sei  so   nach  Sicilien  entflohen*). 


1)  Acta  Ranct.  Febr.  Ili,  255.  Nach  einem  lateinischen  Texte  bei 
Du  Meril  (Mèi.  p.  4.30)  befreite  sich  Virgil  dadurch  aus  dem  Gctang- 
nisse,  dass  er  sich  in  einer  Schüssel  Wasser  bringen  Hess,  darin  unter- 
tauchte und  verschwand.  Darauf  geht  vielleicht  das  „com  de  la  conca 
a  saup  cobrir",  des  Giraud  de  Calan(,on.  In  der  Erzählung  von  Heliodor 
kömmt  dieses  Factum  zwei  Mal  ver:  ,,ut  autem  aliata  est  (pelvis  cum  aqua) 
continuo  in  cani  se  coniicit  et  ex  oculis  abit  cum  hoc  dicto:  salvus  sis, 
Imperator,  quaere  me  Catanae."  Und  in  der  Sage  von  Barliario  heisst 
es  p.  13: 

„Venne  Tora  fatal  che  dee  morire, 

E  al  patiVjolo  giunto  immantinente 

Già  salito  sul  palco,  s'udì  dire: 

Datem  un  poco  d'acqua,  amica  gente. 


Virgil  in  der  Volkssage.  297 

Ganz  dasselbe  soll  auch  Virgil,  als  er  von  den  Römern  zur  Strafe 
für  den  schlechten  Stx-eich,  den  er  dem  Weibe  gespielt  hatte, 
eingekerkert  war,  gethan  haben,  und  auf  dem  Schiffe  zugleich  mit 
allen  anderen  Gefangenen  nach  Neapel  entflohen  sein^).  Diese, 
übrigens  auch  auf  Barliarius  bezogene  Erzählung^)  finden  wir  end- 
lich ausser  in  den  Mirabilia  auch  in  der  von  Bonamente  Aliprando 
i.  J.  1414  verfassten,  und  nach  ihm  „Aliprandina"  genannten  Mau- 
tuaner  Chronik,  von  der  wir  jetzt  zu  sprechen  haben,  wieder. 

Von  den  drei  Städten,  welche  im  Leben  Virgils  eine  Rolle 
spielen,  hat  für  die  Sage  keine  die  Bedeutung  wie  Neapel  erlangt. 
Mantua,  wo  der  Dichter  sich  doch  wol  nur  kurze  Zeit  aufgehalten 
haben  wird,  ist  in  der  Beziehung  ganz  unproductiv  geblieben.  Man 


Un  vaso  d'acqua  ebbe  apparire 
Ma,  prima  che  bevesse  lietamente, 
Signori  di  Palermo  gli  ebbe  detto, 
Jo  vi  saluto  e  a  Napoli  v'aspetto." 

Hieraus  erklärt  sich  ferner  auch  das  „vado  ad  Napulum"  Virgils  in  den 
Mirabilia.  In  einer  Erzählung  von  den  40  Vesiren  (übersetzt  von  ßehrnauer 
p.  23)  taucht  ein  Scheik  unter's  Wasser  und  befreit  sich  so  vom  Tode, 
indem  er  unmittelbar  nach  Damaskus  versetzt  wird. 

1)  Die  Vorstellung  von  einem  durch  die  Luft  fliegenden  Schiffe  ist 
den  Volkssagen  ganz  geläufig.  Man  vgl.  z.  B.  die  russische  Erzählung 
„letuccii  korabl"  in  der  Sammlung  bei  Afanasieff,  VI,  137  ff.  und  die 
ebenda  VIII,  484  ff",  angeführten  Beispiele. 

2)  „Preso  un  piccol  carbone,  a  disegnare 
Incominciò  una  barca  in   quell'    istante; 
Indi  poi  i  compagni  ebbe  a  chiamare 
Che  ponessero  in  quella  le  lor  piante. 
Ridevan  quelli  e  pur  per  soddisfare 

Il  suo  pensier,  che  a  liberarli  è  amante, 
Di  sei  eh'  erano  entrare  un  sol  non  vuole, 
Perchè  fede  non  presta  a  sue  parole. 

Ma  lo  sfotto  n'avrà  doglia  e  rancore; 
La  barca  è  presto  in  aria  sollevata, 
E  se  ne  uscì  dalla  prigione  fuore 
Benché  la  porta  fosse  ben  serrata; 
Per  l'aria  se  n'  andava,  o  gran  stupore. 
Ed  in  parte  lontana  è  già  arrivata. 
E  come  l'aurora  i  raggi  sparse 
Ognun  di  quei  trovossi  alle  lor  case." 


VgL  Orioli,  Spighe  e  paghe  (Corfù,  1845)  III,  190. 


(Pag.  18. 


298  Virgil  iu  der  Volkssagc. 

vergass  zwar  im  Mittelalter,  wie  wir  au«  Donizo^)  sehen,  nicht, 
dass  Virgil  in  Mantiia  gehören  war,  und  erwähnte  auch  einige 
Oerter  in  der  Umgegend  Mantua's,  die  von  ihm  hewohnt  oder  be- 
sucht worden  sein  sollten;  allein  dies  stand  doch  nur  mit  den 
vorhandenen  biographischen  Notizen  über  den  Dichter  in  Verbindung 
und  schloss  die  Idee  einer  wunderbaren  Thätigkeit  desselben  aus. 
Wenn  man  ihm  in  Mantua  eine  Statue  errichtete^),  oder  eine 
Münze  ^)  mit  seinem  Bilde  schlug*),  so  war  das  nur  die  Begeiste- 
rung einiger  gebildeten  Einwohner  der  Stadt  für  den  Dichter  ;  und 
dies  beweist  auch  jene  in  Terzinen  abgefasste  „Aliprandina^)".  Die- 
Roheit  dieser  Composition  und  der  einfältige,  darin  zusammenge- 
stellte Stoff   lassen    keinen    Zweifel   darüber,    dass,    wenn    Mantua 


1)  „llaec  tibi  sint  uota,  Marouis  dicitur  aula 
Hactenuä  et  sylva,  per  quam  pasccbat  ovillas, 
Ast  et  Balista  mous  nascitur  haue  prope  sylvam 
In  quo  Virgilius  titulum  fecit  lioc  modo  scriptum  : 
Monte  sub  hoc  lapidum  etc." 

Doniz.  Vit.  Mathild.  bei  Muratori,  Script,  rcr.  it.  v.  360.  Zum  Nameu 
Balista  bemerkt  Muratori:  „nuuc  appellatur  Monte  di  Vilestra.... 
sed  ÌOììge  ante  Vergilium  ßalistac  monti  nomcu  fuit." 

2).  Im  14.  Jahrh.  Carlo  Malatesta,  der  sie  iu  den  Mincio  hatte,  werfen 
lassen,  musste  sie  später  wieder  aufstellen.  —  Ob  die  Ueberlicferuug, 
von  der  Key  ssl  er,  Neueste  Reisen  p.  1016  spricht,  und  nach  welcher 
2  Miglien  von  Mantua  die  Grotte  gezeigt  wird,  in  der  Virgil  zu  dichten 
pflegte,  alt  ist,  kann  ich  uicht  sagen.  Vgl.  Burckhardt,  Gultur  der 
Ken.  148.  —  Aeneas  Sylvius  besuchte,  als  er  1459  auf  dem  Congresso 
von  Mantua  war,  auch  die  „Villa  di  Virgilio".  S.  Burckhardt,  a.  a.  0. 
lì.  181.  Der  Präsident  De  Brosses,  welcher  im  vorigen  Jahrh.  nach  Pie- 
tola  gereist  war,  um  Dorf  und  Haus  zu  besuchen,  in  dem  Virgil  geboren 
war,  schreibt:  „Je  n'y  vis  autre  chose  qu'uue  maison  de  ca,mpa,gne  assez 
propre  où  il  n'est  pas  la  plus  petite  question  de  Virgile.  Jc  demandai 
aux  gens  du  Heu  pourquoi  cette  maison, portait  le  nom  de  Virgiliana, 
lls  me  répondirent  que  ce  nom  lui  venait  d'un  ancien  due  de  Mantouc 
qui  ctait  roi  d'une  nation  qu'on  appelle  Ics  Poètes  et  qui  avait  écrit 
beaucoup  de  livres  qu'on  avait  euvoyé  en  France."  Colomb,  Le  Presi- 
dent de  Brosses  en  Italie.  Paris  1809  p.  117. 

3)  Eine  Abbildung  dieser  Münzen  befindet  sich  auf  dem  Titelblatte 
des  Werkes. 

4)  üeher  diese  und  ähnliche  Münzen  vgl.  Zanetti  Nuova  raccolta 
delle  monete  e  zecche  d'Italia,  Voi.  Ili,  249  ff.  tav.  XVII. 

5)  „ Aliprandiua,  osia  Chronica  della  città  di  Mantova  di  B  u  o  n  a  m  e  n  t  e 
Aliprando,  cittadino  Mantovano",  bei  Muratori,  Antiqu.  It.  V,  1061 
ff.  Vgl.  Cantù  St.  uuiv.  II,  658  ff'. 


Virgil  in  der  Volkssage.  299 

sagenhafte  Ueberlieferungen  iu  Betreff  des  Dichters  aufbewahrt 
hätte,  der  Verfasser  dieselben  eifrigst  verzeichnet  haben  würde. 
Er  spricht  indessen  von  Virgil  nur  als  von  einem  „Ruhme  Man- 
tuas."  In  der  Biographie  des  Dichtei'S,  die  er  theils  aus  Donat, 
theils  aus  den  damals  bekannten,  aber  Mautua  fremden  Virgilsagen 
zusammengestellt  hat,  erwähnt  er  Vater  und  Mutter  Virgils,  den 
verhängnissvollen  Traum,  welchen  letztere'  von  der  Geburt  des 
Kindes  hatte,  und  fährt  dann  fort: 

„La  donna  fece  l'animo  giocondo 
E  quando  venne  lei  al  partorire 
Nacque  il  figlio  maschio  tutto  e  tondo." 

Darauf  spricht  er  von  dem  Aeusseren  Virgils,  seinen  Studien  und 
Werken,  so  wie  vom  Verluste  seiner  Landgüter,  die  er  aber  wieder- 
erlangte, nachdem  Octavian  die  berühmten  Verse  „Nocte  pluit  tota" 
kennen  gelernt  hatte.  Auf  die  Erzählung  von  der  Prophezeihung 
Christi  folgt  das  Abenteuer  mit  dem  Korbe,  die  Hache,  Gefangen- 
schaft und  Befreiung  des  Dichters,  Alles  in  der  bekannten  Weise  der 
Sage.  Femer  heisst  es,  dass  Virgil,  als  er  sich  eben  auf  Reisen 
befand,  einen  Geist  ausschickte,  um  ihm  vom  Tische  Octavians 
Essen  zu  holen,  imd  dass  dieser,  da  er  das  Essen  verschwinden 
sah,  ausrief: 

„Virgilio  questo  ha  fatto  fare; 
E  della  beffa  rallegrò  la  mente." 

Dieselbe  Geschichte  wird  übrigens  auch  von  anderen  Zauberern 
erzählt  und  findet  sich  in  dem  Volksbuche  von  Barliarius  wieder^). 
Von  den  Wunderwerken  Virgils  kennt  Aliprand  nur  die  broncene 
Fliege,  welche  sich  nach  ihm  in  einem  Glase  befinden  soll,  so  wie 
das  „Castel  dell'  ovo",  das  Virgil  im  Meere  erbaut  habe;  dazu 
fügt  er   schliesslich  noch  eine  von  Virgil  für  die  Neapolitaner  ge- 


,,Si  vide  in  quella  grotta  immantinenti 

Circondare  di  lumi  la  parete, 

E  una  mensa  si  vide  apparecchiata, 

Di  preziose  vivande  era  adornata. 

Cena  Pietro  con  gli  altri  carcerati,^ 

Ed  era  ognun  di  maraviglia  pieno, 

E  sazi  dalli  cibi  che  portati 

Fur  dagli  spirti  in  quell'  oscuro  seno  etc." 


