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VIRGIL IM MITTELALTER.
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VIRGIL IM MITTELALTER
VON
DOMENICO^COMPARETTI.
AUS DEM ITALIENISCHEN ÜBERSETZT
vox
HANS DÜTSCHKE,
DR. PHIL.
LEIPZia,
DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER.
1875.
>3|
Vorrede des Uebersetzers.
Eine Geschichte Virgils im Mittelalter erscheint auf den ersten
Anblick als eine literargeschichtliche Specialität, die mehr oder
weniger nur für Fachgelehrte bestimmt ist. Wird sie jedoch von
einem so umfassenden Gesichtskreise ans dargestellt, wie in dem
vorliegenden Buche Dom, Comparetti's, so darf sie wol auf ein
allgemeineres Interesse rechnen. In der That hat es der Verfasser
verstanden, den scheinbar so entlegenen Stoff zu einem Culturbilde
von Bedeutung auszudehnen, dessen Betrachtung in den religiösen
Kämpfen der Gegenwart für uns Deutsche ebenso anziehend als
nützlich sein dürfte. Und hierin liegt zugleich ein anderer Grund,
welcher mir eine Uebertragung des italienischen Werkes ins Deutsche
als lohnend erscheinen liess. Es ist ja eine nicht mehr zu be-
schönigende Thatsache, dass in dem grossen Culturkampfe gegen
den römischen Geist der Finsterniss und Unfreiheit Deutschland
fast allein die Ehre gebührt, den Streit mit jugendlichem Muthe
und männlicher Umsicht auszufechten, ohne dabei von seinen politi-
schen Freunden imterstützt zu werden. Um so wolthuender muss
es deshalb wirken, wenn wir einen Italiener einmal frei und rück-
haltslos sich äussern hören über die traurigen Zustände, mit denen
die Herrschaft des Papstthums und des mittelalterlichen Clerus die
Menschheit beschenkt haben. Erbarmungsloser als in Comparetti's
Buch ist das Mittelalter wol freilich nie verdammt worden, und es
steht dahin, ob das rechte Maass dabei stets eingehalten ist. Was
ferner die allgemeinen Urtheile des Verfassers über das Christenthum
betrifft, so hoffe ich, dass die Mehrzahl der deutschen Leser die-
selben ebensowenig unterschreiben werden, wie dies jedem Ueber-
setzer zu thun in den Sinn kömmt. In Italien freilich, wo die
jv Vorrede des Uebersetzers.
grosse Masse des Volkes entweder dem Aberglauben oder dem noch
bequemeren Skepticismus unterliegt, und wo ein Bindeglied zwischen
Vernunft und Empfindung, etwa in der Weise des deutschen Pro-
testantismus, undenkbar wäre, werden derartige Ansichten kaum
auffallen, für deren richtige Beurtheilung sich der Leser also auf
einen speciell italienischen Standpunkt zu stellen hat.
Von Missverständnissen des Originals ist, wie ich hofie, meine
üebertragung frei; wenigstens ist bei einigerraaassen schwierigen
Stellen die besondere Erklärung des Verfassers zu Rathe gezogen
worden. Was endlich die Form des Buches anlangt, so habe ich
mich natürlich aller der Freiheiten bedient, welche mir bei einer
deutschen üebertragung zum Zwecke der Verständlichkeit des Wer-.
kes geboten schien, so dass dasselbe an einigen Stellen den
Charakter einer freien Bearbeitung angenommen hat. Eine wört-
liche Verdeutschung wäre bei der stark rhetorischen Färbung und
der füi* uns Deutsche etwas zu künstlichen Ausdrucksweise des
Originals gar keine Verdeutschung gewesen!
Florenz, April 1875.
Hans Dütschke.
Vorrede des Verfassers.
In dem vorliegenden Buche gedenke ich die ganze Geschichte
des Ruhmes, den Virgil die Jahrhunderte des Mittelalters hindurch
genoss, zu behandeln, seine verschiedenen Entwickelungsstufen dar-
zulegen und Natur und Ursachen derselben, so wie die Beziehungen,
welche sie mit der europäischen Culturgeschichte verknüpfen, zu
untersuchen. Ich unternehme also Etwas, das noch kein Anderer
unternommen hat, wenngleich der Virgil des Mittelalters schon
Gegenstand einiger Monographieen gewesen ist. Die kleinen Schriften
von Siebenhaar (l) und Schwubbe (2) bieten nur einige und auch
nur allgemein bekannte Bemerkungen dar. Mit grösserer Gelehr-
samkeit und auf einem höheren Standpunkte stehend haben Piper (3)
und Creizenach (4) die eine Seite dieses Ruhmss besprochen.
Michel (5), Genthe (6) und Milberg (7) wollten zwar den Stoff in
seiner Gesammtheit darstellen, aber widmeten demselben doch ver-
hältnissmässig sehr kurze Arbeiten und beschränkten sich darauf, ihn
(1) De fabulis quae media aetate de Public Virgilio Marone circum-
ferebantur. Berlin, 1837. 8 Seiten.
(2) P. Virgilius per mediam aetatem gratia atque auctoritate floren-
tissimus. Paderborn, 1852. 18 Seiten.
(3) Virgilius als Theolog und Prophet des Heidenthums in der
Kirche im „Evangel. Kalender." Berlin, 1862. p. 17—82.
(4) „Die Aeneis, die vierte Ecloge und die Pharsalia im Mittelalter."
Frankfurt a. M., 1864. 37 Seiten.
(5) „Quae vices quaeque mutationes et Virgilium ipsum et ejus car-
mina per mediam aetatem exceperint." Lut. Par. 1846. 75 Seiten.
(6) „Leben und Fortlebeti des Publius Virgilius Maro als Dichter
und Zauberer." Leipzig, 1857. 40 Seiten.
(7) „Memorabilia Vergiliana." Misenae, 1857. 3* Seiten. — „Mira-
bilia Vergiliana." Misenae 1867. 40 Seiten.
yj Vorrede dee Verfaseers.
nur beiläufig und obenhin in anekdotischer Weise und ohne irgend
welche wissenschaftliche Tiefe zu behandeln. Das, was bei dem
Ruhme Virgils während des Mittelalters besonders hervorstach und
allgemein auffiel, was femer durch seine Berühmtheit und Eigen-
thüralichkeit am meisten anzog, war die Sage vom Zauberer Virgil,
welche von vielen Schriftstellern erwähnt ward, die vom sieb-
zehnten Jahrhundert an in Schriften und Sammelwerken aller Art
dieselbe, wie es der Zufall mit sich brachte, berichteten und als
eine Merkwürdigkeit betrachteten, ohne sich auf eine genauere For-
schung einzulassen (l). Der Erste, welcher ihre planmässige Unter-
suchung in einem freilich mehr durch seine Reichhaltigkeit und
Neuheit der Bemerkungen, als durch Methode und Urtheil aus-
gezeichneten Werke unternahm, war Du Méril (2). Die eigentlich
richtige, historische Forschung hat auf jene Sage zuerst Roth (3)
angewandt, dessen Arbeit ohne Zweifel unter allen, welche bis
jetzt über diesen Gegenstand erschienen sind, die beste und wich-
tigste ist.
Aber der Zauberer Virgil bildet nur eine Seite und Stufe in
der Geschichte von dem Ruhme Virgils, die nicht zu verstehen ist,
wenn man sie gesondert von den anderen betrachtet. Jene Vor-
stellung entspringt zwar im Volke, aber verbreitet sich doch in
der Literatur und unter den Gelehrten, was nicht möglich gewesen
wäre, wenn sie hier nicht gleichartige Bestandtheile vorgefunden
hätte. Hieraus ergibt sich die Trennung meiner Arbeit in zwei
Theile; und zwar vperden im ersten die Umwandlungen, welchen
der Ruhm Virgils in dem Kreise der überlieferten, gelehrten Lite-
ratur unterlag und zwar innerhalb des vor der Renaissance liegen-
den Zeitraumes, der für die Italiener in dem Virgil Dante's seinen
glänzenden Abschluss findet, untersucht werden, während im zweiten
erforscht und gezeigt wird, wie sich jener Ruhm gestaltete, als die
Volkssage in den neuen, aus der Entwicklung der von der über-
(1) Unter ihnen zeichnen sich durch die Reichhaltigkeit von Be-
merkungen aus: Hagen, Gesammtabenteuer, III. CXXIX — CXLVII und
Massmann, Kaiserchronik III, 421—460. "
(2) „De Virgile Tenchanteur" in seinen „Melanges archeologiques et
litteraires." Paris, 1850. p. 424—478.
(3) „Ueber den Zauberer Virgilius" in Pfeiffers Germania IV, 257 — 298.
Vorrede des Verfassers. VII
lieferten Kunstweise unabhängigen Volksliteraturen hervorgehenden
Gedankenkreis eindrangen. Für den ersten Theil, welcher der
wesentlichste und schwierigste ist, habe ich den Boden fast ganz
unvorbereitet gefunden. Nur hier und da und in geringem Maasse
konnte mir eine Arbeit Zapperts (l) von Nutzen sein, in Avelcher
der Verfasser zum grössten Theil mit einer Fülle von Beispielen
eine Thatsache erläutern wollte, welche ich auf eine ganz andere
Art betrachtet und dargestellt habe (2). Empfindlich war für
mich besonders eine Lücke der Wissenschaft, welche sich in dem
Mangel einer vollständigen und gründlichen Geschichte der klassi-
schen Studien im Mittelalter zeigt. Bei der Zunahme unserer
Kenntnisse hat das Werk von Heeren heute nur noch eine imter-
geordnete Bedeutung; auf keinen Fall genügt dasselbe, wenn man
sich die Vorstellung, welche das Mittelalter vom Alterthume und
den grossen alten Schriftstellern hatte, klar machen will. Die Er-
klärer des Dante, welche, was den Virgil der Divina Commedia
betrifft, Gelegenheit gehabt hätten, den Euhm des Dichters in der
mittelalterlichen Literatur zu untersuchen, begnügten sich gar zu
sehr mit allgemxcinen Bemerkungen, so dass ich zu der aus mehreren
Gründen wichtigen Untersuchung der Eigenthümlichkeit des Dante-
schen Virgils auf einem zwar vor mir noch nicht betretenen, doch
wie ich vermuthe, richtigen Wege vordringen musste. Indem ich
diese Bemerkungen mache, möchte ich jedoch nicht missverstanden
werden. Ich will nur sagen, dass ich hier nicht wiederhole, was
schon einmal gethan ist; doch bin ich weit entfernt davon, die
Verdienste derer, welche auf irgend eine Weise vor mir eine ähn-
liche Arbeit unternommen haben; zu verkennen. Obgleich ich die
ganze Behandlung dieses Gegenstandes nach einem vollständig
neuen und mir angehörigen Plane entworfen habe, gestützt auf
Gedanken und Thatsachen, die sich mir zi;m grössten Theil aus
meinen eigenen Studien und Forschungen ergeben haben, so habe
ich doch für einige Theile nicht geringen Nutzen aus dem bereits
gesammelten und von Gelehrten durchforschten Stoffe geschöpft,
(1) „Virgils Fortleben im Mittelalter." Wien (Ak. d. Wiss.), 1851.
54 Seiten in Folio.
(2) Vgl. S. 145 Anm. 1 und S. 208 Anm. 2.
YJII Vorrede des Verfassers.
welche letztere von mir einzeln an den betreffenden Stellen genannt
werden, und gegen deren Wissen und edle Mühen ich auch nicht
im Geringsten ungerecht erscheinen möchte.
Was eine streng wissenschaftliche Behaudhmg dieses Stoffes
in seiner ganzen Ausdehnung erschwert, und worin vielleicht der
Grund liegt, dass man denselben bis jetzt nicht behandelt hat, ist
der Umstand, dass ein Gelehrter nur gar zu selten das Studium
der klassischen nddt dem der romantischen Literatur verbindet.
Beide begegnen und vennischen sich in der Geschichte Virgils im
Mittelalter der Art, dass ein Verständniss jener ganzen Geschichte
und der Beziehung ihrer Theile zueinander nicht möglich ist, wenn
man seine Studien auf die eine von beiden Literaturen beschränkt.
Was meine Richtung, mag man dieselbe glücklich oder unglück-
lich nennen, so wie die sich daraus ergebende Ausdehnung meiner
Studien anlangt, so ist es mir gelungen, mit gleicher Liebe diese
beiden Zweige des Wissens zu umfassen, die mir durchaus nicht
so miteinander unvereinbar scheinen, wie es vielen noch heute vor-
kömmt. Ich habe sie beide mit Neigung und Interesse gepflegt
und mich bemüht, auf beiden Gebieten über den einfachen Dilettan-
tismus hinauszugehen. Es schien mir demnach, dass meine Ver-
trautheit mit jenen beiden Seiten des heutigen Wissens sich mit
Glück bei einem Werke dieser Art verwenden Hesse, obwol ich
mir nicht verhehlt habe, wie schwer die Aufgabe war. Einen
ersten Abriss veröffentlichte ich vor einigen Jahren in der „Nuova
Antologia" (l), wobei der hauptsächlichste Theil aber nur eben
erst entworfen war. Zeit iind weiterer Arbeit bedurfte es, um
jenen ersten Abriss des Werkes in der Form wie in den Ver-
hältnissen der Theile zueinander zu Ende zu führen, wie dasselbe
heute dem Leser vorliegt.
Mancher wird sich darüber wundern, dass mein Buch mehr
liefert, als der Titel verspricht, und dass ich, anstatt mich auf
das Mittelalter zu beschränken, meine Darstellung mit der Zeit
selbst, in welcher der grosse Dichter lebte, beginne. Dazu war
ich jedoch genöthigt, damit man die Voi'stellung des Mittel-
CD Vol. I (1866), p. 1—55; IV (1867), p. 605-647; V (1867),
p. 659-703.
Vorrede des Verfassers. IX
alters in ihren Ursachen verstehen und sie aus dem, was ihr
voraufging, erklären konnte. Hiervon habe ich jedoch nur geredet,
so weit es die Natur und Ausdehnung des Zweckes verlangte, und
für die dem Mittelalter voraufgeheuden Jahrhunderte nur die
wesentlichsten Grundzüge meines Stoffes angegeben. Deutlicher
und gründlicher hätte ich dabei sein können, wenn es mir ver-
gönnt gewesen wäre, den Gedanken von dem Einflüsse, welchen
Virgil in diesen Jahrhunderten auf die literarische Thätigkeit aus-
übte, weiter zu entwickeln; aber dies hätte mich dazu gebracht,
diesem Theile meines Werkes eine Ausdehnung zu geben, wie sie
bei einem Buche, dessen Hauptzweck ein anderer ist, nicht ge-
stattet gewesen wäre. Eine gründlichere Behandlung dieses Stoffes
ist dem vorbehalten, welcher die Geschichte des Stils und der
Sprache des literarischen Lateins während der Kaiserherrschaft, so
wie die der grammatischen Wissenschaften bei den Kömern schreiben
wird : Arbeiten, die noch nicht unternommen sind, und für die noch
nicht einmal der gesammte Stoff hinreichend vorbereitet und be-
arbeitet ist.
In der Absicht, mein Buch, was den Virgil des Mittelalters
betrifft, so vollständig wie möglich zu machen, erschien es mir
nützlich und für den Leser angenehm, die hauptsächlichsten Texte
der Virgilsage beizufügen^), von denen einige noch nicht heraus-
gegeben waren, die meisten aber in verschiedenartigen xmd nicht
leicht zu beschaffenden Werken zerstreut sind. Sie alle publiciren
zu wollen, wäre zu viel gewesen. Ich habe mich auf die für die
Geschichte der Sage wichtigsten Texte beschränkt, welche ich be-
sonders den drei Literaturen entlehnt habe, in denen jene in her-
vorragender Weise zur Darstellung kam, der italienischen, französi-
schen und deutschen. Da ich ferner Gelegenheit hatte, bei den
Virgilsagen des italienischen Volksbuches vom Zauberer Pietro Bar-
liario zu gedenken, so hielt ich es für zweckmässig, am Schlüsse
des Werkes auch dieses Büchlein mit abzudrucken, das in Italien
mehr dem Volke als den Gelehrten, ausserhalb Italiens aber voll-
ständig unbekannt ist.
Der einsichtige Leser wird leicht begreifen, weshalb bei
1) Sie sind in der vorliegenden üebersetzung fortgeblieben.
^ Voiiede des Verfassers.
einem Werke von der Natur des vorliegenden in einigen Capiteln
weniger unmittelbar und bestimmt von Virgil die Rede ist. Durch
Erzählung alter Fabeln und sonderbarer Thatsachen ergötzen und
überraschen zu wollen, ist nicht der Zweck meines Buches. Was
mir dieses Studium Averth machte und so viel Mühe darauf ver-
Avenden liess, ist vielmehr jener wichtige Theil von der Geschichte
des Menschengeistes, der sich in den mannigfachen und zahlreichen
Erscheinungen, die seinen Stoff ausmachen, wiederspiegelt. Der
Leser wird bemerken, ob ich mich getäuscht habe, wenn ich meinte,
dass man über einen solchen Gegenstand nachdenken und etwas
Ernsteres und Tieferes schreiben kann, als ein Werk, das blos
gelehrte Merkwürdigkeiten enthält. Ich habe ferner als Italiener
nicht vergessen, dass mein Stoff seiner Natur nach italienisch ist
und für Italiener Interesse hat. Ich habe in der That ohne Leiden-
schaft geschrieben und mich bemüht, so weit als möglich sub-
jective Verblendung fernzuhalten oder zu beschränken. Wenn eine
derartige Empfindung mich doch dazu gebracht haben sollte, zu
irren, so Avürde mir dies leid thun; ich Avürde dann aber auch den
allzustrengen Richter bitten, sein eigenes Gewissen wol zu be-
fragen, ob er in der That das Recht hat, deshalb den ersten Stein
auf mich zu werfen.
Pisa, im Juni 1872.
D. Comparetti.
Inhalt.
^bersetzers
Seite
III
erfasserd
Erster Theil.
Yirgil in der Literatur bi^
; auf Dante.
. . V
Vorrede des
Erstes Capitel.
Bedeutung der Aeneis für den Ruhm Yirgils. Neigung der Rö-
mer zur epischen Poesie. Nationale Grundlage der Aeneis und
ihre Beziehungen zum Nationalgefühl. Der erste Eindruck des
Gedichtes 2
Zweites Capitel.
Wichtigkeit des grammatischen, rhetorischen und gelehrten
Elementes in der Aeneis für die Beurtheilung des Dichters. Die
ersten kritischen Arbeiten und Urtheile über Virgil .... 13
Drittes Capitel.
Beweise der Yolksthümlichkeit des Dichters iu den ersten Zeiten
der Kaiserherrschaft. Virgil iu den Elementarschulen und den
grammatikalischen Werken 22
Viertes Capitel.
Virgil in den Schulen und Werken der Rhetoren. Reactionäre
Strömung zu Gunsten der ,, Alten", und Verhältniss Virgils zu
denselben. Fronto und die Froutouianer. Aulus Gellius. Die
Verehrung des Dichters. Sortes Virgilianae 32
Fünftes Capitel.
Die Zeit des Verfalls. Die Berühmtheit der Virgilverse und die
Centonen. DieCommentatoren Donat undServiua. Philosophische
Erklärungen. Historische Allegorieen in den Bucolica. Virgil
wird als Rhetor betrachtet. Rhetorischer Commentar des T. Cl.
Douatus. Macrobius. Die Idee von der Allwissenheit und Un-
fehlbarkeit Virgils. Autorität des Dichters für die Grammatik.
Donat und Prisciau. Der Ruhm des Dichters zur Zeit des Zu
sammensturzes des Kaiserreiches 47
XII Inhalt.
Sechstes Capitel. Seite
Christenthum und Mittelalter. Natur und Grenzen der alten
Schul tradition. Virgil als Repräsentant der Grammatik. Stellung
der Klassiker dem Christenthume gegenüber 70
Siebentes Capitel.
Virgil als Prophet Christi 90
Achtes Capitel.
Die philosophische Allegorie. Gründe der allegorischen Aus-
legung Virgils. Fulgentius; Bernhard v. Chartres; Johann v.
Salisbury; Dante 97
Neuntes Capitel.
Die grammatischen und rhetorischen Studien im Mittelalter und
ihre Benutzung Virgils HO
Zehutes Capitel.
Schicksale der Virgilbiographie. Die literarischen Erzählungen
von dem Leben des Dichters uud ihr Unterschied von der Volks-
sage. Poetische Uebungen der Rhetoren über die verschiede-
nen Virgilthemata 123
E ilftes Capitel.
Betrachtungen über die mittelalterliche lateinische Poesie klassi-
scher Form. Geringe Befähigung des Clerus für dieselbe. Die
rhythmischen Dichtungen . . 142
Zwölftes Capitel.
Das Ideal des Alterthums bei den Geistlichen des Mittelalters.
Stellung Virgils zu demselben und daraus folgende Bedeutung
des Dichters auch für diese Epoche 150
Dreizehntes Capitel.
Vorbereitende Tendenzen des Mittelalters für die Renaissancen.
Thätigkeit der Laien. Die volksthümliche Literatur und die
Vulgärsprache. Beziehung Italiens zu dieser Entwickelung . Iö7
Vierzehntes Capitel.
Dante. Sein Charakter und seine geistige Richtung. Seine
Kenntniss des Alterthums; seine Berührung dabei mit dem
mittelalterlichen Clerus und sein Abstand von diesem. Dante
als Vorläufer der Renaissance und seine Empfindung für die
klassische Poesie. Das römische Alterthum und das italienische
Nationalgefühl bei Dante. Gründe, weshalb sich Dante zu
Virgil hingezogen fühlt. Der vollendete Stil Dante's und Virgils 176
Fünfzehntes Capitel.
Virgil in der Divina Comedia; historischer wie symbolischer
Grund für diese Erscheinung. Weshalb nicht Aristoteles Dante's
Führer ist. Der Unterschied des Dante'schen vom mittelalter-
lichen Virgil. Virgil und das Christenthum bei Dante. Weis-
heit und Allwissenheit Virgils; sein Charakter. Die Prophe-
zeiung von Christus Vil-gil uud Statins. Virgil und die Idee
des Kaiserreichs 187
Inhalt. XIII
Sechzehntes Capital. s^"«
Virgil im Dolopatho3. üebergang von der überlieferten ge-
lehrten Vorstellung zur romantischen 201
Zweiter Theil.
Virgil ili der Volkssage.
Erstes Capitel.
Die romantische Literatur und ihr Verhältniss zur klassischen
Ueberlieferung. Das klassische Alterthum wird romantisirt.
Der Aeneasroman. Noch einmal der Virgil des Dolopathos.
Zauberer und Weiser in den romantischen Compositionen. Italien
mid seine Production in der Romantik. Ursprung der Sage vom
Zauberer Virgil unter den Neapolitanern; ihr üebergang in die
romantische und gelehrte Literatur 207
Zweites Capitel.
Die Neapolitanische Sage im 12ten Jahrhundert. Konrad von
Querfurt. Gervasius von Tilbury und Alexander Neckam . . 220
Drittes Capitel.
Natur und Ursprung der neapolitanischen Sage. Die Virgilsage
in Monte Vergine; Verhältniss zur historischen Ueberlieferung. 227
Viertes Capitel.
Verbreitung der Sage ausserhalb Italiens. Minnesänger und
Gelehrte 245
Fünftes Capitel.
Die Virgilsage auf Rom bezogen. Die Salvatio Romae . . . 249
Sechstes Capitel.
Erweiterungen und Veränderungen der Sage im 13ten Jahr-
hundert; Image du Monde, Roman des sept sages, Cleomadès,
Renart contrefait, Gesta Romauorum, Jans Enenkel .... 255
Siebentes Capitel.
Combination des Propheten und Zauberers Virgil. Virgil und
die Sibylle in den Mysterien. Der Prophet Virgil und die Sal-
vatio Romae; Roman de Vespasien. Sagen vom Zauberbuche
Virgils. Philosophische Darstellung des Zauberers Virgil in der
„Philosophia" des Pseudo- Virgil von Cordova. Die Vorstellung
vom Zauberer durch biographische Einzelheiten ergänzt. Ver-
einzelte Theile der Virgilsage 261
Achtes Capitel.
Der Zauberer Virgil und die Frauen. Das Abenteuer von der
Kiste; seine Entstehung und Ausbreitung. Die „Bocca della
verità" 276
Neuntes Capite!.
Der Virgil der Sage in Neapel und im übrigen Italien. Die
„Cronica di Partenope", Ruggiero aus Apulien, Boccaccio, Cino
da Pistoja, Antonio Pucci. Die Sage in Rorn und Mantua.
XIV Inhalt.
Seite
Buonamente Aliprando. Verhältniss der Sage zur antiken Virgil-
biographie 290
Zehntes Capitel.
Zusammenfassende Darstellungen der Sage und die romantische
Virgilbiographie. Les faits merveilleux de Virgile. ,,La fleur
des histoires" des Jean d'Outremeuse. Die Romauze von Virgil.
Das Verschwinden der Sage aus der Literatur nach dem 16ten
Jahrhundert; ihr Fortleben in der mündlichen Ueberlieferung in
Süditalien bis auf die Gegenwart 303
Berichtigungen.
S. 5 Z. 4 V. 0. 1.: „gebannt" f. „gebannten".
6 „ 18 „ „ „ „besten jener Epen" f. „besten Epen".
6 „ 22 „ „ „ „fühlte" f. „fühlt".
9 „ 4 „ „ „ „Geistes" f. „Geschmackes".
13 „ 4 „ „ „ „mag" f. „mögen".
16 „ 32 „ „ „ „ward" f. „wird".
27 „ 16 „ „ „ „und" f. „man".
33 „ 23 „ „ „ „Rhetoriker" f. „Rhethoriker",
35 „ 1 „ „ „ „Rhetoren" f. „Rethoren".
37 „ 6 „ „ „ „rhetorisches" f. „rhethorisches".
42 „ 1 „ „ „ „dieser" f. „diese".
45 „ 5 „ „ „ „Rhetorik" f. „Rhethorik".
5U „ 11 „ „ „ „auswendig gelernt" f. „gelernt".
53 „ 33 „ „ „ „zurückwies" f. „zurückweist".
67 „ 14 „ „ „ „welcher" f. „welche".
83 „ 9 „ „ „ „nur" hinter „nicht".
103 „ 23 „ „ „ „bellende" f. „beiende".
111 „ 33 „ „ „ „Aldhelm" f. „Aldelm".
111 „ 35 „ „ „ „Rhabanus" f. „Rabanus".
112 „ 31 „ „ „ „in der Schriftsprache noch überall" f. „überall"
112 „ 33 „ „ „ „die Vulgärsprache" f. „das vulgäre Latein".
114 „ .'i „ „ „ „von diesen" hinter „mau".
171 „ 15 „ „ „ „hier beim" f. „beim".
209 „ 33 „ „ „ „Hessen" f. „Hesse".
221 „ 36 „ „ „ „Hippokrene" f. „Hipokrene",
Virgil in der Literatur bis auf Dante.
Titynis et frnges Aeneiaque arma legentur
Koma triumphati dum caput orbi« erit.
Ovid. Am. I, 15, 25.
O anima cortese mantovana
Di cui la fama ancor nel mondo dura
E durerà quanto '1 mondo lontana.
Dante, Inf. 2, 28.
Virgil ist der Hauptrepräsentant jener Dichterschule, welche seine
Zeitgenossen als „die neuen Dichter" bezeichneten ; und neu waren
jene Dichter in der That. wie auch die Zeit, in der sie lebten. —
Es war jene Zeit, in welcher das Neue in der römischen
Welt allgemein als ein Bedüi-fniss empfunden wiu-de. Jener Co-
loss, der so lange und mit so vernichtender Kraft gegen seine
Umgebung an seiner Grösse gearbeitet hatte, wollte diese nun
auch geniessen, sein Selbstgefühl in tausend Formen zur Erschei-
nung bi-ingen und sein materielles wie geistiges Leben veredeln
und verfeinern. Eoh und dürftig erschien ihm das Leben der re-
publicanischen Zeit. Man konnte dasselbe wol bewimdern, aber
nicht wieder zurückrufen, nachdem Wesen imd Empfindung der
Gegenwart sich so ganz verändert hatten. Sieht man auf die po-
litischen Ergebnisse, welche diese Umwälzung, dieses Sichlosreissen
von der strengen alten Tradition zur Folge hatte, so lässt sich
wol ein hartes Urtheil fallen; blickt man indessen auf Kimst und
Wissenschaft, in denen jene Eevolution völlig neue Tendenzen
hervorrief, so muss man sich gestehen, dass die künstlerischen
Producte, die sie erzeugten, geradezu imvergleichlich sind, ja, dass
sie den ei'habensten Gi^rfelpunkt in der Entwickelung des römischen
Geistes bilden. Es ist uns freilich nicht gestattet, auf den Ursprung,
Charaktei- und die wechselnden Schicksale jener neuen Dichterschule
einzugehen; weder auf alles das, was ihre Grösse und ihren Er-
folg hervorrief, noch auf die Kämpfe , die sie mit den Anhängern
der alten Zeit, die ja in keiner Eevolution fehlen, zu bestehen
hatte. Der engeren Aufgabe unseres Werkes nach haben wir es
ausschliesslich mit Virgil zu thun, dem grossesten Dichter jener
Com pareti i. Viri^il im Mittelalter. 1
Schiile und gi-össesteu römisclieu Dicliter überhaupt. Eine Kritik
seiner Werke wird man hier nicht erwarten, da unsere Aufgabe
nicht die ist, zu sagen, was Virgil war, sondern vielmehr was er
schien, nicht, wie man ihn jetzt, sondern wie mau ihn ehemals be-
urtheilte. Selbstverständlich wäre das nun aber nicht ausführbar,
ohne dass uns dabei als bestimmtes Princip unsere Ansicht, die
wir über den wirklichen Werth Virgils hegen, leitete, .eine An-
sicht, die indessen dui'chaus nicht so subjectiver Natur ist, dass
man uns nicht ihre Begründung schon am Anfange des Werkes
erlassen könnte. Sei es denn gestattet — da doch der Weg lang
genug ist, auf dem uns der Leser begleiten soll — von dem Ein-
druck auszugehen, den Virgils Poesie, und vor allem seine Aeneis
auf die römische Welt machte. Obgleich der ßuhm des Dichters
schon durch seine in der That höchst bedeutenden „Bucolica" und
„Georgica" sehr gestiegen war, so ist doch der Gipfel desselben in
der Aeneis zu suchen, dem genialsten Producte der römischen Poesie,
das Virgil nicht blos zum ersten sondern auch zum wesentlich na-
tionalsten der römischen Dichter stempelt. Hierauf also müssen
wir zuerst unseren Blick richten.
Erstes Capitel.
Das höchste Ideal des Epos lag für die Alten wie für uns
iu den Gedichten Homers: sie galten dem Dichter bei der Coni-
positiou, wie dem Publicum bei der Beurtheilung als Massstab.
Jenes Ideal stand so hoch, dass, obgleich die Möglichkeit ihm
gleichzukommen ausgeschlossen war, der Dichter trotz seiner In-
fei'iorität doch eine wunderbare und imponirende Höhe erreichen
konnte. Bei der Beurtheilung Virgils nahmen denn auch die
Römer sofort zu jenen unvermeidlichen Vergleichen ihre Zuflucht;
sie unterschieden zwischen der göttlichen, wirklich schafienden
Kraft des Dichters und der mühevollen Arbeit des Nachahmers,
sie erkannten in der That die Inferiorität ihres Dichters gegen-
über dem griechischen an, (die Uebertreibungen einiger Enthu-
siasten bilden doch nur die Ausnahme von der Regel) ^), aber sie
1) Wie viel auf Rechnung der Freundschaft kommt in dem Properz-
ischen: „Nescio quid maius nascitur Iliade", geht aus desselben AVorten
hervor, die er von seinem Freunde Ponticus, dem Verfasser einer später
völlig vergessenen Thebais, gebraucht (I, 7, 1 — 3).
„Dum tibi Cadmeae dicuntur, Pontice, Thebae
armaque fraternae tristia militiae,
atque, ita sim felix, primo conteudis Honiero, etc."
Virj^'il ili der Literatur bis auf Danto. M
begriffen auch, dass von allen Versuchen im Epos in griechischer
wie römischer Sprache der des Virgil der glücklichste wai-.
Dies Urtheil, sofern es sich auf einen äusserlichen Vergleich
beider Gedichte beschränkte, war gewiss gerecht. Sobald man den-
selben jedoch auf die Natur und die den beiden Epen zu Grunde lie-
genden Bedingungen ausdehnte, wurden Homer und Virgil inlhüm-
lich von den Alten, die doch das wahre Wesen der Homerischeu
Poesie niemals so wie wir seit Vico's Auftreten erkannt haben,
als zwei Individuen augesehen, die mir durch den Grad ihrer Be-
gabung wie durch die Zeit, in der sie lebten, von einander ver-
schieden seien; man hätte also nur ungerechter Weise Virgil weniger
günstig, als wir heute im Stande sind, beurtheilen können. Wir unter-
scheiden das primitive, nicht von einem Individuum herrührende, wahr-
haft künstlerische Volksepos von dem gelehrten Kunstepos, dem Werke
eines einzelnen, welches nur in historischeu Zeiten vermittelst Re-
flexion zu Stande kommt; und wie wir dem griechischen Volksepos
unter allen ähnlichen Erzeugnissen der anderen Völker den Preis
zuertheilen, so gestehen wir auch zu, dass unter allen Versuchen
im Kunstepos, seien dieselben von Griechen, Römern, Italienern
oder anderen modernen Völkern ausgegangen, keine Schöpfung wie
die des Virgil jenen relativen Grad von Vollendung erreicht hat.
Nur diese Distinction vermag Virgil seine richtige Stellung zuzu-
weisen; nur wenn unsere Vergleichung der Aeueis mit der Ilias
dem ungeheuren Abstände Rechnung trägt, der zwischen den na-
türlichen Grmidlagen beider Gedichte besteht, vermögen wir die
luferioi-ität Virgils zu erklären oder zu entschuldigen, was bei
den Römern nicht möglich war. Aber wenn auch der Grad des
Verständnisses, das jener Epoche eigen war, für den Dichter we-'
uiger günstig sein konnte, als das der Modernen, so wurde dies
doch reichlich aufgewogen durch die Sympathie, die zwischen jenem
Gedichte und den Gefühlen und Bedürfuissen des Volkes, für wel-
ches dasselbe geschrieheu war, bestand. Man hat vielfach gesagt,
dass das Virgilische Epos der Nationaleitelkeit Nahrung gab und
deshalb so beifällig aufgenommen sei; allein dieser etwas triviale
Gedanke darf doch, auch wenn er bis zu einem gewissen Grade
wahr ist, nicht so aufgefasst werden, wie er gewöhnlich klingt.
Das römische Volk, oder richtiger die römische Welt bildet eine
durch ihre Natur, ihr Leben und ihre Zusammensetzung so einzig
dastehende Individualität, dass man sie nur aus Unverstand nach
denselben Normen, nach denen man ein anderes Volk abschätzt,
beurtheilt. Sie ist ein par excelleuce historisches Wesen; ihr
1*
4 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
Leben eine fortwährende Expansion von den kleinsten bis zu
den riesenhaftesten Proportionen und zwar unter dem Zwange eines
gleichsam unberechenbaren, unwiderstehlichen Impulses, der sich
schon im ersten Momente seiner Entstehung, in dem historischen
Factum der Gründung Koms offenbart. Diese ferne Grenze der
nationalen Erinnerungen ist der Keim fortwährender Vergrösse-
rung des Volkes und hängt so eng mit der Natur des sich weiter
entwickelnden nationalen Lebens zusammen, dass selbst die Fabel
seines Ursprungs wie anderer darauf folgender Begebenheiten so-
gleich einen politisch-praktischen Charakter annimmt^). Die Er-
innerung an ein der politischen Thätigkeit ganz fernstehendes he-
roisches Zeitalter, in welchen; die nationalen Elemente zersplittert
bleiben und sich nicht zu dem einzigen Zwecke, welcher in der
Zukunft der Nation besteht, vereinigen, ist bei den Römern nicht
vorhanden. Der kleine latinische Stamm, aus dessen Schooss jener
Keim zur Grösse heranwuchs, wurde freilich nicht vergessen; aber
zwischen ihm und Rom blieben doch deutlich alle jene Differenzen
bestehen, welche in zwei verwandten aber verschiedenen Individua-
litäten Mutter und Tochter bezeichneten.
Dieses historische Wesen, das vom Momente seiner Entstehung
an das Bewusstsein seiner Mission in sich hatte, dessen Thätigkeit
stets auf ein reelles und bestimmtes Ziel los steuerte, das sich
selbst und der eigenen Energie Erfolg und Grösse verdankte,
musste natürlich auch in der Betrachtung seiner selbst eine mäch-
tige poetische Inspiration finden. Es existirte, so zu sagen eine ganz
1) Die deutschen Gelehrten begehen oft einen grossen Irrthum, wenn
sie die Ideen und Gefühle des römischen Volkes, das sich auf eine
Stadt concentrirte und sein Bestehen „ab urbe condita" berechnete, nach
denselben Grundsätzen wie das griechische beurtheilen, und die hellenische
Nation dabei nicht ausser Augen lassen können. Die römische Sage
konnte nicht weit aus jenem Gebiete der v-ztcsig tiÖIscov herausschreiten,
die unter den Griechen natürlich nicht den Hauptbestandtheil des natio-
nalen SagenstofFes bildeten. Wenn aber die Phantasie der Römer, in
Betreff der Vergangenheit des Volkes, wie uothwendig, ihre politische
und praktische Tendenz offenbart, so entbehrt sie darum doch nicht der
Poesie. Um so überraschender sind die Worte eine« gewiss nicht der
Parteilichkeit für die Römer überwiesenen Mannes, der einen Aufsatz über
die Erzählung von Coriolan also beschliesst: ,,Wer in diesen Erzählungen
nach einem sogenannten geschichtlichen Kern sucht, wird allerdings die
Xuss taub finden: aber von der Grösse und dem Schwung der Zeit zeugt
die Gewalt und der Adel dieser Dichtungen, insbesondere derjenigen von
Coriolan, die nicht erst Shakespeare geschaffen hat." Mommsen, im
Hermes, IV, p. 26.
Virgil ili der Litoralur bis auf Dante. 5
besondere Empfindung, die wir als die „historische" bezeichnen können,
weil sie aus jener Idee von einer grandiosen geschichtlichen Thätigkeit
hervorging, eine Empfindung, die nicht in die Grenzen einer einzigen
Nation gebannten, sondern den verschiedensten Stämmen eigen war, die
Kom sich zu unterwerfen und zu assimiliren verstanden hatte, die sich
aber unterschied von dem Nationalgefühl, das jedes Volk in abstracto
für sich hat, und sogar die römische Herrschaft selbst überlebte. Eben
sie flösste den Herrschern wie den Beherrschten die gleiche Begeiste-
rung ein, i;nd unter all den Formen, in denen sie z. B. in der
Literatur zum Ausdruck gelangt ist, findet sich kein Unterschied,
mögen die Schriftsteller Römer, Griechen, Etrusker, Gallier, Iberer
oder Africaner sein.^)
Man begreift also, dass die Kömer eine natürliche Hinneigung
zum historischeu Heldengedicht haben mussten, und der Beweis
dafür liegt in der Menge ihrer historischen Epen von Naevius bis
auf Claudian'^), einer Thatsache, der man nichts ähnliches aus der
griechischen Literatur zur Seite setzen kann. Aber eben dies Ge-
fühl, welches die ganze römische Welt erfüllte, und welches der
äusseren Gestaltung bedurfte, konnte doch seiner Natur nach nur
schwer in der epischen Form zum Ausdruck kommen. Es scheint
zwar, als ob eine derartige Empfindung ganz von selbst zum Epos
hindrängen müsse; so oft man jedoch nach einem Stoffe suchte,
um demselben eine concrete und adäquate Form zu geben, bot
sich dem Dichter die Geschichte als Grundlage, und zwar als eine
sehr nachtheilige, dafür dar; denn mit der geschichtlichen Begeben-
heit, wenn sie sich als solche dem Geiste darstellen soll, ist dem
Epos in keiner AVeise gedient. Dazu müsste sie erst wieder
„epische Begebenheit" werden. Das erfordert aber die Thätigkeit
der Fantasie nicht eines einzelnen, sondern eines jugendlichen Volkes;
der Geist eines historisch reifen Volkes ist nicht mehr fähig dazu.
Zur Lösung dieses schwierigen Pi'oblems hatten die Griechen selbst
nichts beigetragen, weil sich ihnen, deren Charakter von Haus
aus ein anderer war, ein solches Problem niemals dargeboten
1) Vgl. die vielen Stellen, in denen diese Begeisterung Ausdrack ündet
bei Lasaulx, Zur Philosophie der römischen Geschichte, p. 6 ff.,
wozu sich noch manche andere fügen Hessen^, abgesehen von der speciellen
Tendenz vieler Schriftsteller, wie z. B. des Livius, der, man mag ihn
mit welchem Griechen man will vergleichen (obgleich sich unter diesen
nichts seinem Werk ähnliches findet) der schlagendste Beweis für unsere
Behauptung ist.
2) Vgl. die Aufzählung bei Teuffei, Gesch. d. röm. Lit. p. 27.
f, Viigil in der Literatur bis auf Dante.
hatte. Ihr bckanutester Versuch im historischen Epos war in der
klassischen Zeit das Gedicht des Choirilos von Samos über den Perser-
krieg, ein zwar ruhmvolles Ereigniss, das aber doch nur einen
Zwischenfall im Leben der Nation bildet und keineswegs das
"Wesen dieser selbst zur Darstellung brachte, weshalb denn das
Gedicht auch nur einen vorübergehenden politischen Erfolg hatte.
Das griechische Nationalgefühl hatte sich in der Poesie bereits viel
leuchtender und in viel geeigneterer Form dargestellt. Nun aber
war das Natioualgefühl der Römer so stark und kräftig, ihr
Charakter als historisches Volk so prouoncirt, dass ihre historischen
Epen nicht allein zahlreicher als die anderer Völker Avaren, son-
dern auch mehr Erfolg hatten als man selbst von den besten der
Gattung hätte erwarten können, wenn nämlich die natürliche
Kälte derselben nicht als Gegengewicht so viel ^\'änue dos Ge-
fühls gefunden hätte, welches zu erregen eben der Zweck des
Epos war, und worin es selbst seinen Grund hatte. In der mo-
dernen Zeit, wo dieses Gefühl nicht mehr vorhanden ist, bleiben
auch die besten Epen wirkungslos. Obgleich nun aber zwar so-
wol das historische Epos wie jene Gedichte, welche in einer etwas
sonderbaren Weise Sage und Geschichte mit einander verschmolzen
(wie z. B. die Epen des Ennius und Naevius), einen relativen Er-
folg hatten, so fühlt sich doch das nationale Bedürfniss, theils aus
formalen Gründen theils in Folge des wenig poetischen Stoffes dabei
nicht völlig befriedigt. Die Lösung dieses schwierigen und verwickelten
Problems ist daher gerade ein Hauptverdieust Virgils und eine der
Hauptursachen für die Begeisterung, welche sein Epos erweckte, und
Avelche andauerte, so lange sich jenes Gefühl lebendig erhielt, dessen
treuestes, edelstes und vollständigstes künstlerisches Abbild eben die
Aeneis war. Der nationale Zweck, den Virgil wie andere augusteische
Dichter verfolgte, ist nicht zu bezweifeln; er erscheint aber nicht
blos als die Wirkung eines unbewussten, instinctiveu Dranges, wie
bei so vielen anderen römischen Schriftstellern, sondern ist so-
gar oft mit künstlerischem Bewusstsein erstrebt. Virgil dachte
nicht daran ein Epos von blos literarischem oder gelehrtem Cha-
rakter abzufassen in der Art der Alexandi'iner, und er griff daher
nicht wie andere vor und nach ihm zu einem Thema aus der
reichen griechischen Sage, wie der kleinen Ilias, der Thebais, der
Achilleis oder andeni Stoffen, denen jeder nationale Werth für die
Römer abging. Geleitet von einem für einen Epiker jener Zeit
bewunderungswürdigen, künstlerischen Instinct, vermied er glück-
lich alle historischen Stoffe, welche andere Dichter und auch ihn
Virgil in der Litoratm- bis auf Dante. 7
zuallererst angelockt hatten , und entschied sich unter den da-
uials bei den Römern bekannteren für den einen, in welchem sich
jener ideale heroische Charakter, das unabweisbare Erforderniss
für ein Epos mit einem wenn auch nicht dem Ursprünge, so doch
der Bedeutung nach nationalen Charakter vereinigte^). Wie er
durch die Kraft seines Genies dahingelangte, indem er nach und
nach den ersten Entwurf seines Werkes modificirte, erhellt aus
manchen Anzeichen mit völliger Klarheit und darf, wenn man den
Dichter billig bcurtheilen will, nicht übergangen werden. Aus den
genannten allgemeinen Gründen bot auch ihm sich zuerst die Idee eines
Stoffes aus der latinischen oder römischen Geschichte für ein National-
gedicht dar. Noch bevor er die Bucolica schrieb, hatte er an ein Ge-
dicht über die albanischen Könige gedacht; diese Idee gab er je-
doch schnell auf, wie seine Biographie sagt: „offensus materia"^).
Erst später, als er schon in Beziehung zu Augustus getreten war,
nahm er alles Ernstes den Plan eines Gedichtes wieder auf, und
abermals stellte sich seinem Geist ein historischer Stoff dar. Die
Grossartigkeit der Zeitereignisse und die Freundschaft des Fürsten,
der bei jenen eine so hervorragende Rolle spielte, lenkte seine
Wahl ganz natürlich auf ein Thema wie die Thaten des Octavian'"').
Dass er wirklich vorhatte, diesen Stoff zu bearbeiten, erklärte er
selbst, als er im Jahre 29 dem aus Asien ^) zurückgekehrten Au-
gustus in Atella^) seine Georgica vortrug. Von diesem Jahre aus-
gehend kam er, den ersten Entwurf den künstlerischen Zwecken
gemäss modificirend, endlich im Laufe von elf Jahren (vom Jahre
29 V. Chr. bis zu seinem Tode) bei der Composition der Aeneis
1) „Novissimum Aeneidem inchoavit, argumentum varium et multi-
plex, et quasi amborum Homeri carminum instar, praeterea nominibus
ac rebus graecis latinisque commune, et in quo, quod maxime stude-
bat, romanae simul m-biä et Augusti erigo contineretur." Douat. Vit.
Vergil. (bei ReifFerscheid, Svetonii praeter Caesarum libros reliquiac,
Lips. 1860) p. 59. [Die Citate der dem Donat beigelegten Virgilbio
graphie beziehen sich stet.s auf die genannte Ausgabe].
2) Donat. Vit. Vergil. p. 58. Serv. ad. Bucol. VI, 3.
3) Dies -war der erste Plan und Zweck der Aeneis, und so erklärt
sich auch die Notiz des Servius (p. 2. ed. Lion) „postea ab Augusto
Aeneidem propositam scripsit."
4) „Mox tarnen ardentis accingar dicere pugnas
Caesaris et nomen fama tot ferre per annos,
Tithoni prima quot abest ab origine Caesar."
Georg, ili, 46.
.5) Donat. Vit. Vergil. p. 61.
8 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
an. Im Jahre 26 kannte schon Properz einige Theile des Epos
und sprach mit gi'osser Begeisterung davon, allein er erging sich
noch weit mehr in dem Lobe der Bucolica und Georgica, welchen
der Dichter bis zur Zeit seinen grössten Ruhm verdankte. Aus
den Worten des Properz, wie auch aus dem damals an Augustus ')
gerichteten Briefe des Dichters geht hervor"), dass die zu jener
Zeit vollendeten Partieen auch später in der Aeueis erhalten blieben
dass aber Virgil noch an dem Gedanken festhielt, sein Gedicht von
Aeneas bis auf Augustus fortzuführen. Der künstlerische Tact
verbot ihm jedoch schliesslich jeden Gedanken an eine Erzählung
rein historischer Thatsachen und Personen, und diese wurden nur vor-
übergehend und gelegentlich aus künstlerischen Gründen ange-
bracht; der wirklich heroische und poetische Charakter der Ereig-
nisse, welche die Hauptgrundlage des Gedichtes bilden, blieb unan-
getastet. Der Werth dieses Verfahrens entging den alten Kritikern
nicht, welche wol darzulegen wussten, wie tief in dieser Beziehung
Lucan unter Virgil stand ^). Und so zeigt uns die Entstehungs-
geschichte der Aeneis auf das deutlichste, wie sehr Virgil durch
seinen Stoff wie seine künstlei-ische Empfindung den besten Dich-
tern seiner Epoche überlegen war, einer Epoche, die nach der
Entstehung der grossen griechischen Schöpfungen als die glän-
zendste in der Kunstgeschichte überhaupt bezeichnet Averden muss.
Die moderne Kritik hat mit Recht gewisse veraltete Ideen
über historischen Werth und Ursprung der Aeneassage abgewiesen^):
sie wird aber niemals im Stande sein, jene Thatsache wegzudis-
putiren, dass diese Sage schon seit dem ersten puuischen Kriege
den Römern geläufig war, und dass sie, durch die Behandlung der
Dichter, Geschichtsschreiber, durch Theater, bildende Kunst, Cultus
1) „De Aenea quidam meo etc." bei Macrobius, Sat. I, 24, 11.
2) Actia Vergilium custodis litora Phoebi
Caesaris et fortes dicere posse rates,
qui nunc Aeneae Troiaui suscitat amia
jactaque Lavinis moenia litoribus.
cedite Romani scriptores, cedite Orai :
nescio quid maius nascitur Iliade."
Properz. III, 34, (U — 66.
3) „Hoc loco per transitum tangit historiam quam per legem artis
poeticae aperte non potest ponere Lucanus namque ideo in numero
poetarum esse non meruit quia videtur historiam composuisse non
poema." Serv. ad Aen. I, 382; vgl. Martial XIV, 194. Pronto p. 125.
Quintil. X, 1, 90.
4) Vgl. Schwegler, Rom. Gesch. I, p. 279 ff.; Preller, Rom.
Mythol. p. 660 ff'.
Virgil in der Literatur bis auf Dautc. 9
und die politiachen x\cte des Staates selbst volksthümlich geworden,
/AU- Zeit Virgils die Bedeutung einer Nationalsage erhalten hatte,
die allen Römern sympathisch war und völlig mit der Poesie des
römischen Geschmackes im Einklang stand ^). Freilich, wenn es
sich um die Composition eines Epos von dem Charakter des Ho-
merischen gehandelt hätte, würde auch jene Sage mit ihren' ganz
heterogenen Bestaudtheilen und Charakteren schlecht dazu gepasst
haben ; aber das , was das Virgilische Epos auszudrücken hatte,
war seiner Natur nach ganz von dem Homerischen Epos verschieden,
und eben deshalb waren die immerhin dem Stoffe anhaftenden
Mängel weit weniger bemerkbar. Homer bewegt sich in einer
ganz idealen Atmosphäre; er kann seinen Blick noch nicht auf die
1) Niebuhr (Rom. Gesch. 1, 206 ff.) irrt völlig, wenn er meint, dass
Virgil sein Gedicht den Flammen preis gegeben habe, in der Meinung,
es mangle demselben die nationale Basis. Eine solche Idee konnte Virgil
niemals beikommen ; dass sie absurd gewesen wäre, beweist schon der un-
geheure Erfolg der Aeneis, die dem römischen Geschmacke nichts we-
niger als fremd war. Es ist bekannt, dass auch sein Zeitgenosse und
Bewunderer Livius mit der Aeneassage sein Geschichtswerk beginnt, das,
wie kein anderes, vom lebendigsten römischen Nationalgefühl getragen
ist. Seine Anschauungsweise und die Stellung die er bei der Erzählung
jener Sagen einnimmt erklärt er selbst in seinem Prooemium in einer
Weise, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig lässt, mit jenen herr-
lichen, so oft citirten Worten: „Et si cui popolo licere oportet consecrare
origiues suas et ad Deos referre auctores, ea belli gloria est populo ro-
mano etc. etc." Wie die Aeneassage mit dem Geist, welcher die anderen
römischen Ueberlieferungen durchweht, im Einklang steht, ersehen wir
aus der Lyrik des Horaz, wo dieser (B. IV, 4, 53 ff.) den Hannibal
sagen lässt:
„Gens quae cremata fortis ab Ilio
Jactata Tuscis aequoribus sacra
Natosque maturosque patres
Pertulit Ausonias ad urbes,
Duris ut ilex, etc. etc.''
Die Aeneis war kaum erschienen, als Horaz dies schrieb (Die Oden
des vierten Buches wurden, wie man meist annimmt, 18 v. Chr. heraus-
gegeben). Die Sympathie des Kaisers für Troja, als die den Römern und
der gens Julia heilige Stadt, ist lebendig dargestellt in der bekannten Rede
der Juno unter den Göttern, die sich in der 3. Ode des 3. Buches, das
gewiss älter ist als die Aeneis, findet.
In all diesem und ähnlichem Rhetorik und Schmeichelei sehen zu
wollen, die berechtigte Existenz dieses Gefühls, dem die Grösse des
Reiches wie seine Geschichte so völlig entsprach, nicht anerkennen zu
wollen, heisst doch, die Sache sich ziemlich leicht machen und Wahr-
heit und wissenschaftliche Gewissenhaftigkeit paradoxen Tendenzen und
eingebildeten Vorurtheilen aufopfern.
ID Viigil i.i der LiUratiir l.is auf Datitc.
Geschichte lenken, die erst mehrere Jahrhunderte nach ihm l»e-
giniit. Die natürlichen Schranken und Verhältnisse der mensch-
lichen Natur und Thätigkeit stehen seinem Geiste noch so fern,
dass er höchst selten und nur im Gleichnisse an die ärmliche
Natur des wahren und leibhaftigen Menschen erinnert (oloc vvv
ßqoxoi elaiv); Kind einer ausserhistorischen Zeit, ist er der Inter-
pret eines nationalen Ideals, welches schon ausschliesslich und an
sich poetisch ist. Der lateinische Dichter hingegen, der in der
Epoche der höchsten historischen Entwickelung seiner Nation lebte,
musste, wenn er bei der idealen Umgebimg, die das Epos verlangt,
bleiben wollte, als einziges Ziel die Geschichte ins Auge fassen,
in welcher ja eben jenes universelle Gefühl wurzelte, welches da-
mals seine stärkste Intensität erreicht hatte und mehr als je einer
grossai'tigen Entfaltung bedurfte^). Indem sich der Dichter dieser
seiner Pflicht bewusst war und bei der Ausübung derselben von
der ganzen ihm eigenen Genialität unterstützt wurde'^), brachte er
sein Gedicht im Stoff und in der Form der römischen Geschichte
so nahe, dass man es eine Vorstufe zu dieser nennen kann und
zugleich eine poetische Wiedergabe des Eindrucks, den die Ge-
schichte im Geiste aller derer hinterliess, welche sich mit ihr be-
schäftigten'^). Und wie es immer geschieht, wenn die hmgersehnte
1) Der Titel des Gedichtes soll nach einigen zuerst nicht „Aeneis"
sondern „Thaten des römischen Volkes" gelautet haben: „unde etiam in
antiquis invenimus opus hoc appellatum esse non A enei dem sed Gesta
populi Romani; quod ideo mutatura est, quod nomen non a parte sed
a toto debet dari." Servius zur Aen. VI, 752.
2) Unmöglich ernst gemeint kann die von einigen modernen Kri-
tikern (s. unter anderen Teuffei, Gesch. d. röm. Lit. p. 39) ausge-
sprochene Ansicht sein, als sei die weiche und sanfte Natur Virgils für
das Epos nicht geeignet gewesen. Man nenne mir doch den Epiker von
derselben Kategorie, zu der Virgil gehört, den man wirklich für das Epos
geschatfen erklären kann. Etwa den platonischen Tasso, den frommen
Milton oder den mystischen Klopstock V Unter so vielen, durch Natio-
nalität und Charakter so verschiedenen Dichtern, hat der weiche Virgil
allein das beste Gedicht in seiner Art geschaften, während der viel-
seitige Titane Goethe als er ein heroisches Epos dichten wollte, es nur
bis zu einer so unvollkommenen Schöpfung wie die Achilleis bringen
konnte !
3) „Qui bene coneiderat inveniet omnem romanam historiam ab
Aeneae adventu usque ad sua tempora summatim celebrasse Vü-gilium,
quod ideo latet quia confusus est ordo : nam eversio Ilii et Aeneae errores
adventus bellumque manifesta sunt: Albanos autem reges, romanos
etiam consules, Brutos, Catonem, Caesarem Augustum et multa ad histo-
riam romanam pertinentia hie indicat locus^ caetera quae hie intermissa
Virgil iu der Literatur bi.i auf Dante. H
Formel aufgefunden ist, welche das ganz ausdrückt, was allen un-
hewusst im Herzen lag, so ward auch die Aeneis mit dem allge-
meinsten Enthusiasmus von der römischen Welt aufgenommen.
Es ist wunderbar zu sehen, mit welchem Interesse sich alle
(rebildeten über den Fortgang des grossen Gedichtes inforrairten,
und welchen sichtbaren Einfluss dasselbe von Anfang an auf die
lateinische Literatur ausübte. Während der Dichter an der Ab-
fassung des Epos arbeitete, beschäftigten sich Augustus, Maecenas
und die ganze sie umgebende Schaar von Freunden, Hofleuten,
Dilettanten, Dichtern und Ehetoren mehr oder weniger eifrig mit
dem Fortgang der Composition, welche zum grossen Theil nach
imd nach vom Autor in diesen Kreisen vorgetragen wurde. Bei
des Dichters Tode war sein Werk nur auf diese Weise in die
Deflentlichkeit gedrungen, obwol kein Theil desselben zu der Vollen-
dung herangereift war, die der Verfasser erstrebt hatte. Aber ein
grosses Publikum war von der Existenz des Epos unterrichtet, und
gross war, in Folge der durch die Recitation im Freundeskreis be-
kannt gewordenen Stücke, die allgemeine Erwartung. Die Publi-
cation erfolgte durch die beiden Freunde Virgil s, Varius und
Tucca, denen seine Schiiften vermacht waren, und welchen Au-
gustus jenes delicate Amt übertragen hatte. Wie viel Zeit sie auf
die Vorbereitung zur Veröffentlichung gebraucht haben, wissen wir
nicht, sie konnte wol nur eine kurze sein. Der Eindx-uck, den das
Gedacht machte, war überall tief und äusserst lebendig. Alle
erkannten darin das grösste Werk der lateinischen Poesie^), und
durch eben dasselbe wui-de Vii-gil für die Römer, wie ihn später
Vellejus nannte, „der Fürst der Gesänge')"". Das Studium des
Vii-gil und seiner Phraseologie erkennt man schon in seinem grossen
Zeitgenossen Titus Livius, bei dem sich deutliche Reminiscenzen
von Phrasen aus der Aeneis vorfinden^). Besonders reich an
sunt iu àaniòonouu commemorat." (Serviiis zur Aen. VI, 752. Vgl.
auch Probus zu Geor-if. III, 46, p. 58 f. Keil).
1) Ovid ist für uns der älteste Gewährsmann der dies ausdrücklich
ausspricht:
,,Et profugam Aenean^ altaeque primordia Romae,
quo nullura Latio clarior extat opus."
Ars amator. III, 3o7.
2) „Inter quae (ingenia) maxime nostri aevi eminet princep^^ carnd-
num Vergilius, Kabirius etc." Veli. Patere. II, 37.
3) Vgl. Wölfflin im Philologus, XXVI, p. 130.
\'2 Virgil in der Littrahir bis auf I»aute.
bolcheu Reunuisceuzeii zeigt öicli aber Ovid^), der bei dem Tode
des gi-osseu Dichters 24 Jahre alt war und diesen nur von An-
sehen gekannt hatte"). Und dabei darf man nicht vergessen, dass
sich für Livius und Ovid dies nicht aus dem Gebrauche des Virgil
in der Schule erklärt, wie es sj^äter für so viele andere lateinische
Dichter und Prosaiker anzunehmen ist. Aus den Erinnerungen des
älteren Seneca^) sehen wir gleichfalls deutlich, dass iu dem ersten
Jahrzehend nach des Dichters Tode die Aeneis keinem fremd war,
und man Verse daraus als bekannt citirte. Vorzüglich anziehend
war für einen gewissen Theil des Publikums die tragische Dich-
tung von den Schicksalen der Dido'*), welche später noch den
h. Augustin zu Thränen rührte'*), und, wie wir sehen werden, auch
in den folgenden Jahrhunderten von allen Theileu des Epos stets
am meisten bewundert wurde.
Eine übertrieben strenge und anspruchsvolle, eine paradoxe
und nicht vorurtheilsfreie Kritik mag immerhin über diesen grossen
1) Man vergleiche die sehr zahlreichen Belege bei Z in gerì e in
seinem Werke: „Ovidius und sein Verhältniss zu den Vorgängern und
gleichzeitigen römischen Dichtern". Innspruck, 1869—71, II, p. 48—113.
2) „Vergilium vidi tantum." Trist. IV, 10, 15.
3) Diese Erinnerungen, die sich auf die Rhetoren der Augusteischen
Zeit beziehen, bieten uns die ältesten Citate von Versen der Aeneis.
Die Hauptstellen : „Sed ut sciatis sensum bene dictum dici tarnen posse
melius, uotate prae ceteris quanto deceutius VergiUus dixerit hoc, quod valdc
erat celebre, „belli mora concidit Hector": „Quidquid apud dm-ae etc."
(Aen. XI, 288). Messala (f 8 v. Chr.) aiebat hie Vergilium debuisse de-
sinere, quod sequitur „et in decimum etc." explementum esse. Maeceuas
hoc etiam priori comparabat" Suasor. 2; „Summis clamoribus dixit
(Arellius Fuscus) illum Vergili! versum „Scilicet is superis etc." (Aen.
IV, 379). Auditor Fusci quidam, cuius pudori parco, cum hanc suasoriam
de Alexandre ante Fuscum diceret, putavit aeque belle poni eundem ver-
sum ; dixit: „Scilicet is superis." Fuscus illi ait: si hoc dixisses audiente
Alexandre, scires apud Vergilium et illum versum esse" — capulo tenus
abdidit ensem" (Aen. II, 553). Suasor. 4; — „Montanus Julius qui comis
fuit, quique egregius poeta, aiebat illum (Cestium) imitar! voluisse Ver-
gili descrii^tionem : „Nox erat et terras etc." [Aen. VII, 26.) Controv. 16.
(Cestius kam nach Rom kurz nach Virgil's Tode; vgl. Meyer, Oratorr.
romanorr. fragmenta, p. 357) — Vgl. auch Suasor. 1.
4) „Et tarnen ille tuae felix Aeneidos auctor
contulit in Tyrios arma virumque toros
Nee legitur pars ulla magis de corpore toto,
quam non legitime foedere junctus amor."
Ovid. Trist. 2, 533.
5) Coufessiou. lib. I; I, 60.
Vlrgil in der Literatur bis auf Daute. 13
Dichter wie über so manche andere grosse lateinische Schriftsteller
ui'theilen, wie es ihr behagt. Die Wissenschaft wird aber schwer-
lich die Uebertreibungen einer geistigen Eeaction acceptiren
können, so fruchtbar für den Fortschritt sie auch immer sein mögen.
Das Werk Vii-gils ist und bleibt, wenn man es, wie recht und
billig, nach seiner Stellung und nach einem geschichtlichen Mass-
stabe betrachtet, ein Gedicht, das seines Gleichen weder vorher
noch nachher hat; der Zauber, den es durch Jahrhunderte auf
alle Gebildete ausübte, hat seine volle Berechtigung. Nachahmer
ist Virgil allein im Beiwerk, und auch dann noch ist er gross.
Nachahmer ist er, weil er es sein musste, und weil kein noch so mäch-
tiges Genie sich dieser Bedingiing damals entziehen durfte. Eine
Emancipation von all den Regeln der Kunst, wie sie die noch so
lebendigen Schöpfungen der Griechen vorschrieben, konnte keiner
wünschen noch wollen, und wäre nur mit Unwillen als etwas ganz
Monströses und Unverständliches aufgenommen worden. Das Genie
kann sich nicht zu jeder Zeit und in allen Lagen des menschlichen
Geistes frei bewegen. Dessenungeachtet offenbart es sich doch
als Genie für jeden, der sehen kann, und es ist kein Grund vor-
handen, es dann herabzusetzen und zii verkleinern oder es, wie
mit Virgil geschehen, verächtlich als „Virtuosität" zu bezeichnen.
Seiner Natur, seinen Bestandtheilen, seinem besonderen Zwecke nach
steht Virgils Werk auf einem von der Homerischen Poesie, wie
von dem griechischen Epos^) so verschiedenen Standpunkte, dass
es in Anbetracht der Intention des Dichters wol eine neue Schöpfung
genannt werden kann. Eine Dosis Hellenismus lag auch im rö-
mischen Geiste, mithin auch im Dichter selbst, und dieser hätte
sich selbst widersprochen, wenn er jenen Hellenismus nicht in
seinem Gedichte auch offenbart hätte. Aber der eigentliche Cha-
rakter Virgils beruht darauf, dass der Dichter, wie es Petronius
mit richtiger Einsicht ausspricht, vor allem „Römer" ist').
Zweites Capite].
Zu jenen Resultaten gelangte jedoch der Dichter nicht blos
vermittelst seiner natürlichen Genialität, die für die damalige
Zeit nicht hinreichte, so wie sie niemals zur Schöpfung grosser
1) Avich Teuf fei gibt zu, dass Ton und Geist der Aeneis zu Homer
in diametralem Gegensatze stehen. Gesch. d. röm. Lit. p. 400.
2) „Homerus testis et lyrici, vomannsque Virgilius et Horati curiosa
felicitas." Petron. Sat. 118.
14 Yii-gil iu dei- Literatur bis auf Dante.
Kunstwerke in einer Culturepoche von Bedeutung ausreicht. Die
augusteische Poesie wie der grösste Theil der römischen Dich-
tungen, überhaupt erhielt von selbst wie durch den Einfluss der
griechischen Zeitgenossen einen wesentlich gelehrten Charakter
aufgeprägt. Ein Dichter musste viele philologische und wissen-
schaftliche Studien gemacht haben, um die künstlerische Form zu
erlangen, die den Anforderungen der Cultur seiner Zeit entsprach.
Der Charakter der griechischen Poesie jener Epoche war unter
der Herrschaft der Alexandriner ein derartig gelehrter geworden,
dass weder die Sprache der Dichter eine wirklich lebendige, nocli
die Poesie selbst das Eigenthum anderer als der Gelehrten war.
Wenn etwas jenen Grad poetischer Genialität, den auch die Römer
besassen, ins Licht setzen kann, so ist es die Vergleichuug
zwischen Griechen und Römern in Betreff der Benutzung und Nach-
ahmung der antiken Muster. Von Alexander an ist der Verfall
der gi-iechischen Poesie ein solcher, dass der, welcher ihre Geschichte
studiren will, zur Ausfüllung der grossen Lücke, die er vor sich
sieht, gezwungen ist, sich an die Römer zu wenden, bei denen er
allein eine geistige wie formelle Fortsetzung der griechischen Poesie
findet.
Die Gelehrsamkeit und das Studium, nicht allein der grie-
chischen sondern auch der altrömischen Schöpfungen, hindern die
hervorragendsten i,-ömischen Dichter nicht, ihre Werke mit jener
wahren Poesie und jenem nationalen Geiste zu erfüllen, der den
Alexandrinern völlig abgiug. Die Römer schrieben nicht für einen
engen Kreis von Gelehrten, sondern für ein grosses und gebil-
detes Publicum, welches im Dichter auch den Rhetor, Gramma-
tiker und Gelehrten verlangte. In diesen für einen römischen
Dichter so wesentlichen Vorzügen hat nun aber Niemand den
Virgil übertroffen, der, abgesehen von einem eingehenden Studium
der Kunst, auch die Sprache sowol in ihrer gegenwärtigen Ge-
stalt wie in ihren literarischen Antecedentien durchforschte, um
sie so geschmeidig wie möglich und seinen künstlerischen Ab-
sichten dienstbar zu machen. Ebenso eifrig schöpfte er aus
Büchern und erlernte auf Reisen, was er von Localkenntniss,
Mythologie, Alterthümern und dergl. für sein Gedicht für nöthig
erachtete'). Er verstand sich auf das Geheimniss, diese seine
•, 1) Dem Augustus, der während des Krieges mit den Cantabrern über
den Zustand der Arbeit unterrichtet sein wollte, antwortete er: de Aenea
quidenuneOjSimeherclejani digunm auribus haberenituis,]ibouterniitterem ;
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 1;'
grosse Gelehrsamkeit nur als Mittel zum Zweck zu gebrauchen
und ihr niemals die Poesie unterzuordnen. Die Alten begriffen
das sehr wol)^), und der Dichter erreichte also den doppelten
Zweck, sowol den Gelehrten von Fach wie zugleich dem ganzen
Publicum zu gefallen. Die wunderbaren Vorzüge der Virgiliani-
sehen Poesie im Gebrauch und der Erschaffung einer dichterischen
Redeweise, in der metrischen Structur, die Genauigkeit der ge-
lehrten Forschung, die er anstellte, um seinen Erzählungen das
richtige Colorit zu geben, sind so deutlich, dass selbst die
strengste und missgünstigste Kritik unserer Zeit in dieser Hin-
sicht das von den Alten dem Dichter gespendete Lob hat aner-
kennen müs^n-).
sed tanta inchoata res est, ut paene vitio mentis tantum opus ingressus
mihi videar, cum praesertim, ut scis, alia quoque studia ad id opus
multoque potiora impertiar. Macrob. Sat. I, 24, 11. Bei einer so schwie-
rigen und delicaten Arbeit überrascht die Mittheilung des Biogi-aphen
nicht (p. 59): traditur cotidie meditatos mane plurimos versus dictare
solitus, ac per totum diem retractando ad paucissimos redigere, uon ab-
surde Carmen se informe more ursae parere dicens et lambendo demum
effingere. Aeneida prosa prius oratioue formatam digestamque in XII
libros particulatim componere instituit, prout liberet quidquid, et nihil
in ordinem arripiens, ut ne quid impetum moraretur quaedam imperfecta
transmisit, alia levissimis verbis veluti fulsit, quae per iocum pro tibi-
cinibus interponi aiebat, ad sustinendum opus, donec solidae columnae
advejirent. Auf die Composition der Aeneis, wie sie heut uns vorliegt,
verwandte er 11 Jahre. Der Tod unterbrach sein Werk; denn er hatte
sich vorgesetzt noch 3 fernere Jahre an demselben zu arbeiten und zu
feilen, und in eben dieser Absiebt unternahm er die für ihn verhängniss-
volle Reise nach Griechenland. Donat. p. 62.
1) „Vergilium multae antiquitatis hominem sine ostentationis odio
peritum." Gell. V, 12, 13. Dasselbe bringt auch Quintihan bei .seiner
Vergleichung Virgil's und Homers in Anrechnung, indem er sagt: ,,et
hercle ut illi naturae codesti atque immortali cessserimus: ita curae et
diligentiae vel ideo in hoc plus est, quod ei fuit magis laborandum et
quantum eminentibus vincimur fortasse aequalitate pensamus" Inst,
or. X, 1, 86.
2) Vgl. Bernhardy, p. 437. Teuffei, p. 397. Hertzberg,
(Uebers. der Aeneis), p. XI, ff. Hermann, Elem. doctr. metr. 357.
Müller, De re metr. p. 140 ff., 183, 190 f. Xiebuhr, Rom. Gesch. I,
p. 112 (3. Ausg.). Ueber die Aeneassage und die Art ihrer Behandlung
durch Virgil vgl. ausser Klausen, Aeneas und die Penaten, 11, p. 12. 49 f.
Rubino, Beiträge zur Vorgeschichte Italiens, p. 68 ff. 156 ff. 173 und
besonders das Lob über die Genauigkeit und Gelehrsamkeit des Dichters
p. 121 — 128. Mit einer oft oberflächlichen und freien, aber nicht unver-
ständigen Kritik hat Weidner in der Vorrede zu seinem Commentar zn
10 Virgil iu der Literatur bis auf Dante.
Tendenz und Charakter des römischen Nationalgefühls waren
der Art, dass der Eindruck, den schon die äusseren und rein for-
malen Vorzüge des Gedichtes hervorriefen, ausserordentlich tief
war." Ja, dieser Eindruck blieb in allen Gestaltungen, denen sich
die Schöpfung des Dichters anbequemte, lebendig, selbst noch in
den schlechtesten Reproductionen des lateinischen Mittelalters. Die
Vollendung des sprachlichen Ausdruckes war für die Kömer von
solcher Wichtigkeit bei einem Kunstwerk , dass man sie als einen
Massstab bezeichnen kann, nach welcher dasselbe beurtheilt
wurde , ja , dass man sie allein vielen anderen Vorzügen gleich
stellte. Die Stellung der römischen Dichter war bisher eine von
den Griechen ganz verschiedene: bei diesen waren die Kunstfor-
men, nachdem sie sich aus dem natürlich fortgeschrittenen Na-
tionalgeiste heraus entwickelt hatten, von einer stets in gleicher
und entsjDrechender Weise entwickelten Sprache unterstützt wor-
den, so dass die Dichter ohne grammatisches und philologisches
Studium dieselbe ihren Intentionen gemäss leicht formen und ge-
stalten konnten. Der Entwickelungsprocess der römischen Lite-
ratur ist weit weniger natürlich gewesen. Eine i'ohe, i'auhe
und uncultivirte Sprache einer literarischen Form, die ihrem Ur-
sprünge nach nicht national und gleichsam plötzlich von aussen
hereingebracht war, dienstbar zu machen, war ein Unternehmen
von ausserordentlicher Schwierigkeit, mit der die ältesten lateini-
schen Schriftsteller zu kämpfen hatten, und welche ihre volle
Thätigkeit in Anspruch nahrn^). Von diesem Gesichtspunkt aus
betrachtet, erscheint die römische Literatur von Livius Andronicus
an bis auf Cicero und Virgil geradezu als eine blose Reihe von
Versuchen, die aus dem fortwährenden Bestreben hervorgingen,
die Sprache für die ästhetischen Anforderungen, welche der grie-
chische Einfluss dem Gefühl und Geschmack auferlegt hatte, ge-
lenkig zu machen^). Eben aus jenem Grunde sowie in Folge des
Einflusses der griechischen Cultur wh-d die grammatische For-
Vergil's Aeneis, Buch I und II (Leipz. 1869) p. 5;^. ff. die Verdienste des
Dichters resumirt.
1) Vgl. L er seh, die Sprachphilosophie der Alten, I, p. 103.
2) Lucrez, der starb, als Virgil ir> Jahr alt war, lässt in seinem Ge-
dicht nicht nur einen derartigen Versuch erkennen, sondern spricht sogar
ganz offen darüber, Hib. I, 135).
,,Xec me animi fallit Graiorum obscura reperta
difficile inlustrare latinis vers^ibus esse,
multa novis verbis i^raesertim cum sit agendum,
propter egestatem linguae et rerum iiovitateni."
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 17
schung von jedem lateinischen Schriftsteller schon geübt, bevor
noch die Literatur sich vollständig entwickelt und der National-
geist Formen aufgefunden hatte, in denen er sich vollkommen aus-
prägen konnte. Dieses letzte Resultat haben erst Cicero für die
Prosa und Virgil für die Poesie erreicht. Beide haben jenem Ideale
einer vollendeten Sprache, jenem Bedürfniss nach Schärfe, Fein-
heit und Harmonie des Ausdruckes so ganz und so richtig ent-
sprochen, dass mit ihrer Arbeit das Streben endlich seinen Ab-
schluss gefunden hat, jeder weitergehende Versuch aber unglück-
lich auslaufen musste. Dieses gewiss nicht kleine Verdienst wurde
zuallererst von den Alten bemerkt und war, da es dem allgemeinen
Bedürfnisse so entgegen kam, eine Hauptursache des Ruhmes jener
beiden. Die Wirksamkeit des Redners wie des Dichters hing so
genau von jenem Vorzug ab, dass man danach den Redner als
Redner und den Dichter als Dichter beurtheilen konnte.
Allerdings ist dieses Gewicht, welches auf die Bedeutung
einer rein formellen Eigenschaft von dem urtheilenden Publicum
gelegt wurde, abgesehen von der damit verbundenen Gefahr, das
essentielle nach dem Werthe des formalen abzuschätzen, nicht das,
was man bei einer gerechten Beurtheilung des künstlerischen Werthes
eines Schriftstellers verlangen muss. Ohne dem zu harten Ausspruche
Mommsen's über das Verdienst Cicero's als Redner beizupflichten,
bleibt doch unzweifelhaft, dass die grosse Berühmtheit auch des
Redners Cicero zum grossesten Theil aus seiner Bedeutung als
lateinischer Schriftsteller hervorgeht, mehr wie aus seinen Ver-
diensten als Redner^). Aus eben diesem Grunde galt Terenz das
ganze Mittelalter hindurch mehr als Plautus, so viel höher auch
dieser als Komiker über jenem stand ^). Wenn nun aber das Ur-
Vgl. auch I, 831 und III, 257. Heffter, Geschichte der lateinischen
Sprache während ihrer Lehensdauer, p. 124 und Herzog, Untersuchungen
über die Bildungsgeschichte der griechischen und lateinischen Sprache,
(Leipz. 1871) p. 196 ff., der jedoch über die augusteischen Dichter mit
grosser Leichtfertigkeit urtheilt (p. 213) und ganz und gar die Bedeu-
tung und den Einfluss der Sprache Virgils auf die Schule, die grammati-
kalischen Werke und die literarische Production vergisst.
1) Vgl. Blass, Die griech. Beredsamkeit in dem Zeitraum von Alexan-
der bis auf Augustus, p. 125 ff'.
2) „Sciendum tamen estTerentium propter solam proprietatem omnibus
comicis esse praepositum, quibus est, quantum ad cetera spectat, inferior"
Serv. zur Aen. I, 410. Schon viel früher hatte Cicero (ad Att. VII, 3,
10) gesagt: „secutusque sum, non dico Caecilium malus enim auctor
latinitatis est, sod Torentium cuius fabellae propter elegantiam sermonis
Comparetti, Virgil im Mitulalter. 2
18 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
theil der Alten über Cicero wegen ihrer Vorliebe für spracliliclie
Vorzüge von der richtigen Bahn ablenkte, in sofern sie ihm einen
Rang einräiimten, der von dem in der Geschichte der Beredsam-
keit ihm gebührenden durchaus abweicht, so hielt sich doch ihr
Urtheil über Cicero in einer der Wahrheit entsprechendem Sphäre,
als das über Virgil, da es der ürtheilsfähigkeit der Alten näher stand;
denn durch die Praxis der Rede und das republikanische Leben waren
in der That die Römer fähiger geworden, einen Redner als
einen Dichter zu beurtheilen, dessen Eigenthümlichkeit weniger als bei
dem ersteren auf dem nationalrömischen Geiste beruhte. Und so
finden wir denn wol über Cicero ürtheile von allgemeinem Cha-
rakter, wobei sowol seine Eigenthümlichkeit als Redner berück-
sichtigt, als auch seine Kunst in ihrem Werthe an sich wie in ihrer
Beziehung zu den griechischen und lateinischen Rednern ei'läutert
wird. Ein Urtheil hingegen, welches die Eigenthümlichkeit Virgils,
ich will nicht sagen, in gerechter, aber erschöpfender Weise darlegt,
findet sich nicht. Und doch ist über ihn mehr geschiiebeu
worden als über irgend einen anderen lateinischen Schriftsteller.
Dieselbe Begeisterung, welche die Aeneis nicht allein bei ihrem
ersten Erscheinen, sondern auch während der Poet noch an der
Arbeit war, und man nur einige Bücher oder Proben des Werkes
kannte, erweckte, rief auch eine Menge Schriften und Kritiken
hervor ^).
Den masslosen Albernheiten einzelner Feinde, nicht Kritiker
des Dichters, halten die zahlreichen Beweise enthusiastischer Be-
wunderung, die ohne Zweifel den Grad und die Natur des allge-
meinen Eindrucks treu wiedergeben , vollkommen die Waage.
Aber Enthusiasmus und Sarkasmus sind nicht Kritik. In wie weit
die Schriften zeitgenössischer Grammatiker sowie solcher des ersten
Jahrhunderts der Kaiserzeit sich bezüglich Virgils auf ästhetische
Fragen einliessen, ist nach den uns gebliebenen Notizen schwer
putabantur a. C. Laelio scribi." Und doch räumte Vulcatius Sedigitus
Caecilius unter den Komikern den ersten Platz ein, den zweiten Plautus,
und den sechsten Terenz. (Gell. XV, 24).
1) üonatus (Vit. Vergil. p. 15) zählt einige einfältige Parodien über
die Bucolica und Georgica von anonymen Verfassern auf, die Aeneo -
mastix" des Carvilius Pictor, ein Werk des Herennius über die P'ohler^
eins des Perellius Faustus über die Entwendungen Virgils und acht
Bücher „Homoeon elenchon" von Q. Octavius Avitus, in denen
sich aufgezeichnet fand „quos et unde versus transtulerit." Asconius
Pedianus, der unter Claudius lebte, schrieb ein Buch zur Vertbeidigiing
Virgils gegen jene Leute und andere ihres Gleichen.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 19
zu beurtheileu; abex" es steht fest, dass wenn die Kunst Virgils
in denselben in bemerkenswerther und hinreichender Weise de-
finirt worden wäre, die uns bekannte Ueberlieferung der Gramma-
tiker, die voll von dem Lobe des Dichters ist, uns dies auch be-
wahrt haben würde. Statt dessen besteht das Beste, was uns
jene erhalten hat, in einer zwar gerechten, aber unzureichenden
Observation des Domitius Afer, welcher ganz äusserlich Virgil
einen Rang in jener Dichterhierarchie, deren Haupt Homer ist,
anwies ^). Die Alten vermochten eben wol mit Gerechtigkeit aber
doch nur äusserlich die Beziehung zwischen der Poesie Virgil's und
Homer's zu erkennen. Von den Urtheilen der Zeitgenossen wird
uns nur ein einziges überliefert"), das, wenngleich boshaft aus-
gedrückt, mit einiger Wahrheit eine allgemeine Charakteristik der
Virgilischen Kunst gibt; aber es berücksichtigt den Dichter nur
von einem oratorischen Standpunct und könnte auch auf einen Red-
ner passen^). Diejenigen ferner, welche Vii-gil einen Vorwurf aus
der Benutzung Homers machten, waren augenscheinlich feindlich
gegen ihn gesinnt, denn sie vergassen, dass so viele andere gi-osse
1) „Utar enim verbis eisdem quae ex Afro Domitio juvenis excepi,
qui mihi interroganti quem Homere crederei maxime accedere: secundus,
inquit, est Vergilius, propior tameu primo quam tertio." Quintil. X, 1, 8G.
Domitius Afer, Praetor im J. 26 n. Chr., starb 59. Vgl. dasselbe Urtheil
versificirt von Alcimus Avitus (5 — 6. Jahrh.) in der Anthologia lat.
(Meyer) No. 259.
2) „M. Vipsanius a Maecenate eum suppositum appellebat novae
cacozeliae repertorem, non tumidae nee exilis sed ex commuuibus verbis,
atque ideo latentis." Donat. Vit. Verg. p. 65.
3) Wahr und gerecht sagt auch HorazT(Sat. J, 10, 45):
„molle atque facetum
Vergilio annuerunt gaudentes rure Camenae."
Jedoch ist zu bemerken, dass diese Worte, nie das ,,rure'"' deutlich be-
weist, sich nur auf Bucolica und Georgica beziehen. Als Horaz das erste
Buch der Satiren (vom .Jahre 41 bis zum Jahre 35 v. Chr. nach den
Meisten) schrieb, dachte Virgil noch an gar keine Aeneis. Der Dichter
beschäftigte sich in jener Zeit mit den Georgica. Wenn die Meinungen
über die Daten nicht so verschieden und ungewiss wären, könnte man
behaupten, dass die Worte des Horaz sich nur auf die Bucolica bezögen.
Hätte Horaz das Gedicht gekannt, so würde er sich gewiss nicht be-
gnügt haben, die Poesie seines Freundes mit jenen Worten zu charakte-
risiren. Virgil war todt, und sein Gedicht schon veröffentlicht, als Horaz
die Ars poetica (9 oder 10 v. Chr.) schrieb; aber die einzige Erwäh-
nung Vii-güs, die sich daiin findet (v. 53), betriflft nur einen Vergleich
zwischen der alten and neuen Schule im allgemeinen in Bezug auf die
Sprache.
2*
20 Viigil in der Literatur bis auf Dante.
Dichter der früheren Zeit^), sowol Römer wie Griechen, sich dasselbe
erlaubt hatten, und dachten ausserdem (wie Virgil selbst auf solche
Vorwürfe zu antworten pflegte)^), nicht an die grosse Schwierig-
keit dieses Unternehmens, wenn es gut ausfallen sollte. Die ziem-
lich freie Benutzung der früheren griechischen wie römischen
Dichter von Seiten Virgils hatte ihre Berechtigung in einer eigenen
Anschauungsweise und in einer den antiken Völkern gemeinsamen
und gleichraässigen Tradition. Daraus dem Dichter einen Vor-
wurf machen wäre damals ungerechter und gehässiger gewesen,
als uns heute scheinen kann, die wir über solche Dinge ganz an-
ders denken^).
Im allgemeinen beschränkt sich die Kritik jener Gramma-
tiker auf Einzelheiten; man spricht über Wortformen, metrische
Structuren, über Partieen des Organismus der Erzählung, man be-
merkt einige Inconsequenzen und Widersprüche und erörtei-t ge-
lehrte Fragen. Spärlich und stets auf Einzelheiten bezüglich sind
die Observationen über den Stil, sie beschränken sich meist auf
Vergleiche: dort ist ein Bild, das Virgil besser oder schlechter als
Homer behandelt, hier eine Beschreibung, in der ihn Pindar
übertroflFen hat. Im Ganzen zeigt sich in allen diesen Bemerkungen"*)
eine gewisse Freiheit und Unabhängigkeit des Urtheils: Virgil wird,
wenngleich man ihn auf dem Felde der Grammatik, Rhetorik und
Erudition als höchste Autorität betrachtet in dieser ersten Epoche
der gelehrten und vernünftigen Grammatiker, nicht blind bewun-
dert. Man erkennt und beleuchtet viele Fehler an ihm, und sogar
Asconius Pedianus gesteht dieselben in seinem Buche, das er gegen
die Neider und Kiitiker des Dichters schrieb, zu. Aber Leute,
1) Vgl. Walther, de scriptorum romanorum usque ad Vergilium
studiis homericis. Vratisl. 1867.
2) „Hoc ipsum crimen sie defendere assuetum ait (Asconius Pedianus) :
cur non illi quoque eadem furta temptarent? verum intellecturos facilius
esse Herculi clavam quam Homero versum subripere." Donat. Vit. Ver-
gib p. 66.
3) Man vgl. hierüber die feine und richtige Bemerkung Hertzbergs
in der Einleitung zu seiner Uebersetzung der Aeneis p. VI. In diesen
s. g. Entwendungen Virgils, wie Teuflei (Gesch. d. röm. Lit. p. 392) will,
einen Beweis von Mangel an Originalität beim Dichter erblicken, ist ein
schwerer Irrthum.
4) Eine kritische Uebersicht der Bemerkungen, welche die Alten
über Virgil machten, findet man in den Prolegomena bei Ribbeck, c. VlIT.
Im Allgemeinen beziehen sich diese Bemerkungen auf die Aeneis, selten
auf Bucolica und Georgica.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 21
welche eine feindliche Gesinnung gegen den Dichter zur Kritik
trieb, finden sich nur unter den Zeitgenossen desselben. Die kri-
tischen Observationen des Hygin und Probus so wie die etwas stren-
geren und zahlreicheren, aber weniger gerechten des Annaeus Cor-
uutus ^) tasteten in keiner Weise den Euhm Virgils an. Man hielt
die Fehler für unvermeidliche Mängel, die jeder menschlichen Schöpfung
anhafteten, und die mau auch beim Homer wahrnahm. Im allge-
meinen galt die Ueberzeugung, dass der grosse Dichter sie ent-
fernt haben würde, wenn ihn der Tod nicht an der Vollendung
seines Werkes gehindert hätte. Ja, man ging auch wol so weit,
dem Dichter die Absicht unterzuschieben, durch Anwendung von
Schwierigkeiten in seiner Dichtung, das Verständniss und den
Scharfsinn der Grammatiker auf die Probe zu stellen^).
So vermochte man also schon in dieser ersten Epoche den
Werth der Virgiliauischen Poesie mehr zu fühlen, denn zu definiren.
Als treuestes Organ des Nationalgefühls, als künstlerisches Pro-
duct, das durchgängig auf das feinste mit dem Geschmacke, den
Tendenzen der Cultur und den Bedürfnissen des Zeitgeistes har-
monirte, übte sie einen ungeheuren und wolberechtigten Zauber aus,
vor welchem selbst der Euhm des grossesten römischen Redners er-
blasste und farblos ward. Aber sobald man von diesem allge-
meinen Eindruck zu den Ursachen und zur Analysis des Gedichtes
übergehen wollte, blieb man bei einem rein äusserlichen und for-
mellen Theile stehen, weil hieraiif ganz besonders das Studium
gerichtet war, und die literaturgeschichtUche Betrachtung nicht za
einer wahren Einsicht in das Wesen des Epos gelangen konnte.
Diese Art der Kritik störte nicht wenig, wie bereits bemerkt wor-
den, auch die Ai;ffassung der Ciceronianischen Beredsamkeit, obgleich
1) Dieser Grammatiker, der Lehrer des Lucan und Persius, scheute
sich nicht vor harten Ausdrücken (abiecte, sordide, indecore etc.) in
seiner Kritik des Virgil. Aber seine allgemeinen Bemerkungen, so weit
wir von ihnen Kenntniss haben, beschränken sich auf nichtige Sophismen
oder offenbare Irrthümer. Und doch war auch er ein Bewunderer des Dich-
ters, wie aus seinen Worten hervorgeht: „jamque exemplo tuo etiam
principes civitatum, o poeta, incipient simiUa fingere." Charis. p. 101
(ed. Keil). . .
2) „Asconius Pedianus dicit se Vergilium dicentem audisse, in hoc
loco se grammaticis crucem fixisse, volens experiri quis eorum studiosior
iuveniretur." Servius zu den EM. III, 105. Cf. Philargyr., und Scholl.
Bern, ebend. Aber wahrscheinlich citirte Asconius die Autorität an-
derer, da er noch nicht einmal geboren war, als Virgil starb. Vgl.
Ribbeck, Prolegg. p. 97 ff.
22 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
die Römer für die Redekunst mehr coiiipetente Richter waren, und
man bei einem Vergleiche zwischen Cicero und Demosthenes sich
auf einem viel festeren Boden befand, als bei einem solchen zwischen
Homer und Virgil. Was letzteren betrifft, so beschränkte die Kritik
den Werth des Dichters auf ein Gebiet, das für einen so grossen
Namen, für die Art und die Universalität des Enthusiasmus, welchen
er erweckt hatte, gar zu eng war. Der poetische und nationale
Werth dieses Namens, das, was zwar im allgemeinen gefühlt,
aber auf jenem engen Gebiete nicht in seiner Wahrheit zur Er-
scheimm'g kommen konnte, war gleichsam das Ferment, durch
welches die definirbare Seite des Gedichtes, die rein gelehrten
Vorzüge, immer grössere und übertriebenere Proportionen annahm.
Der Gedanke an ein universelles Wissen des Dichters ist zwar
noch nicht vorhanden, wol aber der Gedanke an seine litera-
rische Universalität, wodurch Vii-gil in der Poesie und Prosa, in
der Grammatik und Rhetorik, d. h. in den ersten und am meisten
charakteristischen Bestand theilen der Cultnr der Zeit, massgebend
wird; jedermann ist geneigt, wenn er von ihm spricht, die Zahl
und Mannigfaltigkeit seiner Verdienste zu übertreiben; nicht ein-
mal Martial äussert eine ihm allein angehörige Idee, wenn
er sagt, dass Virgil, falls er sich hätte im Drama und in der
Lyrik versuchen w^ollen, ohne Zweifel die grossesten Lyriker
und Tragiker würde übertroffen haben ^). Von Anfang an also
finden sich in dem Ruhme des Dichters die Zeichen und Ur-
sachen einer Verin-ung, die aber, wie wir sehen werden, noch ganz
andere Formen und Verhältnisse annehmen.
Drittes Capitel.
Virgil gehörte zu der kleinen Anzahl von Dichtern, die in
jeder Hinsicht vom Glücke begünstigt wurden. Bewundert wegen
der seltenen Gaben nicht allein seines Talentes sondern auch seines
Charakters, die ihn zu einem der liebenswürdigsten Menschen
1) „Sic Marc uec calabri tentavit carmina Flacci,
Pindaricos nosset cum superare modos;
Et Vario cessit romani laude cothurni,
Quum posset tragico fortius ore loqui.
Martial., VITI, 18.
Man muss hier jedoch gestehn, dass Virgil, wie sichtbar auch sein Eia-
fluss auf die Prosa war, er doch als Prosaiker keinen gi-osseu Namen
hinterliess. „A'^ergilium illa felicitas ingeni in oratione soluta reliquit."
Seneca, Controv. 3, 361 (Bursiau) vgl. Donat. Vit. Verg. p. 58.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 23
uiachteuM, trugen sämmtliche Dichter seiner Zeit kein Bedenken,
tacine Ueberlegenheit anzuerkennen und priesen ihn wetteifernd in
enthusiastischen Worten, wie wir aus den erhaltenen Stellen dieser
Dichter sehen. Es fehlte ihm freilich nicht an Feinden, weil
solche dem Genie niemals fehlen, aber sie verschwanden vor der
Achtung der bedeutenden Männer jeden Ranges und des römischen
Volkes, welches beim Anhören seiner Verse im Theater sich ein-
müthig erhob und dem zufällig anwesenden Dichter ein Zeichen
der Achtung zu Theil werden Hess, wie sonst nur dem Augustus
selbst^). Aus dem Maasse, in dem man bei seinen Lebzeiten
sein Werk pries, konnte er einen sichern Schluss auf die Fort-
dauer und Unsterblichkeit seines Namens machen.
In allen Kreisen der Gesellschaft offenbarten sich die Spuren
von des Dichters Popularität. Unter den Vornehmen, die der Mode
wegen ein Interesse für Literatur zeigten, behandelte die gebil-
dete Frau, wie sie luvenal beschreibt, (nach dem Scholiasten
wäre es Statilia Messalina, das Weib Nero's), in einem Kreise
von Grammatikern und Rhetoren mit grossem Pathos und einem
Ueberfluss von Worten die literarischen Fragen des Tages; sie
sprach von Dido und verglich abwägend Virgil und Homer mit
einander^). Polybius, der Freigelassene des Claudius, ein sehr
einfiussreicher Höfling und literarischer Dilettant, wahrscheinlich
von der Art wie sein Herr selbst, unternahm eine lateinische
Paraphi'ase Homers und eine griechische Virgils, und Seneca spen-
1) „Cetera saue vitae et ore et animo tarn probum coustat ut Nea-
poli Parthecias vulgo appellatus sit.' Donat. Vit. Vergil., p. öl. „anima
candida". Horat. Sat. I, 5, 41. Einige alte Commentatoren des Horaz
haben auch Virgil, wenn gleich mit Unrecht, in den Worten: „Iracun-
dior est paulo etc." Sat. I, 3, 29 S. erkennen woUen.
2) „Malo securum et secretum Vergili recessum, in quo tarnen neque
apud divum Augustum gratia caruit, neque apud populum romauum no-
titia. Testes Augusti epistulae, testis ipse 2)opulus, qui, auditis in
theatro Vergili versibus, surrexit universus, et forte praesentem spectan-
temquc Vergilium veneratus est sie quasi Augustum." Dial. de Ora-
torr. lo. Seine „apud populum romanuui notitia" geht auch aus der
Biographie hervor: „ut.... si quando Romae, quo rarissime commeabat,
viseretur in publico, sectautis demoustrautisque se suifugeret in proxi-
nium tectum." Donat. Vit. Vergil. p. 57.
3) Sat. VI, 434 fi.:
„Illa tarnen gravior, quae cum discumbere coepit
laudat Vergilium, periturae iguoscit Elisae,
committit vates, et comparat; inde Maronem,
atque alia parte in trutiua suspendit Homerum.
24 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
dete ihm in der ihm gewidmeten Schrift für sein Werk ^) ebenso
aufrichtige Complimente wie seinem Kaiser, dem späteren Helden
der Apokolokynthosis. Anch das Theater war ein Feld, auT dem
sich die grosse Popularität des Dichters zeigte. Hier recitirte man
nicht nur zu Virgils Lebzeiten und mehrere Jahrhimderte nach
seinem Tode hindurch seine Verse ^), sondern man benutzte die-
selben sogar zu besonderen Darstellungen. Der von allen Seiten
bedrohte Nero , da er sein Ende herannahen sah , gelobte , wenn
er am Leben bliebe, selbst eine pantomimische Composition Tur-
nus, deren Stoff er der Aeneis entnehmen wollte, zur Aufführimg
zu bringen^). Es gehörte ferner zu einem Raffinement der Mode,
bei reichen Gastmälem unter anderen Unterhaltungen auch Vir-
gilische und Homerische Verse recitiren zu lassen. So sehen
wir bei der üppigen Tafel des Trimalchio die Homeristen eine
Rolle spielen, und hören, wie ein declamirender Sklave den
fünften Gesang der Aeneis misshandelt^). Unter den Geschenken
(Xenia), die man der Sitte nach zu gewissen Zeiten machte, be-
fanden sich auch hin und wieder Bücher, die gerade in der Mode
waren; und darunter einige der kleineren Gedichte, wie die gan-
zen Werke Homers \ind Virgils, häiifig mit dem Bildnisse des
1) Homerus et Vergilius tarn bene de humano genere meriti quam
tu et de omnibus et de illis meruisti, quos pluribus notos esse voluisti
quam scripserant, multum tecum morentur." Dial. XI, (Ad Polyb. de
consci.) 8, 2. „Agedum illa quae multo ingeni tui labore celebrata sunt,
in manus sume, utriuslibet auctoris carmina, quae tu ita resolvisti ut
quamvis structura illorum recesserit, permaneat tarnen gratia. Sic enim
illa ex alia Lingua in aliam transtulisti, ut, quod difficillimum erat,
omnes virtutes in alienam te orationem secutae sint." Ebend. 11, 5.
2) „Auditis in theatro Vergili versibus." Dial. de Oratorr. a. a. 0.
„bucolica eo successu edidit ut in scena quoque per cantores crebro
recitarentur" Donat. Vit. Vergil. p. 60.
3) „Sub exitu quidem vitae palam voverat, si sibi incolumis status
permansiaset, proditurum se partae victoriae ludis etiam hj-draulam et
choraulam et utricularium, ac novissimo die histrionem, saltaturumquc
Vergili Turnum." Sueton. A'^I, 54. vgl. Jahn, im Hermes II. p. 421.
Friedlaender, Sittengeschichte II. 274.
4) .,Ecce alius ludus. Servus qui ad pedes Habinnae sedebat, iussus,
credo, a domino suo, proclamavit subito canora voce: „Interea medium
Aeneas iam classe tenebat." Nullus sonus unquam acidior percussit aures
meas; nam praeter recitautis barbarie aut adiectum aut deminutum cla-
morem, miscebat Atellanicos versus, ut timo primum me Vergilius ofFen-
derit." Petron. Sai. 68.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 25
Dichters geschmückt und sauber auf ein kleines Format ge-
schrieben ^).
Der Name Virgils und der Dichter der neuen Schule blieb
aber nicht blos auf Rom beschränkt, sondern durchlief in einem
Augenblicke auch die Provinzen. Unter den zahlreichen Inschriften,
die man auf den Mauern von Pompeji eingekratzt sieht, befinden
sich einige Verse aus Ovid und Properz , aber weit häufiger Verse
aus Virgil^). Einer von diesen zeigt uns den TOsten Vers der S.Ekloge :
Carminibus Circe socios mutavit Ulixis;
ein anderer lautet:
Eusticus est C'orydon^),
ein dritter, der einen traurigen Eindruck in der zerstörten und ver-
lassenen Stadt macht:
Conticuere om(nes).
Die Inschriften rühren wahrscheinlich von Schülern her, von
denen auch die Alphabete oder Theile solcher herstammen,
die an einigen Stellen in Pompeji auf die Wand aufgezeichnet
sind**). Als sich die Katastrophe Pompejis 79 nach Chr.
1) „Accipe facundi Culicem, studiose Maronis
ne nugis positis Arma virumque canas."
Mart. XIV, 185.
„Quam brevis immensum cepit membrana Maronem !
Ipsius Tultus prima tabella gerit."
Ebend. XIV, 186.
Ausser Homer und Virgil finden wir unter diesen Xenien im Martial
Menander, Cicero^, Properz, Livius, Sallust, üvid, TibuU, Lucan, Catull.
2) Vgl. Bücheier, die pompejanischen Wandinschriften im Rh.
Mus. N. F. XII, 250 ff. Garrucci, Graffiti, tav. VI, 5 (Aen. II, 148).
Neue Ausgrabungen vermehren diesen Bestand der Virgilischen Verse, wie
anderer Schriftsteller. In der Sammlung Zangemeisters „Inscriptiones
parietariae pompejanae^ herculanenses, stabianae" (IV Vol. des Corp.
insc. latt.) Berlin 1871 sind Virgilische Verse oder Theile solcher die
Nummern 1237 (Aen. V, 110) 1282 (Aen. I, 1) 1524 (Ecl. 2, 56) 1527
(idem) 1672 (Aen. I, 1) 1841 (Aen. II, 148) 2213 (Aen. II, 1) 2361
(Aen. I, 1) 3151 (Aen. II, 1) 3198 (Aen. I, 1). Dazu kommen noch zwei
andere im „Giornale degli Scavi di Pompei" 24. Serie Voi. I, 281 publi-
cirte Inschriften p. 281 (Aen. I, 234), Voi. II, p. 35. (Aen. I, 1).
3) Die gewöhnliche Lesart ist: rusticus es Corydon, aber der
Cod. Rom. hat est wie die pompejanische Inschrift.
4) Vgl. Garrucci, Graffiti, tav. I. Wie bekannt unterrichteten die
Elementarlehrer im Freien, auf Plätzen, Strassen und unter Portiken.
Vgl. Ussing, Darstellung des Erziehungs- und Unterrichtswesens bei den
Griechen und Römern (übers, von Friedrichsen, Altena 1870) p. 100 f.
Ueber die auf die Schule bezüglichen Darstellungen der alten pompeja-
nischen Wandgemälde vgl. Jahn: „Ueber Darstellungen des Handwerks
und Handelsverkehrs auf antiken Wandgemälden" (Leipz. 1868) p. 288 ff.
26 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
ereignete, war Virgil seit 98 Jahren todt, aber obwol ohne
Zweifel der grössere Theil der eingekratzten Inschriften in den
Zeitraum zwischen der letzten Katastrophe und der, welche ihr um
16 Jahre vorausging, zu setzen ist, sind doch viele sicher weit
älter; eine von ihnen gehört bestimmt dem Jahre 79 vor Chr. an,
und eins der Alphabete muss man auch, wie es scheint, der Zeit
der Kepublik zuschreiben^). Virgils Name war in Campanien,
seinem Lieblingsaufenthalt, schon so lange er lebte, sehr berühmt;
durch sein Grab in Neapel aber wurde derselbe auf eine ganz be-
sondere Weise localisirt. Nichts hindert uns daher zu glauben,
dass jene Verse auf den Mauern Pompeji's aus einer dem Leben
des Dichters sehr viel näher stehenden Epoche stammen, viel-
leicht gar aus der Zeit, in der er noch lebte. Die Verse „Rusti-
cus est Corydon" und „Conticuere omnes" sind noch heute zwei der
allerbekanntesten Stellen des Virgil, deren sich jeder erinnert, der
die Schule besucht hat. Allein nicht blos die pompejanischen
Graffiti liefern den Beweis für die Popularität Virgils; auch un-
ter den speciell sogenannten Inschriften begegnen uns auf den
Gegenständen der verschiedensten Art Verse des Dichters: auf
einem silbernen Löffel, einem Ziegel, einem Flachrelief, das eine
Wildprethändlerin darstellt, sowie endlich auf Grabdenkmälern^).
Aber der bemerkenswertheste Triumph, den Virgil und an-
dere augusteische Dichter feierten, war doch der Umstand, dass
ihre Werke einen Platz im Untemcht erhielten. Nachdem ein-
mal durch dieselben die Lücke, die sich seit so langer Zeit in der
lateinischen Literatur bemerkbar gemacht hatte , ausgefüllt war,
wäre es Thorheit gewesen, wenn man in der Schule der alten
Tradition hätte folgen und nicht vielmehr von dem neuen leben-
digen Elemente, das sich den Studien darbot, Nutzen ziehen
wollen. Ohne Zweifel mehr, als gewisse Reformen des Augustus,
trug die Entwickelung der Literatur und der Grad der Vollen-
dung, den dieselbe mit Cicero und Virgil erreicht hatte, zum
Aufl^lühen der grammatikalischen Studien, als einer Specialwissen-
Unter den pompejanischen Graffiti ein sehr sonderbarer grammatika-
lischen Inhaltes bei Garrucci, tav. 17. Jahn, a. a. 0. p. 288.
1) Bücheier, a. a. 0. p. 246.
2) Auf einem silbernen Löffel liest man den 17. Vers der 1. Ekloge,
auf einem Flachrelief der villa Albani die Verse 607 ff. des ersten Ge-
sanges der Aeneis; S. Jahn, Ber. d. süchs. Ges. d. Wiss. 1861 p. 365;
auf einemi Ziegel aus dem 1. Jahrhundert die beiden ersten Verse der
Aeneis. S. Archäolog. Anz. 1864 No. 184. p. 199. Virgilische Verse auf
Grabinschriften bei Marini, Frat. arv. p. 826 f. Papiri diplom. p. 332 f.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 27
Schaft, bei. Kaum waren die neuen Dichtungen zu Tage getreten,
als sich Grammatiker ihrer im Unterricht bedienten, unter ihnen
als der erste vermuthlich Q. Caecilius Epirota, ein Fi-eigelassener
des Atticus, welcher nach Sueton zuerst in seinem Elementar-
unterricht die Knaben in der Leetüre Virgils und anderer neuer
Dichter unterwies ^). Für einen , der nicht Specialstudien über den
Zustand der Cultur und den Unterricht jener Epoche gemacht hat,
ist es schwer, sich genau vorzustellen, wie gross die Macht und der
Einfluss der Grammatiker auf die Bildung und Entwickeluug lite-
rarischer Berühmtheiten war. Bei dieser fieberhaften literarischen
Production, die nicht blos durch den Geschmack eines Fürsten
hervorgerufen, sondern auch in Folge des äussern Glanzes der
Zeit Modesache geworden war, weshalb sich sogar ein Trimalchio
als Literat gerirte, waren die Mittel die zu Popularität und Gunst
führten auf das eifrigste begehrt. So bezahlte man bei den reci-
tationes die Claqueurs^), man verschmähte kein niedriges Mittel,
um sein Werk in den Schulen der Grammatiker einführen zu
können, und so die armseligen Producte der eigenen Muse durch
den Unterricht gleichsam einer höheren Weihe für würdig er-
achtet zu sehen. Die Verachtung, mit der Horaz von diesen
Mitteln spricht, beweist, wie sehr sie angewandt wurden^).
Sicher ist es , dass es sich der Mühe verlohnte nach der Ehre zu stre-
ben, in den Schulen gelesen zu werden. Denn eben die Grammatiker
waren es, die jenen Kanon von Poeten auswählten, der allein auf
dem Wege durch die Schulen auf uns gekommen ist. Viele
Schriften wären nicht verloren, wenn sie das Glück gehabt hätten,
von den Lehrern als mustergiltige Lectüi-e eingeführt zu werden;
und so sind auch viele andere erhalten, die diese Ehre eigentlich
nicht verdienten. So lange noch ein gewisser guter Geschmack
herrschte, behauptete Virgil in den Schulen den ersten Platz, und
zugleich mit ihm Terenz, Horaz, Ovid, Catull imd die anderen auf
uns gekommenen Dichter der guten Zeit. Später, als die Rhe-
torik mehr und mehr den Platz der Poesie eingenommen hatte,
1) „Primus dicitur latine ex tempore disputasse primusque Vergilium
et alios poetas novos praelegere coepisse." Sueton. de gramm. et
rhet. 16.
2) Vgl. Helwig, de recitatione poetanim apud romanos, p. 20 f.
3) „Non ego ventosac plebis suffi-agia venor
Impensis coenarum et tritae munere vestis:
Non ego nobilium scriptorum auditor et ultor
Grammaticas ambire tribus et pulpita dignor."
Hör. Epist. I, 19, 37 ff.
28 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
bediente man sich Lucan's, Juvenals, Statins' und anderer als
mustergiltiger Schriftsteller, für die jedoch der Vergleich mit den
ersteren mehr zum Nachtheil ausschlug. Indessen wurden auch
die älteren fortwährend zugleich mit den jüngeren weiter gelesen
und studirt; vor allen Virgil, der mit Homer (so lange die grie-
chischen Studien noch gepflegt wurden) den- Anfang des Unterrichts-
cursus bildete ^).
Das ganze erste Jahrhundert der Kaiserzeit wie einen Theil
des zweiten hindurch kommt das grammatikalische Studium zu
hoher Blüthe, beherrscht das ganze Gebiet der Literatur und gibt
Specialisten Gelegenheit zu wichtigen und gelehi'ten Werken, die
dann von den Grammatikern der späteren Zeiten geplündert wer-
den. Ihr Vorbild fanden diese Arbeiten bis zu einem gewissen
Grade in den grammatikalischen Studien der Griechen. Obgleich
mau aber für die Erklärung Virgils eben so viel that, als fiiiher
für Homer geschehen war, musste doch die Benutzung des ersteren
als einer grammatischen Autorität sehr verschieden von der Art
sein, wie die Griechen den Homer behandelt hatten. Hierin
weicht der Ruhm Virgils von dem Homers, mit dem er ja
äusserlich so viele Bei'ührungspuncte hat, durchaus ab. Homer
war von den Alexandrinern zwar viel studirt imd illustrirt wor-
den, aber seine Sprache und Form hatten damals nur einen hi-
storischen Werth; und wenn sie immerhin noch in gewissen Dich-
tungen aus künstlerischen oder akademischen Gründen angewandt
werden konnte, so hätte sie doch niemals die Basis für eine
grammatikalische Theorie abgeben können, welche dazu bestimmt
gewesen wäre, den allgemeinen Sprachgebrauch der Schrift-
steller zu beherrschen. Virgil hingegen, in welchem sich die la-
teinische Dichtersprache am schönsten und bestimmtesten ent-
wickelt hatte, war und musste die feste Basis imd unantastbare
1) „Ideoque optime institutum est ut ab Homero atque Vergilio
lectio inoiperet." Quint. I, 85.
,,Cui tradas, Lupe, filium magistro
(juaeris sollicitus diu rogasque.
Omnes grammaticosque rhetorasque
Devites moneo; nihil sit illi
Cum libris Ciceronis aut Maronis."
Mart. V, 56.
üummodo non pereat, totidem olfecisse lucernas
Quot stabant pueri, cum totus discolor esset
Flaccus, et haercret nigra fuligo Maroni."
luveual. VII, 215 ff.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 29
Autorität für jede grammatische Theorie und Thätigkeit über-
haupt sein^). Er ist zugleich der Polarstem für alle Gramma-
tiker und in das Studium des Virgil vertieft sich jeder, der
sich jener Wissenschaft widmet^'). Ohne Zweifel gab es kei-
nen anderen lateinischen Schriftsteller, über den so viele Gram-
matiker geschrieben haben, keinen, der so wie er zur Abfassung
gi-ammatischer Werke beigetragen hat.
Seine literarische Bedeutung wie seine grammatikalische Au-
torität erforderten eine grosse Sicherheit in der ursprünglichen
Lesart seines Textes, imd mehrere Kritiker beschäftigten sich da-
mit, nicht allein denselben durch Conjecturen zu verbessern, son-
dern auch durch Herbeiziehung wichtiger, von seinen Erben her-
stammenden Manuscripten und Autographeu, die es noch zu den
Zeiten des Plinius, Quintilian und Gellius gab, zu emendiren^).
Ausser der Textkritik bildete die Erklärung schwieriger Stellen, Wörter,
mythologischer und geographischer Citate , wie stilistische Be-
trachtungen dieser oder jener Stelle für sich und im Vergleiche
mit einem anderen griechischen Schriftsteller, die Hauptgegen-
stände der gelehrten Abhandlimgen des Hygin, (eines Freundes des
Ovid und der neuen Dichterschule) ''^) , des Probus, den man den
lateinischen Aristarch nennen darf, des Annaeus Cornutus
und anderer nicht einmal vollständig bekannter Grammatiker,
deren Aiifzähluug wir übergehen können; während andere wie
1) Quintilian, indem er von corte x, das als masculinum und fe-
mininum gebraucht wird, spricht, sagt: .... „quorum neutrum reprehendo,
cum sit utriusque Vergilius auctor" I, 5, 35. Die Grammatiker der spä-
teren Jahrhunderte halten an dieser Tradition unverrückbar fest : „stiria
dicuntiu; ab stillis, quae Vergilius genere feminine, Varrò neutro dixit;
sed vicit Vergili auctoritas." Lib. de dubiis nominib. Keil. V, 590; „mella
tantum trijitotou est; vicit propter auctoritatem Vergilianam." Fragm.
bot. de. nomine. Keil V, 558.
2) „Grammaticus futurus Vergilium scrutatur." Seneca Epist. 108.
3) „lam vero Ciceronis ac divi Augusti Vergilique (monimenta manus)
saepenumero videmus." (Plin. Nat. bist. XIII, 83). Quo modo et ipsum
(Ciceronem) et Vergilium scripsisse manus eorum docent." Quintil. I, 7, 11.
„Quod ipse (Hyginus) invenerit in libro qui fuerit ex domo atque familia
Vergib," Gell. N. A. I, 11, 1. „in primo Georgicon, quem ego, inqmt
(Probus), manu ipsius . correctum legi." Ebend. XIII, 2, 4. „qui scripse-
runt idiographum librum Vergili se inspexisse." Ebend. IX, 14, 7;
„ . . . . ostendisse mihi librum Aeneidos secundum mirandae vetustatis,
emptum in sigillariis viginti aureis, quem ipsius Vergili fuisse credebatur."
Ebend. II, 3, 5.
4) „Vatum Studiosus novorum" nennt ihn Ovid. Trist. III, 14, 7.
30 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
Asper Commentare schrieben, welche des Dichters Werke erläu-
terten.
Abgesehen von den direct auf Virgil bezüglichen Arbeiten, gab
es nun aber auch viele grammatikalische Werke , in denen die aus
Virgil angeführten Beispiele die aus anderen Schriftstellern ent-
lehnten bei weitem überwogen. Daher entstand eine Wechsel-
wirkung zwischen den Commentaren zum Virgil und den gram-
matikalischen Arbeiten, in Folge deren sich eine Bemerkung die
zu den ersteren gehört, in letzteren wiederfindet und umgekehrt^).
Jene Schriften sind uns freilich nicht unmittelbar bekannt, aber die
späteren Grammatiker, die sich derselben für ihre Compilationen
bedienten, können uns eine Idee von der Art geben, wie man
den Dichter benutzte. Der hauptsächlichste Vorzug, in Folge
dessen Virgil in jenen Werken als der König der Schriftsteller er-
scheint, war die Proprietät seiner Sprache^). Einen klaren Be-
leg für die Autorität des Dichters bei den Grammatikern haben
wir z. B. in dem gegen das Ende des 3. Jahrhunderts verfassten
Werke des Nonius, in welchem der Autor wenig oder nichts von
sich selbst gab und sich darauf beschränkte, frühere Werke zu
compiliren, was für uns gerade von Werth ist. In dieser nicht
allzu vimfangreichen Schrift, in der wii- so zu sagen die Summe
aller der von fi-üheren Grammatikern angeführten Autoritäten be-
sitzen, belaufen sich die aus Virgil entnommenen Beispiele auf
1500^), an welche Ziffer keiner der zahlreichen andern citirten
Schriftsteller weder aus der Zeit der Republik noch der Kaiser-
herrschaft (der jüngste ist Martial) nur von fern heranreicht. Und
dasselbe Uebergewicht findet man auf dem ganzen Gebiete gram-
matikalischer Studien, wovon man sich leicht überzeugen kann,
wenn man z. B. das Verzeichniss der citii'ten Autoren in der Keu-
schen Ausgabe überblickt. Um es kurz zu sagen, der Gebrauch,
den die Grammatiker von Virgil machten, ist so ausgedehnt, dass,
wenn auch alle Handschriften des Virgil verloren wären , man mit
Hilfe der Notizen, welche uns die Alten über die Dichtungen
Virgils gellen, und der daraus allein von den Grammatikern ci-
tirten Stellen Bucolica, Georgica und Aeneis zum gTössten Theile
1) Vgl. Keil, Gramm. Lat. V, 7. (Praef. ad Cledonium).
2) „Quis ad sophisticas Isocratis conclusiones, quis ad entliymeiiiata
Deuiosthenis, ant opulentiam Tulliauam aut proprietatem nostri Marouia
accedat?" Auson. Epist. XVII, 3.
.S) Schmidt, de Nouii Marcelli auctoribus grammatici^, p. 4. f. 96. fl'.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 31
reconstniii-en könnte^). Der grössere Theil dieser Beispiele hätte
ohne Zweifel auch einem anderen Autor entlehnt werden können;
aber die Autorität Virgils war eben geradezu die erste, Virgil
war gleichsam die Bibel jener Leute, das erste aller scholastischen
Bücher, das Jedermann zur Hand hatte.
Die Schule und der mündliche Unterricht bildeten den Mittel-
punct für die Thätigkeit aller dieser Grammatiker. Das jedoch,
was wir mittelbar von ihren Schriften kennen, gehört sicher nicht
in die niederen und elementaren Regionen des Unterrichtes. Va-
lerius Probus, der ausgezeichnetste unter den Erklärern Virgils,
hielt keine eigentliche Schule, sondern sprach nur über gelehrte
Gegenstände vor einem kleinen und gewählten Zuhörerkreise.
Nichts destoweniger wurden einige gelehrte und wichtige Abhand-
lungen, wie z. B. die des Asper, für den Unterricht geschrieben,
und im allgemeinen benutzte man viele Observationen und Erläu-
terungen, die sich in kritischen imd gelehrten Abhandlimgen fan-
den, für die Schule. Vermittelst der auf uns gekommenen gelehr-
ten Literatur jener Zeit lässt sich beinahe der Gang des Elemen-
tarunterrichtes errathen. Virgil war das erste lateinische Buch,
das die Kinder in die Hände bekamen, nachdem sie lesen und
schreiben gelernt hatten, und später diente dasselbe ebenso zum
höheren, wie zum Elementarunten-icht. Zuerst benutzte es der
Lehrer um den Schüler siungemäss lesen zu lehren, indem er da-
lie! zeigte, wann die Stimme pausiren, wann sie sich heben und
senken müsse"). Diese Wahl des Virgil fwie auch des Homer)
als Leetüre für die Schule wird von Quintilian gelobt nicht allein
wegen der Schönheit ihrer Poesie, sondern auch wegen des ehren-
haften und edlen Gefühls, welches beide Gedichte athmeu; „obgleich",
so fährt er fort, ,,zum Verstau dniss ihrer Schönheiten ein reiferes
Urtheil gehört; doch dafür sorgt die Zeit, denn man liest diese
Werke nicht blos einmal^)". Ferner bediente sich der Gramma-
tiker derselben Leetüre, um die Knaben darin zu üben, die poe-
tischen Perioden in Prosa zu verwandeln, die Quantität der Worte
zu erlernen und alles das wahrzunehmen, was unregelmässig,
1) S. die Anmerkungen in der Ausgabe von Ribbeck.
2) Quintil. I, 8, 1.
3) „Quamquam ad intelligendas eorum virtutes fu-miore iudicio opu.s
est; sed huic rei superest tempus, neque euim semel legentur. Interim
et sublimitate heroici carminis animus assurgat, et ex magnitudine rerum
spiritum ducat, et optimis imbuator. Quint. I, 8, 5.
32 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
fremd und nicht spracbgemäss ist, „abtr nicht um die Dichter zu
tadeln, denen aus metrischen Gründen viele Freiheiten gestattet
sind^)". Und so kommt der Knabe mit Hilfe dieser Uebung da-
hin, sich in der Erklärung und Erläuterung zu versuchen. Freilich
hing dies alles mehr oder weniger von der Kenntniss der Gramma-
tiker ab, die im allgemeinen nicht allzu gross war. Manche
unter ihnen waren sogar ziemlich ungebildet, um von vielen Char-
latanen ganz zu schweigen. Den weniger gebildeten empfiehlt Quin-
tilian das, was sich in den am häufigsten bei dem Elementar-
unterricht angewandten Handbüchei-n, fand").
Viertes Capital.
Einen ähnlichen Rang wie bei dem grammatischen Unterricht
behauptete nun aber auch Virgil bei dem rhetorischen Studium,
welches unmittelbar auf jenen folgte und eng mit ihm zusammen-
hinge). Viele Lehrer, besonders in der älteren Zeit, gaben sich
mit ■ beiden Unterrichtsgegenständen zugleich ab '*). Aber wäh-
rend die Grammatik im ersten Jahrhundert aufblühte, sank die
Rhetorik immer tiefer. Sie ist eine Schmarotzerpflanze, der mit
dem Aufhören der Freiheit jeder nährende Boden entzogen ist,
und die sich nur künstlich aufrecht erhält, indem sie in das Feld der
Literatur eindringt, wo sie dieser ein neues Colorit gibt und ihre
Producte verfälscht. Bei der fieberhaften Declamationssucht, die so
allgemein war, dass sich nach ihr Zweck, Wissenschaft und Methode
des Unterrichtes und der allgemeinen Erziehung gestalteten, war
der Gebrauch Virgils sehr verschieden. In der Theorie der Rhe-
torik, in allem was sich auf die Vorschriften iind Regeln derselben
1) Quinti). I, 8, 13 ff.
2) „Et grammaticos officii sui commonemus. Ex quibus si quis erit
plane impolitus et vestibulum modo artis huius ingressus, intra haec
quae profitentium commentariolis vulgata sunt consistet; doctiorcs multa
adicient." Quintil. I, 5, 8.
3) „Enimvero iam malore cura doccat (grammaticus) tropos omnes,
quibus praecipue non poema modo, sed etiam oratio ornatur, Schemata
ntraque idest figuras etc. etc." Quintil. I, 8, IG.
4) Veteres grammatici et rhetoricam docebaut ac multorum de utraque
arte commentarli feruntur ; secundum quam consuetudinem posteriores quo-
que existimo, quamquam iam discretis professionibus, nihilo minus vel reti-
nuisse vel instituisse et ipsos quaedam genera institutionum ad eloquentiam
praeparandam ut problemata, paraphrasis, allocutiones, ethologias atque
alia hoc genus ; ue scilicetsicci omnino atque aridi pueri rhetoribus trade-
rentur." Suet. De grammat. et rhetor, 4.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 33
bezog, entnahm man natürlich für- die Exemplification sehr viel aus
dem Dichter, der schon durch den vorangegangenen Elementai'-
unterricht bekannt und beniitzt genug war, und nach welchem
der Grammatiker die Knaben im Aufsuchen von Tropen und Fi-
guren eingeübt hatte. In der Praxis, die für die Schulen
die Hauptsache war, zog man aus Yirgil, abgesehen von den
Stoffen für die Declamation, Sentenzen, Bilder, Gedanken, rheto-
rische Kunstmittel, ahmte seine Beschreibungen nach imd copii^te
einige glückliche Ausdrücke. Und dieser Gebrauch des Dichters
inner- wie ausserhalb der Schule findet sein Vorbild schon in
frühester Zeit unter den ausgezeichnetsten Rhetoren des Augustei-
schen Zeitalters, unter welchen ganz besonders Arellius Fuscus,
einer der zahlreichen Freimde des älteren Seneca, um sich bei
Maecenas in Gunst zu setzen^), viel von Virgil annahm. Dem-
selben Zwecke hatte auch bereits früher Homer gedient, in wel-
chem die Alten das fi-üheste Denkmal des rhetorischen Studiums
erkannten; sah man doch sogar die Reden der Helden von einem
rhetorischen Standpunct aus an. Selbst der nüchterne Quintilian ge-
räth in Enthusiasmus, wenn er von den Vorzügen der in jeder Hin-
sicht so grossen Homerischen Beredsamkeit spricht^). Viel leichter
aber war es, rhetorische Vorzüge aus Virgil herauszufinden, wel-
cher in der That nicht weniger als alle Dichter der Augusteischen
Zeit die Schule der Grammatiker und Rhethoriker durchgemacht
hatte. Ovid beweist in seinen Herolden i^suasoriaej deutlich das rhe-
torische Studium jener Dichter. Es kann ferner auch nicht blos
Zufall sein, werm die ältesten Citate Virgilianischer Verse sich in
dem Munde von Rhetoren finden, die des Dichters Zeitgenossen
waren und sich derselben für ihre Compositionen bedienten^).
Wenn die .Augusteischen Dichter die Rhetorik noch insofern ab-
zuwehren wussten, als sie dieselbe nicht mit der Poesie identificirten,
1) „Solebat autem ex Vergilio Fuscus multa trahere ut Maecenati
imputaret." Senec. Suas. 3.
2) „Hie enim quemadmodum ex Oceano dicit ipse amnium fontiumque
cursus initium capere, omnibus eloquentiae partibus exemplum et ortum
dedit Xam, ut de laudibus, exhortatiouibus, consolationibus taceam,
nonne vel nonus über quo missa ad Achillem legatio continetur, vel iu
primo inter duces illa contentio, vel dictae in secundo sententiae omnes
litium ac consiliorum explicant artes?.... Jam similitudines, amplifica-
tiones, exempla, digressus, signa rerum et argumenta ceteraque probandi
ac refutandi sunt ita multa ut etiaui qui de artibus scripserunt plurimi
harum rerum testimonium ab hoc poeta petant." Quint. X, 1, IG iF.
3) Man sehe die oben citirten Beispiele aus dem älteren Seneca.
C omparett i, VirRÜ im Mittelulter. ^
34 Yirgil in der Literatur bis auf Dante.
uuteiiagcu Jie späteren völlig dem Einfliisse dieses für die rö-
mische Literatur so wesentlichen Factors, und Lucan, Silius Ita-
licus, Valerius Flaccus, Statius sind in Wahrheit nur versificirende
Rhetoren. Diese Gleichstellung von Poesie und Ehetorik brachte
es mit sich, dass beide Gattungen sich gegenseitig ihre Mittel
abborgten. Da der Geschmack vom Rhetor dasselbe wie vom
Dichter verlangte, so musste die Poesie bei der Rhetorik Unter-
stützung suchen. Die Redekunst aber war inhaltslos geworden
und kümmerte sich nicht mehr um die logischen Hilfsmittel, welche
eine verständige Ueberredung bezwecken; sie beschränkte sich auf
literax'ische und formale Mitttel, und fiel schliesslich jeder sub-
jectiven Grundlage baar, Aufgaben anheim, die jeder Realität*
und jedes Interesses entbehrten. Dadurch kam der Redner in die
Lage des Poeten, und war fortan bestrebt, den künstlerischen und
idealen Charakter der Poesie auch der rein praktischen Rhetorik
aufzuprägen. Indem man begeisterungslos über kindische, fingirte
und interesselose Gegenstände oft aus dem Stegreif zu decla-
miren begann, musste der Mangel an Wärme und lebendiger
Eegeisterung künstlich verdeckt werden. Man nahm also zu
dem Zauber der poetischen Sprache seine Zuflucht, um so mehr,
als der Geschmack des Publikums sich daran gewöhnt hatte,
den Wortklang und die affektii-te Phrase zu bewundern ^). Unter
allen Dichtungsgattungen aber entsprach keine so dem Geschmacke
jener Leute, als die epische, weil sie am wenigsten subjectiv und
am reichsten an stilistischen Abwechselungen und rhetorischen
Situazionen war. Was poetische wie rednerische Vorzüge anlangt,
so stand Virgil nach allgemeiner Anschauung unter allen Dichtern
nur dem Homer nach, und dies gibt auch Quintilian zu, der
sonst den übermässigen Gebrauch der Dichter seitens der Redner
missbilligt und z. B. von dem poetisch armen Lucan geradezu
sagt, er sei für die Redner wichtiger als für die Dichter"). Wie
1) Eine Probe der poetischen Productionen, welche in dem von Do-
mitian veranstalteten Capitolinischen Wettkampfe ausgezeichnet wurden,
besitzen wir in der Inschrift zu Ehren des 12jährigen Knaben Q. Sul-
picius Maximus, welcher sich dm-ch die Improvisation griechischer in
der Inschrift angegebener Verse ausgezeichnet hatte. Sie sind ihrem Ton
und Inhalt nach rein rhetorisch. Von der Poesie ist nichts als das Vera-
nlass übrig geblieben. Vgl. die Ausgabe C. L. Visconti's „11 Sepolcro
di Q. Sulpicio Massimo" Roma 1871.
2) „Ut dicam quod scntio, magis oratoribus quam poetis imitaudus"
X, 1, 90. Dass die Redner am Virgil und Hovaz lernen sollen, wird
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 35
sehr Virgil vou den Rethoreu damaliger Zeit benutzt wurde, sehen
wir zur Evidenz aus Annius Florus, welcher im Anfang des 2.
Jahrhunderts in einer Specialschrift die Frage behandelte: „ob
Virgil mehr Eeduer als Dichter sei^j". Natürlich war die Au-
torität Cicero's unter den Rhetoren gross, die Virgils war es aber
in dem Grade, dass, wie der Verfasser des Dialogus de Oratori-
l)ns bemerkt, es leichter war, jemanden zu finden, der von Cicero
als von Virgil schlecht spräche^}.
Es war das Schicksal dieses Dichters, stets zu glänzen, mochte
die Zeitströmung, die ihn der Nachwelt überlieferte, klar oder
trübe sein. Seneca, welcher Declamation und rhetorische üeber-
treibung mit der Philosophie zu verschmelzen suchte und auch
trotz aller Mängel dabei durch seinen Geist überrascht, citirt
keinen Autor so oft wie Virgil, den er hoch verehrt, und den
sein Vater noch persönlich gekannt hatte ^). Er gefiel den Rhe-
toren schlechten Schlages wie denen, welche sich der Zeitströ-
mung entgegen setzten; er gefiel Quintilian*), der sich unuöthig
bemühte, die stilistischen Studien auf den richtigen Weg zurück-
zubringen, wie dem Verfasser des Dialogus de Oratoribus imd,
falls beide nicht eine Person sind, dem Tacitus, der, so hoch er über
dem gemeinen Geschmacke und den Tendenzen der Schule
stand, doch nicht selten zeigt, den Virgil gut gelesen und studirt
zu haben ^). Aber die Universalität dieser Bewunderung wird ganz
besonders dadurch charakterisirt , dass sich auf dem Felde der
auch im Dialogus de Üratoribus, 20 vorgeschlagen: „exigitur enim iam
ab oratore etiam poeticus decor, non Acci aut Pacuvi veterno inquinatus,
sed ex Horati et Vergili et Lucani sacrario prolatus."
1) „Vergilius orator an poeta." Von der Schrift ist nur der Anfang
erhalten, zuerst von Ritschi, dann von Jahn im Florus (Leipz. 1852)
publicirt.
2) Flures hodie reperies qui Ciceronis gloriani quam qui Vergili de-
tractent." De Or. 12.
3) Diese Verehrung drückt er enthusiastisch so aus: „Clamat ecce
maximus vates et velut divino ore instinctus salutare Carmen canit:
optima quaeque dies etc." Dial. X (de brev. vit.) 9, 2. An einer
anderen Stelle: „Homerus et Vergilius tam bene de humano genere
meriti:" Dial. XI (ad Polyb. de Consol.) 8, 2. „vir disertissimus." Dial.
Vili, 1.
4) „Auctor eminentissimus" I, 10, 10. „acerrimi iudicii" Vili,
?,, 24. „poesis ab Homero et Vergilio tantum fastigium accepit" Xll,
11, 26.
5) Vgl. ausser Ernesti auch die Bemerkungen Dräger's „Syntax
und Stil des Tacitus" Leipz. 1868.
3*
3(3 Viigil in der Literatiu- bis auf Daute.
Literatur eine den Augusteischen Dicbteini ungünstige Eeactiou
erhebt, deren Ausdehnung wir kenneu lernen müssen, ura uns zu
erklären, wie gerade Virgil und einige andere Poeten seiner Zeit
davon keinen Schaden gelitten haben.
Unter den vielen Kunstmitteln, durch welche die Rhetoren
der verschiedenen Schulen bei der grossen Beliebtheit der Decla-
mationeu dem Verlangen nach Neuheit Rechnung trugen, suchte
man der Rede einen ernst feierlichen Charakter zu geben, indem man sie
verschränkte und dunkel machte. Einfach, klar xind natürlich zu schrei-
ben wäre für viele wie für manche Schriftsteller der Gegenwart ein
Majestätsverbrechen gegen die Rhetorik gewesen. Ein Redner sagte
zu seinem Schüler: „Dunkler, dunkler!", und der Schüler machte
es dunkler. „Genug!" i*ief der Lehrer endlich zufrieden aus, „so
ist's gut; jetzt ist es sogar mir vmmöglich, etwas davon zix
verstehen^)". Diese AfFectirtheit, die durch den Schein von Tiefe
und Gelehrtheit imponiren wollte, führte auch zum Gebrauche un-
gewöhnlicher und veralteter Wörter, somit zu einer Reaction gegen die
letzte grosse Dichterschule und einem Hervorsuchen der älteren
Schriftsteller. Die Reihe von Versuchen, durch die sich bei den
Römern die Literatursprache bildete, brachte es natürlich mit sich,
dass auch nach der Auffindung einer bestimmten Form für Poesie
und Prosa, selbst den Schriftstellern, welche zwar nicht selbst das
Ziel ei-reicht, doch aber zu seiner Erreichung beigetragen hatten,
eine gewisse Autorität blieb. Abgesehen von den wirklichen Ver-
diensten welche die Verehrung der alten Poeten und Prosaiker
bewirkten, gab es mei'kwürdiger Weise geradezu eine theoretische
Tradition, welche im grammatischen Studium und der philologi-
schen Bildung auch für den Schriftsteller der besten Zeit die Au-
torität der Alten fest hielt. Somit hatten die Grammatiker
jener Sphäre, aus der die Bildung jedes Schriftstellers hervorging,
Gelegenheit, fortwährend die alte Literatur zu berücksichtigen.
Die neue Richtung aber, das Resultat der Einwirkung Cicero's
und Virgils, bot zwar in diesen beiden Mustern einen reichen
Schatz gewählter Ausdrucksformell dar, der jedoch für den, welcher
mit den rein mechanischen Regeln der Grammatik nicht auch
feinen, natürlichen Geschmack verband, nicht so leicht zu ver-
werthen war. In einer Zeit, in der philologische Bildung und
Gelehrsamkeit allgemein bewundert und vom Publicum bei den
Schriftstellern verlangt ward, einer Zeit, in der ein beträchtlicher
1) Quintil. VIIT, 2, 12 ff.
Virgil iu der Literatur bis auf l>iintt'. 37
Theil des literarischen Besitzthums der Nation in einer grossen
Zahi unvollkommener aber gleich wol nicht verächtlicher alter
Autoren bestand, konnte der Geschmack des Schriftstellers iu der
Auswahl und Anwend\mg der Musterautoren leicht fehl greifen.
Veraltete Wörter sind oft von besonderer Wirkung und bilden
ein wirksames rhethorisches Mittel ^). Aber bei ihrer Anwendung
keinen Fehler zu machen, verlangt ein ausgesuchtes künstlerisches
Urtheil, das nicht jedem gegeben ist^). An Grammatikern und
Schriftstellern, welche für den alten Stil und die antiquirten Wörter
eine Vorliebe zeigten, fehlte es auch in der besten Zeit der la-
teinischen Poesie und Prosa nicht. Schon Cäsar ^) tadelte dies
Streben, ebenso Horaz, Virgil^) imd noch später Seneca, Quin-
tilian u. a. Allein die Blüthe der Prosa und Poesie unter Augustus
so wie der damals herrschende feinere und mehr geläuterte
Geschmack Hessen nicht zu, dass jene Richtung gi'össere Dimen-
sionen annahm. Als aber die Form bei den Werken die Oberhand
bekam und der Inhalt immer mangelhafter wurde , machte sie
sich zur Zeit der Antonine wieder fühlbarer. Die gräcisii'endeu
Tendenzen einiger Kaiser, ihre Vorliebe (besonders des Hadriau)
für literarische Pröducte der Alexandriner, die Bewunderung, die
das Pomphafte, Mysteriöse, Fremde fand, (das ganz besonders in
dieser Charlatanen ungemein günstigen Epoche dominirte), das Bedürf-
niss endlich, dem Mangel künstlerischer Schöpfungen durch künst-
liche Mittel zu Hilfe zu kommen , führten von selbst zum Archais-
jiius und zu ungewöhnlichen Wörtern, womit leeren, hochtrabenden
Phrasen ein Reiz vmd eine scheinbare Wichtigkeit verliehen wer-
den sollte.
Der bekannteste Repräsentant dieser Richtung ist der Cicero
jener Zeit, M. Aurelius Pronto, des Antoniuus Pius Lehrer, ein
Altmeister der Pedanterie, von dem auch die Vorschrift herrührt,
„insperata atcpie inopinata verba" aufzusuchen und den Werken
eine alterthümliche Färbimg zu geben („colorem vetusculum
1) „Propriis (verbÌ!<) diguitatem dat autiquitas. Xamque et sanctiorem
et magis admii-abilem faciimt oratioueru; quibus uou quilibet fiierit usii-
rus." Quintil. VIII, 3, 24.
2) „Odiosa cura; uam et cuilibet facilis, et hoc pessima quod rei
btudiosus, non verba rebus aptabit, sed res extrinsecus arcessit quibus
haec verba conveniant." Quintil. Vili, 3, 24. 30.
3) ..Tamquam scopulmn sie fugias inauditura atque insolens verbum"
ap. Gell. I, 10, 4.
4) Catalect. 2.
38 \'iigil iu der Litoi-atui- bis auf Dautc.
uppingere"). So weit wir aus seinen Schriften urtlieileu können,
machte er von den Augusteischen Dichtern in seinen stilistischen
und Sprachstudien sehr wenig Gebrauch. Hie und da findet sich
wol eine Reminiscenz aus Virgil und Horaz ^), die jedoch auf
Rechnung des allgemeinen Einflusses der Schule, in der er selbst
gebildet wai-, kömmt. Den Virgil erwähnt er kaum ein Mal^), und
von Horaz spricht er wie von einem nicht unerwähnenswerthen
Dichter^). Fronto war in der That das Haupt einer ausgedehnten
lihetorschule , deren Traditionen besonders in Gallien mächtig
waren ^). Indess beschränkte sich doch dieser EinÜuss auf das enge
Gebiet der rein rhetorischen Prosa imd hat iu den auf uns ge-
kommenen Schriftstellern nicht sehr deiitliche Spuren zurückge-
lassen. Uebrigens glaube ich aus mancherlei Anzeichen schliessen
zu können, dass nicht alle Frontonianer in der Beurtheilung und
Benutzung der Augusteischen Schriftsteller ihrem Meister folgten.
In dem Kreise der Freunde und Bewunderer Fronto's selbst fin-
den wir Männer, welche nicht allein Virgil in ihren grammatischen
und gelehrten Abhandlungen stark benutzen, sondern denselben
1) Vgl. Herz. Renaissance mid Rococò not. 76. Fronto schrieb man
früher das Werk zu, das den Titel führt „Quadriga, seu exempla elocu-
tionum ex Vergilio Sallustio Terentio Cicerone"; das jedoch, wie man
später gesehen, von Arusiauus Messius herrührt. Vgl. Bernhardy
p. 878.
2) Gellius 11, -20, 1.
3) „Plane multum mihi facetiarum contulit istic Horatiiis Flaccus,
luemorabilis poeta, mihique propter Maeceuatcm ac maecenatianos
hortoB meos non alieuus." Ad Caes. II, 1. Die Dichter, die sein kaiser-
licher Schüler best, sind Plautus, Accius, Lucrez, Enuius, „aut le
Plauto expolires, aut Accio expleres, aut Lucretio delenires, aut Euuio
iuceuderes." De feriis Alsicusibus, .'J. p. 224 (cd. Du Rieu). Die Schule
der entgegeugesetzten Richtung, welcher Quiutilian und der Autor des
Dialogus de Orat. angehören, Hess Virgil, Horaz und Lucan lesen; vgl.
Dial. de or. 20.
4) Die meisten Autoren, von denen Fronto gelobt wird, sind Gallier:
Ausonius, Claudius Mamertus, Eumenius, Sidonius. Auch der Gramma-
tiker Consentius, der den Fronto citirt (Keil, V, 334), ist ein Gallier. Leo,
der Rathgeber des Gotenkönigs Eurich rühmte sich, von Fronto abzu-
stammen. Ihm schreibt sein Freund Sidonius: ., suspende perorandi illud
(quoque celeberrimum flumen quod non soluni gentilitium sed doniesti-
cum tibi, quodque in tuum pectus succi duas aetates ab atavo Frontone
trausfunditur." (Sid. VIII, 3). Fronto gefiel auch seinen Landsleuten in
Africa, wie man aus Minutius Felix und Marcianus Capella sieht. Sein
grösster Lobredner bleibt jedoch, abgesehen von seinem Zeitgenossen
Gellius, Sidonius, der vor allem seine „gravitas" bewundert.
Adirgli in der Lik-ratur bis auf Dante. ol'
auch zum Gegenstände von Specialarbeiten machen, wie z. ß.
Sulpicius Apolliuaris , der Lehrer des Pertiuax, welcher seiner
Aeneisausgabe jene 3 berühmten Disticha vorausschickte, die sich
auf den Befehl des sterbenden Dichters, sein Wei'k zu verbrennen,
bezogen, imd welcher die Inhaltsangaben der einzelnen Bücher
yersitìcirte ^). Sicher ist, dass diese Bewegung des Froutonia-
nismus sich in der Literatur nur in beschränkter Weise geltend
machte und nicht auf die Volksschulen, welche im Kaiserreiche das
Fundament der Erziehung bildeten, erstreckte. Hier blieb die Au-
lorität Virgils und der anderen Dichter bestehen, trotz Fronto,
und es war keine Gefahr vorhanden, dass sie etwa dui'ch die des
Fjinius, Lucilius oder Lucrez verdrängt werden könnte.
Diese Reaction und wiedererwachende Verehrung der Alten
war freilich nicht allein von Fronto und den Frontoniauern reprä-
sentirt. Bei Fronto zeigte sich die Uebertreibung mehr in seiner
Lehrmethode und der Auswahl der Musterbeispiele als in seinem
Stile; andere, die unbekannter geblieben sind, betrieben die Sucht
nach dem antiquirten in noch ganz anderer Weise. Dennoch über-
trieb Fronto auch selbst gegenüber den Leuten, die sonst seinen
Geschmack theilten; denn Niemand unter allen Verehrern der
Literatur wäre je so weit gegangen, deshalb das Studium des
Virgil ausser Acht zu lassen.
Ein für die Keuntniss des Ideenkreises der Schriftsteller und
die Richtung der Studien dieser Zeit wichtiges Buch ist die Schrift
des Gellius. Gellius ist kein Frontonianer ; welcher Schule er als
Grammatiker angehörte, lässt sich überhaupt nicht sagen ^j. Er
ist nichts anderes als ein gebildeter Dilettant, der über verschie-
dene Gegenstände Bemerkungen samm.elte, die er theils aus Büchern
iheils aus literarischen, von ihm frequentirten Kreisen zusammen-
trug. Mit Vorliebe beschäftigte er sich mit der Geschichte der
Sprache, und alles, was die Grundbedeutung und den Gebrauch
1) Donat. Vit. Verg. p. 63. Bemerkenswerth seiner Begeisterung wegen
ist das letzte Distichon:
„Tnfelix gemino cecidit prope Pergamou igni,
et paene est alio Troia cremata rogo."
Vgl. die dem Sulpicius mit Recht zugeschriebenen Inhaltsangaben in der
Anth. lat. No. 653 (ed. Riese). Mit Virgil beschäftigte sich Sulpicius auch
in seineu Briefen (vgl. Gellius II, 16, 8 sqq.) Ueber sein Verhältniss
zu Fronto Gellius XIX, 13, 1.
2) Die Richtigkeit der gegentheiligen Ansicht, die Hertz äussert und
Kretschmer wahrscheinlich findet, de auctoribus A. Gellii gramma-
ticis p. 3, will mir nicht einleuchten.
40 Mrgil in der Literatur bis auf Dante.
der Wörter angeht, hatte für ihn einen besonderen Reiz '). Er war
Antiquar und Liebhaber von philologischen Curiositäten ; daher
seine Verehrung der alten republikanischen Schriftsteller, die
er förmlich anbetet, während er einige Grammatiker der Kaiser-
zeit und sogar den Ven-ius Flaccus^) nur oberflächlich behan-
delte^). Von Tacitus oder Quintilian sagt er kein Wort, den
Seneca'^) misshandelt er so wie ihn Pronto misshandelte, nicht
allein weil seine Sprache und sein Stil nachlässig ist, sondern
weil er die Freunde des Archaismus und die Verehrer der alten
Dichter verspottet. So bewegte sich also Gellius in derselben At-
mosphäre wie Fronto, von dem er deshalb auch mit Achtung
spricht und dessen Geschmack er theilt. Obgleich sich nun aber
seine antiquarische Liebhaberei in seinem Stil und seiner Sprache
erkennen lässt, ist doch das Gebiet, das er cultivirt, zu verschie-
den von dem Fronto's, als dass man ihn einen Frontonianer nennen
könnte ''). Besonders bemerkenswerth ist in der Hinsicht ein Ca-
pitel, in i^elchem Gellius einige Worte des Favorinus gegen den
Archaismus ohne sie zu tadeln referirt*'). Aber in diesem für die
Kenntniss der Literatur jener Zeit in und ausser Rom bedeuten-
dem Buche ist für uns nichts so wichtig, als der so häufige Ge-
brauch Virgils.
Bei Gellius figurirt Virgil als ein Schriftsteller von grossester
Autorität für die Reinheit und Eleganz der Spi-ache '). Er wird
von ihm nicht allein als Autorität citirt, sondern auch gegen die
1) „Ei libro (Aeli Melissi) titulus est ingeutis cuiusdam iulc-
ccbrae ad legendum; scriptus quippe est De loquendi proprietatc"
XYIII, 6, 3.
2) „Cum pace cumque venia istorum, si qui sunt, qui Verri Flacci
auctoritate capiuntur." XVII, 6, 4.
3) ,,Isti novicii semidocti" XVI, 7, lo; „turba graniiuaticoruui novicia"
XI, 1, 5; cf. auch XVII, 2, 15.
4) Er geht sogar so weit, den Se~neca ,,ineptu.s atque insubidus homo"
zu nennen. XII, 2, 11.
5) Ich stimme hier nicht mit Bernhardy (p. 872) übereiu. Fronto
ist ein Redner und seine Schule eine Rednerschule; nur auf einem solchcu
(Jebiete kann man Frontonianer suchen wollen; es ist nicht nöthig,
an Fronto zu denken, um gewisse Eigenthümlichkeitcn der Sprache des
Gellius zu erklären.
6) „Vive moribus praeteritis, loquere verbis praesentibus" I, 205 f.
7) „Poeta verborumdiligentissimus " 11,26,11; „elegantissimus poeta"
XX, 1, 54; „multae antiquitatis hominem sine ostentationis odio pcri-
tum." V, 12, 13.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 41
Bemerkungen Jer Grammatiker der vorhergehenden Epoche ver-
theidigt^), z. B. gegen Hygin und Annaeus Comutus, die mit
harten Worten getadelt werden"). Selten gesteht Gellius zu, dass
Virgil ein Wort unpassend oder falsch gebraucht hat^). Einige Be-
merkungen, die sich auf thatsächliche Inconsequenzen oder Wider-
sprüche beziehen, werden wiederholt, die verschiedenen Erklärungen
besprochen, aber nicht weiter kritisirt. Diese ganze minutiöse
Kritik hält sich aber auch da in engen Grenzen, wo die Kunst
des Virgil in Betracht kömmt; sie beschränkt sich auf einige
Parallelen zwischen Virgil und einigen griechischen Dichtern,
aber nur mit Bezug auf diese oder jene Stelle. Hier erscheint
Virgil als ein glücklicher, dort als ein unglücklicher Nach-
ahmer des Homer , hin und wieder kommt er auch tiefer zu
stehen als dieser; Favorinus vergleicht die Beschreibmig des Aetna
in der Aeneis mit der berühmten des Pindar (Pjth. l) und findet
sie weniger vollendet*), worin er auch unzweifelhaft Recht hat.
Aber von wenig Belang sind die Gründe, die er dafür anführt;
er weiss nur Ausdruck mit Ausdruck zu vergleichen, aber nicht
den künstlerischen Grund davon einzusehen , noch zu unter-
scheiden, worin die natürliche Verschiedenheit zwischen zwei ein-
ander so entgegengesetzten Dichtungsarten wie Lyrik und Epik
besteht, zumal wenn die erstere jenen wunderbaren Aufschwung
wie bei Pindar nimmt. So weit verstieg sich die Schule jener
Zeit nicht. Wo sie sich unabhäaigig zeigt und nicht ansteht, die
Mängel eines Schiiftstellers von solcher Autorität anzuerkennen,
hält sich ihr (nicht immer richtiges) Uriheil doch nur an Aeusser-
lichkeiten, au jenen formalen Theil, welcher den ausschliesslichen
Gegenstand der literarischen Routine der Zeit bildete.
Es war Mode, dass die Grammatiker ihr eigenes Wissen zur
Schau trugen, und so gab es auch ein Publicum, das nach solcher Un-
terhaltung lechzte. Einer von diesen Leuten war nach Brundisium
1) „Grammatici aetatis superioris haud sane iudocti neque ignobiles"
11, 6, 1.
2) „Insulsa et odiosa scrutatio" nennt er eine Kritik des Cor-
iiutus, IX, 10, 5; „sed Hvginus nimis hercle iuejDtus fuit cum etc."
VII, 6, 5.
.3) Einmal wird der Tadel durch ein einfaches „existimatur" (X, 29)
ausgedrückt, ein andermal ausdrücklich bestätigt. I, 22, 12.
4) ,,Ut Pindaro quoque, qui nimis opima pinguique esse facundia
existimatus est, insolentior hoc quidem in loco tumidiorque sit . . . . Au-
dite nunc Vergili versus, quos inchoasse eum verius dixerim quam fe-
cisse etc." XVII, 10, 8 ff.
42 Yirgil iij tifi- Litcrutiu- Lis luif Dante.
ln-rufen worden, als Gelliuö in diese Stadt anlaugte; er trug hier
da« 7. Buch der Aeueis vor und lud das Publicum ein, ihm
.schwierige Fragen vorzulegen. Gellius fand , dass er barbarisch
las imd auf eine von ihm gestellte Frage in lächerlicher AVeisc
antwortete^). Von ähnlichen Charlatauen sju-icht Gellius ziemlich
häutig. Wir sehen aber, wie 'allgemein auch solche Leute von
A'irgil Gebrauch machten. Einige zogen in der That den Lucan
(lern Horaz, Ennius oder Lucrez dem Virgil vor; allein das waren
Ausnahmen"). Einer der berühmtesten unter ihnen war der Kaiser
lladrian^); jedoch verhinderte ihn seine Bewunderung für Ennius
nicht, Virgils Verse im Munde zu führen und den Virgil als
Stechbuch zu benutzen'*). Die Worte, die Gellius gebraucht, wo
er von eijiem so genannten Ennianisten spricht, der den Ennius
im Amphitheater von Pozzuoli recitirte, zeigen deutlich, dass eine
Vorlesung dieser Art sehr ungewöhnlich war. Martial, der als
Dichter wie als Mensch seiner ganzen Anlage nach zu keiner
literarischen Clique gehörte und , Avas die Literatur betiifft, das
allgemeine Urtheil am besten ausdrückt, war des Beifalls der
meisten sicher, als er den Kömern einen Vorwurf daraus machte,
den Ennius weiter zu lesen, während es einen Virgil gab, und
mit einem beissendeu Epigramme einen jener unklaren Köpfe ver-
sjiottete, die dem Vii-gil den unverständlichen Helvius Ginna vor-
zogen'). Die Gelehrten beklagen es ja im allgemeinen stets, dass
1) „Oves biileiitcs dictae quod duos tantum dontos haljoaut."
XVI, 6, 9.
2) „iniqui Lucilium pro lloratio et Lucretium pro Vergilio legunt —
quos more prisco apud judicem fabulautcs non auditores sequuutur, non
populus audit, vix deuiquo litigator perpetitur." Dial. de Or. 23.
3-) „Ciceroni Catonem, Vorgiiio Enniiuu, Sallustio Coelium praetulit,
eademque jactatione de Homoro ac Platone judicavit." Spartiau. Ha-
drian. 16.
4) Spartiau. Hadr. 2; „quos versus (Aen. VI, 869 ft") cum aliquaudo
in horto spatians cantitaret" Spartian. L. Ver. 4. Der wollüstige Lucius
Verus, der den Ovid und Apicius noch im Bett bei sieh führte, wusste
seine Liebe für Martial nicht besser auszudrücken, als dass er ihn „seinen
Virgil" nannte. L. Ver. 5.
5) „Ennius est lectus, salvo tibi, Koma Marone" Ep. V, 10.
■ ,^Scribere tc, quae vix intelligat ipso Modestus
et vix Claranus, quid, rogo, Sexte, juvat?
non lectore tuis opus est, sed Apolline, libris.
judice te, maior Cinna Marone lüit.
Sic tua laudentur: sane mea carmina, Sexte,
grammaticis placeant et sine grammaticis."
Ep. X, 21.
Virgil iu der Literatur bis auf Üaiilo. 43
die alten Schril't«teller nicht mehr ein Gegeuötaud des Studiums
sind^).
Uebrigens war doch unter allen Augusteischen Dichtern Virgil
auch denjenigen, welche für die alten Schriftsteller eine Vorliebe
hatten j der willkommenste. In den „noctes Atticae" werden am
häutigsten citirt: Ennius, Laberius, Plautus, Caesar, Cicero, Luci-
lius, Nigidius Figulus, Cato, Sallust , Varrò und Virgil^). Die
grainimatische und literarische Autorität Vii-gil's steht somit den
Schriftstellern aus der Zeit der Republik gleich. Von den
Augusteischen Dichtern wird in den attischen Nächten nur noch
Horaz einige Male angeführt. Bei Nonius findet dasselbe Verhält-
niss statt: Die höchste Autorität ist bei ihm Virgil, dann folgen
nach einem grossen Zwischenraum Cicero, Plautus und Varrò und
endlich in absteigender Lüiie Lucilius, Terenz, Accius, Afranius,
Pmnius, Lucrez, Sallust, Paeuvius^ Pomponius, Caecilius, Naevius,
Novius, Turpilius, Titinius, Laberius, Livius Andronicus u. s. w.
Augusteische Dichter oder solche der Kaiserzeit überhaupt werden
bei Nonius seltener als alle übrigen citirt. Abgesehen von anderen
Gründen, derentwegen man Virgil als grammatische Autorität be-
trachtete, hatte diese Zusammenstellung mit Schriftstellern einer
ihm ganz fremden Zeit noch einen speciellen Grund. Virgil
hat es allein von allen Augusteischen Dichtei'n verstanden, sich
veralteter Wörter zu bedienen, ohne affectirt zu werden. Seine
Poesie Hess .ein scharfes und sorgfältiges Studium der alten la-
teinischen Schriftsteller erkennen, und so befriedigte er die ver-
schiedensten Richtungen. Er behauptete seine Autorität nicht
allein für die modernen, wie Seneca, dem Antipoden eines Gellius
und Pronto, sondern auch die Alterthumsforscher räumten ihm
eifrigsteinen hohen Rang ein unter jenen „hircosi", denen er doch
als Künstler fern genug stand. Quintilian spricht einmal von der
Schwierigkeit, sich mit Glück veralteter Wörter zu bedienen und
1) „Legerat (Probus) in provincia quosdam veteres libellos apud
graramatistam , durante adhuc ibi antiquorum memoria, uecdum omnino
abolita sicut Romae; .... quamvis omues contemui magisque oppro-
brio legentibus quam . gloriae et fructui esse animadverteret" : Sueton.
De gram, et rhetor. 24.
•2) In einer Unterredung mit einem Grammatiker zweiten Ranges
werden vor allen Plautus, Sallust, Ennius und Virgil als Autoritäten iu
Anspruch genommen. An einer anderen Stelle sagt ein geschwätziger
Grammatiker zu Gellius: „si quid ex Vergilio, Plauto, Ennio quaerere
habes, quaeras licet". (XX, 10, 2.)
44 Viigil in der Literatur bis auf Daute.
bemerkt dabei, dass hieriu Virgil Meister sei uud der einzige,
der diese Kirnst verstanden habe^). Seneca glaubte, dass Virgil
jenes ai'chaisirende Element in seine Poesie eingeführt habe dem
„populus Ennianus" zu gefallen^); ein Urtheil, das freilich, hier
wo es sich um einen Dichter handelt, der den feinsten Geschmack
besass, etwas roh klingt und auch nur bei Seneca möglich war,
der den Virgil ebenso bewunderte, als er die alte Literatur vor-
achtete. In der That gehörte auch Virgil zu jenem „populus En-
nianus", aber er war doch Künstler genug, um zu wissen, wie
weit er in der Benutzung des Ennius und anderer alter Dichter
gehen könne; und er wusste es besser als Horaz, der wiederum
die Regel über den Gebrauch richtiger zu formuliren verstand')
als sie anzuwenden, wenn es darauf ankam.
Der Ruf des Dichters litt also keineswegs unter der reactio-
nären Strömung, die auf einem Felde der Literatur aubbrach,
so wenig er immerhin dem Fi'onto sympathisch gewesen zu sein
scheint. Die Kraft seines Namens war zu mächtig, als dass ilim
irgend eine Richtung hätte schaden können. Einem Jahrhim-
deii, welches einen Appulejus bewunderte, einen zwar talentvollen,
aber doch seines Schwulstes und seiner fremdländischen Redeweise
wegen lächerlichen und unerträglichen Schriftsteller, einem Jahr-
hundert, das diesem eine Statue errichtete nnd bewundernd auf
die neue, von einem Africaner geschriebene und gesprochene Spi-ache
hinbnruhte, hätte doch Virgil farblos, matt und j\'eichlich er-
scheinen müssen. Und doch war sein Name so gross, seine Aiito-
rität, welche die bedeutendsten und gelehrtesten Männer der ver-
gangenen Generationen geschaffen hatten, so zwingend, dass selbst zur
Zeit, da jener schlechte Geschmack triuniphirte, ein unwiderstehlicher
Zauber und der Zusammenhang seiner Dichtung mit der allgemeinen
Erziehung ihn nicht sinken Hess. Li den Schulen der Grammatiker
und Rhetoren unter jeder einigermassen gebildeten ('lasse blieb
er stets verehrt, und diese Verelunmg nahm in Mitten des Ruins
der lateinischen Literatur, vornehmlich seit Marc Aurei, nur immer
noch zu.
1) „Eoque ornamento acerrimi judicii P. Vergilius un ice est usus"
Vili, 3, 24; „vetustatis, euius amator un ice Vergilius fuit". IX, 3,
14. „Vergilius amantissimus vetustatis". 1, 7, 16.
2) „Vergilius quoque noster non ex alia causa duros quosdani ver-
sus et enormes et aliquid supra mensuram tiahentes interposuit, quam
ut Ennianus populus agnosceret in novo Carmine aliquid autiquitatis".
Bei Gellius XU, 2.
3) Epist. 11, 1, 64 ff.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 45
Nichts destoweniger bewirkten aber doch die veränderten Be-
dingungen des intellectuellen Gesichtskreises, unter dem er er-
schien, nothwendig eine gewisse Veränderung. Eine wahrhaft poe-
tische Schöpfung fehlte ja dieser wie der noch folgenden Epoche
der römischen Literatur durchaus. Die Rhethorik war an Stelle
der Poesie getreten, und diese lebte von der Nachahmung des
Virgil, ihrem höchsten Muster. Homer beeinflusste ehemals ge-
radezu die lebendige Entwickelung der griechischen Kunst und
Poesie als das erste Moment dieser selbst, mit dem alle spätei'en
Producte organisch und innerlich zusammenhängen. Virgil hingegen
wirkte auf die theils im Sterben liegende, theils schon todte la-
teinische Dichtung, die selbst mehr eine Dichtung der Form als
des Inhaltes ist, in rein formeller Weise. Das sorgsame Studium
des Dichters, die Anwendung und oft sklavische Nachahmung seiner
poetischen Redeweise, vermochten nicht den Abgrund fortzulügen,
der in der Stellung der Dichtkunst zwischen den späteren und den
Augusteischen Dichtern bestand. Wenn nun aber das Publicum
trotzdem viele der ersteren in hohem Grade begünstigte, so scheint
es unmöglich, dass man zugleicii ein richtiges Gefühl für die
Poesie Virgils gehabt und nicht vielmehr in die Bew'underung
des grossen Dichters jenen falschen und verkehrten Geschmack
hineingetragen haben sollte, dem zufolge man seinen schwülstigen
und pomphaften Nachahmer Statins bewunderte^).