300  Virgil  iu  der  Volkssage. 

schaifene  Oelquelle  ^)  hinzu.  Der  Tod  Virgil's  wird  nach  Donat 
erzählt,  und  nachdem  der  Verfasser  einige  Bemerkungen  über 
des  Dichters  Grab  gemacht  hat,  schliesst  er  mit  folgendem  Meister- 
stück der  Beredtsamkeit,  einer  Leichenrede,  die  er  den  Octavian 
halten  lässt: 

„Di  scienza  ò  morte    lo  più  valente 
Non  credo  che  nel  mondo  il  simil  sia. 
Prego  Dio  che  grazia  gli  consente. 
Che  l'anima  sua  debba  accettare; 
Le  sue  virtudi  non  m'  usciran  di  mente 
Ben  mi  dolgo.  Non  posso  io  altro  fare." 

Trotz  dieser  schönen  Eede  und  trotz  seiner  Weissagungen  von 
Christus  gilt  Aliprand's  Virgil  aber  doch  als  ein  Zauberer  vom  rein- 
sten Wasser,  steht  mit  Satauas  im  Bunde  und  ist  im  Besitze  des 
unvermeidlichen  Zauberbuches.  Als  er  nach  seiner  Flucht  aus  Rom 
nach  Neajiel  gekommen  war,  bemerkte  er,  dass  er  dies  Buch  ver- 
gessen habe,  und  sandte  sofort  seinen  Zögling  Milino  nach  Rom  -), 
um  es  zu  holen,  jedoch  mit  der  ausdrücklichen  Weisung,  es  nicht 
zu  öffnen,  was  natürlich  so  viel  war,  als  wenn  er  gesagt  hätte  : 
öffne  es!  So  that  denn  auch  Milino,  und  alsbald  erschienen  eine 
Menge  Geister  vor  ihm,  die  schrieen:  „Was  willst  du,  was  willst 
du?"  Um  sie  los  zu  werden,  befahl  er  ihnen  endlich,  sie  sollten 
die  Strasse  von  Rom  nach  Neapel  pflastern.  —  Diese  Erzählung 
ist  eine  einfache  Erweiterung  der  uns  bereits  bekannten  Sage  von 
der  Grotte  Pozzuoli,  wie  sie  denn  auch  in  der  That  von  Felix 
Hemmerlin,  welcher  1426  Neapel  besucht  hatte,  auf  jene  Grotte 
bezogen  wird^).  Mit  einigen  leichten  Varianten  findet  sie  sich  dann 


1)  Nach  der  Sago  strömte  aus  dem  einen  Bein  der  in  Sicilien  (von 
Olympiodor  erwähnten)  befindlichen  Statue  Wasser,  aus  dem  anderen 
Beine  immer  brennendes  Feuer.  So  glaubten  auch  die  Byzantiner,  dass 
aus  den  drei  Köpfen  der  Schlangen  am  Dreifuss  an  Festtagen  Wasser, 
Wein  und  Milch  hervorsprudele.  S.  Bondelmonti,  Liber  insularum  (ed. 
De  Sinn  er)  p.  12.3. 

2)  Milin  d.  h.  Merlin;  auch  die  Formen  Mellin,  Merilin,  Merilian, 
Merleg  u.  s.  w.  kommen  vor,  wie  man  Virgil  besonders  iu  Deutschland 
in  Filius,  Filias,  Filigus  verwandelte.  Jacob  v.  Königshofen  (14.  Jahr- 
hundert) spricht  von  dem  grossen  Meister  Virgilius,  den  die  Laien  Fi- 
lius nennen."  Vgl.  v.  d.  Hagen,  Gesammtab.  III,  p.  CXLIII. 

3)  De  nobilitate,  cap.  2.  Vgl.  Roth,  a.  a.  0.  p.  262. 


Vìrgil  in  der  V^olkssage.  301 

bei  Heinricli  von  Mügliu  (14,  Jalirh.)  wieder^),  und  oline  Zweifel 
spielt  auch  Fazio  degli  Ubeiii  in  seinem  „Dittamondo^j"  da,  wo 
er  seine  Reise  von  Rom  nach  Neapel  beschreibt,  dai-auf  an: 

„quella  fabbricata  e  lunga  strada 
che  di   Virgilio  fa  parlare  assai." 

Die  Vermischung  der  Sage  aber  mit  den  historischen  Notizen 
bringt  uns  endlich  auf  die  Biographie  des  Donat  zu  sprechen.  Die- 
selbe enthält,  wie  bereits  im  ersten  Theile  bemerkt  ist^),  vex'- 
schiedene  Intei^polationen  rein  literarischer  wie  volksthümlicher 
Art.  Was  darin  mit  der  historischen  Persönlichkeit  des  Dichters 
nicht  übereinstimmt,  beschränkt  sich  auf  eine  Erzählung,  in  welcher 
Virgil  als  ein  Weiser  auftritt  und  besonders  vor  Augustus  seine 
Kirnst  als  Pferdedoctor  geltend  macht.  Gewöhnlich  bestand  die  Be- 
lohnung, welche  ihm  der  Kaiser  gab,  in  Brod,  und  Virgil  wurde 
also  wie  ein  einfacher  Stallknecht  behandelt.  Als  er  nun  eines 
Tages  richtig  herausgebracht  hatte,  von  welchen  Eltern  ein  Pferd 
abstammte,  gedachte  Augustus,  der  über  seinen  eigenen  Ursprung 
einige  Zweifel  hegte,  das  Talent  des  Dichters  auf  die  Probe  zu 
stellen,  und  fragte,  von  wem  er  denn  abstamme:  „Von  einem 
Bäcker"  erwiederte  Virgil,  „denn  das  sehe  ich  daraus,  weil  du  mir 
immer  Brod  gibst."  Jedermann  begreift,  dass  es  sich  hier  nur  um 
einu  schlagfertige,  witzige  Antwort  handelt,  die  aber  mit  dem 
Zauberer  Vü-gil  gar  Nichts  zu  thun  hat.  Roth  vermuthet,  dass  diese 
Erzählung  in  Italien  in  die  Biographie  etwa  von  einem  Neapoli- 
taner aus  der  ersten  Hälfte  des  zwölften  Jahrhunderts  hineinge- 
bracht sei;  allein  der  Zusatz  wird  wol  jünger  sein.  Roth  selbst 
bemerkt  ja,  dass  derselbe  sich  in  Donathandschriften,  die  älter  als 
das  fünfzehnte  Jahrhimdert  sind,  noch  nicht  findet.  Dieselbe  Anek- 
dote wird  im  Novellino  (2.  Hälfte  des  dreizehnten  Jahrhunderts) 
einem  griechischen  Weisen  zugeschrieben'*)  und  findet  sich  auch  in 


1)  Germania,  V,  371:  Kaum  öffnete  Virgil  das  Buch,  so  umgaben 
ihn  80,000  Teufel,  die  nach  seinem  Befehl  fragten: 

„Er  sprach:   vart  in  den  grünen  walt, 
Und  macht  mir  palt 
Eine   gute    straz,    das   man    darnach 
niuge  varen  und  euch  riten." 

2)  Lib.  III,  cap.  I,  V.  5. 

3)  Cap.  10. 

4)  Vgl.    auch     Papanti,    Catalogo    dei    novellieri    in    prosa,   I, 
p.  XV  tf. 


302  Virgil  in  der  Volkssage. 

Tausend  uud  eine  Nacht  ^).  Dazu  kommt  noch,  class  Alipraud,  der 
doch  die  Biographie  des  Donat  so  stark  benutzt  liat,  die  Begeben- 
heiten nicht  erwähnt,  und  dass  diese  überhaupt  von  keinem 
anderen  Schriftsteller  vor  dem  fünfzehnten  Jahrhundert  auf  Virgil 
bezogen  wird  ^).  Jedenfalls  nimmt  sie  in  der  Biographie,  deren  Zu- 
sätze fast  nur  literarischen  Ursprunges  sind,  eine  ganz  vereinzelte 
Stellung  ein,  und  man  kann  viel  eher  sagen,  dass  die  Biographie 
von  Schriftstellern,  welche  Virgilsageu  behandelten,  benutzt  worden 
ist,  als  umgekehrt,  dass  sie  Elemente  der  Sage  in  sich  aufge- 
nommen hat.  In  einigen  anderen  lateinischen,  meist  zum  Schul- 
gebrauche bestimmten  Biograjibien  des  Dichters  aus  der  letzten 
Zeit  des  Mittelalters,  z.  B.  in  der  auf  S.  129  citii-ten,  Avird  da- 
gegen Virgil  Zauberer,  Arzt  und  Astrolog  genannt,  und  zugleich 
sein  wunderbares  Werk  der  „Salvatio  Romae"  erwähnt^ 

Jedenfalls  wird  der  Leser  überzeugt  sein,  dass  die  Virgilsage 
in  Italien  niemals  die  Ausdehnung  wie  in  anderen  Ländern  ange- 
nommen hat.  Eigentlich  geläufig  scheint  den  Italieneni  nur  die 
Erzählung  von  der  Kiste  gewesen  zu  sein ,  die  ja  in  ganz  Europa 
verbreitet  war,  aber  gewiss  einen  anderen  Ursprung  als  der  übrige 
Theil  der  Virgilsage  hatte.  Der  teuflische  Zauberer  Virgil  ist  eine 
Figur,  die  in  Italien  dui'chaus  nicht  von  der  Sage  so  scharf  aus- 
geprägt ward,  wie  anderswo.  Selbst  im  vierzehnten  Jahrhundert 
wusste  Caracciolo  über  Virgil  noch  nicht  viel  mehr,  als  das,  was 
man  schon  in  Neapel  erzählte,  bevor  sich  die  Sage  in  Europa 
verbreitete.  Boccaccio  kennt  nur  einige  Züge  der  neapolitanischen 
Volkssage;  Aliprand  hat  noch  im  Anfange  des  fünfzehnten  Jahr- 
hunderts nur  eine  sehr  unbestimmte  und  widerspruchsvolle  Vor- 
stellung vom  Zauberer  Virgil  und  weiss  sehr  wenig  von  doi-  Volks- 
sage überhaupt.  Weder  Caracciolo  noch  Aliprand  verlieren  dagegen 


1)  Nacht  459  in  der  Ausgabe  von  Habicht  und  v.  d.  Hagen. 

2)  AmjDcre  (L'empire  romain  à  Rome  I,  p.  351  f.)  glaubt,  dass  die 
Anekdote  mit  dem  1838  wieder  eutdeckteu  Grabmal  des  Bäckers  1\I.  Vir- 
gilius  Eurysaces  vor  Porta  Maggiore  iu  Beziehung  stehe,  und  dass  dieses 
selbst  dem  Dichter  Virgil  fälschlich  zugeschrieben  sei.  Dies  ist  jedoch, 
abgesehen  von  anderen  Gründen,  schon  deshalb  unmöglich,  weil  man 
dann  annehmen  müsstc,  dass  jene  späte  Interpolation  zu  den  Zeiten  Do- 
nats  selbst,  der  kurz  vor  Honorius  lebte,  gemacht  sei,  während  das 
Denkmal  eben  durch  die  Bauten,  die  gewiss  aus  den  Zeiten  des  Honorius 
stammen,  verdeckt  wurde. 


Virgil  in  der  Volkssage.  303 

je  die  liistorisclie  Persönliclikeit  des  Dicliters  Virgil  aus  den  Augen. 
Im  sechzehnten  Jahrhundert  aber  stellt  sich  uns  eine  Thatsache  dar, 
welche  beweist,  wie  wenig  in  Italien  die  Berührung  des  Dichters 
mit  jenen  Fabeleien  Anklang  fand:  Der  anonyme  Verfasser  der 
„Compassionevoli  avvenimenti  di  Erasto",  welcher  in  seiner  Be- 
arbeitung des  „Romaii  des  sept  Sages"  sowol  von  d*em  unauslösch- 
lichen Feuer  wie  dem  Wunderspiegel  spricht,  unterdrückt  bei  diesen 
Erzähhmgen  geradezu  den  Namen  Virgils  und  nennt  „Rodi"  an 
Stelle  „Roms".  Jene  Erzählungen  konnten  um  so  weniger  in  Italien 
gefallen,  da  gerade  damals  die  klassischen  Studien  wieder  aufzu- 
blühen begannen.  Indem  man  sich  tiefer  in  das  Wesen  der  alten 
Schriftsteller  versenkte  und  von  der  blinden,  traditionellen  Bewun- 
derung frei  machte,  musste  der  Schimmer  der  Sage  erlöschen,  mit 
welchem  das  Mittelalter  die  Namen  der  alten  Autoren  umgeben 
hatte.  Da  die  Italiener  die  Ersten  waren,  unter  denen  das  Licht 
der  Wissenschaften  wieder  aufging,  so  wagten  auch  die  Virgil- 
sagen  nicht  tiefer  in  das  Land  einzudringen,  sondern  fristeten  nur 
i^i  einigen  Gegenden  unter  dem  Schutze  des  Aberglaubens  oder 
der  possenhaften  Dichtung  ein  kümmerliches  Dasein. 

Zehntes  Capitel. 

Nachdem  die  Virgilsage  in  den  verschiedenen  Ländern  die 
geschilderte  Ausbildung  erfahren  hatte,  wurde  sie  schliesslich  noch 
in  einer  weitläufigen  Biographie  des  Dichters  zusammengefasst, 
und  zwar  in  der  Lütticher  Chronik  von  Jean  d'Outremeuse  unter 
dem  Titel  „Myreur  des  histors^)".  Diese  Chronik  ist  eine  Zu- 
sammenstellung aus  den  verschiedensten,  theils  genannten,  theils 
ungenannten  Schriftstellern  (bis  zum  vierzehnten  Jahrhundert)  und 
besonders  enthält  der  auf  die  alte  Geschichte  bezügliche  Theil  der- 
selben ein  wunderbares  Gemisch  zahlloser  Sagen  und  Phantastereien. 
Die  Biographie  Virgils  wird  hierselbst  mehr  als  ein  Mal  von  Er- 
zählungen ganz  anderer  Art  unterbrochen;  denn  der  Autor  wollte 
nicht  vei-gessen,  dass  das  erste  Gesetz  für  einen  Chronikschreiber 
die  Zeitfolge  der  Thatsachen  sei,  die  er  freilich,  wo  sie  nicht  vor- 
handen ist,  schnell  erfindet.  Abgesehen  aber  von  den  Daten, 
welche  die  Sage  mit  anderen  Bestandtheilen   des  Werkes  in    Ver- 


1)  ,,Ly  myreur  des  histors  ckronique  de  Jeau  des  Preis  dit  d'Outre- 
meuse publiée  iDar  Ad.  Borgnet,  Bruxelles.  1864.  Vgl.  Lieb  recht  iu 
Pfeiffer's  Germania  X,  408  ff. 


304  Virgil  iu  der  Volkssage. 

Linduug  bringen,  scheint  diese  Biographie  doch  eine  vom  Ver- 
fasser vorher  besonders  ausgearbeitete  Schrift  gewesen  zu  sein,  die 
ihres  sonderbaren  Charakters  wegen  in  mehr  als  einer  Hinsicht 
unsere  Aufmerksamkeit  verdient. 

Besonders  hatte  der  Verfasser  der  Chronik  den  Text  der  „Image 
d\i  monde"  sowie  andere  französische  und  lateinische  Texte,  welche 
von  den  Wunderthaten  Virgils  erzählten,  vor  Augen,  suchte  aber 
.^0  viel  Sagen  als  möglich  zusammenzubi-ingen,  indem  er  oft  so- 
gar aus  mehreren  Versionen  einer  Sage  verschiedene  Erzählungen 
machte^).  Dazu  fügte  er  selbst  neue  Sagen  hinzu  oder  entwickelte 
alte  weiter.  Vor  den  Notizen  aus  Donat  hat  er  sich  wolweislich 
gehütet  xmd  ist  überhaupt  bemüht,  die  Vorstellung  von  einer 
wirklich  historischen  Persönlichkeit  des  Dichters  so  fern  als  mög- 
lich zu  halten.  Virgil  erscheint  nun  aber  bei  ihm  vornehmlich 
unter  drei  Gesichtspimcten  :  er  ist  entweder  Zauberer,  Prophet  oder 
„homme  galant".  Da  der  Verfasser  ohne  Zweifel  die  Dichtungen 
der  Alten  sowie  die  Vii-gilbiographien  gut  kannte  und  seine  No- 
tizen aus  allen  möglichen  Werken  zusammentrug,  so  kann  er  die 
historischeu  Thatsachen  nur  mit  Absicht  ausgeschlossen  haben,  wie 
er  denn  wirklich  die  sagenhafte  Figur  Virgils  in  einer  bis  dahin 
noch  nicht  dagewesenen  Weise  übertrieben  hat. 

Der  Ort  der  Begebenheiten  bleibt  auch  bei  Jean  d'Outremeuse 
Rom  oder  Neapel;  aber  Virgil  selbst  ist  kein  Italiener,  sondern 
der  Sohn  eines  Königs  von  Bugie  (in  Libyen),  Namens  Gorgilius. 
Nachdem  er  auf  Abenteuer  ausgegangen  war,  gelangte  er  in  das 
Reich  der  Lateiner,  deren  König,  ein  Onkel  des  Julius  Caesar,  ihm 
so  viel  von  Rom  vorredete,  dass  er  beschloss,  selbst  dorthin  zu 
gehen.  Allein  wir  verzichten  darauf,  dem  Leser  die  ganze  Masse 
iler  sonderbaren  und  plumpen  Erfindungen  der  Biographie  vorzuführen, 
und  begnügen  uns  mit  einigen  allgemeinen  Bemerkimgen,  welche 
den  Zusammenhang  derselben  mit  den  bereits  geschilderten  Sagen 
erkennen  lassen. 


1)  Im  Cleomadès  heisst  es  z.  B.,  dass  Virgil  in  Rom  vier  Statuen 
verfertigte,  welche  die  Jahreszeiten  vorstellteu  und  sich  einander  je 
nach  dem  Ablauf  einer  Jahreszeit  einen  Apfel  zureichten.  Dagegen  er- 
wähnt der  „Roman  des  sept  Sages''  nur  zwei  Statuen,  welche  den  Ueber- 
gang  von  einer  Woche  zur  anderen  anzeigte.  Jean  d'Outremeuse 
aber  schreibt  dem  Virgil  vier  Statuen  für  die  Jahreszeiten,  zwei  für  die 
Wochen  und  ausserdem  noch  zwölf  andere  für  die  Monate  zu.  Von 
letzteren  spricht  auch  Jean  M ansei  in  „La  Fleur  des  histoires";  vgl. 
Du  Meril,  Mt-1.  p.  440. 


Virgil  in  der  Volkssage.  30ö 

Zur  Charakteristik  des  Zauberers  Virgil  Hesse  sich  eigentlich 
kaum  noch  etwas  hinzufügen;  was  sich  bei  Jean  d'Outremeuse 
als  neu  vorfindet,  beschränkt  sich  auf  die  Erzählung  von  luxu- 
riösen Gastmälern,  welche  Virgil  gab,  and  wobei  er  die  Einge- 
ladenen mit  Hilfe  seiner  dienstbaren  Geister  durch  wunderbare 
Spiele  und  lächerliche  Spässe  ergötzte^). 

Dagegen  verstand  es  Jean  d'Outremeuse  die  Vorstellung  vom 
Propheten  Virgil,  die  ja  ihrem,  eigentlichen  Ursprünge  nach  nicht 
volksthümlich  war,  sondern  es  erst  wurde,  weiter  zu  entwickeln. 
Mit  der  Sage  vom  Zauberer  Virgil  hat  sich  diese  Idee  nur  wenig 
berührt^);  erst  Jean  d'Outremeuse  wusste  aus  der  Zusammen- 
stellung beider  Elemente  Capital  zu  schlagen  und  noch  weiter 
zu  gehen,  als  alle  die,  welche  vor  ihm  des  Propheten  Virgil 
gedacht  hatten.  Er  erwähnt  zwar  bei  seiner  Scheu,  die  er  vor  der 
historischen  Persönlichkeit  des  Dichters  hat,  weder  die  Sibylle  noch 
die  betreffenden  Verse  Virgils,  lässt  aber  den  Dichter  nicht  nur 
vor  Römern,  sondern  auch  vor  Aegyptern  lange  Reden  über  die 
Ankunft,  Christi  halten,  Leben  und  Sterben  des  Heilandes  auf  das 
genaueste  auseinandersetzen,  und  die  Einheit  Gottes,  die  Dreieinig- 
keit und  alle  Glaubensartikel  auslegen,  sodass  dadurch  viele  Heiden 
sich  zu  dem  Glauben  bekehrten,  der  künftig  in  die  Welt  kommen 
sollte.  Virgil  bleibt  darum  freilich  immer  der  grosse  Zauberer; 
aber  sobald  ihm  jener  berühmte  Kopf  sein  nahes  Ende  voraussagt,  da 
jagt  er  alle  seine  bösen  Geister  zum  Teufel,  beugt  sich  vor  Gott 
indem  er  das  Glaubensbekeuntniss  ablegt,  schreibt  schnell  ein  Buch 
über  die  christliche  Lehre,  gibt  noch  ein  herrliches  Abschiedsessen 
zur  Bekräftigung  seines  neuen  Glaubens  und  lässt  sich  provisorisch 
taufen.  Schliesslich  macht  er  sich  zum  Sterben  bereit,  indem  er 
ein  theologisches  Buch  vornimmt  und  sich  auf  einen  prächtigen 
Stuhl  setzt,  in  welchen  er  mit  eigner  Hand  alle  Begebenheiten 
des  neuen  Testamentes  von  der  Verkündigung  bis  zur  Himmel- 
fahrt eingemeisselt  hatte.  Und  so  blieb  er  sitzen  mit  dem  Anscheine 


1)  Albertus  Magnus  liess  vor  seinen  Gästen  den  Frühling  inmitten 
des  Winters  erscheinen,  und  ähnliche  Geschichten  wusste  auch  das  Alter - 
thum  vom  grossen  Zauberer  Pases.  Vgl.  Suidas,  s.  v.  nccai]g  und 
Friedlaender,  Darst.  d.  Sitteng.  I,  364. 

2)  So  ist  sie  z.  B.  der  neapolitanischen  Sage  ganz  fremd,  was  um 
so  auffälliger  ist,  da  doch  abgesehen  von  der  Nähe  von  Cumae,  den 
Neapolitanern  die  Sibylle  auch  durch  die  berühmte  Grotte  bekannt 
genug  war. 

Comparetti,    Virgil  im  Mittelalter.  20 


306  Virgil  in  der  Volkssage. 

des  Lebens,  bis  der  h.  Paulus  kam  und  ihn  beim  ^Mantel  zupfte, 
worauf  Virgil  in  Asclie  zerfiel.  Der  Apostel  fing  nun  an,  bitter- 
lich zu  weinen,  weil  er  vermuthete,  Virgil  sei  als  Heide  gestor- 
ben, allein  er  kam  zu  seinem  Tröste  bald  von  seinem  Irrthum 
zurück,  da  er  das  Buch  erblickte,  welches  der  Dichter  hinter- 
lassen hatte. 