Ohne Zweifel ging der Ruhm des Dichters weit über den
Horizont seiner Zeit hinaus. Indem seine missverstandene tradi-
tionelle Grösse den Geistern imponirte, erzeugte sie eine fast aber-
gläubische Verehrung. Wir finden schon unter den Antoninen die
auch von den Kaisern ausgeübte Sitte, das Schicksal zu befragen,
indem man auf gut Glück Virgils Gedicht aufschlug; darin be-
stehen die sogenannten „sortes VirgUianae", die auch Hadrian zu
Rathe zog, von denen uns die Verfasser der Kaisergeschichte viele
Beispiele darbieten und welche das ganze Mittelalter hindurch
fortgedauert haben. Dieser Gebrauch beweist nicht allein die unge-
heure Popularität des Virgilischen Textes sondern auch die hohe
Verehrung, welche derselbe genoss. Virgil hatte sie nur noch mit
1) „Curritur ad vocem jucundam et Carmen aniicae
Thebaidos, laetam cum fecit Statins urbem,
Promisitque diem, tanta dnlcediue captos
Affieit ille animos tantaqne libidine vulgi
Auditur".
Jnvenal. VIT, 82 0.
46 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
einigen andern, wegen ihrer gi'ossen Heiligkeit oder ihrer ausser-
ordentlichen Weisheit verehrten Werken gemein, den Gesängen
Homer's, den Sibyllinischen Büchern und si^äter der Bibel ^). Wenn
auch einmal der närrische Caligula, zur Beleidigung aller, beinahe
die Bilder und Werke Yirgils aus den Bibliotheken genommen
hätte"), so nannte doch zwei Jahrhunderte später Septimius Se-
verus Virgil den Piaton der Dichter und setzte sein Bildniss in
ein besonderes Lararium neben die des Achilles und andei-er He-
roen und Schriftsteller ^j. Aber schon früher war Virgil von mehreren
Poeten fast vergöttert worden. Silius Italiens feierte den (reburts-
tag des Dichters und besuchte andächtig sein Grabmal wie einen
Tempel"*); und wie einen Tempel betrachtete es auch der Neapo-
litaner Statins"). Martial spricht von den Iden des October wie
von einem dem Virgil heiligen Feste, so wie die Iden des August
der Hekate, die des Mai dem Mercur geheiligt waren''). Virgil
1) Ueber diese Art, das Schicksal zu befragen s. Hi st. lit. de la
France III, p. 11 if. und die merkwürdigen Capitel im Rabelais IIT,
10 ff.
2) „Sed et Vergili ac Titi Livi scripta et imagines paulum abfuit
quin ex omnibus bibliothecis amoveret, quorum alterum ut nullius iu-
geni minimaeque doctrinae, alterum ut verbosum in historia negligen-
temque eaqjebat''. Suet. IV, 34.
3) „Vergi! ium autem riatouem poetarum vocabat, eiusque imaginem
cum Ciceronis siiuulacro in secnndo larario habuit, ubi et Achillis et
magnorum virorum." Lamprid., Alex. Sever. 30.
4) ,,Quas (imagines) non babebat modo verum etiam venerabatur.
Vergili ante omnes, cuius natalem religiosius quam suum celebrabat,
Neapoli maxime ubi monimentum eius adire ut tempìum solebat". Pliu.
Ei)ist. III, 7. 8. Diese Verehrung für Virgil, die eine fixe Idee von Si-
lius Italicus gewesen zu sein scheint, wird auch von Martial in mehr
als einem Epigramme bestätigt. VII, 63. XI, 48. 49. Dem Silius wid-
mete Comutus ein Werk über Virgil: „Annaeus Cornutus ad Italicum
de Vergilio"^. Chans, p. 100. vgl. p. 102 (ed. Keil).
j'i) „ . . . . Maroneique sedens in margine temigli
Sumo animum et magni tumulis adcanto magistri".
Stat. Silv. 4, 54.
„ . . . . nee tu divinam Aeneida tenta
Sed longe sequere et vestigia semper adora."
Stat. Theb. XII, 8, 15.
6) „Maiae Mercurium creastis Idus
Augustis redit Idibus Diana
Octobrcs Maro consecravit Idus.
Idus saepe colas et has et illas
Qui magni celebras Maronis Idus."
Afart. XII, G7.
Martial i.st voller Emphase, wenn er von Viigil spricht. Er neimt
Virgll in dei- Literatur bis auf Dante. 47
galt also geradezu als der heilige unter den Dichtern. Von allen Ver-
götterungen aber, die das kaiserliche Rom vorgenommen hatte,
war diese wenn auch noch so unbegründete und übertriebene
vielleicht die einzige, die von einem wirklich edlen Gefühle ein-
Fünftes Capitel.
Wenig erfreulich erscheint das Schicksal der römischen Lite-
ratur im 3. und 4. Jahrhundert der Kaiserherrschaft. Zu einer
Zeit, da jeder Bauersmann und Barbar, wofern er Macht über
die unwissende Soldatesca hatte, den Thron der Caesaren besteigen
durfte, und bei Hofe wie beim grossen Publicum das Interesse
allein auf diese Dinge gerichtet war, konnte es keine für die Li-
teratur günstige Strömung geben. Die Beziehungen zwischen lite-
rarischer Production und Publicum wurden immer äusserlicher und
beschränkten sich allmälig auf eine Classe von Leuten, die ihren
Wirkungskreis in der Schule hatten. Auf diese Weise musste
sich auch der Unterschied zwischen geschriebener und gesprochener
Sprache immer fühlbarer machen, und das Latein des gewöhnlichen
Volkes immer kühner hervordrängen; das Geschäft des Gramma-
tikers ward immer bedeutungsloser, und es galt schon viel,
nur richtig schreiben zu können. Diesen Zuständen entspi-icht denn
auch die Productivität der Grammatiker, die zwar quantitativ
reich aber, was die Originalität der Gedanken anlangt, ausser-
ordentlich arm ist. Keiner wagt es mehr, einen Schritt zu
thun, ohne sich an die Alten anzulehnen. Wie in der Kunst so
ist auch hier alles geistlose Nachahmung oder Compilation. Die
Literatur beschränkt jetzt ihren Haushalt auf das nothwendigste
und legt vor allem ein grosses Bestreben nach Abkürzungen und
Compendien an den Tag. Durch sie suchte man sich das Lesen
einer grossen Menge von Schriftstellern zu ersparen, und eben
dieser Zeit gehören auch die meisten der auf ims gekommenen
grammatikalischen Compilationen an. Leider verschwanden auf diese
Weise vor den unglücklichen Arbeiten jener Scheingelehrteii viele
alte Arbeiten für immer. Auch die Kaiser dieser Zeit fuhren zwar
ihn: „magnum" (IV, 14), „summum" (XII, 4), „immensum" (XIV, 186),
,,aeternum" (XI, 52). Der Gedanke über die Ideu des October wiederholt
sich später bei Ausonius (323, 23):
Sextiles Hecatae Latonia vindicat Idus,
Mercurius Maias superorum adiunctus honori,
Octolires clini Maro genitns dedicai Idus".
48 Virgil iu der Literatur bis auf Dante.
fort, Grammatiker zu balteu, und mancher Kaiser beschützte
sie wie die Philosophen und Rhetoren, aber mehr zum Luxus und
aus Laune, oft auch aus Feigheit, wenn man sich nämlich vor
den Angriffen ihrer Feder fürchtete, wie dies von Alexander Se-
verus gesagt wird^). Uebrigens hatten jene Kaiser, so lange sie
die Literatur begünstigten, meist eine Vorliebe für griechische
Studien, ohne dass sie darum fähig gewesen wären, einen wohl-
thätigen Einfluss auszuüben; im Gegentheil richtete sich der Ge-
schmack immer mehr auf das nichtige und leere. Geta, welcher
als ein Freund des Alphabetes gelten wollte, indem er Gerichte
zubereiten hiess, deren Namen sämmtlich mit einem bestimmten
Buchstaben anfingen, ergötzte sich auch manchmal daran, Gram-
matiker zu sich zu rufen, um sie dann u. a. nach Zeitwörtern zu
fragen, welche die Stimmen verschiedener Thiere ausdrückten").
Nach Alexander Severus, welcher neben seineu griechischen
Liebhabereien auch den Virgil verehrte (vielleicht mehr als Philo-
soph denn als Dichter), wurde die Pflege der Literatur am Hofe
in der That sehr selten. Die alte Tradition des Kaiserthumes war
gebrochen, und unter denen, welche sich um die höchste Gewalt
stritten, gehörten Leute, wie der ältere, übrigens wenig bedeu-
tende Gordian ^) schon zu den Seltenheiten. Ganz anders wie früher
stand jetzt das militäi'ische Interesse dem literarischen gegenüber
und zog sogar die Leute, welche eine Art von wissenschaftlicher
Bildung erhalten hatten, von der Liebe zu den Studien ab. Die
Verfasser der „historia Augusta", Leute, die in der That sich zeigen
wie sie sind, geben uns eine ziemlich deutliche Idee von dem
geistigen Standpunkt dieser Zeit, besonders der militärischen und
politischen Kreise. Vopiscus wundert sich darüber, dass sein Gross-
vater bei der Erzählung von der Ermordung des Aper, dessen
Mörder Diocletian die Worte in den Mund gelegt habe: „gloriare
Aper Aeneae magni dextra cadis", „was mich", sagt er, „bei einem
Soldaten Wunder nimmt, obgleich ich weiss, dass gar viele Leute
Worte der Komiker und anderer Dichter, sowol griechischer wie
römischer zu citiren pflegen*^)". Clodius Albinus (2. Jahrb.), der
1) ,,Amavit litteratos homines, vehemeuter eos etiam reforiuidans
HO (juid de se asperum scriberent". Laniprid. Alex. Sev. 3.
2) Spartian. Autouin. Geta, 5.
8) „Uic enim vita veuerabilis, cum Piatone seniper, cum Aria^otelf,
cum Tullio, cum Yergilio cett-risiiuo veteribus ageus etc." Capitoliu.
(iordian. 7.
4) Vopiöc. Numeriaa. 13.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 49
nichts weniger als ein Freund der Literatur war, hatte doch als
I{jiabe in der Schule den Virgil stiidirt; aber dies Studium hatte
ihm nur dazu gedient, seinen militärischen Instinct zu bethätigen^).
Trotzdem sind auch unter diesen Leuten die Eeminiscenzen aus
Virgil häufig, weil eine Menge seiner Verse sprüchwörtlich und
die Kenutniss des Dichters durch Schule imd Theater ganz allge-
mein geworden war. Und so finden wir Virgilische Verse be-
züglich auf politische Ereignisse nicht allein im Munde des älteren
Gordian, der ein gebildeter Mann war^), sondern auch in einem
Briefe des Diadumenos an seinen Vater Maciiaus^) und in einem
anderen des älteren Tetricus an Aurelian*). Unter Alexander
Severus drückte der Praetorianertribun Julius Crispus seinen Un-
muth durch Virgilische Verse aus, die für ihn verhängnissvoll
wurden^): Aus zwei Halbversen Virgils war ein Spruch des Cii-cns
componirt zu Gunsten des Diadumenos gegen Macrinus ^), und
ebenso findet mau einen Halbvers aus Virgil unter den Accla-
mationen, mit denen der Senat den schon alten Tacitus auf den
Thron berief).
Wenn aber in Mitten der Orgien und Verbrechen des
kaiserlichen Hofes einmal die Muse Virgils sich hören liess, so
war das noch kein Beweis für die Feinheit der poetischen Em-
pfindung; es zeigt nur, wie sich die Popularität des Dichters selbst
iu dieser Zeit imd an solchem Orte ei'halten hatte. Sein Buch
1) „Omnem pueritiam in Africa transegit, eruditus litteris graecis
et latinis mediocriter, quod esset animi iam inde militaris et superbi.
Fertur in scholis saepissime cantasse iuter puerulos: arma amens capio;
nee sat rationis in annis (Aen. II, 314)." Capitolin. Clod. Alb. 5.
2) „Cantabat praeterea versus senex, cum Gordianum filium vidisset,
hos saepissime : ostendent terris hunc tantum fata etc." (Aen. VI, 869 f.)
Capitol. Gerd. iun. 20.
3) „Si te nulla movent etc." (Aen. IV, 274 ff.) Lamprid. Ant. Dia-
dum. 8.
4) „Versus denique illius fertm*, quem statim ad Aurelianum scrip-
serat: „eripe me bis invicte malis" (Aen. VI, 365). Treb. Poli. Trig.
tyrann. 24.
5) Jvo avógccg xwv inicpuvàv àné-/.xsiv£v 'lovliov Kqlgiiov j;t/ltof^-
Xovvra xàv SoQVcpóqoìv, ozi àx&saO'slq rij zov itoXéfiov kcckcìgsi tnog xi
Tov Màgavog zov nonqzov nuQScp&éy^cizo, èv a xri." (Aen. VI, 371 f.) Dion.
Cass. 75, 10.
6) „Egregius forma iuvenis, dignus cui pater band Mazentius esset"
(Aen. VI, 862; XII, 275). Capitolin. Opil. Macrin. 12.
7) „Et tu legisti „iucauaque menta regis romani" (Aen. VI, 809) dixe-
runt decies." Vopisc. Tacit. 5.
Comparetti, Virgil im Mittelalter. 4
50 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
war jetzt ein Schulbuch für die Knaben und ein Spielzeug für die
Erwachsenen geworden. In der Schule wai'd dasselbe dermassen
tractirt, dass es etwas ganz gewöhnliches war, dasselbe von An-
fang bis zu Ende auswendig zu wissen. Aus dieser Popularität
des Dichters in einer Zeit, die an künstlerischen Schöpfungen
selbst so arm war, enttstauden jene „Centonen", mit denen man sich
die Zeit vertrieb, ilan fand Spass daran, die Verse und Halbverse
Virgils auf verschiedene Weisen z\isammen zu stellen und so dem
Dichter alle möglichen Stoffe in den Mund zu legen, die er be-
singen musöte. Die Idee solcher „Centonen"^) konnte nur unter
Leuten aufkommen, die den Virgil mechanisch gelernt hatten und
nichts nützlicheres mit all den Versen anzufangen wussten, mit
denen sie sich den Kopf beschwert hatten. Uebrigens musste die
Art, mit der man Virgil wie so viele andere Dichter zu allen
möglichen Arbeiten verwandt hatte, nothwendig auf diese Cen-
tonen führen-). Schon zu den Zeiten Tei-tullians hatte ein ge-
wisser Hosidius Geta aus Virgilischen Versen eine Tragödie Medea
zusammengesetzt, die noch erhalten ist; ein anderer in derselben
Weise eine Uebertragung der „tabula" des Cebes. Später Hessen
Christen den Virgil über ihren Glauben reden, Proba Fal-
tonia'^) fabricirte aus Versen Virgils eine Geschichte des alten
1) Die älteste Sammlung Virgilischer Centonen befindet sieb in dem
berühmten Codex Salmasiauus, dem ersten Kern der lateinischen Antho-
logie, und gebt wenigstens bis ins 8. Jahrhundert hinauf. Kr enthält
12 Centonen verschiedener Verfasser und von verschiedenem Alter, unter
ihnen auch die Medea des Hosidius Geta. Ein einziger nur ist von
christlichem Inhalte, und wurde weder von Burmann noch von Meyer
in ihren Ausgaben der lateinischen Anthologie veröffentlicht. Erst Su-
ringar (de ecclesia, anonymi cento virgilianus ineditus. Traiect. ad Rh.
1867) hat ihn publicirt, danach Riese in der „Anthologia latina" (Leipz.
1869. I, p. 44). Eiue vollständige Sammlung der antiken Virgilischen
Centonen existiit nicht (versprochen von Suriugar). — Ueber die Cen-
tonen im allgemeinen und die Virgilischen im besonderen vgl. Ha sei -
berg. Commentai, de centouibus, Puttbus 1846; Borgen, De centonibus
homericis et virgilianis, Havniae 1826. Revue analytiquc des ouvrages
ccrits en centons depuis les temps anciens jus(iu'au XIX siede, par un
bibliophile belge (Delepierre), Londres (Trübner) 1868. Müller, De
re metr. p. 465 f.; Milberg, Memorabilia virgibaua p. 5—12.
2) Bemerkenswerth in dieser Hinsicht ist die dem Virgil zugeschrie-
bene Ciris, die wenn sie auch nicht wirklich ein Virgilischer Cento
ist, so doch beinahe wie ein solcher aussieht.
3) Vgl. Aschbach, Die Anicier und die rüniische Dichterin Proba
(Wien 1870) p. 57 tf.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 51
Testamentes, Marius Victorinus (4. Jabrh.) einen Hymnus auf
Ostern, Sedulius (5. Jalirh.) ein Gedicht über die Menschwerdung-
Christi u. s. w.^). Der Kaiser Valentinian, der dem Virgil das Loh
eines keuschen Dichters nicht zu gönnen schien, compouirte aus
seinen Versen ein obscoenes Gedicht und zwang den Ausonius,
sich mit ihm in dieser Kunst zu messen. Auf diese Weise ent-
stand der berühmte „cento nuptialis", übrigens offenbar der beste
seiner Gattung. Heute sieht man dergl. als unwürdige Spielerei
an, damals glaubte man dadurch seine Achtung vor dem Dichter zu
bezeigen und bewunderte Gedächtniss und Geschick der Verfertiger-).
Virgil sollte ganz wie Homer behandelt werden^ von dem es ja
auch Centouen gab. Die Leute, welche besonders geschickt zu solchen
Flickarbeiten waren, nannten sich „Homerische" oder „Virgilische
Dichter^)". Den Gipfel des lächerlichen erreichte aber ein ge-
wisser Mavortius, der es als Verfasser eines Virgilischen Cento
über das Parisurtbeil so weit brachte, dass er VirgiHsche Centonen
„improvisirte" (!) Eine dieser „Improvisationen", für die er aber
den Titel des „modernen Virgil" bescheiden zurückwies, besitzen
wir noch^).
Auf die Beurtheilung Virgils, welcher das Pimdament des
wissenschaftlichen Unterrichtes bildete, mussten nun aber die
Commentare, mit denen er in der Schule erklärt wurde, grossen
Einfluss haben. Eine kritische Geschichte derselben ist, abgesehen
1) So allgemein waren diese christlichen Centonen, dass der Papst
Gelasius in seiner Bemerkung über die canonischen Bücher es für ange-
messen erachtete, jene Centonen für apotry^ih zu erklären: „Centimetrmn
de Christo, Virgilianis compaginatum versibus, apocryphuin." Decret.
Gelas. Pap. (i. J. 494) ap. Lab be', IV, p. 1264.
2) Ausonius entschuldigt sich jedoch seines Cento wegen in dem an
seinen Freund Paulus gerichteten Brief: „Piget vergiliani carminis digni-
tatem tam ioculari dehonestasse materia. Sed quid facerem? iussum erat;
quodque est potentissimum imperandi geuus, rogabat qui rubere poterat,'
S. imperator Valentinianus, vir meo iudicio eruditus."
3) Eine alte römische Inschrift lautet : „Silvano coelesti | Q. Glitius
Felix I Vergilianus poeta d. d.; OrelH-Henzen 1179. In einer griechischen
Inschrift aus Aegypton liest man einen Homerischen Cento, und hier
nennt sich der Verfasser '„Homerischer Dichter". Vgl. Letronue, In-
cript. de FEgypt. II, 397.
4) Im Codex Salmas., publicirt zuerst von Quicherat, Bibl. de
l'e'cole des chartes, II, 132. S uringar, der ihn für unedirt hielt, und
ihn nochmals herausgegeben hat, hat weder den Namen des Autors noch
das Thema selbst errathen; nicht so Itiese in der Anthologia latina 1
p. 48.
^2 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
von dem Versuche Suringar's ^) , noch immer ein leerer Wunsch
geblieben, der auch nicht eher erfüllt werden kann, als bis ein-
gehende Specialstudien dies verwickelte Thema aufgeklärt haben.
Die Virgilcommentare, die sich bei ihrer Unentbehrlichkeit für den
Unterricht bis ins späteste Mittelalter hinein vervielfachten, un-
terlagen dabei den mannigfaltigsten Veränderungen. Kein Lehrer
trug Bedenken, nach Gutdünken zu modificiren und zu excerpiren.
Der eine compilirte aus den ältesten Grammatikern aber unter
eignem Namen, der andere fügte Bemerkungen aller Art hinzu,
ohne sich zu nennen, wieder ein anderer schmückte die gebräuch-
lichen Commentare durch eigne Zuthaten imd Interpolationen aus,
aber unter dem Namen des alten Verfassers. Und so gleicht denn die
Masse der auf uns gekommenen Arbeiten einem Strome, den die
verschiedensten Zuflüsse getrübt haben. Es sind entweder Com-
pendien oder Compilationen, kein einziges Werk ist in der ur-
sprünglichen Gestalt erhalten. Diejenigen, welche unter dem Namen
des Probus oder Asper auf uns gekommen sind, beweisen, wie
man das Werk besserer Grammatiker verdarb. Die meisten gram-
matischen Compilationen wie die Auszüge aus den Virgilcommen-
taren gehören dieser Epoche des Verfalls an, aus der sich be-
sonders zwei berühmte Autoreu erhalten haben, Donat und
Servius.
Für die Beurtheilung Douat's^), dessen Commentar heute
verloren ist, den aber sein Schüler Hierouymus unter den in den
Schulen gebrauchten Büchern^) erwähnt, gibt uns Servius einen
Anhalt*). Donat wollte Kritiker sein und urtheilte sehr frei über
1) Historia critica scholiastarum latinorum (Lugd. Bat. 1834) vol. H.
Einige Specialarbeiten sind geliefert von Wagner, Teuber, Riese u. a.
Vgl. auch die Prolegomena von Ribbeck (p. 114-198), wozu unent-
behrlich Hagen, Scholia Bernensia ad Vergili Bucolica et Georgica. Lips.
1867. p. 696 ff.
2) Ribbeck (Proleg. p. 179) behauptet mit Unrecht, dass man nur
von einem Commentar des Aelius Donatus zu den Georgica imd zur Aeneis,
nicht aber zu den Bucolica weiss. Die Biographie des Dichters, die unter
Donats Namen auf uns gekommen ist, stand vor dem Commentar zu den
Bucolica und schliesst mit allgemeinen Bemerkungen über diese selbst.
Vgl. Hagen, Schol. beni. p. 740 ff.
n) „Puto quod puer legeris Aspri in Vergilium et SalUisüum com-
mentari'os; Vulcati in orationes Ciceronis; Victorini in dialogos eins et
inTerenti comoedias praeceptoris mei Donati, aeque in Vergilium". Hie-
ron. Apol. adv. Rufin. I, 367.
4) Vgl. die auf Donat bezüglichen Stellen des Servius, zusammen-
gestellt von Suringar p. 37 ff. und Ribbeck, proleg. p. 178 ff.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 53
den Dichter, an dem er manches zu tadeln fand. Er urtheilte
aber nicht allein vex'kehrt, sondern bewies auch oft solche Nach-
lässigkeit, dass er sich in den gewöhnlichsten Regeln der Prosodie
irren konnte. Das verhinderte ihn freilich nicht, den Dichter zu
bewundern, aber seine Bewundenmg war doch der Art, dass er
seinen Schülern Virgil in ganz falschem Lichte darstellte, ihm,
wie alte Philosophen schon mit Homer gethan, ein ausserordent-
liches Wissen zuschrieb und in seinen Versen verborgene Gelehr-
samkeit und philosophische Zwecke aufsuchte, an die Virgil niemals
gedacht hatte. Er erklärt die Reihenfolge der Gedichte auf fol-
gende Weise: „Man muss wissen, dass Virgil bei der Composi-
tion eine Ordnung befolgte, die der im Menschenleben gleich
kommt. Der erste Zustand des Menschen war das Hirtenleben,
und so schrieb Virgil zuerst die Bucolica; darauf ward der Mensch
Landmann, und so entstanden die Georgica. Mit dem Wachs-
thum der Völker wuchs dann auch die Liebe zum Kriege; und so
ist denn Virgils drittes Werk die Aeneis, das an Kämpfen über-
reiche Gedicht^)". Wir werden weiter unten sehen, wie sich die
Sucht, im Virgil Allegorien zu suchen, weiter entwickelt hat.
Der Commentator des Virgil aber, der von allen am meisten
im Gebrauch war und der (fi-eilich nicht intact) auf uns gekom-
men ist, war der in den Schulen eingeführte Servius. Er ist
auch heute noch von Wichtigkeit, nicht allein wegen seiner Er-
klärungen als besonders wegen mancher werth vollen von ihm auf-
bewahrten Notiz. Ueber sein Werk, so wie es heute vor uns
liegt, zu urtheilen, ist schwer; denn einerseits ist klar, dass er
aus älteren Commentatoren und Grammatikern compilirte, anderer-
seits hat er selbst mannigfache Veränderungen erfahren und ist
im ganzen Mittelalter interpolirt worden, oft so einfältig, dass
man im Commentare des Servius den SerArius selbst citirte^). Er war
ein für seine Zeiten ausgezeichneter und dem Donat überlegener
Grammatiker, dessen Irrthümer er oft mit Geschick und Verstand
zurückweist. Trotzdem hat er viele Fehler, an denen die Ge-
lehrten seiner Zeit litten, nicht vermieden. In der grammatikalischen
Tradition dieser Epoche sowie das ganze Mittelalter hindurch
zeigt sich etwas stereotypes, auch in der Praxis des Unterrichtes,
dessen Grundlage die Auslegung der Schriftsteller bildete. Und
1) Serv. prooem. Ecl. p. 97 (ed. Lion); vgl. auch den von Quiche-
rat, bibl. de récole des chartes II, p. 128 publicirten Text.
2) „Ut Servius dicit" ad Ecl. I, 12. III, 20. IX, 1.
54 Virgil in cltT Literatur bis auf Dante.
60 hat sich auch bei Servius vieles festgesetzt, woran nicht eigent-
lich er selbst, sondern mehr die ältere Tradition Schuld hat. Jene
wichtigen Streitfragen, die \mter den Alexandiinern z. B. in Be-
treti" Homers so beliebt waren ^), imd an denen Tibei'ius einen
Gefallen fand^), wurden auch auf Virgil angewandt und lassen
sich an ihrer regelmässigen Formel auch bei SeiTius wieder-
erkennen^). Eine gewissenhafte Kritik und sichere Gelehrsamkeit
waren für das, was die Mode in dieser Hinsicht verlangte, ent-
l)ehrlich , da sich die Grammatiker hiebei nur zu oft auf dem Felde
blosser C'harlatanerie befanden^), imd es bei den Fragestellungen
und Antworten mehr auf das spitzfindige, unerwartete und glän-
zende, als auf das nützliche, richtige imd wahre ankam. Ein merk-
würdiger Beleg hierfüi' sind jene 12 oder 13 Virgilstellen , welche
der Meinung nach unüberwindliche Schwierigkeiten darbieten soll-
ten ^). Es war dies fönulich zu einem Glaubensartikel geworden. An-
statt dass der Grammatiker an ihre Erklärmig ging, hielt er sich
lieber gar nicht damit auf und sagte nur: „dies ist eine Stelle
von den zwölfen". Und doch bieten einige von denen, die uns
Servius unter ihnen aufzählt, durchaus keine Schwierigkeiten dar.
So viel Interpolationen im Servius man auch zulassen will,
muss man doch gestehen, dass luanche allegorische Auslegungen
1) Vgl. Lauer, Gesch. d. hom. Poesie p. tj 1. Griifcnban, Ge-sch.
d. class. Philolog. im Altcith. 11, ]i. 11 f. lieber die ivcraziiioi und
IvTLXoi s. Lehrs. De Aristjirchi stud. hom. p. 199—224.
2) Su et. Tiber. 70. vgl. Gell. XIV, ß. Lauer a. a. U. p II.
3) „Cur" oder ,.quomodo dixit ? Solvitur sie..." Zu Acu. 111.
203, 276, 341, 379. IV, 399, 545 u. s. w.
4) „ ut forte rogalus,
Dum petit aut thermas aut Phoebi balnca, dicat
Nutricem Aucbisae, noracn putriamque novercac
Anchemoli^ dicat quot Acestes vixerit annis
Quot Siculi Phrygibus vini donaverit urnas."
luven. Vir, -231 ff.
5) „Sciendimi est locum hunc esse unum de XII lal. XIII) Vergili
sive per naturam obscuris. sive iusolubilibu.s, sive emeudandis, sive sie
rclictis ut a nobis per historiae antiquae ignorautiam liquide neu intelli-
jrantur." Serv. Ad. Aen. IX, 368. ,,8cienduni tarnen et locum hunc esse
unum de his, quos insolubiles diximus supra." Ebendas. IX, 412; vgl.
auch zu XU, 74; V, 6-22. Lehrs, de Aristarchi stud. hom. p. 219 f.;
Kibbeck, proleg. p. 109 ff. In diese Kategorie gehören auch jene
.,antapodosis" (quibus locis commemorantm- quae non sunt ante j^raedicta),
von denen eine Aen. IX, 453 von Servius als „zehnte" aufgezeichnet wird.
Vgl. Kibbeck, pro!, p. 108 f.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 55
desselbeu z. B. jene von dem goldenen Zweige, mit welchem
Aeneas zur Unterwelt hinabsteigt^) u. a., zu sehr mit dem Geiste
der Zeit übereinstimmen, als dass man sie dem Servius absprechen
könnte. Wenn demungeachtet einige Verse und Partien in der
I<]rzählung des Virgil von Servius in philosophischer Weise ge-
deutet werden, so findet sich doch in dem ganzen Commentar
keine Spur von einer systematischen allegorischen Erklärungsweise,
die das ganze Gedicht aus einem einzigen verborgenen Gedanken
ableitete. Eine solche Art der Auslegung wird uns weiter unten
beschäftigen, imd wir werden alsdann diese Kategorie genauer ihrer
Anlage und Entstehung nach betrachten.
Virgil hat allerdings von der Allegorie Gebrauch gemacht, be-
sonders in den Bucolica; aber nur, wenn es sich mehr um Thatsachen als
um Ideen handelte. Eine gewiss authentische Tradition, die bis auf
Asconius Pedianus und die Zeiten des Dichters selbst zurückgeht,
deutete darauf hin, dass Virgil in den Bucolica versteckt auf Er-
eignisse seines Lebens oder seiner Zeit angespielt habe. Aber diese
vage und etwas allgemeine Notiz liess doch wieder darüber im
unklaren, wie weit der Dichter mit seiner Allegorie gegangen sei,
so dass die Meinungen auch der ältesten Ausleger hierüber getheilt
Avaren. Einige fassten gewisse Stellen wörtlich auf, oder, wie Ser-
vius sich ausdrückt „simpliciter", andere erklärten sie „per allegoriam"
und hielten sich für verpllichtet, allen möglichen Thatsachen nachzu-
spüren, auf welche der Dichter habe anspielen wollen. Servius
strebt in seiner Beurtheilung dieser verschiedenen Ansichten da-
nach, die allegorische Erklärungsweise, die er oft als „non neces-
saria" bezeichnet, zu beschränken und entscheidet sich dann für
das „simpliciter^)". Daraus folgt freilich nicht, dass nicht auch
er bisweilen die allegorische Erklärung als möglich zugesteht,
1) „Ergo per ramum virtutes dicit esse sectandas, qui est y litterae
imitatio, quem ideo iu silvis dicit latere, quia re vera in huius vitae
confusione, et maiore parte vitiorum virtutis integritas latet." Serv.
Ad. Aen. VI, 136. Wegeu dieser Bemerkung findet man in den ältesten
Virgilausgaben die dem Dichter zugeschriebeneu Verse des Maximin in
Betreff der symbolischen Kraft des Buchstabens. (Antliol. lat. No. 6;3'2.
ed. Riese):
,,Littera Fytagorae, discrimine secta bicorui,
Humanae vitae specimen praeferrc videtur etc."
2) „Refutandae enim sunt allegoriae in bucolico Carmine, nisi
cum ex aliqua agrorum perditorum necessitate descendunt." ad Ecl.
III, 20.
56 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
selbst wenn sie jedes vernünftigen Grundes entbehrt^). Ihn ganz
von der Schuld loszusprechen und alles seinen Interpolatoren zur
Last legen zu wollen, hiesse seine Verdienste übertreiben und die
Zeit, in der er lebte, verkennen. Wie weit aber damals eine solche
Erklärungsweise sich versteigen konnte, sieht man aus dem An-
fang des Commentars zur ersten Ecloge. Nachdem kaum gesagt
ist, dass unter der Person des Titjrrus Virgil zu verstehen sei
„zwar nicht immer, sondern nur wo dies aus vernünftigen Grün-
den zu verlangen ist" wird das „sub tegmine fagi" für eine wun-
dervolle Allegorie erklärt, weil „fagus" vom griechischen „qDcvyeri/"
„essen" herkömmt, und der Dichter also mit diesem „fagus" auf
den Besitz anspielt, der ihm zum Lebensunterhalte diente, und der
ihm durch die gütige Protection des Augustus wieder erstattet
wurde. Weiterhin in den Worten „ . . . . ipsae te, Tityre, pinus,
Ipsi te fontes, ipsa haec arbusta vocabant" will man wieder in
Tityrus Virgil, in den Pinien Rom, in den Quellen die Dichter
oder Senatoren und in dem Gebüsch die Gelehrten sehen. Viel-
leicht hat Suringar Recht , wenn er diese Erklärung dem Servius
abspricht^), aber für uns genügt die Wahrnehmung, dass derartige
Interpretationen nicht allein zu Servius Zeiten, sondern schon früher
möglich waren.
Unzweifelhaft gehört dem Servius wie seiner ganzen Zeit die
übertriebene Idee von der ungeheuren Gelehrsamkeit Virgils au,
eine Idee, die an mehreren Stellen des Commentars zu Tage kommt.
Mit sichtlicher Genugthuung citirt er die Ansicht Metrodors , dass
einige mit Unrecht den Virgil beschuldigt hätten, nichts von der
Astrologie zu verstehen'^), und am Anfang des 6. Gesanges der
Aeneis bemerkt er: „Der ganze Virgil ist voller Gelehrsamkeit,
besonders in diesem Buche, dessen Haupttheil dem Homer ent-
nommen ist. Einiges ist einfach zu verstehen, anderes der Geschichte
entlehnt, vieles stammt von der Weisheit ägyptischer Philosophen
und Theologen her, sodass man ganze Tractate hierüber geschrie-
ben hat."
1) Vgl. Schaper, Ueber die Entstehungszeit der VirgilischenEclogen,
in den Jahrb. f. Philol. u. Paed. Vol. 90 (1864) p. 640 ff.
2) Hist. erit. scholiastt. lat. II, 79. Die Ausgabe von Lion hat da-
gegen für „arbusta, frutcta, id est scholastici" „arbusta, fructeta scho-
lastici vocabant."
.3) Ad Georg. I, 320. Es fehlt nicht an Ausdrücken der Bewunderung
wie: „unde apparet divinum poetam aliud agentera verum semper attin-
gere" ad Aen. III, 349.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 57
Der Commentar des Servius war wesentlich eine grammatische
Arbeit, welche in dem grammatischen Unterricht für die Erklärung
des Dichters dienen sollte. Es fehlt darin nicht an rhetorischen Beob-
achtungen, weil der Unterricht in Ehetorik und Grammatik sich an
vielen Stellen berühi-te, aber die rhetorische Erklärung ist nicht der
Hauptzweck des Commentars. Ehetorisch hingegen ist der Com-
mentar des Tiberius Claudius Donatus zurAeneis, der etwas später
lebte als der oben erwähnte Donat. Der Verfasser schrieb sein
"Werk, ohne mit den Worten sehr zu sparen, um den Mängeln der
damals gebräuchlichen Commentare abzuhelfen^). Er glaubt, dass
Virgils vornehmstes Talent sich in der Ehetorik zeige, und der
Dichter anstatt von Grammatikern vielmehr von Ehetoren erklärt
werden müsse-). Deshalb sind seine Bemerkungen auch nicht
grammatikalisch, sondern begnügen sich, die einzelnen Stellen der
Aeneis nach ihrer rhetorischen Bedeutung zu erklären. Für das
Verständniss des Dichters oder die Kenntniss des Alterthums bietet
der Commentar wenig für mis, und daher erklärt sich, weshalb
sich die Gelehrten so wenig um ihn bekümmert haben. Die letzte
Ausgabe desselben stammt aus dem 16. Jahrhimdert.^) Im Unter-
schied von seinen Zeitgenossen hat sich der Verfasser so wenig
bemüht, seinem Werke ein gelehrtes Ansehen zu geben, dass er
absichtlich jede gelehrte Anmerkung fortliess und auch nicht einmal
von dem technischen und schematischen Theil der Ehetorik den Ge-
brauch machte, den man erwarten sollte. Bei dieser farblosen Un-
bestimmtheit konnte er in gewisser Beziehimg gerechter sein in der
Beurtheilung des wii'klichen Zweckes der Aeneis. Er findet in
derselben nichts anderes als die Thaten des Aeneas, die Verhen--
lichimg Eoms und des Augustus dai-gestellt, und durchaus kein
1) „ melius existimans loquacitate quadam te facere doctiorem,
quam tenebrosae brevitatis vitio iu erroribus linquere.'' Praef.
2) ..Si Maronis carmina competenter atteuderis et eorum meutern
commode comprehenderis. invenies, in poeta rhetorem summum; atque
inde intelliges Vergilium non grammaticos sed oratores praecipuos tradere
debidsse." Praef.
3) Idi benutze hier eine venezianische Virgilausgabe (Giunt.) 1.544.
Eine andere Ausgabe erschien zu Neapel 1.5.35 und zu Basel (G. Fabri-
cius) 1561. Crinitus machte aus dem Commentar nach einem Floren-
tiner Codex 1496 einige Auszüge, war aber wenig befriedigt davon: ,,videtiir
opera ludi, non enim omnino doctus hic Donatus." Vgl. Mommseu
Rhein. ^Mus. N. F. XVI, 139 f.
5!^ Yirgil in der Lilcratur bis auf L)aiitL'.
wissenschaftliches und philosophisches Werk '). (Dies war gegen die
Kritiker gerichtet, welche dem Dichter Inconsequeuzen und Wider-
sprüche in Bezug auf philosophische Grundsätze zur Last gelegt
hatten.) Nichts destoweniger ist er ebenso wie die andern Conuuen-
tatoren von Virgils ausserordentlichem \ind mannigfaltigstem Wissen
überzeugt, so dass nach seiner Ansicht der Mensch für die
allerverschiedeusten Beschäftigungen bei Virgil nützlichen Kath holen
kaun^). Das stimmt auch mit der Idee vom vollendeten Ivedner
überein, der ja, wie schon Cicero bemerkte, ein Mensch von uni-
versellem Wissen sein muss^).
])onat konnte in der That zufrieden sein, was den Gebrauch
Virgils von Seiten der Khetoren anlaugt. Die erste Erklärung des
Dichters lag natürlich den Grammatikern ob; al)er die Art, wie
sich seiner die Rhetoren bedienten, Hess auch nichts zu wünschen
übrig. Besonders in der Lehre von den Figui-en, wählten sie aus
ihm die Beispiele, wie man aus mehreren Commentaren und kurzen
Abhandhmgen über die Figuren sieht, die sich in manchen Virgil-
Ir.indschriften finden^). In dem Tractat des Julius Kufinianus sind
die Beispiele fast ausschliesslich dem Virgil entnommen-'). Aus
vier der ersten Schulautoren, Virgil, Sallust, Terenz und Cicero,
zog Arusianus gegen Ende des 1. Jahrhunderts seine „Exempla lo-
cutionum" zum Gebrauch in den Khetorschuleu''), Zu derselben Zeit
vereinigten die Rhetoren Titianus und Calvus in einem Special-
werke die aus Virgil entlehnten Themen, die zu Beispielen der
Redekunst verarbeitet waren ^). Wir besitzen noch Declamationen
1) .... iuveniemus Vergilium id esse professum ut gesta Aeneae per-
rurreret, non ut aliquam scieutiae intcriovis vel philosophiae partem
quasi assertor assumoret." Praof. (Vgl. auch was den Zweck der Acueis
l'ctriftt, den Anfang der Pracfatio).
•J) ,,lnti'rea hoc quoque ujirandum debet advcrti, sie Aeneae laudein
esse dispositam nt in ipsa cxquisita arte omniajnaterianim genera con-
venireut, quo Ht ut Vei'giliani carni inis lector rhetoricis praeceptis iustrui
possit, et omnia vivendi agendique officia reperiri." Praef.
.S) Vgl. Quintil. II, 21.
4) Vgl. Hagen, Scholia Bernensia, p. 733, 984.
5) Rhetoros latini minores, ed. Halm p. 38 ff. ,
6) Vgl. Haupt im Hermes, IIJ, p. 2-2:{.
7) „Et Titianus et Calvus qui themata omnia de Vergilio elicuerunt
et adformarunt ad dicendi usum, in exemplo contro versiarum has duas
posuerunt allocutiones, Venerem agere statu absolutivo cum dicit lunoni
,. causa fuisti periculorum his quibus Italiani fata concesserunt. Innonem
vero niti statu causativo et relativo, per quem ostcndit non sua causa
Virgil iu ilcr Literatur bia auf Dante. 50
in Vers und Prosa über Themen aus Virgil, welche dieser Epoche
angehören^). Eine gelehrte rhetorische Arbeit, heute verloren,
rührte von Avienus her, der es unternommen hatte, in Versen
ausführlich über die von Virgil nur kurz berührten Sagen und
Begebenheiten zu handeln^). Mitten in den krankhatten Ueber-
treibungen, zu denen sich die alle Köpfe beherrschende Rhetorik
verstiegen hatte ^), hörte Virgil also nicht auf zu glänzen, wenn
gleich nach dem Geschmacke der Zeiten sich nun sein Ruhm von
einer andern Seite gezeigt und das Irrationale desselben mehr ent-
wickelt hatte.
Wer also jene Schulen der Grammatiker und Rhetoriker ver-
liess, hatte gelernt, Virgil als Vorbild des Grammatikers und Rhe-
tors zu betrachten, als den Hauptschriftsteller, der in sich alle
jene hohen Begriffe von Wissen und Cultur, die dem Zeitalter
eigen waren, vereinigte. Das Ergebniss dieser Ansicht bei einem
gebildeten Manne und Fachgelehrten zeigt sich in den Satumalien
des Macrobius, die den Virgil als Avunderbaren Schriftsteller eines
encyklopädischeu Wissens verherrlichen.
Macrobius (4 — 5. Jahrh.) verfasste das Werk, welches allein
unter den auf uns gekommenen (abgesehen von den Commentaren)
über Virgil gleichsam ex professo handelt. Zum Nutzen seines Sohnes
wollte er die aus jeder Art von Lectüre geschöpften Bemerkungen
zusammenstellen. Um nun aber diese lose Masse miteinander zu
vereinigen, Ijediente er sich nicht allein, wie andere vor ihm, der
Form des Dialoges beim Gastmahl, sondern er reducirte denselben
fest ganz auf eine Discussion über die Verdienste und das Wissen
Virgil's, entwickelt so verschiedene Zweige des Wissens und zeigt
die damalige Bedeutung Virgils für dieselben. Dadurch ist
das Werk aus einer Kritik über die Vorzüge Virgils zu einer
Troiauos laborassc, sed Vcueris." .Serv. zur Aeu. X, 18. Zu derselben
Zeit wurde -die Sitte, Themen aus Virgil zu wählen, auch in den
Rhetorschulen Africas befolgt, wie wir aus Augustin, Confess. I, 17
wissen.
lì In Prosa die Declamation des Ennodius „verba Didonis cum
iibeuntem videret Aeneam" über Aen. IV, 365 ff. (Dictio XXVIII); über
die in Versen weiter unten.
2) Vgl. Ribbeck, Proleg., 186 f.
a) „Post apicem divinitatis ego illa suiu quae vel romniendo si sint
facta vel facio .... ; nos regna rogimus et imperantes salubria iubemus ....
tuto scipiones et trabeas et pomposa recitatio . . . . Poetica, juris iieritia,
dialectica, arithmetica cum me utantur quasi genitrice, me tamen asse-
rente sunt pretio." Dies sagt die Rhetorik bei Ennodius, Opusc. VI.
60 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
Verherrlichung desselben geworden. Zu einer solchen stempelt es der
darin herrschende Ton enthusiastischer Bewunderung, so wie das
l'rogramm des auf Virgil bezüglichen Theiles, wie es im ersten
Buche festgesetzt ist. Selbst ein ausgezeichneter Gelehrter für seine
Zeit führt Macrobius die gelehrtesten seiner Zeitgenossen redend
ein und erhebt sich mit diesen zu einer weit über dem gewöhn-
lichen stehenden Betrachtungsweise des grossen Dichters. Die
Thätigkeit der Schule Virgil gegenüber hält er für klein und niedrig
und des Dichters nicht würdige); er sieht in ihm weit mehr, als
die Grammatiker seiner Zeit darin zu sehen gewöhnt waren, und
eben deshalb will er die schönsten Vorzüge des Dichters, die andere
iiiclit bemerkt haben, auseinandersetzen. Trotzdem aber wird er
in dieser Arbeit, die eigentlich eine Reaction gegen die falschen
und dürftigen Ideen der Zeit sein will, von dieser selbst so beein-
tiusst, dass er oft selbst, ohne es zu merken, von der Bahn des rich-
tigen Urtheils ablenkt.
Der Vii-gil des Macrobius ist nun aber nicht allein auf allen
Gebieten des Wissens bewandert, sondern geradezu unfehlbar^),
^lacrobius gibt nicht zu, wie noch viele Grammatiker vor ihm, dass
in den Schöpfungen des Dichters ein Fehler oder Irrthum vorkomme,
bondem stellt es ganz der Fähigkeit des Lesers und Studirenden anheim.
1) Auf den Gebrauch Virgil's in der Schule iu dieser und der fol-
genden Zeit spielt ausser Macrobius auch Orosius (I, c. 18) an: „Aeneas
qualia per triennium bella excitaverit, qiiaiitos populos iinplicuerit, odio
excidioque afflixerit, ludi literari disciplina nostrae quoque raemoriae
inustum est"; und auch Fulgentius iu einer dem Macrobius noch
mehr verwandten Weise: ,,sed illa tantum quaerimus levia quae men-
sualibus stipendis, grammatici distrahunt puerilibus auscidtationibus."
De Verg. contin. p. 742; si me scholarum praeteritarum non fallit me-
moria" ebend. p. 748. „ünde et infantibus, quibus haec nostra (Vergili)
materia traditur, isti sunt ordiues consequoudi" cbend. p. 747. Im 4. Jahrh.
wurden, wie wir aus Ausonins ersehen, Virgil uud Homer in den Schulen
wie zu den Zeiten Quintiliaus gelesen, und mit ihnen Menander, Terenz,
Horaz, Sallust. Idyll.4,46*ff. Ein Grammatiker wird vonAusoniu8(Epigr. 13.5)
bezeichnet als: „arma virumque docens atque arma virumqué peritus";
Sidonius Apollinaris (5. Jahrh.) stellt in dem Pauegj^ricus zu Ehi-en des
Anthemius Virgil als den hauptsächlich von jenem studii-ten lateinischen
Schriftsteller hin, und erst nach ihm Cicero, Livius, Sallust, Varrò,
Plautus, Quintilian und Tacitus; Carm. 11, 184 ft".
•2) „Nullius disciplinae expers." In somn. Scip. I, 6, 44 ; „discipli-
narum omnium peritissimus" ebend. l, 15, 12; „omnium disciplinarum
peritus" Sat. I, 16, 12.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 61
derartige Schwierigkeiten aufzulösen^). „Ueber das reiche Material",
sagt er, „was in seinen Werken ist, und worüber die meisten der
Ei-klärer ohne weiteres hinwegzuschreiten pflegen, gerade als ob es
einem Grammatiker unmöglich ist, etwas anderes als Worte zn
verstehen " will er den Leser aufklären. „Wir," fährt er
fort, „die wir für feinere Dinge Gefühl haben, wollen den Zugang
zn dem heiligen Gedichte eröffnen, uns bemühen den Pfad aufzu-
spüren, auf welchem man zu den verborgenen Ideen desselben
gelangt, und der Verehrung der Gelehrten das verborgene Heilig-
thum zugänglich machen^)." Im Dialog selbst repräsentirt ein
gewisser Euangelus den Gegner des Dichters. Allein mit dieser Figur
ist es nicht ernst gemeint. Man kann nicht geradezu sagen, dass
in ihr die Ansicht der vorurtheilsfreien Kritiker der frühereu
Zeit dargestellt sei, aber noch weniger der späteren, weil damals eine
derartige Persönlichkeit gar nicht esistirte. Sie bietet vielmehr nur
durch ihre gelegentlichen Bemerkungen Gelegenheit zu Lobreden
auf Virgil; und da der Verfasser fürchtet, dass ihre Worte immer-
hin auch einmal ernst genommen werden könnten, so bemüht er
sich, da wo er den Euangelus einführt, ihn mit den schwärzesten
Farben zu zeichnen, als einen Bösewicht von verdorbenem Cha-
rakter und höchst unangenehmen Gesellen. Kaum wird sein Er-
scheinen gemeldet, so geben alle ihren Abscheu zu erkennen^);
sobald er den Mund aufthut, um etwas gegen Virgil zu sagen,
überfällt alle ein Schauder*). Einige seiner Bemerkungen waren
auch früher schon von Kritikern gemacht worden; aber im allge-
meinen sucht er gerade die am wenigsten anfechtbaren Ideen zu
bekämpfen und will sogar läugnen, dass Virgil, der in einem Dorfe
der Veneter geboren sei, überhaupt etwas vom Griechischen und
von gi-iechischen Schriftstellern habe wissen können-''). Eine solche
1) „Quem nullius unquam disciplinae error involvit" in S. Scip. II,
8, 1. „manifestum est omnibus, quid Marc dixerit, quem constai erroiis
iguarum: erit enim iugenii singulorum invenire, quid possit amplius pro
absolvenda hac quaestione conferri" in S. Sei]). II, 8, 8.
2) Sat. I, 25, 12 fif.
3) „Corrugato indicavere vultu plerique de considentibus Euangeli
iuterventum otio suo inamoenum, minusque placido conventui congruen-
tem. Erat enim amarulenta dicacitate et lingua proterve mordaci procax,
ac securus offensarum, quae sine delectu cari vel non amici in se passim
verbis odio sereutibus provocabat." Sat. I, T, 2.
4) „Cumque adhuc dicentem omnes exhorraissent." Sat. T, 24, 8.
5) „Unde enim veneto rusticis parentibus, inter sylvas et frutices
educto, vel levis graecarum notitia literarumV" Sat. V, 2, 1.
62 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
Albernheit dient dann natürlich wieder zum Verwände, das tiefe
Wissen, welches "Virgil vom Griechischen besass, hen'^orzuheben,
ein Thema, über das fast das ganze fünfte Buch handelt. Und
ebenso gibt eine andere Bemerkung des Euangelus Veranlassung
zu der ganzen Discussion über Virgils Verdienste , welche den Haupt-
bestandtheil des ganzen Werkes ausmacht. Euangelus sieht in
Virgil nur einen Dichter einfachster Art, dessen Werk voll von
Fehlern stecke und eigentlich verdiene , verbrannt zu werden ^).
Dagegen behauptet wieder Symmachus, dass Virgil sich nicht allein
für den Unterricht der Knaben, sondern noch zu weit höheren Zwecken
eigne. „Du scheinst mir", erwidert er dem Euangelus, „den Virgil
von dem Standpunct aus zu betrachten, von dem aus wir es thaten,
als Avir noch Kinder waren und in der Schule seine Verse her-
sagten; allein der Ruhm Virgils steht so hoch, dass weder Lob
ilin vergrössern, noch Tadel vermindern kann." Und hier wird
dann das Gespräch von den Uebrigen aufgenommen, die sich gegen
Euangelus vereinigen, sich verpflichten, jeder über einen Zweig des
dem Virgil eigenen Wissens zu reden, und so den Inhalt der folgenden,
heute leider unvollständigen Bücher festsetzen. Eustathius will
die Erfahrenheit Virgils in der Astrologie und Philosophie beweisen,
Flavianus und Vettius seine Kenntniss des Augural- und Pontifical-
rechtes, Symmachus seine Fertigkeit in der Rhetorik, Eusebius seine
Gewandtheit in der Rede, Eustathius seine Benutzung griechischer
Schriftsteller; Furius Albinus zeigt, wie viel Virgil von den alten
lateinischen Dichtern für die Verse, Caecina Albinus, wie viel er für
die Sprache gelernt hat; Servius, der Hauptkeuner Virgils, soll sich
über einige schwierige Stellen des Dichters verbreiten. Der ganze Theil
des Werkes, der die Astrologie und Philosophie enthielt, ist ver-
loren, allein man kann sich denken, was hier von einem Neu-
platouiker zu erwarten war, zumal da wir noch eine Probe davon
in der Schrift über den „Traum des Scipio", wo Macrobius in dem
Virgilischeu „Terque quaterque beati" die Pythagorische Zahlenlehre
wiedererkennt, besitzen"). Auf festerer Grundlage l)eruht nur, trotz
1) „Qui euim moriens poema suum legavit igni, quid uisi famae
snae, posteritati suV)traliendi curavitV Nee immerito; urubuit (juippe de
se futura iudicia, si legeretnr petitio Deae precantis tilio arma a marito
cui soli nupserat, nec ex eo prolem suscepisse se noverat, vel si mille
alia nudtum pudenda, seu iu verbis modo graecis modo barbaris, sen in
ips-i dispositioue operis dt'jntdionderentur." Sat. I, 25, G, 7.
2) In 8. Scip. i, G, 44. Den Inhalt dieses Theiles ersieht mau aus
den Worten des ersten Buches: „de astrologia tota(iue pliilosophia, quam
Virgil in iler Literatur bis auf Dante. G3
der auch hier vorhandenen Uebertreibungen, der Theil, welcher sich
auf das Auguralrecht, die Bildung Virgils und den Vergleich zwischen
Griechen und Römern bezieht^), ein Theil des Werkes, der für
lins, wenn gleich aus einem ganz andern Gesichtspuncte betrachtet,
der wichtigste ist. Uns überrascht hier bei einem Schriftsteller
dieser Zeit sowol die Kenntniss einer so grossen Zahl griechischer
und römischer, damals nicht mehr gelesener Autoren, als auch eine
gewisse Feinheit in der Beobachtung bei Vergleichen Virgils mit
anderen Dichtern. Freilich hat sich Macrobius zum grossen Theil
darauf beschräaikt, zu compiUren, nicht allein aus Servius, der selbst
compilirte, sondern auch aus vielen älteren grammatischen und ge-
lehrten Werken, die er oft, ohne es zu sagen, wörtlich copirt').
So hat er dem Werke des Gellius u. a. auch die Parallele zwischen
Virgil und Pindar bei der Beschreibung des Aetna entlehnt. In
der Zusammenstellung aller solcher, gemss älteren Arbeiten über
Virgil entlehnten Vergleiche ist die Absicht des Macrobius, Virgil
zu verherrlichen, unverkennbar. Zuerst führt er die Stellen an,
in denen Virgil den Homer übertrifft, dann die, in denen er
ihm gleich kommt. Das, worin er ihm unterlegen ist, behandelt
er zuletzt, und zwar nicht ohne dabei die Ausdrücke zu mildern ^).
Ebenso hält er es für nöthig, bevor er von dem Gebrauche spi-icht,
den Virgil von den alten lateinischen Dichtern gemacht hat, zu
beweisen, dass darin kein Fehler liege sondern man im Gegen-
theil dem Dichter Dank wissen müsse dafür, dass er in seinem
Werke Dinge verewigt habe, die sonst vergessen oder verachtet
wi-rden wären; übrigens, meint Macrobius , klängen diese Stellen in
parcus et sobrius operi suo, nusqnam reprehendendus aspersit." Sat. J,
24, 18.
1) Die Gelehrsamkeit Virgils im Griechischen wird vou Eustatbius
l'olgendei-massen definirt: ,,Cave, Enangeli, graecorura quemquam, vel de
sumniis auctoribus, tantam graecae doctrinae hausisse copiam credas
quantani sollertia Maronis vel adsecuta est, vel in suo opere digessit,"
Sat. V, 2, 2.
2) Er sagt das ganz offen in der Vorrede (4) : „nee mihi vitio vertas
si res quas ex lectione varia mutuabor, ipsis saepe verbis quibus ab ipsis
auctoribus enarratae sunt exjilicabo .... et boni consulas oportet si uo-
titiam vetustatis modo uostris non obsciire modo ipsis antiquorum fide-
liter verbis recoguoscas."
3) „Et quia non est erubescendum Vergilio si minorem se Homero
vel ipse fateatur, dicam in quibus mihi visus est gracilior auctore."
V, 13, 1.
64 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
der Dichtung Virgils viel lierrlicber, als iu den Originalen'). Die
beiden Abhandlungen, die sich auf Virgil als Rbetor und Orator
beziehen, sind nicht vollständig auf uns gekommen. In dem Ab-
schnitte, der uns von der ersteren erhalten ist, wird die Frage
aufgeworfen, ob der Redner mehr von Cicero oder Virgil lernen
kann, was uns nach dem, was wir von den vorhergehenden Epochen
gehöii haben, nicht Wunder nehmen kann. Bei allem Respect
gegen Cicero und bei allen Protesten gegen das Verfahren, zwischen
zwei so hohen Geistern als Schiedsrichter auftreten zu wollen,
fallt doch schliesslich die Entscheidung zu Gunsten Virgils aus,
Cicero, sagt Eusebius, hat nur eine Eigenthümlichkeit des Stils
(„cojjiosum") , Virgil besitzt deren vier („copiosum, breve, siccum,
pingue"). Er ist wie die Natur, die auch an verschiedenen und
einander widersprechenden Formen reich ist; man kann sagen, dass
er in sich alle Eigenschaften der zehn attischen Redner vereinige,
und man wüi-de doch noch nicht genug sagen ^). Dieser Enthusias-
mus des Macrobius für die Beredtsamkeit Virgils erinnert an
Quintilian, der in Homer die universelle Vollendung der Redekunst
erblickt. Am geschmacklosesten ist aber der Theil, der die Rhe-
torik Virgils betrifft. Das uns erhaltene handelt besonders von
der Erregung der Affecte und beschränkt sich auf den einfachen
Beweis, dass Virgil die auf das „Pathos" bezüglichen rhetorischen
Gesetze beobachtet hat; dieselben Averden aufgezählt und für jedes
einzelne dann die entsprechenden Virgilstellen zum Belege ange-
führt. Schon die Rhetoren citirten beim Aufstellen dieser Gesetze
oft Virgil als Autorität, viele geradezu als die erste; Macrobius
1) „Cui etiam gratia 'hoc nomine est habenda, quod nonnulla ab
illis in opus suum quod aeterno mansurum est, transferendo^ feeit ne om-
nino memoria veterum deleretur: quos, sicut pi'aesens sensus ostendit,
non solum neglectui, verum etiam risui habere iani coepimus. Deniquo
et iudicio transferendi et modo imitaudi consecutus est ut quod apud
illum legeriraus alieimm, aut illius esse malimus aut melius hie quam
ubi natum est sonare miremur." Sat. VI, 1, 5, 6.
2) „Nam qualiter eloquentia Maronia ad omnium mores integra est,
nunc brevis, nunc copiosa, nunc sicca, nunc üorida, nunc simul omnia,
interdum levis aut torrens; sie terra ipsa hie laeta segetibus et
pratis, ibi sii vis et rupibus hispida, hie sicca arenis, hie irrigua
fontibus, pars vasta aperitur mari. Ignoscite uec nimium nie vocetis
qui naturae rerum Vergilium comparavi. Intra ipsum onim mihi
Visum est si dicerem deceni oratorum, qui apud Athenas atticas
floruerunt, stilos inter sc diver.sos huuc unum permiscuisse." V, 1,
19, 20.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 65
dagegen rühmt ihn, weil er den Vorschriften der Rhetoren gefolgt
sei. Und so erscheint jene Partie seines Buches wie ein umge-
kehrtes Capitel der Rhetorik, was es wol auch in der That ist.
Macrobius fand füi- sein Werk den Boden auf das günstigste
vorbereitet, sowol in materieller wie geistiger Hinsicht. Denn der
Verfall des Geschmackes, der sich darin trotz aller Anstrengungen
des Autors so deutlich offenbart, währte schon eine geraume Zeit;
wir haben die ersten Anzeichen davon und das allmälige An-
wachsen jenes alle Gränzen überschreitenden Ruhmes des Dichters
iu einer nunmehr ihrem Ende sich zuneigenden Periode kennen
gelernt. In dem Auflösungsmomente der alten Welt wird das
Eigenthümliclie jener hohen Meinung, die man von dem Dichter
in den letzten Augenblicken des Heidenthums hatte, durch das
Werk eines dieser Zeit angehörigen bedeutenden Mannes in cha-
rakteristischer Weise formulirt, als Virgils Ruhm eben im BegriÖ'
war, in den ganz anders gearteten Auschauungskreis des chi'ist-
lichen Mittelalters üb einzugehen, dessen Grenzen wir nunmehr fest-
zustellen haben.
Dieser Epoche des Verfalls und noch den Traditionen des
Heidenthums anhängend^), gehören indessen noch zwei Autoren an,
welche nicht ohne Einfluss auf die Fortpflanzung des Ruhmes des
Dichters die Jahrhunderte der Barbarei hindurch waren; die
grossen Grammatiker, Donat und Priscian. Diese beiden Com-
pilatoren, der Zeit nach fast 2 Jahrhunderte von einander getrennt,
beherrschten die Schulen der Grammatiker während des Mittelalters
derartig, dass ihr Einfluss theils direct theils indirect sich bis auf
imsere Zeiten erstrecken konnte^). Donats Ruhm beruht nicht
eigentlich auf dem durch Servius verdrängten Virgilcommentar,
sondern auf seiner Grammatik, die in den Schulen so viel
gebraucht wurde, dass man schliesslich mit Donats Namen die
Grammatik überhaupt bezeichnete. Priscian aber ei'langte durch
seine ausführlicheren und gelehrteren Compilationen eine solche
Autorität, dass die Schriftsteller des Mittelalters ihrer Verehrung
für ihn oft den begeistertsten Ausdruck leihen^). Ohne sich von
1) Als solcher zeigt sich überall in seineu Schriften Priscian, ob-
gleich Christ, wenigstens in seiner Auswahl der massgebenden Schrift-
steller. Ganz anders der wenig spätere Isidor.
2) Vgl. Keil, Grammat. lat. II, p. IX, f. XXIX ff. IV.
f. XXXV ff.
.3) Eine Probe davon bei seinem im Mittelalter viel benutzten Schüler
Eutychis: „de quibus omnibus terminationibus et traductionibus quia ro-
Compai-etti, Virgil im Mittelalter. 5
66 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
der Ueberlieferung der älteren Grammatiker, aus denen sie com-
pilirten, zu eutfei'neu, wählen Priscian und Donat aus Virgil mehr
als aus jedem anderen Schriftsteller ihre Beispiele aus, so dass,
wenn Virgil wenig gelesen und beachtet wäre, sie durch ihre Au-
torität ihm hätten Leser und Verehrer verschalfen müssen ^). Priscian
zeigt uns in einer sehr gebrauchten Specialschrift die Art
und Weise, mit der man sich des Vii-gil beim grammatischen Un-
terricht bediente: er nimmt nämlich von jedem Buche der Aeneis den
ersten Vers heraus und der Schüler muss jedes einzelne Wort metrisch
und grammatisch analysiren. So findet er Stoff genug, an diesen
Beispielen den Schüler die Hauptregelu und Bestimmungen der
Grammatik und Metrik wiederholen zu lassen^). Bemerkenswerth
ist, dass Lucan, der während des Mittelalters sehr in Mode war,
von Priscian fast so oft wie Horaz citirt wird; aber der Autor,
den er nächst Virgil am öftesten anführt, ist Terenz.
Indess auch ausserhalb des Kreises der Gelehrten und Scho-
lastiker blieb der Dichter populär. Man fuhr fort, die Stoffe thea-
tralischer Darstellungen seiner Dichtung zu entnehmen; besonders
häufig waren in der Beziehung die Schicksale der Dido, welche
die Leute bis zu Thränen rührten und so beliebt waren, dass
man sie auf Stickereien, Gemälden und anderen bildlichen Dar-
stellungen oft abgebildet fand'^). Es fehlte auch nicht an öftent-
manae lumen facuudiae, meus immo communis omnium boniinum prae-
ceptor in quarto de nomine libro summa cum subtilitate disseruisse
cognoscitur." etc. Eutychis Ars de verbo, bei Keil, Gr. 1. V, 456. Vgl.
Thurot, Notices et extraits t. XXII, p. 63.
1) Unter den etwa 100 Beispielen des Donat in seiner Ars maior
stammen wol 80 aus Virgil. Eine sehr grosse Menge von Citaten bietet
Priscian in seinen weit ausgedehnteren und gelehrteren Schriften dar.
Virgil wird von allen Autoren am meisten, mehr als 1200 Mal citirt,
Terenz, der doch nächst Virgil am meisten gelesen wurde, nicht halb
so oft; dann folgen Cicero und Plautus, Horaz, Lucan, luvenal, Sallust,
Statins und Ovid; endlich Lucrez, Persius u. a. Bei der Aufzählung
in dem ersten Abriss dieses Werkes in der Nuova Antologia, sind
leider Fehler mit eingelaufen, die jedoch hier zu verbessern überflüssig
wäre.
2) Partitiones XII versuum Aeneidos principalium , bei Keil, Gr. 1.
III, 459—515.
3) „Quod ita elegantius auctore (Apollonio Rhodio) digessit ut fa-
bula lascivientis Didonis, quam falsam novit universitas, per tot tarnen
saecula speciem veritatis obtineat et ita pro vero per ora omnium volitet,
ut pictores fictoresque et qui figmentis liciorum contextus imitantur
eftìgics hac materia vel maxime in efficiendis simulacris tamquam unico
argumento decoris utantur, nee minus histrionum perpetuis et gestibus
Yirgil in der Literatur bis auf Dante. 67
liehen Vorlesungen und noch im 6. Jahrhundert hörte das dicht
gedrängte Volk auf dem Trajansforum die Aeneis recitireu ^). Da-
bei darf man nicht vergessen, dass zu derselben Zeit die schlechten
Verse Arator's über die Thaten der Apostel Begeisterung hervor-
riefen, und dieser wol sieben Mal aufgefordert wurde, sie öffentlich
vorzutragen"). Den Namen Virgil legte man schon so unbedeu-
tenden Männern bei, dass Ennodius darüber sehr erzürnt
war^). Die Hand eines Consuls emendirte und copiiie den Text
Virgils in dem kostbaren Codex, der uns geblieben isf^), Auszeich-
nungen, die übrigens auch schwachen Geistern dieser traurigen
Zeiten zu Theil wurden.
Aber wie verändert hatte sich doch damals das Aussehen
Eoms und des römischen Volkes! Die pomphafte und leere Rhe-
torik der Panegyriker wie des Symmachus, welche die glücklichen
und heiteren Prophezeihungen der vierten Ecloge^) auf die Zeiten
Gratians anwendet, lassen den Ruin nur noch trauriger erscheinen.
Weit natürlicher und richtiger war das Gefühl des Hieronymus,
der, als er in seiner Einöde im Osten von Roms Einnahme durch
Alarich hörte, mit den Worten des Psalmisten schmerzli« Ii bewegt
ausrief: „Deus venerunt gentes in haereditatem tuam'')!" Der Er-
et cautitus celebretur." Macrobiua Sat. V, 17, 5. „Quod Maro Phoe-
nissae cantatur et Naso Coriunae." Victorin. Ep. ad Salm. 73. Vgl.
Auson. Epigi-. 118.
1) .,Aut Maro Traiano leetus in urbe foro"
Veuant. Fort. VI, 8, 26.
„Vix modo tarn nitido pomposa poemata cultu
Audit Traiano Roma verenda foro."
Ebend. TU, 20, 7.
2) Vgl. V. Labbé, Bibl. nova mss. I, p. 688.
3) „In tantum prisci defluxit fama Maronis,
Ut te Vergilium saecula nostra darent.
Si fatuo dabitur tam sanetum nomen homullo
Gloria maiorum curret iu opprobrium etc."
Ennod. Carm. II, 118 tf.
Manche glauben mit Unrecht, dass es sich hier um den Grammatiker
Virgil handelt. In der Zeit des Verfalls und im Mittelalter besassen
oder nahmen viele den Xamen Virgil an. Vgl. Ozanam, La civilisat.
ehret, chez les Francs, p. 426.
4) Vgl. über den Codex Ribbeck, Prol. p. 209 ff.
5) „Si mihi nunc altius evagari poetico liceret eloquio, totum de
novo saeculo Maronis excm-sum, vati similis, in tuum nomen excriberem.
Dicerem de coelo redisse justitiam etc. etc." Symm., Land, in Gratiau.
arg. 8, ed. Mai p. 27.
6) VgL Am. Thierry, Saint Je'rome, II, p. 191. ff.
6*
ßg Virgil in der Literatur bis auf Dante.
innerung an eine glorreiche Vergangenheit stand die traurige That-
sache des Verfalls gegenüber, die für den stolzen Eömer erniedri-
gende Berührung mit den entfesselten Barbaren und die Ahnung
einer finsteren und noch trauervolleren Zukunft. Obgleich Korn
und seine Weltherrschaft zusammenbrach, blieb doch eine Einheit
so vieler Völker bestehen, in deren Schöpfung Rom seine eigent-
liche Mission erfüllt hatte. Ln Geiste aller stand Rom immer als
Mutter aller Cultur und Civilisation da, ein Symbol wunderbarer
Gewalt, ein höchstes und poetisches Ideal jeder menschlichen Grösse.
Jenes starke und universale Römer -Bewusstsein, dem Virgil
sein Epos so vortrefflich angepasst hatte, war auch nach der Zer-
störung des Reiches noch zu wesentlich mit der lateinischen Cultur
verknüpft, als dass es hätte, so lange jene bestand, untergehen
können. Die breite Spur, welche die römische Herrschaft hinter
sich zurückliess und die Wolthaten, welche der Menschheit dar-
aus entsprangen, geben den zahllosen Aeusserungen jenes das
Reich selbst überdauernden Bewusstseins eine feste und reelle
Basis, die uns zeigt, dass jene nicht blos eine maschinenmässige
und äusserliche Reproduction des antiken Geistes ist. Freilich
waren die Verhältnisse tief umgestaltet und für einen grossen
Theil der antiken Cultur konnte jenes Gefühl nur passiv sein oder
sich nicht innerlich mit jeuer Cultur vereinigen. Der Geschmack
war durchaus verdorben, ästhetischen und künstlerischen Idealismus
gab es nicht mehr.
Die seelischen Kräfte, aus denen die Kunst entspringt, v/aren
gebrochen, oder mussten sich auf einem ihnen fremden Gebiete
bethätigen. In diesen Zeiten grosser moralischer und socialer Um-
wandelungen gab es zwar immer noch einen ungeheuren Vorrath
poetischer Kraft, die sich aber an Stelle einer künstlerischen Aeusse-
rung, nur noch auf die grossartige und imponirende Thatsache
jener Neuerung selbst bezieht. Christus war kein Dichter, aber
wie viel Poesie offenbarte sich nicht in seiner Persönlichkeit und
Thätigkeit, wie in der seiner zahlreichen Anhänger! Die Kunst,
mitten inne stehend zwischen dem unvollkommenen Denken und
Empfinden einer vergehenden und entstehenden Welt, in der sich
die heterogensten Elemente mischten und bekämpften, entbehrte
der für ihr Wesen nothwendigsten Bedingungen, Der Geist der
Völker war verirrt, zerstreut und ästhetischen Eindrücken ver-
schlossen, das künstlerische Gefühl verwildert oder erloschen. Gleich-
sam erstarrt folgte es noch der antiken Cultur, vor dem Geiste
standen immer noch ihre Producte, aber Zwecke und Ideale des-
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 60
selben waren zu sehr verändert, als dass man meinen sollte, dass
jene antiken Werke, wenn auch noch so studh't und bewundexi;,
einen stärkeren Eindruck hätten hervorbringen können, als den einer
Ijlossen Phantasmagorie. Wie wir aus Macrobius, den Grammatikern
und übrigen Schriftstellern ersehen, nahm Virgil den ersten Platz
in jenem Complexe von gelehrten scholastischen Traditionen ein.
Seine Gelehrsamkeit, nach der man schon von Anfang an den dichte-
rischen Werth in ziemlich inexacter Weise beurtheilt hatte, war
jetzt als der einzige Gegenstand der Bewunderung übrig geblieben.
Xunmehr ward dieselbe gemäss den Tendenzen der damaligen An-
schauung übertrieben, symbolisch aufgefasst und ging in Allegorie
und Mysticismus über, was sich aus der Herrschaft des Neuplato-
nismus wie des siegreichen Christenthums erklärt. Die Dichter
konnten nur noch mittelmässige oder schlechte Verse machen,
welche oft ihren Ursprung in der Schule der Grammatiker imd
Rhetoren hatten. Die Ktmst des grössten lateinischen Dichters er-
schien diesen Leuten wie ein Mysterium, dessen Schlüssel man in
der unbegränztesten und verborgensten Weisheit suchte. Es galt
als ein Beweis eines feinen und hohen Verstandes, wenn man in
seinen Werken wissenschaftliche Kenntnisse jeder Art und tiefe
philosophische Gedanken entdeckte.
Als der Mittelpunkt der ganzen überlieferten lateinischen Li-
• teratur, als ein Repräsentant der Weisheit der Alten, als Interpret
jenes universellen römischen Gefühls, welches das Reich über-
lebte, erlangte Virgils Name eine Bedeutung, die ihn, in dem la-
tinisii-ten Europa den Wirkungen der Civilisation überhaupt gleich
stellte ^). Mit solcher Mission von dem sterbenden Heidenthum beauf-
tragt, das sich noch im Todeskampfe anstrengte, die Züge seiner glän-
zenden und ruhmreichen Vergangenheit festzuhalten, erschien er
den folgenden Geschlechtern. Einige Jahi-hunderte bevor Dante
den Virgil „virtù somma" nannte, mochte Justinian, als er das ge-
waltige Denkmal, welches die practische Weisheit der Römer uns
hinterlassen hat, anfertigen Hess, wol eben so denken, indem er
1) In dem Panegyricus zu Ehren des Avitus lässt Sidouius Apolli-
uaris den Gotenkönig sagen: (v. 495 S.)
„mihi Romula dudum
Per te jura placent; parvumque ediscere jussit
Ad tua verba pater, docili quo prisca Marouis
Carmine molliret Scythicos mihi pagina mores."
70 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
Virgil dem göttlicheu griechischen Ei^iker an die Seite setzte, der
für ihn „der Vater aller Tugenden war\)."
Sechstes Capital.
Es liegt ims nunmehr ob, die Schicksale Virgils während des
Mittelalters zu verfolgen. Die Barbaren und das Christenthum
hatten die Gestalt der alten römischen Welt völlig verändert. Auf
der einen Seite drohte die Poesie den Schlägen des religiösen Fa-
natismus zu erliegen oder unter der Masse der theologischen Lite-
ratur zu ersticken; auf der anderen zeigte sich, dass die rohen
und ungesitteten Völker, welche jetzt in die civilisirte Welt ein-
drangen, keineswegs der Civilisation wegen oder um klassische
Studien zu treiben gekommen waren. Unterdrücker wie Unter-
diückte, Laien und Geistliche waren zu sehr in Anspruch ge-
nommen von der Sorge um ihr Leben und Seelenheil, als dass der
Geschmack für die Schönheit der antiken Literatur sich bei ihnen
hätte regen können. Und dennoch fand sich auch für sie noch
ein Rettungsmittel. Das Latein blieb überall die Schrift- wie Kirchen-
sprache. Aber um es nur einigermassen schreiben zu können, be-
durfte es bereits eines nicht geringen Studiums. Während es zur
todten Sprache herabsinkt, sind zwar die Sprachen des romanisii-ten
Europa schon im Begi'iffe, sich zu bilden, aber noch weil entfernt von
dem endgiltig abgeschlossenen Organismus eüier literarisch reifen
Sprache. Die Schulen, besonders die der Grammatiker, bestanden
daher weiter fort und man betrachtete, wie früher, die Grammatik
als ^Mittelpunkt aller der Disciplinen, die man für die neuen
Zwecke, besonders auf religiösem Gebiete für nöthig hielt.
Wenn wir auch nichts von den Stellen wüssten, welche von
den Gelehrten zum Beweise des Bestehens der Schulen im
Mittelalter gesammelt sind, so würde dies schon aus dem einen
Umstand erhellen, dass man nämlich nicht aufhörte, sich einer von
der gesprochenen Sprache verschiedenen Schriftsprache zu bedienen.
Man muss jedoch nicht diese Schulen für etwas höheres ansehen
wollen, als sie in WirkHchkeit sind. Man lernte hier nur das
aUernothwendigste. Denn die Studien profaner Wissenschaften waren
nicht mehr sich selbst Zweck, sondern mir Vorbereitung zu höheren.
1) „Sicuti cum poetam dicimus nee addimus nomen subauditur ajrad
Graecos egregius Homerus, apud nos Vergilius." lustin. Instit. §. 2;
„ .... et apud Homerum, patrem omnis viiiutis"; ebend. in fin. prooem.
Digest.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 71
Daher wurden die s. g. „sieben Künste", in welche man schon
vor Augustus den Unterrichtsstoff zerlegte^), mit der Zeit in
immer engere Grenzen gebracht und im Mittelalter immer mehr
beschränkt. Einst nahm die Anfertigung von Compendien, wie
Cato und Varrò solche verfassten, doch nur einen bescheidenen Raum
in der Literatur ein , weil das reale Leben selbst alle diese Zweige
des Wissens, welche man in jenen Werken zusammenfasste, durch-
drang. Nachdem jenes Leben aber erloschen war und die einzelnen
Fächer der profanen Wissenschaften nichts mehr producirten son-
dern immer mehr zusammenschrumpften, mussten nothwendig der-
artige Compendien entstehen und einen weit bedeutenderen
ßestandtheil der Literatur ausmachen. Dies beweisen die Encyclo-
pädien der sieben Künste eines Cassiodor, Capeila, Isidor, Beda
und anderer, die günstige Aufnahme, welche ihnen zu Theil wurde,
so wie ihre Berühmtheit während des ganzen Mittelalters, Man
bemerkt, dass in diesen Encyclopädien von allen Wissenschaften
die Grammatik den Verfassern am nächsten liegt; ihr dienten die
anderen nur gleichsam als Gefolge und zur Ergänzung. Die Be-
handlungsweise des Ganzen ist dabei eine derartige, dass man den
Verfasser des Werkes eigentlich immer nur als Grammatiker be-
zeichnen kann. Die Grammatik wird als erste unter den freien
Künsten angesehen und es verdient Beachtung, wenn man liest,
wie der Barbarenkönig Athalarich, in einem an den römischen
Senat gerichteten Befehl Betreffs der Besoldung der Professoren
der freien Künste die Grammatik preist, als wäre er selbst- ein
Römer. „Die erste Schule der Grammatiker," sagt er, „ist die
herrlichste Grundlage der Literatur, die ruhmreiche Mutter der
Beredtsamkeit, die richtig zu denken und zu sprechen versteht
Die Grammatik ist die Lehrerin der Rede, sie ziert das Menschen-
geschlecht, das durch den Gebrauch einer schönen Literatur s^ich
der Rathschläge der Alten bedienen lernt Den Barbaren ist sie
unbekannt Waffen besitzt auch jedes andere Volk, aber die
Kunst der Rede stand nur den siegreichen Römern zu Gebote ''^j."
Wo nun aber die Grammatik herrschte, da herrschte auch ihr
unzertrennlicher Begleiter Virgil, der ihr ja selbst die Gesetze vor-
schrieb. Virgil und die Grammatik hören im Mittelalter geradezu
1) Vgl. Eitschl, QuaestiouesVarrouianae, Bonn, 1845. M er cklin im
Philologus XIII, 736 ff. Jahn, Ueber die röni. Encyklopädien , Ber. d,
Sachs. Ges. 1850, 263 ff.
2) Cassiodor. Variarum IX, 21.
72 ^'^irgil in der Literatur bis auf Dante.
auf, zwei verschiedene Dinge zu sein und werden sjmonym. So,
heisst es bei Gregor von Tours (6. Jahrh.) dass Andarchius in
seiner Jugend „in den Werken Virgil's, im Codex Theodosianus
und im Rechnen unterrichtet wurde ^);" unter diesem Unterricht „in
den Werken Virgil's" ist aber nur die Grammatik zu verstehen;
ebenso wie es in dem Leben des S. Bonitus heisst, dass dieser
„in den Elementen der Grammatik und den Gesetzen des Theodosius"
unterrichtet ward^). Deshalb verglich man auch einen guten
Grammatiker mit Virgil'"'). Einen weiteren merkwürdigen Beleg
dafür bietet jener Grammatiker aus Toulouse (vielleicht aus dem
6. Jahrb.), der zwar ein Latein von sehr sonderbarem Gepräge
schrieb imd lehrte, wovon weiter \inteu, sich aber doch P. Virgilius
Maro nennen wollte und unter diesem Namen a\xch allein bekannt ist.
Dieser Zustand dauerte nun aber das ganze Mittelalter hin-
durch, bis mit dem Wiedererwachen der moderneu Literatur aucli
die Laienwelt za geistiger Thätigkeit erwachte und sich dem Stu-
dium weltlicher Dinge widmete. Die mittelbaren Gründe, welche
den Clerus des Mittelalters zur Pflege der sieben Künste antrieben,
waren nicht von der Art, dass sie neues Leben schaffen und einen
Aufschwung der Wissenschaften hätten hervorbringen können. Die
antike Tradition, die schon in den letzten Zeiten des Heidenthuras
imfruchtbar geworden, trat diesen vom Geiste des Christenthums
durchaus beheiTschten Jahrhunderten entgegen, gleichsam wie eine
Substanz, die in eine völlig heterogene Flüssigkeit gethan wird,
sich zusammenballt und dann zu Boden sinkt; eine todte Materie,
die aus der einen Hand in die andere geworfen, und nur durch
die rauhen und sonderbaren Berührungen, die sie ab und zu er-
leidet, modificirt wird. Wenn hie und da jenes Studium schliess-
lich einmal ganz erlischt, so erhebt sich wol, hervorgerufen durch
das Bedürfniss, irgend Jemand, der es wieder anfacht. Aber auch
so ändert es seine Natur nicht. Die Neuerung besteht nur darin,
dass man den schon so genug reducirten Stoff noch mehr zu ver-
dichten sucht. Neue, noch handlichere Compendien zu erfinden
1) De operibus Vergili, legis Theodosianae libris, arteque calculi ad-
prime eruditus est." Greg. Turou. IV, 47.
2) ,,Grammaticorum imbutus initiis, necnonTheodosiedoctus decretis,"
bei Mabillon, Acta S. III, 1, p. 90.
3) ;„Et si aliquis de Aquitanis panmi didicerit gi-ammaticam , mox
putat se esse Virgilium," Adémar. Epist. (11. Jahrh.) bei Mabillon,
Annales ord. S. Bened. IV, 725. Giesebrecht, De literar. studd. etc.
p. 18.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 73
ist der alleinige Zweck ^). Carl der Grosse konnte wol die klassischen
Studien wieder aufnehmen, aber nicht erneuem. Die Grammatik,
die auch dieser Fürst unter den sieben Künsten am meisten be-
günstigte, bleibt, abgesehen von der kindlichen Unwissenheit der
Compilatoren und Verfertiger der Auszüge, wesentlich dieselbe wie
in den letzten Zeiten des Heidenthums, bis endlich im 12. Jahr-
hundert auch sie den Einflüssen der Scholastik unterliegt^). Als
schon die moderne Literatur erwacht war, und sich der mensch-
liche Geist in neuen Bahnen bewegte, da behauptete die Grammatik
noch denselben Posten, den ihr einst im 6. Jahrhundei-t der König
der Ostgoten angewiesen hatte '^j. Was aber von der Grammatik
gilt, das gilt auch vom "Virgil, der in ihr während des Mittelalters
seine Stellung bewahrte. Mit dem Material des Unten-ichtes für
die Laien überkam das Mittelalter aus den Zeiten des Verfalles
den Kanon der antiken Autoren. Die alte Bedeutung Virgils, die
ihm schon in jenen sinkenden Zeiten des Heidenthums zugeschrieben
ward, klingt im ganzen Mittelalter nach, selbst noch in den naiven
Aeiisserimgen, deren eine so niedrige Stufe der Cultur und eine der
antiken so entgegengesetzte Ideenwelt fähig war.
Das klassische Alterthum erhielt sich aber im Mittelalter nur
noch auf den Bänken der Elementarschule, und alle alten Schrift-
steller verdankten ihren Ruhm nur den Schulmeistern. Als erste
Dichter neben Virgil, den sie wie Planeten umkreisten, herrschten
in den Schulen Ovid, Lncan, Horaz, luvenal, Statius und dann die
1) Man kam endlich dahin, Grammatiken für die Reise zu verfassen,
so die des Phokas (5. Jahr.) wie die Verse der Vorrede bemerken:
„Te longinqua petens comiteni sibi ferre viator
Ne dubitet i:iarvo pendere multa vehens."
Ars Phocae grammatici de nomine et verbo, bei Keil. Gr. 1. V,
p. 410.
2) Man vgl. die wichtige Schrift vonThurot: „Notices et extraits de
divers manuscrits pour servir à rhistoire des doctrines grammaticales au
moyen àge. Paris, 1868. (der 22. Band der „Notices et extraits des ma-
nuscr. de la bibl. imp.").
3) In der Legende von Karl dem Grossen beisst es: „premièrement
fist Karlemaiue paindre dans son palais gramaire qui est mère de tous
les ars." In der ,, Image du monde" wii-d aus diesem Ansehen der Gramma-
tik in mystischer Weise gefolgert, dass diese die Wissenschaft des Wortes
ist, durch das Wort aber Gott die Welt erschuf
„Par parole fist Dex le monde
Et tous les biens qui ens habunde."
Vgl. lubinal, Oeuvres compi, de Ruteboeuf II. p. 417.
74 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
anderen je nach dem Geschmacke des Lehrers. Im Elementar-
unterricht suchte mau den Kindern die Xamen der voruehm-sten
antiken Schriftsteller und Grammatiker einzuprägen. War man er-
wachsen oder schriftstellerte man, so war es unnioglich, jene Schul-
reminisceuzen, welche auch durch die Schriftsprache selbst festge-
halten wurden, aufzugeben. So kam man dazu, jene Autoren fort-
während zu citiren. Aber das christlich asketische Gefühl musste
auch schweren AViderwillen gegen die Repräsentanten des Heiden-
thums empfinden, und y\ir haben daher nunmehr die Stellung Virgils
und der anderen antiken Autoren zu beobachten, welche von den
christlichen Schriftstellern besonders nach dem vollständigen Siege
ihrer Religion so hart angegriffen wurden.
Die Kirchenschriftsteller ^) konnten gegen die heidnischen eine
starke Abneigung hegen, und Arnobius Tei-tullian und andere Apo-
logeten ihnen mit dem Rufe „adversus gentes" entgegentreten
mit einer Heftigkeit, welche durch erlittene Verfolgimgen und re-
ligiöse Begeisterung kamn gerechtfertigt wird. Allein sie mussten
sie doch lesen und studiren, theils um sie zu widerlegen, theils,
weil sie die Grundlage der allgemeinen Bildung Avaren, und mau
nur durch sie die Schriftsprache erlernen konnte, mit deren Hilfe
man selbst wieder die Laienwelt belehren musste. Darum eben
war das Decret des Kaisers Julian so verhasst, welches den
Christen den Unterricht und somit auch das Studium der Gram-
matik und Rhetorik verbot. Julian sagte, dass es nicht gut sei,
wenn die, welche sich über die moralischen und religiösen
Schriften der heidnischen Autoren so sehr erzürnten, dieselben als
Grundlage ihres Unterrichtes benutzten^), wie dies auch die
1) Wir könneu uns hier nur mit dem Westen beschäftigen, imd
lassen deshalb die klassischen Studien in den Ländern der griechischen
Cultur und orientalischen Kirche bei Seite. Trotzdem können wir kurz
bemerken, dass das Resultat fast dasselbe wie im Westen ist, ausgenommen,
dass die griechische Kirche sich hier wie in manchen anderen Dingen
etwas mehr erleuchtet und toleranter als die Kirche des Abendlandes
zeigt. Die Homilio des Basilius über das Lesen heidnischer Bücher ist
bekannt genug.
2) ätonov (isv oiuai tovg iè,rjyov(iévovg tee Tovzmv àtifié^fiv tovg
vii avtiùv TLfirj&évTag &sovg. Tuli an, Epist. 42, p. 422. Nach dem Ver-
bote konnten die Christen nicht Lehrer der Grammatik und Rhetorik
sein (Animi an, Marc. XXII, 10, 7; Joh. Chrysost. II, p. 579 u. s. w.),
also auch nicht die Schulen besuchen, denn den Heiden würden
sie ihre Kinder nicht anvertraut haben. Vgl. Lasaulx, Der Untergang
dos Hellenismus p. (55; Kellner, Hellenismus und Christenthum (Köln 1866)
p. 226 f.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 75
wärmsten und intolerantesten Asketen gesagt hatten. Dagegen
begriffen die klügeren und mehr in-actischen Christen sehr wol,
welche Bosheit in dem Decret Julians lag; denn, das Christen-
thum von der antiken Cultur losreissen und demselben zu ver-
bieten, sich gewissen Anforderungen anzubequemen, war das beste
Mittel, die Entwickelung desselben in der graecoromanischen Cultur
zu verhindern. Allein das Decret Julians half so wenig wie seine
anderen Massregeln. Gegen den unwiderstehlich herandringenden
Strom war kein Damm fest genug. Nachdem das Heidenthum
aufgehört hatte zu existiren, und man der Polemik gegen die
Heiden überdrüssig ward, stand die Uebei'liefermig für die christ-
lichen Schulen bereits fest, und es war nicht möglich, das ganze
Mittelalter hindurch ihren Chaiakter zu ändern. Es gab zwar
Leute, welche wünschten, au Stelle der heidnischen Schriftsteller
christliche in den Schulen einzuführen: aber wie hätten wol die
Grammatiker in diesen ein Aequivalent sehen können? luden neuen
grammatischen Compilationen fügte man zu den antiken Beispielen
auch oft solche aus der Vulgata und einigen christlichen Au-
toren-'), aber massgebend blieben doch immer nur die ersteren.
Die Nothwendigkeit einer radicalen Reform fühlte man nicht,
denn das Heidenthum war todt, und jeder verständige sah ein,
dass eine Wiederbelebung desselben durch die Schulen unmöglich
war. Und so finden wir denn auch keine Verordniingen kirch-
licher Obrigkeiten mehr, die jene Schriftsteller verbieten^). Da-
1) Am meisten erwähueuswerth scheint Isidor zu sein. — Auch Sma-
ragdus (9. Jahrh.) sagt ausdrücklich, Beispiele aus der Vulgata zu
nehmen.... (Vgl. Thurot, a. a. 0. p. 63): „quem libellum non Marouis
aut Ciceronis vel etiam aliorum paganoi-uui auctoritate fulcivi, sed divi-
narum scripturarum sententiis adornavi, ut lectorem meum iucundo pa-
riter artium et iucundo scripturarum poculo propinarem, ut grammaticae
artis ingenium et scripturarum pariter valeat compreheudere seusum."
Smaragd. Prol. tract. in part. Donat. bei Keil, De quibusdam gram-
maticis latinis infimae aetatis. (Erlangen 1868) p. 20. Auch für die Rhe-
torik ereignete sich dasselbe. Vgl. ßeda „de schematibus et tropis":
„Sed ut cognoscas, dilectissime fili, cognóscant omnes qui haec legere
voluerint, quia sancta scriptura ceteris scripturis omnibus non solum
auctoritate quia divina est, vel utilitate quia ad vitam ducit aeternam,
sed et autiquitate et ipsa praeeminet positione diceudi, placuit mihi
collectis de ipsa exemplis estendere, quia nihil huiusmodi schematum
sive troporum valent praetendere saecularis eloquentiae magistri, quod
non in illa praecesserit" ; bei Halm, Rhett, latt. minores p. 607.
2) Die zwar alten, aber apokryphen „Constitutiones Apostolorum"
können nicht als kanonische Autorität gelten. Nach dem Geiste des
76 Viigil in der Literatur bis auf Dante.
gegen zeigt sich uns die scheinbar befremdliche Thatsache, dass
man die Alten als Heiden hasst und vei-flucht, sie aber eifrigst
liest und studirt. Von einigen einsichtigen werden sie daneben
auch als gelehrte und geistvolle Schriftsteller bewundert. Das
kam daher, weil das Mittelalter sich gewissenhaft m einer von
früher her vorgeschriebenen Bahn bewegte. Die Kirchenväter hatten
/war viel gegen die Alten geschrieben, sich ihrer aber doch immer
wieder bedient. So las man sie denn auch in den Schulen weiter,
und citirte sie auch wo es nöthig war, sogar in den theologischen
Controversen und der Auslegung der Schrift, gelegentlich aber wer-
den sie auch als „heidnische Hunde" gemisshaudelt. Hiero-
nymus, dem seine Vorliebe für Cicero in jenem berühmten Traume
sogar Schläge von Seiten der Engel eintrug, die ihm dabei zu-
liefen: „Ciceronianus es non Christianus", nannte den Virgil: „nicht
den zweiten, sondern den ersten Homer der Römer ^)". In dem
Briefe an Damasus über den verschwenderischen Sohn aber tadelt er
heftig jene Priester, ,, welche anstatt der Evangelien und Propheten
Comödien lesen, aus den Bucolica citireu, den Virgil nicht aus den
Händen lassen imd daraus eine Sünde machen, was für die Kin-
der eine Nothwendigkeit ist". Damit stimmen freilich nicht die
Worte Augustin's überein, der es nicht tadelt, wenn „die Kinder
von früh an den Virgil lesen und den vor allen anderen erlauch-
ten Poeten so in sich aufnehmen, dass sie ihn so leicht nicht
primitiven einfachen Christenthums, welchen sie athmeu, rathen sie von dem
Lesen heidnischer Bücher ab und verweisen auf die Bibel, als auf eine Encyklo-
pädie, in der sich das Gute jener Bücher alles beisammen fände (C. A.
c. 4). Im 4. Concil von Carthago (5. Jahrb.) beisst es cap. 16: „Ut
episcopi libi'os gentilium non legant, haereticorum autem pro necessitate
et tempore," und Isidor sagt im „Liber sententiarum" III, 13: „probibetur
christianis figmenta legere poetarum" und beweist dies weitläufig. Na-
türlich ist dies alles nicht buchstäblich aufzufassen sondern gilt nur als
Rath und Ermahnung den Gebrauch der antiken Autoren zu beschränken.
Man setzt keine Strafe darauf, sondern überlässt alles dem Gewissen. Isidor
beweist durch seine eignen Schriften, wie er die Stelle im Lib. sent.
verstanden wissen wollte. Die Stelle aus Isidor und das Gesetz aus dem
Concil von Carthago findet man unter den von Grazian gesammelten
Beschlüssen, dist. 89. Vgl. dazu Berardi I, 193 ff. Zahlreiche Stellen aus
den griechischen und lateinischen Kirchenvätern, die sich theils' für.
theils gegen jene Studien aussprechen, theils sie nur bedingungsweise
gestatten, bei Cotelerius, Patr. temp. apost. I, p. 204. Vgl. Loaise
und Arevalo zu Isid. lib. sent. III, c. 13; Gazaeus, zu Cassian. Coli.
XIV, c. 12.
1) Comm. iu Michaeam., Op. VI, 518.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 77
mehr vergessen^)". Diese Reminiscenzen aus den profanen Studien
müssen übrigens manche bedenkliche Seele beunruhigt haben, und
der Eremit Cassianus dachte sich endlich ein Mittel aus, dem abzu-
helfen^). Wie schwer es aber war, beweist Hieronymus, dem selbst
mitunter, ohne es zu wollen, Stellen aus klassischen Schrift-
stellern unter die Feder laufen. Als er von den Krypten Rom's
spricht , welche die Gräber der Apostel und Märtyi-er aufweisen,
und von dem Dunkel, das hier herrscht, sagt er: „Hier schreitet
man nur allmälig vorwärts und umgeben von finsterer Nacht
kann man sich der Worte Virgils erinnern: „Horror ubique ani-
mos simul ipsa silentia terrent". Und dies sagt derselbe Hierony-
mus der an einem anderen Orte in heiligem Glaubenseifer ausruft:
„Was hat Horaz mit dem Psalter zu schaffen, was Virgil mit dem
Evangelium oder Cicero mit den Aposteln^)?''. Derartiges kann
man vielfach in seinen Werken finden. Seine Gegner ersparten
ihm aber deswegen keine Vorwürfe. Als er z. B. zu Bethlehem
eine Schule der Grammatik gründete und den Knaben Virgil
und andere gi-iechische und lateinische Profanantoren erklärte, da
schleuderte ßufin Anklagen gegen ihn, die ihn schwer verwunde-
1) „Vergilium pueri legunt ut poeta magnus omniumque praecla-
rissimus atque optimns teneris imbibitus annis, non facile oblivione possit
abohri." De civ. Dei, I, c. 3. In dieser Stelle haben viele legant aus
legunt gemacht. Auch Roth spricht davon wie von einer Ermahnung,
Virgil zu lesen. Im Text steht aber legunt, und muss hier auch so
heissen.
2) „Germanus: „ . . . . speciale impedimentum salutis accedit pro illa
quam tenuiter videor attigisse notitia litterarum, in qua me ita vel in-
stantia paedagogi, vel continuae lectionis maceravit intentio, ut nunc mens
poeticis velut infecta carminibus, illas fabularum nugas historiasque
bellorum quibus a parvulo primis studiorum imbuta est rudimentis, ora-
tionis etiam tempore meditetur, psallentique vel pro peccatorum indul-
gentia supplicanti, aut impudens poematum memoria suggeratur, aut
quasi bellantium heroum ante oculos imago vei'setur, taliumque me phan-
tasmatum imaginatio semper eludens, ita mentem meam ad supernos
intuitus asi^irare non patitur ut quotidianis üetibus non possit expelli."
Nosteros: ,,De hac ipsa re unde tibi purgationiä uascitur desperatio ci-
tum satis atque efficax remedium poterit oboriri, si eamdem diligentiam
atque instantiam quam te in illis saecularibus studiis habuisse dixisti,
ad spiritalium scripturarum volueris lectionem meditationemque transferre.
Necesse est enim etc." Cassian Coli. XIV, cap. 12, 13.
3) Comm. in Ezech. c. 40.
4) Epiat. ad Eustochium, Op. I, 112.
78 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
ten ^). Wer aus allen Kirchenvätern die Stellen zusammensuchen
wollte, in denen gegen das Lesen heiduiöcher Bücher so wie das
Profanstudium überhaupt geeifert wird, der würde deren unge-
mein viele finden; noch mehr aber würde der entdecken, welcher
die Stellen sammeln wollte, in denen das Gegentheil gesagt ist.
In der That verdankten die Dichter und christlichen Autoreu, ja
alle, die nur irgend ein literarisches Verdienst hatten, das was
sie leisteten der Kunst der Alten, deren Schüler und oft skla-
vische Nachahmer sie waren. Sie empfahlen daher geradezu das
Studium der Alten. Ein Brief des Sidonius ApoUiuaris (5. Jahrh.)
führt uns in ein schönes Landhaus in Gallien, dessen Besitzer
dort alle möglichen geistigen und körperlichen Genüsse vereinigt
hat. Unter den Büchern liegen da heilige und profane, christ-
liche und heidnische bunt durcheinander; und das beweist uns,
wie wenig die Declamationen einiger Fanatiker Erfolg hatten^).
Als Cassiodor seine Mönche zum Studium der sieben Künste an-
trieb, konnte er^) dafür sowol das Beispiel des Moses anführen,
welcher in aller Weisheit der Aegypter erzogen ward, als auch
1) Maronem suum comicosque ac lyricos et historicos auctores tra-
ditis sibi ad disceudum Dei timorem puerulis exponebat, scilicet ut prae-
ceptor fieret auctorum geutilium." Kufin. Apol. 11, bei Hieron. p. 420.
Vgl. Am. Thierry, Saint Jerome, I, p. 314.
2) „Qui inter matronarum cathedras Codices erant, stylus his reli-
giosus inveniebatur; qui vero per subsellia patrum familias, hi cothurno
latialis eloqui nobilitabantur. Licet quaepiam volumina quorundam aucto-
rum servarent in causis disparibus dicendi paiilitatem. Nam similis
scientiae viri, hinc Augustinus, bine Varrò, bine Horatius, bino Prudentius,
lectitabantur. „Sidon. F.pist. I, 9- Von hier ist jedoch noch weit bis zu
der Idee des Herrn Chaix (Sidoine Apollinaire, Paris 1867) sowie an-
derer moderner Katholiken, dass die Kirche stets ,,eine grosse Beschützerin"
der antiken Cultur gewesen sei. Vgl. Kaufmann in den Gott. gel.
Anz. 1868, p. 1009 f. Der Grammatiker Virgil (bei Mai, Class, autores
V, p. 5) spricht davon, dass es Sitte gewesen sei in der Kirche die christ-
lichen und heidnischen Autoren in zwei gesonderten Bibliotheken aufzu-
bewahren: ,,.... bocce subtilissime statuerunt ut duobus librariis com-
positis, una fidelium philosophorum libros, altera gentilium scripta con-
tinerent." Wir nehmen jedoch die Versicherung eines so bizarren Autors
nicht so wörtlich wie 0 z an am (La civilisat. ehret, chez les Francs, p. 434 f.).
Dass eine solche Eintheilung bisweilen stattfand, geht aus der Stelle des
Sidonius hervor; allein nichts beweist, dass dies eine Verordnung der
Kirche war. Im Gegentheil werden in Catalogen mittelalterlicher
Bibliotheken christliche und heidnische Autoren durcheinander an-
geführt.
3) Divin. lection. cap. 28.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 79
„der heiligen Väter, welche anordneten, dass das Studium der
profanen Literatur nicht versäumt werden dürfe und welche sich
selbst darin sehr bewandert zeigten, wie man aus Cyprian, Lac-
tanz, Ambrosius, Hieronymus, Augustin und anderen ersieht.
Und wer könnte da noch zweifeln?" Es ist dies der Gemeinplatz,
mit dem sich alle Geistlichen entschuldigten, wenn sie über welt-
liche Stoffe schrieben^). In den Klöstern, in denen das Schweigen
Regel war, bediente man sich für gewisse Dinge conventioneller
Zeichen, Wenn man z. B. das Buch eines heidnischen Autors
haben wollte, so pflegte mau sich bei dem Zeichen eines Buches wie
ein Hund hinter den Ohren zu kratzen; denn „man vergleicht mit
Recht einen Heiden einem solchen Thiere"^). Man verachtete sie,
aber man las sie. Die Regel einiger jüngerer Mönchsorden wie
der des Isidor, des Dominions und Fi*anciscus verbot das Lesen
heidnischer Autoren und gestattete dasselbe nur nach besonderer
Erlaubnisse). Andere und bedeutendere Klöster vei*boten es eben-
falls, erlaubten es aber in den Schulen des Ordens und befahlen
1) In einem von Stefanus von Ronen (12. Jahrh.) verfassten Compen-
dium aus den Institutiones des Quintilian, wovon sich ein handschrift-
liches Exemplar auf der kais. Bibliothek zu Paris befindet, entschuldigt
sich der Verfasser folgender Massen : „. . . . Hoc pariter notandum quod
ecclesiae doctores gentilium libros non incognitos habebant .... Probat
hoc et beatus Augustinus qui de discipliuis liberalibus libros singulos
edidit .... Beatus etiam Ambrosius cuiusdam philosophi epistulam in
quadam sua epistula integram ponit. Origenes vero philosophorum
libros adolescentibus summopere edisceudos praecipiebat, diceus eorum
ingenia in divinis scripturis capaciora et tenaciora fore cum horum sub-
tilitates et ingeniorum acumina animo perceperint. Quod .Julianus au-
gustus, magnus quidem jibilosophus, sed errore maior, considerans, post-
quam a fide discessit, edicto publicato prohibuit ne cbristiauorum filii
artem oratoriam addiscerent, quod quanto in eloqueutiae studiis edocti
forent tanto in Christiana fide ac religione, ut in revincendis gentilium,
quos sequebatur, erroribus acutiores ac disertiores existerent; simul dicens
hostes adversariorum armis non armandos. Karoli etiam magni ma-
gister Alcuinus de hac arte dialogum sub proprio Karoli nomine con-
scripsit etc."
2) „Pro signo libri scholaris quem aliquis paganus composuit,
praemisso signo generali libri, adde ut aurem digito tangas sicut
canis cum pede pruriens solet; quia non immerito infidelis tali animanti
comparatur." Bernard. Ordo cluniac. in Vetus disciplina monast.
p. 172. (Zappert, Virgil's Fortleben im Mittelalter, p. 31).
3) ,, Gentilium autem libros vel haereticorum volumina monachus
legere caveat." Holst. Cod. regni, monast. p. 124; vgl. Heeren, Gesch.
d. ci. Lit. im Mittelalter I, p. 70; Le Clerc, in Hist. litt, de la France,
XXIV, p. 282,
80 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
das Abschreiben von Mauuscripten ohne Unterschied der Autoren ^),
welche eben durch diesen Umstand auf uns gekommen sind. Wenn
man der Strenge des Christenthums hätte genau folgen wollen,
so hätte man die heidnischen Schriftsteller dui-chgängig verbieten
oder gar vernichten können, vor allem die, welche für jede Re-
ligion als unmoralisch gelten müssen, wie Ovid und Martial, Und
doch figurirten die „ars amatoria" Ovids und die schmutzigen Epi-
gramme Martials in den Klosterbibliotheken neben anderen Pro-
fanschriftstellern , sogar neben der Bibel und den Kirchenvätern.
Die zahlreichen Handschriften, die wir davon besitzen, wurden
zum grossen Theil von Mönchen abgeschrieben und stammen aus
Klöstern. Freilich hatte der Abschreiber nicht immer den Muth,
manche Stellen ganz zu copiren, und dieselben wurden dann ent-
weder weggelassen oder willkürlich moralisch umgeändert^). An-
dere wieder copirten alles getreulich, machten sich dann jedoch
in einer Randbemerkung Luft, wobei sie dem Autor gerade keine
Ehrentitel gaben ^). Aber im ganzen hatte man ein viel weiteres
Gewissen, als man heute glaubt. Horaz, von dem schon Quintilian
1) In Folge der modernen Entdeckungen von Palimpsesten haben
einige wenig unterrichtete gemeint, dass die Mönche aus Hass gegen die
Heiden systematisch deren Schriften ausgelöscht und solche von frommem
Charakter an ihre Stelle geschrieben haben. Das ist ein grosser Irrthum.
Häufig war das ausgelöschte ein christliches Werk, sogar von Kirchen-
vätern, auch Texte der Bibel, und profanes darüber geschrieben, z. B.
über den Text des Paulus der der llias. Leider wird, wie ich aus Er-
fahrung weiss, der Gelehrte oft genug in der Hinsicht getäuscht, wenn
er in einem Palimpsest nach klassischer Literatur sucht und sich un-
nöthig dabei quält. Ausführlicheres hierüber bei Mone, de li bris pa-
limpsestis. Carlsr. 1855 und Wattenbach, das Schriftwesen im Mittel-
alter (Leipz. 1871) p. 174 f.
2) In einer Ovidhandschrift der Züricher Bibliothek ist bei dem
Verse „hoc est quod pueri tangar more minus" (Ars am. Ili, 683) das
minus in nihil verwandelt und eine Note dazu am Rande sagt: „ex
hoc nota quod Ovidius non fuerit sodomita." VgL L. Müller im Jahrb.
f. Phil. n. Paed. 1866 p. 395. In dem bekannten Pariser Excerptencodex
(Notre Dame 188) sind viele Verse auf diese Art zugestutzt; z. B. Ti-
bull, (I, 1, 25). „lam modo non possum contentus vivere parvo" wird
zu „Quippe ego iam possum contentus vivere parvo" und Tib. I, 2, 89:
„lusisset amores" zu „dampnasset amores". VgL Wolf f li u im Pbilo-
logus XXVII (1867) 154.
3) Unter den Griechen widerfährt dies am häufigsten Luci an, wel-
chen die Byzantinischen Copisten oft am Rande mit : „cö KccKiats àv&Q(ÓTtcav,
(0 (iiaQcórats^' u. a. beehren. Vgl. L. Müller im Jahrb. f. Phil. u. Paed.
1866, p. 395.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 81
einige Stücke in den Schulen nicht interpretirt wissen wollte^),
wurde nicht allein ganz gelesen, copirt und von den Mönchen
glossirt, sondern einige seiner sinnlichsten Oden wm-den von ihnen
gar nach der Melodie von heiligen Hymnen gesungen, die sich in
mehr als einer Handschrift notirt findet").
Einer kleinen Zahl von Hitzköpfen stand also eine ganze
Menge Gemässigter gegenüber. Anselm rieth geradezu zur Leetüre
des Virgil^) und Lupus von Ferneres, der dem Regimbert dasselbe
empfahl, wie aus seinen Briefen hervorgeht^), suchte überall
nach Handschriften klassischer Autoren. Er wandte sich sogar
an den Papst Benedict III. mit der Bitte, ihm einen Ci-
cero, einen Quintilian und einen Terenzcommentar zu leihen^).
Viele Invectiven gegen das Studium der Alten sind leere Decla,-
mationen und rhetorische Ergiessungeu ohne Ernst. Sobald die
Rhetorik in die Literatur eindringt, ist es ja überhaupt schwer
zu sagen, wenn man nach der eigentlichen Ansicht der Schrift-
steller fragt, wo die Wahrheit aufhört, und die Phrase beginnt.
1) ;,,.... nam et graeci (lyrici) multa licenter, et Horatium nolim in
quibusdam interpretrari." Quintil. I, 8, 6.
2) In einer Horazhds. von Montpellier begleiten die Ode an Phyllis
(IV, 11). „Est mihi nonum superantis annum" Noten, in welchen man
die Melodie der berühmten Hymne: „üt queant laxis Resonare
fibris" wiedererkannt hat. Vgl. Libri, Catal. génér. des MSS. des
bibl. pubi, des depart. I, 454 f.; Nisard, Archives des miss, scient. et
litt. 1851, 98 ff.; Baiter, Horat. II, p. 915 ff.; Jahn im Hermes
II, 419.
3) „Et volo quatenus ut fiat quantum potes satagas, et praecipue de
Vergilio et aliis aucto'ribus quos a me non legisti; exceptis bis in quibus
aliqua turpitudo sonat " Anselm. op. 351. Und so noch manche andero.
In einem alten Gedichte, „ad pueros" betitelt, heisst es:
„Pervigil oro legas cecinit quod musa Maronis
Quaque Sophia docet, optime, carpe puer."
Vgl. Amador de los Rios, Hist. crit. de la litt. Espaii. II,
pp. 238, 339.
4) „Satius est ut apprime sis, et in Vergiliana lectione, ut optime
potes, proficias." Lup. Ferrar. Ep. 7.
5) Epist. 103. Vgl. auch ep. 1, 5, 8, 16, 37, 62, 104, in denen er
Handschriften des Cicero, Gellius, Servius, Macrobius, Boethius, Caesar,
Quintilian, Sallust verlangt oder übersendet. Seine Correspondenz recht-
fertigt das, was er von sich selbst zu Einhard (Ep. 1) sagt: „Amor lite-
rarum ab ipso fere initio pueritiae mihi est innatus, nee earum, ut nunc
a plerisque vocantur, superstitiosa otia fastidio sunt. Et nisi inter-
cessisset inopia praeceptorum, et longo situ coUapsa priorum studia pene
interissent, largiente Domino, meae aviditati satisfacere forsitan po-
tuissem."
Comparetti, Virgil im Mittelalter. (J
^2 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
Gregor von Tours erhebt laut seine Stimme gegen die Fabeln und
die verderbliche Gelehi-samkeit der „Philosophen" oder alten Au-
toren; wenn er aber die Aeneis nach ihren Hauptbegebenheiten
durchnimmt und die poetischen Mythen der Reihe nach verdammt,
scheint es ihm selber zu entgehen, dass er mit seiner Gelehrsam-
keit blos prunkt, da er doch eben dadurch beweist, dass er die
geschmähten Schriftsteller recht gut kennt und studirt hat^).
Ernster klingt seine Rede nur da, wo er über das Elend der
Zeiten und den grossen Verfall der literarischen Studien sich be-
klagt"^).
Ganz besonders eifern aber gegen die Profanstudieu die Ver-
fasser der Heiligeuleben, die es natürlich für besser halten, das
Leben eines Heiligen, als die Schicksale des Aeneas zu lesen ^). Nur
wenige unter ihnen sind Gelehrte, die Mehrzal roh und unwissend. Aus
dem niedrigsten Mönchthume hervorgegangenen, verachten sie alles Ir-
1) „Non enim oportet fallaces commemorare fabulas, neque philo-
sophorum inimicam Deo sapientiam sequi, ne in iudicium aeternae mortis
Domino discernente cadamüs . . . . Non ego Saturni fugam, non lunouis
iram, non lovis stupra, non Neptuui iniuriam, non Aeoli sceptra, non
Aeneadum bella, naufragia vel regna commemoro: tacco Cupidinis emissi-
onem; non exitia saeva Didonis, non Plutonis triste vestibulum, non
Proserpinae stuprosum raptum, non Cerberi triforme caput: non revol-
vam Anchisae colloquia, non Ithaci iugenia, non Sinonis fallacias: non
ego Laocoontis cousilia, non Amphitrionidis robora, non lani conflictus,
fugas, vel obitum exitialem proferam etc." Gregor. Turon. (6. Jahrh.)
Lib. miracul. 714.
2) „Vae diebus nostris quia periit studium litterarum a nobis! i raet.
Hist. eccl. Frano.
3) „En meliora meo nan-antur Carmine gesta,
Non "ladios nec tela refert pharetramque Camillae."
Milo Vit. S Amandi, Act. S. Febr. I, 881. f. Vgl. Petrus, Vit. S.
Theobaldi, Act. S. IV, 165; Anon. Vit. S. RemacU, Act. S. II, 469 etc.
Vgl. Zappert, a.a.O., 62. Das gewöhnlichste bei den christlichen Dich-
tern ist, dem Ruhme eines Homer und Virgil ihren bescheidenen aber
christlichen Stoff entgegenzuhalten. So im Prologe des luvencus zu
seiner Versification der evangelischen Geschichte. Beda schreibt:
„Bella Maro resonet, nos pacis dona canamus,
Munera nos Christi, bella Maro resonet."
(Hist. Angl. p. 295). Dasselbe thuen auch andere Prosaschriftsteller und
Historiker'; z. B. Wipo: im Prolog zur Vita Chuouradi imp.: „Satis in-
consnltum'est, Superbum Tarquinium, Tullum et Ancum, patrem Aeneam,
ferocem Rutulum et huiusmodi quoslibet et scribere et legere: nostros
autem Carolos atque tres Ottones, imperatorem Heinricum secundum,
Chnonradnm imperatorem patrem gloriosissimi regis Heinrici tercii, et
euudeni Heinricum regem in Christo triumphantem onuiiuo negligere."
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 83
dische , auch wenn es die Pflege des Geistes betrifift , und rühmen
sich noch dazu in cyxiischer Weise ihrer Unwissenheit^). „Der
Leser", so schreibt einer von diesen Autoren, „möge sich nicht an
tlie grosse Menge von Barbarismen stossen, die er in diesem
Büchlein findet. Vielmehr neige er sein gläubiges Ohr zu der
Wahrheit, die sich in der gemeinen Rede zeigt; er möge einfach
lesen, was hier gesckrieben steht und es machen wie jemand, der
in einem Misthaufen nach einem Edelsteine sucht". Auch andere
gestehen nur ihre Soloecismen und Barbarismen nicht zu, son-
dern rühmen sich derselben noch. Gelegentlich nahmen wol auch be-
deutendere Leute zu dieser gemeinen Rhetorik ihre Zuflucht^) und
1) „Curiosum ceterum lectorem admoneo ut barbarismorum foedam
congeriem in hoc opusculo flocciiDendat, et vevitati in vulgari eloquio
fidai aurem apponat, et quod hie inveniet simpliciter perlegat et acsi in
sterquilinio margaritam exquirat." Wqlfhard (9. Jahrh.) Vita S. Wal-
purgis, Acta SS. IV, 268: „Sed et si quis movetur rusticitate sermonis
soloecismorumque inconcinnitatibus, quas minime vitare studui, audiat
quia regnum Dei non est in sermone sed in virtute, neque apiid ho-
mines bonos interesse utrum vina vase aureo an ligneo propinentur."
Miracul. S. Agili, Act. SS. II, 312; vgl Anon. Vita L. Geraldi, A.
SS. IX, 851. Manche, die sich, was die Grammatik anlangt, nicht ganz
sicher fühlen, bekämpfen in sehr revolutionärer Weise die ,, tyrannischen
Regeln Donats.'' Vgl. Indiculus luminosus (no. 20) von Alvarus
Cordubensis (9. Jahrb.): „Agant eructuosas quaestiones philosophi et
Donatistae genis impuri, latratu canum, grunuitu porcorum, fauce rasa
et dentibus stridentes, saliva spumosi grammatici ructent. Nos vero
evangelici (1) servi Christi discipuli rusticanorum sequipedi u. s. w."
Diese Worte stinimen wunderbar zu einer schauderhaften Biographie
Donats, die einen gleichen Ton anschlägt, in einem Cod. Paris; ed.
Hagen, Anecdota Helvetica p. 259. Und doch zeigt sich Alvarus in
seinen Worten als fleissigen Leser Virgils. Vgl. Almador de los Rios
a. a. 0. II, 102 fi".
2) Einer von diesen ist auch Gregorius Magnus: „non metacismi
collisionem fugio, non barbarismi confusionem devito, situs motusque
praepositionum, casusque servare contemno: quia indignum vehementer
existimo ut verba coelestis oracuH restringam sub regulis Donati.'' Praef.
Hiob. T. I, p. 6. Durch diese affektirte Kenntniss der grammatischen
Technik will der grosse Mann wol zeigen, dass sein Xichtwolleu durch-
aus kein Nichtkönnen ist. Seine Schriften beweisen wenigstens seine
ünkenntniss keineswegs. Der Widerwille Gregors des Grossen gegen die
Profanstudien ist von vielen übertrieben worden, die, nicht von mittel-
alterlichen Specialstudien ausgehend, den Werth gewisser Ausdrücke
nicht erwogen haben. Gregor stellt sich dem klassischen Alterthum gegen-
über wie hundert andere ausgezeichnete Theologen des Mittelalters.
Durch falsche Interpretation einer Stelle des Johann von Salisbury
(Polycr. II, 26) kam man zur Annahme, dass Gregor die Palatinische
34 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
entgegneten, wenn mau sich über ihre oder des Clerus Unwissen-
heit beschwerte, mit dem schönklingenden Gemeinplatz: „dass das
Reich Gottes nicht in Worten, sondern in der Tugend besteht",
und dass „das Evangelium zu rohen un«l ungebildeten Fischern
und nicht zu gewandten Redekiinstleru kam*)". Als sich die
Bischöfe Galliens zu Eheims vereinigten und über die Unwissen-
heit der römischen Geistlichkeit beklagten, antwortete der aposto-
lische Legat Leo, Abt von S. Bonifacius, in seinem Briefe an die
Könige Hugo imd Robert: „dass die Vicare und Schüler des h.
Petrus nicht Plato, Virgil, Terenz und andere von dem „Philo-
sophenvieh" zu Lehrern haben wollen, die in ihrem Stolze wie
die Vögel in der Luft herumfliegen, wie Fische in den Meeres-
grimd hinabtauchen oder wie Schafe auf der Erde wandeln. So
lange die Welt steht, waren die auserwählteu. Gottes nicht Redner
und Philosophen , sondern Leute die nichts von der Wissenschaft
wussten!"^) Dass man solche Phrasen nicht für baare Münze neh-
men kann, liegt auf der Hand. Denn sowol Kläger wie Beklagte
zeigten auf der anderen Seite einen Prunk und Luxus, der nichts
weniger als apostolisch war. Es Hess sich nicht leugnen, dass
Bibliothek habe verbrennen lassen, während jene Stelle nur von astro-
logischen, theurgischen u. ähnlichen Büchern .spricht, die auch Kaisefr
(z. B. Valens) hatten verbrennen la^^sen. Als ob auch nach der Gotcn-
und Vandalenherrschaft in Rom für Gregor noch Bibliotheken zum Ver-
brennen übrig geblieben wären! Vgl. hierüber das gerechte Urtheil von
Gregorovius, Gesch. d. St. R. II, p. 90 ff. Man begreift nicht, wie
Teuf fei (Gesch. d. r. Lit. p. 1026) noch an jenem Irrthum fest
halten kann. Die These des Herrn Leblanc, ütrum Gregorius Magnus
litteras humaniores et ingenuas artes odio persecutus sit, Paris 1852, ist
eine Apologie, zu der ihn blos sein katholischer Standpunkt gebracht hat.
1) Diese Gemeinplätze hat der in Wahrheit sehr bescheidene Ver-
fasser der Miracula S. Bavonis (10. .Jahrb.) zusanimengefasst: „Sus-
cipiant alii copiosam variae excusationis supellectilem, videlicet quod
veritas nativa vivacitate contenta, non quaerat altrinsecam colorum ad-
hibitionem; et quod christianae fidei rudimenta, non ab oratoribus sed
a piscatoribus et idiotis sint promulgata; et quod regnum Dei magis
virtutis quam sermonis constet efficacia; aUaque perplura in id orationis
cadeutia: mihi facilis apologiae patet occasio, scilicet cui nullius eru-
ditionis favet exercitatio." Act. SS. II, 389. Vgl. Sul pie. Sev. Op. I, 2.
Felix, Vit. S. Guthlaci, Act. SS. III, 59. Anon. Vit. S. Conwoionis,
A. SS. VI, 212. Anon. Vita S. Martini, A. SS. I, 557. Warmannus,
Vit. S. Priminü, A. SS. IV, 128. Othlo Vit. S. Bonifatii bei Pertz,
Mon. Germ. II, .358 etc. Zapp er t, a. a. 0. 62.
2) Leonis Epist. bei Pertz, Mon. Germ. 5, 687. Vgl. Gregorovius
a. a. O. Ili, 527.
Virgil iu der Literatur bis auf Dante. 85
ilie vor den Rheimser Bischöfen berührten Zustände beklagens-
werth waren, aber die geistliche Rhetorik wusste sie doch zu
rechtfertigen.
Man bemerkt auch, wie sich bisweilen in jenen Declama-
tionen gegen die Profanstudien etwas Eifersucht gegen die ver-
räth, welche unter den Ordensgenossen des Schriftstellers als
sehr tüchtig in jenen Studien galten. Allein abgesehen hier-
von, darf man nicht vergessen, dass die kirchlichen Schriftsteller,
selbst die aufgeklärtesten, unter dem Einflüsse eines starken
und tiefen religiösen Gefühls schrieben, das sich oft zum
glühendsten Enthusiasmus steigerte. Indem ihr Geist immer auf
das höchste Gut und das einige Leben gerichtet war, fielen sie
wie alle Gemüther, die ganz in der Religion aufgehen, auch dem
Scrupel anheim, in Folge dessen sie sich dann eben widersprachen.
Augustin, der eine Zeit lang sich das unschuldige Vergnügen
gönnte, täglich ein halbes Buch Aeneis zu lesen um sich dabei
auszuruhen, klagte, als er 43 Jahr alt geworden, über diese Zeit,
in der ihn der Tod der Dido zu Thränen rühren konnte und
wo er nicht bemerkte, dass er selbst dabei aufhörte in Christo zu
leben. Diese glühenden Worte, die seiner Seele in einem Moment
der Sehnsucht nach Gott entströmten, hinderten ihn aber später
nicht, den Dichter der Aeneis hoch zu schätzen, und in seinem im
7 2. Lebensjahre beendeten „de civitate dei" macht er oft von den Versen
desselben Gebrauch. Als er 74 Jahre alt war, gereute es ihn
dann wieder, sich des Wortes „fortuna" so oft bedient und, wenngleich
nicht im Ernst, die Musen erwähnt zu haben, als wären sie Göt-
tinnen. Alcuin, der nach Aussage seines anonymen Biographen
die „Bücher der alten Philosophen und die Lügen Virgil 's" ge-
lesen hatte und im eilften Jahre den Vergil noch lieber, als die
Psalmen mochte ^) , wollte davon im Alter nichts mehr wissen und
litt nicht, dass die Schüler jenen Dichter lasen: „Die göttlichen
Dichter", sprach er zu ihnen, „können Euch genügen, und es ist
nicht nöthig, dass Ihr Euch mit der üppigen Beredtsamkeit. Vir-
gils befleckt". Trotzdem gelang es ihm nicht, die anderen
ebenso bedenklich zu machen, und den Sigulf musste er strenge
tadeln, weil dieser heimlich seinen Schülern den Virgil erklärte^).
1) „Et plorare Didonem mortuam quia se occidit ob amorem, cum
iuterea me ipsum in bis a te morientem, Deus vita mea, siccis oculis
ferrem miserrimus." Augustin. Confess. I, op. I, 53.
2) Vit. beati Alcuini, A. SS. IV, 147; vgl. Monnier, Alcuin
et Charlemague p. 9 f.
86 ^irgil in der Literatur bis auf Dante.
Manchem^) erscheinen diese Bemerkungen des Biographen unglaub-
lich, weil sich in den Briefen Alcuins öfter Virgil citirt findet.
Ich glaube jedoch, dass nach dem oben gesagten einleuchtet, dass
diese Thatsache nicht ihr Gegentheil ausschliesst-J. Ganz das-
selbe fand auch bei Theodulph statt, der sich in seinen
Versen entschuldigt, Virgil, Ovid, Pompeius und Donat gelesen zu
haben, um anderer zu geschweigen^). Auch war Alcuin nicht der
einzige, der es für nöthig fand, den übergrossen Eifer für diese
Studien zu dämpfen*).
Manchem raubten derartige Zweifel gar den Schlaf. Herbert,
Bischof von Xorwich, erzählt, dass ihm eines Xachts Christus im
Traume erschien und also zu ihm sprach: „Ich wusste, dass du
von Jugend an bis zu deinem grauen Alter die Dienste eines
Priesters erfüllt hast. Warum aber gibst du dich ab mit den
Lügen Ovids und den Erfindungen Virgils? Es geziemt bich nicht,
dass derselbe Mund, der Christum prediget, auch den Ovid recitirt.
Da gedachte ich der Schläge des Priesters Hieron jmus und sprach :
ich habe gefehlt, ich gestehe es, und nicht allein, weil ich die
heidnischen Schriftsteller gelesen, sondern weil ich sie auch nach-
geahmt habe""j. Der Verfasser des Lebens des heiligen Odo er-
zählt, dass dieser einst, da er es gewagt hatte, Virgil zu lesen,
im Traume ein Gefäss sah, das von aussen schön war; aber innen
war es voller Schlangen, die ihn alsbald umzingelten; als er er-
1) Wright, Biographia britannica literaria; Anglo-Saxon period,
p. 42. Vgl. über Alcuins Neigung für und seinen Hass gegen die Olassiker
Lorenz, Alcuin's Leben (Halle, 1829) p. 267 u 277.
2) Die Berner Bibliothek besitzt eine Virgilhds., die von der Hand
Alcuins herrühren oder wenigstens Copie nach seinem Exemplare sein
soll. Vgl. Müller, Analecta Bernensia, III, p. 23 — 25.
3) „Et modo Pompeium, modo te, Donate, legebani.
Et modo Vergilium. te modo, Naso loquax;
In quorum dictis quamquam sint frivola multa,
Plurima sub falso tegmine vera latent."
Theodidph, Carm. IV, 1.
4) Merkwürdig ist in der Beziehung die ironische Ermahnung eines
Anonymus des 11. Jahrh. (bei Riese, Anth. lat. no. 765):
„Tityre tu fido recubans sub tegmine Christi,
Divinos apices sacro modularis in ore.
Non falsas fabulas studio meditaris inani.
Ulis uam capitur felicis gloria vitae,
Istis succedunt poenae sine fine perennes.
Unde cave frater vanis te subdere curis etc."
5) Herbert. De Losinga. Epist. p. 53—56, 63, 93.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 87
wachte, erkannte er, dass das Gefass Virgil, und die Schlangen,
die sich darin bargen , die Weisheiten der alten Dichter seien ^).
Ein Anonymus des 11. Jahrhunderts berichtet von einem Schüler,
der, als er einmal im Fieber phantasirte, zu schreien anfing, weil
er eine Legion von Teufeln erblickte, welche die Gestalten des
Aeneas, Turnus und anderer Personen aus der Aeneis annahmen ^).
Während nun einige von solchen Scrupeln geplagt waren,
trieben wieder andere die Bewunderung Virgils bis zum Fanatis-
mus. Ratbert gab seine Stimme im Capitel mit Versen Virgils
ab. Der Mönch Probus begeisterte sich so für Virgil und Cicero,
dass er, wie seine Brüder sjiotteten, sie unter die Heiligen ver-
setzen wollte^). Rigbod, der Bischof von Trèves, soll die Aeneis
besser als das Evangelium gekannt haben*). Dieser Fanatismus
zeigt sich auch sehr charakteristisch in der Legende. Ein Schrift-
steller des 11. Jahrhunderts erzählt nämlich folgendes: „Zu Ra-
venna pflegte Wilgard die Grammatik mit allzu grossem Eifer,
wie die Italiener immer zu tliuen pflegen. Wegen seines Wissens
hatte er angefangen sich zu brüsten, als in einer Nacht die Dä-
monen, in der Gestalt des Dichters Virgilius, Horaz und Juvenal
ihm erschienen, ihm mit lügnerischen Worten für das Studium
dankten, das er auf sie verwendete und ihm versprachen, ihn an
ihrem Ruhme dereinst Theil nehmen zu lassen. Also verführt
durch solche Künste der Teufel, fing er an, Dinge zu lehren, die
dem heiligen Glauben zuwider waren, und zu behaupten, dass man
den Worten der Dichter in allen Stücken glauben müsse. End-
1) Johannes, Vita S. Odonis, A. SS. saec. V, p. 154. Vgl. Brucker,
Hist. Philos. III, p. 651; Du Méril, Mélanges archéolog, p. 462. Eine ähn-
liche Erzählung vom h. Hugo, dem Abte von Cluny bei Vincenz von
Beauvais (Spec. hist. 26, 4): „Alio tempore cum dormiret idem pater,
vidit per aomnium sub capite suo cubare serpentum multitudinem et
ferarum, subitoque capitale excutiens et exquirens supposita, invenit
librum Maronis forte ibi collocatum; mox, abiecto codice singulari, in
pace requievit, cognovitque modum materiae libri visioni congruere, quem
obscoenitatibus et gentilium ritibus plenum indignum erat cubiculo sancti
substerni." Vgl. Liebrecht in FfeiflFer's Germania X, 413, der aber
fälschlich vermuthet, dass es sich hier um das Buch von der Negro-
mantik handele, welches das Volk dem Dichter zuschrieb. Eine ähnliche
Legende bei Jacopo da Vitry; vgl. Lecoy de la Marche, La chairc
fran9. au moyen age p. 439 und Passavanti, Specchio di vera penitenza,
dist. prima, cap. 20.
2) Vita S. Popponis. A. SS. Vili, 594.
4) VgL Lupi Ferrar. Epist. 20.
4) V. Ozanam, la civil, ehr. chez les Francs, 485, 501, 546.
8S Virgil in der Literatur bis auf Dante.
lieh ward er der Ketzerei angeklagt und vom Erzbischof Petrus
verui-theilt". „In Italien", fügt der Geschichtsschreiber hinzu, „fand
sich's, dass gar viele Geister von denselben Meinungen angesteckt
waren" ^). Eine andere Legende berichtet, wie einst zwei Schüler
sich aufmachten, das Grab Ovids zu besuchen, um dort Lehren
zu empfangen. Der eine fi-agte, welches der beste Vers des Dich-
ters sei, und eine Stimme aus dem Grabe antwortete:
„Virtus est licitis abstinuisse bonis".
Der andere wollte wissen, welches der schlechteste Vers sei, und
da rief die Stimme:
„Omne juvans statuit Jupiter esse bonum".
Da hielten es die beiden Schüler für gut, für die verlorne
Seele zu beten und sagten Pater Noster und Ave Maria her:
aber die Stimme, welche von der Kraft solcher Gebete nichts
wissen wollte, schrie ungeduldig:
„Nolo Pater Noster: carpe, viator, iter."
Derartige Scrupel und Bedenken dauerten lange. Nicht einmal
Boccaccio hielt es für überflüssig, sie zu bekämpfen^), imd jeder-
mann weiss, dass sie sich sogar heut zu Tage wieder geräusch-
voll geltend gemacht haben. Aber heute wie im Mittelalter behauptet
die antike Tradition das Feld"'). Im 12. Jahrhundert fand eine
Partei unter Anführung eines Individuums, das auch unabhängig
von der Religion Historiker und Dichter für verderblich erklärte
und die Lehrer der Rhetorik, Gi-ammatik und Dialektik verachtete,
ihren heftigsten Widersacher in dem gelehrten und aufgeklärten
Johann von Salisbury "). Jacob von Vitry und Arnold von Humblières
berührten gleichfalls die Streitfrage und trugen kein Bedenken,
das Studium der Alten für nützlich zu erklären, wenngleich sie
dabei zur Vorsicht rietheu ^). Den besten Beweis für den schliess-
1) Glaber, Histor. bei Bouquet, Reo. des bist. X, 23; vgl. Oza-
nam, docum. inéd. 10. Giesebrecht, de litterarum studila ap. Italos
primis medii aevi saeculis p. 12 f.
2) Bei Wright, A selection of latin stories from MSS. of the XIII
and XIV centuries, p. 43 f.
3) Comm. zu Dante, Inf. I, 72.
4) Heute hat dieselbe sogar unter den Jesuiten Vertheidiger gefunden
auf einem Gebiete das mehr als die Poesie dem Christenthum nahe steht.
Vgl. das Werk des Pater Kleutgen „die Philosophie der Vorzeit ver-
theidigt." Münster. 1860—63.
.5) Metalogicus I, 3 ff. Vgl. Bist. lit. de la France XIV, 13. S chaar-
schmidt, Johannes Saresberiensis p. 212 ft.
6) Vgl. Lecoy de la Marche „La chaire fran9aise au moyen age"
(Paris 1868) p. 438 f.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 89
liehen Sieg des Classicismns in den Zeiten des Wiedererwachens
der Studien liefert aber der nur aus antiken Profanschriftstellern
bestehende Katalog der Privatbibliothek des Papstes Nicolaus V. ^).
Die Declamationen einiger intoleranter Leute waren also von wenig
Gewicht gegenüber der praktischen Nothwendigkeit , welche auch
für die kirchlichen Studien die Vorbereitung durch Profanstudien
verlangte. Die Mönche fuhren fort, Manuscripte zu copiren, und
die grammatischen Schulen blieben bestehen , wenn auch ihre Zahl
wegen Lehrermangels oder anderer Gründe abnahm. In den Kata-
logen einiger Klosterbibliotheken figuiiren Kirchenschriftsteller
und Profanautoren nebeneinander^), letztere oft imter dem
Titel: „libri scholares". Vii'gil, der ältere und jüngere Donat,
Priscian und eine Menge anderer grammatischer Werke spielen
unter denselben die Hauptrolle^). Die grosse Anzahl von Virgil-
handschriften, besonders die in aller Eile hingeworfenen, die für
die Textkritik so gut wie nichts bieten, beweist, wie sehr man
den Dichter in den Schulen gebrauchte. Einige Virgilcodices
tragen noch heute die Widmung an irgend einen Heiligen, z. B.
den h. Martinus oder h. Stephanus, meistens den Schutzpatron der
Kirche oder des Klosters, welchem das Manuscript geschenkt war*).
1) Herausgegeben von Amati, im Archivio storico III ser. T. III, 1
(1866) p. 207 f.
2) Am Ende eines Handschriftencataloges des Klosters Pomposa (im
11. Jahrb. verfasst) bemerkt der Verfasser, in Voraussicht dass der eine
oder andere am Vorhandensein heidnischer Manuscripte in jener Biblio-
thek Anstoss nehmen könnte, „ . . . . Sed .... non ignoramus futurum fore
quosdam supertitiosos et malevolos , qui ingerant procaci cura indagare
cur idem venerabilis abbas Hieronymus voluit gentilium Codices fabulas-
que erroris, exactosque tyrannos, divinae inserere ventati, paginaeque
librorum sanctorum. Quibus respondemus etc." Vgl. Blume, Iter Itali-
cum 11, p. 117.
3) Vgl. die Beispiele bei Zappert a. a. 0. Note 42, denen sich noch
viele hinzufügen Hessen.
4) In einer Vaticanhds. des Virgil (No. 1570) aus dem 10. oder 11.
Jahrh. finden sich nach der Erklärung des Mönches, dass er den Codex
abgeschrieben hat, „um sich zu beschäftigen und etwas nützliches zu
leisten", die Worte: ,,Quem (codicem Vergili) ego devoveo Domino et
Sancto Petro perpetualiter permansurum per multa curricula temporum,
propter exercitium degentium puerorum laudemque Domini et Aposto-
lorum principis Petri." Ueber einen andern , dem h. Stephanus gewid-
meten Codex s. Pez, Thesaur. I, Dissert. isag. XXV. In einem Codex
der Berner Bibliothek heisst es: „Hunc Vergili codicem obtuUt Berno,
gregis B. Martini levita, devota mente Domino ut eidem Beato Martino
perpetuiter habendum; ea quidem ratione ut perlegat ipsum Albertus
90 Vü'gil in der Literatur bis auf Dante.
Oft waren solche Handschriften auch durch ihren Einband, ihre
Miniaturen oder als kalligraphische Kunstwerke sehr kostbar und
wurden dann mit den Bibeln, Messbüchern, Breviarien, Leuchtern,
Kelchen und Ostensorien merkwürdiger Weise in dem Inventar der
Kostbarkeiten von Klöstern, Abteien und Kirchen aufgeführt.
Siebentes Kapitel.
Der Inhalt des vorangehenden Kapitels scheint vielleicht wegen
seines allgemeinen Charakters von dem besonderen Zwecke unserer
Aufgabe mehr als nöthig abgelenkt zu haben. Und doch steht
mit jenem Inhalte der Name Virgils im engsten Zusammenhange.
Aus der Art, wie man ihn zum Ausdruck des Hasses und der
Verachtung der Liebe und Achtung für die alten heidnischen
Schriftsteller gebrauchte, spi-iugt in die Augen, dass man ihn als Haupt-
repräsentanten der antiken Tradition ansah; und wir begi'eifen, unter
welchen Bedingungen sich sein Ruhm jene lange Epoche des
Mittelalters hindurch erhalten konnte. Eben dies aber müssen
wir jetzt im einzelneu und mehr aus der Nähe betrachten.
Wenn die Ersten der Kirche und des Staates etwas für das
Studium der sieben Künste thuen wollten, so geschah dies, abge-
sehen von dem Beispiel, welches die grossen Kirchenväter gegeben
hatten, zunächst zum Zwecke der heiligen Studien. So handelten
Cassiodor, Beda, Alcuin imd andere. Nicht zu vergessen ist auch
in erster Linie das von Karl dem Grossen i. J. 787 an die Aebte
und Bischöfe gerichtete Circular. Der Monarch sagt darin, dass
er in den ihm aus mehreren Klöstern zugesandten officieUen Schrift-
stücken eine grosse Rohheit des Ausdrucks wahrgenommen habe,
was wol sicher daher rühre, dass man das Studium der Literatur
vernachlässige. „Deshalb", bemerkt er weiter, „befüi-chten wir,
dass, wenn man nicht mehr zu schreiben versteht, man auch nicht
mehr verstehen wird, die heiligen Bücher auszulegen. Wie schädlich
schon die Wortfehler sind, so wissen wir doch, dass die Denkfehler
noch viel schlimmer sind. Wir ermahnen Euch daher, das Studium
der Literatur nicht nur nicht zu vernachlässigen, sondern darin
auch eifiige Fortschritte zu machen, damit Ihr sicher und leicht
in die Mysterien der heiligen Schriften eindringt. Da sich in den-
consobrinus ipsius et diebus vitae suae sub praetextu B. Martini babeat,
et post suum obitum iterum reddat S. Martine." De Sinoer, Catal. cod.
MSS. bibl. bern. I, 627.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 91
selben auch Figuren, Tropen und anderer Redeschmuck finden,
so ist es klar, dass jeder um so leichter deren geistige Bedeutung
erfasst, je mehr er dazu durch den Sprachunterricht vorbereitet
ist." ^) Das war gewiss das sicherste Bollwerk, welches die klas-
sische Literatur vor ihrem gänzlichen Verfall bewahrte. Indem
Karl der Grosse bestimmte, dass die heiligen Schriften die Grund-
lage der Erziehung bilden sollten,^) sorgte er zugleich überall für
Sprachlehrer und belebte so, wie allbekannt, auch den profanen Theil
des Volksunterrichtes ^). Aber die Kirchenschriftsteller betrachteten
die alten Autoreu nicht blos als Meister in Tropen und Figuren;
wenn sie in ihren Werken eine Stelle fanden, die ihnen zum Be-
weise ihrer Glaubenssätze dienen konnte, so bedienten sie sich der-
selben gern, manchmal sogar, indem sie dazu erst den Sinn ver-
drehten oder verfälschten. Da nun Virgil als ein Mann von un-
gemeiner Weisheit, als erster unter den alten Dichtern galt und
den Begriffen von Zucht und Sitte am wenigsten entgegenstand,
so übte er auch auf viele christliche Theologen einen grossen Ein-
fluss aus. Man verkehrte lieber mit ihm, als mit den andern
heidnischen Dichtern und verschmähte es nicht, ihn zu citiren, ent-
weder zum Beweise gewisser Glaubenssätze des Christenthums,
oder wenigstens um zu zeigen, dass er unter allen Heiden sich
am wenigsten vom Christenthum entfernte. Die zahlreichen Virgil-
centonen christlichen Inhaltes zeigen nicht nur, wie der Dichter
bei den literarisch gebildeten Christen noch gerade so beliebt war,
als bei den Heiden, sondern geben auch den lebhaften Wunsch
zu erkennen, einen Stoff, mit dem sich der Geist so sehr be-
schäftigte, aiich den Empfindungen des Herzens zu assimiliren. Die
bewunderten Klänge des Dichters wollte man den Ideen des neuen
Glaubens anpassen, sie dadurch moralisch verbessern und reinigen
von dem einzigen Fehler, den der Christ in ihnen wahrnahm, dem
1) Encycl. de literis colendis bei Sirmond. Cono. Gali. II,
p. 127.
2) Balut, I, 327. (Capitular. v. J. 789).
3) Vgl. J. Launoii, De scholis celebrioribus seu a Carolo Magno
seu post eundem Carolum per occideutem instauratis über, in dem
Iter-Germanicum von Mabillon, Hamburg 1717; und Baehr, De
literarum studiis a Carolo Magno revocatis ac schola Palatina instaurata,
Heidelb. 1856. Bekannt ist, dass Virgil in dieser schola Palatina einen
Ehrenplatz behauptete, und sich manche Akademiker nach ihm und
seineu Werken nannten; so gab es einen Virgil, einen Dametas, einen
Menalias u. s. w.
92 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
Geiste des Heidenthums ^). Uuter den übrigen heidnischen Autoreu
galt Virgil für den, auf welchen man die Worte des Evangeliums
anwenden konnte: ,,sie hörten, dass Jesus vorüberging" (Math.
20j 30). Es erregte Mitleid, wenn man bedachte, dass zur Zeit
der falschen und lügenhaften Götter dieser grosse Mann geboren
ward, den seine Werke und das über sein Leben überlieferte, als
eine so schöne und lautere Seele darstellten, die vor allen fähig
war, Christi Wort anzunehmen. Er ist daher der erste unter denen, die
Dante, in welchem doch das religiöse Gefühl des Mittelalters am
treuesten und tiefsten zum Ausdruck kam, nicht wagte, unter die
Verdammten zu setzen, sondern an den Ort brachte, der für die
ohne Schuld dem Christenthume fernstehenden bestimmt war. Das
Gefühl des Mitleidens sprechen am besten jene zu Mantua noch
im 15. Jahrhixndert in der St. Paulsmesse gesungenen Verse aus,
in denen ex'zählt wird, wie der Apostel Paulus nach Neapel ge-
gangen sei um Virgil's Grab zu besuchen und dort heisse Thränen
vergossen habe, indem er aiisrief: „Was wäre aus dir geworden,
grösster Dichter, wenn ich dich noch am Leben gefunden hätte !"^)
Andererseits war es von den ersten Apologeten an üblich gewesen,
einen auch im Heidenthum vorhandenen sich dem Christenthume
nähernden Geist nachzuweisen. So scheint man z. B. zur Zeit
des Arnobius von heidnischer Seite an den Senat eine Eingabe ge-
macht zu haben, mit der Bitte, gewisse Bücher zu vernichten, die,
wie Cicero's de natura deorum, nicht gerade die stärkste Seite des
Heidenthums zeigten und den Christen Gelgenheit zu Angriffen
gaben ^). Aus solchem Ideengang entwickelten sich Legenden,
wie die von der Bekehrung des Seneca, Plinius u. a., welche auch
von aufgeklärten Männern und lange Zeit hindurch geglaubt
wurden. Ich selbst habe noch in einer Schule in Rom die Worte
1) „Vergilium cecinisse loquar pia munera Christi." Proba, Praef.
ad Cent.; „dignare Maronem, Mutatum in melius divino agnoscere
vcrsu" sagt ein Grammatiker bei seiner Widmung eines Virgilcentons
von christlichem Inhalt an den Kaiser Honorius. Vgl. Riese, Anth.
lat. 735.
2) „Ad Maronis mausoleum, Ductus fudit super eum, Piae rorem la-
crymae; Quem te, inquit, reddidissem. Si te vivum invenissem, Poetarum
maxime!" Bettinelli, Risorg. d'Ital. II, 18. Daniel, Thes. Hymnolog.
V, 266. Mit Unrecht hat man behauptet, dass jene Worte noch heute
in Mantua während der St. Paulsmesse gesungen würden.
3) Arnob. Adv. gentes 111, 7. Vgl. Bernhardy, Grundr. d. röm.
Litt. p. 92.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 93
wiederholen hören, die Cicero sterbend ausgerufen haben soll:
„causa causarum misererò mei!"
Augustin, Hierouymus, Lactanz, Miuucius Felix und andere
Kirchenväter und Schriftsteller citiren oft Vii-gilverse, in denen sie
philosophische und theologische Grundsätze erkennen, die mit
christlichen eine gewisse Aehnlichkeit haben, wie die von der Einheit,
Spiritualität und Allmacht Gottes ^ ). Doch brauchen wir uns hier-
bei nicht aufzuhalten, da dasselbe auch bei anderen antiken
Schriftstellern wiederkehrt und also für Virgil nicht besonders
characteristisch ist^). Bemerkenswerther ist, dass der Dichter sich
durch seine 4. Ecloge unter den Christen den Rang eines Pro-
pheten erwarb, der Christi Erscheinen voraussagte^). Die Vor-
ahnung einer bevorstehenden Erneuerung der Welt in einem Zeit-
alter des Glückes, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens,
die mit dieser Erwartung zusammenhängende Geburt eines Kindes,
das alte Ansehen . der Sibylle , auf welche die ganze Weissagung
zurückgeht, das alles war in der That gar zu verlockend für die
Christen, als dass sie dabei nicht hätten an die Geburt Christi
denken sollen, sowie an die Erneuerung der Welt, die er in seiner
reinen imd milden Lehre der Menschheit verheissen hatte. Es
würde zu weit führen, hier die Ursachen und Schicksale der Mes-
sianischen Weissagung bei den Juden und in der griechisch-römi-
schen Welt zu verfolgen und an die sonderbaren und langen
Arbeiten der Sibyllisten sowol in jüdischem wie christlichem
Sinne zu erinnern. Genug, dass zu dieser complicirten und nur
schwer ohne Yorurtheile und störende Eindrücke zu behandelnden
Geschichte auch die schon bei Schriftstellern des 4. Jahrhimderts
häufige christKche Erklärung der vierten Ecloge gehört. Die
ausführlichste Auslegung der Art findet sich in einer vor
1) Vgl. Piper, Vergilius als Theolog und Prophet des Heidenthums
in der Kirche, im Evangelischen Kalender v. J. 1862 p. 17 — 55.
2) Es fehlt nicht an Sammlungen derartiger auf das Christenthum
bezogenen Stellen z. B. in einem Ms. der Wiener Bibliothek: „Veterum
quorundam scriptorum graecorum ethnicorum praedictiones et testimonia
de Christo et Christiana religione, nempe Aristotelis, Sibyllae, Piatonis,
Thucydidis et Sophoclis." Vgl. Oehler, im Philologus XIII, 752.
XV, 328.
3) Vgl. Verworst Essai sur la 4. Eclogue de Virgile. Paris 1844.
Freymüller, Die Messianische Weissagung in Virgils 4. Ecloge. Metten
1852. Beide Schriften sind mir nicht zu Gesicht gekommen. Piper
a. a. 0. p. 55 — 80. Creuzenach, Die Aeneis, die vierte Ecloge und die
Pharsalia im Mittelalter. Frkf. a. M. 1864. p. 10—14.
94 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
Ecclesiastikern gehaltenen Rede des Kaisers Consantin^). Hält
mau sich an Eusebius, der uns dieselbe niittheilt, so wäre sie
erst vom Kaiser lateinisch gehalten und dann von den Auslegern
in's Griechische übersetzt worden^). Jedenfalls lässt die Ueber-
setzung der Ecloge in griechische Verse ^), die sich in jener Rede
findet, leider die Thätigkeit der alten Sibyllisten erkennen. Sie
entfernt sich mehrmals willkürlich vom Originale und verkehrt
den Sinn in der Absicht, ihn der in der Rede behandelten christ-
lichen Erklärung anzupassen"*). Der Kaiser findet also bei seiner
speciellen Untersuchung des Gedichtes darin die Weissagung auf
das Erscheinen Christi aus mehrfachen Gründen ausgedrückt: Die
zurükkehrende Jungfrau ist Maria; die neue vom Himmel gesandte
Nachkommenschaft Jesus; die Schlange, die nicht mehr sein wird,
der Versucher; das Amomum, welches überall wächst, ist die zahl-
reiche christliche Gemeinde, gereinigt von der Sünde {ä^cofiog =
untadelhaft) u. s. w. Er behauptet, dass Virgil mit klarem Be-
wusstsein von Christus geweissagt, aber dunkel gesprochen und
auch heidnische Götter in seinen Gedankenkreis mit hineingezogen
habe, um nicht dem Heidenthum zu sehr vor den Kojjf zu stossen und
sich den Zorn des Fürsten zuzuziehen. Die Kirchenschriftsteller
dagegen, welche die Ecloge ihi Interesse ihres Glaubens auslegten,
glaubten nicht, dass Virgil den Sinn der Sibyllinischen Weissagung
verstanden habe: der Dichter habe dieselbe nur auf die Geburt
eines Sohnes des Polio oder aus einem anderen vornehmen Hause
anwenden wollen. Zur selben Zeit fasste auch Lactanz die
Ecloge im christlichen Sinne auf, bezog sie aber als Anhänger
der Lehre vom tausendjährigen Reiche nicht auf die Geburt
Christi, sondern auf seine verheisseue Wiederkehr, als triumphiren-
der Herrscher der Gerechten'''). . Augustin, der die Existenz von
heidnischen, das Erscheinen Christi verkündigenden Propheten zu-
gibt, citirt ebenfalls die Ecloge, wendet aber besonders die Verse
1) Coustautini M. Oratio ad sauet, coet. c. 19—21. Diese Rede
bildet den Gegenstand einer noch immer nicht vollendeten Arbeit von
liossiguol, Virgile et Constantin le grand, Paris 1845. Der Autor ver-
spricht darin den Beweis, dass die Rede ein Werk nicht des Constantin
sondern des Eusebius ist.
2) Euseb. Vit. Const. IV. 32.
3) Zuletzt herausgegeben von Heyne, Excurs. I ad Bue. und Ros-
signol a. a. 0. p. 96 ff.
4) Rossignol, a. a. 0. p. 181 ff.
5) Lactant. Div. instit. 1. VII, c. 24.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 95
13 — 14 auf den Erlass der Sünden durch die Verdienste deb Heilan-
des an^).
Gegen die Meinung derer, die Virgil für einen Christen ohne
Christus halten, erhebt sich Hieronymus. Er verspottet das als
leeres Gerede und Possen und stellt es auf eine Reihe mit den
Virgilcentonen und ähnlichen Albernheiten^).
Trotzdem muss man bemerken, dass eine bestimmte theolo-
gische Lehre und manche Stelle im Evangelium dazu hindrängte,
auch imter den Heiden Propheten von Christi aufzusuchen. Es
existirten ferner sibyllinische Orakel, welche wie das berühmte
Akrostichon von Christus sprachen, aber die Ungläubigen sagten,
dass sie ein apokryphes Machwerk der Christen seien; das war
in der That richtig und das Gegentheil schwer zu beweisen. Daher
genoss denn aber gerade die auf das sibyllinische Orakel gebaute
Ecloge Virgils, welche doch auf keinen Fall für apokryph gelten
konnte, das höchste Ansehen und von diesem Gesichtspunkte aus
betrachten sie sowol Constantin in seiner Rede, wie Augustin.
So erschien Virgil selbst denen, welche nicht glaubten, dass er die
Bedeutimg jener Ecloge erkannt habe, auch in seiner Unwissenheit
als ein Glaubenszeuge. Indem aber diese Anschauung^) albnälig
populär wurde, ward Virgil der Begleiter der Sibylle und trat zu-
1) „Nam omuino non est cui alteri praeter dominum Christum dicat
genus humanum:
Te duce, si qua manent sceleris vestigia nostri,
Irrita perpetua solvent formidine terras.
Quod ex Cumaeo, id est ex Sibyllino Carmine se fassus est transtulisse
Vergilius; quoniam fortassis etiam iUa vates aliquid de unico Salvatore
in spiritu audierat quod necesse habuit confiteri." Augustin., Epist. 137;
adVolusian. e. 12. Opp. ed. Bened. T. II, p. 309 f. vgl. Epist. 258 e. 5.
Upp. II, 670; de civit. X, 27.
2) Quasi non legerimus Homerocentones et Vergiliocentones ; ac
non sic etiam Maronem sine Christo possimus dicere Christianum qui
scripserit: lam redit et virgo etc. PuerUia sunt haec et circulatonun ludo
similia, docere quod ignores." Hierou. Epist. 54. ad Paulin. e. 7. Opp.
I. 273.
3) Vgl. Fulgentius ,De contin. Vergü.' p. 761; Scholl. Bern. (ed.
Hagen) p. 775 fiF. Christianus Druthmar (9. Jahrh.) bemerkt zu
Matthäus 20, 30: ,,audierunt quia Jesus transiret" — „Judaei audierunt
per prophetas, gentes quoque non per omnia ignoraverunt, sed sophistae
eorum similiter denuntiaverunt; unde illud Maronis: lam nova progenies
etc." Bibl. Patr. max. (Lugd.) XV 147. S. auchAgnellus, Lib. Pon-
tific; Vit. Gratios. c. 2 bei Muratori, Script, rer. It. II, p. 1 u. 180;
Cosm. Prag., Chronicon bei Pertz, Mon. Germ. IX, p. 30.
96 Virgil iu der Literatur bis auf Dante.
gleich mit David, Jesaias uud den andern Propheten in den Hei-
ligendarstellungen oder Mysterien auf. Diese zur Legende ge-
wordene Idee berührte sich dann wiederum auf die verschie-
denste Weise mit der volksthümlichen Vorstellung vom Zauberer
Virgil, worüber im zweiten Theile gehandelt werden soll. Aus
derselben Anschauimg entstanden ferner Legenden, welche die Be-
kehrung von Heiden infolge jener vierten Ecloge erzählten, z. ß.
die durch Dante berühmt gewordene Bekehi-ung des Statins^) und
die der drei Heiden Seeundianus, Marcellianus und Verianus, welche
plötzlich erleuchtet durch die Verse „Ultima Cumaei" aus
Christenvei-folgern Märtyrer wurden^). Eine andere Legende be-
richtet, wie der Bischof von Fiesole, Donatus (9. Jahrb.), kurz
vor seinem Tode in der Versammlung der Confratres erschien und
bei der Ablegung seines Glaubensbekenntnisses vor ihnen die
Worte des Dichters: „Jam nova progenies etc." vorbrachte, worauf
er seinen Geist aufgab^).
Pabst Innocenz HL citirte jene Verse zur Bekräftigung des
Glaubens in einer Weihnachtspredigt '^), und im christlichen Sinne
wui-den sie auch von grossen Geistern des Mittelalters wie Dante ^),
Abälard^) und Marsiliiis Ficinus^) aufgefasst. Auch von der christ-
lichen Kunst finden wir Virgil in den Kirchen sehr oft unter den
Propheten Christi dargestellt. Im Chore der Kathedrale von Za-
mora (12. Jakrh.) in Spanien findet sich unter den zahlreichen
Figuren der Propheten des alten Testamentes der römische
Dichter, kenntlich durch das beigeschriebene „progenies*)". In der-
selben Weise figurirt Virgil in den Malereien Vasari's in einer
Kii-che von Rimini, und in den Fresken Rafaels in S. Maria della
Pace in Rom ist die Cumäische Sibylle durch die Worte „Jam
nova progenies" gekennzeichnet. Seit dem Wiedererwachen der
Wissenschaften stritten die Gelehrten für und wider die christ-
liche Auslegung "jener Ecloge'') und noch heute, wo das Mittel-
1) Vgl. Ruth in Heidelb. Jahrb. 1849. p. 905 S.
2) Vincent. Bellovac. Spec. bist. XI c. 50; Act. SS. Aug.
II, 407.
3) Ozanam, Documeus inédits. p. 55.
4) Serm. II in fest. Nativ. Dom. Opp. p. 80.
5) Purgator. XXII, p. 67 ff.
6) Introd. ad. Theolog. lib. I, c. 21; Epist. 7 ad Helois. p. 118.
7) De Christ, relig. c. 24.
8) S. Street, Seme acouut of gothic architecture in Spain. (Loud.
1869) p. 95.
y) Vgl. Piper a. a. 0. p. 75 ff.
Virgil in der liiteratur bis auf Dante. 97
alier zwai- s(;lion lange zu sein aufgehört hat, aber es doch noch
viele gibt, welche gern einige Hinterlassenschaften desselben auf-
bewahren möchten, fehlt es nicht an solchen, welche die alte Fa-
belei für ernst nehmen^).
Achtes Capitel.
Wenn sich auf der einen Seite die Classiker und besonders
Virgil den Christen durch ein Verdienst empfahlen, so gab es
andererseits auch ein Mittel, den Widerwillen der Christen gegen
die Immoi'alität und den Widersinn der antiken Mythen zu mil-
dern. Lange vor dem Christenthum hatten ja schon Philosophen,
wie Xenophanes, Heraklit a. a. ihr Verdammungsurtheil gegen
die Dichter, welche die Mythen fortpflanzten, ausgesprochen. Doch
bestand zwischen ihnen und dem Geiste der Nation ein zu enges
Band, als dass jene excentrischen Meinungen irgend welche Wir-
kung hätten haben können. Andere, welche toleranter waren und
die so wunderbaren Erzeugnisse des nationalen Geistes besser zu
würdigen verstanden, suchten die Sagen und die Autorität der
grossen Dichter mit den Resultaten der Philosophie in Einklang
zu setzen und kamen so auf die sich in solchen Fällen von selbst
darbietende Allegorie^), welcher vor allen die Stoiker eine wissen-
schaftliche Weihe gaben. Waren sie wdoch in Folge der grossen
Bedeutung, welche in ihrem System die religiöse Idee einnahm,
so wie infolge des Zusammenhanges zwischen dieser Idee und der
practis.chen Moral ganz besonders darauf angewiesen. Eben darum
konnten sie auch den bestehenden Volksglauben nicht vernichten,
sondern mussten ihn als ein wichtiges Element berücksichtigen,
und seine eigentliche Bedeutung feststellen^). Das Mittel der
Allegorie musste aber noch viel mehr in Aufnahme kommen, als
die antike Religion nicht mehr einer Klasse von kalten Denkern
gegenüber stand, sondern auf Tod und Leben mit der einer soweit
fortgeschrittenen Entwicklung des Geistes viel mehr homogenen
Religion, sowie dem Fanatismus von Leuten, welche zur Erlangung
des Sieges alle Mittel in Bewegung setzten, zu streiten hatte.
1) Z. B. Ver wer st iu der erwähnten Dissertation. Vgl. Schmitt,
Redemption du genre humain aunoncée par les traditions de tous les
peuples. (trad. de Tallem. par Henrion) Paris 1827, p. 122 ff.
2) Vgl. Gräfenhan, Gesch. der klass. Philologie im Alterth. I,
p. 211 ff.
3) Vgl. Zell er, Die Philosophie der Griechen, III, 1, p. 290 f.
300 ff.