Jean  d'Outremeuse  ist  es  auch  gelungen,  das  Abenteuer  von 
der  Kiste,  welches  die  Grundlage  des  ,, galanten  Theils"  der  Bio- 
graphie bildet,  zu  erweitern  und  zu  modificireu:  Wenige  Weiber 
waren  je  so  verliebt  in  Virgil  gewesen,  als  die  schöne  Phoebilla, 
die  Tochter  Julius  Caesars,  obwol  sie  den  Dichter  noch  nicht  ein- 
mal gesehen  hatte.  Ohne  viel  Rücksicht  auf  ihren  Stand  zu  nehmen, 
Hess  die  kaiserliche  Dame  Virgil  zu  sich  rufen  und  erklärte  ihm 
frisch  von  der  Leber  weg:  „Sire  Virgile,  dites-moy  se  vos  aveis 
amie;  car  se  vos  me  voleis  avoir,  je  suis  vostre  por  prendre  à 
fem  me  ou  estre  vostre  amie;  s'il  vos  plaiste."  Virgil  entgegnete, 
dass  er  augenblicklich  nicht  gesonnen  sei,  sich  zu  verheirathen, 
aber  dass  er  sie  wol  lieben  wolle,  wenn  es  ihr  so  gefiele,  und  so 
ward  denn  rasch  das  unerlaubte  Verhältniss  angeknüpft.  Uuter- 
dess  verrichtete  Virgil  immer  grössere  Wunder,  aber  je  mehr  sein 
Ruhm  wuchs,  desto  eifriger  begehrte  Phoebilla  sein  rechtmässiges 
Weib  zu  werden.  Jedesmal  jedoch,  wenn  sie  diese  Saite  berührte, 
sagte  Virgil,  dass  er  an  andere  Dinge  zu  denken  habe,  „ilh  moy 
convient  penser  à  outres  chouses,"  dass  ihm  seine  Studien  nicht 
erlaubten ,  ein  Weib  zu  nehmen ,  aber  dass ,  wenn  er  doch  einmal 
eines  Tages  auf  den  Gedanken  käme,  er  sie  gewiss  allen  anderen 
Frauen  vorziehen  werde.  Allein  die  Tage  vergingen,  und  Virgil 
blieb  unerbittlich.  Endlich  ward  es  die  Prinzessin  müde,  so  zum 
Narren  gehalten  zu  werden  und  verfiel  deshalb  auf  den  Gedanken, 
dem  Virgil  einzureden,  ihr  Vater  habe  Alles  entdeckt  und  drohe  mit 
furchtbaren  Strafen,  Virgil  musste  natüi-lich  diesen  Betrug  durch- 
schauen und  sagte  ihr,  solches  Geschwätz  möge  sie  anderen  er- 
zählen, er  wolle  nun  einmal  nichts  von  der  Ehe  wissen,  aber 
wenn  sie  sich  weiter  lieben  lassen  wolle,  so  könne  es  beim  Alten 
bleiben.  Da  ergab  sich  Phoebilla  scheinbar  wieder  in  ihr  Schicksal, 
sann  jedoch  heimlich  auf  Rache.  Sie  gab  vor,  dass  der  Vater,  um 
das  Verhältniss  abzubrechen,  sie  in  einen  Thurm  einsperren  wolle, 
und  machte  dem  Virgil  den  Vorschlag,  sich  in  eine  Kiste  durchs 
Fenster  emporziehen  zu  lassen;  und  hier  folgt  nun  das  bekannte 
Abenteuer,  nur  mit  dem  Unterschiede,  dass  Jean  d'Outremeuse, 
der  wol  bemerkt  hatte,  wie  der  zweite  Theil  der  Geschichte  schlecht 


Virgil  in  der  Volkssage.  307 

zu  dem  ersten  stimmte,  den  Widerspruch  künstlich  beseitigte:  Virgil 
durchschaute  nämlich  die  List,  sagte  zwar  zu,  aber  setzte  in  die 
Kiste  einen  Geist,  der  ihm  ganz  ähnlich  war.  Dieser  spielte  auch 
seine  Rolle  ganz  vortrefflich,  bis  der  Tag  anbrach.  Da  zog  der 
Kaiser  heran,  um  den  gottlosen  Verführer  seiner  Tochter  zu  be- 
strafen, und  gab  zunächst  dem  vermeintlichen  Virgil  mit  seinem 
Schwerte  einen  heftigen  Schlag  auf  den  Kopf,  aber  erschrak  nicht 
wenig,  wie  er  aus  der  Wunde  anstatt  Blut  stinkenden  Qualm 
hervorgehen  sah,  welcher  so  dicht  wurde,  dass  die  Römer  im 
Dunkeln  dastanden,  als  wäre  es  stockfinstere  Nacht. 

Virgil  reiste  darauf  sofort  von  Rom  ab,  und  nahm  das  Feuer 
mit  sich,  Hess  sich  aber  durch  die  Bitten  des  Kaisers  und  Volkes 
versöhnen,  freilich  nicht,  ohne  an  der  armen  Phoebilla  noch  sein 
Müthchen  zu  kühlen.  Er  bewirkte  nämlich,  dass  alle  Frauen,  die 
sich  in  einem  bestimmten  Tempel  befanden,  auf  einmal  alle  ihre 
Geheimnisse  ausplaudern  mussten,  und  natürlich  hatte  auch  Phoe- 
billa mancherlei  zu  erzählen.  Inzwischen  starb  Julius  Caesar,  und 
es  folgte  ihm  Octavian,  ohne  auf  die  Ansprüche  zu  achten,  die 
Caesars  Frau  an  den  Thron  machte.  Dieselbe  verband  sich  des- 
halb mit  Phoebilla,  und  Beide  versuchten  sich  Octavians  wie  seines 
Helfershelfers,  Virgils,  zu  entledigen.  Allein  letzterer  sah  Alles 
voraus  und  brachte  es  durch  seine  Zauberkunst  dahin,  dass  die 
Frauen,  ia  der  Meinung,  Octavian  und  Virgil  zu  tödten,  zwei  grosse 
Hunde  umbrachten.  Da  Virgil  erfuhr,  dass  die  beiden  Schuldigen, 
die  er  hart  zu  bestrafen  gedachte,  sich  mit  Hilfe  des  Senates  ent- 
fernt hatten,  ward  er  so  zornig,  dass  auch  er  Rom  für  immer 
verliess  und  das  Feuer  mit  sich  nahm,  das  sich  die  Römer  später 
von  der  Phoebilla  wieder  holen  mussten,  die  dabei  vor  Scham  uud 
Wuth  starb.  Hier  hören  nach  dem  „Mii-oir  des  histors"  die  Be- 
ziehungen Vii-gils  zum  weiblichen  Geschlechte  auf.  Von  der  „Bocca 
della  Verità"  spricht  Jean  d'Outremeuse  auch,  ohne  jedoch  die 
darauf  bezügliche  Anekdote  zu  erwähnen. 

Die  Chronik,  aus  der  wir  diese  Notizen  entlehnt  haben,  war 
indessen  zu  umfangi-eich  und  wenig  bekannt,  als  dass  diese  Zu- 
sammenstellung auf  die  Virgilsage  selbst  einen  folgereichen  Ein- 
fluss  hätte  ausüben  können.  Und  so  hat  denn  auch  das  wahr- 
scheinlich   in    Frankreich    entstandene^)    Volksbuch,    welches    von 


1)  Görres,  (Die  teutschen  Volksbücher,    228)  verwechselt  den  Ur- 
sprung der  Sage  mit  der  Herkunft  des  Buches,  wenn  er  sagt,  dass  dies 

20* 


308  Virgil  in  der  Volkssage. 

Virgil  handelte  und  vom  sechzehnteu  Jahrhundert  au  in  Europa 
bekannt  war,  mit  der  Darstellung  des  Jean  d'Outremeuse  nur 
wenig  gemein.  Handschriften  davon  sind  nicht  erhalten;  auch  wird 
die  Abfassung  nicht  lange  vor  Erfindung  der  Buchdruckerkunst 
Statt  gehabt  haben.  Die  älteste  Version  findet  sich  in  der  Ausgabe 
aus  dem  Anfang  des  sechzehnten  Jahrhunderts  unter  dem  Titel: 
„Les  faits  merveilleux  de  Virgille",  die  eben  so  selten  ist  wie  zwei 
siJätere  moderne').  Das  Buch  war  so  populär,  dass  man  es  in  das 
Englische^),  Holländische^)  und  Deutsche'*)  übertrug.  Eine  islän- 
"lische  Uebersetzung  ist  noch  unedirt'^).  Die  dabei  voi-komraenden 
Variauten  sind  ganz  unwesentlich. 


in  Italien  verfasst  sei.     Unsere  Beobachtungen   haben  gezeigt,  dass  dies 
nicht  möglich  ist. 

1)  Bruuet  (Manuel,  II,  1167  f.)  beschreibt  fünf  Ausgaben,  von  denen 
die  weniger  alte  nach  1530  gedruckt  ist.  Die  Ausgabe  von  Wilhelm 
Nyverd  ist  in  einigen  Exemplaren  facsimilhrt  von  Techener  (Paris 
1831)  und  Pinard  1831.  Ein  moderner  Nachdruck  trägt  den  Titel:  Les 
faits  merveilleux  de  Virgille,  réimpression  textuelle  de  Féditiou  sans 
date,  publiée  à  Paris,  chez  Guillaume  Nyverd;  suivie  d'une  notice 
bibliographique  par  Philomneste  Iunior.  Genève.  Gay  et  fils  1867. 

2)  ,,This  boke  treatethe  of  the  lyfe  of  Virgilius  and  of  his  death, 
and  many  maravayles  that  he  dyd  in  his  lyfe  tyme  by  witchcraft  and 
nigromansy,  thorough  the  help  of  the  devylls  of  hell.  Emprynted  in 
the  cytie  of  Anwarpe  by  me  John  Doesborcke."  4.  30  SS.  mit  Holz- 
schnitten. Utterson  Hess  das  Buch  zu  London  wieder  auflegen.  Abge- 
druckt bei  Thoms  ,,Early  english  prose  romances"  Lond.  1828  (2.  Ausg. 
Lond.  1858).  No.  2;  übersetzt  von  Spazier,  , Altenglische  Sagen  und 
Märchen"  hrsg.  v.  William  Thoms,  deutsch  und  mit  Zusätzen. 
Braunschweig  1830.  I.  73  fi'.  Vgl.  Wright,  „Narratives  of  sorcery  and 
magic."  Lond.  1851.  I,  103  fi". 

3)  „Eeu  schone  Historie  van  Virgilius  van  ziju  Leuen,  Doot,  ende 
van  zijn  wonderlijke  werken,  di  hy  deede  by  Nigromantien ,  ende  by 
dat  behulpe  des  Duyvels."  Amsterd.  H.  S.  Muller.  1552.  Ueber  diese 
Version,  welcher  die  enghsche  Redaction  zu  Grunde  liegt,  s.  Gör  res. 
Die  teutschen  Volksbücher  p.  225  fi',  und  Van  den  Bergh,  De  Neder- 
landsche  volksromans.  (Amst.  1837)  p.  81  ff".  Deutsch  übersetzt  bei  v.  d. 
Hagen,  „Erzählungen  und  Märchen"  I,  153  ff.  und  bei  Scheible,  Das 
Kloster  II,  129  ff. 

4)  Von  der  von  Simrock  „die  deutschen  Volksbücher"  (Frkf.  a.  M. 
VI,  1847,  p.  323  fi.)  angeführten  „deutschen"  Version,  der  übrigens  ein 
holländischer  Text  zu  Grunde  liegt,  sind  mir  keine  alten  Ausgaben  be- 
kannt und  werden  auch  von  Simrock  keine  erwähnt. 

6)  Diese  isländische  Uebersetzung,  welche  1676  nach  einem  hollän- 
dischen Texte  angefertigt  ward,  befindet  sich  zu  Kopenhagen;   s.  Half- 


Virgil  in  der  Volkssage.  309 

Die  „Faits  merveilleux"  unterscheiden  sich  in  mehrfacher  Hin- 
sicht von  der  umfänglichen  Darstellung  des  belesenen  Jean  d'Outre- 
meuse,  zunächst,  insofern  ihnen  die  Vorstellung  vom  Propheten 
Virgil  abgeht,  ferner  aber,  indem  sie  eine  Menge  der  von  Jean 
d'Outremeuse  berichteten  Geschichten  von  den  Talismanen  über- 
springen und  dafür  andere  Pai-tieen  der  Sage  mit  grösserer  Freiheit 
behandeln. 

Das  Buch  beginnt  mit  einer  auf  die  Gründung  Roms  und 
Rheims'  bezüglichen  Legende,  die  uns  auch  unabhängig  von  der 
Virgilsage  in  dem  Romane  „Atis  et  Pi-ofilias'")  begegnet.  Virgil 
ward  als  der  Sohn  eines  Ritters  von  den  Ardennen  bald  nach  der 
Gründung  Roms  geboren;  als  er  auf  die  Welt  kam,  zitterte  ganz 
Rom.  Während  er  zu  Toledo  studirte,  erfuhr  er,  dass  man  die 
Güter  seiner  Mutter  usurpirt  hatte,  imd  eilte  sofort,  von  ihr  ge- 
rufen, nach  Rom.  Da  er  indessen  vom  Kaiser  kein  Recht  erlangen 
konnte^),  verfolgte  er  seine  Feinde  durch  Zauberkünste;  selbst 
der  Kaiser,  der  ihn  in  seinem  Schlosse  angriff,  wurde  von  ihm 
gezwungen,  vom  Kriege  abzustehen  und  ihm  die  Güter  wieder 
herauszugeben.  —  Der  Leser  der  ersten  Ecloge  Virgils  wird  sofort 
bemerken,  dass  dieser  Zusatz  auf  der  Ueberlieferung  einer  alten 
biographischen  Notiz  beruht.  Das  Abenteuer  mit  der  Kiste  wii-d 
dann  ohne  die  Erweiterungen,  die  dasselbe  bei  Jean  d'Outremeuse 
erfahren  hatte,  berichtet.  Dafür  aber  treten  zu  demselben,  wie  zu 
der  Anekdote  von  der  „Bocca  della  verità",  die  sich  übrigens 
hier  in  den  Kopf  einer  ehernen  Schlange  verwandelt,  zwei  Zusätze, 
welche  dem  Buche   völlig  den  Charakter   eines  Romans  geben. 

Virgil  hatte  nämlich  unter  anderen  nützlichen  Dingen  für  die 
Stadt  Rom  auch  eine  Statue  angefertigt,  welche,  in  der  Luft 
schwebend  und  von  allen  Punkten  der  Stadt  sichtbar,  die  Fähigkeit 
besass,  von  jedem  Weibe,  wenn  es  ihrer  ansichtig  ward,  alle  un- 
keuschen Gedanken   fern   zu    halten^).     Das    schien   indessen   nicht 


dan  Einarssou,  Hist.  litt.  Isl.   108.      Nyerup,  Dan.  Volksb.  p.   203. 
Müller,  Sagabibl,  III,  484. 

1)  Du  Mèrli,  Mélanges,  426. 

2)  Der  römische  Kaiser  war  nach  der  Erzählung  der  auch  in  den 
Mirabilia  vorkommende  Persis.  Nach  dem  „Roman  des  sept  Sages" 
lebte  Virgil  zur  Zeit  des  Servius,  nach  einem  Capitel  der  Gesta  Roma- 
norum zu  der  des  Titus,  und  nach  einem  anderen  Capitel  derselben  Gesta 
zur  Zeit  des  Darius.  Hans  Sachs  versetzt  ihn  gar  in  die  Zeiten  Arthurs 
und  nach  Brittannien. 

3)  In    einer   französischen   Geschichte    der   Pisaner    aus    dem    löten 


310  Viigil  in  der  Volkssage. 

uach  dem  Geöchniacke  der  Rönierinneii  zu  sein,  und  sie  baten  des- 
halb die  Frau  Virgils,  die  Statue  zu  vernichten.  In  der  That  ge- 
lang es  jener,  als  ihr  Mann  gerade  abwesend  war,  sich  einer  von 
ihm  verfertigten  wunderbaren  Brücke  zu  bedienen  und  die  Bild- 
säule herabzuwerfen.  Virgil  kehrte  zurück,  ward  sehr  zornig  und 
stellte  die  Statue  wieder  auf  ihren  Platz.  Als  das  Weib,  von  den 
Römerinnen  aufgefordert,  einen  zweiten  Versuch  wagte,  wurde  sie 
von  ihrem  Manne  dabei  ertappt  und  der  Bildsäule  in  den  Fluss 
nachgeworfen.  Allein  durch  diese  Begebenheiten  war  Virgil  doch 
so  muthlos  geworden,  dass  er  darauf  verzichtete,  gegen  die  Arglist 
der  Weiber  zu  kämpfen:  „pour  bien  je  l'avoy  faite  (nämlich  die 
Bildsäule):  mais  plus  ne  m'en  meslerai  et  faient  les  dames  à  leur 
voulenté  ^). 

Die  darauf  folgenden  Anekdoten  haben  nicht  mehr  den  Zweck, 
das  schöne  Geschlecht  zu  schmähen: 

Virgil,  welcher  an  seine  erste  Frau  nicht  lüehr  denken  mochte, 
hatte  von  einer  wunderschönen  Tochter  des  Sultans  von  Babylonien 
gehört.  Schnell  wie  der  Blitz  nahte  er  sich  ihr,  verführte  sie  und 
brachte  sie  mit  sich  nach  Rom.     Als  das  Fräulein  jedoch  Neigung 


Jahrb.,  die  in  eiuem  Berner  Codex  erhalten  ist,  werden  zwei  von  Virgil 
verfertigte  und  in  der  Kathedrale  voii  Pisa  befindliche  Säulen  erwähnt, 
auf  denen  jedesmal  das  Bild  dessen  erscheine,  der  gestohlen  oder  Ehe- 
bruch getrieben  habe.  Vgl.  De  Sinner,  Catal.  codicum  mss.  bibl.  Ber- 
nensis  11,  129;  Du  Méril,  Mei.  472.  Ganz  im  Widerspruch  mit  diesen 
Erzählungen  steht  freilich,  was  Enenkel  in  seinem  Weltbuche  erwähnt, 
dass  Virgil  für  die  Römer  eine  künstliche  öffentliche  Dirne  verfertigt 
habe.  Vgl.  v.  d.  Hagen,  Gesammtabenteuer  II,  515;  Massmann, 
Kaiserkr.  111,  451.  Das  Gleiche  wird  in  einer  rabbinischen  Legende  be- 
richtet; vgl.  Praetor  ins,  Anthropodemos  pluton.  1,  150  und  Liebrecht 
in  der  „Germania"  X,  414.  Vielleicht  erklärt  sich  die  Sage  durch  die 
in  den  Mirabilia  erhaltenen  sonderbaren  Worte:  „femina  circumdata  ser- 
pentibus  sedens  et  habens  concham  ante  se,  significat  Ecclesiam  multis 
scripturarum  voluminibus  circumdatam  quam  quicumque  audire  voluerit 
non  poterit  nisi  prius  lavetur  in  concha  illa."  In  mehreren  Handschriften 
ist  diese  Stelle  verdorben,  wenn  es  heisst:  „femina  circumdata  serjjentibus 
sedens  habens  concham  ante  se  (signat)  ijudicatores  qui  pudicabant  eam, 
ut  quicumque  ad  eam  ire  voluerit  non  poterit  nisi  prius  lavetur  in  concha 
illa."  Graesse,  Beitr.  p.  8  und  p.  VIII;  vgl.  auch  „Graphia  aureae 
mrbis  Romae"  bei  Ozanam,  Docum.  inéd.  170. 

1)  Im  französischen  Romane  vom  h.  Graal  hat  Hippokrates  eine  Frau, 
die  ihn  so  betrübt,  dass  er  deswegen  stirbt.  Es  lässt  sich  überhaupt 
zwischen  dieser  Erzählung  und  der  von  Virgil  eine  Parallele  ziehen.  S. 
Pauli u  Paris,  Les  romans  de  la  table  ronde,  I,  267  ff. 


Virgil  in  der  Volkssage.  311 

zeigte,  wieder  zu  ihrem  Vater  zurückzukehren,  sichaffte  sie  Virgil 
wieder  sofort  zu  diesem  und  kehrt  nach  Rom  zurück.  Der  Sultan 
fragte  die  Tochter,  wo  sie  gewesen,  imd  diese  gestand  ihr  Erlebuiss, 
ohne  aber  den  ihr  unbekannten  Namen  des  Verführers  anzugeben. 
„Wenn  er  wiederkömmt",  sagte  der  Sultan,  „so  bitte  ihn,  dir 
einige  Früchte  aus  seinem  Lande  zu  geben."  Das  that  die  Tochter, 
und  so  wusste  der  Sultan,  aus  welchem  Lande  Jener  gekommen 
war.  „Wenn  er  wiederkömmt",  sagte  der  Sultan  abermals,  „so 
gib  ihm  zuei-st  einen  Schlaftrunk,  damit  wir  wissen,  wer  er  ist." 
Der  wahre  Grimd  war  jedoch  der,  dass  er  den  Verführer  fangen 
und  bestrafen  wollte.  Es  gelang  ihm  auch,  Virgil  ward  mit  der 
Prinzessin  ins  Gefänguiss  geworfen,  und  Beide  wurden  verurtheilt, 
lebendig  verbrannt  zu  werden.  Aber  am  Tage  der  Hinrichtung 
erweckte  Virgil  den  Schein,  als  ob  der  Fluss  aus  seinen  Ufern 
träte,  worauf  Alle  begannen,  in  ihrer  Todesangst  die  Bewegungen 
des  Schwimmens  zu  machen,  ünterdess  erhob  der  Zauberer  sich 
und  seine  Schöne  in  die  Lüfte  und  brachte  sie  nach  Rom.  Als 
es  sich  nun  darum  handelte,  ihr  einen  Mann  und  eine  reiche  Mit- 
gift zu  verschaffen,  gi-ündete  Virgil  für  sein  Weib  die  Stadt  Neapel, 
die  so  schön  war,  dass  der  Kaiser,  welcher  neidisch  geworden  war, 
sie  belagerte.  Aber  Virgil  zwang  ihn  durch  seine  Zauberkünste, 
sich  zurückzuziehen,  und  das  Fräulein  heirathete  nun  einen  adligen 
Spanier,  welcher  Virgil  bei  der  Vertheidiguug  der  Stadt  beige- 
standen hatte  ^).  In  Neapel  errichtete  er  eine  Schule  der  Schwarz- 
kunst, baute  für  die  Gewerbtreibeuden  eine  Brücke,  schuf  noch  eine 
Menge  anderer  schöner  Sachen  uud  blieb  in  der  Stadt  bis  zu  seinem 
Tode,  den  der  Verfasser  der  Faits  merveilleux  in  sehr  wunder- 
barer Weise  ausgeschmückt  hat.  Er  lässt  nämlich  den  Dichter 
das  Meer  befahren:  dort  erhebt  sich  ein  furchtbarer  Sturm,  und 
bei  diesem  verschwindet  Virgil  spurlos.  Noch  grandioser  ist  aber 
die  Todesart  desselben  nach  den  deutschen,  holländischen  und 
englischen  Versionen.  Da  Virgil  nämlich  merkte,  dass  er  schon 
ziemlich  alt  geworden  war,  so  versuchte  er  sich  durch  Zauberei 
wieder  zu  verjüngen.  Er  unterwies  also  seinen  treuen  Diener  genau 
über  das,  was  er  zu  thun  habe  und  Hess  sich  zunächst  von  diesem 
in  Stücke  zerschneiden  und  einsalzen.  Wii-klich  begann  auch  schon 
der  Körper  sich  zu  verjüngen,    als    plötzlich   der  Kaiser,    welchem 


1)  Roth  mciut,  dass  hiermit  auf  die  siianische  Hcrischaft  iu  Neapel 
angespielt  werde  und  das  Buch  nicht  vor  dem  Jahre  1435  geschrieben  sein 
könne,  a.  a.  0.  p.  283. 


312  Virgil  in  der  Volkssage. 

bange  geworden  war,  weil  er  Virgil  seit  mehreren  Tagen  nicht 
gesehen  hatte,  unglücklicher  Weise  hinzukam  und  die  Wirkung  des 
Zaubers,  ohne  es  zu  ahnen,  störte;  denn  mit  einem  Male  fing  es 
an  sich  in  der  Wanne,  worin  Virgils  Fleisch  lag,  zu  regen,  und 
ein  kleines  Kind,  das  daraus  hervorkam,  schrie  laut:  „Verflucht  sei 
die  Stunde,  in  der  du  kamst."  Darauf  verschwand  das  Kind  wieder, 
und  der  Dichter  blieb  todt.  Diese  Erzählung,  die  an  die  alte  Fabel 
von  Medea  und  Pelias  anklingt,  begegnet  tjfter  bei  mittelalterlichen 
Schriftstellern  'j  und  wird  merkwürdiger  Weise  auch  auf  Paracelsus, 
der  in   seinen  Werken  vom  Zauberer  Virgil  spricht,  bezogen. 