Comparetti, Virgil im Mittelalter. 7
98 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
In jenen langen und erbitterten Kämpfen diente die Allegorie, mit
der ja Jedermann vertraut war, auf beiden Seiten als vorzüglichste
Vertheidigungswaffe. Die Heiden griffen zur Allegorie, weil ihre
Eeligion, überwältigt durch die nunmehr reife Kraft des Ver-
standes, den natürlichen Drang in sich fühlte, sich mit diesem zu
vereinen. Als dann in der letzten Phase der antiken Religion
sich auch der Zugang zu den positiven, dogmatischen und mehr
theologischen Religionen des Orients, welche mehr als der alte natura-
listische Mythos mit Abstractionen angefüllt waren, eröfifnete, so
diente auch dieser Umstand dazu, den Sieg des Christenthumes vor-
zubereiten. Eine zwar gutgemeinte aber nicht sehr kritische Philo-
sophie breitete ihren Mantel über die gar zu argen Blossen der
antiken Götter und Heroen aus, welche doch immer wieder aus
den lebendigen Quellen der allgemeinen Cultur vor Jedermanns
Augen auftauchten. Dies vermochte nun zwar nicht die antike
Religion vor der Niederlage zu bewahren, aber beschützte doch
die antike Literatur vor der Christenheit, die entweder noch im
Kampfe begriffen war oder ruhig die Früchte ihres Triumphes
genoss. Allegorie, Anagoge und Symbol galten im Christenthum
selbst für etwas ganz gewöhnliches. Die Aussprüche der Propheten
und die Gleichnisse Jesu hatten die Christen längst daran
gewöhnt, unter der materiellen Bedeutung der Worte einen tiefen
und verborgenen Sinn zu suchen. Selbst die Bibel, die gött-
liche Basis von Judenthum und Christenthum, welche doch
von den Werken der klassischen Dichter so ganz verschieden
war, musste sich später vielfach mit den Fortschritten
der Erfahrung und Reflexion auseinander setzen. Schon die
alexandrinischen Juden machten starken Gebrauch von der Alle-
gorie, um (so sagten sie, denn in Wahrheit thaten sie das um-
gekehrte) die Philosophie mit der Bibel in üebereinstimmung
zu bringen. Bekannt ist ferner, wie sich die christliche Exegese
zu jeder Zeit der Allegorie bedient hat^). Man erklärt dieselbe
oft ungerechter Weise für das Product einer kalten Berechnung
oder einen frommen Betrug zu religiösen Zwecken. Die Allegorie
ist ein Mittel, dessen sich gleichsam instinctiv und auf Treu und
Glauben diejenigen bedienen, deren Geist zu gleicher Zeit von zwei
sich entgegengesetzten, und doch nicht zurückzuweisenden Kräften
1) Schon Celsus, der sich der Allegorie für die heidnischen Mythen
bediente, klagte Christen und Juden des Missbrauchs dieses Mittels für
ihre Mythen an; IV", 50, 51.
Virgil in der Litoiatur bis auf Dante. 99
beherrscht wird. Sie ist das Resultat einer dialectischeii Halluci-
nation, die aus warmer Ueberzeugung und einer lebhaften und kühnen
Empfindung entspringt.
Die Allegorie ward von den Alten bei der Erklärung ihrer
Mythen und besonders bei der Darstellung derselben durch die
Dichter angewandt, welche ja in Ermangelung eines religiösen
Codex die alleinige Autorität für den allgemeinen Glauben waren.
Die einzigen alten Poeten jedoch, welche eine vollständige allego-
rische Auslegung erfuhren, waren, freilich in einer ganz beson-
deren Weise, Homer und Virgil. Homer war, theils wegen seines
vorhistorischen Alters, theils wegen der wunderbaren Kraft seines
Genius von jeher die oberste Autorität für den Volksglauben ge-
wesen. Hesiod genoss ein solches Ansehen erst in zweiter Linie, und
man begreift, wie Herodot dazu kam, Homer den Vater der grie-
chischen Religion imd Moral zu nennen. Die zahlreichen allego-
rischen Erklärungen Homers, welche von den Philosophen ausgingen,
verbreiteten sich daher auch über die Philosophenschulen hinaus ^).
Virgil, der doch Homer gegenüber ein wesentlich moderner Dichter
ist, besass lange nicht diese Autorität, und so lange er ein moderner
Dichter war, konnte auch sein Gedicht, so viel Maximen man auch
aus demselben zog, nicht als eine allegorische Composition be-
trachtet werden. Seneca sagt uns, was Virgil bei dem Grammatiker
und Philosophen") galt. Letzterer suchte in dem Dichter noch
keine Allegorien (Seneca würde als Feind der Allegorien sonst da-
von gesprochen haben), sondern beschränkte sich darauf, die vor-
handenen philosophischen Gedanken des Dichters zu entwickeln.
Als jedoch der geistige Gesichtskreis ein anderer wurde, und der
Dichter eine ganz unvei'hältnissmässige Bedeutung gewann, blieb
auch er nicht von der allegorischen Auslegung verschont. Das
geschah indessen nur, weil die Allegorie Mode war, und die
zu einer phantastischen Speculation sieh hinneigenden Menschen
meinten, dass ein so weiser Dichter wie Virgil nothwendig unter
den einfachen Sagen der Aeneis etwas tieferes und bedeutenderes
verborgen habe. Man erklärte also den Virgil allegorisch, nicht
um die antike Religion vor den Angriffen der Christen zu verthei-
digen, sondern einzig und allein von einem philosophischen Stand-
punkte aus, und weil sich eben von der Weisheit Virgils eine so
1) Vgl. Bernhardy, Griech. Litt. II, 1, p. -201 f.
2) Epist. 108, 24—29.
7^
100 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
sonderbar übertriebene Vorstellung gebildet hatte. Deshalb be-
dienten sich denn auch bei seiner Erklärung Heiden wie Christen
mit gleicher Ueberzeugung und ohne Polemik, der Allegorie, Der
verborgene Sinn, den sie aufsuchten, war rein ethischer und
philosophischer, man möchte sagen religiöser Natur und bezieht
sich gewöhnlich auf die Schicksale des menschlichen Lebens in
seinem Streben nach Vervollkommnung.
Bei dem Verluste so vieler Denkmäler der alten Literatur
sind uns heute nur spärliche Reste jener Auslegung geblieben, wie
wir schon bei der Erwähnung des Donat, Servius und Macrobius
bemerkten. Der beträchtlichste Ueberrest besteht in dem Werke
des Fabius Planciades Fulgentius, eines christlichen Schriftstellers,
dessen Lebenszeit sich noch nicht genau hat bestimmen lassen^),
der aber sicher nicht jünger als das 6. Jahrhundert ist. Die
Schrift „De Continentia Vergiliana", in welcher Fulgentius nach-
weist „was Virgil enthält" oder vielmehr „was in ihm verborgen
ist" muss als eins der merkwürdigsten Bücher des lateinischen
Mittelalters und das am meisten charakteristische Denkmal für den
Ruhm des Dichters inmitten der Barbarei der chi'istlichen Zeit gelten "'').
In der Von-ede erklärt der Autor, dass er sich auf die Aeneis be-
schränken will, weil Bucolica und Georgica von so tiefem mystischem
Inhalte seien, dass es unmöglich wäre, denselben ganz zu erfassen.
1) Sicher ist nur, dass Fulgentius jünger als der von ihm citirte
Marcianus Capella ist, der nach den Untersuchungen seines Herausgebers
Eyssenhardt (Leipz. 1866) vervollständigt von L. Müller (Neue Jahrb.
f. Phil. u. Päd. 1867 p. 791 f.) etwa um 4.31» geschrieben haben muss. Was
aber den Endpunkt seiner Lebenszeit anlangt, so hat man zu keinem
positiven Resultate gelangen können. Zink (der Mytholog Fulgentius,
Würzburg 1867) setzt die Redaktion des Mythologicon zwischen 480
und 484 an. Reifferscheid, der sich dabei der von ihm ans lacht ge-
zogenen, und wahrscheinlich demselben Fulgentius angehörenden Schrift:
„de aetatibus mundi et hominibus" bedient, setzt die Abfassung des
Mythologicon in die Zeit des Königs Hunnerich (.523) fest. L. Müller
(N. .Tahrb. 1867, p. 796) nahm das Jahr 456 an. Jungmann (Quaestiones
Fulgentianae in den Acta societatis philologae Lipsiensis, ed. Fr.
Ritschelius Lipsiae 1871. 1, p. 49 ff.) meint, dass F. um 480 geboren
und das Buch Mythologicon 523 oder 524 verfasst sei. lieber die
älteren Ansichten vgl. L er seh „De abstrusis sermonibus." Rom 1844,
p. 1 f.
2) „De Continentia" ist publicirt in den Mythographi latini von
van Staveren (Lugd. Bat. 1742). Eine moderne ki-itische und bessere Aus-
gabe existirt nicht.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 101
Er verzichtet also darauf^) weil, wie er meint, ihm das nöthige
Wissen dazu fehle, da ja das erste Buch der Georgica
sich ganz auf die Astrologie, das zweite auf die Physik und
Medizin, das dritte auf die Wahrsagekunst, das vierte auf die
Musik bezöge, ja am Ende sogar apotelesmatisch würde, eine Auf-
zählung, die sich auch bei den Bucolica wiederholt. Der gute
Manu will eigentlich als Philosoph gelten, „aber", sagt er, „indem
ich die etwas abschmeckend gewordene Schärfe der Chrysippischen
Niesswurz bei Seite lasse , will ich mich lieber mit den Musen
unterhalten" und hierauf lässt er fünf Hexameter folgen, in denen
er für das grosse Werk was er unternimmt die Gunst der Musen
anruft, und zwar „aller neun, weil eine nicht genug sein würde ^).
Durch deren Hilfe wird es ihm zu Theil, den Geist Virgils vor
sich erscheinen zu sehen. Das Benehmen dieser ehr^vürdigen Er-
scheinung ist höchst imponii-end und ernst. Der Dichter ist ganz
versunken in den Gedanken neuer Schöpfungen. Mit einer Be-
scheidenheit, die eigenthümlich von der schwatzhaften Eitelkeit,
wie sie sich hier und in den andern Schriften des Fulgentius zeigt,
absticht, bittet der Verfasser den Virgil, von seiner Höhe herab-
zusteigen und ihm die Geheimnisse seiner Poesie zu enthüllen,
nicht die tiefsten, sondern nur die, welche der Verstand eines
armen Barbaren zu fassen vermag'^). Virgil verspricht dies, ob-
gleich er nur mit einer fast furchterregenden Strenge nnà wie im
Zorne*) zu ihm spricht, ihn auch z. B. behan-lich ,, Menschlein" an-
redet. Er erklärt dann, dass er in den zwölf Büchern der Aeneis ein
1) „Bucolicam Georgicamque omisimus in quibus tarn mysticae sunt
interstinctae ratioues etc." p. 738. ,,.... Ergo doctrinam mediocritatem
teraporis excedentem omisimus, ne dum quis laudem quaerit norainis
fragmen reperiat capitis" p. 739. lu der Bibliothek von Padua existirt
ein Ms. aus dem 14. Jahrh. mit dem Titel: „Fulgentius super Bucolica
et Georgica Vergili" (vgl. Lerscb p. 96). Ich habe mich jedoch davon
überzeugt, daes der Name des Fulgentius willkürlich hinzugefügt ist.
Vgl. meinen Aufsatz in der Revue critique, August 1869, p. 136.
2) ,, Malus opus moveo, nee euim mihi sufficit una, Currite Pierides
etc." p. 740.
3) „Serva istaec, quaeso, tuis Romanis quibus haec nosse laudabile
competit et impune subcedit. Xobis vero erit maximum si vel extremas
tuas contigerit pL-rstringere fimbrias." p. 742.
4) ,,Quatinus, inquit, tibi discendis non adipata crassedo iugenii, quam
temporis formido periculo reluctat, de nostro torrentis ingenii impetu
umulam praelibabo quae tibi crapulae plenitudine nauseam movere non
possit. Ergo vacuas fac sedes tuarum aurium. quo mea commigrare possint
eloquia" p. 742.
102 ^ irgil in der Literatur bis auf Dante.
Bild lies menschlichen Leben habe geben wollen. Indem er aber
daran geht, diesen philosophischen Gedanken im einzelnen zu ent-
wickeln, hält er sich ziemlich lange bei dem ersten Verse auf, der
den Inhalt des Gedichtes zusamment'asst, und kommt erst nach den
seltsamsten Umschweifen auf die verborgene Bedeutung der drei
Worte „arma, virum, primus" zu sprechen. „Aus drei Stufen",
sagt er, „besteht das menschliche Leben, die erste heisst „besitzen";
die zweite: „den Besitz regieren"; die dritte: „das was man regiert,
verherrlichen". Diese drei Grade findest du in meinem ersten
Verse. „Arma", d. h. Tüchtigkeit, bezieht sich auf das körper-
liche; „virum" d. h. Weisheit auf das geistige: „primus" d. h.
Fürst auf das, was verherrlicht und schmückt; so dass du also
hier der Reihe nach , die drei Begrifte ,haben , regieren und
v(*rherrlichen' erhältst. Auf diese Weise habe ich s^'mbolisch das
normale Verhältniss des menschlichen Lebens dargestellt; zuerst
die Natur, dann die Gelehrsamkeit, endlich das Glück". Darauf
beginnt der Dichter den Stofl" der einzelnen Bücher zu erklären.
Vor Fulgentius scheint er dabei freilich wenig Achtung zu haben;
denn er sagt, bevor er weitergehe, wolle er sich überzeugen, dass
er nicht etwa arkadischen Ohren predige, und als ob er zweifle, dass
jener jemals die Aeneis gelesen habe, fragt er ihn nach einer
kurzen Inhaltsangabe des ersten Buches^). Fulgentius ist dadurch
keineswegs beleidigt, sondei-n erfüllt den Wunsch des Dichters,
worauf denn Virgil wieder fortfährt. Wir beschränken uns indessen
hier nur auf einen kurzen Abriss des Ganzen, denn die Albern-
heiten im Einzelnen durchzugehen, wäre für uns ebenso lästig wie
für den Leser.
Virgil erklärt also, dass der Schiffbruch des Aeneas die Ge-
burt des Menschen bedeutet, welcher unter Schmerz und Thränen
in das stürmische Leben eingeht; Jmio ist die Göttin der Geburt,
und Aeolus, ihr Diener, das Verderben"). Achates bezeichnet die
Schmerzen der Kindheit''), der Gesang des Jü[)as ist der Gesaug
der Ammen. Die «Begebenheiten des zweiten und dritten Buches
beziehen sich gleichfalls auf die Kindheit, die begierig ist nach
Fabeln und Wundergeschichten. Auch der Cjclop am Ende des
1) ,,Sed ut sciam me non arcadicis expromptare fabulam auribus,
primi nostri continentiam libri narra." p. 747.
•2) ,, Aeolus enim graece quasi Aiouolus id est saeculi iuteritus dicitur"
p. 748.
3) „Achates enim graece quasi àx^v f&og id est tristitiae consuetudo."
p. 7.Ó0.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 103
di-itten Buches mit dem einen Auge auf der Stirn ist Symbol
des geringen Verstandes und des Hochmuthes, welchen Ulysses,
das heisst der Verstand, bändigt. Diese Periode schliesst mit dem
Tode und dem Begräbnisse des Vaters Anchises, das heisst: das
lünd wird mündig. Der nun freie Mensch (viertes Buch) ergibt
sich den Genüssen der Jagd und der Liebe. Ein Schwindel (das
Ungewitter) bringt ihn zu unerlaubten Verhältnissen (Dido), bis er,
vom Verstände (Mercurius) ermahnt, wieder zu sich kömmt; die
Flamme der Liebe sinkt in Asche zusammen (Tod der Dido).
Im fünften Buche ruft der Geist das Andenken an den Vater
zurück und ergibt sich edlen Uebungen (Leicheuspiele zu Ehren
des AnchisesJ. Der triumphirende Verstand vernichtet die Werk-
zeuge der Verirrung (Brand der Schiffe). So erstarkt (sechstes Buch),
kehrt er zur Weisheit zurück, (Apollo's Tempel), nachdem er zuvor von
seinen Hallucinationen befreit ist (Palinurus ^) und die Eitelkeit ab-
gethan hat (Begräbniss des Misenus)^). Mit dem goldenen Zweige,
d. h. mit dem Verständniss, welches den Zugang zu den verborgenen
Wahrheiten eröffnet, geht er auf philosophische Entdeckungen aus
(^Eingang in die Unterwelt); da erscheinen ihm zuerst die mensch-
lichen Uebel in ihrer traurigen Gestalt, er überschreitet, geführt
von der Zeit (Charon)^), die durch die jugendlichen Thaten auf-
geregte Welle (Acheron'^), er hört das Wehgeschrei der sich ent-
zweienden Menschheit (der beiende Cerberus) und erlangt endlich
die süsse Frucht der Weisheit. So schreitet er fort in der Er-
kenntniss des zukünftigen Lebens, in der Unterscheidung des Guten
und Bösen und denkt über die Leidenschaften (Dido) und Neigun-
gen (Anchises) seiner Jugend nach. Nachdem nun der Geist
(siebentes Buch) verständig geworden ist, entwächst er der Zucht
des Lehrers (Begräbniss der Amme Cajeta), gelangt in das
ersehnte Ausonien, er nimmt au Güte zu^), wählt sich zum
Weibe die Mühe (Lavinia)'') und macht den Guten (Evander)
zu seinem Gefährten (achtes Buch). In solcher Genossenschaft
lernt er die Triumphe der Tugend über das Böse kennen (Her-
1) ,, Palinurus enim quasi Planonurus, id est errabuoda visio"
753.
2) „Misio eniin graece obruo dicitur(?); aivog vero laus vocatur."
753.
3) „Caron vero quasi Cronon id est temjjus" p. 756.
4) „Acherou enim graece sine tempore dicitur" p. 756.
5) ,, Ausonia enim dna rov av^ävstv dicitur, id est creraento" p. 763.
6) „Et uxorem petit Laviniaui, id est laborum viam." p. 763.
1Q4 Viigil in der Literatur bis auf Dante.
cules und Cacus). Nachdem er sich endlich einen Panzer aus
seiner glühenden Seele gemacht hat (die von Vulcan geschmiedeten
AYaffen), stürzt er sich in den Kampf und streitet (neuntes bis
zwölftes Buch) gegen die Raserei (Turnus)^), welche geführt von
der Trunkenheit (Metiscus) und Hartnäckigkeit (Juturna-diutuma),
in ilarem Gefolge die Gottlosigkeit (Mezentius, der Verächter der
Götter) und die Thorheit (Messapus)^) hat. Die Weisheit trium-
phirt schliesslich über sie alle. — So sonderbar schon der
Inhalt des Werkes in dieser gedrängten Uebersicht erscheinen
muss, wird man sich doch von der Sonderbarkeit des Originals
kaum eine Vorstellimg macheu können. Es ist klar, dass man
für blose Phantastereien keine solide Basis verlangen darf, und
doch entbehren sie oft nicht einer gewissen geistigen Feinheit und
Schönheit, die sie anziehend machen kann. Allein das Verfahren
des Fulgentius ist so gewaltsam und unzusammenhängend, jede
Kegel des gesunden Menschenverstandes wird so offenbar, man
möchte sagen in brutaler Weise mit Füssen getreten, dass man
nicht begreift, wie ein gesunder Geist ein solches Narrenwerk im
Ernste hat unternehmen können, aber noch weniger, wie gesunde
Geister es einer ernsten Uebei'leguug für werth hielten. Fulgen-
tius kehrt sich so wenig an irgend ein Gesetz, dass er nicht einmal
seine eigenen Fictioneu consequcnt festhält und den Virgil hie und
da sprechen lässt, als wäre er Fulgentius^). Zu der Gedanken-
losigkeit kömmt dann noch die Unwissenheit hinzu, wie wenn Vir-
gil z. B. den Petronius und sogar den noch späteren Tiberianus
citirt! Dieser groben Nachlässigkeit muss mau es auch zuschreiben,
wenn das Buch, so wie wir es besitzen, keinen Abschluss hat; denn
der Autor vergisst am Ende ganz, dass er, nachdem Virgil so lange
geredet hat, nun selbst wieder auftreten und sich vom Leser verab-
schieden muss*). Au ein richtiges Verhältniss der Theile zu einander
ist bei dem Werke natürlich nicht zu denken. Ueber den ersten Vers
1) ,, Turnus euiui graece dicitur quasi d'ovgog i'orc, furibundus sensus"
p. 764.
2) „Messapus, quasi fttffwr sttos" p. 765.
3) Virgil sagt an einer Stelle: „Tricerberi autem fabulam jam
superius exposuimus" (p. 756). In Wahrheit wird hierüber in einem
anderen Werke des Fulgentius 'Mythologicon' I, 5 gehandelt."
4) Ziuk (a. a. ü. p. 27) glaubt, dass das Ende des Werkes abhan-
den gekommen oder das ganze unvollendet ist. Jungmanii a. a. 0.
p. 73, beweist aber, dass weder das eine noch das andere mögHch ist.
Man sieht deutlich, wie der Autor vom 8. Buche an die Lust verliert
und nun auf diese rohe Weise zum Ende eilt.
Virgil in der Literatur big auf Dante. 105
der Aeiiels verbreitet sich der Verfasser mehrere Seiten hing und
übersi^ringt ganze Bücher mit zwei Zeilen. Am längsten hält er
sich beim sechsten Buche auf, welches, wie wir gesehen haben,
schon dem Servius für das tiefsinnigste galt. Von der Sprache
darf man kaum reden; sie ist der Abschaum einer unwissenden
uud geschmaklosen Barbarei, will aber doch in ihren merkwürdig
verdrehten und gekünstelten Phrasen, den aus allen möglichen
Orten zusammengesuchten uud noch dazu falsch angewandten
fremdartigen Wörtern für gewählt gelten^); die willkürlichen und
gleichsam mit der Axt zugehauenen Etymologien dürften sich wol
selbst bei keinem alten Schriftsteller wdeder finden.
Bemerkenswerth ist, wie Virgil selbst von Fulgentius darge-
stellt wird; er erscheint als ein mümscher, finsterer und stolzer
Mann, also grade das Gegentheil jener milden, sanften Bescheiden-
heit, die seine Poesie athmet, die ihm alle seine Biographen bei-
legen und die Dante so trefflich gezeichnet hat. Für jene bar-
barischen Geister musste der Idealtypus des Weisen sich mit
Finsterniss umhüllen, wie das Wissen der Zeit selbst, das wieder
zum poetischen Mysterium zurückgekehrt war, mit dem es begonnen
hatte. Wie man nicht nur bei Fulgentius, sondern schon bei
Macrobius (besonders in seinem Traum des Scipio), bei Marcianus
Capella, Boethius und so vielen Anderen sieht, erscheint die Ge-
lehrsamkeit immer verbunden mit einer Art von poetischem Rausche.
Sie tritt von Aussen an den rohen und unvorbereiteten Geist heran,
ihn gleichsam betäubend und fanatisirend, und bewirkt z. B. bei
Capella, Boethius und Fulgentius jenes Ineiuandermischen von
Vers und Prosa. Niemand vermöchte wol in solcher krankhaften
Aufgeregtheit jenen Funken von Poesie zu erkennen, welchen der
Geist hervorzubringen vermag, wenn er die Wahrheit erschaut.
Der grösste Weise musste geradezu als ein mystisches gleichsam
überirdisches Wesen erscheinen, und so zeigt sich denn auch Virgil
dem Fulgentius. Sieht man genauer zu, so hat sich dieser Typus aus
dem entwickelt, was wir schon bei Macrobius und überhaupt bei den
Heiden während der Zeit des Verfalles wah]nahmeu. Fulgentius
.that nur noch hinzu, was ihm die Barbarei imd Roheit seiner Zeit
darbot. Freilich gab es in dieser auch höher begabte Geister, aber
von ihm ist der Kreis des profanen Wissens, wie er sich da-
mals vorfand, w^ol am getreusten dargestellt. Die Grundidee seiner
1) Die Latinität des Fulgentius bat Zink a. a. 0. p. 37- 62 genau
untersucht.
106 ^'irgil i" der Literatur bis auf Dante.
Ausleguug kann man nicht originell nennen, da sich dieselbe schon
vor ihm bei Andern findet. Noch weniger originell erscheint
aber die Idee seines anderen grösseren Werkes, des Mythologicon.
Wie viel davon auf seine, wie viel auf anderer Kechnung zu setzen
ist, wird nicht leicht zu bestimmen sein. Für unser Thema ist
vor Allem der Umstand bemerkenswerth, dass Fulgentius, obgleich
er sich als eifrigen Christen zeigt, weder Mythologicon noch De
Continentia mit dem apologetischen Zwecke verfasst hat, die heid-
nische Ueberlieferuug mit dem Chi-istenthume zu versöhnen. Nichts
spielt auf den Kampf der Christen gegen das Heidenthum an.
Von einer Vertheidigung desselben gegen irgend welche Angriffe
ist nicht die Rede; die eigentlich bestimmende Grundidee des
Werkes ist rein philosophisch und bezweckt die Verschmelzung
der alten Mythen nicht mit dem Christenthum, sondern der Philo-
sophie. Das später geschriebene^) Buch, „de Continentia" verhält
sich wie ein Anhang zu dem Mythologicon. Bei der Stellung, die
Virgil in der damaligen Cultur einnahm, musste uatui-gemäss,
nachdem man angefangen hatte, die Allegorie auf die philosophische
Auslegung der zahllosen alten Mythen anzuwenden, ein gleiches sich
auch bei der Aeneis wiederholen, die sich aus dem ganzen Sagen-
kreise als speciell römisch aussonderte. Zu der allgemeinen
Vorstellung von der Erhabenheit des Alterthums kam aber hier
noch die Idee eines ausserordentlichen Wissens und einer wunder-
baren Tiefe des Dichtergeistes hinzu. Darum treten im Mytholo-
gicon Urania und Pbilosophia, in De Continentia Virgil selber
redend auf. Fulgentius zeigt sich also als ein Nachfolger der
Stoiker, wie der Philosophen und Grammatiker der Verfallzeit; und
sein Christenthum hat auf das Werk keinen Einfluss. In De
Continentia sieht mau deutlich, welche bevorzugte Stellung Virgil
bei den Christen einnahm. Es herrscht hier die Meinung, dass er
vermöge der wunderbaren Kraft seines Geistes den ethischen und
philosophischen Grundsätzen unserer Religion sehr nahe gerückt
ist. Wenn er z. B. etwas äussert, was nach dieser nicht zulässig
ist, so fällt ihm Fulgentius ins Wort und drückt sein Erstaunen
darüber aus, wieder, welcher sagen konnte ,,Jam redit et virgo etc.""),
1) Das geht auch aus der Bemerkung jj. 756: ,,tricerberi autem fa-
bulam jam superius exposuimus" hervor.
2) ,,0 vatum latiiiris autenta! itane tuum ingenium clarissimum tam
stultae defensionis fuscare debuisti caligiue? qui dudum in Bucolicis
mystice persecutus dixeras: „Jam redit et virgo etc." p. 761.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 107
in eineu solchen Irrtbuiu geratheu kauu. Virgil antwortet: „Wenn
sich bei mir nicht unter so vielen Wahrheiten der Stoiker auch
ein epicuräischer Irrthum fände, so wäre ich kein Heide. Denn
die ganze Wahrheit zu erkennen, ist nur Euch gegeben, denen
die Sonne der Wahrheit aufging. Doch davon will ich hier nicht
reden". Aehnlich sind zwei Stellen, wo Fulgentius mit grossem
Eifer Worte der Bibel oder christliche Grundsätze anführt, die mit
der Ansicht des Dichters übereinstimmen; aber Vii-gil geht nur
mit Widerstreben auf diese Punkte ein und an zwei anderen Stellen
antwortet er lieber gar nicht auf die Einwürfe des Fulgentius^).
Diese Unterbrechungen, die mit der Grundidee des Werkes gar
nichts zu thun haben, ergeben sich ganz natürlich aus der An-
schauungsweise der Zeit und stimmen mit dem Ideale des Vii'gil,
wie es damals dem Christen vorschwebte, vollkommen überein.
Und so kommt denn der Virgil des Fulgentius, d. h. der Virgil der
christlichen Barbarei auf ganz natürliche nicht gewaltsame Weise
dazu, Sympathien zu erwecken, welche die Unverträglichkeit zwischen
dem Heiden und Christen ausgleichen sollen. Dieses Ideal, in dem
sich schon die mittelalterliche Idee offenbart, dass die menschliche
Vernunft auch ohne Wunder und Oifenbarung zu Grundsätzen
kommt, die dem christlichen Geiste gleich stehen, ist aber nur
ein rohes Vorspiel dessen, was die Poesie Dante's zur höchsten
Höhe erhoben hat.
So sehr sich Fulgentius bemüht, als Gelehrter oder Denker
zu erscheinen, ist er doch nichts weniger als ein solcher. Um
seinem Wissen ein überraschendes Ansehen zu geben, scheut er
sich nicht, Namen von Autoren und Werken zu erfinden, die es
niemals gegeben hat'^): ein alter Kunstgriff übrigens, dessen man
sich mit Erfolg schon in mehr erleuchteten Zeiten bediente^), aber
besonders in der Verfallzeit und im Mittelalter^). Fulgentius er-
scheint unter den allegorisclien Auslegern, unter welchen sich auch
1) P. 743, 746, 753, 755.
•2) Vgl. Lersch, a. a. Ü. p. 19 ff. Zink, a. a. 0. p. 75 ff.
3) „Unde improbissimo cuique pleraque fingendi licentia est, adeo
ut de libris totis et auctoribus ut succurrit, mentiantur tute, quia in-
veniri qui nunquam fuere non possunt." Quintil. I, 8, 21.
4) Bekannt ist u. a. dafür der Cosmograph von Ravenna. Vgl. ausser-
dem Hercher, „Ueber die Glaubwürdigkeit der neuen Geschichte des
Ptolemäus Chennus" in den N. Jahrb. f. Phil. u. Paed. 1853. Suppl. I,
p. 269 ff.; Zeller, Vorträge und Abhandlungen geschichtlichen Inhalts,
p. 297 ff.
108 Virgil iu dei- Literatur bis auf Dante.
wirklich bedeutende Leute Huden, gegen seine Vorläufer und Nach-
läufer gehalten, wie eine Carricatur. Und doch war er zu sehr
Kind seiner Zeit, als dass ihm diese nicht hätte Beifall spenden
sollen. Das naive Mittelalter glaubte in ihm einen Mann von grosser
und tiefer Gelehrsamkeit zu sehen. Wie man seine Werke schätzte
und gebrauchte, beweisen die vielen erhaltenen Handschriften.
Siegbert von Gemblou.K (11. Jahrhundert) ist fast erschrocken über
so viel Wissensschärfe*) und bewundert den Mann, der es ver-
standen hat, „in dem Kothe Virgils Gold aufzusuchen")"! Im
Scholiasten des Germanicus und auch iu Hjgin's Fabeln finden
sich Stelleu, die aus dem Mytliologicon interjiolirt sind. Der
zweite und dritte vaticanische Mythograph haben ebenfalls mehr
oder weniger den Fulgentius benutzt; eine Thatsache von Bedeu-
tung, wenn man bedenkt, dass die Fabeln Hygin's, wie die
des vatikanischen Mytliographen (besonders des ersten) jedenfalls
Schulbücher waren^).
Diese allegorische Auslegung gedieh ziemlich gut selbst noch
unter der kalten Sonne der Scholastik. Bernhard von Chartres
behauptete in seinem Commentare zu den ersten sechs Büchern der
Aeneis, dass „Virgil als Philosoph die Natur des menschlichen
Lebens schildere so wie das Thun und Leiden des Geistes,
der sich auf kurze Zeit im Körper befinde'*)." Denselben Gedanken
nahm auch einer der bedeutendsten Männer des 12. Jahrb., Johann
von Salisbury auf. Er bemerkt, dass Virgil „unter dem Schleier
der Mythen die Wahrheit der ganzen Philosophie darstellt'')" und
1) „Hie certe omnis lector expavescere potest acumen ingenii eius
qui totani fabularum seriem secundum philosophiam expositarum trans-
tulerit vel ad rerum ordinem, vel ad humauae vitae moralitatem." De
script. t'Ccles. c. 28.
2) „Qui totum opus Vergili ad physicam rationem refercus, in lutea
quodammodo massa ami metallum quaesivit " Ebendas.
3) Vgl. Zink, a. a. 0. p. 13 ff. Bcrnhardy, Grundr. d. r. Litt,
p. 868.
4) „Scribit enim (Vergilius) in quantum est philosophus humanae
vitae naturam. Modus vero agendi talis est: sub integumento describit,
quid agat vel quid iiatiatur humanus spiritus in humane corpore
temporaliter positus etc." Vgl. Cousin, Ouvrag. inéd. d'Abe'lard
p. 283 ff.
5) „Procedat poeta Mantuanus, qui sub imagine fabularum totius
philosophiae exprimit vcritatom." Poljxratic. VI, c. 22; „Vergilium in
libro (Aeneidos) in quo totius philoso])hiae rimatur arcana." Polycratic.
II, c. 15.
Virgil in der Literatur bis auf Danto. 109
findet in den sechs ersten Büchern der Aeneis auch die Entwick-
hing der menschhchen Natur geschildert. Nach ihm ist Aeneas
der Geist als Bewohner des Körpers, „denn Ennaios heisst Be-
wohner." Im Schiffbruche des ersten Buches erkennt er die Schicksale
der Kindheit, die auch ihre Stürme habe: im zweiten Buche das
Wachsthum und die unschuldige Neugier der Jugend, die viel Wahres
und Falsches lerne ; im dritten die Jugend in ihren Irrthümern, im
vierten die unerlaubte Liebe; im fünften die männliche Reife
und das Nahen des Alters: im sechsten endlich das Erkalten der
Leidenschaften, das Abnehmen der Kräfte und das höchste Greisen-
alter ^). Wie aber Donat einstmals in der Reihenfolge, in welcher
Virgil seine drei Werke schrieb, eine Beziehung auf die drei
grossen Stufen der Menschengeschichte zu finden meinte, so ent-
deckte man im Mittelalter darunter die von der damaligen Philo-
sophie allgemein angenommenen drei psychologischen Kategorien
des Lebens; das beschauliche Leben in den Bucolica, das empfin-
dende in den Georgica und das thätige in der Aeneis^). Es gab
kein Buch, keine Erzählung in jener Zeit, worin man nicht eine
moralische oder philosophische Auslegung versucht hätte, und ganz
allgemein war die Lehre von den vier Bedeutungen, die man in
jeder Schrift finden könne: nämlich die „wörtliche", die „allegorische",
die „moralische" und die „anagogische" Bedeutung. Es war wie eine fixe
Idee, welche die Geister gefangen hielt, in jedem Dinge verborgene
Beziehungen aufzusuchen; und so blieb denn die Allegorie, nach-
dem sie zur Vereinigung zwischen Philosophie und poetisch religiösen
Erfindungen des Alterthums gedient hatte, nachdem sie zwei strei-
tenden Religionen zur Vertheidigung gedient hatte, als ein unter
dem Rüstzeuge der Theologie am meisten gebrauchtes Mittel, das
sich besser als für die alte Philosophie für die Dialectik des Christen-
thums vei-wenden liess. Sie bildete einen wichtigen Bestandtheil
iener zwar gebrechlichen doch nützlichen Brücke der Scholastik, die
1) Polycratic. VIII c. 24. Vgl. Schaarschmidt, Johannes Sares-
beriensis, p. 97 f.
2) „Et sciendum est quod Vergilius considerans trinam vitam, sci-
hcet, contemplativam voluptuosam et activam, opera tria conscripsit,
scilicet Bucolicam per quam vitam contemplativam demonstrat, et Geor-
gicani per quam vita voluptuosa intelligitur .... et Aeneidos per quam
datur intelligi vita activa." Comm. in Verg. Aen. Cod. Bibl. S. Marc.
Venet. cl. XIII (lat.) n. 61; col. 3. Dieselben Worte aus einem
Codex der Wiener Bibliothek (14. Jahrb.) bei Zappert, a. a. 0.
p. 16.
Ilo Virgil iu der Literatur bis auf Dante. «
von der mönchischeu Theologie zur Laieuspeculation hiniiber-
führte. Die Allegorie blieb uicht nur ohne Widerspruch in der
Auslegung der Schriftsteller wie in der Logik bestehen, sondern
der Geist fühlte sich auch in seinen wirklich poetischen Schöpfungen
ganz natürlich zur Allegorie hingezogen, wie wir aus der Divina
C'omedia sehen. Dante spricht im Convito ausführlich von dieser
Doctrin und unterlässt nicht, dabei Virgils zu gedenken. „II figu-
rato che del diverso jirocesso delle etadi tiene Virgilio neli' Eneide".
In demselben Buche erklärt er auch die allegorische Bedeutung
der Aeneis fast ebenso wie Johann von Salisbury^); und noch
in der Renaisi-ance haben so hervorragende Leute wie Leon Baptiste
Alberti und Christophorus Landinus die allegorische Auslegung auf
Virgil angewandt "^).
Neuntes Capitel.
Obgleich sich iu den Schulbüchern einige Mj-then auf alle-
gorische Weise nach dem Mythologicon des Fulgentius interpretirt
finden, darf man doch nicht glauben, dass die allegorische Aus-
legung der Aeneis in „De Continentia" in jenen Elementarschulen
der Grammatik benutzt wurde, in denen Virgil das Hauptlesebuch
war. Nach geheimen Bedeutungen und wunderbaren V/issenstiefen
suchten doch in dem Dichter nur Leute, die nicht grade für die Schule
schrieben, sondern über derselben stehen wollten ^j. Wenn der
Lehrer derartiges hätte auseinander setzen wollen, so wäre er zu
einem Specialcursus über Virgil verpflichtet gewesen. Er hätte
die ganze Aeneis in einer Weise erläutern müssen, welche dem
Zwecke des Elementarunterrichtes in der lateinischen Grammatik,
wozu eben die Auslegung Virgils dienen sollte, widex'sprochen
hätte. Es wäre interessant, die Schulen des Mittelalters, die
Lehrer und ihren Unterricht kennen zu lernen und zu sehen, wie
man dabei Virgil benutzte, und welche Vorstellung sich die Schüler
von ihm machten. Aber auf diesem damals sehr bescheidenen
1) Convito, IV, 24, 26.
2) Christoph. Landini Disputation. Camaldul. lib. Ili, IV, (in P.
Vergili Maronis allegorias).
3) Keiner wird die Worte des Fulgentius, die dieser an Virgil richtet,
für ernst halten: „tantum illa quaerimus levia quae mensualibus sti-
pendiis grammatici distrahunt puerilibus auscultationibus." (p. 742). Das
ist nur eine Hyperbel mit der der Verfasser die tiefen Abgründe
des Wissens bei Virgil sowie seine eigne Bescheidenheit davor aus-
drücken will.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 111
Zweige der geistigen Thätigkeit liegt die dichteste Finsterniss des
Mittelalters ausgebreitet, nnd eine nur schwache Idee davon geben
uns die zahlreichen Denkmäler des Unterrichtes jener Epoche,
die Grammatiken, sowie die Commentare zu Virgil und anderen
Schriftstellern.
Sehr beträchtlich ist die Zahl der grammatischen Schriften, die
nach dein Falle des Reiches während des Mittelalters entstanden sind
und theils von Leuten, die durch ihre Thätigkeit auf anderen damals
wichtigeren Gebieten sehr berühmt waren, theils von Grammatikern
von Fach verfasst wurden. Die Schöi^fungen der einen sind so
werthlos wie die der anderen, aber natürlich noch unbekannter,
obgleich viel gebraucht, die der zweiten Klasse. Schriften dieser
Gattung prätendiren so wenig Originalität, beschränken sich auf
einen so handwerksmässigen Gebrauch der den geistigen Lebens-
zielen der Zeit gegenüber so wenig in Betracht kömmt, dass sie
oft gar keinen Verfassernamen haben. Bekannter sind schon die
Autoren, die sich in der kirchlichen Literatur auszeichneten und
bei dieser ihrer Thätigkeit sich aus irgend welchen Gründen ver-
anlasst fanden, zur Grammatik herabzusteigen. Bei den wenigsten
lässt sich, weil sonstige äussere oder innere Kennzeichen fehlen,
das genaue Alter bestimmen. Viele sind gewiss nicht anonym
erschienen, aber bei dem fortwährenden Copiren der Schriften für
den Schulgebrauch sind die Namen der Verfasser verloren ge-
gangen. Man betrachtete eben diese Bücher als gemeinsames
Eigenthum und erlaubte sich daher nach Gutdünken Kürzungen,
Erweiterungen und Veränderungen. Das dauerte bis zum Ende
des Mittelalters. Im 13. Jahrh. bat Alexander von Villedieu
in dem Prologe zu seinem Glossar in Versen, die Aenderangen
oder Zusätze zu seinem Werke nur massig am Rande zu machen
und beklagt sich dabei über diesen Missbrauch ^). Einen wirklich
philologischen Zweck verfolgte man ja nicht ; nur der practische war
noch massgebend. So schrieben Cassiodor, Isidor und die Gelehrten
der irländischen und angelsächsischen Schule Beda, Aldelm, Clemens
u. a., sowie diejenigen, welche durch Carl den Grossen aufgemuntert
waren, Smaragdus, Alcuin und Rabanus Maurus, ihre Grammatiken
nur für die Schulen. Auch die von der Scholastik beeinflussten
Bücher über die Theorie der Grammatik haben vom 12. bis 15. Jahrh.
1) „Si quaecumque velit lector addat seriei
Non poterit libri certus sie textus haberi."
S. Thurot, a.
112 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
keinen pliiloloyischen Werth. Bei diesen Zuständen war es
schon ein Verdienst, wenn überhaupt etwas geschrieben wurde;
um das ,wie' kümmerte man sich nicht. Wenn aber selbst hervor-
ragende Männer von solcher Geistesarmuth waren, so erschrickt
man bei dem Gedanken an die Barbarei und Unwissenheit, welche
unter den Elementarlehrern vom gewöhnlichen Schlage herrschon
musste.
Der allgemeine Gesichtskreis war in der That so niedrig, dass
es den Lehrern ebenso schwer ward, etwas verständiges voi'zutragen,
wie den Schülern, von den Lehrern etwas zu profitiren. So kürzt,
beschneidet und vermindert man denn auf alle mögliche Weise
den alten Stoft": „pro fratrum mediocritate", wie es bescheiden auf
dem Titel eines fälschlich dem Augustin zugeschi-iebenen Donatcom-
pendiums heisst^). Bei einem gleichen Werke, welches den Namen
des Beda trägt, finden sich als Vorwort folgende charakteristische
Bemerkungen-): „Das Buch des Donat ist von Vielen derartig
verdoi-ben worden, indem Jedermann nach Gefallen aus eigener
Erfindung oder von andern zufügte, Declinationen, Conjugationen
\iud ähnliches einschaltete, dass nur die ältesten Handschriften den
ursprünglichen Text darbieten. Damit mau aber nicht meint, dass
wir eben so gehandelt haben, wollen wir hier bemerken, wesshalb
wir die vorliegende Schrift verfasst haben. Alle wissen, dass
Donat seine ,,Ars prior" für den Schulunterricht in Fragen und
Antworten abgefasst hat, wie er es eben für die zu seiner Zeit
vorhandenen Fähigkeiten für gut hielt. Da wir und andere nun
aber so stumpf und unwissend geworden sind, dass wir meist
weder fragen noch antworten können, so haben wir im Verhält-
niss der Dürftigkeit unserer Ansprüche dieses Büchlein geschrieben,
das zwar für mehr unterrichtete nicht nöthig, aber doch für die
weniger fähigen nützlich sein wird."
Als Carl der Grosse noch vermittelst des ulcerali herrschenden
Lateins die alten Studien wieder erweckte, kam allmälig das vul-
gäre Neulatein auf, wie früher das vulq-äre Latein der nicht-
1) Ars S. Augustini pro fratrum mediocritate breviata, bei Keil,
Gr. lat. V, p. 494.
2) Cunabula grammaticae artis a Beda restituta bei Beda,
Opp. I, p. 2. Im Kataloge der Werke Beda's ist die Schrift nicht ver-
zeichnet. Vgl. Wright, Biogr. brit. Ht. anglo-sax. per. p. 271 ff. Die von
uns citirte Einleitung findet sich ohne Namen des Autors auch unter
den Grammatici latini bei Keil (V, p. 325), dem das Vorhandensein der-
selben bei Beda entgangen zu sein scheint.
Yirgil in der Literatur bis auf Dante. 113
lateinischen, keltischen oder gennanischen Stämme. Und während
die Cultnr immer tiefer sank, die Völker mit einander im heissesten
Kampfe lagen, traten auch schon die Nationalitäten, die früher in
der römischen Welt zu einer Einheit verschmolzen waren, in ihren
vei'schiedenen Eigenthümlichkeiten wieder auseinander. Die Gram-
matiker hatten daher doppelte Mühe, die dem Latein schon fast Ent-
fremdeten zu diesem wieder zurückzuführen. Die Meisten von ihnen
waren von nicht lateinischer Abkunft, hatten bereits ein eigenes
Nationalbewusstsein und bekannten oft selbst, wenn sie lateinisch
schrieben, ihre eigene, ihnen dabei sehr hinderliche Barbarei^). So
herrscht denn in dem Wüste jener grammatischen Schriften eine
Unwissenheit und Gedankenverwirrung, von der man sich kaum
eine Vorstellung machen kann. Die Latinität ist roh, schwankend
und ganz getrübt durch den Einfluss des „Usus"^), d. h. jenes
barbarischen, besonders in der kirchlichen Literatirr angewandten
Lateins, der ja von Leuten, die selbst unfähig waren, sich auf
einen nicht kirchlichen Standpimkt zu stellen, sogar gi-ammatische
Autorität zuerkannt ward^). Der Mangel eines festen Kriteriums
1) „ .... et inrisione dignum. arbitrabar .... romanae urbanitatis
facuudia disertissimis rhetoribus, me poene de extremis Germaniae gen-
tibus ignobili stir[)e procreatum .... inter talium dissona decreta viro-
rum ex persona iudicis disputando judicare" Anon. Gramm, (cod. saec.
XI) bei Keil, De quibusdam grammaticis p. 26. Ekkehart IV sagt in
seiner Schrift, De lege dictamen omandi:
„Teutonicos mores caveas nova nullaque ponas;
Donati puras semper memorare figuras."
Vgl. Haupts Zeitschr. f. deutsch. Alt. N. F. II, p. 33. „proprietas autem
eiusdem verbi latinis magis patet quam barbaris." Ebend. p. 52. Be-
merkenswerth ist, welche Rücksicht Gozbertus (De Mirac. S. Galli bei
Pertz, Mon. Germ. II, p. 22) nimmt: „si quidem nomina eorum qui
scribendorum testes sunt vel fuenint, propter sui barbariem^ ne latini
sermonis inficiant honorem, praetermittimus." Nicht so ElmoldusNi-
gellus, welcher sich sehr unbedenklich in Versen wie die folgenden
Luft macht (Carm, I, 373 ff.):
„Parte sua princeps Wilhelm tentoria figit
Heripreth, Liuthard, Bigoque sive Bero,
Santio Libulfus Hilthibreth atque Hisimbard
Sive alii plm-es quos recitare mora est."
2) „Duplex est grammatica: nam est quaedam quae dicitur analogica
et alia quae dicitm* magis usualis." S. Thurot, a. a. 0. p. 211.
3) Die Grammatik zu misshandeln vermochten christliche Schrift-
steller schon in alter Zeit, wie ihnen die Heiden vorwarfen. Man sehe
bei Arnobius (Adv. gent. I, 59), auf wie rohe Weise dieser dabei die
Christen vertheidigt..
Coniparetti, Viigil im Mittelalter. g
114 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
bewirkte ein allgemeines Schwanken, und während alles auf Au-
toritäten beruhte, hatte man sell)st gar keine einigerinassen rich-
tige Vorstellung von diesen*). !Man tapi^te im Finsteren herum,
und folgte den Worten jedes beliebigen Buches , ohne sich au
Widersprüche zu kehi'en.
Es ist ein verzweifeltes Unternehmen, heute deiii Wege nach-
spüren zu wollen, den man damals bei diesen Arbeiten einschlug.
Wer sich aber eiuigermassen in dieser babylonischen Verwirrung
zurecht gefunden hat, wird sich nicht wundern, wenn er aus der-
selben jene monströse Erscheinung, die zugleich unser Gelächter
wie unser Mitleiden erregen kann, ,,den Virgil von Toulouse"^)
sich erheben sieht. Er ist vielleicht der einzige originelle Gram-
matiker des Mittelalters, aber seine Originalität macht doch mehr
den Eindruck einer grotesken Ironie. Gedanken, Thatsachen,
Xamen von Autoren, Worte, Regeln, Theorien erfindet seine
fruchtbare Phantasie ; er unterscheidet zwölf Arten Latein und setzt
den Virgil in die Zeiten der Sindfluth. Und dieser merkwürdige
^Nfann, der die erste gi-ammatische Autorität sein will, nennt sich
Virgilius Maro! Noch Niemand ist im Stande gewesen, seine Per-
sr.nlichkeit ganz zu erklären: man bleibt in der That pei-jilex vor
1) Notker Balbulus, einer der vielen Mönche dieses Namens, von
St. Gallen, wichtig für die Geschichte der Studien des Mittelalters, sagt
von der Grammatik des Alcuiu in seinem „dialogus de grammatica":
„Alcuinus talem grammaticam condidit ut Douatus, Nicomachus, Dositheus
et noster Priscianus in eins comparatione nihil esse videantur." Vgl.
Maitre, les t'coles episcopales et monastiques de l'occident etc. i Paris
186G) p. 220.
2) Einige Schriften dieses Autors hat zum ersten Male Mai, Class,
auctores V, p. 1 ff. publicirt, andere Hagen, Anecdota Helvetica
p. 189. ff. — Ueber denselben ist ausser den Bemerkungen Mai 's und Hage ns
(s. auch Jahrb. f. Phil. 1869 p. 732 f.) zu vergleichen Osann, Beitr. z.
gr. u. röm. Litt. II, p. 131 ff.; Quicherat, Fragm. inéd. de litterat.
latin, in der Bibl. de Técole des chartes II, p. 130 ff; Wuttke, Ueber
die Aechtheit des Aethicus p. 49; Ozanam, La civilisatiou chrétienne
cbez les Francs p. 420 ff. H aase, De medii aevi studiis philologicis
p. 8; Keil, De quibusd. gramm. inf. aet. p. 5. Der Autor ist zu eigen-
thümlich, als dass sich viele Gelehrten mit ihm ernstlich haben abgeben
wollen. Es gibt noch keine vollständige Ausgabe seiner Werke. Mein
Versuch für ein solches Unternehmen unbekannte Hdss. französischer
Bibliotheken zusammenstellen, wurde durch die Ereigni.sse vorläufig
unterbrochen. Das Alter jenes Virgil ist unbekannt. Man meint, dass
er im G. Jahrhundert gelebt habe; ältere Hdss. als das 10. Jahrhundert
kenne ich nicht.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 115
so thörichteu Phautasien, Einen Chaiiatan kann man ihn gar
nicht nennen, wenn man den Umfang seines Werkes bedenkt, das
von dem herrschenden Gedankenkreise völlig losgerissen ist. An
eine Satire zu denken verbietet aber Art und Ton der Schrift.
Man nennt ihn excentrisch oder verrückt, begi-eift aber dann nicht,
dass sich im ganzen Mittelalter nicht nur keine einzige Stimme
gegen ihn erhebt, sondern dass er wie andere Grammatiker in zahl-
reichen Mannscrijjten verbreitet ist, ja dass Beda, der Irländer
Clemens und Andere ihn im Ernste als Autorität citiren. Dazu
kommt, dass sich in einer anonymen Schrift unter dem Titel
„Hisperica famina"^) und in dem „Polyptychum" des Atto von
Vercelli^) eine sonderbare aber conventionelle Latinität findet,
die an jenen Virgil erinnert, der also vielleicht gar eine angesehene
Schule gebildet hat. Wir stehen hier in der That vor einer
rein pathologischen Erscheinung, welche uns den Zustand der
Fäulniss zeigt, in dem sich die klassischen Studien im Mittelalter
befanden. Nirgends entdeckt man da die Thätigkeit der Vernunft;
eine krankhafte Schlaffheit, die jedes Wissen ertödtet, beherrscht
das von phantastischen Träumereien erfüllte Gemüth.
Die ersten Grammatiker blieben immer Donat, Priscian, Cha-
risius, Diomedes und die anderen Com]DÌlatoren der Verfallzeit.
Um sie gruppirt sich die Schaar derer, die nur von ihnen zehrten
oder neue Irrthümer hinzufügten ; wahrhaft erstaunlich ist die
die Zahl derjenigen, welche den Donat abkürzten, umarbeiteten
und commentirten. Die Confusion ging dabei so weit, dass man
die Phantastereien des Grammatikers Virgil ganz wie den Donat und
Priscian citirte^). Dieselbe Verwirrung offenbart sich auch bei der
Exemplification der grammatischen Lehren und der Erklärung der
Schulautoren. Noch immer herrscht Virgil dabei als erste Auto-
rität und erster Classiker der Schule^). Aber zu den alten Schrift-
stellern, welche man früher auf ihn folgen Hess, haben sich als
Muster der Latinität Dichter und Schriftsteller von unterstem Range
gesellt: Prudentius, luvencus, Sedulius, Avitus, Prosperus, Paulinus
1) Publicirt von Mai, Class, auctores V, p. 479 ff.
2) Publicirt von Mai, Scriptorum vett. nova coUectio VI, p. 43. ff.
3) Mau vgl. besonders die von Hagen, Anecdota Helvetica p. 82 ff.
publicirte Grammatik eines Anonymus aus einem Codex des 10. Jahr-
hunderts.
4) „Latinae quoque scientiae valde potatus rivulis, etiam proprietate
partium aliquis eo melius nequaqnam usus est post Vergilium." Faric.
Vit. Aldhelmi fol. 140, b.
8*
116 Virgil iu der Literatur bis auf Dante.
und Lactantius. Das begann freilicli schon zu Isidor's Zeiten.
In dem Buche „De dubiis uominibus", dessen älteste Handschriften
ins 9. Jahrh. zurück reichen^), werden nach Virgil Prudentius, lu-
vencus und Varrò am meisten citirt^) ; dann folgen Paulinus, Lactantius,
Sidonius u. s. w. Manchmal vereinigt ein Manuscript Glossen
über Dichter, die in gar keiner Beziehung zu einander stehen, wie
z. B. über Virgil und Sedulius "). Von den christlichen Dichtern wurde
in den Schulen am meisten Prudentius gelesen, „Pi^dentissimus
Prudentius", wie ihn Notker Balbulus nennt'). Er ist unter den
Christen wol der bemerkeuswertheste Nachahmer Virgils. Von
seinen zahlreichen Manuscripten stammt das eine sogar aus dem
6. Jahrh. Aber auch den Text der Viilgata erlaubt sich die
fromme Barbarei jener Grammatiker neben den Dichtern und
Kirchenvätern als Autorität für die Sprache zu citiren, weil er
vom heiligen Geist geschrieben ist, „welcher mehr weiss als
Donat"*).
Smaragdus ist so unwissend, dass er die beiden Citate des
Donat „Eunuchus Comedia" und „Orestis Tragedia" für die Namen
von zwei Schriftstellern nimmt. Vom Griechischen wissen diese
Leute so wenig, dass sie nicht die gewöhnlichsten Ausdrücke zu
erklären verstehen und oft ganz überraschende Etymologien er-
finden. „Poema" soll nach Remigius von Auxerre (9. Jahrh.)
„Positio" und „Emblema" „Habundantia" heissen^). Von den
lächerlichen Fragen, die man aufwirft, den eingebildeten
Schwierigkeiten, den sonderbaren Auflösungen kann man sich gar
keinen Begrift' machen. Oft wird ein Autor an Stelle des andern
1) Gramm, lat. ed. Keil V, p. 5ü7 ff.
2) Gloss. in Vergilium et Sedulium, Ms. (9. Jahrh.) der Bibliotbek
von Laon. Vgl. Catalogue génér. des Mss. des bibl. pubi, des départ.
vol. I, p. 250.
3) „Si vero etiam metra requisieris, non sunt tibi uecessariae gen-
tilium fabulae, sed habes in Christianitate prudeutissimum Pruden-
tium de Mundi exordio, de Martyribus, de Laudibus Dei, de Patribus
novi et veteris Testamenti dulcissime modulantem." Notker
Balbulus, De iuterpretibus divinar, scripturar. c. 7, bei Pez, Thes.
anecd. I, p. 9.
4) „In bis omnibus Donatum non sequimur, quia fortiorem in Divinis
Scripturis auetoritatem tenemus." Smaragd, bei Thurot a. a. 0. p. 81 ;
„de scala et scopa et quadriga Donatum et eos qui semper illa dixerunt
pluralia non sequimur, quia singularia ea ab Spiritu Sanato cognovimus
dictata." Ebend.
5) Vgl. Thurot, a. a. 0. p. 65 ü., werthvoll für die Keuntniss der
Grammatiker des Mittelalters.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 117
citirt. Wohiu sich der Verstand dieser Leute verirren konnte, sieht
man daraus^ wenn sie auch die Grammatik, wie oft geschah, mystisch
erklärten und wenn z. B. ein Anonymus des 9. Jahrh. bei den
drei Personen des Verbums an die Personen der göttlichen Trinität^),
oder wie Smaragdus bei den acht Kedetheilen an die biblischen
Zahlen denkt ^). Wie ernst man es aber mit dem Studium der
Orthogi-aphie nahm, geht trotz der zahlreichen Abhandlungen über
diesen Stoff, zur Genüge aus den vielen Mauuscripten hervor, in
denen sich die vulgäre Aussprache des Landes, dem der Ab-
schreiber angehörte, erkennen lässt'*').
Noch schlimmer ist die Verwirrung, Willkür und Unwissen-
heit, die sich in den auf uns gekommenen Commentaren der
Schriftsteller zeigt. Auch hier kam es nur auf ein hastiges
Abkürzen, Umgestalten und Literpoliren an. Wie unter den
Grammatikern Donat und unter den Dichtern Virgil die erste
Stelle einnahm, so herrschte in der Schule unter den Auslegern
Servius, der Trabant des grossen Dichters. Aber die Masse
von Noten, die seinen Namen tragen, gehören doch zum
grossen Theil erst dem Mittelalter an, das bis zum 15. Jahrh.
nicht müde ward, seinen Text zu interpoliren und zu verderben.
6) Einige Beispiele bei Keil, De quibusd. grarum. lat. inf. aet.
p. 16.
2) „Personae autem verbis accidunt tres. Quod credo divinitus esse
insiDiratum, ut quod in Trinitatis fide credimus in eloquiis iuesse videa-
tur." A non. Ms. saec. IX, bei Thurot, a. a. 0. p. 65.
3) „Multi plures multi vero i^auciores pai^tes esse dixerunt. Modo
autem ceto universalis tenet ecclesia; quod divinitus inspiratum esse
uon dubito. Quia enim per notitiam latiuitatis maxime ad cognitionem
electi veniuut Trinitatis, et ea duce regia gradientes itinera festinant ad
superam tenduntque beatitudinis patriam, necesse fuit ut tali oraculo
latiuitatis compleretur oratio. Octavus etenim numerus frequenter in
divinis Scripturis sacratus invenitur". Smaragd, bei Thurot, a. a. 0.
p. 65.
4) Vgl. Schuchardt, Der Vokalismus des Vulgärlateins I, p. 17 ff.
Bemerkenswerth für die barbarische locale Aussprache siud einige Ma-
nuscripte der Seminarbibliothek von Autun, die aus der Zeit vor Carl
dem Grossen herrühren uud mit den Inschriften von Autun zu ver-
gleichen sind. Vgl. Cat. gén. des Mss. des bibl. pubi, des depart. I, n.
20, 21, 23, 24, 27, 107. — Die religiöse Idee macht sich sogar bei der
Orthographie geltend. Hildemar (9. Jahrb.) bemerkt in seinem Commen-
tare zu der „Regula S. Benedicti": „sunt multi qui distinguunt volun-
tatem per n attinere ad Deum et volumtatem per m ad hominem,
voluptatem vero per p ad diabolum." Vgl. Schuchardt, a. a. 0.
p. 4 f.
113 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
Ausser diesem so interpolirten Servius, Donat und Asper ent-
halten die Bibliotheken noch viele andere mittelalterliche Commen-
tatoren zu Virgil und andern Schriftstellern. Die grosse Geduld der
heutigen Philologen hat es indessen noch nicht vermocht unter dieser
enormen Masse von Erklärungen das heraus zu suchen, was möglicher-
weise aus alten Quellen geflossen ist. Die von Hagen herausgegebenen
Berner Schollen \) machen es wahrscheinlich, dass sich noch manches
Interessante darunter linden Hesse. Aber in all diesen Werken des
Mittelalters zeigt sich eine derartige Unwissenheit, dass man öfters
verwundert fragen möchte, ob der Aiitor bei Verstände war. Was
soll man dazu sagen wenn z. B. „efficiam" mit „effigiem, ima-
ginem" erklärt wird^), oder wenn man an Stelle des „Quo te, Moeri,
pedes" liest „Quot Emori pedes", imd darin eine Anspielung auf
die vier Füsse eines arabischen Pferdes mit Namen Emoris ge-
funden wird^)? Ein anderer beginnt seinen Cominentar zu den
Bucolica mit diesen Worten: „Zu jener Zeit, als Julius Caesar
der Herrscher des Reiches war, herrschte Brutus Cassius über dio
zwölf Gaue der Etrusker; es brach aber ein Krieg aus zwischen
Caesar und Brutus Cassius, bei dem sich Virgil befand, und Brutus
ward besiegt. Darauf wurde Julius mit einem Schemel er-
schlagen"*)". In einem andern Commentar, den ich in einer Hand-
schrift zu Venedig fand, werden die auch von Servius besprochenen
drei Stilarten folgendermassen unterschieden: „Der erhabene Stil
ist der, welcher von hohen Personen handelt, von Königen, Fürsten,
Baronen, das ist der Stil der Aeneis. Der mittlere Stil handelt
\'>m Miilelbtande und zeigt sich in den Georgica. Der niedrige
Stil handelt von den Personen untersten Ranges z, B. den Hirten;
dies ist der Stil der Bucolica'')." Ein Commcntator des Juvenal
1) Scholia bernensia ad Vergili Georgica atquc Bucolica
ed. Herrn. Hagen Lips. 1867. (Aus den Supplementen zu den Jahrb. i.
rhil.) vgl. p. 696 tf.
•2) Ad. Ecl. Ili, 51, Efficiam „pro effigiem, imaginein" Scholl. Bern,
p. 769.
3) Ad Ecl. IX, 1: ,,alii dicunt: Emoris, equus velocissimua Sara-
cenorum, quem interdum accipi potest: Quod Emori pedes, id est, utinam
quattuor ut nie in urbem cito veherent ad accusandum Cladium" (sicl)
Seholl. Bern. p. 827.
4) Vgl. Catal. gén. des Mss. des bibl. pubi, des dep. I, p. 428; und
II aase, De medii aevi studila philologicis, p. 7.
Ò) „Stilus in hoc opere est sublimis .... nam est raoncndum quod
triplex est stilus, scilicet sublimis, mediocris, et infimus. Sublimis stilus
est qui tractat de sublimibus sive maxirais pcrsonis et rcgibus, principi-
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 119
strozt förmlich von derartigen Unsinnigkeiten*): „Elenchus", sagt
' er, bedeutet Titel des Buches, und kommt vom gi'iechischen ,,elcos"
(sie!), welches Sonne heisst, „weil der Titel sein Licht wirft auf die
ganze Schrift, so wie die Sonne die ganze Welt erleuchtet;" „Pro-
vincia" hat adverbiale Bedeutung und heisst „schnell", ausserdem
bedeutet es auch „Vorsehung, Gegend und Vaterland;" „circenses"
ist abzuleiten von „circum enses, weil auf der einen Seite der
Strom floss, man auf der andern die Schwerter aufstellte und in
der Mitte die Wettläufe stattfanden '^)". Viele Iri-thümer erklären
sich aus der Thatsache, dass das Latein nicht mehr in Gebrauch
war und die Volkssprache die üeberhand bekam. In Ländern,
wo man noch lateinisch oder neulateinisch sprach, wäre es nicht
möglich gewesen, wie jener wol deutsche Scholiast des Juvenal
thut^i, „umbella" für eine Art von grünen Steinen zu nehmen,
oder zu sagen, dass „asparagus" ein kleiner Fisch oder eine Art
von Pilz sei. Dass den nicht latemischen Völkern das Latein
sehr sauer wurde, beweisst, dass man sich vom 7. Jahrh. an, an
Stelle des lateinischen in den Glossen des keltischen und germa-
nischen bediente; für die lateinischen traten jetzt keltische, angel-
sächsische und althochdeutsche ein, die eben dadurch für die Kennt-
niss jener Sprachen sehr wichtig sind und sich bei der Bibel, den
kirchlichen Schriftstellern, sowie klassischen und chi-istlichen Dich-
tern finden'^). Unter letzteren ragt besonders Prudentius hervor, von
dem Kaumer 21 Handschriften mit althochdeutschen Glossen er-
wähnt"). Unter den Klassikern ist natürlich Virgil der au Glossen
bus et barouis, et hie stilus in Aeneida servatur; mediocris stilus est
qui de mediocribus personis tractat, et servatur in libro Georgicorum;
infimus stilus vel humilis .... est qui tractat de iufimis persouis, et quia
pastores sunt inferiores personae hie stilus in libro Bucolicorum servatur."
Comment. in Verg. Aen.; cod. (saec. XV) bibl. S. Marci, lat. class. XIII,
No. 61, col. 6.
1) Bei C. Fr. Hermann, De scholiorum ad luvenalcm genere de-
teriore, Gotting. 1849, p. 4 ff. s. Wagner, De lunio Philargyrio II, 11 ff.
2) Diese Etymologie von „circenses" findet sich auch bei Isidor,
Orig. XVIII, 27 und bei Cassiodor, Variar. IV, 51.
3) Vgl. Hermann, a. a. 0. p. 4.
4) Das Buch Aldhelm's, ,,De laude virginitatis", voll von Graecismen
und eigentlich für Frauen geschiieben , ist am häufigsten im angelsäch-
sischen glossirt, dann die Evangelien, Psalmen und Dichtungen des Pru-
dentius, Prospei'us und Sedulius; vgl. Wright, Biogr. Brit. lit. ; Anglo-
Saxon period, p. 51.
5) „Die Einwirkung des Christenthums auf die althochdeutsche
Sprache." p. 104 ff., p. 222.
120 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
reichste, es gibt sogar alte lateinisch-deutsche Wörterbücher, die
uur aus Virgil-Glossen fabricirt sind^). Ein solches Verfahren
musste schliesslich zu Uebersetzungen führen. Wir übergehen hier
die älteste gothische Bibelübersetzung, welche von einem beson-
deren Standpunkt betrachtet sein will. Der König Alfred, der
Augustus der Angelsachsen, übersetzte im 9. Jahrh. den Boethius
und „De cura pastorali" des Papstes Gregor ins angelsächsische.
Andere mussten ihm aber zu diesem Zwecke den Text erst in
eine einfachere und klarere Gestalt verwandeln. An den Virgil
hat er sich nicht gewagt, obgleich er ihn als Vater der lateinischen
Dichter und Schüler des Homer betrachte''). Der Deutsche Notker
übersetzte im 10. Jahrh. die Bucolica, Marcianus C'apella, Boethius
und andere Autoren'^). Mit diesen damaligen Modeschriftstellern
also theilt Virgil die Ehre der ersten Uebersetzungen.
Noch weniger als von der Grammatik ist von der Rhetorik des
Mittelalters, soweit sie sich an die klassische Rhetorik anschliesst,
zu sagen. Sie wird zwar als zweite unter den sieben Künsten in
Ehren gehalten, aber hat nichts mehr von jenem Glänze, den ihr
selbst in der Verfallzeit noch Ennodius, Capella u. A. liehen. Auch
hier fehlt es nicht an Commentaren, Umarbeitungen und Com-
pendien alter Werke, aber sie sind nicht so zahlreich wie die
gi-ammatischen Schriften. Von der alten Rhetorik ist nur noch der
Schematismus übrig, die Terminologie, einige Definitionen und beson-
ders jener auf die Tropen und Figuren bezügliche Tlieil, der schon im
1) Ueber deutsche Virgilglossen vgl. Wackernagel in Haupt's
Zeitschrift für deiitsche Alterth. V, 327; Steinmeyer, De glossis qui-
busdam Vergilianis, Berolini 1869, und desselben: Die deutschen Virgil-
glossen in Haupt's Zeitschr. N. F. III, 1870, p. 1 flf. — Einige keltische
Glossen publicirt von Hagen, Scholl. Bern. GDI.
2) „Libros Boethii .... planioribus verbis elucidavit (episc. Asscr)
.... illis diebus labore necessario, hodie ridiculo. Sed cnim iussu regis
factum est ut levius ab eodem in anglicum transferreutur sermoncm;"
Wilh. Malmesb. p. 248.
3) ,,Theah Omerus se goda sceop, the mid Crecmn seiest was; se
waes Firgilies lareow, se Firgilius waes mid Laedenwarum seiest." Homer,
der gute Dichter, der der beste unter den Griechen war, er war Virgils
Lehrer, dieser Virgil war unter den Lateinern der beste. Alfrcd's
Boethius ed. Cardale p. 327^ Wright, Biogr. brit. lit. ; Anglo-sax.
per., 56.
4) Ueber die alten Uebersetzungen ins althochdeutsche s. Räumer,
Die Einwirkung des Christenth. etc. cap. 2.
Virgil iu der Literatur bis auf Dante. 121
Altertbum Elietorik und Grammatik verband ^). Die christliche
Redekunst und der Stil der christlichen Schriftsteller hatten ihre
eigne Natur und ganz besondere Hilfsquellen. Wer dies erwägt,
wird sich nicht wundern, wenn die Abhandlung Alcuin's über die
Rhetorik^) mit den Definitionen der Klassen der Eede beginnt,
unmerklich in Bestimmungen der Dialektik übergeht und ganz mo-
rahsch mit einer Keihe von Definitionen endet, die sich auf die
Tugend beziehen.
Bei den Gedanken und Zwecken der christlichen Schriftsteller
war der Gebrauch der heiligen Bücher bei der Exemplification
für die Rhetorik gewiss passender als für die Grammatik. In der
That findet auch bei der Rhetorik ganz dasselbe Dui'cheinander-
mischen von Autoren wde bei der Grammatik statt ^j. Aber trotz-
dem ist die Anwendung von Beispielen aus den heiligen Schriften
verhältnissmässig nicht so gross, wie man erwartet und wie es
manchem Zeloten erwünscht gewesen wäre. Das kam daher,
weil das grammatische Studium so eng mit dem rhetorischen
zusammenhing und für das Profanstudium überhaupt die eigent-
liche Basis war. Abgesehen von dem ganzen alten Apparate der
Terminologie, der Definitionen, Eintheilungen u. s. w. musste schon
die Autorität der Alten gewahrt bleiben, weil man einerseits
immer noch einiges Interesse für diese Studien hatte, anderer-
seits es aber au Energie fehlte, dieselben von Grund aus zu re-
formiren*).
1) Sie ist ein Theil der „scientia sermocinalis", welche das ganze
Trivium, also Logik, Rhetorik und Grammatik umfasst. Ueber die Be-
ziehungen der Grammatik zur Rhetorik im Mittelalter, besonders zur
Zeit der Scholastik, vgl Thurot, a. a. 0. p. 470 ff.
2) ,,Disputatio de rhetorica et de virtutibus, sapientissimi regis Ka-
roli et Alcuini Magistri" ; wiederabgedruckt bei Halm in den Rhetores la-
tini minores p. 5 2 3 ff.
3) „Cognoscite ergo, magistri saecularium litterarum, hiuc (ex Scrip-
tura scilicet) Schemata, hinc diversi generis argumenta, hiuc definitiones,
hinc disciplinarum omnium profluxisse doctrinas, quando in bis litteris
posita cognoscitis, quae ante scholas vestras longe prius dieta fuisse sen-
titis.'' De schematib. et tropis apud Cassiodor. (Introd.), in Cassio dori
Opp. (Migne) n, 1270. Vgl. auch die oben Seite 75. citirte Anmerkung
Beda's.
4) In einem wol aus Gallen herrührenden Tractate über die Rhetorik
(in einem Codex des 11. Jahrh.) heisst es sehr bezeichnend für die trau-
rigen Umstände in denen sich jenes Studium im Mittelalter befand: ,,01im
disparuit, cuius facies depingenda est, et quae nostram excedit memoriam,
eam qualis erat formare difficile est, quia multi dies sunt ex quo de-
122 Viigil in der Liteiatuf bis auf Dante.
Virgil behielt auch iu der Rhetorik jetzt noch sein altes An-
sehn, das sich von den alten in den Schulen gelesenen Schrift-
stellern herschrieb, wenn anch das Uebergewicht Cicero's weniger
(ielegenheit gab, den Dichter in den Rhetorschnlen zu citireu. Bei
den engen Beziehungen jedoch zwischen Grammatik und Rhetorik,
die von demselben Lehrer vorgetragen wurden, musste sein Buch
natürlich auch für die Rhetorik höchst wichtig sein. Gerbert hielt
wie die Rhetoren der Yerfallzeit das Studium der Dichter Seitens
der Rhetoren zum Zwecke des guten Ausdrucks für durcho.us nöthig
und führte seine Schüler in die Rhetorik ein, indem er ihnen
N'irgil, Statins, Terenz, Juvenal, Persius, Horaz und Lucan erklärte').
In einigen Handschriften findet man den Theil der Schrift des
Maoroliius, der sich auf die rhetorischen Vorzüge Virgils bezieht,
neben der Biographie des Dichters, die man dem Donai zu-
schreibt^). Jener Abschnitt, der gleichsam ein Compendium der
Rhetorik ist, muss im Mittelalter also viel benutzt worden sein,
und auf ihn bezieht man auch einige merkwürdige Worte über Virgil,
als einen Dichter, der im Kleinen die Summe der Rhetorik vereinige,
in dem „fior di retorica" des Fra Guidotti^).
sinit esse. Oportcret eaui immortalem esse, cuius amore langueni ita
homines, ut abstractam tam diu et mundo mortuam resurgere velint.
Ubi Cato, ubi Cicero, domestici eins? nam si illi redireut ab inferis, haec
illis ad usum scrmouis famularetur, sine qua nihil eis certuni constabat,
qiiod ventilandum esset pro rostris. (,!uid antom est quod in suam non
rodigatur originem? Naturalis cloquontia viguit, quousque oi per doctri-
nam filia Ruccessit artificialis , quac deinde rhetorica dieta est. Haec
postquani autiquitate temporis extincta est, illa iterum revixit; unde
hodieque plurimos cernimus qui in causis solo naturali instiiictu ita ser-
mone callent, ut quae velint quibuslibet facile suadeant, nee tarnen re-
gulam doctrinae uUam requirant." Herausgegeben von Docen in den
hJeiträgcn zur Gesch. und Literatur des Aretin, VII, 283 ff. Vgl. den von
Wackernagel, Zeitschr. f. deutsch. Alterth. IV, p. 463 — 478 publi-
cirten Text der Öangaller Rhetorik.
1) ,,Cum ad rhetoricam suos provehere vellet, id sibi suspectum erat,
quod sine locutionum modis, qui in poetis discendi sunt, ad oratoriam
ai'tem pervenir! non queat. Poetas igitur adhibuit, (piibus assuescendos
arbitrabatur. Legit itaque ac docuit Marouem et Statiuni Terentium-
quc poetas, luvenalem quoque ac Pei'sium Horatiumque satiricos,
Lucanum etiam historiographum. Quibus assuefactos locutionumquc
niodis compositos, ad rhetoricam transduxit." R i c h e r. Biet. lib.
III, 47.
2) So in einem Ms. der Nationalbibliothek zu Florenz, geschrieben
von Pier Cennini.
3) „ .... e come conteremo per lo innanzi del versificato che fece il
grande poeta Virgilio nel tempo che fu Attaviano imperadore Augusto,
Virgil in dfx Litrratnr bis auf Dante. 123
VirgilÌ!?che Reminiscenzen sind bei allen Prosaikern des Mittel-
alters häufig, bei Orosius im 5.*) wie bei Liutprant im 10. Jahrh.^).
Aber die Rhetorik hatte besonders im Anfange des Mittelalters
einen grossen Einfluss auf die Poesie und rief Schöpfungen hervor,
die sich speciell auf Virgil beziehen; diese müssen wir nunmehr
betrachten.
Zehntes Capitel.
Was wir von dem Leben Virgils wissen, ist durch die Gram-
matiker und Rhetoren auf uns gekommen und findet sich besonders
in den für die Schulen bearbeiteten Virgilcommentaren ; denn es
war ein alter Gebrauch, der Erklärung der Schriftsteller in den
Schulen einige Notizen über ihr Leben vorauszuschicken. Was in
diesen Biographien noch aus der Zeit der ersten Kaiserherrschaft
stammt, hat jedoch für unseni Zweck weit weniger Werth als das, was
aus der Zeit des Verfalles und des Mittelalters herrührt. Wir
hielten es deshalb für gut die biographischen Notizen über
Virgil erst hier zu besprechen und das Ganze der Ueberlieferung
vom Standpunkte des Mittelalters aus zu betrachten, nachdem wir
die Wandlungen seines Ruhmes im Kreise der Rhetorik und Gram-
matik durch mehrere Epochen hin begleitet haben.
Ln Verhältniss zu dem Range, den Virgil in der Literatur
und Schule einnahm, ist über sein Leben unter allen lateinischen
Dichtern das Meiste geschrieben worden. Eine Menge authentischer
Nachrichten v/erfen ein helles Licht auf seine historische Persön-
lichkeit, was um so beraerkeuswerther ist, als jene nicht wie bei Ovid
aus den Werken des Dichters selbst, sondern aus biographischen Docu-
menten, die sich zugleich mit dem Ruhme des Dichters verbreitet
haben, geschöpft sind. In seinen Werken hat Virgil selten Ge-
legenheit, von sich selbst zu sprechen. Thut er es doch dann
und wann, so geschieht dies, wie in den Bucolica, nur auf in-
figliuolo adottivo di Giulio Cesare; nell' imperio della sua dignitadc
nacque Cristo glorioso salvatoi-e del mondo: il quale Virgilio si trasse
tutto il costrutto dello intendimento della rettorica, e più fece chiara
dimostranza, sicché per lui possiamo dire che l'abbiamo, e conoscere la
via della ragione e la etimologia dell' arte di rettorica; imperocché
trasse il grande fascio in piccolo volume e recollo in abbreviamento,"
Frate Guidotto, Fiore di rettorica, bei Nannucci, Manuale etc.
IT, 118.
1) Vgl. Hörne r, de Oros. vii p. 117 f.
2) Vgl. Köpke, Vit. Liudprand. p. 138.
124 Virgil iu der Literatur bis auf Dante.
directe uud verborgene Weise, und ohne die betreffenden Bemer-
kungen der Coinmentatoren gelänge es uns kaum die Anspielungen
zu entdecken. Natürlich haben schon die Zeitgenossen über einen
Mann, der iu so exceptioneller Weise die Aufmerksamkeit auf sich
zog, gar viel geschrieben^), z. B. seine Freunde Varius und Melissus^).
Auch Andere, die nur aus den Aeusserungen solcher, die ihm
nahe gestanden, schöpfen konnten, haben Specialschriften über
sein Leben hinterlassen, ^vie Asconius Pedianus, der sein Buch
gegen die Neider des Dichters schrieb, zu einer Zeit als er noch
das giltige Zeugniss von Zeitgenossen über Virgils Leben und
Charakter vorbringen konnte. Noch in den letzten Regierungs-
jahreu des Tiberius hatte der neunzigjährige Seneca, dem die aus-
gezeichnetsten Männer der Augusteischen Zeit bekannt waren, von
Virgil erzählt^); und w^ie es immer bei so berühmten Persönlich-
keiten zu sein pflegt, mussten sich auch hier mündlich über den
Dichter viele wahre und falsche Anecdoten fortpflanzen. Die münd-
liche üeberlieferung können wir bis ins 2. Jahrh. verfolgen'^).
Eben in dieser Zeit verfasste Sueton seine gelehrte historisch-lite-
rarische Compilation „De viris illustribus", worunter sich auch ein
Abriss über das Leben Virgils fand. Die Grammatiker bedien-
ten sich derselben später, wenn sie für ihre Commentare bio-
graphische Notizen zusammenstellen wollten. Heute sind nur noch
Fragmente davon erhalten; aber auch das Meiste, was wir über
Virgils Leben wissen, besonders aus der grössten Biographie Vir-
gils, welche den Namen des Aelius Donatus^) trägt, (weil sie
1) ,, Amici familiaresque P. Vergili in iis quae de iugenio moribusque
eins memoriae tradiderunt." Gell. XVII, 10.