Das  Abenteuer  mit  der  Sultanstochter,  dessen  Grundcharakter 
von  den  übrigen  Sagen,  die  Virgil  mit  den  Frauen  m  Berührung 
bringen,  bedeutend  abweicht,  wird  wol  aus  anderen  volksthümlichen 
Erzähhmgeu  ^) ,  vielleicht  auch  aus  spanischen  Romanen  hinzugefügt 
sein.  An  diese  Version  der  Faiis  merveilleux  reiht  sich  endlich  auch 
die  „Romance  de  VirgUio"^),  die  wir  im  „Roraancero"  von  1550 
finden,  obgleich  an  den  Virgil  der  Sage  darin  kaum  mehr  als  das 
erotische  Element  erinnert^).  Die  Uebersetzung  lautet  in  Prosa 
etwa  folgendermassen  : 

„Es  befahl  der  König,  dass  Virgil  gefangen  genommen  und 
in  Sicherheit  gebracht  würde,  wegen  des  Verrathes,  den  er  im 
Palaste  beging,  als  er  der  jungen  Donna  Isabella  Gewalt  anthat. 
Sieben  Jahre  hielt  der  König  ihn  im  Gefänguiss,  ohne  seiner  zu 
gedenken,  bis  er  einmal  eines  Sonntags  bei  Tische^)  sich  desselben 
erinnerte  und  zu  fragen  anhub:  „Meine  Ritter,  und  Virgil,  was  ist 


1)  Vgl.  Graesse,  Die  Sage  d.  ew.  Juden  p.  44;  Simrock,  Handb. 
d.  deutsch.  Mythol.  (2te  Ausg.)  p.  260. 

2)  Einige  Elemente  der  Erklärung  finden  sich  auch  in  der  5ten  No- 
velle des  Iten  Buches  Pantschatantra  bei  Benfey,  I,  159  ff. 

3)  „Romaucero  castellano  pubi,  par  G.  B.  Depping"  II  Nr.  82p. 202  f. 
Vgl.  Ticknor,  History  of  spanish  literature  I,  114  ff. 

4)  Braga  (Historia  da  poesia  populär  portugueza,  Porto  1867 
p.  176  ff.)  findet  zwischen  der  spanischen  und  einer  portugiesischen  Ro; 
manze  von  Reginald  (Ameida  Garret,  Romanceiro  II,  163  ff.)  Be- 
ziehungen. Nach  der  letzteren  verführt  ein  Page  die  Tochter  des  Königs 
und  wird  zum  Tode  verurtheilt;  der  König  hört  aber,  wie  er  im  Thurme 
singt,  begnadigt  ihn  und  gibt  ihm  seine  Tochter  zur  Frau. 

5)  Hinard  (Romancero  espagnol,  II,  242)  übersetzt  „bei  der  Messe" 
und  wirklich  schrieben  Duran,  Ochoa  u.  A.  „en  misa";  aber  die  Lesart 
„en  mesa"  bei  Depping  ist  die  allein  richtige. 


Virgil  in  der  Volkssage.  313 

aus  dem  geworden?"  Da  antwortete  ein  Ritter,  der  dem  Virgil 
zugethan  war:  „Gefangen  hältst  du  ihn,  o  König,  im  Gefängnisse 
bewahrst  du  ihn."  „Lasst  uns  essen",  sprach  der  König,  „und 
sobald  wir  gegessen  haben,  wollen  wir  Virgil  besuchen."  Da  sprach 
die  Königin  :  „Ohne  Virgil  will  ich  nicht  essen."  Also  gehen  sie 
zum  Gefängniss,  wo  Virgil  verweilt.  „Was  macht  Ihr  hier  Vii-gilius, 
Virgilius  was  macht  Ihr?"  —  „Herr,  ich  kämme  meinen  Bart  und 
meine  Haare.  Hier  müssen  sie  wachsen  und  müssen  grau  werden, 
denn  heute  sind  es  sieben  Jahre,  dass  Ihr  mich  eingekerkert." 
„Sei  ruhig,  sei  ruhig  Virgilius.  An  zehn  fehlen  drei  nur  noch." 
„Herr,  wenn  du  befiehlst,  so  will  ich  hier  mein  Lebelang  bleiben." 

—  „Virgilius,  weil  du  geduldig  bist,  sollst  essen  du  mit  mir."  — 
„Nicht  darf  ich  zeigen  mich,  denn  zerrissen  sind  meine  Gewänder." 

—  „Ich  gebe  dir  neue,  Virgilius,  neue  heisse  ich  dir  machen." 
Das  gefiel  gar  wol  den  Rittern  und  den  Damen.  Mehr  noch  gefiel's 
der  Donna  Isabella;  sie  riefen  einen  Erzbischof,  und  gaben  sie 
Virgil  zum  Weibe.  Der  nimmt  sie  bei  der  Hand  und  führt  sie 
in  den  Garten." 

Hiermit  schliesst  die  lange  Reihe  der  mannigfachen  und  sonder- 
baren Erzählungen,  welche  die  Berühmtheit  des  grossen  Dichters 
zu  ihrem  Gegenstande  haben.  Nach  dem  sechzehnten  Jahrhundert 
hat  sich  nur  noch  bei  den  Gelehrten  eine  Kunde  von  der  Virgil- 
sage  erhalten.  Die  Zeit  der  Leichtgläubigkeit  war  vorüber,  und 
vor  dem  Lichte  der  Vernunft  und  Kritik,  wie  vor  der  empirischen 
Philosophie,  die  den  Weg  zur  Erforschung  der  Wahrheit  wies, 
verschwanden  jene  Sagen  und  Phantasieen.  Freilich  geschah  das 
nicht  plötzlich,  sondern  wir  begegnen  den  Spuren  der  Virgilsage 
auch  später  noch  in  einigen  gelehrten  Werken,  die  sich  mit  den 
verborgenen  Wissenschaften  abgeben.  Im  fünfzehnten  und  sech- 
zehnten Jahrhundert  gedenken  derselben  noch  gläubig  Trithemius, 
Paracelsus ,  Vigenère ,  Le  Loyer  u.  A.  in  ihren  Schriften  ^).  Im 
siebenzehnten  Jahx-hundert  war  es  gar  eine  brennende  Frage  ge- 
worden,   ob  Magie   und  Hexerei   wirklich  existirten^),    eine  Frage, 


1)  Bl.  de  Vigenère  spricht  in  seinem  ,,Traité  des  chiffres  et  secrètes 
manières  d'écrire"  von  einem  ,,Virgilischen  Alphabet",  Trithemius 
(Antipal.  I  c.  3)  von  den  Rechnungstafeln,  die  Virgil  anfertigte,  um  den 
Charakter  einer  Person  zu  bestimmen,  Paracelsus  (De  imaginibus 
cap.  XI)  schreibt  ihm  magische  Bilder  und  Figuren  zu,  Le  Loyer  (Des 
spectresi  cap.  VI)  sogar  ein  Echo. 

2)  Vgl.  Roskoff,  Gesch.  des  Teufels  (Leipz.  1869;  IT,  359  ff. 


314  Virgil  ili  der  Volkssagc. 

die  mis  heute  kiudisch  dünkt,  die  aber  voll  des  t'urchtbait^len 
Ernstes  war,  wenn  sie  zwischen  dem  Flammeugeprassel  der  Scheiter- 
haufen und  den  Schinerzenssclireien  der  Gefolterten  ertönte.  Wer 
aber  damals  die  Existenz  der  Zauberei  vertheidigte,  der  erwähnte 
auch  wol  zuweilen  den  Zauberer  Virgil  als  eine  historische  Persön- 
lichkeit. Solche  Leute  konnten  sich  natüi-lich  nicht  vorstellen,  dass 
der  Kanzler  Gervasius  von  Tilbury  auch  unwahre  Dinge  erzählt 
habe^).  Dem  verständigen  und  gelehrten  Gabriel  Naudé  gelang 
es  endlich  in  einem  lange  Zeit  berühmten  Buche  ^),  das  heute 
freilich  keinen  Eindruck  mehr  machen  würde,  diese  Fabeln  zu  zer- 
stören, und  schliesslich  vergass  man  über  der  geistigen  Entwickelung 
der  Menschlieit  ganz  des  Mittelalters,  das  sich  immer  mehr  im 
unklaren  Dümmer  der  Erinnerung  verlor.  Die  Virgilsage  ward 
nur  noch  dann  und  wann  von  den  Gelehrten  als  eine  Curiositüt 
erwähnt,  wie  man  ja  auch  in  Antiquitätensammlungen  oft  magische 
Spiegel  dem  Virgil  zuschrieb"^).  Als  dann  in  der  neuesten  Zeit 
die  Studien  über  das  Mittelalter  selbst  wieder  aufgenommen  wurden, 
wich  die  Vorstellung,  die  man  von  dem  grossen  lateinischen  Dichter 
hatte,  schon  so  von  der  mittelalterlichen  ab,  dass  man  sich  diese  gar 
nicht  mehr  zu  erklären  verstand,  ja  sogar  oft  ihre  Existenz  be- 
zweifelte, wie  denn  in  der  That  einige  Gelehrte  es  vorzogen,  lieber 


1)  ,,Gervasiuni  qnod  attinet baud  qnideni  cum  fabulosum  et 

vanum  auctorem  existimaverini  ;  fuit  cnim  Cancellarins  Aulae  Othonis 
imperialis,  cui  etiaiu  aliud  opus  (I)   Ocia  impciialia  iuscriptum  dedicavit 

Fatcudum  quidom  est  fabulosa  nounumquam  a  principi  bus  legi, 

sed  a  Cancellariis  non  proficiscuntur."  Jac.  Gaffarclli,  Curiositates 
inauditac  p.  160.  Auch  L'Ancre,  rincrédulité  et  mescreance  du  sortilège 
plainement  touvaincue  p.  280  f.  citiit  den  Virgil  als  Beispiel;  s.  Bodin, 
Daemonom.  lib.  II,  c.  2. 

2)  „Aiiologie  jiGur  toiis  Ics  grands  personnages  qui  out  esté  fausse- 
ment  soup<;ouné8  de  magie."  Due,  ganze  21te  Capitel  handelt  über  Virgil. 
Von  Gervasius  und  seinem  Buche  hei^st  es:  „  .  .  .  qui  est  à  la  veritu  si 
rempli  de  choses  absurdes  fabulcuses  et  du  tout  impossibles,  que  diffi- 
cileuient  me  pourrois  je  persuader  qu'il  fust  en  son  bon  sens  quand  il  le 
composoit"  p.  611. 

3)  Ein  solcher  Sjiiegel  befand  sich  nach  Naudé,  a.  a.  U.  p.  G27 
zu  Florenz,  ein  anderer  unter  dem  Schatze  von  St.  Denis  in  Paris,  wie 
es  in  dem  Inventar  des  vorigen  Jahrhunderts  heisst:  ,,Le  miroir  du 
prince  des  poetes  Virgile,  qui  est  de  jaiet."  Fougcroux  de  Boudaroy 
hielt  1787  über  denselben  in  der  Akademie  der  Wissenschaften  einen  Vor- 
trag; der  Spiegel  zerbrach  aber,  als  ihn  Mabillon  untersuchen  wollte. 
S.  Du  Méril,  Mei.  p.  447. 


Virgil  iu  der  Volkssage.  315 

an  den  Bischof  Virgil  von  Salzburg  oder  au  einen  beliebigen  Mann  aus 
dem  Mittelalter  ]S^amens  Virgil,  al«  an  den  Dichter  Virgil  ui  denkenM. 


Die  Virgilsage,  Avie  sie  sich  das  Mittelalter  hindurch  besonders  im 
Munde  des  Volkes  bewahrt  hatte,  erhielt  sich  in  dieser  Form  nur 
noch  in  Neapel  und  Süditalien,  wo  sie  entstanden  war^).  Der 
Padre  Giordano,  Abt  des  Klosters  Monte  Vergine,  nahm  sie  noch 
im  siebzehnten  Jahi'hundert  für  baare  Münze  iind  benutzte  sie  in 
seiner  gelehrten  Biographie  des  Dichters  als  historische  Notiz,  wie 
er  deren  freilich  auch  viele  selbst  erfunden  hat^).     Ein  Reisender, 


1)  Vgl.  Cullili  de  Plancy,  Le  Grand  d'Aussy  und  ,,Mélauges 
tirés  d'une  grande  biblioth."  V,  p.  182. 

2)  Was  die  slawische  Volksliteratur  anlangt,  so  theilt  mir  Prof. 
S Chief ner  eine  Notiz  über  ein  von  ihm  in  den  Esthnisc^en  Märchen 
(aufgez.  V.  Kreutzwald,  übers,  v.  Löwe)  angedeutetes  polnisches  Kinder- 
spiel mit,  iu  welchem  der  Name  Virgils  vorkömmt:  Virgil  steht  in  der 
Mitte  und  seiue  Genossen  umkreisen  ihn  singend: 

„Ojeice  Wirgiliusz  uczyl  dzieci  swoje 

Hejze^  dzieci,  hejze  ha! 

Róbcie  wszystko,  co  i  ja!'' 
(,,Vater  Virgil  lehrte  seine  Knaben:  Aufmerksam  Knaben,  aufmerksam! 
Thut  alles  das,  was  ich  thue"),  darauf  halten  die  Knaben  still  und  ahmen 
alles  nach,  was  Virgil  thut;  wer's  nicht  recht  macht,  muss  dann  selber 
Virgil  sein."  Man  könnte  daran  zweifeln,  ob  es  sich  hier  um  den  Zau- 
berer Virgil  handelt;  allein  Schiefner  erinnert  mit  Recht  an  ein  englisches 
ganz  ähnliches  Kinderspiel,  iu  welchem  der  Name  Simon  an  die  Stelle 
Virgils  getreten  ist,  und  hier  wol  nur  au  den  Zauberer  Simon  zu  denken  ist. 

3)  „Croniche  di  Montevergine"  j).  66—95.  Nach  Giordano  hatte 
Virgil  die  fixe  Idee,  die  sibyllinischen  Bücher  zu  verstehen,  in  denen  sich 
die  Weissagung  auf  Christus  fand.  Aus  diesen  entlehnte  er  die  betreffenden 
Verse  der  iten  Ecloge,  ohne  sie  zu  verstehen.  Bei  dem  Studium  der- 
selben strengte  er  sich  so  an,  dass  er  krank  ward;  er  bat  deshalb  den 
Octavian^  seiner  Gesundheit  wegen  nach  Neapel  gehen  zu  können,  und 
dieser  ernannte  ihn  zum  Consul  der  Stadt.  Zur  Erholung  von  seinem 
mühevollen  Amte  ging  er  dann  auf  einige  Tage  nach  Avella,  wo  er  von 
dem  berühmten  Cybeleheiligthume  auf  dem  später  Monte  Vergine  ge- 
nannten Berge  hörte.  Als  er  hier  mehrmals  über  die  Bedeutung  des 
sibyllinischen  Orakels  anfragte,  ward  ihm  die  Antwort:  „Satis  est,  dis- 
cedite",  und  als  er  sich  dabei  nicht  beruhigte,  „satis  est:  nondum  tem- 
pus."  In  der  Meinung,  man  werde  ihm  die  Antwort  später  geben,  baute 
er  sich  eine  Villa  auf  dem  Berge  und  schuf  hier  den  Wundergarten. 
Aber  die  Antwort  kam  nicht,  und  so  ward  er  immer  schwennüthiger. 
Endlich  gab  er  das  Studium  der  sibyllinischen  Bücher  ganz  auf,  machte 
sich  an  die  Aeneis  und  unternahm  jene  für  ihn  so  verhängnissvolle  Reise 
nach  Griechenland  und  Asien.  —  Jeder  bemerkt,  dass  in  dieser  Erzählung 


316  Virgil  in  der  Volkssage. 

welcher  bei  Neapel  die  „Scuola  di  Virgilio"  besuchte'),  bestätigte 
indess  noch  im  Anfang  dieses  Jahrhunderts  das  Vorhandensein  der 
Volkssage.  Ein  alter  Fischer  nämlich,  den  er  zufällig  dort  antraf, 
erzählte  ihm,  wie  folgt: 

„An  einem  schönen  Abend  bestieg  ich  im  Hafen  von  Neapel 
eine  kleine  Barke,  ohne  gerade  bestimmt  zu  wissen,  wohin  ich 
wollte.  Zween  Ruderer  leiteten  sie,  wir  waren  ausser  dem  Hafen, 
ehe  ich  mich  noch  entschlossen  hatte. 

Rudert  nach  der  Schule  des  Virgils,  antwortete  ich  endlich 
auf  ihre  Fragen.  Es  war  ihnen  selbst  lieb.  Munter  plätscherten 
die  Ruder,  die  Gebirge,  welche  den  Golf  umschliessen ,  lagen  im 
Rosenflor  des  Abends  da,  unzählige  Barken  flogen  zum  Fischfang 
hinaus,  mehrere  Segel  an  des  Horizontes  Linie  waren  sichtbar,  alle 
bepurpurt  von  der  untergehenden  Sonne. 

Die  grosse,  lärmvolle  Stadt  schwebte  neben  mir  hin,  meine 
Barke  schien  stille  zu  stehen.  Es  gibt  Augenblicke,  wo  auch  die 
gewöhnlichsten  Erscheinungen  ungewöhnliche  Empfindungen  und 
Gedanken  wecken. 

Wir  kamen  an  bei  der  Schule  des  Virgils.  Es  war  eine 
etwas  grössere  Grotte,  in  welcher  man  der  Menschen  Hände  erkannte. 
Die  sich  weiser  denken,  nennen  sie  einen  Tempel  der  Venus,  und 
gerne  mag  man  glauben,  dass  die  Göttin  der  Schönheit  bei  ihrem 
ersten  Tritt  ans  Land  den  Fuss ,  unter  welchem  Rosen,  und  damals 
noch   Lilien,  aufsprossten,  in  ihren  Tempel  setzte. 

Virgils  Schule  nennt  sie  der  gemeine  Mann.  Wir  fanden 
einen  alten  Fischer  darin  sitzen,  der  gerade  an  einem  Netze  knüpfte. 

Er  grüsste  mich  freundlich  und  arbeitete  fort.  Ich  ging  um- 
her und  sah  still  hinaus  auf  die  See.  Sie  müssen  sich  von  diesem 
Alten  erzählen  lassen,  sagte  mir  der  jüngere  von  meinen  Ruderern 
ins  Ohr,  er  ist  reich  an  wunderbaren  Geschichten. 

Ihr  seid  wol  oft  hier,  Alter,  fing  ich  an.  Oft  und  gerne, 
erwiederte  er  mii\  Mein  Vater  hat  da  immer  seine  Netze  geknüpft, 
sein  Vater  hat  es  ihn  hier  gelehrt,  und  dieser  wuvde  auch  da  von 
seinem  Ahn  unterrichtet.     Hier  nebenan  ist  unsere  Grotte,  wo  wir 


geschichtliche,  sagenhafte  und  phantastische  Elemente  bunt  durcheinander 
gemischt  sind. 

1)  8.  S.  295. 

2)  Vgl.  V.  d.   Hagen,    Briefe  in   die  Heimath  HI,    180.     Dunlop- 
Liebrecht,  187;  Roth  a.  a.  0.  280. 

3)  „Italienische  Miscellen"  (Tübingen,  Cotta,  1803)  IH,  150  S.    Vgl. 
Dobeneck,  Desdeutschen  Mittelalters  Volksglauben  undHexensagenl,  195. 


Virgil  in  der  Volkssage.  317 

die  Fische  aufbewahrea,  die  wir  nicht  verkaufen  künneu,  und  das 
kleine  Häuschen  da  unten,  beim  Palast  der  Königin  Johanna,  ist 
meine  Wohnung.  Wer  weiss,  ob  Virgil  nicht  selbst  hier  zuweilen 
mit  dem  Prinzen  Marcellus  Netze  geknüpft  hat?  Er  püegte  gerne 
zu  fischen,  und  verstand  es,  Netze  zu  verfertigen,  welche  nie  einen 
Fehlzug  thaten. 

Wenn  wir  doch  auch  solche  Netze  hätten,  sagte  einer  der 
Jüngern  leise. 

Ihr  müsst  wol  mancherlei  von  Virgil  wissen,  frug  ich  ihn. 

Wenigstens  pfleg'  ich  viel  davon  zu  erzählen,  antwortete  er 
Man  hört  mir  gerne  zu.  Ich  bin  ein  alter  Mann,  Sie  sind  weit 
her  gereist,  haben  viel  gesehen,  aber  Sie  können  vielleicht  doch 
Manches  von  mir  lernen. 

Das  Alter  ist  immer  lehrreich,  die  Jugend  lehrbedürftig,  er- 
wiederte  ich.  Ich  habe  die  Bücher  gelesen,  die  Virgil  geschrieben 
hat,  ich  habe  ihn  darum  sehr  lieb  gewonnen,  ich  gehe  oft  nach 
seinem  Grabe,  um  mich  da  seiner  recht  lebhaft  zu  erinnern. 

Setzen  Sie  sich  dort  auf  jenes  Mäuerchen,  fuhr  er  fort.  Da 
pflegte  Virgil  gerne  zu  sitzen.  Da  hat  man  ihn  oft  mit  dem  Buche 
in  der  Hand  liegen  gesehn.  Er  war  ein  schöner,  blühender  Mann. 
Die  Jugend  hatte  er  sich  erhalten  durch  Zauberkünste.  Diese 
Mauern  alle  waren  mit  Kreisen  und  Linien  bemalt.  Hier  stand 
er  dann  mit  dem  Priazen  Marcellus  und  lehrte  ihn  die  Geheim- 
nisse der  Geisterwelt.  Oft,  beim  schrecklichsten  Sturme,  wenn  sich 
kein  Fischer  hinauswagte,  kam  er  auf  einem  Boote  angefahren. 
Kein  Rudei;;gr  fürchtete  sich,  sobald  er  im  Kahn  war,  und  wenn 
es  am  schrecklichsten  draussen  tobte,  war  er  am  liebsten  hier. 
Oftmals  sass  er  oben  auf  dem  Berge  und  sah  hinaus  in  den  Golf. 
Mancherlei  hat  er  da  geschrieben.  Wol  mögen  es  Prophezeiungen 
gewesen  sein;  denn  es  war  kein  Sturm,  den  er  nicht  verkündigte. 
Da  besuchte  er  dann  die  Gärtner  und  Feldarbeiter  der  Gegend, 
gab  ihnen  manchen  nützlichen  Rath,  und  belehrte  sie,  unter  welchem 
Zeichen  das  Samenkorn  am  besten  gedeiht.  Oft  wendete  er  auch 
Sturm  und  Gewitter,  wenn  es  eben  herabsteigen  wollte  vom  Vesuv, 
durch  einen  kräftigen  Spruch  ab,  und  ganze  Nächte  sah  man  ihn 
hinschauen  nach  dem  Berg,  wenn  es  eben  um  seinen  Scheitel 
blitzte,  wahrscheinlich  im  stillen  Gespräche  mit  den  Geistern  des- 
selben. Lange  war  man  mit  dem  Gedanken  umgegangen,  eine 
Strasse  von  Neapel  über  den  Posilipo  zu  führen.  Da  half  er  plötz- 
ich.  In  einer  Nacht  war  der  Weg  durch  die  Felsengi'otte  von 
seinen  Geistern  vollendet. 


318  Virgil  in  der  Volkssage. 

Man  kann  denken,  wie  mich  diese  Erzählung  des  Alten  in 
Verwunderung  setzte.  Aber  lachen  konnte  ich  nicht  über  den 
frommen  Unglauben,  der  den  höheren  Verstand  und  das  mächtigere 
Wissen  nur  durch  Wunder  begreiflich  finden  kann. 