2) Vgl. Quintilian X, 3, 8; Donat. Vergib Vit. p. 58, 5; Kibbeck,
Prolegg. p. 89.
3) ,,Et Seneca tradidit, lulium Montanum poetam solitum dicere
iuvolaturum se Vcrgilio quaedam etc." Donat. Vit. Verg. p. 61. Unter
dem, was von Seneca dem älteren auf uns gekommen ist, findet sich
die Stelle nicht.
4) ,,Nisus grammaticus audisse se a senioribus aiebat etc." Donat,
Vit. Verg. p. 64.
5) Uebcr die Schriften, die den Namen des Donat tragen, herrscht
unter den Gelehrten viel Verwirrung. Die grössere erhaltene Biographie
gehörte zu dem heute verlorenen Commentare des Aelius Claudius
Donatus und nicht zu dem des Tiberius Claudius Donatus,
wie Fabricius, Gräfenhan (Gesch. d. klass. Philos. im Alterth. IV, p. 317)
u. a. meinten; Reiff erscheid a. a. 0. p. 400 f. hat dies klar nachge-
wiesen und trotzdem findet sich der Irrthum wieder bei Teuf fei (Gesch.
d. röm. Litt. p. 898).
Virgil in der Literatur bÌ8 auf Dante. 125
nämlich dessen im 4. Jahrli. verfasstem Virgilcommeutar voraus-
ging) weist auf dieselbe Quelle zurück^).
Der Hauptbestand der uns erhaltenen Notizen ist kein Special-
wer-k über das Leben des Dichters, sondern gleichsam der com-
pendiose Artikel eines historisch-literarischen Repertoriums. Douat
hat den Sueton wörtlich abgeschrieben, und in dem echten Theil
der Biographie, wie er sich in den ältesten imd besten Handschriften
findet, erkennt man deutlich den trocknen, kalten Stil Suetons
und dessen Art, Anecdoten ohne das Bindemittel eigener Reflexion
aneinander zu reihen. Obgleich man fühlt, dass es sich um einen
ganz besonders verehrten imd berühmten Dichter handelt, ist die
Darstellung der Biographie doch rein thatsächlich und realistisch;
von jener Wärme, mit der man sonst über Virgil zu reden
pflegte, zeigt sich nichts. Genau denselben Ton schlagen auch
die Kaiserbiographien Suetons an. Auch jener kleine, sicherlich echte
1) Ich citire die BiograiDhie nach der Ausgabe von Reif f er scheid,
der mit Recht den echten Theil derselben dem Sueton zugeschrieben
hat: „Suetoni praeter Caesarum libros reliquiae"; Lips. 18G0 p. 54 ft".
Unentbehrlich für Kritik und Geschichte dieser alten Biograi:»hie ist die
Ausgabe von Hagen (Scholia Bernensia ad Vergil. Bucol. et Georg.
p. 734 &., in der auch der auf die bucolische Poesie bezügliche Theil,
der unmittelbar auf die Biographie des Donat folgt, hinzugefügt wird.
Die „Fl. (lies: Ael.) Donatus L. Munatio suo salutem" übersehriebeno
Vorrede Donats vor der Biographie hat Wölfflin, Philologus 18GÜ,
p. 154 herausgegeben. Wölfflin, Baehr p. 3G7 und andere hielten den
Text irrthümlich für eine Vorrede zur Biographie, was, wie Baehr be-
merkt, wegen der Worte „de multis pauca decerpsi" mit der Ansicht,
dass dies alles Sueton entlehnt sei, nicht stimmen würde, aber es genügt,
jene Schrift aufmerksam zu lesen, um zu bemerken, dass sie uicht eine
Vorrede zur Biographie allein, sondern zum ganzen Commentare bildet.
Auf die Erläuterungen des Commentars bezieht sich doch gewiss das,
was Donat von seiner eigenen Ansicht sagt, die er der Meinung der An-
dern beifügte (admixto sensu nostro), und ebenso kann man auch nur
die Schlussworte darauf beziehen: „si euim haec grammatico, ut aiebas,
rudi ac nuper exorto viam monstrant ac manum porrigunt, satis fecimus
iussis." — Aus dieser Vorrede wird ersichtlich, dass das ganze Werk
Donats, trotz seiner eigenen Hinzufügungen wesentlich Compilation war.
Wie Macrobius referirt er genau die Worte der Schriftsteller ohne ihren
Namen zu nennen : „Agnosces igitur saepe in hoc munere conlatitio
sinceram vocem priscae auctoritatis. Cum enim beeret usquequaque
nostra interponere, maluimus optima fide, quorum res fuerat eorum etiam
verba servare." Das findet seine Anwendung auch in der dem Sueton
entlehnten Virgilbiographie. Ueber die Hdss. und den Text der Biographie
vgl. Hagen, a. a. 0. p. 676 ff. 683 ff.
12C Virgil in der Literatur bis auf Dante.
Tlieil der Biographie, der die wunderbaren Vorzeichen von des
J)ichters zukünftiger Grösse erwähnt, geht wol auf Sueton zurück,
der dabei die mündliche Ueberlieferung oder Aufzeichnungen älterer
Schriftsteller benutzt haben wii-d; dahin gehört z. B. der Ti-auni
der Mutter, dass das Kind nicht schrie, als es geboren ward, sowie
die Erzählung von dem bei seiner Geburt eingeptianzten Pappel-
zweige, der schnell eine grosse Höhe erreichte ^). Anecdoten solcher
Art, wie sie Sueton in allen Kaiserbiographien vorbringt, sind
eigentlich im ganzen Alterthume zu gewöhnlich, als dass man sie
als besonders charakteristisch für den Ruhm des Dichters ansehen
könnte; dennoch darf man sie nicht mit den fabelhaften Erzäh-
lungen des Mittelalters verwechseln. Vielleicht ist nicht alles, was
Sueton über Virgil geschrieben hat, von Donat wiedergegeben;
jedenfalls fand dieser Theil des Commentars mehr Beifall als alles
Uebrige und erhielt sich als ein besonderes Werk. Man las ihn
(las ganze Mittelalter hindurch und benutzte ihn zu zahlreichen
kleinen Biographien, die sich neben den Commentaren in den Vir-
gil - Handschriften finden; und man kann geradezu sagen, dass er
in der literarischen Ueberlieferung die Vorstellung von der histo-
rischen Persönlichkeit des Dichters am Leben erhalten hat').
1) Interessant und nicht unglaublich ist das jener Notiz beigefügte
Factum: „quae arbor Vergili ex eo dieta atque etiam consecrata est,
summa gravidarum ac fetarum religione et suscipientium ibi et rsolven-
tium vota." Donat. Vit. Verg. p. 55.
2) No. 158 der Authologia latina (R.) ist ein Epigramm als Unter-
sclirift unter einem Bilde des Dichters, es ist aber merkwürdig, dass ima
bei dem Ruhme des Dichters kein einziges ganz treues Abbild desselben
geblieben ist. Seine Büsten waren in öfleutlichen wie Privatbibliotheken
(vgl. Sueton IV 34) bis in die Verfallzeit hinein sehr gewöhnlich; von
einer auf ein Abbild Virgils sich beziehenden Inschrift des 5. Jahrb.
weiter unten. Bis in die Zeiten der Renaissance hinein dauerte die Sitte
der Alten, Virgilhandschriften mit dem Bildnisse des Dichters zu
schmücken (vgl. Martial XIV 186). Das älteste ist im Codex Vatieanus
(4. oder 5. .Tahrh.) erhalten. Aber bei diesen Miniaturen machte sich sehr
bald die Willkür geltend, irgend einen Schriftsteller abzubilden; auch
die Miniatur des Vaticanus bietet einen sehr wenig bezeichnenden Ty-
pus dar. Im Mittelalter bekümmerte man sich noch viel weniger um
Treue des Portraits, und die zahlreichen Bilder des Dichters in den
Handschriften sind ganz verschieden, willkürlich und phantastisch. Bis-
weilen trägt der Dichter einen langen Bart, manchmal keinen, öfters
liat er dichtes langes Haupthaar, dann ist er wieder kahlköpfig, trägt
eine phiygische Mütze u. s. w. Ich habe unter den vielen, die ich ge-
sehen habe, auch keine einzige ideale Uebereinstiramung finden können.
Die verschiedenen Handschriften des Dante mit dem Bildnisse dieses
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 127
Im Allgemeinen findet man in keiner prosaischen Biographie
jene Begeisterung, mit der wir sonst von Virgil zu hören gewohnt
sind. Sie haben wol alle das Bestreben, in dem Dichter etwas
besonders Hen'orragendes zu erkennen, sind jedoch im ganzen
sehr einfach und ohne subjective und rhetorische Färbung. Das
kam daher, weil sie keine eigentlichen Biograi^hien , sondern nur
Notizensammlungen sind mit dem Zwecke, beim Unterricht als
Einleitung zu den Commentaren zu dienen, deren schwuuglosen
Ton sie daher ebenfalls haben. Donat hatte gewiss keine Ur-
sache, als er sein Buch für die Schule schrieb, die trockenen
Nachrichten Suetons durch die eigene Begeisterung aufzufrischen,
noch weniger aber thaten es die, welche Auszüge aus dem Donat
gemacht haben. Dasselbe gilt auch von den kurzen biographischen
Notizen, welche den Commentaren des Probus ^J und Servius")
vorausgehen. Wenn sich nun aber die hyperbolische Begeisterung,
die sonst die ganze Literatur für Virgil kund gab, nicht auch in
jenen schmucklosen Compilationen zeigte, so war sie gleichsam
das Ferment, in Folge dessen man zu den historischen Notizen
eine Menge von irrthümlichen, erfundenen oder verdrehten That-
sachen hinzufügte, von denen sich einige auch in den Text der
Dichters, zeigen ja auch, wie wenig man sich an die Aehnlichkeit des
Portraits kehrte, obgleich doch Dante der Zeit nach den Malern viel
näher stand. Zwei Miniaturen mit dem Bildnisse Virgils, unter denen
eine von Simone Memmi herrührt, hat Mai herausgegeben: „Virgili!
Maronis interpret. vet." Medici. 1818. Die Miniatur des Vaticanus ist
öfter reproducirt worden. Man vgl. Visconti, Icou. rom. p. 385 fl'.
sowie über die Büste von Man tua Labus, Museo di Mantova I, p. 5 ff'.;
Carli, dissert. sopra un antico ritratto di Virgilio, Mantova 1797.
Mai nardi Dissert. sopra il Busto di Virgilo della R. Accad. di Man-
tova. Mani 1833; Raoul Rochette im Journal des Savants, 1834
p. 68 ff. Beschreibung Roms^ 11,2, p. 345 f.; Müller, Handb. d. Archäol.,
p. 734.
1) Ueber jene kurze auch von Reifferscheid (Suet. reliq. p. 52 f.)
publicirte Biographie vgl. Steup, De Probis grammaticis, Jenae 1871,
p. 120 ff". Er meint, dass sie zu einem Commentare des jüngeren Valerius
Probus gehört habe.
2) Reifferscheid (Suet. rei. p. 398 f.) glaubt, dass die den Namen
des Servius tragende Biographie nicht diesem angehöre, und dass dessen
eigne, die er selbst in der Einleitung zu den Bucolica citirt, verloren
sei. Gegen diese, von Bahr (R. L. p. 36G) und Teuffei (R. L. p. 389)
acceptirte Ansicht hat Hagen (Schob Bern. p. G82) gute Gründe vorge-
bracht. Er bemerkt, dass sich jene Biograi^hie des Servius auch in einer
Berner Hds. aus dem 8 — 9. Jahrhundert findet.
128 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
Biographie eiugescblicheu haben. Das ]\Iittelalter drückte auch
dieser seinen besonderen Stempel auf, und eben aus diesem
Gesichtspunkte betrachtet, gewinnt sie für uns ein besonderes In-
teresse ^).
Jenes Eindringen falscher Elemente in die Biographie geschah
ireilich nicht so, wie sich die Meisten vorstellen, wenn sie an die
Sage vom Zauberer Virgil denken und meinen, dass die Inter-
polationen in den Biographien Virgils davon herrühren. Dieser Irr-
thum beruht darauf, dass man zwei von einander ganz verschie-
dene Dinge, näiiüich die Volkssagen und die literarischen fabelhaften
Ueberliefemugeu über Virgil miteinander vermischt hat. Insofern
1) Die den Namen des Donat tragende ]3iograi)hie hat in einigen
Handschriften von denen die ältesten nicht über das 14. Jahrh. hinaus
reichen, einen Zuwachs von thörichten und nichts weniger als authen-
tischen Notizen erhalten. Ohne diese Interpolationen kommt sie in
Handschriften vor, die bis ins 9. und 10. Jahrh. zurückreichen. Sprache
uud Stil dieser Einschaltungen machen unglaublich dass sie Donat dem
Texte des Sueton hinzugefügt habe. (Vgl. Hagen, Scholl. Bern p. G80;
Roth in der Germania IV p. 28.5). Trotzdem irrt Roth wenn er meint
dass sie einem neapolitanischen Gelehrten aus der ersten Hälfte des 12.
Jahrh. angehören, denn jene Interpolationen in den Handschriften können,
obgleich sie unter einander nicht verschieden sind, nicht das Product
eines Einzigen auch nicht aus einer Zeit sein. Der Inhalt einiger von
ihnen findet sich bei Servius, Cassiodor und Aklhelm wieder. Der
gelehrte Neapolitaner müsste also ein für seine Zeit ganz überraschendes
Werk gelehrten Fleisses unternommen haben. Ausserdem hat Koth niclit
bedacht, dass, so unbedeutend jene Interpolationen sind, sie doch im
Ganzen weit weniger roh sind, als man nach der Bildung eines Süd-
italieners im 12. Jahrh. erwarten konnte. Man erkennt in einigen von
ihnen ganz deutlich Anecdoten, welche schon zur Verfallzeit in den
Schulen der Grammatiker bekannt gewesen sein müssen. Es wäre ganz
unglaublich, dass sich nicht in die immer von Neuem copirten, zusammmen-
gezogenen und ausgeschriebenen Biographien des Dichters, derartige
Anecdoten eingedrängt haben sollten. Ich zweifle nicht im Geringsten
daran, dass Aldhelm und Cassiodor schon in einer Biographie Virgils die
Anecdoten, auf die sie wie auf bekannte anspielen, und die sich auch
in die Biographie des Donat oder Sueton eingeschlichen haben, gelesen
haben werden. Möglich, dass irgend ein Grammatiker zu der Biographie
des Sueton, die Donat nicht veränderte, bei seiner Benutzung, das, was
man sich in der Schule erzählte, einschaltete. Jedenfalls glaube ich,
dass die Interpolationen auch in den jüngeren Handschriften einen ziem-
lich alten Kern enthalten, der sich schon in einer Biographie vor dem
G. Jahrh. fand. Er ist dann durch das Mittelalter hindurch vergrössert
worden, bis im 12. Jahrh. eine Anecdote hinzukam, von der weiter unten
die Rede sein wird.
Virgil in der läteratur bis auf Dante. 12{>
beide aus eiuer übertriebenen Vorstellung von der Weisheit des
Dichters hervorgingen, ist dafür freilich auch eine gemeinsame Basis
anzimehmen; aber eben jene Vorstellmig ist unter dem Volke
von viel gröberer Natur als in der Literatur, und vollends ver-
schieden ist die Art und Weise, in der sich auf beiden Gebieten
die „Weisheit Virgils" geltend macht. Der Virgil der Volkssage
verliert ganz den Chai-akter des Dichters, den er in der literari-
schen Ueberlieferung immer festhält. Die letztere erklärt sich wol
hinreichend durch die historischen Erscheinungen, die wir bis jetzt
untersucht haben, aber nicht so der Ursprung der Volkslegende,
die ganz specielle Ursachen hat. Natürlich mussten sich beide
Richtungen schliesslich begegnen, aber die Volkslegende über-
schreitet vor dem 12. Jahrb. zunächst nicht die engen Grenzen
ihrer Heimath, um sich in der Literatur auszubreiten. Ihr Einfluss
auf die Biographien des Dichters findet sehr spät statt und ist
auch dann nur schwach und von sehr geringer Ausdehnung. In
die Biographie des Donat ist in Handschriften des 9., 10., wie in
Ausgaben des 15. Jahrb. eine einzige besonders fabelhafte Anec-
dote eingedrungen, von der wir später reden werden. Eine von
Hagen ^) aus einer Berner Handschrift des 9. Jahrh. publicirte Bio-
graphie enthält zwar manchen naiven Zug, aber nichts, das an den
Zauberer Virgil erinnerte wie in den nach dem 13. Jahrh. verfassten
Biographien, Im zweiten Theil unseres Werkes werden wir sehen,
wie die Volkssage sich nicht früher als im 15. Jahrh. bei Bona-
mente Alipraudi mit den aus dem Donat entlehnten biogi-aphischen
Notizen vermischt.
Versteht man unter der „literarischen Legende" alles nicht
authentische, was uns über Virgil als Dichter, Schriftsteller und Ge-
lehrten literarisch überliefert ist, so kann man nicht gerade sagen,
dass sich in derselben etwas für den Dichter besonders charakte-
ristisches zeigt. Die Legende zeigt uns nur, wie sich sein Ruhm
durch das ganze Mittelalter ausbreitete und entsprang wol aus
einer Menge einzelner Anecdoten, die sich den historischen Notizen
angehängt hatten, und die zwar historisch undenkbar sind, aber
doch nichts übernatürliches bieten. Derartige Notizen finden
wir zuerst bei den Grammatikern und denen, welche den Virgil
studirten; selten sind sie das Product der reinen Fantasie, ver-
binden sich aber oft mit irgend einer historischen Thatsache, oder
einem Verse, den man willkührlich oder doppelsinnig auslegte.
1) Scholia Bern. p. 996 ff.
Comparetti, Virffil im Mittelaltor.
130 Virgil in der Litcratiir bis auf Dante.
Schou bei Asconius Pediauus, dann bei den Grammatikern und
Commentatoreu stösst uns bisweilen ein solches „man sagt" auf.
Als man später sich in dichterischen Uebungen erging, denen
stets Virgil als Autorität vorschwebte, als beim Wachsen der Un-
wissenheit sich die Fäden der alten üeberlieferung verwirrten, fand
sich auch reichlichere Gelegenheit, irrthiimliche und sagenhafte
Ideen zu produciren. Bekannt ist das Distichon: „Nocte pliiit tota
redeunt spectacula mane, Divisum imperium cum Jove Caesar
habet", wie die Geschichte, dass sich einst Jemand diese Verse
angeeignet, und Virgil sich deshalb in folgenden ebenfalls ohne Namen
publicirteu Versen beklagt habe: „Hos ego versiculos feci, tulit alter
honorem; Sic vos non vobis . . . etc." Diese Erzählung wie die
Verse, die otfenbar nicht von Virgil herrühren, blieben im ganzen
Mittelalter und noch in der Neuzeit bekannt^) Wir finden sie in
vielen Virgil-Handschriften verschiedener Zeit und bei mehr als
einem mittelalterlichen Schriftsteller, im Codex Salmasianus*), sowie
l)ei Cassiodor^) und Aldhelm"*). Sie müssen also schon im 6. und
7. Jahrh. bekannt gewesen sein. In der Biographie des Donai
stehen sie nur in den interpolirten Handschriften •''Ì. We^;halb sie
1) Hierauf bezieht sich ohne Zweifel der Hexameter: „Juppiter in coelis
Caesar regit omnia terris" unter dem Titel „Vergilius de Caesare"; Auth.
lai 782 (R). Obgleich der Hexameter sich nur in Hdss. des 14. und 15.
Jahrhunderts findet, halte ich ihn doch für ziemlich alt. Riese vermuthet
(Jahrb. f. Phil. 1869 p. 282) darin ohne Grund eine Reminisceuz an Vers
143 der Elegia de Nuce: „sed neque toUuntur, nee dum regit omnia
Caesar, Incolumis etc."
2) Anth. lat. 256, 267 (R.).
3) ,,Ut est illud: Divisum imperium cum love Caesar habet." Cassiod.
De Orthogr. c. 3. (dies Capitel des Cassiodor ist einem unbekannten
Grammatiker Curtius Valeriauus entlehnt).
4) Aldhelm citirt als einen Vers Virgils ,,in tetrastichis theatrali-
bus": „Sic vos non vobis mellificatis apcs." (Aldh. opp. od. Gii. p. 309).
Der Ausdruck ,.in tetr. theatr." beweist, dass die Verse damals nur 2
Disticha waren. Als solche erscheinen sie denn auch im Codex Sal-
masiauus wo das Citat der Pentameter des 2. Distichons ist. Natürlich
sind die 3 anderen Pentameter, in denen das „sie vos non vobis" mit
dreimaliger sogar gereimter Veränderung wiederholt wird, später hinzu-
gefügt. Sie finden sich schon in Hdss. des 10. Jahrh. Die 2 letzten
fehlen in einigen Hdss. Donizo's (11. Jahrh.), der auch die Anecdote
erzählt. (Vgl. V i t. M a t h. bei M u r a t o r i , Scriptor. rer. it. V,
p. 3G0).
5) Hagen i,Jahrbb. f. Phil. 1869 p. 734) glaubt, dass die Erzählung,
welche jenen Versen voraus geht, nicht älter als das 12. Jahrh. ist; in-
dessen setzen die Verse jene Erzählung voraus, die also eben so alt sein
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 131
dem Virgil zugeschrieben wurden, ist schwer zu sagen; vielleicht
kamen sie zuerst in einigen Handschriften unter die Epigramme
des Dichters und galten dann in den Sammlungen kleiner Gedichte,
wie sich eine solche im Codex Salmasianus befindet, als sein Eigen-
thum ^). Anders kann man sieht nicht erklären, wie in demselben
Codex dem Virgil ein Epigramm zugeschrieben wird, welches ein
sententiöses Distichon aus Ovid's Tristien ist^). Sehr bekannt
war unter den Commentatoren auch eine andere Erzählung, die
sich auf einen den Ascanius betreffenden Halbvers „magnae spes
altera Romae" bezieht, und die Bewimderung für den Dichter, den
man dem grössten römischen Prosaiker an die Seite setzt, aus-
drückt. Es soll nämlich Cicero, als er im Theater die 6. Ecloge
von der Cj-tlieris vortragen hörte, betroffen diirch das Talent, das
sich in der Composition zeigte, gefragt haben, wer der Verfasser
sei, und als er es erfahren, ausgerufen haben: „magnae spes altera
Romae!". (Sich selbst hielt er natürlich füi- die erste.) Diese Worte
sollen dann von Virgil mit Bezug auf Ascanius in die Aeneis auf-
genommen sein. Die guten Leute bedachten nur nicht, dass
C'icero schon todt war, als die Eclogen erschienen^). Die Er-
muss. Was ihre Form betrifft, so ist kein Grund vorhanden, sie nicht
in eine Zeit vor dem 12. Jahrb. zu versetzen. Ich zweifle nicht, dass die
beiden Disticha schon in die Biographie gekommen waren, als der Inhalt
des Codex Salmasianus zusammengesetzt wurde. Die beiden Epigramme
imd die beiden andern, 261 u. 264 R., die so nahe bei einander im Codex
stehen und sich alle in der Biographie vorfinden, sind wol gewiss auch
aus dieser entnommen. Merkwürdig ist, dass wir unter Xo. 264 das in
der Biographie citirte Distichon des Properz ,,Cedite romani" haben.
Das Buch „Cnutonis regis gesta", in welchem sich das „Nocte pluit" als
virgilisch citirt findet, ist sicher um die Mitte des 11. Jahrh. verfasst
worden.
1) Auch Hagen (Jahrbb. f. Phil. 1869 p. 734) hat an eine ähnliche
Erklärung gedacht. Abgesehen davon, dass er ganz überflüssiger Wei.se
an die Volkssage vom Zauberer Virgil erinnert, die hier gar gar nicht
hingehört. Seine Meinung dass von diesen Versen, bis zur Vorstellung
vom Zauberer nur ein Schritt sei, zeigt, dass er diesen Gegenstand nicht
mit seiner gewohnten Sorgfalt untersucht hat.
2) „Si quotieus peccant homines etc." Ov. Tr. II, 33.
3) Cicero starb 711 a. u. c, die Eclogen sind gewiss nicht älter als
713. Vgl. Ribbeck, Proleg. p. 8 f. Aehnliche Anachronismen sind häufig;
so schreibt eine andere Handschrift dem Virgil die beiden bekannten
gewiss alten Elegien zu, die sich auf den bereits todten Mäcenas beziehen.
(Vgl. Ribbeck, Append. Verg. p. 61, 192 ff.) Als Mäcenus starb, war
Virgil schon seit 11 Jahren todt; solche Irrthümer ereigneten sich aber auch
132 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
Zählung, die sich auch bei Sen'ius findet, ging als ein Zusatz zu
der autheutiöcheu Nachricht von dem grossen Erfolge der im
Theater recitirten Bucolica aus den Commentaren in die Biographie
über. Ohne Zweifel liegt ihr irgend ein Ausspruch über Cicero
und Virgil, die Fürsten der römischen Literatur, zu Grunde, wobei
man jenen Halbvers auf Virgil anwandte"). — Die iuterpolirte
Biographie enthält ferner am Schlüsse sieben oder acht Sentenzen,
die Virgil bei verschiedenen Gelegenheiten ausgesprochen haben soll.
Einige derselben beruhen wieder auf Versen des Dichters selbst.
Die Sentenzen, die nicht besonders geistreich, sondern mehr oder
weniger Gemeinplätze sind, schildern den Virgil als einen milden,
sanften, verständigen und practischen Manu. Am Hofe wird er
in gi'ossen Elu-en gehalten, und einige der Aussprüche sind Ant-
worten auf Fragen, die Mäcenas oder Augustus au ihn richteten;
die Bewunderung für den Dichter macht sich in einigen dieser
Anecdoten sogar in Worten Luft, die man Virgil selbst in den
Mund legte ^). Trotz des Colorites, das in diesen Notizen das
Mittelalter verräth, scheinen sie aber doch ihres Inhaltes wegen
älter zu sein. Einer der virgilischeu Aussprüche, der sich auf
Ennius bezieht, wird schon im 0. .lahrli. von Cassiodor citirt''j.
schon vor dem Mittelalter. Marti al, der doch wenigstens ein Jahrhun-
dert jünger als der Dichter ist, sagt IV, 14. „Sic forsan tener ausus est
CatuUus, Magno mittere passerem Maroni," und vergisst, dass Catull
starb, als Virgil erst IG Jahr alt war.
1) „Dicitur autem (ecl. VI) ingenti favore a Vergilio esse recitata;
adeo ut, cum eani postea Cytheris meretrix cantasset in theatro, quam
in fine Lycoridem vocat, stupefactus Cicero cuius esset requireret, et cum
eum tandem aliquando agnovisset, dixisse dicatur et ad suam et ilHus
laudem: Magnae spes altera liomae; quod iste postea ad Ascanium trans-
tulit, sicut. commentatores loquuutur." Servius ad Ecl. VI. 11.
2) Den Dichter mit seinen eignen Worten zu loben, war nichts Sel-
tenes. Kusticus erwähnt in seinem Briefe an den Papst Eucherius
(5. Jahrh.) das folgende Epigramm, das er unter einem Bilde Virgils
las, und iu dem ebenfalls drei Verse der Aeneis (I, 607 tf.) auf den
Dichter augewandt werden:
„Vergilium vatem melius sua carmina laudant;
hl freta dum fluvii cunent, dum niontibus umbrae
Lu.strabuiit conve.xa, peius dum sidera pascet,
Semper honos nomenque tuum laudesque manebunt."
Vgl. Sirmond, ad Sidon. p. 34.
3) ,,.... ea tuba cum volo loquor quae ubique et diutissime au-
dietur." Donat. Verg. Vit. p. C8.
4) „Cui et illud apiari polest quod Vergilius, dum Eunium legeret,
a quodam quid faceret impüsitus, ri'spoiKÜt: aurum in btercorc quere."
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 133
Bei den Alten waren Sammlungen von Aussprüchen gi'osser
Männer sehr beliebt, und wahrscheinlich figurirten dei'artige Aus-
sprüche Virgils auch in seinen Lebensbeschreibungen. Sueton und
Donat Hessen sie beiseite, sie pflanzten sich aber in der kleineren,
weniger beachteten gi-ammati sehen Literatur und in der münd-
lichen üeberlieferung der Schulen fort. Li dem Buche des Vale-
rius Maximus finden sie sich merkwürdigei-weise nicht, aber dieser
geschmacklose Compilator, der doch dem Dichter zeitlich so nahe
stand und uns die werthvollsten Nachrichten über ihn hätte geben
können, benutzte Quellen, in denen des Dichters nicht gedacht
werden konnte. Und so wii'd in seinem ganzen Werke Virgil
nicht einmal genannt.
In den meist aus Donat verfertigten Biographien, Avelche
sich vor Virgilcommentaren in Handschriften des 9., 10. imd 11.
Jahrhunderts finden, begegnen uns keine Anecdoteu, die besondere
Aufmerksamkeit verdienten. Von einer übernatürlichen Thätigkeit
Virgils ist hier noch keine Spur zu entdecken; wol aber zeigt sich
eine übertriebene Vorstellung von seinem besonders philosophischen
Wissen, die in der älteren Biographie noch nicht vorkommt, ob-
gleich sie zur Zeit Donats schon existirte. Merkwürdig sind in
der Beziehung einige sonderbare Etjmologien des Namens Virgils:
die Biogi-aphie eines Codex des 9. Jahrh. erklärt ihn als: „vere
•gliscens", weil Vii'gil der berühmteste Meister hoher Weisheit und
unerschöpflich in seiner Fruchtbarkeit sei, wie die sprossende
Pflanze des Frühlings ^). In dem Codex Gudianus (9. Jahrhundert),
der das Leben des Dichters drei- oder viermal ei'zählt, heisst es:
„Maro wurde er genannt von mare, weil er von Weisheit über-
floss wie das Meer von Wasser""). Nach dem 12. Jahi-hundert
spitzt sich diese Idee in einigen Biographien noch mehr zu, obgleich
man hier schon den Einfluss der in die Literatur eingeführten Volks-
sage wahrnimmt. In einem Virgilcommentare eines Codex Mar-
cianus (15. Jahrhundert) ruft der Verfasser der Biographie be-
wundernd aus: von Virgil könne man sagen „omne tenet punctum".
Cassiod. De inst. div. lit. cap. 1 „Cum is (Marc) aliquando Enniutu iu
manu haberet rogareturque quidnam faceret, respondit se aurum colli-
gere de stercore Ennii." Donat. Vit. Verg. p. 67.
1) „ . . . . alii volunt ut a vere Vergilius , quasi vere gliscens id est
crescens, sit nominatus. Erat enim magnae philosophiae praeclarissimus
praeceptor et multiplex sicuti vernalia incrementa." Hagen, Scholl, bem.
p. 997.
2) Vgl. Heyne, ad Donat. Verg. vit. § 22.
]^;J4 Virgil iu der Literatur bis auf Daute.
ja, mau könne auf ibu die Worte tles Psalmisieu anwenden:
,,Ouine quod voluit fecit"; und deshalb isagte man auch von ihm:
„Hie est nuisarum lumen per saecula darum,
Stella poetarum non veneranda parum"^).
Dem ganzen Commentare geht das Motto voraus:
„Omnia divino monstravit Carmine vates".
Aber unter den Fähigkeiten Virgils wird hier zuerst ausführlich
die Magie genannt, von der in keiner Biographie vor dem 12.
Jahrhimdert die Rede ist^).
Ausser den fabelhaften Nachrichten über Virgil in den Bio-
graphien linden sich solche nun aber auch bei den mittelalterlichen
Schriftstellern. Schon die Erklärer der Bucolica dachten oft ganz
grundlos an Dinge, auf die der Dichter allegorisch anspiele. So
soll nach einem Commentare aus dem 9. Jahrhundert Vii'gil eine
öffentliche Dichterschule gehalten haben, und darauf bezöge sich
der Vers „formosam, resonare doces Amarj'^llide sylvam"^). Merk-
würdig ist der colossale Anachronismus eines Angelsachsen, der
einige bildliche Ausdrücke wörtlich versteht und den Virgil für
einen Zeitgenossen, Schüler vmd Freund Homers ansieht^). In
einer sonderbaren Gedankenverwirrung versichert Paschasius Rathbert,
dass die Sibylle die 10 Eclogen in Person vor dem Senat recitirthabe'').
1) „De eo potest dici illud oratoris: omne tcnet punctum; de quo ait-
Macrobius: Vergilius nullius disciplinae expers fuit; uude dictum ost du
eo: Hie est musarum etc ; potest dici illud psalmistae: omnia quac-
cumque voluit fecit." Cod. Marc. lat. ct. XIII, No. LVI, col. 2. „ideo
Vergilius proprio nomine vates vel poeta antouomastice nuncuiiatur
sicut beatus Paulus apostolus, et Aristoteles philosophus." Ders.
col. 3 a.
2) „Et fuit magnus magicus, multum enim se dedit arti magicae ut
patet ex illa ecloga ,,Pastorum musam Damonis et Alphesiboei." coi.
8; „ex faucibus sanguinem spuebat sed per medicinam sc sanabat,
erat euim magnus medicus et astrologus." col. 13.
;]) Formosam etc ,,tropice ad Maronem hoc dicitur doceutem
iu Roma artem poeticam. Amaryllis Komam allegorice sigaificat." Hagen,
Scholl, bern. p. 1000.
4) Omerus waes — east mid Crecum — on thaem leod-scipe —
leotha craeftgast, — Firgilies — freond and larcow — thaem maeraii
sceope — magistra betst. — Metres of 13oeth. ed. Fox p. 137. Diese
metrische Version des Boethius hat man, wie Wright (Biogr. brit. lit.;
Auglo-sax. period, p. 56 f. 400 ff.) zeigt, mit Unrecht dem König Alfred
zugeschrieben.
5) „Legimus vero, quod Sibylla decem eclogas Vergila in senatu
saltavit." Pasch. Rathb. in Matth. Ev. c. 35; und Bibl. max. vett. patr.
XIV, p. 130.
Viigil in der Literatur bis auf Daute. 135
Alexander Neckam erzählt, dass die in dem C4edichte Culex
geschilderte Begebenheit Virgil selbst begegnet sei und so
Jene Dichtung veranlasst habe. Später widerruft er das und sagt, ^
dass er sich durch die Lesung des Gedichtes von dem Irrthum*
jener Nachricht überzeugt habe^). Wahrscheinlich ist dagegen die
Ueberlieferung, dass Virgil von Augustus kleine Geldsummen er-
halten habe"-), und besonders wussten die Grammatiker von einer
reichen dem Dichter von Augustus zu Theil gewordenen Bejohnnng
für die ergreifenden Verse: „Tu MarceUus eris etc.", die auf
Octavia solchen Eindruck machten. In dem Commentar des Servius
heisst es, dass ihm dafür feierlichst das baare Geld in aes grave,
ausgezahlt sei=^), und die interpolirte Biographie setzt als Summe
10,000 Sesterzen für jeden Vers fest^). Später verbindet sich
diese Nachricht mit der Geschichte von den Versen „Nocte pluit
tota etc." in sonderbarer Weise. Benzo von Alba (11. Jahrh.)
sagt, dass Vii-gil füi- diese Verse Geld m Unmasse und die Frei-
heit'erhielt^). Dasselbe versichert Donizo*^). Alexander von Telese
(12. Jahi-h.) behauptet sogar, dass Virgil von Augustus die Stadt
Neapel und die Provinz Calabrien zu Lehen erhielt^). Hier ver-
1) Vergilius igitur repatrians dulcibus Athenis relictis etc. etc.
tìod quid-^ Rara fides ideo est quia multi multa loquuntur. Hoc adjicio
quia postquam librum Vergili de culice inspexi, aHum esse tenorem
relationis adverti. Ut euim refert Vergilius, pastor qmdam etc. Alex.
Neckam, De naturis rerum (ed. Wright, Lond. 1863) cap. 109,
P. 190 f. , r X i. <; n 1
2) „Ab Augusto usque ad sestertium ceuties honestatus est. 1 rolj.
Vit. Verg. bei Reiff er scheid, Suet. etc. p. 53.
3) Et constat hunc libram tanta pronuntiatione Augusto et Octaviae
esse recitatum, ut fletu nimio imperarent silentium, msi Vergilius
fiiiem esse dixisset, qui pro hoc aere gravi donatus est." Serv. ad. Aen.
VI, 862. Vgl. Mommsen, Geschichte des römischen Muuzweseus,
^'" 4)' Defecisse fertur (Octavia), atque aegre focillata deua sestertia
pro singulo versu Vergüio daii jussit." Donat, Vir. vit. p. 62.
5) „Liber cum rebus, Maro, cunctis esto diebus
Et de thesauro lulii sis dives in auro.
Certe pro duobus carminibus a lulio Caesare est honomtus duplici
honore VergiUus." Ad Henric. IV imp.; Lib. 1, 30. (Bei Pertz, XIII
^'" 6) Vit. Mathild. bei Muratori, Scriptor. rer. it. V. p. 360.
7) Nam si Vergilius, maximus poetarum, apud Octavianum impera-
torum t'antum promeruit ut pro duobus quos ad laudem sui ediderat
versibus Neapolis civitatis, simulque Calabriae dominatus caducam ab eo
136 A'ir^Ml in der Literatur bis auf Daute.
mischt sich also schon die literarische Legende mit der VolkMige.
wie wir weiter unten sehen werden.
Aeussert sich nun bei den in Prosa geschriebenen Biographien
nicht jener Ton der Begeisterung, so klingt derselbe dagegen voll
und laut in den poetischen Schöpfungen, die sich mit dem Dichter
beschäftigen, wieder. Die klassische Dichtkunst des Mittelalters
hatte ja stets Vii-gil als Muster vor Augen. In ihm fand sie da>
reichste rhetoi-isch-poetische Material vor; die Themen für die Uebuu-
gen in der Versification wurden aus ihm geschöpft, und handelten
nicht blos über seine Werke, sondern sogar über die Verdienste
des Dichters und die Begebenheiten seines Lebens. So entstand im
6. Jahrhundert die schwülstige, vom Grammatiker Phokas verfasste
Biographie in Versen, deren Bombast man schon nach der ihr
vorhergehenden Sapphischen Octe abmessen kann^). Aber viele
Einzelheiten aus dem Leben des Dichters waren durch die in den
Schulen gelesenen Biographien und die Erklärung besonders der
Bucolica bekannt geworden. Die hervorragendsten unter ihnen
wurden dann wüeder zu besonderen Aufgaben für die poetischen
Uebungen verwandt. Die Leser der Bucolica kannten alle die (Je-
schichte von den verlorenen Besitzungen, die Virgil durch Augustiis"
Gnade und die Vermittlung des Mäcenas wie seiner Freunde
wieder erlangte. Von dieser für den Dichter wie für seinen Be-
schützer gleich ehrenvollen Begebenheit wurde mehr als ein latei-
nischer Poet begeistert, so Martial^), Sidonius^j u. a. In einem
receperit retributionem, multo melius etc." Alloq. ad rej?. Roger bt-i
Muratori, Script, rer. it. V, p. 644. Auf diese Grossmutb des Augustus
spielt auch Wilhelm von Apulien am Schlüsse seines Gedichtes an:
,, Nostra, Rogere, tibi cognoscis carmina scribi;
mente tibi laeta studuit parere poeta;
semper et auctores hilares meruere datores.
Tu, duce romano, dux dignior Oetaviano,
sis mihi, quaeso, boni spes, ut fuit ille Maroni."
Bei Muratori, Script, rer. it. V, p. 278.
1) Sie beruht, wenige Abweichungen abgerechnet, auf der Biograjibie
Suetoiis bei Donat. Vgl. Reifferscheid, Suet. pract. Caes. rcl.
p. 40a f., der auch diesen Text (p. 68 S.) aufgenommen hat. Derselbe
ündet sich ausserdem in vielen Sammlungen, z. B. bei Riese, Anth. lat.
No. 671.
2) „Jugera perdiderat miserae vicina Cremonae
flebat et abductas Tityrus aeger oves;
Risit Tuscus eques paupertatemque malignam
reppulit et celeri iussit abire fuga." Mart. Vili, 56.
3) Sidon., Carm. III, IV; Auct. panegyr. Pison. v. 217 ff. Vgl. Haupt
im Hermes III, p. 212.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 137
Codex des 10. Jahrhundert findet sich über diesen StolT eine
poetische Epistel, die Virgil an Mäcenas richtete, als seine Besitzungen
in Mantua an die Veteranen gekommen waren ^). Ein Epigramm
der Anthologie bezieht sich auf Virgils Bruder Flaccus, den jener
nach den Erklärern und der älteren Biographie in dem Daphnis
der 5. Ecloge verewigte^). Unter all den direkt aus der Biographie
stammenden Notizen wurde aber nichts so oft wiederholt als der
Befehl des sterbenden Virgil, seine Aeneis zu verbrennen; ein
Thema, das sich natürlich ausserordentlich für Declamationen eignete
und auch mehrfach dafür verwandt worden ist. Schon zur Zeit
des Gellius und Sueton" verfasste Sulpicius Apollinaris drei darauf
bezügliche Disticha, die auch in der Biographie erhalten sind^).
Die Disticha des Codex Salmasianus, welche die an Augustus ge-
richtete Bitte der Römer ausdrücken, den Willen des Dichters
nicht vollstrecken zu lassen, sind sjDäter geschrieben worden^).
Aber die Declamation in dem berühmten „Ergone supremi s etc.",
die vielleicht zu der Biographie des Phokas gehörte, schlägt einen
1) Veröffentlicht von Use n er im Rh. Mus. XXII p. 628 aus einem
St. Gallev Codex des 10. Jahrb., in dem es die Ueberschrift : „Marc Mae-
cenati salutem" führt. Ohne diesen Titel auch in anderen Hdss. Bei
Riese, Anth. lat. 686 (Vgl. Vol. I, p. 2 n. XXIII). Weder Usener noch
Riese haben den wahren Inhalt des Gedichtes erkannt, sondern meinten,
es sei eine Klage über die ti-aurigen Zustände Italiens, das die Barbaren
inne hatten. — Donizo spricht in dem Streite zwischen Mantua und
Canossa weitläufig über diese Begebenheit Virgils mit Angabe einiger
Einzelheiten, welche die Biographie nicht enthält. Vit. Math, bei Mura-
tori, Script, rer. it. V, p. 360.
2) „Tristia fata tui dum fles in Daphnide Flacci
Docte Maro, fratrem dis immortalibus aequas."
Anth. lat. (R.) No. 778.
3) „lusserat haec rapidis etc." Donat, Vit. Verg. p. 63, und in den
verschiedenen Ausgaben der Anthologia lat. Den Namen desselben Sul-
picius tragen die 3 verschiedenen Disticha von gleichem Inhalte, die den
Inhaltsangaben der Bücher der Aeneis vorausgehen. L. Müller (Rh. Mus.
XIX, p. 120) glaubt mit Recht, dass die Originaldisticha die in der Bio-
grapie erhaltenen sind.
4) „Temporibus laetis etc." Anth. lat. No. 242 (R.). Die ältesten
Virgilausgaben und auch einige Hdss. schreiben diese A'^erse dem Cor-
nelius Gallus zu. In einem Codex Vaticanus (No. 1586) aus dem 15.
Jahrhundert heisst es: „Egerat Vergilius cum Varrone (soll heissen Vario)
antequam de Italia recessisset^ ut sì quid sibi accideret, Aeneidam com-
bureret, quod adimplere volens et Cornelius Gallus hoc sentiens, Caesari
pro parte Romanorum et totius orbis supplicavit ne combureretur, in
hunc modum videlicet: Temporibus laetis etc."
138 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
noch viel erliabeuereu Ton an, indem sie den Augustus selbst
redend einführt ^).
Auch die ComiDOsitionen Virgils selbst wie kiu-zere iu der Bio-
graphie erhaltene Dichtungen wurden als Stoff für derartige Uebungeu
benutzt, z. B. das Epigramm, das Virgil als Jüngling gegen den Lehrer
und luiuber Balista verfasst haben soll. Dassellie hatte eine grosse
Berühmtheit erlangt, wurde dann aus der Biographie herausge-
nommen und mit andern Dichtungen Virgils imd anderer zusammen-
gestellt ^J. Es war von mehr als einem Dichter der Schule nach-
geahmt worden, und wir besitzen etwa sechs Variationen über das
Thema, die dann von einem Interpolator in die Biographie des
rhokas eingeschoben sind^). An derartigen Uebuugen betheiligten
sich Schüler wie Lehrer in gleicher Weise. In der Verfallzeit
war es sogar Gebi'auch, dass mehrere Dichter an ein und dem-
selben Thema sich im Wettstreit miteinander versuchten. Die
„zwölf scholastischen Dichter" oder „die zwölf Weisen"^), die einen
Hauptbestandtheil der Anthologie bilden und, wenn man bedenkt,
wie sorgfältig sie in mehreren Handschriften erhalten sind, grossen
Beifall gefunden haben müssen, bieten ein bemerkenswerthes Bei-
spiel dafür. Unter den verschiedenen Stoffen, Beschreibungen,
1) Anth. lat. Xo. 672 (R.). Diese Declamation iu Versen war sehr
Iterühmt, und Neuere haben sie wie im Ernste als dem Augustus ange-
hörig citirt. Von einer alten Nachbildung ist nur der Schiusa erhalten
(.„Nescio quid, fugiente anima etc."), Anth. lat. No. 655 (R.). Als Probe
der Emphase diene der letzte Vers, in welchem Augustus von Vir-
gil sagt:
„aeterna resonante Camoena
Laudctur, placeat, vivat, relegatur, ametur!"
2) Donat, Vit. Verg. p. 58; Anth. lat. No. 261 (R.). Die Grabsehriit
des Bischofs Mamertus, in der sich eine Reminiscenz des ersten Verses
des Epigrammes zeigt, beweist, dass dies schon am Ende des 4. Jahr-
hunderts bekannt war; vgl. L. Müller in den Jahrb. f. Phil. (1866
[). 865). Auch in einem Distichon der Elegia de Nuce (v. 43 f.)
hat Riese eine Reminiscenz ad den 2. Vers des Virgilischen Distichons
entdeckt, zieht aber daraus einen falschen Schluss auf das Alter der
Elegie. Das Epigramm gegen Balista blieb, unabhängig von dem „Über
opigrammaton'' Virgils zu dem es vielleicht gehört, während des ganzen
Mittelalters bekannt.
3) In 2 Nachbildungen ist das Distichon in einen Vers zusammen-
gezogen; Phoc. Vit. Virg. V. 15 ff.
4) Vgl. über diese Dichter S c h e n k 1 , Zur Kritik späterer la-
teinischer Dichter (Sitzungsbericht der Wiener Akademie 1863, Juni,
p. 52 ff".
Virgil iu der Literatur bis auf Dante. 139
mythologisfheu Begebenheiten, Lobpreisungen irgend einer Person
.>iud ber^onders die beliebt, die schon früher von irgend einem be-
rühmten Dichter wie Virgil oder Ovid bearbeitet waren. Die be-
rühmte Grabschrift, die nach der Biogi-aphie Vii-gil sich selbst ver-
fasst haben soll^), wurde von jedem der zwölf Dichter zunächst
iu je einem Distichon imd dann zu zwei Disticha erweitert
bearbeitet'^). Hierhin gehören auch die versificirten Inhaltsgaben
zu verschiedenen Dichtungen Virgils'^). Ihre gi-osse Anzahl und
Mannigfaltigkeit beweisen uns, dass auch diese Uebung in der
Schule wol ein Gegenstand des Wettstreites war. Die Meisten derselben
beziehen sich auf die Aeneis, einige auch wol auf die Bucolica
\md die Georgica ^). Jedes Buch der Aeneis hat deren mehrere, bald
aus einem, bald aus vier, fünf, sechs oder zehn Versen bestehende *").
Eine Composition aus eilf Hexametern von ungewissem Alter gibt
die Gesammtsumme aller Verse Virgils und ihren Inhalt an^j.
Die dem Sulpicius Apollinai-is zugeschriebenen sechs Hexasticha
dürften wol das älteste Beispiel dieser Classe von Arbeiten sein,
bei denen nicht selten Vii-gils eigene Worte angewandt werden.
Sie sind in einem Codex Vaticanus des 5. oder 6. Jahrhunderts
erhalten. Ungefähr derselben Zeit gehören die Decasticha mit
ihren vorhergehenden fünf Disticha an, als deren Verfasser sich
Ovid nennt ^). Wir sehen daraus die enge Beziehung, iu
welcher damals Virgil und Ovid für die Schule mit einander stan-
den. Derartige Uebungen gehen nun durch das ganze Mittelalter.
Sie wurden zwar nicht Virgil allein gewidmet, aber ihm doch
1) Vgl. die Uebuugen über 4 Ovidverse, betreffend die vier Jahres-
zeiten (Metam. II, 27 ff.), No. 566, ff. (R.).
2) „Mantua me genuit etc." Douat, Vit. Verg. p. 63. Schon in einem
Epithaph zu Ehren Lucans hat ein Grammatiker jenes Distichon nach-
geahmt: „Corduba me genuit, rapuit Nero, praelia dixi", citirt von Ald-
helm (7. Jahrb.); Vgl. L. Müller iu den Jahrb. f. Phil. XCV (1867)
1>. 500; Usener, Scholia in Lucani Bellum ci\'ile p. 6.
3) Anth. lat., 507—518, 555, 556 CR.).
i) Vgl. L. Müller, Ueber poetische Argumente zu Virgils Werken
im Rh. Mus. XIX, p. 114 ff.
5) Anth. lat., 2. (R.) aus Hdss. des 2. Jahrb. Vgl. Ribbeck, Tro-
legg. p. 379.
6) Anth. lat. 1, 634, 654, 591, 653, 874. (R.).
7) Anth. lat. 717 (R.).
8) Anth. lat. 1. (R.); Ribbeck, Prolegg. p. 369 ff.; L. Müller,
a. a. 0. p. 115 S., der mit Recht vennuthet, dass sie einem Africaner
aus dem 5. oder 6. Jahrhundert angehören können.
140 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
mehr als allen aiuleni iateiuischen Dichtern. In der Anthologie
stehen einige Epigramme zum Lobe des Dichters, die meist darauf
hinauslaufen, dass er in der Aeneis mit Homer, in den Bucolica
mit Theokrit und in den Georgica mit Hesiod verglichen wird^).
Eins der Epigi-amme theilt uns den von Quintilian erwähnten
Ausspruch des Domitius Afer mit^). Zwei Disticha wollen in sehr
erhabenem und geschraubtem Stil dem, „der in kleiner Barke das
weite "Meer Mai'o's durchschiflfen will", eine Anweisung geben"*).
Schliesslich fand sich Stoff für diese Uebungen in Stellen aus den
grösseren Werken Virgils, die man ja auch füi- die Declamationen
in Prosa benutzt hatte. Die Anthologie bietet dafür manche Bei-
li Anth. lat. 713 (Virgil und Homer-); No. 777 (Virgil, Theokrit,
Ilesiod, Homer) „Vate Syracosio etc." ging vielleicht der Sammlung der
kleineren Jugendgedichte Virgils voraus. (Vgl. L. Müller in den Jahrb.
f. Phil. 1867, p. 803 ft"). Mau hat wol noch nicht bemerkt, dass das Epi-
gramm No. 788: „Maeonium quisquis romanus uescit Homerum, Me legat
et lectum credat utrumque sibi" nach dem ersten Distichon der Ars
amatoria verfertigt ist: „Si quis in hoc artera populo non novit amandi.
Me legat et lecto carmine doctus aniet." Aus allen Comraentaren und
den Biographien geht hervor, dass die Grammatiker ihrer Auslegung ge-
wöhnlich die Bemerkung von der Nachahmung Virgils dieser 3 Autoren
vorausschickten. — Wie Virgil mit Homer, so wird Lucan in dem Epigr.
Xo. 233 (vgl. Schmitz und L. Müller in den Jahrb. f. Phil. p. ^99^
mit Virgil verglichen. Dem Ende des Mittelalters gehört das von Kiese
eben deshalb ausgeschlossene Ejiigramm über Virgil an No. 855 (Meyer):
,, Alter Homerus ero vel eodem maiorHomero, Tot clades numero dicerc
si poterò." Diese nicht auf Virgil zu beziehenden zwei Verse gehören zu
einer mittelalterlichen Dichtung über die Zerstörung Troias. Vgl. Du
Méril, Poésies poiml. lat. ant. au XII sièc. p. 313.
2) „De numero vatum si quis seponat Homerum,
Proximus a primo tunc Maro primus erit.
At si post priinum Maro seponatur Homerum,
Longe erit a primo, quisque secundus erit.'
Das Epigramm wird dem Alcimus Avitus zugeschrieben; Anth.
1 a t. No. 740 (R.). Vergi. Quintilian. X, 1 , 86 und p. 18 unseres
Werkes.
3) „Qui modica pelagus transcurris Untre Maronis
Bis senos Scyllae vulgo cave scopulos.
Sed si more cupis nautae contingere portum
Carbasus ut Zephyris desine detur ovans;
Tumque salis lustra reliquos ope remigis amnes;
Sic demum cymbam poftus habebit opis."
Veröffentlicht von L. Müller aus einer Hds. des 10 — 11. Jahrh. im Rh.
Mus. XXHI, p. 657; Riese, Anth. lat. No. 788.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 141
spiele^). Besonders erkennt man die retliorische Schule in den
sogenannten „Virgilthemen" wieder, die eigentlich dem Studium
der Declamation augehörten. Es sind Variationen über Verse des
Dichters, in denen der Zeitgeschmack sich in den lärmendsten
Uebertreibungen gefällt; hierhin gehören z. B. die Anrede der
Dido an den Aeneas (IV, 365 ff.), des Aeneas an Andromache
(III, 311 ff.), des Sacas an Turnus (XII, 653 ff.)^). Wir besitzen
sogar einen Brief der Dido an Aeneas^), in dem das Virgilianische
Thema in der Art Ovid's behandelt ist, eine "Klage über die Zer-
störung Troja's, gewiss aus dem späten Mittelalter stammend"^), wie
man aus dem Rhythmus sieht, u. a.
Diese poetisch rhetorischen Uebungen zur Ehre Virgils kann
man nicht eigentlich Producte des Mittelalters nennen; sie
gehören vielmehr dem Anfang desselben und den letzten Zeiten
der Kai serherr Schaft an; besonders war das 5. und 6. Jahrhundert
in diesen Versificationen thätig. In der Schule entstanden und
durch Schulmänner verbreitet, wurden sie von diesen ohne Bedenken
]nit den kleineren Poesien der antiken grossen Meister zusammen-
geworfen; und daraus entsprang dann jene sonderbare Verwirrung
der Namen, welche die kritische Anordnung der lateinischen Antho-
logie so erschwert. In der Wichtigkeit, die man diesen niederen
und obscuren Producten beilegte, zeigt sich so recht deutlich die
Ermattung der klassischen Poesie, die noch eine Weile in der
künstlichen Athmosphäre der Rhetorik fortlebt und schliess-
lich bis zu dem Grade herunterkömmt und abmagert, dass das
ganze Skelett, auf das sie sich noch stützt, sichtbar wird. Diese
letzte Phase der lateinischen Poesie haben wir also vom Stand-
punkte des Mittelalters aus betrachten wollen, das ja zugleich mit
dieser auch die grossen Vorbilder aus dem Alterthum übernimmt.
Durch sie allein gelingt es jenem ganz vom Mönchsthum eingeeng-
ten Zeitalter, den Spuren der klassischen Poesie einigermassen nach-
zugehen.
1) Vgl. No. 46 (de Turno et Fallante), 77 (de Niso et Euryalo), 99 (de
Lauconte), 924 (in Aeneam) in der Anth. lat. (R.).
2) Anth. lat. (R.) 255, 223 (dem Coronatus zugeschrieben), 244.
Dasselbe Thema wie in 223 hatEnnodius (Dist. 28, „Verba Didouis etc.")
in einer Declamation in Prosa behandelt. Um eine Idee von diesen
versificirten Declamationen zu bekommen, vgl. No. 128 u. 23.
3) Anth. lat. (R.) No. 83.
4) Du Méril, Poesie« populaires latines ante'rioures au XII siècle,
p. 309 ff.
142 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
EilftesCapitel.
Es gibt wol kaum zwei Dinge die so schroff' einander gegen-
über stehen, als das Heidenthum dem Christenthum. In der Art
wie beide Religionen die äussere und innere Welt betrachten, ist
gar keine grössere und tiefere Diff"erenz denkbar. Der Geist des
Christenthums hat vor Allem die Fähigkeit zu absorbiren, er i-uft
die ganze Seele des Menschen zu sich und concentrirt sie. auf eine
Idee. Alle Gefühle und Leidenschaften, alle Neigungen, die auf
künstlei'ische Productionen ausgehen, formt er um, macht sie sich
gleichartig und lenkt sie auf ein einziges Ziel hin. Alle poetischen
Eingebungen laufen a\if den einen Punkt hinaus: zu lieben, zu
trauern, zu frohlocken und zu leben in Gott. Gott ist also die Basis,
in der sich alle Neigungen und Leidenschaften, Begeisterung, Hoff"-
nung und Angst der Menschenseele auflösen und beruhigen. Da-
mit ändert sich vollkommen der Horizont des Lebens, und alle
Zwecke des Daseins nehmen eine andere Gestalt an. Das Auge
schaut ängstlich auf das Problem vom Leben jenseit des Grabes,
und die ganze Thätigkeit des Menschen ist allein darauf gerichtet.
Das irdische Leben ist eine Last, eine Pilgerfahrt, eine hai-te und
schwere Probe, und jetzt zum ersten Male hört man von einem
weltlichen Leben, von einer schädlichen und gefährlichen Welt,
von der der fromme Mann sich fern halten soll. Das Gewissen
muss eine heftige Revolution durchmachen, um sich selbst, die
Gesellschaft, und die Natur von diesem Standpunkte aus betrachten
zu können. Die poetischen Ideale, die in einer Zeit spontaner
Aeusserung geschaff'en waren, als der noch nicht im Zwiespalte
befindliche Geist die ganze Welt auf sich selbst bezog, auf sie
vertraute, sie liebend vergötterte und doch zugleich in ihr, wie in
t'inem treuen Spiegel sein eigenes Bild anschaute, mussten natür-
lich alle Gemüther abstossen, denen das menschliche Wesen in
seinen Beziehungen zu seines Gleichen zur Natur und Gottheit
ganz neu und anders erschien. Aus dieser Anschauung musste
schliesslich die Askese der Eremiten und j\Iönche hervoi'gehen;
und wie konnte da der Geist noch fähig bleiben, die Schönheit
der Antike und der künstlerischen Ideale Virgils und Homers in
sich aufzunehmen?
Wenn sich das Christenthum blos auf eine religiöse Reform
der Juden beschränkt hätte, so wäre es durch seine Natur zu einer
Poesie von ganz besonderem Charakter geführt woi-den, die eine
zweite von der ersten freilich sehr verschiedene Phase der alten
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 143
biblischen Poesie gebildet hätte; denn in der christlichen Idee liegt
ein Humanitätsgeftthl, eine feine und liebliche religiöse Empfindung,
die Christus und seinen Anhängern einen ganz anderen Charakter
gibt, als ihn David, Jesaias und die begeisterten Männer des alten
Gesetzes gehabt hatten. Gemeinsam wäre ihr und der alten Juden-
poesie gewesen, dass sie nicht aus einer Schule entsprungen war
und keinen künstlerischen Zweck verfolgte. Nichts musste natür-
lich der ältesten christlichen Anschauung mehr widersprechen, als
jener künstlerische Schematismus in seiner Gesuchtheit und Ge-
ziertheit, der von dem ethischen und religiösen Zwecke so weit
entfernt war. Christus verhielt sich jeder Cultur gegenüber in-
different, theils weil er in dürftigen Verhältnissen geboren ward,
in Palästina lebte und nicht wie so viele andere Juden, die ins
Ausland gingen, von der griechisch-romanischen Cultur berührt
wurde, theils auch infolge der rein geistigen und mystischen Natur
seiner* Lehre. Zum christlichen Ideale gehört zuerst die Einfach-
heit, welche sich der antiken Culturwelt scharf gegenüberstellt.
Die höchste christliche Poesie entsprang also nicht auf künst-
lerischem Gebiete, von dem sich die wärmsten christlichen An-
hänger fern hielten. Sie oifenbarte sich weniger in poetischen
Formen, als in Gedanken und Empfindungen, die auf die einfachste
Art ausgedrückt wurden. Ohne einen Vers, ohne auch nur den
Gedanken zu dichten, blos auf den Antrieb hin, den die neue so
warm gehegte Idee dem Geiste gab, erzeugte sie das Ideal Christi,
ohne Zweifel ihre erhabenste poetische Schöpfung, deren begeist-
ernde Wirkung nicht wenig zu jener wunderbaren Erscheinung
von den Millionen Neophyten und Märtyrern beitrug. Von der-
selben einfachen und formlosen Art sind auch die poetischen Er-
giessungen des Franciscus von Assisi und die „Nachfolge Christi",
ein später aber treuer Nachklang des wahrsten und ursprüng-
lichsten Christenthumes.
Indem sich nun aber die neue Lelu-e in der griechisch-römischen
Welt ausbreitete, fand sie den Boden durch die positiven wie ne-
gativen Elemente der Verfallzeit wol vorbereitet und war nichf
die alleinige Ursache, dass diese Zeit einen von der glänzenden
aber unwiderruflich verloren gegangenen Vergangenheit so ver-
schiedenen Charakter annahm. In einem ganz deutlich sichtbaren,
langsamen Processe durchdrang sie die Poren der griechisch-römi-
schen Gesellschaft und gestaltete diese um, freilich nicht, ohne
sich selbst bedeutend umzugestalten. Das Proselytenthum , das in
ihr el)en so stark war als in Rom der Geist der Eroberung,
1 44 Virgil in der Literatur bis anf Dante.
zwang sie, der Xothwendigkeit nachzugeben und sich zu Verinit-
telungen zu verstehen. Das erste derartige Zugeständniss war
der Entschluss sich zu bilden, zu unterrichten und die griechisch-
römische Cultur anzunehmen. Diese war zu lebenskräftig, als
dass das Christenthum nicht danach hätte streben müssen, sie sich
zu assimiüren, um schliesslich durch sie selbst neuen Einfluss auf
ihre Gestaltung zu gewinnen. Merkwürdig in der That, wenn man
an das Ideal von Christus und das der Evangelisten denkt! Die
Christen konnten jetzt Maler und Bildhauer werden. Dichter und
Versmacher und nach einem Ausdrucke ihres religiösen Gefühles
suchen, da wo Christus niemals daran gedacht oder gestattet
hätte, es zu suchen. Und hier zeigte sich der erste von den vielen
Widersprüchen, die der fromme Glaube auf alle Weise zu bemän-
teln strebte, und von denen das Christenthum sich noch heute nicht
befreit hat.
Indem also das Christenthum die Formen der antiken Kunst
annahm, ist es dabei doch nie weiter als bis zu einer Art von
Verkleidung gekommen, deren Sonderbarkeit kaum ein geschickter
Dichter zu mildern verstand. Nicht selten wird der Wider-
spruch zwischen Form und Idee grotesk und lächerlich, wenn man
eben nicht mit den Augen des Glaubens schaut, der ja das, was
ihn selbst betrifft, natürlich entschuldigen kann. Die christliche
Idee fand wol den Boden zu ihrem Vortheile vorbereitet, aber
sie fand keine künstlerische Formen, die ihr passten und ent-
sprachen. Den Triumphen des Christenthums kam zwar der
Mysticismus, zu dem sich schliesslich die alte Welt hinneigte, vor-
trefflich zu statten ; dieser aber war ein Zeichen des alternden Verfalls,
nicht einer energisch jungen Zeit und hatte die Kunst, anstatt sie
zu verjüngen, und zu erneuern, nur immer tiefer in Verfall ge-
zogen.
Für das Herz und den Verstand war die alte Kunst
erstorben. Nur noch in den Schulen und in der allgemeinen
Bildung fristete sie ein Scheinleben. Die leeren Formen benutzte
nun das Christenthum und füllte sie anstatt mit profanem mit
heiligem und christlichem Stoffe aus. Waren dieselben doch schon
in so mechanischer Weise verwandt worden, dass Jeder, der nach
ihnen griff, meinte, sie allen möglichen Empfindungen anpassen zu
können. Nun war das aber schon die zweite Umwandlung, die
sie durchzumachen hatten. Ursprünglich in Griechenland ent-
standen, war es nur durch die Anstrengungung der glänzendsten
Repräsentanten des römischen Geistes möglich gewesen, sie auf
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 145
die römische Denkweise anzuwenden. Weit gewaltsamer war die
zweite Wandlung, weil jetzt der poetische und künstlerische In-
halt dem sie in Griechenland wie in Eom gedient hatten, ver-
nichtet werden sollte. Ein solches Verfahren konnte nur in einem
Zeitalter stattfinden, in welchem die Khetorik, die ja die ganze
Literatur beherrschte, das Gefühl für die enge Beziehung zwi-
schen den Kimstformen und dem Geiste der Menschen verdrängt
hatte.
Prudentius, Sedulius, Arator, Juvencus und so viele andere
christliche Dichter^) ahmen Virgil nach, indem sie das Leben
Christi, das der Heiligen oder biblische Begebenheiten in Hexa-
metern darstellen. Andere folgen Horaz oder Ovid, indem sie in
Distichen oder trochäischen und jambischen Gedichten christliche
Ideen behandeln. Das waren aber gewaltsam erzwungene Arbeiten,
in denen die moralischen Eaisonnements wol ganz ernst gemeint
wai'en, an denen aber die wahre Poesie des Christenthumes doch
keinen oder nur geringen Antheil hatte. Das Evangelium in Versen
zu umsehreiben, machte zwar aus der Schulübung ein christliches
Werk, aber raubte auch zugleich der schlichten evangelischeu Er-
zählung ihre ganze Poesie , indem es diese mit einem unnatürlichen
Schmucke belud.
Die Leute jedoch, die in der römischen Cultur erzogen, immer
die antiken Musterdichtungen vor Augen hatten, musste es nach
Annahme des Christenthumes mit Genugthung erfüllen, jene Lücke
wenn auch in vxngenügender Weise ausgefüllt zu sehen. Die
Hexameter des Priesters Juvencus, welche einen Sturm schilderten,
erinnerten sie au die schöne Beschreibung Virgils, und mehr als ein
Gedicht des Prudentius rief ihnen den Horaz ins Gedächtniss.
Zu einer Zeit, in der die Poesie nur als Rhetorik und Verskunst
geschätzt wurde, konnte es nicht darauf ankommen, dass jene
Dichtungen blos die antike Form hatten, die eigentlich christliche Poesie
aber nur schwach zur Geltung kam. Die Dichtkunst war christlich
1) Zapp er t (a. a. 0. Anm. 53, p. 20 ff.) hat eine Menge von Vir-
gilreminiscenzen, die sich in lateinischen Dichtungen des Mittelalters vom
Ó. bis 12. Jahrhundert finden, zusammengestellt. Die Sammlung gibt
aber in ihrer geringen Ausdehnung keine rechte Vorstellung von der
Sache, da sich dasselbe Verfahren auch auf Ovid und andere Dichter
anwenden liesse. Die Virgilelemente in der lateinischen Poesie des Mittel-
alters complet zusammen zu stellen, wäre ein colossale« Unternehmen,
was aber die zu Grunde liegenden Thatsachen in keinem andern Lichte
erscheinen lassen würde.
Comparetti, Virgil im Mittelalter. JQ
146 Virgil in der Literatur bi? auf Dante.
nur durch den Inlialt, heidnisch in der Form. Wenn ein christ-
licher Dichter den heiligen Stoff einmal bei Seite Hess, so standen
die klassischen Typen so mustergiltig vor ihm, dass man ihn,
wie wh- bei Ausonius sehen, kaum von einem Heiden unterschei-
den kann. Dies bestätigte sich vor allem im Beginn des Mittel-
alters und -der Renaissance, als sich die lateinische Dichtung der
Christen mehr als je gestattete, auf ein weltliches Gebiet abzu-
schweifen ; ebendeshalb musste auch zur Zeit des Mönchsthunis
die lateinische Poesie so allgemein fast nur auf heilige Stoffe an-
gewandt werden. Aber auch als es noch Heiden gab, Hessen sich
die damals noch eifrigen Christen, wie sie eben aus dem Kampfe
hervorgegangen waren, so gut wie gar nicht auf weltliche Dich-
tungen ein. Schon damals wurde Cultur und Poesie zumeist vom
Clerus repräsentirt, nur selten traten Laien als Dichter auf. Man
konnte also schon genau voraussehen, in welcher Weise sich die
Gesellschaft und die Cultur gestalten werde, sobald das Heiden-
thum ganz zu existiren aufgehört haben würde. Der Charakter
des Mittelalters zeigt sich in dem Uebergewicht der religiösen
Idee, die jede Thätigkeit und jeden Stand der Gesellschaft bis
ins innerste Mark durchdringt. Das sich entwickelnde Christen-
thum war eben nicht in der römischen Welt aufgegangen, sondern
hatte diese in sich aufgehen lassen. Die menschliche Thätigkeit
wird nun in scharfer Absonderung auf die verschiedenen Stände
vertheilt und mit dem Triumph über das Heidenthum entwickelt
sieh auch die erste radicale Spaltung zwischen Laien und Clerikem.
Den ersteren bleibt die Pflege des materiellen, den letzteren die
des geistigen Lebens. Dem Laien erscheint es ganz natürlich,
wenn die Bildung nicht seine Sache ist. Er schämt sich deshalb
eben so wenig, als es eiue Schande für ihn ist, nicht Cleriker
zu sein, und schliesslich bedeutet Cleriker einen gelehrten Mann,.
Laie den Nichtgelehrten. Jeuer ist zwar ausgezeichnet, dieser
aber nicht verachtet. Eben darum coucentriren sich die Cultur
und das geistige Leben, die das Eigenthum einer religiösen Kaste
geworden sind, in der Religion. Der Einfluss dieses Standes, der
vom Fürsten bis zum Bauer das Herz und den Verstand Aller in
der Hand hatte, zeigte sich in allen Schichten der Gesellschaft.
Alles das bestimmt den Charakter der mittelalterlichen latei-
nischen Poesie von klassischer Form. Ein künstliches Produkt
der Schule wird sie vom Clerus auf das religiöse Gebiet über-
tragen. Von anderen Empfindungen schliesst sie sich ab, aber
selbst die profanen Stoffe z. B. die versificirte Dar.stellung einer
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 147
historischen Begebenheit, zeigen doch in ihren moralisirenden Ten-
denzen den kirchlichen und religiösen Standpunkt. Die Barbarei
und Unwissenheit in der Anwendung der poetischen Mittel, die,
wie wir gesehen haben, in den Grammatik- und ßhetorenschulen
des Mittelalters herrscht, ist ganz dieselbe in den Gedichten
dieser Art. Dieselben dienen ja nicht dem Ausdruck einer
Leidenschaft oder einer Empfindung, noch sind sie die besonnene
und feine Nachahmung eines bestimmten Kunsttypus, sondern sie
gelten lediglich als ein Zeitvertreib und eine Uebung in der
Versraacherei. Einer solchen Zerstreuung und Erholung konnte
man wol „ad majorem dei gloriam" einige Stunden widmen.
Ein wahrer Dichter, der nichts ist, als ein solcher, wäre diesen
Leuten schon eben dadurch widerlich gewesen. Lactanz, Aldhelm,
Alcuin, Beda, Rhabanus Maurus und Andere machen ihre latei-
nischen Verse zur Unterhaltung, so wie man heute eine Partie
Billard spielt, und finden einen Spass daran. Hunderte von Räth-
selu, Logogrjphen, Anagrammen, Akrosticha und ähnliche Kindereien
zu produciren. Auch in diesen lateinischen Gedichten mittelalter-
licher Mönche zeigt sich so recht der Charakter der Dichtung der
Verfallzeit, abgesehen davon, dass die antiken Formen jetzt viel
roher behandelt werden und ihre Existenz noch weit mehr in
Frage gestellt ist, als früher, wo sie dem Schulzwecke dienten^).
Man begreift übrigens, wie sich in der kirchlichen Literatur die
sprachliche Form in der der Kii'che stets eigenen stereotypen Weise,
und der Einfluss des Geschmackes, welcher eben, als die Kirche
sich in der römischen Welt organisirte, der heiTSchende war,
fixiren musate. Rhetorik und Declamation, ein ewiges unverstän-
diges Wiederholen von Phrasen und Gemeinplätzen , der falsche
\uid übertriebene Schmuck conventioneller Epitheta, dazwischen ein
Aufputzen mit Stellen aus beliebten Schriftstellern erhielten sich
in der lateinischen Literatiir der Kirche ebenso unverändert wie
die Liturgie und das Ritual. Wir finden dieselbe Eigenthümlich-
1) Leyser, De ficta medii aevi barbarie, imprimis circa poesim la-
tinam, Heimst. 1719, hat sich vergebens bemüht, die lateinische Poesie
des Mittelalters zu vertheidigen. Denselben Gedanken hat Wright: On
the auglo-Jatin poets of the twelfth Century (in seinen Essays on subjects
connected with the literature, populär superstitious and history of Eng-
land in the middle ages. Vol. I, p. 176—217) mit besserer Begründung
ausgeführt. Aber die Vorzüge beschränken sich doch auf einige
Ausnahmen. Vgl. auch Baehr, Geschichte d. röm. Literatur im Karolin-
gischen Zeitalter, cap. II.
10*
148 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
keit bei Augiistiu, Cassiodor, Gregor und Thomas von Aquino,
wie in den neuesten Allocutionen und Rundschreiben des Papstes
und den modernen religiösen Schriftstellern, so weit sie Katholiken
sind. Eben weil diese in ihrer Cultur, ihrer Empfindung und
Dialektik mittelalterlich sind, mühen sie sich vergebens ab, die
moderne Wissenschaft zu bekämpfen, die sich nicht um sie be-
kümmern kann.
Die Lage, in welcher sich die christliche Poesie befand, wurde
ganz unerträglich. Im Alterthum waren Religion und Poesie
Schwestern, oft sogar identisch miteinander. Die Mythologie, die
selbst eine poetische Schöpfung war, bildete ganz abgesehen von
den poetischen Idealen, in denen sie zur Geltung kam, einen so we-
sentlichen Bestandtheil des poetischen Hausrathes , dass man un-
möglich in der antiken Form Christus und die Heiligen besingen
konnte, ohne dass nicht zugleich Apoll mit den neun Musen und
der ganze heidnische Olymp in das Gedicht mit eindrang. Es ist
allerdings richtig, dass jene Gestalten vor der neuen Religion ihren
religiösen Charakter ganz aufgaben und nur ihren poetischen Werth
beibehalten konnten ; wie denn in der That ihr Fortleben in der euro-
päischen Poesie bis auf die Neuzeit überraschend genug ist^). Das
konnte jedoch ohne grossen Schaden nur geschehen, wenn eine
Kunst neue Formen annahm, in denen das Erbe der älteren zwar
modificirt aber doch noch richtig zur Erscheinung kam. In einer
Kunst aber, die nur nachahmte und deren Form antik war, musste
jene selbst oder, wie wir es in der Renaissance sehen, die
neue Idee, auf die mau sie anwenden wollte, dabei verlieren.
Diese Unverträglichkeiten wurden von vielen Mönchen um so eher
bemerkt, je mehr das Christenthum ihren Geist beherrschte, und
sie dachten wol auch daran, das Missverhältniss zu vermeiden^).
Aber wollten sie ihr Gefühl retten, so thaten sie wieder durch
die komischen Mittel, zu denen sie griffen, der Kirnst Schaden,
wie wenn sie an Stelle der alten poetischen Anrufungen:
„domine labia mea aperies" oder gar noch schlimmer, „der welcher
1) Wie diese heterogenen Elemente miteinander verschmolzen, hat
Piper gezeigt in seinem gelehrten Werke „Mythologie der christlichen
Kunst, von der ältesten Zeit bis ins sechszehnte Jahrhundert", Weimar,
1847—51.
2) „Sed Stylus ethuicus atque poeticus abjiciendus;
Dant sibi turpiter oscnla lupiter et schola Christi."
Bernard. Morlan. de conteniiit. p. 80.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 149
die Eselin Balaam's sprechen Hess u. s. w." sagten^). Und doch
hat jene so lebhafte und so intensive Empfindung sich schliesslich
emancipii-t. Sie dui'chbrach die Fesseln, die sie in den klassischen
Formen gefangen hielt, und fand einen Ausweg in der, wie die
Zeit es verlangte, einfachen, volksthümlichen Latinität, welche das
Organ der Liturgie und des christlichen Glaubens blieb. Indem
das Ohr dem Volksgesange lauschte, der wie natürlich aus der
lebendigen Volkssprache auch neue Khythmen entwickelte, hörte es
nur noch den Accent und nicht mehr die Quantität der Sjlben.
In den so entstandenen lateinischen rhythmischen Poesien bewegte
sich das Mittelalter viel freier und offenbarte seine Stimmung viel
reiner und natürlicher. Prudentius und die anderen gelehrten
christlichen Dichter haben niemals in ihren Versen so viel wahre
und wirklich gefühlte Poesie geoffenbart, als sich in dem „Dies
irae" und ähnlichen Dichtungen zeigt, die sich durch Sprache und
Vers durchaus von den Klassikern unterscheiden. Hier hören wir,
wie die Seele zagt und zittert, wie sie fürchtet und hofft und
voll Begeisterung sich emporschwingt. Man braucht aus dem In-
halt des Gedichtes gar kein Glaubensbekenntniss zu machen und kann
doch diese schöne und zarte Poesie empfinden, eben weil sie wirk-
lich aus der Seele des Menschen entspringt und sich auf eine all-
gemein menschliche Empfindung stützt, während man die rhetori-
sii-enden Künstler von Oden und Hexametern gar oft fragen möchte,
ob sie es auch ernst mit ihren Worten meinen.
Diese neue Poesie, deren hervorragendste Leistung der latei-
nischen Kirchensprache und der religiösen Empfindung angehören,
entspringt aus derselben frischen Quelle, der auch die neue Laien-
dichtung der Volksliteratur entquillt. Ihre Erscheinung entsprach
so dem Zeitgeiste, dass sie selbst die Poesie der Schule, der sie
lange zur Seite ging, beeinflusste. Aus dem Bildimgsstofle , den
die Schule bewahrte, zog die Volkspoesie Gedanken, Namen und
Thatsachen. Dafür lieh sie wieder der Schule oft ihre Rhythmen
oder zerstörte die alten metriscTien Typen, indem sie die Quan-
tität der Sylben vergessen Hess und Accent imd Reim zur Geltung
brachte.
1) „Vix muttii-e queo, mutum, precor, os aperito,
Ipso docens asinam quae doceat Balaam."
Heriger. (10. Jahrb.) Gest. Leodiens. bei Pertz, Mon. Germ. IX, 177.
Vgl. die Stellen aus Paulinus Nolanus, Sigbert u. a. bei Zappert
a. a. 0. Anm. 61.
150 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
Diese kurzen Bemerkungen über die lateinis^chen Dichtungen
des Mittelalters sollen zeigen, wie jene damals die Cultur beherr-
schende Kaste eben so wenig bei ihrer gelehrten Thätigkcit, wie in
der Nachahmung der alten Muster eine Vorstellung vom Alter-
thume hatte. Daraus erklärt sich auch, wie wenig jene Leute für
das aesthetische Verständniss Virgils beftihigt waren ; ihrem mangel-
haften Studium entsprach ihre gelehrte Production ganz genau ;
Wir können uns jetzt zu der neuen Literatur der Volkspoesie
wenden und müssen nunmehr die Stellung unseres Dichters in
diesem neuen Elemente betrachten. Bevor wir uns jedoch auf dieses
nexie, von dem vorher besprochenen so durchaus verschiedene Gebiet
begeben, ist es nöthig, zuvor die hauptsächlichsten charakteristischen
Züge der Vorstellung, die das Mittelalter vom Alterthum hatte,
noch einmal zusammenzufassen.
Zwölftes Capitel.