So  half  er  ein  anderes  Mal,  fuhr  der  Alte  fort,  den  Neapoli- 
tanern auf  eine  verwundemswürdige  Weise.  Die  Mücken  hatten 
sich  so  stark  vermehrt  in  der  Gegend,  als  in  Egypten  zu  Mosis 
Zeiten.  Da  verfertigte  er  eine  grosse  goldene  Fliege,  welche  sich 
auf  seinen  Befehl  in  die  Luft  erhob,  und  alle  die  beschwerlichen 
Gäste  verjagte.  So  waren  einmal  alle  Quellen  und  Brunnen  im 
ganzen  Königreich  durch  zahllose  Blutigel,  da  darin  entstanden, 
gefährlich  geworden.  Durch  einen  grossen  Blutigel,  den  er  aus  Gold 
bildete,  und  in  einen  Brunnen  warf,  half  er  auch  diesem  Uebel  ab. 
Der  Alte  hätte  noch  lange  fortgefahren  ;  aber  es  wurde  ganz 
dunkel  in  der  Grotte.  Ich  dankte  ihm  für  seine  Erzählung  und 
fuhr  zurück." 

Heutzutage    sind    die    Virgilsagen    in   Neapel    im    Aussterben 
begriflFen.     Doch  beschrieb  mir  noch  ein  Mann   aus   dem  Volke  in 
der   Nähe    der  Grotte    von  Pozzuoli   das   Haus,   welches   Virgil   an 
jenem  Berge  besass,  und  durch  welches  die  Grotte  hindurch  ging. 
Ein  Anderer  meinte,  dass  die  eine  Spalte  in  der  Grotte  das  Fenster 
gewesen  sei,  durch  welches  Virgil  mit  seiner  Schönen  zu  sprechen 
pflegte;    imd    das   folgende   anmuthige    Liebeslied    wurde   noch   vor 
Kurzem  von  einer  Bäuerin  eines  kleineu  Dorfes  bei  Lecce  gesungen^): 
Wenn  ich  Virgil  der  Zaub'rer  war', 
Ich  führt'  an  deine  Thür  das  Meer, 
Ich  wüi-de  dann  ein  Fischlein  klein 
Und  schlüpfte  in  dein  Netz  hinein; 
Ein  Hänfling  würd'  ich,  der  mit  Lust 
Sein  Nest  sich  baut  auf  deiner  Brust, 
Und  der  in  heisser  Mittagsgluth 
Im  Schatten  deines  Haares  ruht^). 


1)  Nach  Mittheilung  des  Prof.  Morosi. 

2)  „Diu!  ci  tanissi  Tarte  da  Vargiliu! 
'Nnanti  le  porte  to'  'nducla  lu  mare 
Ca  da  li  pisci  me  facìa  pupillu 
"Mmienzu  le  riti  to'  enìa  'ncappare; 
Ca  di  l'acelli  me  facìa  cardillu, 
'Mmienzu  lu  piettu  to'  lu  nitu  a  fare; 
E  suttu  l'umbra  de  li  to'  capilli 
Enìa  de  menzugiurnu  a  rrepusare." 


BIBLIOTHECA  GRAECA 

VIRORUIVI  DOCTORÜM  OPERA 

RECOGNITA  ET  CO:\IMENTARIIS  INSTRUCTA 

CURANTIBUS 

FR.  JACOBS  ET  VAL  CHR.  FR.  ROST. 

LIPSIAE  IN  AEDIBUS  B.  G.  TEUBNERI. 

Bedeutend  ermässigte  Preise. 

Erschienen  sind  bis  jetzt:  Mk.  Pf. 

Aescliinis  in  Ctesiphontem  oratio  recensuit  explicavit  A.  Weidner  .  3.60 
Aeschyli  Choephorae,  illustr.  E.  H.  Klausen.     8.  mai.     1835  ....     2.25 

Agamemno,  iWustr. E.H. Klausen.  Ed. II.  ed.E.Enger.  8. mai.  18r.3     3.75 

Anacveontis    carmina,    Sapphus    et   Erinnae   fragmenta,   annotatt. 

illustr.  E.  A.  Moebius.    8.  mai.     1826 —  60 

AristophaiiisNubes.  Ed.  illustr.  praef.  est  W.S.  Teuffei.  Ed.  II.  8.  mai.  1863  1.20 
Delectus  oj)ig:rammatum  Graecorum,  novo  ordine  conc.  et  comment. 

instr.  Fr.  Jacobs.    8.  mai.     1826 1.80 

Demosthenis   conciones,  ree.   et  explic.    R.  Sauppe.    Sect.  I.    (cont. 

Philipp.  I.  et  Olynthiacae  I— III.)    Ed.  II.    8.  mai.    1845    ....     1.— 

Enripidistragoediae,  ed.  Pflugk  et  Klotz.   Vol.  I,  II  et  III.  Sect.  I— III.  U.70 

Einzeln: 

Vol.    I.  Sect.  1.    Medea.    Ed.  Ili 1.50 

„      I.     „      2.    Hecuba.  Ed.    II 1.20 

„       I.     „       .3.    Andromaclia.  Ed.  II 1.20 

.,      I.     ,       4.     Heraclidae.  Ed.  II 1.20 

„    II.     „       1.    Helena.    Ed.  II 1.20 

„     II.      „      2.     Alcestis.  Ed.  II .     1.20 

„     IL     „       3.     Hercules  furens 1.80 

„     II.      „      4.     Phoenissae 1.80 

„  III.      „       1.     Orestes 1.20 

„  III.      ,,      2.     Iphigenia  Taurica 1.20 

,,  III.      „       3.     Iphigenia  quae  est  Anlide 1.20 

Hesiodi  carmina,  recens.  et  illustra  C.  Goettling.  Ed.  II.  8.  mai.  184,i   .  3  — 

Einzeln  : 

Theogouia —  75 

Scutum  Herculis —  50 

Opera  et  dies       ; 1. — 

Homeri  certamen,  fragmenta  et  vita  Hesiodi 1.50 

Honieri  Ilias,  varietat.  lect.  adi. /Spitówer.  Sect.  I— IV.  8.  mai.  18:}2— 36  4.50 

Einzeln: 

Sect.      I.  lib.     1—6        —.90 

Sect     II.  lib.     7—12 —.90 

Sect.  III,  lib.  13-18      1.35 

Sect.  IV.  üb.  19—24       1.35 

Die  einzige  Ausgabe  der  Ilias,  welche  den    kritischen     Apparat     toU- 
ständig  enthält. 

Lygiae  et  Aescliinis  orationes  selectae,  ed.  I.  H.  Bremi.  8.  mai.  1826  1.50 

Lysiae  orationes  selectae,  ed.  /.  H.  Bremi.     8.  mai.    1826 —.90 

Piiidari  carmina  cum  deperditarum  fragm.,  variet.  lect.  adi.  et  com- 
ment. illustr.   L.   Bissen.  'Eid.lV.  c\xr.  Schneidewin.  Vol.  I.  1843  ,  3.90 

Vol.  II.    Sect.  I.  II.  (Comment.  in  Olymp,  et  Pyth.)  1846.  47. 

(à  1  Mk.  50  Pf.) 3.— 

riatouis  opera   omnia,   recensuit,  prolegomenis  et  commentariis  in- 
struxit    G.  Stallbaum.   X  voll.    (21  Sectiones).    8.  mai.    1836  —  61. 

compi,  (excl.  Voll.  II.  VI.  2  et  VII) 60  - 

Einzeln: 

Vol.  I.  Sect.  1.     Apologia  Socrati  et  Crito.     Ed.  IV.     1858  .    .  2.40 

„      1.      „      2.     Phaedo.   Ed.  V.    cur.    Wohlrab.    1875  ...    .  2.70 

„      I.      ,,      3.     Symposium  c.  ind.    Ed.  III.    1852 2.20 

*       „    n.      „      1.     Gorgias.     Ed.  III.     1861 2.40 

„     U.      ,,      2.     Protagoras  c.  ind.  Ed.  [II.  ed.  Kroschel.  1865  1.80 
„  Hl.                    Politia  si  ve  de  republica  libri  decem.    2  voll. 

Ed.  H. 7.50 


Piatonis  opera  omni   aed.  Cf.  Stallbaum.  Mk.  pf. 

Einzeln: 

Vol.     III.  Sect.  1.     Politia  lib.  1-V.     1858      4=. 20 

„        III.      „       2.     üb.VI— X.     1859 3.30 

IV.      „       1.     Phaedrus.     Ed.  II.     1857 2.40 

,,       IV.      „      2.     Menexenus,    Lysis,    Hippias    uterque,    Io. 

Ed.  IL     1857 2.70 

„         V.      ,,       1.     Laches,  Charmides,  Alcibiades  I.  IL  Ed.  IL 

1857 2.70 

„         V.      „      2,     Cratylus  cum.  ind.     1835 2.70 

VI.      „       1.     Euthydemiis.     1836 2.10 

,,      VI.      „       2.     Meno  et  Eiithyphroiteraque  incerti  scripto  riß 

Theage8,Erastae,Hipparciuis.  1836.  [Vergr.J  4.20 

,,      VII.      „       1.     Timaeus  et  Critias.     1838 5.40 

„   VIII.     „       1.     Theaetetus.     Ed.   IL    ree.    Wohlrah.     1869  3  — 

„    VIII.      „       2.     Sophista.     1840 2.70 

„       IX.     „       1.     Tolitieus   et  incerti  auctoris   Minos.     1841  2.70 

„       IX.     „      2.     Philebus.     1842 2.70 

„        X.      „       1.     Leges.    Vol.    I.     lib.      I  — IV.     1858    ...  3.60 

X.      „      2.     lib.  V-VIII.     1859 3.60 

„        X.      „      3.     lib.IX  — Xll.  et  Epinomia.     1860 3.60 

Sophoclis  tragoediae,  ree.  et  explan.   E.  Wtmderus.    2  voll.    8.  mai. 

1847  —  1857 9  — 

Kinzeln: 

Vol.  I.  Sect.  1.    Philoctetes.     Ed.  IV  ed.   WecJclein 1.50 

,,     I.      „       2.     Oedipus  tyrauuus.     Ed.  IV 1.20 

„     I.      „      3.    Oedipus  Coloneus.    Ed.  III 1.80 

,     I.      „      4.     Antigona.     Ed.  IV 1.20 

'    IL      „       1.     Electra.     Ed.  III 1,20 

„  IL      „       2.     Aiax.     Ed.  Ili 1.20 

,     IL     „      3.     Trachiniae.    Ed.  H 1.20 

Tlmcydidis  de  bello  Peloponnesiaco  libri  Vili,  explan.  E.  F.  Poppo. 

4   voll.     8.  mai.     1843  —  1866 12  — 

Einzeln: 

Vol.    I.  Sect.  1.    Lib.       I.    Ed.  U 3  - 

„       I.      „      2.     Lib.      IL    Ed.  II 2.25 

„     IL     „      1.    Lib.     IIL    Ed.  11  ed.  J.  M.  Stahl 2.40 

„     IL     „      2.     Lib.     IV.    Ed.  II  ed.  J.  M.  Stahl 2.70 

„   III.     „       1.    Lib.      V 1.50 

,,   IIL      „       2.     Lib.     VI 1.80 

„   IV.      „       1.     Lib.  VII 1.50 

„    IV.      „      2.    Lib.  VIU 1.50 

XenophoutÌ8Cyropaedia,comment.instr.i'^.^..Bor«ewan«.  8.  mai.  1838  1.50 

Memorabilia  (Commentarii),  illustr.  R.  Kühner.   8.  mai.   1858. 

Ed.  II 2.70 

-_ Anabasis  (expeditio  Cyri  min.),  illustr.  B.  Kühner.     1852.    .    .  3.60 

Einzeln  à  1  Mk.  80  Pf. 

Sect.   I.    lib.     I-IV. 
Sect.  IL    lib.V— VIII. 

üeconomicus,  ree.  et  explan.  L.  Breitenbach.     8.  mai.     1841   .  1.50 

Agesilaus  ex  ead.  recens.     8.  mai.     1843 1.20 

Hiero  ex  ead.  ree.     8.  mai.     1844 —  75 

Hellenica,  Sect.  1.  (lib.  I.  IL),  ex  ead.  ree.    8.  mai.     1853.    .    .  1.20 

Sect.  11.   (lib.  Ili— VII.),   ex  ead.  ree.     8.  mai.     1863  .  4.80 


.  Teubner  In  Lelpilg. 


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