Die Thatsache, dass im Mittelalter das Studium des Griechi-
schen ganz aus dem westlichen Europa verschwindet, ist für die
damalige Vorstellung vom Alterthum und für das Verhältniss
Virgils zu derselben von bedeutenden Folgen gcAvesen. Jene
Spaltung, die zunächst zwischen Rom und Byzanz bestehend,
dann aber mit dem Verfalle des Reiches und dem Vordringen
des Christenthumes besonders seit Justinian sich über den ganzen
Occident und Orient erstreckt, und in der Religion mit dem
Schisma des Photius und der Trennung beider Kirchen endigt,
durchdringt in gleicher Schärfe auch die gesammte Bildung und
das Studium. Obgleich das Christenthum zu den Völkern latei-
nischer Cultur zuerst in griechischer Sprache gekommen war und
der Text der Evangelien wie der Kirchenväter Basilius, Chrysos-
tomus, Dionysius Areopagita u. A. griechisch ist, war doch die
Kirche, seitdem sich das Centrum des Christenthums in Rom fest-
gesetzt hatte, und von doi-t aus eine gleichsam von Rom unzertrenn-
liche Weltherrschaft ausgeübt wurde, wesentlich römisch und la-
teinisch geblieben. Das allgemeine Organ, dessen sie sich dabei
bediente, war die lateinische Sprache, und so sorgte sie allein für
die Fortdauer der römischen Literatur, wenngleich mit jener den
profanen Zwecken gegenüber gewöhnlichen Nachlässigkeit. Aber es
trat sowol in den Ländern lateinischer wie griechischer Cultur
der Verfall ein. Das Band, was sie zusammengehalten hatte,
zerriss, und die Anziehungskraft, welche die römische Welt auf
Virgil iu der Literatur bis auf Dante. 151
so viele griechisrche Schriftsteller ausgeübt hatte, machte jetzt dem
Misstraueu und gegenseitiger Antipathie Platz. Aus der Cultur
des westlichen Europas verschwand jenes griechische Element, das
so tief in die römische Bildung eingedrungen war, einen solchen
Hauptbestandtheil der literarischen Productionen der Römer bildete
und so wesentlich für deren volles Verständniss war. Hier und
dort findet sieh wol ein Dilettant, der ein wenig Griechisch ver-
steht oder ein Lehrer, der seinen Schülern eine schwache Vor-
stellung davon gibt'), aber die sichere Kenntniss des Griechischen
ist eine grosse Seltenheit, und selbst die, welche den Ruf genossen,
es zu verstehen, vermochten kaum eine Zeile ohne die gröbsten
Fehler zu übersetzen. Selbst die ausgezeichnetsten unter dem lateini-
schen Clerus bekunden die grosseste Unwissenheit. Die gewöhn-
lichsten griechischen Worte, die für Kirche und Schule unentbehr-
lich waren, erklärte man in Glossaren i;nd encyklopädischen Re-
pertorien. Irrthümlich haben einige neuere Gelehrte in Folge
dieses oder jenes griechischen Wortes, das bei einem mittelalter-
lichen Schriftsteller vorkömmt, bei demselben eine Kenntniss des
Griechischen vorausgesetzt. Abgesehen von lateinischen Ueber-
setzuugen einiger Bücher des Aristoteles, wusste man von der alten
griechischen Literatur und von Griechenland selbst nur das, was man
mittelbar aus den lateinischen Schriftstellern dafür auffinden konnte.
Homer war nur aus dem lateinischen Auszuge in Versen bekannt,
für dessen Verfasser man nicht selten ihn selber oder den the-
banischen Pin dar hielt ^j. Wenn die mittelaltei-licheu Schriftsteller,
1) Einige Ausnahmen von dem was ich hier bemerkte finden sich
bei Gramer, De graeeis medii aevi studiis. Sundiae 1849 — 53. Le Glay,
Sur l'étude du gi-ec dans les Pays-Bas avant le quinzième siècle.
Cambrai, 1828; Egg er, L"Hellenisme en France. Paris, 1869; Young,
On the history of Greek Literature in England from the earliest times
to the end of the reign of James the first, Cambridge, 1862; Warton,
On the introduction of learning iu England, im 1. Bande seiner History
of english poetry. Lond. 1840 p. LXXXII ff.; Gradenigo, Intorno
agli italiani che dal secolo XI intìn verso la fine del XIY seppero di
Greco, in den Miscellanea di varie operette. Bd. Vili, Venezia 1744.
Eine Geschichte der griechischen Studien in Italien während des Mittel-
alters wäre gewiss von besonderem Interesse, obgleich die von der By-
zantinischen Herrschaft ausgehenden Einflüsse auf die Cultur in einigen
Provinzen nicht so bedeutend waren, als man meint.
2) Hugo von Trimberg (13. Jahrhundert) setzt diesen lateinischen
Homer nach Statius an. Der Grund, den er dafür anführt, be-
152 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
wie oft geschieht, i;uter den grossen Dichtern der Alten Homer
lind Virgil nebeneinander stellen, wie es ja auch die Römer thaten,
so wiederholen sie nur mechanisch eine Bemerkung der lateinischen
Autoren oder eine Schultradition. Von der Beziehimg beider
zu einander konnten sie natürlich keine Idee haben. Homer war
ein leerer Xame; als grösster Dichter der Alten und erster Profan-
schriftsteller galt für die Schule Virgil. Er nahm also unter dem
ganzen Comjilex der erhaltenen antiken Literatur wie im Unter-
richte eine viel höhere Stellung als bei den Alten ein, die ja
auch die griechischen Dichter in der Schule lasen. Aber neben
dieser Oberherrschaft Virgils in der klassischen Uebei-lieferung
war doch diese selbst in den tiefsten Verfall gerathen. Bei der
geistigen Thätigkeit und Bildung der Zeit blieb für- diese Tra-
dition nur noch ein beschränktes Gebiet übrig, das noch dazu durch
Vorurtheile und Irrtbümer in ein ganz schiefes Licht gerückt war.
Die C4eistlichen hatten ja, wenn sie sich mit Profanstudien ab-
gaben, eigentlich andere Hauptbeschäftigungen. Cassiodor empfiehlt
zwar seinen Mönchen diese Studien, setzt aber doch hinzu, dass
man zur wahren Weisheit auch ohne Literatur gelangen könne.
„Nichtsdestoweniger", meint er, „ist es gerathen, von ihr eine
massige Kenntniss zu erlangen, nicht als ob wür darum hoflfen
könnten, gerettet zu werden, sondern weil wir wünschen, dass, in-
weist, wie wenig das westliche Europa im Mittelalter von Honitr
wusste :
„Sequitur in ordine Statium Homerus
qui nunc usitatus est, sed non ille verus;
nam ille Graecus extitit graeceque scribebat,
sequentemque Veri,'ilium Aeneidos habebat,
qui principalis extitit poeta latinorum;
sic et Homerus claruit in studiis Graecorura.
Hie itaque Vergilium praecedere deberet,
si latine quispiam hunc editum haberet.
Sed apud Graecos remaneus nondum est translatua;
hinc minori locus est hie Homero datus,
quem Pindarus philosophus fertur transtulisse
Latinisque doctoribus in metrum convertisse."
Vgl. Haupt, Monatsschr. d. Beri. Akad. 18.54, p. 147; L. Müller, Ho-
merus latinus im Philologus XV p. 47ä ff. und im Rhein. Mus. N.
F. XXIV, p. 492 f. — Wenu die mittelalterlichen Schrift.steller von
einem damals gelesenen und bekannten Homer sprechen, so meinen sie
im allgemeinen diesen lateinischen Homer. Es ist daher ein grober Irr-
thum, wenu Wright (Biogr. Brit. lit. I, p. 40) meint, Homer sei in den
Schulen des Occidentes bis ins 13. Jahrh. gelesen worden.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 153
dem wir sie im Vorbeigehen studiren, uns der Vater des Lichtes
die wahrhaft heilsame und wolthätige Weisheit schenken wird"^).
Diese Worte kennzeichnen hinreichend die Stellung, die der Clerus
im Mittelalter den Profanstudien gegenüber einnahm. Die ganze
Hauptkraft und Thätigkeit des Geistes war auf Theologie und
Askese gerichtet nnd erging sich dabei in den Abstrac-
tionen der Dialectik und speculativen Philosophie. Hierin fanden
die hervorragendsten Geister ihre Nahrung, jedes andere Studium
war für die Kinder eine Vorbereitung zu höheren Dingen, für die
Erwachsenen ein Zeitvertreib; sich aber ausschliesslich mit ihm
zu befassen, erschien geradezu als frivol und der Würde eines
Geistlichen nicht angemessen. Selbst ein Schriftsteller, welcher
Sylvester IL wegen seiner Kenntniss der Mechanik und Mathe-
matik, nicht der Magie anklagte, gestand doch ofifen, „dass er
sich gar zu sehr den weltlichen Studien ergab" ^). Dies war aber
nicht bloss die Anschauung derer, welche die Profanstudien, weil
sie sich auf die Autorität der Heiden stützten, verachteten und
verdammten, sondern auch der Leute, welche sie billigten und zu
fördern strebten. Daher die' vielen Widersprüche unter den Zeit-
genossen selbst; die einen beklagen den Verfall der Studien, die
andern sagen, dass sie zu sehr blühen^); aber an eine Blüthe
1) „Sciamus tamen non in solis litteris positam esse prudentiam,
ned sapientia,m dare Deum unicuique prout vult . . . . si tamen, divina
grafia suffragante, nòtitia ipsarum rerum sobrie ac rationabiliter inqui-
ratur, non ut in ipsis habeamus spem provectus nostri, sed per ipsa
transeuntes desideremus nobis a Patre luminum proficuam salutaremque
sapientiam debere concedi." Cassi od. Instit. div. e. 28.
2) „Studiis saecularibus nimium deditus." Anon. Zwettling. Vgl.
Hock, Gerbertus, e. 13.
3) „Cum studia saecularium litterarum magno desiderio fervere cogno-
8cei*em, ita ut magna pars hominum per ipsa se mundi prudentiam cre-
deret adipisci, gravissimo sum, fateor, dolore permotus, quod scripturis
divinis magistri publici deesseut, cum mundani auctores celeberrima
procul dubio traditione pollerent." Cassio d. Praef. ad div. inst. ; „Unde
miror sàtis quod non velini mystica Dei sacramenta ea diligentia jjer-
scrutari qua tragoediarum naenias et poetarum figmenta sudantes cupiunt
investigare labore." Paschas. Rathbert. (9. Jahrb.), in Math. p. 411 f.
(Bibl. Patr. max. XIV); „Alii autem studiis incitati carminum ad nae-
niarum garrulitates alta divertunt ingeuia, famam autem veritatis ergo,
Dei sanctorum memorando gesta.... fabulis delectati, non pavent sub-
cludere." Gumpold beiPertz, Mon. Germ. bist. IV, 213; ,,Cumque gen-
tilium figmenta, sive deliramenta cum omni studio videamus in
gyranasiis et scholis publice celebrata et cum laude recitata, dignum
154 Viigil in der Literatur bis auf Daute.
war unter dies^en Yerhältuisseu gar nicht zu deuken, wenngleich
jene trotz der Gegenbestrebungeu niemals zu existiren aufgehört
haben. Wer die Geschichte dieser Zeiten schreibt, w'ird als be-
nierkenswerth verzeichnen müssen, wenn er ab und zu ein Lebens-
zeichen der klassischen Studien wahrnimmt. Wie die Bettler
schleichen sie von einem Kloster zum andern, selten dass sich ein
Fürst ihrer annimmt: auf Karl den Grossen, der sie kaum zu-
reichend beschützt, folgt Ludwig der Fromme, der sie verabscheut.
Es war aber nicht allein der heidnische Geist der alten Literatm-,
der von ihrer Beschäftigung abhielt, sondern im Allgemeinen mehr
der weltliche Charakter dieser Studien. Das ästhetische Gefallen
erschien wüe eine sündliche Emiifindung oder Ausschweifung. Auch
die Erholung musste erbaulich und fromm sein. Die vom
Mönchsthum beherrschte Bildung hatte nicht mehr den Zweck, den
Geist zu verfeinern und zu verschönern, sondern ihn zu reinigen
und nach den theologischen Vorschriften, die das Christenthum
repräsentii-en sollten, für seinen überirdischen Zweck zu heiligen.
Vorher hatten die lateinischen Schriftsteller mit den Griechen, jetzt
mit den heiligen Schx'iften zu concnrriren, was viel gefährlicher
für sie war. Letztere waren ja eben die Klassiker der Epoche, an
denen der Geist sich bildete, und in denen er dem moralischen
Zwecke des Lebens entsprechend seine passendere Nahrung fand.
Schon 'in den Büchern des alten Testamentes finden wir jene Uni-
versalität der Religion, welche die ganze Menschheit durchdringt
und regiert und ebenso wesentlich für das .christliche wie das
jüdische Ideal gewesen ist. Auf ihnen basirte aber vor allem
in jener Zeit die moralische und religiöse Erziehung. Ihnen zur
Seite standen Virgil und die alten Häupter der profanen Erzie-
hung; freilich in jenem ungeheuren Abstände des Menschenwortes
vom Gotteswort, der Achtung vor der Literatur von der Verehrung
der Eeligion. Obgleich es als Profanation erscheinen konnte, diese
Bücher als Denkmal der Literatur zu betrachten und sie den
Klassikern an die Seite zu stellen, blieb ihnen doch ein literarischer
Character. Besonders, was die Poesie anlangt, übten sie durch
duximus ut sanctorum dieta et facta describantur, et descripta ad lau-
dem et honorem Christi referantur." Histor. Eliensis bei Gale,
Scriptores bist. brit. p. 463.
1) „Poetica carmina gentilia quae in juventute didicerat respuit,
nee legere, nee audire, nee decere voluit." Thegan., Vit. Ludovic.
Pii. § 19.
Virgil iu der Literatur bis auf D-.iute. 155
ihre fortwährende Anwendung in der Liturgie, im Gebete uud der
erbaulichen Literatur einen bedeutenden Eiufluss aus. Sie ge-
wöhnten den Geist an poetische Formen und an ein poetisches Ge-
präge, das sich auf das schroffste von dem klassischen Typus unter-
scheidet. Dazu kam, dass sie weit mehr mit den warmen Empfin-
dungen des Gläubigen harmonirten, und aus eben diesem Grunde
gaben die im Schulgebrauch noch immer vorhandenen klassischen
Formen allmälig ganz ihr Leben auf. Man drang nicht mehr iu
den Geist der alten Poesie ein, und wurde unfähig, ihn unabhängig
von irgend einem religiösen Vorurtheil und blos mit dem Auge
des Laien zu beurtheileu. Zum Verständniss einer fremden und
nicht mehr lebendigen Poesie muss der Geist sich in jene erhabenen
Regionen aufschwingen, in denen er mit klarem Blicke die verschie-
denen Formen und Phasen der menschlichen Productivität erschaut.
Um aber eine dem Mittelalter so entgegengesetzte Poesie zu ver-
stehen, wie die der Alten ist, musste der Geist erst eine ganz be-
sondere Schule durchmachen, die den Geschmack in eine andere
Bahn lenkte und ihm Dinge zeigte, die höher stehen als die ge-
wöhnlichen Erscheinungen des Lebens. Von selbst kann man nicht
dahin gelangen. Es bedarf vielmehr einer grossen Anstrengung in
der eben so individuellen wie universellen Erziehung und Bildung,
die wir aber nicht bei einem Mönche des Mittelalters voraussetzen
können. Die Cultur des Mittelalters ist in jeder Beziehung zu
arm, schwach und vernachlässigt, als dass sie den Geist über
die gewöhnliche Anschauungsweise zu erheben vermöchte. Huma-
nismus ist dieser Zeit etwas Unbekanntes. Der am Meisten welt-
lich gesinnte Mönch, der sich in die alten Schriftsteller verliebt
hat, ist immer noch ungebildeter, als der schlechteste Latinist aus
der Renaissance. Eben darum verstehen Mönch wie Laie de.s
Mittelalters die neue nationale volksthümliche Dichtung der Zeit
besser, als die klassische, und nur so erklärt sich das Ein-
dringen der Volkspoesie in die Klöster, sowie der Umstand, dass
gerade die Mönche vornehmlich es sind, w^elche jene neuen Volks-
dichtungen sow'ol in lateinischer wie volksmässiger Sprache sammeln
und pflegen. Wer nicht das Eigenthümliche dieser Abirrung von
den antiken literarischen Idealen, so wie die Unfähigkeit des ganzen
Mittelalters sie zu verstehen begreift, wird auch niemals ganz die
Renaissance begreifen.
Der Cleriker des Mittelalters nahm nur eine kleine Summe
des alten Wissens auf und diese selbst doch nur äusserlich und
unter falschen Gesichtspunkten; darum darf man fi'eilich nichl
156 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
sagen, dass das Wissen der Alteu nicht etwas Grosses für;
ihn war. Der bigotteste und fanatischste Asket trügt kein Be-
denken, wenn er von den Alten hört, sie für unendlich weise zu
halten, so wie er ja auch den Geist der Finsterniss, den bösen
Versucher füi- weise hält und ihm oft die Kunst der Alten zu-
schreibt. Ein solches ürtheil ist aber nur die Folge der Autorität
und des Nimbus, in welchem nun einmal die Namen eines Plato,
Aristoteles, Homer, Cäsar, Cicero, Virgil u. s. w. jenen Leuten er-
schienen. Oft war es auch das Resultat rein negativer Gründe, vor
allem aber der Unwissenheit, welche jene Vorstellung der Weis-
heit vergrösserte und verfälschte. Das Christenthum leugnete ja
nicht die wunderbare Kraft des Verstandes, aber übertrieb sie,
und vergi-össerte dadurch das Verdienst des Glaubens. Einem
nothwendigen Conflicte zwischen Vernunft und Glauben konnte
doch der Christ nicht beistimmen. Er verdammte also nicht
das gesammte Alterthum, sondern unterschied nur zwischen den
Gebieten beider und zeigte, wo sie sich berühren und trennen.
So kam er dazu, Vernunft und Glauben in Einklang zu bringen,
die, wie er meinte, nicht durch feindlichen Widerspruch sondern
nur durch ihr Gebiet von einander geschieden seien. Für den Welt-
verächter des Mittelalters hat das Alterthum wol staunenswerthe
Dinge vollbracht, aber es irrte, weil ihm die göttliche Erleuchtung
fehlte, und ist deshalb eben dem Geiste so gefährlich. Die Thätig-
keit der Vernunft wird ja nach dem Christenthume nicht ausge-
schlossen, sondern durch den Glauben nur berichtigt und vervoll-
ständigt. Für den Gläubigen gebührt natürlich der Primat dem
Glauben; je mehr sich die Seele in ihn versenkt, desto weniger
Freiheit erhält der denkende Geist. Darum war jenes Dilemma
ganz allgemein zugestanden: entweder sagt uns die Vernunft etwas
anderes als der Glaube und dann irrt sie, oder sie stimmt mit
jenem überein und dann ist sie überflüssig. Das eben war die
Anschauung des Mönchsthums im Mittelalter. Jene grosse philo-
sophische Bewegung, die mit Scotus Erigena begann und den Werth
der Vernunft anerkannte, erregte den Unwillen der religiösen
Autorität. Ihr zur Liebe geschah es gewiss nicht, dass das erst
schüchtern, dann sich energisch hei-vorwagende Wort von der
Thätigkeit der Vernunft ausgesprochen wurde, das schliesslich den
Glauben auf Gewissen und Empfindung beschränkte, ihn von
der Erforschung der Wahrheit ausschloss und so die moderne
Wissenschaft schuf.
Aus diesen Anschauungen ging also jene übertriebene und
•
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 157
faL^che Vorstellung von der Weisheit der Alten hervor. Eine
einzige Idee behen-schte ja die ganze christliche Thätigkeit und in
dem Lichte dieser erschien auch dem Christen das Alterthum
Man fragte nur nach seiner moralischen Seite, die, je nach dem
man sich die Sache vorstellte, theils sichtbar, theils verborgen war.
Neben dem moralischen und philosophischen Gesichtspunkte war der
ästhetische gar nicht voi-handen.
Damit hing auch die grosse Verkehi-theit der historischen Vor-
stellung vom Alterthurae, die das Mittelalter hatte, zusammen.
Neben den geschichtlichen Büchern, welche die Vorzeit in Erin-
nerung brachten, las man die Bücher der Juden, die als Glaubeus-
autorität obenan standen und die Geschichte ab ovo mit einer
Kosmogonie und Anthropogonie begannen, die mit dem jüdisch-
chi-istlicheu Monotheismus im Einklang stand. Sie imponirten
den Gläubigen nicht allein durch die Menge fabelhafter Geschichten,
die ganz verschieden von den antiken durch die Literatur überlieferten
Mythen waren, sondern auch durch ihre Art, die Geschichte zu
betrachten. Nachdem das Christenthum die nationalen Schranken
des Judenthums durchbrochen hatte, um die ganze Menschheit in
Gott zu umfangen, war von demselben Standpunkte aus, in dem
sich die Juden Gott gegenüber betrachteten, der Gesang „In
exitu Israel de Egypto", der symbolische Hymnus der wieder ge-
wonnenen Menschheit geworden.
Die Idee von dem göttlichen Lamme, welches die Sünden der
Welt trägt imd der wirkungsreiche Eifer des Apostelthums Hessen
in der Betrachtung der Universalget^chichte natürlich vor allem
jene Momente hervortreten, welche zu jener Vorstellung beitrugen;
das Gottesreich, die Sünde der verin-ten und gespaltenen Men-
schen, und die Vereinigung der Menschheit zu einer Heerde
und unter einem Hirten, erleuchtet und gesegnet durch den gna-
denreichen Tod Christi. So zeigten sich in der Geschichte
vor allem zwei bedeutende Momente. Eine lange Epoche des
Irrthums und der Blindheit und eine lange Epoche der Reinigung
und Wahrheit. In der Mitte stand das Kreuz von Golgatha. Am
Meisten -sympathisch war dabei die Geschichte von der wiederge-
borenen Welt, die in pathetischer und poetischer Weise von den
Kämpfen, Märtyrern nnd Triumphen der Gläubigen erzählte. AUes
Uebrige betrachtete man nur in Beziehung hierauf entweder als
Negation, als entfernte Uebereiustimmung oder als Vorbereitung.
• In dieser Vorstellung ragten aber besonders zwei Städte hervor,
das Jerusalem der Juden und Christi, die Stadt der Vergangen-
158 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
heit, und Rom, der mit dem Blute der Märtyrer benetzte Sitz Petri
und seiner Nachfolger, der heilige Mittelpunkt der lebenden Christen.
Die Geschichte dieser beiden Städte vereinigte sich nur in einem
feierlichen Augenblicke: als nämlich Christus geboren ward und
lebte und die grossen Apostel ihre Thätigkeit begannen; vou
da an verschwindet Jerusalem, und Rom tritt an seine Stelle.
Aber die Erinnerungen der Christen hingen vor allem an dem
kaiserlichen Rom. Keine Periode der Geschichte war im Mittel-
alter für die Leute anziehender. Das Papstthum, die Kirchenväter,
die Beziehungen des Christenthumes zum Reich in seinen Anfängen
Kämpfen und Siegen, die Entwicklung der Kirche, die Elemente
der heiligen und profanen Bildung, alles führte auf diese Epoche
zurück. Der Mittelpunkt der religiösen Erinnerungen war Christus,
der politischen Octavianus Augustus, unter welchem Christus ge-
boren war*). Die Gläubigen haben nie aufgehört, es als eine
wunderbare Begebenheit zu preisen, dass die Anfänge des Christen-
thumes mit den Anfängen des Kaiserthumes zusammenfielen, und
Christus geboren ward, als die Römer in der Fülle ihrer Macht,
ihres Reichthums und ihrer Talente standen, als der Frieden über
das weite römische Reich herrschte und unter den scheinbar
glücklichsten Auspicien ein Zeitalter der Erneuerung begann. Da
ist denn vor allem bemerkenswerth, dass Christus gi-ade diesem
Glanz entgegentrat und die Welt von jener Höhe, die sie damals
erreicht hatte, so weit zurückstossen sollte. Es war aber kein
Wunder, sondern nur die Folge der Geschichte, wenn die neue
Religion den Sieg davon trug. War doch die Zeit auf eine all-
gemeine Erneuerung vorbereitet; die müde Gesellschaft sehnte sich
nach etwas Neuem, und die allgemeinen Ziele des Christenthumes
wären Träume geblieben, wenn sie nicht unter so verschiedeneu
Völkern die durch den starken Arm der Römer hervorgebrachte
Gleichartigkeit gefunden hätten. Das sahen auch die Christen ein,
und wie die Gläubigen stets die Geschichte durch das Prisma
1) „Finis consummationis imperii romani fuit tempore (Jctaviani im-
peratoria: ante quem et post quem sub nullo imperatore romanum im-
perium ad tantum culmen pervenit: cuius anno 42 dominus noster J. C.
natua fuit, toto orbe romano sub uno principe pacato; ad significaudum
quod ille rex coeli et terrae natus esset in mundo qui coelestia et terrestria
ad invicem conoordaret." Engelbert. Admont., De ortu et fine rom.
imp. 20. Diesen Gedanken wiederholen alle Chronisten des Mittelalters.
Vgl. über die auf Augustus bezüglichen Ideen imd christlichen Legenden '
Mass mann, Kaiserchronik III, p. 547 ff.
Virgil in der Literatur bis auf Daute. 159
ihres Glaubens betrachteten, so meinte man auch in dieser Vorbe-
reitung das Werk Gottes zu erkennen, der seit lange dafür
gesorgt hatte, dass die Zeit endlich reif wurde für das Er-
scheinen des Heilandes^). Dies glaubten alle, welche in der Vor-
sehung den Schlüssel der Geschichte erblicken, wie ja auch die
Hebräer in Mitte der alexandrinischen Cultur den Begebenheiten
göttliche Ursachen beimassen^). Unzweifelhaft trugen zu dieser
Ansicht die Schicksale Roms viel bei; die gigantische Grösse der-
selben gab auch den Römern und den Alten überhaupt eine
Vorstellung von dem besonderen Schutze der Gottheit. Diese
vor allem zur Zeit des Augustus herrschende Idee"*), die Virgil
so erhaben dargestellt hat, die Idee, dass eine alte Schicksalsbe-
stimmung und ein göttlicher behaiTÜcher Wüle die Ereignisse vor-
bereitet und gelenkt habe, weichte zur Gründung und Grösse Roms,
jenes wolthätigen Mittelpunktes der Menschheit, führen musste,
nahm also auf diese Weise ihren Fortgang und wurde nun in
christlichem Sinne reproducirt. Im Mittelalter glaubten die Kirchen-
väter und die ältesten christlichen Dichter ganz fest, dass Gott
jene Stadt luid ihre grossartigen Eroberungen gewollt habe, damit
sie als Mittelpunkt der Welt der Sitz der Statthalter Christi
sein könne ^).
Mit dem Sinken der politischen Gewalt Roms hörte aber der
Eiufluss dieses Mittelpunktes nicht auf, sondern änderte sich nur.
An Stelle des Kaiserreiches trat das Papstthum und die katholische
Kirche, die in der Universalität ihres Characters, ihrer Zwecke
und Einrichtungen, die alte Kaiserherrschaft gleichsam fortsetzte.
Auf die Kraft des Armes, folgte jetzt die des Geistes; freilich
1) So u. a. Lasaulx, Zur Philosophie der röm. Gesch. München
1861 (iu den Acten der Baierischen Academie), ein für die Geschichte
jeuer Ansicht nützliches Buch.
2) Ol ftfv yÙQ ini rijs otxovfiévTjs ndvTsg sißl 'Pcofioitoi 8ixa yuQ
&SOV avaTTJvai, rrjXfnavzrjv rjyi(ioviocv dövvarov. Fl. Joseph. B. J.
2, 16, 4.
3) Unter den vielen Stellen lateinischer Autoren , die diesem Gedanken
Ausdruck geben, seien die dem Romulus in den Mund gelegten Worte
des Livius erwähnt (I, 16): „ahi nuncia Romanis, Coelestes ita velie,
ut mea Roma caput orbis terrarum sit: proinde rem militarem colant,
sciantque et ita posteris tradant, nullas spes humanas armis romanis re-
sistere posse. Haec locutus sublimi« abiit."
/ 4) „Romanam urbem Deus praeviderat christiani populi principalem
sedem futuram," Thomas. A quin. De regim. princ. 1, 14. Vgl. Dante,
Inf. 2, 19 und viele andere.
160 Virgil in der Ijiteratur bis auf Dante.
war diese nicht neu; denn auch das weite römische Reich war
nicht blos durch materielle Mittel zusammengehalten worden, son-
dern repräsentirte nicht minder eine kräftige, dauerhafte moralische
Einheit, welche die politische Zerstückelung lange überlebte. Als
Erbin und Wiederherstellerin jeuer gi-ossen römischen Schöpfung
hatte sich die Kirche an die Stelle des Reiches mit ganz derselben
Kraft und Ausdehnung der Gewalt gesetzt, so dass sie in der That
als die erste Macht der Welt erschien, der alle anderen unter-
geordnet waren. Indem aber die lürche die abstracte Idee der
kaiserlichen Weltherrschaft fortsetzte, spiegelte sich ihre Gewalt
auch in der Autorität der weltlichen Grossen ab, die ja ebenfalls
jenes hohe Ideal der Kaiserherrschaft begünstigten. Karl der Grosse
wollte dasselbe verwirklichen, betrachtete es aber nicht als eine
neue Schöpfung, sondern als eine Restauration und Fortsetzung,
und sah deshalb in Rom das Haupt jener Macht. Der rohe ger-
manische „Kunec" trachtete darnach, Caesar (Kaiser) zu werden und
vergass oft in seinem Uebermuthe, dass die Macht, welche ihm
seine Autorität verlieh, der seinigen bei weitem überlegen war,
und in Wirklichkeit ihn bemeisterte. Und wenn auch dann und
wann die Zügel, von schwacher Hand geführt, rissen, so beugte
doch mancher Kaiser sein Haupt unter der Wucht jener Gewalt
tiefer in den Staub, als es je . die von den Römern bezwungenen
Könige gethan hätten: für uns Italiener die einzige, wenn auch
geringe Genugthuung, die uns dieser lange, traurige Zeitraum der
Geschichte darbietet.
Die Vorstellung von der Weltherrschaft wird besonders nach
Karl dem Grossen so herrschend, dass die ganze Geschichte nur
als eine Aufeinanderfolge grosser Monarchien dargestellt wird,
denen der göttliche Wille die Macht und Herrschaft über viele
Völker überträgt^). Bei dieser Auffassung der Geschichte nimmt
daher Griechenland, das nicht erobernd aufgetreten war, eine
untei-geordnete Stellung ein, und nur die Zeit Alexanders tritt
hei-vor. Was die ältere römische Zeit betrift't, die doch der Ge-
schichte der Kaiserzeit an Moralität und Tugend weit überlegen
war, so pflegen nur einige hervorstehende Eroberungen der Re-
publik erwähnt zu werden. Das Mittelalter hat nur für die Idee
der bereits constituirten Kaiserherrschaft und ihren pyramidalen
1) Vgl. hierüber imd über den historischen Gebrauch, den man von
dem Traume Daniels oder Nebucadnezars machte, die IJeuierkuiigf'n von
Massmann, Kaiserchronik, III, p. 356— .364.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. l6l
Aufbau von Autoritäten Geschmack, worin eben sein Ideal von
der politischen Gesellschaft und der kaiserlichen Monarchie besteht;
darum springt man auch ohne Weiteres von der Gründung Roms
auf die Zeiten Cäsars und Augusttis' über.
Die damals bekannteste Partie der alten Historie ist die Ge-
schichte des Reiches j das sich dem Christenthum unterwirft, eine
Partie, die man natürlich vom christlichen Standpunkte aus be-
trachtet und die daher ganz verkehrt und umgeben von Legenden
erscheint. Rom bleibt immer moralisch „caput mundi", und keine
Stadt des Occidentes vermag auch nur entfernt den Glanz und die
Bedeutung zu erreichen, die in den majestätischen Ruinen Roms
wohnen oder auch nur das Ansehen, welches das Römerthuni Byzanz
zu verleihen wusste, zu erlangen. Die Städte der mittelalterlichen
Fürsten spielen in der Geschichte eine dunkle Rolle, die in keinem
Verhältnisse zu den Thateu der Herrscher steht. Die Nationali-
täten begannen zwar sich moralisch und politisch in der Schöijfung
einer neuen Literatur wie in den neuen politischen Gruppen, in
die Europa zerfiel, zu unterscheiden. Allein das geschah doch nur
langsam und fast unbemerkbar. Ein Werk der Reflexion, welches
jenes zwar starke, aber doch nur dunkle Gefühl, das in den
Geistern das moderne Europa vorbereitete, auf ein Princip zurück-
geführt hätte, gab es noch nicht. Das öffentliche Recht beruhte
noch nicht auf der Idee des Völkerrechtes und der Nationalität,
sondern auf ganz entgegengesetzten Grundsätzen, die sich im Feudal-
wesen und in dem Gedanken des Kaiserreiches darstellten.
Uebrigens waren die Nationalitäten selbst noch gar nicht so von
einander geschieden, wie sie es zu sein strebten. Aus so verschie-
denen Elementen hervorgegangen, konnten sie sich nur allmälig
entfalten, und ihre politische Thätigkeit musste noch lange dauern,
bevor sich ihre moralische Individualität ganz mid fest ausgebildet
hatte; daher kam es, dass es trotz der nationalen Entwickelungen
eine Empörung gegen gewisse Gedanken nicht gab, sondern diese
im Gegentheil immer anerkannt wurden. In einer historisch ganz
begründeten Antipathie standen sich besonders die germa-
nischen und romanischen Nationen getrennt gegenüber. Die Deut-
schen, die zwar auch schnell verdorben waren, aber noch gewisse
Ideen von ihren wilden und einfachen Vorvordern bewahrt hatten,
die Tacitus den kraftlosen Römern entgegen stellte, wie er sie
jedem civilisirten Volke hätte gegenüber stellen können, betrach-
teten die Welschen oder die romanischen Völker als schlecht ge-
sittet und verdorben, während sie anderseits kein Bedenken trugen,
Comparetti, Virgil im Mittelalter. ]X
162 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
sich selbst barbarisch und roh zu nennen ^), so wie die geistige und
bürgerliche üeberlegenheit und den hohen Primat des römischen
Stammes anzuerkennen. Daher jene allgemeine Achtung und Ehr-
furcht nicht freilich auf materiellem, sondern auf idealem Gebiete,
mit der alle Völker auf Rom schauten, und die jeden Gedanken
an eine Rivalität ausschloss. Sie zeigt, sich in tausend verschie-
denen Weisen, in Worten und Gedanken, in den Thaten der deut-
schen Kaiser, die sich römische nannten, wie in dem Herzuströmen
der Pilger zu dem Palladium der Gesellschaft und Christenheit; in
den naiven, zu ihrem Gebrauche verfassten Führern Roms „den
Wundem der goldenen Stadt", in den begeisterten Ausdrücken, in
welchen sich unzählige mittelalterliche Schriftstellern ergehen,
kurz in einer Menge von Thatsachen, . die wir hier gar nicht alle
verzeichnen können^). Es sei nur noch als charakteristisch erwähnt,
dass so viele Völker iind fürstliche Familien bestrebt waren, bis
auf die Sage von ihrem Ursprünge Rom und den Römern nachzu-
ahmen, als ob sie von den Helden Troja's abstammten, und
sich durch die verschiedensten Sagen mit der Vergangenheit
Roms in Verbindung zu bringen^). Jeder sieht ein, welchen Ein-
1) „Auditoribus usus erat lacialiter fari ncque ausus est quisquara
eoram magistro lingua barbara loqui." Bruno Vit. S. Adalberti, 5 (bei
Pertz, Script, rer. Germ. IV, p. .577). Sehr gewöhulicb ist es, wenu
die nicht lateinischen Schriftsteller des Mittelalters sich und ihre
Sprache barbarisch nennen. Mau sehe die in den ludices dar Script,
rer, Germ, unter dem Artikel barbar us verzeichneten Stellen und unsere
Anmerkung Cap 9. S. 113.
2) Die umfangreiche und complicirte Geschichte Roms im Mittel-
alter ist für den Gläubigen, wie für den Freidenker ein Stoff von hohem
Interesse. Gibbon, Papencordt, Gregorovius und Reumont haben
sie ausführlich bearbeitet und besonders die beiden letzteren mit zwar
vei-schiedenen aber gleich lebhaften und starken Empfindungen vorge-
tragen. Gregorovius hat sich an seinem an Umfang und Gesichtspunkten
so reichen Werke als Gelehrter und Dichter zugleich gezeigt und
ein Buch geschaffen, das ebenso anziehend für den Gelehrten wie den
Laien ist
3) Vgl. Gr aesse. Die grossen Sagenkreise des Mittelalters p. 66.
Bergmann, La fascination de Gulfi p. 27 f ; Reiffenberg, Chron.
rimée de Philippes Mouskes. I, p. CCXXXVI, der auch Neuere anführt,
die jene Fabeln des Mittelalters für ernst genommen haben. Vgl. Roth,
Die Trojanersage der Franken in Pfeiffer's Germania 1, 34 und
Zarncke in den Sitzungsberichten d. säcbs. Ges. d. Wiss. 1868 p. 257 ff.
n. 284. Brann, Die Trojaner am Rhein, Bonn 1856 Creuzenach, Die
Aeneis etc. im Mittelalter p. 26 ff.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. iG3
fluss die Aeneis und ihre Popularität auf diese Tendenz haben
musste ^).
Die noch unvollkommene Entwickelung der Nationalität, be-
sonders was abstracte Vorstellungen betrifft, ermöglichte den Ge-
danken der Kaiserherrschaft, welche durch die Tradition der Cul-
tur und manche Seiten des politischen und religiösen Lebens deut-
lich mit der Gegenwart verknüpft war. Aber sie ermöglichte sie
nur eben als Idee und nicht als etwas anderes. Die Eestaui-ation
der alten Kaiserhen-schaft war ein Unding, und die Ansammlung
der Völker imter einem Scepter konnte nur vorübergehend sein. Das
Geheimniss des alten Bindemittels, dessen sich die Römer bedienten,
war verloren, und es zeigten sich auch die Individualitäten der ein-
zelnen Völker schon zu lebenskräftig, als dass man sie wie früher
zu einem Organismus hätte verschmelzen können, üebrigens fehlte
es den Germanen, die bei dem Verfalle der römischen Welt das
Uebergewicht gehabt hatten, wie sich bis auf unsere Tage gezeigt
hat, an der Fähigkeit, sich andere zu assimiliren; ja, es schieden
aus ihi-er Masse sogar mehrere Stämme aus, die sich der neu-
lateinischen Xationalität assimilirten. Nichts desto weniger ent-
wickelte sich der Gedanke von der Kaiserherrschaft nicht blos in
den erhabenen Phantasien eines Denkers, sondern auch in den
Thaten der grossen Fürsten: und hier zeigt sich wieder jenes für- das
Mittelalter so charakteristische Missverhältniss zwischen dem geistigen
Gehalte der Cultur und der Praxis. Die Zeit bereitete, ohne es
zu wissen und zu wollen, in stetem Hinschauen auf die antike
Welt und im Streben sie zu resta,um-en, die Xeuzeit vor : sie
gleicht einem Manne, der vorwärts schreitet, während er vermöge
einer merkwürdigen Hallucination rückwäi-ts zu gehen meint. Nie-
mals erschien einer Zeit, wenn man sie nach ihren Vorstellungen
und Aeusserimgen beurtheilt, der Gedanke an Fortschritt und
Revolution mehr zuwider, als dem scheinbar ganz unbeweg-
lichen Mittelalter, und doch ist niemals eine sociale Bewegung so
lebendig, allgemein, vielfältig und umgestaltend gewesen, als gera>le
im Mittelalter, in welchem sich Empfinden und Denken der Gesell-
schaft so völlig veränderten. Hierin liegt vornehmlich der Schlüssel
für alle Unregelmässigkeiten und Abirrungen dieser Epoche, wie tur
1) Vgl. D unger, Die Sage vom trojauiscbeu Kriege in den Be-
arbeitungen des Mittelalter* und ihren antiken Quellen (Leipz. 1869),
p. 19.
11*
1C4 Viigil in der Literatur bis auf Dante.
so viele Erscheinungen, in denen sich Alterthnm und Neuzeit mit
einander berühren.
Diesen Vorstellungen gemäss musste Virgil von allen andern
Dichtern am meisten bewundert und geliebt werden. Jenes römische
(iefühl, welches er besonders zum Ausdruck gebracht hat'), klang
in dem Geiste der gebildeten Leser wie ein historischer Wieder-
liall nach. Auch die Zeit, der er angehörte, und aus der er so
hervorragt, galt unter allem, was man vom Alterthum wusste, als
der glänzendste und bekannteste Mittelpunkt. Der Anfang der
Kaiserherrschaft unter Augustus und die Nähe Christi waren für eine
literarische Berühmtheit wie Virgil die günstigste Bedingung, den
Geistern des Mittelalters zu impouireu, und trugen nicht wenig
zu der Vorstellung, die man von dem Dichter hatte, bei. Damit
verband sich die religiöse und philosophische Seite seines Ruhmes,
seine Annäherung an die christliche Idee und seine Ausstattung
mit einem ausserordentlichen, tiefen universellen Wissen. Man be-
trachtete zwar damals die alten Schzüftsteller und Dichter ohne
Ausnahme als „Philosophen"; die Schule der Grammatiker und
Rhetoreu brachte aber doch besonders die Dichter zur Geltung,
und unter ihnen galt wieder Virgil als der erste. Er war also
weit bekannter und volksthümlicher, als die anderen Schriftsteller,
obgleich die gebildeteren und bedeutenderen Männer ihn in
Wahrheit nicht für den einzigen Weisen des Alterthums hielten.
Als im 12. Jahrhundert jene starke geistige Bewegung und jener
wissenschaftliche Eifer erwachte, erlangte zwar Aristoteles in der
Philosophenschule seine Berühmtheit und galt als ebenso allwissend;
aber Virgil behielt trotzdem den ersten Rang, weil sein Ruhm
nicht eigentlich auf der Philosophenschule beruhte, sondern auf den
allgemeinsten und elementarsten Studien des Lateinischen, von
denen doch Aristoteles ganz und gar ausgeschlossen war. Für
Virgil blieb die Schule der Grammatiker der Mittelpunkt und
Haiiptwirkungskreis. Zwar machte sich auch hier die neue Rich-
tung der durch die Scholastik rejiräsentirtcn Schule geltend; Lehrer,
1) „nie (Homerus) in laudem Graecorum, hie autem (Vergilius) in
gloriam Komanorum conscripsit." Verg. vit. (9. Jahrh.) bei Hagen, Scholl,
beru. p. 997. Andere betrachten ihn als den, welcher Octavian besungen
hat, den Repräsentanten römischer Grösse für das Mittelalter: „Aeneida
conscriptam a Vergilio quis poterit inütiari ubique laudibus respoudere
Octaviani; cum paeue nihil aut plane parum eius mentio videatur
nominatim interseri ?" C n n t o u i s r c g i s g e s t ii , (11. .Talirhundert)
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 165
die damals einen groöseu Ruf genossen, verfertigten poetische
Bücher zum Schulgebrauch, die einen grossen Erfolg hatten. Aber
die Alexandreis des Walter von Lille, eine Nachahmung der Aeneis,
die in den Schulen viel gelesen wurde, that doch der Autorität
des grossen Dichters fiii- Grammatik und Schule keinen Eintrag;
eben so wenig wie die vielgebrauchten grammatischen Schriften
eines Alexander von Villedieu, eines Petrus Elias und Anderer
den Ruhm des Donat verringerten.
Fassen wir Alles zusammen, so zeigt sich der Ruhm Virgils
im Mittelalter auf historischem, philosophisch -religiösem und
grammatisch-rhetorischem Gebiete; letzteres ist die niedrigste und
rohste Stufe, aber doch die materielle Grundlage für die anderen.
Die ästhetische und künstlerische Seite kömmt dabei gar nicht in
Betracht, was auch ganz unmöglich war, wenn man die Ausdehnung
bedenkt, welche die andei-en Seiten hatten.
Dreizehntes Capitel.
Was vor Allem den Charakter des Mittelalters bestimmt und
Grund zu dieser Benennung gibt, ist ein gegenüber der Neuzeit
und dem Alterthume negatives Verhalten. In dieser Beziehung er-
scheint das Mittelalter wie eine Zeit der Verirrung, über die sich
hinweg das alte und moderne Europa die Hand reichen und an-
einander anschliessen. Dieser Gedanke schwächt sich jedoch ab, wenn
man aus dem Negativen in das Positive tibergehen will und die
inneren Beziehungen dieser drei historischen Abschnitte, ihre Ur-
sachen und Uebergänge studirt, die ja nach physiologischen Ge-
setzen vorhanden sein müssen. Analysirt man die Vorstellung, die
das Mittelalter vom Alterthum hatte, so entdeckt man leicht seine
Beziehung sowol zu diesem wie zur Renaissance. In der Zeit des
Verfalls liegen die Elemente, welche zu jener Verirrung des Mittel-
alters führen mussten, und in diesem selbst die Vorbereitung
für die Renaissance. Zwei Hauptrichtungen stellen sich in dieser
langen Periode dar, die bis auf einen gewissen Grad mit einander
verbunden sind, schliesslich aber doch die historische Theilung
in zwei Epochen bewirken : es gibt ein lateinisches Mittelalter, das
dem Alterthume näher steht und in seiner ganzen überkommenen
Cultur mehr auf jenes zurückweist, und ein volksthümliches Mittel-
alter, das neue Elemente offenbart und sich von jeder Tradition los-
löst. Geistliche und Laien, deren Trennung, wie wir bereits bemerkten,
für das Mittelalter charakteristisch ist, vereinigen sich im Ganzen
IQQ Virgil iu der Literatur bis auf Daute.
in diet^eu beiden Iviclituugen, wenn auch nicht zu ganz gleichen
Theilen. In der ersten gehört die Initiative und das Uebergewioht
den Geistlichen an, in der zweiten den Laien. Die Thätigkeit der
Letzteren bringt es endlich zur Renaissance, die, wie wir sehen
werden, ihren Urspniug in der volksthümlicheu und weltlichen
Literatur hat^).
Das klassische Alterthum mit Virgil an der Spitze, welches
der ganz anders gearteten Bewegung der rein kirchlich gesinnten
Geister des Mittelalters zu folgen hatte, gleicht der Sonne, welche
durch eine dunstige Atmosphäre scheinend, weder erleuchten, noch
wärmen und befruchten kann. Dies hörte erst auf, als die Studien
nach lind nach in die Hände der Laien gekommen waren. Aus
der Bekehrung Europa's zum Christenthiim folgte das Uebergewicht
des Clerus und das des Glaubens über die Vernunft. Ganz na-
türlich musste bei einer so grossen und wirksamen Begebenheit auch
die in den Gemüthern erregte Begeisterung eine lang anhaltende
sein. Europa hatte jene Periode enthusiastischer Einbildungen
und jene fanatische Concentration auf eine Idee, wie sie allen
Neubekehrten eigen ist, durchzumachen. In dieser ersten Periode
beschränkte sich die geistige Bewegung auf den Clerus, bis endlich
die Reflexion das Uebergewicht bekam, und mit der Thätigkeit der
Laien auf dem neuen Gebiete die zweite Periode beginnt.
Einige persönliche Bestrebungen Karls des Grossen, so wie
Massregeln, die er in Betreif des profanen Unterrichtes vornahm,
haben die Vorstellung erweckt, als sei dieser Fürst Urheber einer
ersten Renaissance. Aber davon war seine Thätigkeit weit entfernt.
Indirect ist er wol jenen Studien nützlich gewesen, aber er be-
günstigte sie nur um den geistlichen Studien dienen zu können.
Ich weiss nicht, ob mich bei der harten Beurtheilung dieses Fürsten
eine bei einem Italiener natürliche Voreingenommenheit bestimmt
hat. War er es doch, welcher dem Papstthume jene starke
weltliche Macht verlieh, die ganz Europa so unermessliches Leid
gebracht hat und der Fluch Italiens ist. Es kömmt mir vor, als
ob seiner historischen Persönlichkeit als Volksfürst, Gesetzgeber
und Krieger ein etwas gar zu starker Geruch von Heiligkeit an-
1) Mit dem Erwachen der Thätigkeit der Laien entstehen auch
Antbipathien zwischen den beiden Klassen, die oft in heftigen Worten
Ausdruck finden. Eine Inschiift in der Kirche St. Martini in Worms
lautet :
„Cum mare siccatur et daemon ad astra levatur,
Tunc primo laicus fit clero Sdus amicus."
Virgil iu der Literatur bis auf Dante. 167
haftet. Er war vor Allem der „homo Papae", und kein christlicher
Monarch ist je den Insassen der Klöster willkommener gewesen,
die darum auch eifrig um die Ausarbeitung der Legende bemüht
waren, aus der jener für die italienischen Dichter so lächerliche,
und von Ariosi mit so feiner Ironie dargestellte Typus des „guten
Karl", (buon Carlone) entsprang. Karl der Grosse hatte bei dem
l^aienunterricht nur den kii'chlicheu Zweck im Auge und, statt die
Laien zu lebendiger Thätigkeit anzutreiben, Hess er sie in der bar-
barischen und unfx'uchtbaren Herrschaft des Clerus, den er durch
neue Stiftungen immer mächtiger machte. Karl der Grosse war
gewaltig durch seine eiserne Energie und entfaltete ein Organi-
sationstalent, das sich bei den Volksfürsten seiner Zeit nicht
wiederfindet, aber dem durch und durch deutschen Charakter ging
vor allem jene Schärfe und Feinheit des Blickes ab, durch welche
sich die italienischen Männer der Kirche auszeichneten, die das so
wunderbar feste Gebäude der Kirche zu organisiren wussten.
Ihm fehlte der Gedanke und der Muth zu dem, was die grösste
Reform seiner Zeit gewesen wäre, die bürgerliche Gesellschaft von
dem eingedrungenen Clerus zu säubern und die Laien zur geistigen
Herrschaft anzutreiben. Eine vollständige Revolution hätte seine
Zeit fi-eilich nicht gestattet, doch durfte ein wahrhaft genialer und
die Zukunft vorausschauender Geist sie vorbereiten. Allein Karl
that gerade das Gegentheil davon. Vielleicht wäre nur ein Ita-
liener und zwar ein Nichtgeistlicher durch die Ueberlieferungen und
die Anlage seiner Nation befähigt gewesen, eine solche Revolution
durchzuführen, aber mehr als tausend Gründe mussten verhindern,
dass ein Italiener jene weltliche Macht erlangte, die Karl der
Grosse besass. — Bedenkt man diesen Mangel eines wahren Im-
pulses, wie er von diesem Fürsten hätte ausgehen können, so ist
es eine um so imponirendere Erscheinung, wenn dann endlich die
Seele zu neuer Thätigkeit erwacht, so viele eingeschlummerte
Empfindungen wieder aufleben und jene lebenskräftige und frucht-
bare Bewegung beginnt, die allmälig bis zu Dante, Michel Angelo
und Galilei führt. Indessen haben wir diesen Gedanken nur zu
verfolgen, soweit er die Vorstellung vom Alterthum und Virgil
betrifft.
Wie ein Bach, bevor er sein sprudelndes Wasser zum Lichte
bringt, lange ungesehen unter dem Erdboden hinfliesst, so führten
die Volkssprachen Europas unter der Decke der lateinischen Lite-
ratur und der Römerwelt ein unbeachtetes Dasein, bis der Zu-
sammenhang zwischen diesen und dem menschlichen Geist immer
1j33 Viipil in der Literatur bis auf Dante.
lockerer wurde, und jene in ihrer Irischen Natürlichkeit hervor-
sprangen. Dies geschah aber auf zwei Arten, Einerseits erschienen
sie auf dem Gebiete der alten Cultur in der Form von Glossen
und Uebersetzungen profaner wie kirchlicher, lateinischer Autoren,
anderseits waren sie der Ausdruck lebendiger Empfindungen, Träger
nationaler Gedanken, die bis dahin in der Literatur nicht bekannt
waren, und strebten danach, eine von der klassischen unabhängige
Literatur zu entwickeln. Diese sich widersprechenden Elemente
hätten sich in der Fortbildung der lebenden Sprachen nicht be-
gegnen können, wenn es damals eine Vorstellung vom Alterthura
gegeben hätte, wie sie die Ivenaissance hatte, als Humanismus und
Klassicismus das volksthümliche Element aus der Literatur heraus-
trieben und erdrückten. Im Mittelalter war das durchaus anders.
Jene Emancipation des Volksthümlichen galt als so berechtigt,
dass es sogar die unbewegliche Härte des Klosters überwand, imd
der Mönch aus seinem Geisteszwange auch einmal zu einer natür-
lichen Empfindung zurückkehren und auf einen Augenblick Mensch
werden konnte. Freilich gab es auch hier wieder Bedenken; denn
die alten heidnischen Vorstellungen der Völker Europas kamen in
der nationalen Volkspoesie sehr zur Geltung, und gar manche er-
hoben ihre Stimme gegen die „eitlen und nichtigen" Volkslieder.
Aber wenn man verstanden hatte, sich mit der antiken Literatur
abzufinden, die doch für den Geist nur eine fremde Erscheinung
war, so musste das viel leichter mit den theuren Erinnerungen an
Vaterland, Muttersprache und Jugendeindrücke geschehen, Dinge die
man nicht zu lernen braucht und nur schwer vergessen kann.
Eine folgenreiche Thatsache! Die gegen die Cultur gleichgültige
Volkspoesie war ihrer Natur nach weltlich und behielt diesen Charakter
auch, wenn der Clerus an ihrer Schöpfung Theil nahm. In ihr mischte
sich also Volk und Clerus, die Trennung hörte auf, und die Laien
strebten nach der geistigen Überherrschaft. So unterstützte die
Geistlichkeit ohne es zu wissen eine Bewegung, die sie schliesslich
ihres unbestrittenen Einflusses auf die Herzen der Menschen
beraubte und die Kirche oft genug zwang, den Bannstrahl zu
schleudern. Aber unzählige moralische wie materielle That-
sachen der Zeit beweisen es, dass die Alleinherrschaft des Glau-
bens vorübergehen \md die Vernunft ihre Rechte fordern sollte. Die
Gründe für die Volkspoesie waren so mächtig und innerlich, dass
sie auch das Lateinische beeinflussten. Es entstand nun jene rhyth-
mische Volksdichtung, die lediglich dem Mittelalter angehört und
grade wie die Dichtungen in der Volkssprache ihre Klassiker auf-
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 169
weist ^). Dies lässt sich uur verstehen, wemi man daö merkwürdige
Scheinleben der lateinischen Sprache in jener Zeit betrachtet; die-
selbe war nicht mehr lebende Sprache im eigentlichen Sinne des
Wortes, aber doch noch immer von einem so ausgedehnten Ge-
brauche, dass sich in ihr eine ganz ähnliche Bewegung wie bei
der Volkspoesie geltend machen musste. Im 12. Jahrhundert be-
gann jene für Wissenschaft und Kunst so fruchtbare Bewegung,
die in der Geschichte des menschlichen Geistes eine grosse Epoche
bezeichnet. Die Laien führten jetzt die -wirksame Verschmelzuug
zwischen der romantischen Ritterpoesie, die ihrem Ursprünge nach
volksmässig war, mit der Cultur und dem überlieferten Wissen
durch. Dagegen zeigten sich die s. g. Vaganten und Goliarden,
deren lateinische Poesien ein nichts weniger als klassisches Ge-
präge tragen, weil sie lateinisch schrieben und gebildet waren,
als Geistliche und legten gegen die Laien, die nicht zur Schule
gehörten, die tiefste Verachtung an den Tag^j. Eben dieser Ge-
brauch des Latein und seine Beziehungen zur Volkssprache
brachten der Volksliteratur die Namen des Alterthums näher, als
es irgend ein anderer Umstand gekonnt hätte , mochte sich nun
die Poesie des Volkes in der heimischen oder lateinischen Sprache
äussern. Hieraus folgte, dass das in eine so neue Strömung ge-
brachte Alterthum abermals eine Verwandlung erlitt, indem es
sich nun nicht mehr mit den kirchlichen und klösterlichen Ideen,
sondern mit romantischen Vorstellungen verband. Es kömmt vor,
dass zur selben Zeit z. B. Ovid allegorisch und nach moralischem
Princip erklärt wird, während die pathetischen Empfindungen und
Thatsachen, die er schildert, nach der romantischen und ritterlichen
1) Thomas von Capua (12—13. Jahrh.) unterscheidet im ,,dictamen"
(Summa dictaminis bei Hahn, Coli. mon. l, 280) drei Hauptarten: „pro-
saicum ut Cassiodori, metricum ut Vergili _, ritmicum ut Primatis." Man
vermuthet dass jener Primas der Primasso des Boccaccio (Decani. I, 7)
sei. Vgl. Grimm, Kl. Schriften III, p. 41 ff. und P. Meyer, Documentti
manuscripts de Taue. litt, de la France conserve's dans les bibl. de lu
Gr. Bret, I, p. 16 ft'.
2) Ein Fahrender schreibt:
„Aestimetur autem laicus ut brutus
Nam ad artem surdus est et mutus."
Ein anderer:
„Literatos convocat decus virginale
Laicorum execrat pectus bestiale."
Vgl. Hubatsch, die lateinischen Vagantenlieder des Mittelalters. (Gör-
litz, 1870), p. 22.
17<i Virgil iu der Literatur bis auf Dante.
Anschauung umges>tiiltet werden. So beeintlusste die volksthüiuliclie
neue Bewegung sogar die Elemente der Cultur, gestaltete die
Sjirache wie die alten dichterischen Formen umi Begebenheiten auf
ihre Weise um und suchte den Widerspruch, der für uns darin
liegt, zu verdecken.
Die künstlerische und geistige Thätigkeit gehörte nun also
entweder den Gelehrten und der Schule an oder sie war volks-
thümlich lind romantisch. Die scholastische Vorstellung vom Alter-
thume war dem Clerus des ältesten Mittelalters eigen, gelangte
aber, gereinigt und vervollständigt bis zur Renaissance, während die
romantische Vorstellung vom Alterthum, die gegen Ende des Mittel-
alters aus der weltlichen Richtung enstanden war, der volksthüm-
lichen und romantischen Literatur allein zu eigen blieb. Es ist
daher nicht wunderbar, wenn oft ein Dichter zugleich gelehrte
Werke und romantische Poesien in einheimischer wie lateinischer
Sprache schaft't. Die scholastische Vorstellung vom Alterthum be-
einflusste nicht sonderlich die künstlerische Empfindung und liess
daher für die romantische Vorstellung noch Raum genug übrig.
Wie die letztere auf Virgil einwirkte, haben wir erst im zweiten
Theile des Werkes zu untersuchen. — Nicht in allen Ländern des
westlichen Europas nahm das Alterthum eine romantische Form
au, wie ja auch die Volksliteratur in einigen Ländern früher, in
anderen später begann. Dies hatte seinen Grund darin, dass die
klassischen Studien in dem einen Lande dem Geiste näher standen
und lebenskräftiger waren, als in dem anderen. Die nicht latini-
sirten Völker keltischen oder germanischen Stammes gaben sie
zuerst auf, erst später Frankreich und die Provence; dann folgten auch
Italien, Spanien und Portugal diesem Beispiele. In Italien mussten
sie natürlich mehr als irgendwo heimisch sein; betrachtete man doch
dies Land als den eigentlich klassischen Boden. Die Vulgärsprache
und das Latein standen sich hier weniger schroff entgegen. Erstere
war nicht nur Tochter des Letzteren und eine natürliche und ge-
setzmässige Umgestaltung desselben, sondern besass bei aller Indi-
vidualität noch so viel von der Muttersprache in sich, dass sie sich
am leichtesten den klassischen Formen anschmiegen konnte. Sie
war daher unter den lebenden Sprachen die klassische Sprache der
Renaissance, welche sich ja auch zuerst in Italien und dann erst
in anderen Ländern entwickelte.
Einzelne Ausdrücke nichtlateinischer Schriftsteller des Mittel-
alters und die Erwähnung von Schulen, welche Laien in Italien
bildeten, hat einige moderne Gelehrte zu der Ansicht geführt, dass
Virgil in der Literatiu- bis auf Dante. 171
daselbtit schon vor Entwickelung der Yolksliteralur die Bildung der
Laien grösser als anderswo gewesen sei, und diese Thatsache hat
man mit der Renaissance iu Verbindung gebracht^). Ich kann
indessen nicht glauben, dass dies der Fall gewesen sei; der Be-
weis dafüi- lässt sich hier nicht liefern, aber das muss man we-
nigstens zugeben, dass sich die Laien in Italien, bevor es eine
Volksliteratur gab, durchaus nicht productiver zeigten, als in an-
deren Ländern. So paradox es auch klingt, sind doch die eigent-
lichen Vorlcäufer der Renaissance nicht in der Ueberlieferung der
antiken Elemente zu suchen, sondern in den Elementen der Neue-
rung ; nicht in der lateinischen, sondern in der Volksliteratur. Bei
dem italienischen Volke zeigte sich zwar das deutliche Bestreben, sich
die klassische Bildung anzueignen, jedoch erst in dem Augenblicke,
als sich die Volksliteratur entwickelte. Die Initiative hierfür
lag auch beim Clerus, und vorausgesetzt, dass die Laien in
Italien gebildeter gewesen wären, so war ihre Bildung doch weder
an Umfang noch Richtung anders als die des Clerus. Mönch und
Laie hatten dieselbe Vorstellung vom Alterthume, und es dauerte
lange, bis auch der Letztere sich von den mittelalterlichen Ideen
losriss, imd seine Studien so einsichtsvoll wurden, wie sie sich in
der Renaissauce zeigten. Es galt ja, den Geist, dem durch den kirch-
lichen Einfluss alles Verständniss für das Antike abgeschnitten war,
ganz und gar zu reformiren, zu entwickeln und zu erheben, und
seine eingeschlummerten Kräfte zu erwecken. Das konnte aber nur
geschehen, wenn er sich ganz von der Tradition losriss. Die Be-
wegung, in welche die neue Kunst und die Volkspoesie den Geist
versetzte, führte ihn dahin, eine richtige Idee vom Alterthum wieder
zu gewinnen, während der Gebrauch des Lateinischen nach klassi-
schen Vorbildern nur eine unfruchtbare Stagnation bewirkte. Das
zeigte sich klar in dem Unterschiede von Originalität und (Genialität bei
Dante und anderen, je nachdem sie lateinisch oder italienisch schrieben.
Die Italiener traten also in ganz gleicher Weise wie die an-
deren Völker in die das moderne Leben hervorrufende Bewegung
ein, aber jener geistige Aufschwung, der aus der Schöpfung eines
neuen Kunsttypus entstand, war doch bei ihnen weit mächtiger,
weil ihre Volksliteratur, obwol sie sich später als anderswo
entwickelte, grösser, künstlerischer und monumentaler war,
und es ihnen zuerst gelang, das Plebejische in der Kunst abzu-
1) Es ^st die Behauptung Giesebrechts: „de litterarum studiis
apud Italos primis medii aevi saeculis." Berlin 1845. Vgl. Burckhardt,
Die Cultur der Renaissance in Italien, p. 173 ff.
172 A^irgil in der Literatur bis auf Daute.
streifen. Bei ilem rciu Volksthümlicheu hielt sieh die iliilienit^che
Poesie wenig auf'); ein nationales Epos von phantastischem
Charakter und volksmässigem Ursprung hat sie nicht geschaffen,
weil im italienischen Volksbewustsein selbst unabhängig von der
Cultur die Geschichte und das reale Alterthum eine Hauptrolle
spielten, Elemente die sich mit einer epischen Schöpfung nicht ver-
tragen; und dies Verhältniss bestätigte sich nicht nur durch <las,
was die Italiener dachten, sondern auch durch die Vorstellung,
die das übrige Europa von Italien hatte. Nicht einmal an volks-
mässigen lateinischen Lyrikern war die Halbinsel so reich wie an-
dere Länder^), imd auch die Volkslyrik gab bald das Volksmässige
auf und gelangte schneller zu künstlerischer Vollendung.
Wer die Volksliteratur des gesammten Mittelalters betrachtet,
wird finden, dass nicht alle Literaturen der Völker gleich tahig
waren, einen klassischen Charakter anzunehmen und so ein Cultur-
element für die künftige Zeit abzugeben. Die künstlerische Mittel-
mässigkeit, zu der die volksthümlichen Literaturen in Deutschland,
der Provence und Frankreich gelangten, war von ziemlich gleichem
Werthe. Dieselben bezeichneten nur eine vorübergehende Phase,
wie ja auch die verschiedenen Volksdialekte zu (Irunde gingen,
ohne sich literarisch zu entwickeln und eine feste Gestalt zu ge-
winnen. Die Renaissance bewirkte daher einen gi-ossen Riss
zwischen diesen Literaturen und der modernen Zeit der betreffenden
Völker. Man vergass jene Sprachen und Literaturen ganz und
gar und lernt sie auch heute nur noch auf gelehrtem Wege
kennen mit Hilfe der Grammatik, des Wörterbuches und der
Uebersetzuug. Nur die italienische Nation vermochte es, in der
Sprache und Literatur des Volkes den Klassicismus zu en-eichen,
ja man dachte hier schon in theoretischen Werken über das „vol-
1) Vgl. hierüber Wolf, Ueber die Lais, Sequenzen und Leiche,
p. 112 u. 223 f.
2) Ich kann dies indess nicht so bestimmt behaupten, da nur die
italienischen Gelehrten bis jetzt die Wichtigkeit dieser literarischen Denk-
mäler noch nicht eingesehen zu haben scheinen und die Bibliotheken
wenig nach solchen durchforscht haben. Die bekannten lateinischen
Vaganteulieder geben selten Anzeichen italienischen Ursprunges. Die Idee,
dass der beste Dichter unter ilnien Italiener ist, ist von Burckhardt
a. a. 0. p. 174 f. zu leichtgläubig aufgenommen. Die Hdss., die mau bis
jetzt von diesen Compositionen kennt, gehören nicht italienischen Biblio-
theken an. Und abgesehen von den Vagantenliedern scheint Italien auch
an lateinischen Volksliedern im Mittelalter ärmer als andere Länder.
Vgl. Du Méril, Poesies populaires latines du moyen àge. Paris 1847.
Yirgil in der Literatur bis auf Dante. 173
gare illustre" und die neue poetische Tendenz nach \), als anderswo
noch keine Rede davon war. Das Ziel wurde anfangs unabhängig
von einer Nachahmung oder Reproduction des Antiken verfolgt.
Letzte und unvermeidliche Bedingung der neuen Kunstform war
wie bei der römischen Kunst, „la gloria della lingua" und „il
bel parlar gentile ^)". Darum sind die Trecentisten auch die wahren
Klassiker der Italiener, welche zu der nachfolgenden italienischen
Literatur und Cultur in die engste Beziehung treten, und bis auf
den heutigen Tag jenen viel näher stehen, als die gleichzeitigen
Schriftsteller den anderen Nationen. Man dehnt zwar die Be-
zeichnung klassisch im Deutschen auch auf Wolfram von Eschen-
bach, Gottfried von Strassburg und die andern hervorragenden
mittelhochdeutschen Dichter aus, die doch kaum für jene Periode
der Literatur klassisch sind. Aber trotz der Bemühungen der Gelehrten,
die freilich von einem nationalen Gesichtsijunkte aus betrachtet,
die höchste Bewunderung verdienen, werden jene Dichter in Folge
der grossen Kluft, die sie von der Gegenwart trennt, doch nie-
mals die Bedeutung für die nationale Cultur erreichen, welche für die
Italiener ihre alten Dichter haben, die sich um den erhabenen und
wahrhaft italienischen ,, Dante Alighieri" schaareu.
1) Vgl. Bartsch, Zu Dante's Poetik im Jahrbuch der deutschen
Dantegesellschaft III, p. 303 ff.
2) Nach dieser Seite hin äusserte sich besonders der künstlerische
Instinct bei den Italienern. Da alles dem Geschmacke des einzelnen
überlassen blieb, und die Schriftsprache sich noch nicht völlig fixirt
hatte, wurde es den kleineu Geistern viel schwerer, italienisch als la-
teinisch zu schreiben. Hierfür ist eine Stelle aus einem Sieneser Codex
(Fior di Virtù) bezeichnend: „poiché di vocaboli volgari sono molto igno-
rante, però che io gli ho poco studiati; anche perche le cose spirituali, oltre non
si possono sì propriamente esprimere per paravole volgari come si sprimono
per latino e per grammatica, per la penuria dei vocaboli volgari. E perciò
che ogni contrada, et ogni terra ha i suoi jaropri vocaboli volgari diversi da
quelli de l'altre terre et contrade; ma la grammatica et latino non è
così, perchè è uno apo tutti e latini. Però vi prego che mi perdoniate
se non vi dichiaro perfettamente le sententie et le verità diquesto
libro." Bei De Angelis, Capitoli dei Disciplinati etc. (Siena, 1818). Vor
einem hen-ischen Geschmacke also mnsste man um Entschuldigung bitten,
wenn man sich zu schwach fühlte. Das Latein, wie roh es auch war,
hiesB damals „grammatica", weil es bestimmtere Regeln hatte und das
künstlerische Bedürfniss dabei nicht zur Geltung kam. Dies Wort ,,gi'am-
matica" hat Pott (Zeitschr. f. vergi. Sprachforsch. T, p. .31.S) merkwür-
diger Weise nicht verstanden.
174 Virgil iu der Literatur bis auf Dante.
Vierzehntes Capitel.
Nach all dem Gesagten wird man den geschichtlichen Grund
verstehen, weshalb die erhabenste Schöpfung und edelste Gestal-
tung der mittelalterlichen Vorstellungen über Virgil sich am Ende
des Mittelalters in Italien zeigt, und zwar nicht als Werk eines
Geistlichen, sondern eines Laien. Wer die Beziehungen zwischen der
geistigen Entwickelung und der Geschichte von dem Ruhme Vir-
gils aufmerksam verfolgt hat, wird jene Anziehung, die Virgil auf
Dante ausübt, der gi'össte lateinische auf den grössten italienischen
Dichter, nicht für einen Zufall halten.
Dante zeigt sich in seinen Kenntnissen und seiner geistigen
Richtung ganz als Mann des Mittelalters, der sich völlig von den
Männern der Renaissance unterscheidet. Er ist weder Gramma-
tiker, noch Philolog und Humanist von Profession, sondern ein
warmer und enthusiastischer Geist von hervorragend poetischer Rich-
tung. Für jede grosse und erhabene Empfindung ist er empfìinglich,
aber beherrscht von einem Verstände, dem es ein unwiderstehliches
Bedürfniss war, sich in den tieft-ten Speculationen zu ergehen. Er
besitzt die ganze encyklopädische Kenntniss der Scholastik; freilich
stets mit der vorwiegenden Neigung für den speculativen Theil.
Diesem ordnet er auch die Literatur, selbst die volksmässige unter,
die er doch sowol in der Comedia wie in seiner Lyrik und Prosa
in einer bis dahin noch nicht dagewesenen Weise vertieft. Alle
strebsamen Geister der Zeit, zu denen er auch gehörte, hatten eben
jene speculative Tendenz. Aber was Dante auszeichnet, ist die
Verbindung der Speculation mit der Poesie und zwar grade der
volksthümlichen, von der die anderen Gelehi'ten die Speculation
fernhielten. Darum kann man Dante nach seinen Studien
und seiner Thätigkeit zum Clerus rechnen, in Wahrheit ist er
Laie, nicht nur seinem Stande, sondern auch seiner Empfindung
und Tendenz nach, und bei keinem mittelalterlichen Schriftsteller
geht die Wissenschaft so in den Laien über. Jetzt erhebt sich
die Thätigkeit der Laien aus der niederen Sphäre des Volksmässigen
zur wirklichen Kunst und Wissenschaft. Die für die Zeit bewun-
derungswürdig kühne That, die Volkssprache zum Organ eines
Werkes zu machen, das nach seinen geschichtlichen und wissen-
schaftlichen Momenten, wie nach der darin enthaltenen historisch-
philosophischen Speculation so überaus gross ist, zeigt allein, wie
hoch jener göttliche Geist über den Zeitgenossen steht. Alle Ele-
mente der Gegenwart und Vergangenheit weiss er zu beherrschen
Yirgil in der Literatur bis auf Dante 175
und verbindet sie in originellster Weise harmonisch mit dem, was
seine Zeit bewegt^). Es war ein allgemeines Bedürfniss, den
Privatbesitz der Wissenschaft für eine Kaste aufzulösen, und
manche hervorragende Männer hatten dies trotz der Vorurtheile
ihrer Zeit empfunden. Auch der Zeitgenosse Dantes, Raimundus
Lullus, ein starker Geist, hatte das Streben danach, aber was er
als volksthüralicher Schriftsteller und Dichter dafür that, war dürftig
genug und lässt die wunderbare Schöpfung Dantes nur in um so
hellerem Lichte erscheinen^). In dieser Beziehung ist Dante in
der That ein Vorläufer der Renaissance; er ist es aber auch in
seinem Studium des klassischen Alterthums.
Sein Werk ist der Grundlage, nicht dem Zwecke nach eucyklo-
pädisch; Vernunft und Religion, die beiden grossen Triebfedern
der geistigen Thätigkeit seiner Zeit, halten sich in jener erhabenen
Conception das Gleichgewicht, und nicht aus ihrem Widerspruche
miteinander, sondei-n ihrer Hannonie entspringt die Poesie
Dante's. Die Theologie steht für Dante wie für alle Scholastiker
obenan, die Philosophie ist ihr nur dienende Magd. Die Vernunft
nimmt aber bei ihm einen ganz anderen Ehrenplatz, als in den
philosophischen Schulen ein. Sie ist füi- ihn nicht nur das Organ der
Gegenwart, sondern er betrachtet sie in ihi-er herrlichen Geschichte
und wird von Enthusiasmus entflammt, wenn er sieht, welche
Eroberungen sie gemacht hat. Sie zeigt sich ihm im Alterthum,
dessen Werke ihm direct bekannt sind, nicht etwa aus Anthologien und
Repertorien, wie so manchem hervorragenden Scholastiker'^), denen
1) „Questo (volgare) sarà quel pare orzato del quale si satolleranno
migliaia e a me ne soverchieranno le sporte piere. Questo sarà luce
nuova, sole nuovo il quale sorgerà ove l'usato tramonterà, e darà luce
a coloro che sono in tenebre e oscurità, per lo usato sole che a loro
non luce." (Convito I, 13). Wie klein und lächerlich erscheint vor der
wunderbaren Sehergabe jenes gewaltigen Geistes der Hochmuth, mit
welchem die „Alten" der Zeit auf das Italienische herabblicken,
wenn sie wie Giovanni del Virgilio (carm. v. 15) dem Dante
riethen, sein Gedicht lateinisch zu schreiben, weil ,,clerus vulgaria
temnit !"
2) Sehr richtig hat Erdmann, Grundriss der Gesch. der Phil. I
p. 367 (2 Ausg.) mit wenig Worten in der Beziehung Dante und Rai-
mundus Lullus mit einander verglichen.
3) Abälard gesteht geradezu, dass er die klassischen Citate aus
zweiter Hand hat (Op. p. 1045) „quae enini superius ex philosophis
collegi testimonia, non ex eorum scriptis, quonim panca novi, imo ex
libris Sanctorum Patrum collegi."
176 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
es ja nur um die Speculation ihrer Zeit, nicht aber um die directe
Kenntniss der Geschichte des Wissens und der älteren grossen
Producte des menschlichen Geistes zu thuu war. Das Alterthum
wurde also von Dante in dieselbe erhabene Sphäre versetzt, zu
der er ja auch die Volkssprache und die Laienthätigkeit erhoben
hatte. Wir empfinden, wie es seine Anziehungskraft freier ausübt
und ahnen die Nähe der Renaissance^).
Dante war weit entfernt davon, das Alterthum so zu kennen
wie später Poliziauus. Im Allgemeinen ruht seine Kenntniss des
Alterthums auf derselben Grundlage wie bei dem Clerus. Seine
klassischen Studien beschränken sich auf den von der Schule vor-
geschriebenen Kreis. Er versteht nicht einmal Griechisch^) und
von den lateinischen Schiiftstellern kennt er vielleicht wenigere, als
Rhabanus Maurus und Johann von Salisbury'). Seine gramma-
tischen Studien gehen nicht über die im Mittelalter gewöhnlichen
Kenntnisse hinaus*). Da, wo er von alten Autoren spricht, ge-
wisse Etymologien, Definitionen oder eine literaturgeschichtliche
Auffassung vorbringt, erkennt man oft die Fehler, die in den
Schulen des Mittelalters gemacht zu werden pflegten, wieder'').
Als Latinist steht er tief unter den späteren Humanisten, ja man
muss sagen, dass viele seiner Zeitgenossen ein besseres Latein
schrieben.
1) Die Beziehungen Dantes zur Renaissance haben nur oberflächlich
berührt Burckhardt, a. a. 0. p. 199 und Voigt, Die Wiederbelebung
des klasäischeu Humanismus p. 9 ff., ausführlicher Weg e le, Dante
Alighieris Lebeu etc. p. 568 ff. und Schuck in der unten citirten
Schrift.
2) Dass Dante kein Griechisch verstand, muss jeder einsehen, der
selber Griechisch versteht und sich mit dem Mittelalter beschäftigt hat.
Cavedoni hat hierüber das uöthige zusammengestellt in seinen: „Osser-
vazioni critiche intorno alla questione se Dante sapesse il greco." Modena
1860. Vgl. auch Schuck a. a. 0.
3) Ueber Dantes klassische Studien vgl. Schuck: Dantes klassische
Studien und Brunetto Latini in den Neuen Jahrb. f. Phil. 1865, 2. Ab-
theilung p. 253—289.
4) Ueber Cicero's Laelius sagt er: „E avvegnaché duro mi fosse
prima entrare nella loro sentenza, finalmente 'ventrai tant' entro quanto
l'arte di grammatica ch'io avea e un poco di mio ingegno potea fare."
Convito II, 13.
5) Merkwürdig sind seine Vorstellungen über die Tragödie und Co-
mödie. Aus seinen Werken geht nicht hervor, dass er Plantus, Terenz
oder den Tragiker Seneca, die doch im Mittelulter bekauut waren, kennt.
Die Terenzstelle, auf die sich Inf. XVIII, 133 bezieht, ist \vo\ dem Lae-
lius entlehnt.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 177
Was Dante'ö Anschaixuug vom Altertlium betrifft, so weicht
seine Bildung nicht von der kirchlichen des Mittelalters ab, und das
Alterthum stellt sich ihm unter einem keineswegs richtigen Ge-
sichtspunkt dar. Als Gelehrter ist er Scholastiker, und seine
geistige Richtung geht auf eine philosophisch-theologische Specu-
lation aus. Als Scholastiker betrachtet er auch das Alterthum, und mit
der allegorischen Auslegung ist sein tiefer Geist so vertraut, dass er
sich selbst allegorisirt, und sich ihm die philosophischen und theo-
logischen Ideen während er dichtet unter Bildern und Sj^mbolen
darstellen, die eine Hauptrolle in seiner Schöpfung spielen. Allegorien
findet er mit leichter Mühe nicht nur in Virgil, sondern auch in
Lucan, Ovid vmd Andern^) und beschränkt die allegoi'ische Aus-
legung nicht blos auf poetische Erfindungen, sondern wendet sie
ganz in der Weise des Mittelalters auch auf historische Thatsachen
an, die ihm, ohne dass er ihre Realität aufgibt, als allegorische oder
mystische Symbole einer Idee erscheinen.
Aber Dante unterscheidet sich doch, was das Studium des
Alterthums betrifft, stark von den kirchlichen Schriftstellern. Als
Laie und Weltmann zwar fromm, aber nicht asketisch gesinnt,
hat er eine erhabene Vorstellung von der menschlichen Vernunft,
und obgleich er sie für beschränkt hält, verehrt er die, welche
sie unabhängig von einer Offenbarung und vor Christi Geburt zur
Darstellung brachten. Er kennt die Alten deshalb nicht nur aus
der Schule und hält ihr Studium nicht blos für eine unvermeid-
liche Nothwendigkeit, sondern studirt sie selbst, nicht als Philolog
und Humanist, sondern als Dichter und Denker. Der scholastische
Zweck ist damit fast ganz aufgegeben, vind die Alten dienen jetzt
einer wissenschaftlichen Thätigkeit. Dante ist fi-eilich nicht der
Begründer einer solchen, denn schon die Scholastik hatte das Stu-
dium des Aristoteles betont, aber er verehrte Philosophen, Prosaiker
und Dichter in gleicher Weise ^). Dabei legte er für Letztere eine
aus seiner Richtung leicht erklärbare Vorliebe an den Tag, die
wir bei dem Clerus des Mittelalters natürlich in der Weise nicht
finden. Hier ist nicht mehr von Verdacht, Furcht und Beschrän-
kungen gegenüber den Schriften der Heiden die Rede, um ganz
von dem Hasse zu schweigen, den so viele alte Asketen gegen die
Heiden äusserten. Dante steht mit den Repräsentanten der mittel-
1) Convito, II, 1. IV, 25, 27, 28.
2) Von einem Ausspruche luvenaVs sagt er einmal: „e in questo (con
reverenzia il dico) mi discordo dal poeta." Convito, IV, 29.
Comparetti, Virgil im Mittelalter. 12
178 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
alterlichen Cultur so wenig auf einer Stufe, dass er nicht nur mit
den antiken Dichtem ganz vertraut umgeht, sondern sogar jene
besonders beliebten christlichen Dichter^), Prudentius, Sedulius,
luvencus u. A. ganz bei Seite lässt, was bei einem so christlich
gesinnten Manne überraschen muss. Ja, er nennt sie nicht einmal,
obgleich er doch in der theologischen Literatur wol bewandert
war und den kirchlichen Liedern poetischen Werth beiraass. Dante
.war in viel höherem Grade christlicher Dichter, als jene,
welche das Christenthum in widerstrebende Formen einzwängen
wollten. Er schaffte eine Formel für das Christenthum von
eigenem Gepräge, die freilich nur dem theologisch-philosophischen
Christenthum angepasst ist, wie es aus der katholischen Kirche,
d. h. der Vereinigung des Christenthumes mit der griechisch-latei-
nischen Cultur und der römischen Welt hervorging. Dreizehn Jahr-
hunderte hindurch hatte sich dasselbe scheinbar unauflöslich mit
Elementen der antiken Cultur verbunden. Dante repräsentirt den
erhabenen Augenblick, wo beide sich znerst die Waage halten.
Der Augenblick musste voi'übergehend sein, aber Dante wollte und
konnte ihn nicht als solchen betrachten. Er stand ja der religiösen
Idee nicht feindlich gegenüber, war auch kein Freidenker^), noch
konnte er voraussehen, dass jene Thätigkeit des Verstandes, die das
Alterthum wieder zu Ehren brachte, schliesslich die religiöse Empfin-
dung abschwächen und eine fortwährende Abnahme des Christen-
thums zwar nicht in den äusseren Formen aber in dem Gewissen
1) Eberhard von Bethune, eine grammatische Autorität der Zeit^
verlangt, dass man diese Dichter in der Schule lesen solle. (Tractat. Ili,
De versificatione). Ein anderer ebenso bedeutender Manu, Alexander
von Villedieu empfiehlt die Lecture der christlichen Dichter (besonders
seiner eignen Werke), und räth vom Lesen der Alten ab. VgL Thurot,
a. a. 0. p. 98.
2) Scartazzini („Dante Alighieri, seine Zeit etc." Biel, 1869, p. 232
ff. und „Zu Dantes innerer Entwickelungsgeschichte" in den Jahrb.
d. deutschen Dantegesellschaft III, 19 ff.) behauptet, gestützt besondere
auf den letzten Gesang des Purgatoriums, dass der Dichter zu einer be-
stimmten Lebenszeit dem Zweifel anheimfiel, ohne dass er darum je
Skeptiker oder indifferent ward. Auch ich habe mich nie davon über-
zeugen können, dass ein über seine Zeitgenossen so hervorragender Geist,
niemals oder wenigstens auf Augenblicke am christlichen Glauben ge-
zweifelt haben sollte. Das konnte jedoch immer nur vorübergehend sein,
denn es war damals unmöglich, auf dialektischem Wege und mit ruhigem
Gewissen den Zweifel zu begründen. Der kräftigste Geist war zu macht-
los, die harte Schale der Religion zu durchbohren. Die Erfahrungswissen-
schaft aber war noch nicht vorhanden.
Virgil iu der Literatur bis auf Dante. 179
der Menschen bewirken musste. Die Kirche sah das ein und
erklärte jener Bewegung, wie Dante, einem ihrer hervor-
ragendsten Repräsentanten, den Krieg, und die Thatsachen haben
bewiesen, dass sie dabei ihr Interesse ganz richtig wahrgenommen
hatte.
Jene Hinneigung Dante's zum Alterthum steht in genauer Be-
ziehung mit seiner Empfindung für die autike Poesie. Er ist ja in
erster Linie immer Dichter. Weib, Vaterland, Natur, Glaube und
Wissen, Alles erscheint ihm poetisch. Wie die alten Mönche er-
blickt er zwar das Alterthum durch das Prisma der Philosophie und
Theologie, daneben aber fühlt er in sich die poetische Empfindung
der Alten erwachen, wie sie ein Mönch nie gefühlt hat. Sein
speculativer Geist will alle Gegenstände einer poetischen Empfin-
dung, den christlichen Glauben und die antike Ueberlieferung, die
Liebe zu Weib und Vaterland und die Liebe zur Wahrheit philo-
sophisch mit einander verbinden. Aber sein dichterisches Gefühl
ist dabei nicht einseitig, sondern universal und steht fast auf der
Stufe des modernen Menschen, der die Poesie des Aeschylos und
Vii'gil wie die David's, Shakespeare's und Goethe's zu würdigen
weiss. Hierin eben zeigt sich die grösste Kluft zwischen ihm und
dem mönchischen Mittelalter : Dante empfindet so lebhaft die Poesie
des Alterthums, dass er zu ihrem Ausdrucke nicht mehr die la-
teinische Sprache und den lateinischen -Vers nöthig hat; die
Sprache des Volkes ist ihm vielmehr der natürlichste und will-
kommenste Ausdruck seiner Empfindungen. Wenn ein Dichter
Bilder von solchem Gepräge wie das folgende zu schafl"en weiss:
„Quale nei plenilunii sereni
Tri via ride fra le ninfe eterne"
abgesehen von so vielen anderen, die seit Jahrhunderten kein la-
teinischer Versmacher hätte schaifen können, braucht man wol nicht
erst zu fragen, ob Dante eine Empfindung für die alte Poesie
hatte. Unwiderstehlich stellten sich dem Geiste des Dichters die
Gestalten des Alterthums dar, ohne dass man ihn je einen Nach-
ahmer nennen könnte. Bilder und Gleichnisse schöpfte er oft aus
der Natur wie seinen ßeiseerinnerungen , aber zumeist aus der
Geschichte und Poesie des Alterthums. So vertraut wie er mit
dem poetischen antiken Stofi'e war, wollte oder konnte sich kein
mittelalterlicher Schriftsteller zeigen^).
1) Ueber das antike Element in Dante vgl. Fauriel, Dante et les
origines de la langue et de la litt. ital. II. p. 420 ff.; er hat aber dabei
12*
180 Virgil in der Literatur l»is auf Dante.
Daute wird besonders von zwei erhabenen EnipBndungen be-
herrscht, der Liebe zum Vaterlaude und der Liebe zur Erkenntniss
der Wahrheit. Alle Neigungen fasst er in dem Worte „amore"
zusammen, das bei ihm die weiteste Bedeutung erhält und auch
die Liebe zum idealisirten Weibe, womit er einen mystischen Be-
BegriflF verbindet, bezeichnet. Jene beiden Empfindungen vereinigen
sich eng mit einander in seiner politisch-historischen, wie theo-
logisch-philosophischen Anschauimg und zeigen sich in dem Eifer,
mit dem er das Gebiet des Wissens durchdringt. Die Hauptnahrung
für den Geist findet er dabei in dem rein menschlichen Alterthum,
in der Stellung des antiken Ideals in jener von ihm ersehnten po-
litischen Organisation und in der historischen Grundlage, auf der
seine patriotischen Ideen beruhen. Mit seiner glühenden Liebe zu
Italien steht die Liebe zum Alterthum in engster Beziehung. Der
Zusammenhang zwischen Römern und Italienern erscheint ihm als
ein nie unterbrochener: die römische Geschichte beginnt mit Aeneas
und geht bis auf seine Zeit. Als Poet und Patriot empfindet er
den Ruhm der Römer als den Ruhm der Italiener. Für ihn gibt
es in der Geschichte keinen andern Gesichtspunkt, als den im
Mittelalter allgemeinen, insofern er sich auf die römische Gescljichte,
die auf die Idee vom Weltreiche hinausläuft, beschränkt. Was Nicht-
ilalienera nur als ein abstracter Gedanke erschien, indem sie sich
von der Geschichte der Cultur und Religion leiten liessen, das
empfand und betrachtete er, der Italiener, als die Grundlage für
rechtmässige Erwartungen der Nation. Wie diese Empfindungen
in der „Divina Comedia" und in seiner Prosa Ausdruck gefunden
haben, ist Jedermann bekannt.
Diese Kraft des Nationalgefühls erklärt uns Dante's Vorliebe
für Virgil. Er betrachtet ihn als einen vor allen nationalen Dichter,
„la nostra maggior Musa" und „il nostro maggior poeta". Mit
grosser Bewegung erkennt er in den Erzählungen des Dichters
die alte Geschichte Italiens und meint, dass für Italiens Wol
„ morì la vergine Camilla
Eurialo e Turno e Niso di ferute."
Es genügt, hierbei den Leser an das zu erinnern, was wir über die
Aeneis gesagt haben, die erhabenste poetische Offenbarung des rö-
mischen Gefühls. Zahllose Stellen aus der Divina Comedia, besonders
der schöne Gesang über den Siegeslauf des römischen Adlers, das Buch
nicht beobachtet, bis zu welchem Grade dies Element Dante eben so
geläufig war, wie dem ganzen Mittelalter. Hierfür hat Piper, Mytho-
logie der christl. Kunst I, p. 255 ff. mehr gethan.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 181
über die Monarchie und alles, was er, gestützt auf Virgil, über die
Rechtmässigkeit der römischen Herrschaft sagt, zeigen, wie er bei
solchen Empfindungen mit Virgil harmoniren musste. Es klingt
unglaublich, aber ist doch wahr, dass dies Gefühl, das Dante zu
jener bekannten politischen Utopie führte, eben in dem wurzelte,
was jene Utopie vereiteln musste, in der Idee einer nationalen In-
dividualität ^j. Dante hat gut reden, dass er ein Weltbürger sei;
seine patriotischen Ergiessungen, seine in Vers und Prosa bezeugte
Vorliebe für die alten wie modernen „latini", sein Enthusiasmus
für Rom, den Ruhm Italiens, der Eifer, mit dem er das Ansehn
der italienischen Sprache vertheidigt gegen jene „Abscheulichen",
welche die Sprache des Volkes verachten^), machen ihn zum
grossesten Repräsentanten der italienischen nationalen Idee und
zeigen, dass er sich vielmehr als Italiener, wie als Weltbürger
fühlte. Die Geschichte sagt uns, welche Stellung für Italien in
dem „Weltreiche" vorhanden wäre. Jene Idee war aber nicht Dante's
Eigenthum, sondern allen, welche dieselbe schon gehegt hatten, ab-
gesehen von den Beziehungen, die sie dabei zwischen Papstthum und
Kaiserreich festhielten, war Italien immer als der Mittelpunkt für
die E^iserherrschaft erschienen. Dante fand also in der^eneis nicht
etwa nur die Grundlage für eine nüchterne politische Theorie, son-
dern auch ein Object seines glühendsten Enthusiasmus. Wer sich in
die verschiedenen Epochen der Geschichte zu versetzen vermag, wird
begreifen, wie Virgil im 13. Jahrhundert einem solchen italienischen
Denker und Patrioten erscheinen musste. Für die Italiener war
es eine moralische Unmöglichkeit, ohne das römische Alterthum
zu ihrer Nationalitätsidee vorzudringen. Der Zauber, den jenes auf
sie ausübte, als die neue Bewegung begann, hatte trotz aller
Utopien seinen Grund in dem Nationalgefühl. Die tragikomische
Geschichte Cola Rienzi's ist, so thöricht auch das ganze Beginnen
erscheint, in ihren Ursachen doch hochpoetisch und grossartig. Die
1) „Nos autem cui mundus est patria velut piscibus aequor, quam-
quam Sarnum biberimus ante dentes, et Florentiam adeo diligamus, ut
quia dileximus patiamur iniuste etc." De vulg. eloq. I, c. 6. Für den
Verbannten, dessen Patriotismus tief verwundet war, war die abstracte
Vorstellung von der Idee einer allgemeinen Verbrüderung der Menschen
ein Trost.
2) „ .... e tutti questi cotali sono gli abominevoli cattivi d'Italia che
hanno e vile questo prezioso volgare, lo quale se è vile in alcuna cosa
non è se non in quanto egli suona nella bocca meretrice di questi
adulteri." Convito, I, 11.
132 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
Idee des KaiseiTeiches musste ein italienischer Gedanke sein, wie
die Kaiserherrschaft wirklich eine italienische That war.
Virgil wird also von Dante nicht blos bewundert, weil er der
Ueberlieferung nach einen so grossen Ruhm geniesst. Dante sieht
vielmehr ein, dass die Ueberlieferung Virgil mit Recht als den grossesten
römischen Dichter betrachtet und würde das sogar aus sich selbst
wissen. Er kennt ja zur Genüge die Abhängigkeit so vieler Dichter
von Virgil, denen er als „onore" und „lume" erscheint, er weiss,
dass ihm Alle Ehre erweisen („fanno onore"), und mit Recht („di
ciò fanno bene") ; er weiss, welche Stellung die Geschichte dem Homer
anweist („che le muse allatar più ch'altri mai"), obwol er ihn in
Wirklichkeit nicht kennt ^), und für ihn ist daher Virgil der grosseste
Dichter, dem Homer selber Ehre erzeigt, indem er ihm an der
Spitze der anderen Dichter wie ein erhabener Fürst entgegenkömmt.
Als Dichter ist er sich der hohen Vollendung der Aeneis bewusst;
auf dieses Kunstwerk ist er als Italiener stolz, weil lateinisch und
italienisch die beiden Nationalsprachen Italiens sind, und Virgil der
Ruhm der Römer ist. Er zeigte: „ciò che potea la lingua nostra".
Den lebhaften und tiefen Eindruck, den die Aeneis noch mehr
als die Bucolica auf ihn gemacht hat, nimmt man an vielen »gellen
seines Werkes wahr. Mit Recht kann er daher sprechen vom „lungo
studio e '1 grande amore", die er dem Virgil gewidmet hat. Wie
er aber über die wirkungsreiche Sprache Virgils denkt, zeigt er
da, wo er Beatrice zum Virgil sagen lässt:
„Venni quaggiù dal mio beato scanno
Fidandomi nel tuo parlare onesto
Ch'onora te e quei ch'udito l'hanno."
Inf. II, 112.
Er kennt die Aeneis von Anfang bis zu Ende^), aber wie anders
kennt er sie doch, als jene Leute, welche die Poesie des Virgil
1) Die Trojanische Sage kennt er nur aus lateinischen Schriftstellern
und nur in einer Vermischung mit mittelalterlichen Vorstellungen, wie
man aus seiner Schilderung des fantastischen Unterganges des Odysseus
(Inf. XXVI, 91 S.) sieht. Nicht einmal Dictys und Dares scheint er ge-
kannt zu haben, eben so wenig wie den Homerus latinus. Vgl. Convito
I, 7. Den Homer citirt er gewöhnlich nach Aristoteles, ein Mal nach Horaz.
Vgl. Schuck, a. a. 0. p. 272 tf.
2) Virgil sagt ihm:
„ e così canta
L'alta mia tragedia in alcun loco;
Ben lo sai tu che la sai tutta quanta".
Inf. XX, 112.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 183
nur zerrissen um Centoneu daraus zu machen. Er fühlt sich von
glühendem Enthusiasmus hingerissen:
„ . . . . della divina fiamma
Onde furo allumati più di mille
Deir Eneide dico ')".
Die Art, wie Dante den Virgil in seinen kleineren Werken be-
nutzt, zeigt, dass dieser sein Lieblingsschriftsteller war, der schon
seinem Geiste nahe stand, bevor er ihn noch zum Begleiter seiner
mystischen Reise gemacht hatte, und es gibt in der ganzen ita-
lienischen Culturgeschichte nichts edleres und grossartigeres, als die
wunderbare und geheimuissvolle Genossenschaft zweier Rej)räsen-
tanten der beiden glänzendsten Epochen derselben, deren enger Zu-
sammenhang dadurch klar zu Tage tritt^).
Als Dichter ist Dante in jeder Beziehung schöpferisch, und
nichts steht ihm ferner, als Nachahmung trotz seiner Verehrung für
die alten Dichter und Virgil im Besonderen; unterlag er doch dem
Einfluss derselben bei seiner Sehöpfimg keineswegs. Dichter von
solchem Gepräge sind aber auch schöpferisch, selbst wenn sie nach-
ahmen wollen. Reminiscenzen, die Dante aus dem Studium der
Alten schöpfte, sind zahlreich und zeigen sich in Namen, Thatsachen und
Formeln ; aber im Allgemeinen ist der Typus seiner Poesie ganz und
gar original. Wenn er z. B. die Strafe des Pier delle Vigne schildert,
so hat ihm dazix nach eigener Aussage Virgil nach der Erzählung
von Polydor das Vorbild gegeben, und doch ist Beiden nichts
weiter gemeinsam als der Stoff; Stil und Form sind ganz verschie-
den. Der rhetorische Schmuck, die Häufung von Epiphonemen und
der nach antikem und speciell römischem Geschmacke dem Ton
des Epos zukommende Wortreichthum bei Virgil finden ihren
schärfsten Gegensatz in der einfach klaren Natürlichkeit, wie dem
Mangel jeder declamatorischen Tendenz bei Dante. Als dieser
seine Schilderung mit dem Verse schloss: „e stetti com'è 1' uom
che teme", lag ihm gewiss nichts ferner, als der Gedanke Virgil
nachzuahmen in dessen:
„Obstupui steteruntque comae et calor ossa reliquit."
1) Purg. XXI, 94.
2) Unglaublich ist, wie Heeren (Gesch. d. klass. Litt, im Mittelalter
I, p. 320) sagen konnte: „Selbst die Rolle, die Virgil in Dante's Gedichte
spielt zeigt wol, dass er ihn mehr aus Nachrichten anderer als aus eigner
Einsicht kannte."
Ig4 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
Er muss diesen tiefen Abstand auch gefühlt haben und wenn er
zu Virgil sagt:
„Tu se' solo colui, da cu'io tolsi,
Lo bello stile che m'ha fatto onore",
darf man nicht denken, dass er nach dem Muster Virgil's habe
dichten wollen, sondern seine Worte sind so zu verstehen, wie
wenn Aeschylos sagte, dass seine Tragödien nur Brocken seien,
die er vom Tische Homers auflese. Auf die charakteristische Form
der Poesie Dante' s passen jene Worte gar nicht. Und wenn
schon die Divina Comedia keine Nachahmung des Antiken ist, so
sind es noch viel weniger seine älteren Dichtungen, durch welche
er bereits früher berühmt geworden war, und auf welche sich doch
jene Worte auch beziehen sollen. Die Lyvik Dante's ist von ganz
modernem Charakter und hat nichts mit Virgil und den Alten
gemeinsam. An einem andern Orte sagt jedoch Dante, was er mit
jenen Worten meint ^). Den eigentlichen Charakter des „dolce stil nuovo",
den er eingeführt zu haben sich rühmt, definirt er nämlich so:
„ (juando
Amor m' ispira, noto, ed in quel modo
Ch'ei detta dentro vosignificando."
Die Poesie den Eegungen des wahren Gefühls unterzuordnen, sie
immer „dietro al dittatore" gehen zu lassen, das nennt er seinen
„neuen Stil", der sich also nicht auf die künstlerische Form, sondern
vielmehr auf ihren subjectiven Grund bezieht, welcher bei zwei sonst
verschiedenen Dichtern wol identisch sein kann. Unter dem Worte
„amore" will übrigens Dante ganz besonders die geistigen Bestre-
bungen verstanden wissen.
Der poetische Stil Dante's folgt aus der Hai-monie der Em-
pfindung und des Gedankens. Er ist ganz das Werk einer inneren
Thätigkeit und nicht äusserliche Nachahmung; weder eine unüber-
legte Improvisation, noch eine trockene Darstellung von allegori-
sirten philosophischen Gedanken ^J: er ist wahre Poesie, aber
1) Witte hat diese Worte auf die Schrift „De Monarchia" beziehen
wollen, aber der Dichter sagt uns deutlich dass der Stil seiner Dich-
tungen sein Ruhm geworden ist. Gegen Witte tritt Wegele (Dante
Aligheri p. 348 f.) -auf, doch hat auch er nicht den Sinn der Stelle ver-
standen, indem er den Ausdruck „stile" auf die Worte und die formale
Nachahmung des Virgil bezieht.
2) Hierhin würde die Definition, die Perez (La Beatrice svelata,
p. 65 ff.) von dem „neuen Stile" gibt, führen. Die Allegorie bei Dante
zu läugnen ist unmöglich; aber diese war nur ein ganz natürlicher Aus-
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 18o
Poesie der Reflexion. Mit Recht stellt sich Dante den der
Tiefe und der Subjectivität entbehrenden Dichtungen eines „Buo-
naggiunta" eines „Jacopo Notaio'^ u. A., wie auch jenen „gi'ossi"
(„rohen'') entgegen, von denen er in seinen prosaischen Schriften
spricht. Was die künstlerische Ausarbeitung und die Tiefe des
Gedankens, die sich nach der mittelalterlichen Vorstellung in den
poetischen Formen verbirgt, betrifft, so steht ihm unter Allen Virgil
am höchsten. Mit einem Worte, Dante's sich kühn über die volks-
thümliche und gewöhnliehe Poesie erhebende Kunst ist klassisch, nicht
weil sie die Klassiker nachahmt, sondern weil sie den künstlerischen
Adel derselben hat; und jetzt wii'd man verstehen, weshalb Dante,
„lo bello stile" aus Virgil geschöpft haben will^).
Fünfzehntes Capital.
Alles dies führt uns zum Verständniss der Erscheinung Vir-
gils in der Divina Comedia. — Es leuchtet ein, dass der Dante'sche
Virgil natürlich nicht mit dem historischen gleichbedeutend, son-
dern eine ideale Persönlichkeit ist, hervorgegangen aus den Vor-
stellungen, welche das Mittelalter über den Dichter hegte. Nur muss
man nicht glauben, dass Dante aus rein äusseren Gründen den Virgil
zum Führer wählte, weil ihm beim Suchen nach einem solchen
der Ruhm des Dichters am meisten imponirte. Es ist der „Di-
vina Comedia" eigen, dass man niemals die Person und Sub-
jectivität des Autors aus den Augen verliert. Dante hat uns
darin seine ideale Welt, die er in sich selbst trug, offenbaren
wollen, und so konnten ihn auch nicht äussere Gründe zur Wahl
seines Führers bestimmen. Wenn er ein rein didaktisches Gedicht hätte
schreiben wollen, in welchem es sich nicht um seine eigene Person
druck der Gedankentiefe, die Dante vom Dichter verlangt. Darum ist
er jedoch weit entfernt davon in ihr das Wesen der Poesie zu er-
blicken. , . i T^• i,
1) Der erste Freend" Dante's Guido Cavalcanti war auch Dich-
ter vom neuen Stil und Dante sagt selbst, wie sehr sie in ihrer Ansicht
über die italienische Poesie übereinstimmten. Das wäre unmöglich, wenn
man Inf X 63: „Forse cui Guido vostro ebbe a disdegno", wie viele
gethan haben, wörtlich erklären wollte, als sei Guido ein Verächter
Virgil's und der Alten. Da, wo der Vers vorkommt, handelt es sich um
die erhabenste Idee, welche der Pilgerfahrt Dante's zu Grunde liegt
Die Differenz zwischen beiden Männern bezieht sich lediglich aut
speculative Tendenzen und philosophische Gedanken. Vgl. Perez,
a. a. 0. p. 382 f. und besser d'Ovidio im Propugnatore, III, 2
p. 167 ff.
186 Virgil in dor Literatur bis auf Dante.
handelte, so hätte er leicht Andere wühlen können oder auch gar,
wie Andere thaten und wozu ja die Symbolik des Mittelalters ein-
lud, Namen, die blose Ideen personificirten z. B. „Pistis und Sophia",
und nicht „tJeatrice und Virgil." Aber die Beziehung zwischen der
Divina Comedia und Dante's innerer Entwickelung war so eng,
dass nur solche ihn auf seiner idealen Reise begleiten konnten,
die in der That seinem Cìeiste in allen Schicksalen nahe gestanden
hatten. Das waren Beatrice und Virgil.
Beatrice ist eine historische Persönlichkeit, zu welcher den
Dichter eine Jugendneigung hingezogen hatte. Als er jedoch diese seine
Liebe ideal umgestaltete, verstand er darunter etwas mystisches,
zwar immer noch das Ziel seiner tiefsten Neigungen, aber ganz
ohne die ursiirüngliche Bedeutung. Wer die Divina Comedia liest,
ohne von Dante etwas weiter zu wissen und seine „Vita nuova"
zu kennen, kann Beatrice für eine Erfindung halten. Virgil bleibt
dagegen immer eine concrete Erscheinung und nicht ein bioser
Ausdruck für eine Idee. Er war Dante's Lieblingsschriftsteller;
aus ihm schöpfte ér Stoff für seine Gedanken und er wie Beatrice
wurden jetzt in jene Strömung gezogen, in der Dante seine Ideale
zu verwirklichen suchte. Die Ideale, welche der Beatrice zu Grunde
liegen, sind nicht reine Schöpfung Dante's, sondern das Resultat
mittelalterlicher Ideen; dasselbe findet auch für Virgil statt, nur
mit dem Unterschiede, dass, während der Process, mit welchem
sich aus mittelalterlichen Idealen die Erscheinung der Beatrice
gestaltet, lediglich sich in Dante vollzogen hat, die Elemente des
Virgilideals bereits zerstreut im Mittelalter vorhanden waren und
nur vom Dichter in einer bestimmten Persönlichkeit zusammenge-
fasst zu werden brauchten; freilich that dies Dante nicht blos in
äusserlicher Weise, sondern selbst wieder als Interpret mittelalterlicher
Vorstellungen. Trotzdem ist sein Virgiltypus bei weitem erhabener,
als ihn je das Mittelalter selbst hat schaffen können.
Dante bezieht sich in seinen Schriften, ii^ denen er doch so
oft den Vii-gil citirt, niemals auf eine Autorität wie Macrobius
undFulgentius, von denen er wahrscheinlich gar nichts weiss. Erkennt
eine allegorische Auslegung der Aeneis und erwähnt sie als allge-
mein bekannt; vielleicht geht sie auf Fulgentius zurück und war
bei den Scholastikern wie Bernhard von Chartres und Johann von
Salisbury in Gebrauch; Dante hat sie vielleicht bei seinen philo-
sophischen Studien in Paris kennen gelernt; übrigens hätte ihm
Fulgentius, der den Typus des Virgil so roh und einseitig aufge-
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 187
fasst hat, nur Missbehagen erwecken müssen. Dante kennt in der
That nur die Biogi-aphie Virgils'j.
Wir befassen uns nicht mit der Polemik der Ausleger, die
auf verschiedene Weise erklärt haben, was Dante unter seinen
beiden Führern verstanden habe. Wir haben nur die Beziehungen
des Dante'schen Vii-gil zur Literatur, und sein Verhältniss zum
Clerus des Mittelalters zu untersuchen.
Dante hat seine Reise als eine Pilgerfahrt zjim Wole seiner
Seele dargestellt. Bei dieser Vision muss die Seele, bevor sie all-
mälig zur Anschauung des Erhabensten gelangt, von dem Unreinen
sich befreien, durch das „temporal fuoco e 1' eterno" hindiirch-
gehen und sich durch die Betrachtung des Unmoralischen, das sie
verdirbt, und ihrer ewigen Strafen bessern. So gereinigt taucht
sie ein in die Gewässer Lethe und Eunoe, und nun wird der Geist
fähig, die ewige Idee zu erkennen. Dabei hat Dante zwei Führer,
einen mehr realen für den Theil, in welchem die Seele auf
menschlichem Gebiete sich zu reinigen und für die himmlische
Vision vorzubereiten hat, und einen mehr mystischen, da wo die
Seele sich in die überirdische Sphäre der Vollkommenheit erhebt,
wo sie „la gloria di colui che tutto move" im höchsten Glänze
sieht. Da sich der erste Theil zum zweiten nur wie Mittel zum
Zwecke verhält, muss sich auch Vii-gil der Beatrice unterordnen,
von der er ja Dante zugesandt wird. Ln Anschauen der trau-
rigen Wirklichkeit ist also ein tugendhafter, berühmter und weiser
Heide Dante's Führer und Meister; in der Betrachtung der höchsten
Idee der Seligkeit ist ein symbolisches und ideales Weib die Füh-
rerin, dessen Name den Dichter an seine reinste Neigung erinnert.
Sie bezeichnet die erhabene, begnadete und erleuchtete Speculation
des Geistes, die sich nur im Chi-istenthume findet. Virgil kann, so
weit er auch auf dem Wege der Vervollkommnung vorschreitet,
sich niemals in den Gewässern Lethe und Eunoe ganz erneuern,
noch auch zu jenem reinen Stande des Menschen vor dem Sünden-
falle zurückkehren. Beatrice dagegen ist vollkommen und geniesst
alle Vortheile des vergossenen Blutes Christi. Sie hat deshalb wol
Virgil's Kenntniss, aber nicht dieser ihre. Abgesehen von den leider
zu zahlreichen Auslegungen, die man beiden Personen untergelegt hat,
bleibt unbezweifelt, dass Beatrice, mag man darunter Theologie,
Philosophie oder etwas Anderes verstehen, ihren Platz nur im
Christenthume findet und sich von Virgü vor Allem nur durch den
1) Vgl. Inf. I, 67 ff. Purg. III, 25 ff. VII, 4 ff. XVIII, 82 f.
188 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
geoffenbarten Glauben unterscheidet. Dies beweist z, B. auch die
Stelle, wo der Dichter Virgil sagen lässt ^) :
„ . . . . quanto ragion qui vede
Dir ti poss' io, più in là t' aspetta
A Beatrice, ch'è opra di fede."
Es findet zwischen Virgil und Beatrice kein Widerspruch statt,
weil Dante die Harmonie zwischen Vernunft und Glauben aner-
kennt; vielmehr herrscht ein gutes Einvernehmen zwischen ihnen,
wie sich denn auch die diesen Gestalten zu Grunde liegende Idee
auf eine Einheit zurückführen lässt. Es sei uns jedoch erlaubt,
uns hierbei nur mit Virgil zu beschäftigen. Fassen wir noch ein-
mal kurz die Gründe zusammen, die Dante bestimmten, Virgil zum
Führer zu nehmen.
Erstens war Virgil Dante's Lieblingsschriftsteller und der
grösste Dichter, den er kannte. Er wusste den Adel seiner Kunst
mehr zu würdigen, als irgend einer im Mittelalter, und betrachtete
ihn als Meister für seinen eigenen poetischen Stil; er bewunderte
in ihm den Sänger des italienischen Ruhmes; an der Aeneis reifte
sein eigener Gedanke von der Weltherrschaft, füi* welche ihm Virgil
nicht als bioser Theoretiker, sondern als schlagender historischer
Beleg diente. Ferner aber sali Dante nach der damals
geläufigen allegorischen Auslegung in der Aeneis eine Pilgerfahrt
des Menschen auf dem Wege der Beschaulichkeit und Vervollkomm-
nung, die er selbst zum Gegenstände seines Gedichtes machte. Bei
seiner Vorstellung von dem Verhältnisse der Vernunft imd des
Glaubens zueinander, von der Kraft des Geistes, der ohne Offen-
barung zur Erkenntniss grosser Wahrheiten gelangen konnte, erhob
sich Virgil über die Dichter des Alterthums besonders durch seine
Reinheit imd Erleuchtung. Zeitlich stand er Christus am nächsten
und war ohne es zu wissen sein Prophet. Indem aber Dante den Stoff
seines Gedichtes zusammenstellte, gab ihm Virgil die erste Anre-
gung, er entlehnte aus ihm viele Einzelheiten für seine Reise durch
die Todtenwelt und benutzte ihn überhaupt mehr als irgend einen
andern Schriftsteller in seinem grossen Werke'"').
Aus all diesem geht hervor, wie innerlich berechtigt Dante war,
sich Virgil zum Führer zu wählen. Es ist das eben so wenig eine reine
Erfindung aus äusseren Rücksichten, wie die Wahl der Beatrice
zur zweiten Führerin. Dabei darf man nicht vergessen, dass Dante
1) Purg. XVIII, 46 ff.
2) Man sehe, wie oft Guido da Pisa bei Erzählung der Begeben-
heiten aus der Aeneis Gelegenheit hat, Dante zu erwähnen.
Virgil lu der Literatur bis auf Dante. 189
vor Allem ein schopferischer Dichter ist, und dass es nur seinem
titanischen Geiste möglich war, die Speculation in die Poesie ein-
zuführen. Wenn er zwischen einem Philosophen und einem Dichter
zu wählen hat, so entscheidet er sich für den letzteren. Er unter-
hält sich am meisten mit Künstlern und Dichtem, vor allem mit
Virgil, d£wan mit Statius, Sordello, Arnaldo und Casella. Jene
Männer „di cotanto senno," unter denen er der sechste im Limbus
ist, sind sämmtlich Dichter. Als Dichter zu gelten, ist sein eigener
heissester Wunsch. Dies ist sein Verdienst, weshalb er denkt, aus
dem Exile zurückkehren zu dürfen, wie er sagt: „al bell' ovile
ov'io dormii agnello", und die Diehtei'krone hofft er zu erwerben
in seinem „bei Sau Giovanni," wo er die Taufe empfing:
„Con altra voce ormai; con altro vello
Ritornerò poeta, ed in sul fonte
Di mio battesmo prenderò il cappello" ^).
Diese seine Vorliebe für die Kunst, die er mit seinem Führer theilt,
schildert er wimderbar schön an jener Stelle, wo sie Beide zu
ihrer grossen Bestürzung bemerken, dass sie das erhabene Ziel ihres
Weges unter dem Zauber des süssen Gesanges verfehlt haben ''^).
Die Gelehrten haben es natürlich gefunden, dass Dante, als er
einen Repräsentanten der von der Offenbarung unabhängigen mensch-
lichen Vernunft suchte, nach Virgil griff, der im Mittelalter als
fast allwissend und als Christ galt. Niemand hat aber die Frage
aufgeworfen, warum der scholastisch gebildete Dante nicht den
Aristoteles wählte. Nach des Dichters eigenen Worten war ja
dieser und nicht Virgil „maestro di color che sanno," und die
Allwissenheit schiieb man ihm nicht weniger als dem Dichter der
Aeneis zu. Dante betrachtete Aristoteles als oberste Autorität in
der Philosophie, als den Meister des Verstandest)^ und in der That
galt ja in der Scholastik Aristoteles mehr als Virgil*). Es fehlte
1) Parad. XXV, 1 ff.
2) Purg. II, 106 ff.
3) „ .... in quella parte dove aperse la bocca la divina sentenzia
d'Aristotile da lasciare mi pare ogni altnii sentenzia." Convito IV, 17.
Vgl. über die Autorität des Aristoteles Convito, IV, G.
4) Der merkwüi-digste Ausdruck für den Primat des Aristoteles zur
Zeit der Scholastik, ist das Fabliau „la bataille des VII ars". Darin
heisst es u. a. :
„Aristote, qui fu a pie
Si fist chéoir Gramaire enverse.
Lors i a point mesire Perse,
Dant luvenal et daut Grasce,
190 Virgil iu der Literatur bis auf Dante.
auch nicht an Legenden, die von seiner Weisheit erzählten; man
glaubte, er sei ein Christ, so weit dies überhaupt möglich war,
und disputirte im Ernst darüber, ob seine Seele im Paradiese
sei ^). Ja, auch iu dem theoretischen Theil seiner Weltherrschafts-
idee stützte sich Dante auf den grossen Philosophen, aber — Aristo-
teles war ein Grieche und kein Römer ^). Als Dichter war er Dante
unbekannt, und es fehlte jene innere Verwandtschaft, die zwischen
ihm und Virgil bestand; .darum konnte Aristoteles nicht sein Füh-
rer sein.
Auch der Virgil der Divina Comedia zeigt wie jede Schöpfung
des grossen Dichters das Verhältniss Dante's zum Mittelalter. Die
mittelalterliche Vorstellung von Virgil findet sich auch hier, aber
der schöpferische Geist Dante's hat ihr seinen eigensten Stempel
aufgeprägt und aus den rohen Elementen, die nur unser mit-
leidiges Lächeln erwecken konnten, eine der edelsten Erscheinun-
gen geschaffen. Von den alten Vorstellungen wusste er einige
weise zu entfernen, andere zu reinigen und fein umzuarbeiten^).
Virgile, Lucain et Etasee
Et Sedule, Propre, Prudence,
Aratur Omer et Térence:
Tuit chapelèrent sor Aristote
Qui fu fers com chastel sor mote."
Vgl. Jubinal, Oeuvres compi, de Ruteboeuf, II, p. 426. Propre ist
nicht, wie Jubinal meint, Properz, sondern der christliche Pros
per US.
1) Vgl. Lambertus de Monte, Quid probabilius dici possit de
salvatione Aristotelis Stagiritae. Col. 1487. Einst nannte Tertullian den
Aristoteles „patriarcha haereticorum" und später Luther: „hostis Christi."
In dem französischen Gedichte „Enseignements d'Aiüstote" spricht Aristo-
teles von Christus und dem Christenthume wie ein Christ. Vgl. Hist. Litt,
de la France XIII. p. 115—118 und Ruth, Studien über Dante Allighieri
p. 258 S.
2) Dante zeigt da, wo Virgil von Diomedes und Odysseus mit ihm
si^richt (Inf. XXVI, 73 ff.) deutlich, dass er die Griechen nur aus latei-
nischen Uebersetzungen kennt:
„Lascia parlare a me; ch'io ho concetto
Ciò che tu vuoi; eh' e' sarebber schivi,
Perchè ei fur Greci, forse del tuo detto."
Und vor Guido di Montefeltro (Inf. XXVII, 33) sagt ihm Virgil:
„ . . . . parla tu, questi è Latino."
3) Dante war sich seines Verständnisses des Virgil und des Adels,
den er dessen Person verlieh, bewusst. Nur hierauf bezieht sich wol,
was er von Virgil sagt (Inf. I, 9):
„che per lungo silenzio parca fioco."
Dass Virgil seit langer Zeit vergessen war, konnte Dante damit nicht
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 191
Zu seiner Zeit hatte sich schon die Volkssage von Virgil in die
romantische wie die gelehrte Literatur eingedrängt. Dante
kannte sie ganz gewiss, wie ja auch sein „dolcissimo Gino" sie
kaimte, der sie in Neapel vom Volke gehört hatte; dennoch ist
es ein gi-osser Irrthum, wenn man, wie fast alle modernen Aus-
leger gethan haben, bei dem Virgil Dante's an jene Volkssage
gedacht hat. In dem ganzen Gedichte ist keine einzige Stelle
aufzufinden, in welcher Virgil nur von fern als Zauberer, Thau-
maturg u. s. w. erscheint^). Man braucht nur an die erhabene
Idee zu denken, die Dante von Virgil hat, an die Verehrung, die
er ihm zoUt, um zu fühlen, wie sehr ihm jene neapolitanischen
Volkssagen über Virgil widerstreben mussten. Zur Genüge zeigt
auch die Art, wie er Zauberer und Astrologen behandelt, dass
solche Künste für ihn nicht den grossen Weisen ausmachten, wie
sie es beim Volke thaten ; sondern die Weisheit, die er dem Virgil
zuschreibt, schloss grade jene Künste aus. Derselbe hätte ja sonst
in der Unterwelt neben Guido Bonatti, Asdeute u. A., die er doch
keineswegs bewundert, Platz nehmen müssen"). Für seinen Virgil
hat Dante nur seine eigenen Ideale zum Massstab gemacht, aber
Zauberei war sein Ideal gewiss nicht.
Ein Mann, der so hoch von den alten Dichtern dachte und
die Kunst zu solcher Vollendung führte, konnte sich nicht für
eine rein volksthümliche Sage begeistern, die sich an einen Dichter
wie Virgil anhing. Als Künstler und Denker ist Dante ein stolzer
Aristoki-at. Nicht einmal alle literarischen Ueberlieferungen, die da-
mals über Virgil umliefen, hat er mit seiner erhabenen Schöpfung
verknüpft. Und so reinigte er vielmehr diese Gestalt von manchen
meinen, denn er nennt ihn selbst „famoso saggio" und sagt, dass sein
Ruhm „ancor nel mondo dura."
1) Daher der Fehler, den einige Ausleger begangen haben, indem
sie in den Versen (Inf. IX, 22):
„Ver' è ehe altra, fiata quaggiù fui
Congiurato da quella Eriton cruda
Che richiamava l'ombre a' corpi sui"
eine Ansjjielung auf die Zauberkraft Virgils vermutheten. Aber wer den
Künsten einer Zauberin erliegt, ist noch kein Zauberer. Dante glaubt
zwar wie viele seiner grossen Zeitgenossen an die Magie, hält sie aber
für Sünde.
2) Inf. XX sagt Virgil von den Zauberern v. 28 „Qui vive la
pietà quand' è ben morta;" v. 117. „Delle magiche frodi seppe il
giuoco"; V. 121 „Vedi le triste che .... fecer malie con erbe e con
imago."
192 Virgil iu der Literatur bis auf Dante.
Flecken, die sie in den Augen der Christen entstellten, Virgil
war gewiss kein obscüner Dichter, sondern zeichnete sich unter den
andern durch eine gewisse Keuschheit aus ^). Nichtsdestoweniger
waren die in der Aeneis wie in den Bucolica vorkommenden
erotischen Partien manchem Asketen, als etwas Sinnliches und
Lascives anstössig. Ausserdem las man von ähnlichen Dingen auch in
der Biographie, und verglichen mit den Bucolica hätten diese
Thatsachen den Virgil verurtheilt, in den Kreis derer einzutreten,
die wider die Natur sündigten ^), wohin Dante kein Bedenken trug,
den Schulmeister Pi-iscian und seinen eigenen Lehrer Brunetto
zu bringen. Was die Reiulieit der Virgilischen Grundsätze be-
trifft, so glaubte man allerdings im Mittelalter, dass sie dem
Christenthume sehr nahe standen, aber aucli dass Virgil als Heide
später in viele besonders epikuräische Irrthümer verfallen sei. So
hatte ihn ja schon. Fulgentius dargestellt; seine Biographie nennt
ihn Schüler eines Epikuräers, und epikuräische Grundsätze, die ja
bei einem Dichter seiner Zeit gauz natürlich sind, fehlen auch nicht
ganz in seinen Werken. Alles dies aber Hess Dante bei Seite,
theils, weil für ihn jene Flecken vor den grossen Verdiensten des
Dichters verschwanden, theils, weil ihm allegorische Auslegungen
gestatteten, jene Stellen anders aufzufassen. In dem Kreise derer,
die gegen die Natur sündigten, schweigt Vh-gil; aber die liebens-
würdige und zärtliche Weise, in welcher Dante zu seinem Lehrer
Brunetto spricht, zeigt, wie er um der Verdienste willen solche
Fehler vergessen konnte. Vom Epikuräismus hat Dante keine voll-
kommene Vorstellung, er begi-eift nur ungefähr aus Cicero „De
finibus", dass Epikur das Vergnügen für den Zweck des Menschen
hielt. Die Hauptschuld aber, um derentwillen er die Epikuräer
1) Vgl. Klotz, „de verecundia Vergili" iu den „Opuscula varii ar-
gumenti": p. 242 ff.
2) Aus diesem von der Biographie und den Commentatoren aus-
gehenden Vorwurfe entstand die sagenhafte und anachronistische Vor-
stellung, dass, als Christus geboren ward, alle Sodomiten, und unter ihnen
auch Virgil, starben. So Salicetus bei Emanuel de Maura, Lib.
de Ensal. sect. .3, c. 4, No. 12; Vgl. Naudé, Apologie pour tous les
grands personnages soup9onnés de magie p. 628 f.; Herder hat in den
Kritischen Wäldern (II, p. 188 „Ueber die Schamhaftigkeit Virgils" mit
wenig Glück Virgil von diesen Anklagen zu vertheidigen gesucht; vgl.
Genthe Leben und Fortleben des P. Vergilius Maro, p. 28 ff.
3) „Siccome pare Tullio reciture nel primo di Fine de'beni. Conv.
IV, 6. De natura deorura, das ihm reichere Notizen über die Epi-
kuräer hätte geben können, kennt er nicht.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 193
in den Inferno bringt, besteht darin, dass sie „l'anima col corpo
morta fanno", was er doch von Virgil, der selbst das Todtenreich
geschildert hatte, nicht sagen konnte. Darum berichtet ihm Virgil
in jenem Gesänge von den Epikuräern, als ob er niemals deren
Irrthümer gethejlt habe. Dieser Eeinigungsprocess, der sich an
Virgil vollzieht, ist die That Dante's, welcher Alles in abstracte
und ideale Regionen erhebt, von Allem nur das wesentlich Charakte-
ristische erblickt und die wirklichen Unvollkommenheiten übersieht,
die einer kleinen realistischen Kritik nicht entgangen sein würden.
Deshalb befindet sich der Selbstmörder Cato auch nicht bei
denen, die gegen sich selbst Gewalt brauchten, unter welchen wir
doch so pathetische Erscheinungen erblicken, sondern er bewahrt
jene hohe Würde, wie Allen bekannt ist. Wenn Dante von Rom
und der Weltherrschaft spricht, so erwähnt er auch die idealen
Figuren eines Aeneas, Caesar, Arigust, Trajan und Justinian, aber
die hässlichen Gestalten römischer Kaiserherrschaft, die er nach
der historischen Ueberlieferung und der mittelalterlichen Sage nur
unter die Verdammten hätte bringen können, wie z. B. Nero,
nennt er niemals.
Virgil erscheint zwar in der Divina Comedia viel christlicher,
als in der mittelalterlichen Tradition; doch unterscheidet der Dichter
genau, was Virgil im Leben und was er nach dem Tode war.
Virgil spricht immer wie ein^ längst Gestorbener, der seit Jahr-
hunderten auf einem ihm seiner Verdienste wegen angewiesenen
Platze lebt. Mit seinem Tode fiel der Schleier von seinen Augen,
in dem jenseitigen Leben sah er die Wahrheiten ein, welche er
früher nicht erkannt hatte, und gestand seinen Irrthum, den er frei-
lich wider Willen begangen hatte, eine Lage, welche er mit allen
Todten und sogar den Verdammten theilt. Dies ist eine christ-
liche Idee, und in diesem Puncte stimmte Dante's Virgil mit dem
des Fulgentius überein. Auch hei Letzterem spricht Virgil wie
ein Schatten aus dem Todtenreiche ; er nennt zwar nicht seine
Stellung unter den Todten, aber gibt doch zu erkennen, dass er
Wahrheit und Ii-rthum einigermassen zu unterscheiden gelernt
habe; die Erinnerung daran ist ihm peinlich und er verweilt des-
halb nicht gern lauge bei diesem Gegenstande. Ganz anders
Dantes Virgil : dieser weiss von den „falschen und lügenhaften Göttern"
seiner Zeit, kennt den Christengott, und darum kann ihn auch Dante
bitten :
„Per quel Dio che tu non conoscesti."
Er weiss, dass dieser Gott eine „sustanzia in tre persone"
Comparetti, Virgil im Mittelalter. 13
194 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
ist, und keuut die Wolthat, „dass Maria geboren hat." Alles
das sieht er ein, wie ihm auch viele Begebenheiten nach seinem
irdischen Leben, sogar von den Zeitgenossen Dante's, die eben in
die Welt gekommen sind, bekannt sind. Er erwähnt den Nimrod ^)
und citirt die Genesis wie den Ai'istoteles^). Wenn er aber Alles
bedenkt, was er jetzt weiss, so wird er traurig über seine Lage
wie über die des Plato, Aristoteles und anderer grosser Heiden,
deren Verstand allein zum ewigen Leben nicht ausreichte^). Jedoch
spricht Virgil über die christlichen Wahrheiten nicht wie ein gewöhn-
licher Todter; der Dicliter konnte sich ja auch das Wissen jenes
Mannes nur so erhaben vorstellen, wie die Ueberlieferung es von
seiner historischen Person ausgesagt hatte. Das Leben Virgil's nach
dem Tode steht demnach nicht im Widerspruche mit seinem fi'üheren
Leben, imd der Dichter leugnet nicht das, wozu ihn einst die blosse
Vernunft gebracht hatte. Ja, als Dante einmal zweifelt, beweisst
ihm Virgil, dass sein Ausspruch:
„Desine fata deùm flecti sperare precando",
richtig verstanden, mit der christlichen Lehre über die Kraft
des Gebetes für die Seelen im Fegefeuer gar nicht im Wider-
spruch stehe*). In der idealen Region, welcher Virgil als Symbol
angehört, ist der Dichter immer bestrebt, diese lieber eins timmung
aufrecht zu erhalten und einige Abweichungen übergeht er dabei
absichtlich mit Stillschweigen. Obgleich Dante von Virgil die
Grundbedeutung von der Fahrt ins Todtem-eich erfährt, dieselbe
aber im einzelnen nach der christlichen Tradition umgestaltet, so
werden doch die Differenzen zwischen der Schilderung Dante's und
der Beschreibung des Ortes durch Virgil niemals berührt. Dante
unterscheidet bei den alten Dichtern die dargestellte Idee von dem
1) „Questi è Nembrotto per lo cui mal ceto
Pure un linguaggio nel mondo non s' usa.
Inf. XXXI, 78.
2) „Se tu ti rechi a mente Lo Genesi" Inf. XI, 106. „La tua Etica"
Ib. 80; „la tua Fisica", v. 102.
3) „ .... E disiar vedeste senza frutto
Tai che sarebbe lor disio quetato,
Ch' eternamente ò dato lor per lutto.
Io dico d'Aristotele e di Plato,
E di molti altri. — E qui chinò la fronte
E più non disse v rimase turbato.
Purg. Ili, 43.
4) Purg. VI, 28 ff.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 195
poetischen Ausdrucke, der .sie einhüllt, und gebraucht deshalb die
mythologischen Namen und Bilder nicht nur als Symbole, sondern auch
als rein poetische Elemente ^j. Von dem Gange des Aeneas in die
Unterwelt hat er die nach seiner Meinung zu Grunde liegende
wahre Idee entlehnt, von dem formalen Theil dagegen nimmt er
nur einige Thatsachen, während er andere umgestaltet, ohne dass
dies bei der idealen Beziehung zwischen ihm und Virgil Gegenstand
des Gespräches wird").
Die Vorstellung von der Reinigung des Geistes und der Er-
kenntniss grosser Wahrheiten aus eigener Kraft musste, auf eine
bekannte literarische Persönlichkeit angewandt, nothwendig auf die
Vorstellung von einem ausserordentlichen Wissen und einer ency-
klopädischen Gelehrsamkeit führen, und deshalb ist Dante's Virgil
so weise, wie ihn Macrobius, Fulgentius und das ganze Mittelalter
geschildert haben. Freilich offenbart er nicht sein ganzes- Wissen,
aber man sieht, dass es vorhanden ist und nur beschränkt wird,
wo Beatiices Herrschaft anfängt. Die Allwissenheit VirgiFs, die
ihm das Mittelalter zuschrieb, zeigt sich also bei Dante als etwas
ganz Evidentes und Vernünftiges. Die Kenntniss des Mittelalters ging
auf Encyklopädie aus, und encyklopädisch war auch die gelehrte
Richtung Dante's. Man betrachtete ja meist die alten Dichter als
Weise und Philosophen ; auch Dante betrachtete sie als solche ■^), aber
1) Schön und bezeichnend für die Art, wie Dante von den antiken
Mythen dachte, ist Purg. XXVIII, 139 ff., wo Matelda in Gegenwart des
Virgil und Statius ihre Hede also beschliesst:
„— Quelli che anticamente poetaro
L' età dell' oro e suo stato felice
Forse in Parnaso esto loco sognaro.
Qui fu innocente l'umana radice,
Qui primavera sempre, ed ogni frutto;
Nettare è questo di che ciasun dice. —
Io mi rivolsi addiettro allora tutto
A'miei Poeti, e vidi che con riso
Udito avevan l'ultimo costrutto."
2) Vgl. hierüber Fauriel, Dante et les origines etc. II, p. 435 ff. ;
Ozanam (Dante et la philosophie cathol. au treiz. siècle, p. 324 ff.)
hat ausführlich die Visionen und poetischen Fahrten ins unsichtbare
Reich bei den Vorläufern Dantes untersucht. Zum Verständniss der ori-
ginellen Schöpfung Dante's verhilft die Arbeit jedoch wenig, der sich
mit diesen s. g. Vorläufern, Virgil ausgenommen, so gut wie gar nicht
berührt.
3) So nennt er die Dichter, denen er im Limbus begegnet (Inf. IV,
110) z. B. Virgil Inf. VII, 3. XII, 6. XIII, 47 und Statius Purg. XXIIT,
8; XXXIII, 15.
13*
198 Virgil in der Literatur Ins auf Dante.
inüiTiäclien uml unaugenehmen Pedanten und aub sich selbst einen
armen „homunculus" machen. Der Virgil des Fulgentius ist das
Produci unwissender Barbarei, die das, was sie zu preisen sucht,
in den Staub zieht, der Virgil Dante's das Produci einer genialen
Reformation, die das Gesunkene wieder erhebt.
Der feine Taci Dante's zeigt sich auch in den leichten Schatten,
die er dem Bilde Virgils gegeben hat, und infolge deren dieser in Be-
zug auf Vollkommenheit hinter anderen zurücksteht. Er nennt
nicht nur Männer aus dem Alierthum, die vollkommener waren als
Virgil, sondern kömmt durch die eigenen Verse desselben auf die
Idee, dass er Caio und jenen Ripheus, den Virgil als ,justissimus
unus qui fuit in Teucris" bezeichnet, in das Pai-adies versetzt. Der
nach der Ueberlieferung idealisirte Typus des Cato ^) erscheint
als heilig, majestätisch und ehrwirrdig, aber als strenger Stoiker, ein
„atrox animus" ohne jede irdische Empfindung, und steht an Cha-
rakter wie Verdienst über Virgil. Zu solcher Vollkommenheit wie
Caio gelangte Virgil nicht, aber nach der meisterhaften Zeichnung
des Dichters steht er nicht nur auf viel vertrauterem Pusse mit
Dante als Caio, bevor jener zur Vollkommenheit gelangt, sondern,
ohne ii-gend ein historisches oder realistisches Element der Bio-
graphie zu Hilfe zu nehmen, stellt Dante seinen Charakter als einen
solchen hin, der, was Cato imd noch mehr Beatrice unmöglich wäre,
gewissen leichten Irrthümern uniei'liegen durfte. Bezeichnend dafür
ist die Stelle, wo Virgil sich durch den Gesang Casella's unter-
halten lässt, aber noch mehr die, wo Virgil den Cato durqh die
Erwähnung der Marzia zu bewegen sucht. Die strengen Worte,
mit denen Caio solche Empfindungen zurückweist, nur an die „donna
del ciel" denkend, die Virgil auf jenem Wege lenkt, zeigen deut-
lich den Unterschied jener beiden Seelen auf dem Wege ihrer
Reinigung.
Auf dem Grade der Vervollkommnung beruht der Haujitge-
danke, aus dem sich die Begleiter und Führer Dantes symbolisch
erklären. In der Unierw^eli leitet Virgil mit sicherem Schritte, aber
im Fegefeuer wird er unsicher und fühi-t, nachdem er sich bei anderen
über den Weg erkundigt hat. So weit in der Vervollkommnung ge-
langte er nicht, da ihm die „drei heiligen Tugenden" fehlten. Ein-
mal gesellt sich zu ihnen Statius, dessen Poesie ein Ausläufer der
virgilischen ist, und der nicht blos als Dichter, sondern auch als
lì Vgl. Wolff, Cato der jüngere bei Dante, im Jahrb. d. deutschen
Dantegesellsch. II, 225 ff.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 199
Christ dem Virgil gegenübertritt, was dieser ja selbst geworden
wäre, wenn er nach Christus gelebt hätte. Au dieser Stelle kömmt
Dante mit grosser Kunst zum ersten Male auf die in der ersten
Belöge enthaltene Prophezeihvmg von Christus, wie sie sich das
Mittelalter vorstellte, zu sprechen. Virgil, der selbst in dem Ge-
dichte von Christus nicht gesprochen hat, wird so zu sagen durch
Statius ergänzt, welcher die Bedeutung jener Weissagung verstehen
konnte imd sich deshalb zum Christenthum bekehrte. Er ruft daher
als begeisterter Verehrer Virgils aus:
„E per esser vissuto di là quando
Visse Virgilio assentirei un sole
Più ch'io non deggio al mio uscir di bando."
Darauf folgt jene schöne Stelle, in der er den vor ihm stehenden
Dichter erkennt und ihm seine ganze Dankbarkeit ausdrückt.
„ tu prima m'inviasti
Verso Parnaso a ber delle sue grotte,
E prima appresso Dio m'alluminasti.
Facesti come quei che va di notte
E porta il lume dietro e a sé non giova,
Ma dopo sé fa le persone dotte.
Quando dicesti: — secol si rinnova
Torna giustizia e primo tempo umano
E progenie scende dal elei nuova.
Per te poeta fui, per te cristiano etc."
Trotz seiner Bekehrung ist aber doch Statius nicht zur reinen
Vollkommenheit gelangt, die er vielmehr erst jetzt durch seine
Keinigimg im Pui-gatorium erlangt ; darum verschwindet Virgil, so-
bald Beatrice erscheint, während Statius bleibt und mit ihr und Dante
das Paradies betritt. Doch von hier an vergisst ihn der Dichter, der
sich nur noch an Beatrice hält.
Hieraus also entwickelt sich die sj^mbolische Idee, die der
Erscheinung Virgils zu Grunde liegt. Dante strebt nicht nur nach
eigener VoUkoinmenheit, sondern nach einer Verwirklichung des
Ideals der menschlichen Gesellschaft, welches ein Reich der Ge-
rechtigkeit, der Moi'al und der Religion sein und deshalb auch
der Vollkommenheit und dem Glücke des Einzelnen am meisten
entsprechen soll. Die Unterscheidung zwischen Geistigem und Welt-
lichem, zwischen Papst und Kaiser bildet die Grundlage dieses
Gedankens. Aeneas und Paulus sind seine Vorläufer bei jener
Reise, und auf dem Grunde des Universums erblickt er als die
grössten ihm bekannten Sünder, die, welche Caesar und Christus
20() Virgil iu der Literatur bis auf Daute.
verratheu haben. Diese Ordnung der Dinge stellt sich ihm als eine
nach ewigen Gesetzen von Gott gewollte Thatsache dar, die sich
in der Geschichte offenbart und vom Glauben bestätigt wird. Jenes
Ideal verwirklicht sich daher in allen guten Seelen, denen er auf
seiner Fahrt begegnet, vor Allem aìjer in seineu Führern. ^lau begreift,
wie die Idee von der weltlichen Kaiserherrschaft in der Weisheit
Virgils mit einbegriffen sein muss, sowol in dem Virgil der Literatur
wie der Allegorie '). Der historische Virgil steht als Zeitgenosse des
guten Augustus und als Anhänger eines friedlichen Zustandes des
Reiches jener Begebenlieit am nächsten, durch welche Rom
„lo loco santo
U' siede il successor del maggior Piero"
werden sollte, und war selbst der Sänger des Weltreiches, aber
er hatte auch allegorisch das beschauliche Leben besungen und die
vollkommenste Ordnung der menschlichen Gesellschaft demgemäss
begriffen. Zu sagen, dass Virgil bei Dante nur die Idee der
Kaiserherrschaft repräsentire, wäre eben so falsch, wie die Be-
hauptung, in der Divina Commedia zeige sich nur die politische
Idee Dantes. Jene Vorstellung vom Kaiserreiche muss Virgil
auch in symbolischer Weise repräsentiren, weil nach Dante die
menschliche Vei'nunft die Rechtmässigkeit des römischen Kaiser-
thums und die Vollkommenheit seines Ideals von der menschlichen
Gesellschaft anerkennen muss. Was die mittelalterliche Ueberliefe-
rung von der Beziehung A'^irgils zur Weltherrschaft betrittst, so hat
der Dichter nur Elemente vorgefunden, die noch keinen bestimmten
Ausdruck gewonnen hatten. Auf den Gedanken der Weltherrschaft
Avar im Mittelalter die Thätigkeit vieler Fürsten gerichtet. Nie-
mand hatte ihn jedoch wie Dante in einer politischen Theorie ent-
wickelt und mit der tiefsten Speculation über die Geschichte der
Menschheit verknüpft").
1) Von diesem Staudpunkte aus ist der Dante'sche Virgil von Ruth
(Studien über Daute Allighieri. Tübing. 1855 p. 203 ff.) untersucht
worden, worauf wir verweisen. Von demselben: „Ueber die Bedeu-
tung des Virgil in der Diiäna Commedia" in den Heidelb. Jahrb. 1850.
•2) Vor Dante und dem Mittelalter hat Augustin von einem histo-
risch-philosophischen Standpunkte aus den Virgil als Sänger der
römischen Macht aufgefasst. Allein er, wie sein Schüler Orosius sahen
das Sinken Roms und hörten wie man dem Christenthume davon die
Schuld beimass. Auf der einen Seite stand ihnen das heidnische Rom
noch zu nahe, auf der anderen war auch das Christenthum noch nicht
Virgil in der Literatur bis aiif Daute. 201
Sechzehntes Capitel.
Bei aller Begeisterung, die Virgil seit der Zeit des Augustus
hervorrief, ist er doch niemals in so grossartiger, ernster und
wahrer Weise verherrlicht worden, wie von Dante. Obwol sich
dabei mittelalterliche Ideen als Grundlage erkennen lassen, hat
doch Dante die Grenzen derselben weit überschritten. In der
ganzen Entwickelung des Mittelalters ist Nichts, was sich mit der
Divina Commedia vergleichen liesse. Ohne Beispiel ist alles das,
was Dante direct aus den Ideen seiner Zeit geschöpft hat. Nie-
mand hatte bis dahin den Virgil so begriffen. So weit nun aber
der Dante' sehe Virgil über das mittelalterliche Mass hinaus geht,
kann man ihm gleichsam als Correctiv eine andere mittelalterliche
Darstellung des Vii-gil entgegenstellen, die ebenfalls zur Zeit Dantes
entstand. Es ist dies der Virgil des Dolopathos, ein Werk
von romantischem Charakter, das ein wenig gebildeter Mönch ver-
fasst hat. Die Vorstellung von Virgil zeigt sich darin auf der
letzten Stufe der literarischen Entwickelung und dem volksthüm-
lichen Standpunkte schon sehr nahe, während der Dante'sche Virgil
jener hohen geistigen Sphäre angehört, in der sich die literarische
Ueberlieferung des Mittelalters schon zur klassischen Empfindimg
der Renaissance entwickelt.
DerDolopathos wurde im 1.3. Jahrhundert von einem der Abtei
Hauteseille in Lothringen angehörenden Mönche Johann verfasst
und dann von einem gewissen Herbers in französische Verse ge-
bracht^). Folgendes ist der kurze Inhalt des Buches: — Der zur
Zeit des Augustus lebende Dolopathos, König von Sicilieu, schickt
seinen Sohn Lucinian nach Rom, um ihn von Virgil unterrichten
zu lassen. Dieser unterweist ihn in allen Zweigen des Wissens,
als Verfolger aufgetreten. Und so konnten sie unmöglich zu der Vor-
stellung Dante's kommen, zu der ja das ganze Mittelalter beigesteuert
hatte.
1) ,,Li romans de Dolopathos" publie pour la première fois en en-
tier par Ch. Brunet et Anat. de Montaiglou, Paris (Jannet) 1856.
In einigen Hdss. findet sich ein lateinischer Text des Dolopathos, den
Mussafia publicirt hat und als das Original des Mönches von Hauteseille
betrachtet („Ueber die Quelle des altfranzösischen Dolopathos." Wien
1865; und „Beiträge zur Literatur der sieben Weisen Meister," Wien,
1868.). — Der lateinische Text ist jetzt vollständig herausgegeben von
H. Oesterley: „Johannis de Alta Silva Dolopathos." Strassburg 1873. cf.-
Gaston Pai^is in der „Romania" II, 481 £F.
202 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
besonders in der Astronomie. Unterdessen stirbt die Frau des
Uolopathos, der König heirathet eine andere und sendet nach seinem
Sohne. Mit Hilfe der Astrologie sieht Virgil voi-aus, dass Luci-
uian von einem grossen Unglücke bedroht wird, und befiehlt ihm
daher, völliges Stillschweigen zu beobachten, so lange er ihm
nicht selbst das Reden erlaube. So kömmt Lucinian bei seinem
Vater au, bleibt aber auf alle au ihn gerichtete Fragen st\nnm.
Da jedes Mittel fehlschlägt, verpflichtet sich die Königin, ihn zum
Sprechen zu bewegen und erklärt ihm, nachdem sie alle ihre
Künste versucht hat, ihre Liebe, ohne jedoch Erwiederung zu fin-
den. Darüber empört, und um die Folgen ihres Schrittes besorgt,
sinnt sie auf den Tod des Lucinian und klagt ihn an, als ob er
ihr habe Gewalt anthun wollen. Der König verurtheilt den Sohn
zum Tode, aber zum Glücke kömmt ein Weiser an, der eine Ge-
schichte erzählt und dadurch Aufschub der Hinricht\ing um einen
Tag bewirkt. Dasselbe thueu andere Weise, die nach ihm an-
kommen, bis am siebenten Tage Virgil erscheint, auch seine Erzählung
zum Besten gibt und Lucinian zu sprechen befiehlt. Dieser macht
nun Alles oftenbar, und die Königin wii'd lebendig verbrannt.
Die Erzählung fìihrt dann weiter fort bis zum Tode des Dolo-
pathos und Virgils. Darnach wird Christus geboren, einer seiner
Jünger predigt in Sicilien, und Lucinian, der sich bekehrt, stirbt
als Heiliger. — Wir haben hier, wie Jedermann sieht, eine Version
der bekannten indischen Erzählung von den sieben Weisen, die in
der Literatur des Orients wie des Occidents gleich reich vertreten
ist^i. Unter ihnen nimmt jedoch der Dolopathos eine besondere
Stellung ein, besonders in der Art wie er den Virgil behandelt.
In den europäischen Darstellungen dieser Geschichte wird der Fürst
gewöhnlich sieben Weisen zur Erziehung übergeben, in denen aus
dem Orient, an deren Spitze das jetzt verlorene Buch des Sindi-
bäd^) steht, gewöhnlich dem Sindibàd selbst, als dem weisesten
imter allen. Vielleicht hatte der Mönch von Hauteseille von dieser
letzteren Wendung der Geschichte gehört und brachte nur Virgil
an die Stelle des Sindibàd. Dazu bewog ihn wol seine Anschauung
als Cleriker. Seine Vorstellung von Virgil ist nicht wie bei an-
1) Vergi. d'Ancona, Il libro dei sette savi di Roma. Pisa
1864.
2) Geschichte und erste Gestalt dieses Buches habe ich in meinen
„Ricerebe intorno al Libro di Sindibàd", Mailand 1869 nachzuweisen
gesucht.
Virgil iu der Literatur bis auf Dante. 203
dem Verfaü^sern derartiger Romane rein volksthümlicli, sondern er kennt
den Dichter aus seinen Werken, aus denen er auch dann und wann
Verse citirt ^). Seine Kenntnisse gehen sogar so weit, dass er den
zur Geschichte erfundenen Rahmen ganz dem Virgil angepasst hat:
Die Begebenheit ereignet sich in der Zeit des jiugustus, und das
Weib, welches Augustus dem Dolopathos^) gibt, ist die Tochter
des Agi'ippa, während in anderen Texten der „sieben Weisen",
in denen Virgil nicht auftritt, der Kaiser Diocletian, Pontian oder
eine andere beliebig erdachte Person ist. Auch der griechische
Name Dolopathos, dessen Bedeutung der Verfasser erklärt"^), und
den er selbst erfunden hat, beweisen seine Bildung, während er
als Mönch den heiligen Augustin "*) citirt und dem Schlüsse des
Buches eine religiöse Wendung gibt.
Obgleich das Werk eines durch die Schule gebildeten Mannes,
ist es seiner Tendenz nach doch durchaus romantisch, und man
würde vergebens in den vom Autor hierzu erfundenen historischen
Thatsachen nach Consequenz suchen. Er weiss, dass Virgil aus
Mantua ist, lässt ihn aber auch dort sterben und versetzt Mantua
nach Sicilien. Freilich verwechselt er Sicilien nicht mit Neapel, wie
viele seiner Zeitgenossen, sondern weiss, dass Palermo die Haujit-
stadt des Landes ist; aber er respectirt doch die Geschichte nur
bis zu einem gewissen Grade. Er redet von einem alten Testa-
mente unter den Heiden, bevor Christus erschien ""i , spricht von
Bischöfen, Aebten, Mönchen, Herzögen, Grafen und Baronen, macht
aus Augustus einen Kaiser der Romagna und König der Lombardei
und aus Dolopathos seinen Vasallen. Dem entspricht auch der
Typus des Vii-gil, der aber zu seiner Erklärung nicht die volks-
thümliche Herkunft und die Sage vom Zauberer nöthig hat. Virgil
ist hier der grosse Meister des profanen Wissens und hat nur den
Fehler, Heide zu sein und Nichts vom einigen Gotte zu wissen.
1) V. 12369 ff. (Aen. Vili, 40 f.).
2) Dolopathos stammt aus Troia:
„De Troie fu sea parentez"
3) „Por ce ot nom Dolopathos
Car il soufri trop en sa vie
De doleur et de tricherie."
4) V. 12890 f. (August. D. c. D. XVIII, 17—18).
5) „Je sais tot le Viez Testament"
V. 162.
V. 164 ff.
V. 4780.
204 Vügil in der Literatur bis auf Dante.
Er war ein hoch geachteter Mann und grosser Philosoph; Niemand
war berühmter und mehr geehrt von Augustus als er^); Könige
und Kaiser beugten sich vor seinem Worte, und durch seine Ge-
lehrsamkeit und Kunst erschien er als der vollendete „Cleriker":
A icel tans à Rome avoit
I. philosophe, ki tenoit
La renomée de clergie;
Sages fu et de bone vie;
D'une des citez de Sezile
Fut néz; on Tapeloit Virgile;
Le citéz Mantue ot à non.
Virgile fut de grant renom;
Nus clers plus de lui ne savoit;
Par ce si grant renon avoit;
Onkes poetes ne fu tex
S'il créust qu'il ne fust c'uus Dex^).
Dieser König der Weisen war Lehrer, aber natürlich vor einem
.sehr aristokratischen Auditorium. Lucinian wird von ihm sehr
höflich empfangen. Als er die Schule betrat, fand er Virgil auf
seinem Katheder sitzen: er war angethan mit einem kostbaren mit
Pelz gefütterten Mantel ohne Aermel und einer prächtigen Pelz-
mütze. Die Kapuze hatte er zurückgeschlagen; vor ihm auf dem
Boden sassen die Söhne vieler gi'ossen Barone und mit dem Buche
in der Hand hörten sie seiner Lehre zu:
Assis estoit en sa chaière;
Une riche chape forrée
Sans manches, avoit afublée,
Et s'ot en son chief im chapel
Qui fu d'une moult riche pel;
Tret ot arrier son chaperon.
Li enfant de maint haut baron
Devaut lui à terre séoient,
1) „Cesar ot par toute la vile
Commandé quo tuit l'ennoraisseut
Et seignorie li portaissent."
v. 1652 ff.
2) v. 1257 ff.
3) V. 1318 ff.
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 205
Qui ses paroles entendoient,
Et chacun son livre tenoit
Einssi comme il les enseignoit.
Der Unterricht ist zunächst ganz elementar. Virgil unterweist den
Lucinian im Lesen und Schreiben, dann im Lateinischen und Grie-
chischen. Schliesslich macht er ihn zum vollkommenen Gelehrten
indem er ihn in den sieben freien Künsten unterweist, mit der Gram-
matik, der Mutter aller, anfangend, und indem er Alles in einem
eigens für ihn verfassten so kleineu Büchelchen zusammendrängt,
dass er es in der geschlossenen Hand verbergen kann :
Torne ses feuilles et retorne;
Les VII ars Überaus atorne
En I. volume si petit
Que, si com l'estoire me dit,
Il le po'ist bien tot de plain
Enclorre et tenir eu sa main.
Premier li enseigne Gramaire
Qvii mere est, et prevosto, et maire,
De toutes les arts liberax etc. ^).
Wir sehen hier unter dieser Verkleidung den Virgil der mittelalterlichen
Schule sowie der Grammatiker und Verfasser von Compeudien
für di3 sieben Künste. Die Astrologie, nicht identisch mit der
Zauberei, tritt nach romantischer Vorstellung zu dem Ideale eines
Weisen als unentbehrlicher Bestandtheil hinzu"), üebrigens war
sie schon für die ganze Fassung der Erzählung unvermeidlich. Der
fromme Mönch glaubt an die McJglichkeit jener Weissagung, die
in Gottes Willen liege ^), und damit stimmt denn auch die Weis-
sagung über Christus überein. In der That sind es die bekannten
Verse der vierten Ecloge*), welche den Lucinian zum Christenthume
bekehren, und dies sind auch die letzten Beziehungen zwischen dem
Dolopathos und der literarischen Ueberlieferung von Virgil.
Der Virgil Dante's und des Dolopathos bilden zwei Extreme
in der Literatur des Mittelalters: die Schöpfung eines aus-
1) v. 139G ff.
2) „La VII est Astrenomie
Qui est fins de toute clergie."
Image du monde bei lubinal, Oeuvres compi, de Rnteboeuf, II,
p. 424.
3) Das erklärt er ausführlich v. 1162 ff.
4) V. 12530 ff'.
204 Virgil in der Literatur bis auf Dante.
Er war ein hoch geachteter Manu uud grosser Philosoph; Niemand
war berühmter und mehr geehrt von Augustus als er^); Könige
uud Kaiser beugten sich vor seinem Worte, und durch seine Ge-
lehrsamkeit uud Kunst erschien er als der vollendete „Cleriker":
A icel tans ù Rome avoit
I. philosophe, ki tenoit
La renomée de clergie;
Sages fu et de bone vie;
D'une des citez de Sezile
Fut néz; on Tapeloit Virgile;
Le citéz Mantue ot à non.
Virgile fut de graut renom;
Nus clers plus de lui ne savoit;
Par ce si grant reuon avoit;
Onkes poftes ne fu tex
S'il cróust qu'il ne fust c'uus Dex^).
Dieser König der Weisen war Lehrer, aber natürlich vor einem
.sehr aristokratischen Auditorium. Lucinian wird von ihm sehr
höflich empfangen. Als er die Schule betrat, faud er Virgil auf
seinem Katheder sitzen; er war angethan mit einem kostbaren mit
Pelz gefütterten Mantel ohne Aermel und einer prächtigen Pelz-
mütze. Die Kapuze hatte er zurückgeschlagen; vor ihm auf dem
Boden sassen die Söhne vieler grossen Barone und mit dem Buche
in der Hand höx'teu sie seiner Lehre zu:
Assis estoit en sa chaière;
Une riche chape forrée
Sans manches, avoit afublce.
Et s'ot en son chief un chapel
Qui fu d'une moult riche pel;
Tret ot arrier son chaperon.
Li enfant de maint haut baron
Devaut lui à terre séoient,
1) „Cesar ot par toute la vile
Commandé que tuit rennoraisseut
Et seignorie li portaissent."
2) v. 12.57 ff.
3) v. 1318 fi.
V. 1652 fi".
Virgil in der Literatur bis auf Dante. 205
Qui ses paroles entendoient ,
Et chacun son livre tenoit
Eiiissi comme il les enseignoit.
Der üuterricht ist zunächst ganz elementar. Virgil unterweist den
Lucinian im Lesen und Schreiben, dann im Lateinischen und Grie-
chischen. Schliesslich macht er ihn zum vollkommenen Gelehrten
indem er ihn in den sieben freien Künsten unterweist, mit der Gram-
matik, der Mutter aller, anfangend, und indem er Alles in einem
eigens für ihn verfassten so kleinen Büchelchen zusammendrängt,
dass er es in der geschlossenen Hand verbergen kann:
Tome ses feuilles et retorne;
Les Vn ars überaus atorne
En I. volume si petit
Que, si com Testoire me dit.
Il le poist bien tot de piain
Enclon-e et tenir eu sa main.
Premier li enseigne Gramaire
Qui mere est, et prevoste, et maire,
De toutes les arts liberax etc/).
Wir sehen hier unter dieser Verkleidung den Virgil der mittelalterlichen
Schule sowie der Grammatiker imd Verfasser von Compendien
für- die sieben Künste. Die Astrologie, nicht identisch mit der
Zauberei, tritt nach romantischer Vorstellung zu dem Ideale eines
Weisen als unentbehrlicher Bestandtheil hinzu-). Uebrigens war
sie schon für die ganze Fassung der Erzählimg unvermeidlich. Der
fromme Mönch glaubt au die Möglichkeit jener Weissagung, die
in Gottes Willen liege ^), und damit stimmt denn auch die Weis-
sagung über Christus überein. In der That sind es die bekannten
Verse der vierten Ecloge*), welche den Lucinian zum Christenthume
bekehren, und dies sind auch die letzten Beziehungen zwischen dem
Dolopathos und der literarischen Ueb erlief erung von Virgil.
Der Virgil Dante's und des Dolopathos bilden zwei Extreme
in der Literatur des Mittelalters: die Schöpfung eines aas-
1) v. 1396 fif.
2) „La vn est Astrenomie
Qui est fins de tout« clergie."
Image du monde hei lubinal, Oeuvres compi, de Ruteboeuf, II,
p. 424.
3) Das erklärt er ausführlich v. 1162 ff.
4) v. 12530 ff.
206 Virgil in der Literatur Ijìs auf Dante.
erwählten Dichters und die triviale, dem Komautiöcheu nahe
kommende eines Mannes von gewöhnlicher Bildung. Beide Autoren
gehen von der Schule aus, aber der eine übertrifft sie durch Adel
imd Höhe, der andere durch Armuth und Ixohheit. Vor.stellungeu
von Virgil, die sich auf dem Gebiete der rehi gelehrten Anschauung
nach Dante zeigen, gehören der Renaissance an und sind hier also
auszusclüiessen. Der Virgil des Dolopathos dagegen führt uns durch
das romantische Element das ihm inue wohnt, zu dem zweiten Theil
unseres Werkes.
Virgil in der Volkssage.
Maint autres grant clerc ont esté
Au monde de grand poesté
Qui aprisrent tote lor vie
Des sept ars et d'astronomie ;
Dont ancuns i ot qui a leur tens
Firent merveille por lor sens;
Mais eil qui plus s'en entremist
Fu Virgiles qui mainte en fist,
Por ce si vos en conterons
Aucune dont oi avons.
L'Image du Monde.
Erstes Capitel.
Die Volkspoesie des Mittelalters und die klassische Dichtkunst
erscheinen uns heute nach Form und Inhalt in einem so scharfen
Gegensatze zu einander, dass wir glauben, es könne die erstere
nur aus einer revolutionären Tendenz gegen die letztere hervor-
gegangen sein. Aber ein Kampf zwischen Klassicismus und Ro-
mantik, wie er in der modernen Zeit zu Tage getreten ist, und
auf welchem eben jene Vorstellung beruht, fand im Mittelalter in
Wahrheit nicht Statt. Die Volksliteratui- war eben so wenig eine
Reaction gegen die antike Poesie, als sich die Republiken des
Mittelalters aus einer Revolution gegen die Monarchieen entwickelt
haben. Das wäre schon deshalb unmöglich gewesen, weil es in
jener Zeit, wie wir gesehen haben, ja bei der Geistlichkeit wie bei
den Laien gar kein richtiges und lebendiges Verständniss für das
Alterthum gab. Das Lateinische, welches damals beinahe noch wie
eine lebende Sprache angewandt wurde, diente als Bindeglied
zwischen der antiken Ueberlieferung und den von dieser unab-
hängigen neuen Schöpfungen. Während es nämlich Elemente des
Alterthums in sich aufl^ewahrte , war es zugleich der Ausdruck
lebendiger Empfindungen und hatte, um sich diesen anzuschmiegen,
auch in der Poesie jene veränderte Form angenommen, welche
man dem klassischen Ideale gegenüber als „Con-uption" bezeichnet.
Es gibt wol keine Dichtung, deren Stoff dem Mittelalter so aus-
schliesslich angehöi-t, wie das Walthariu slied: und doch ist dasselbe
208 Virgil in der Volkssage.
iu lateinischeu Hexametern abgefasst und enthält so viele Virgil-
reminisceuzeu, class man deutlich sieht, der Dichter war durch die
Schule gebildet worden und hatte, \yie jeder Gelehrte, den Virgil
fleissig gelesen ^). Und ganz das gleiche findet bei einer Menge
l)iosaischer wie iioetischer lateinischer Erzählungen des Mittelalters,
deren Stoft' der Volkspoesie angehiirt, Statt. Diese selbst aber ver-
achtet das Alterthuin n\it seinen Dichtungen keineswegs, sondern
spricht davon stets mit Bewunderung und ordnet sich gewisser-
massen demselben unter, indem sie sich auf seine Autorität beruft
und öfter sogar Stellen aus antiken Werken wörtlich wiedergibt^).
Eh ist etwas ganz gewöhnliches, dass der romantische Erzähler als
Quelle seiner Darstellung irgend ein wirklich vorhandenes oder
erfundenes lateinisches Buch anführt*).
Allerdings gibt es bei einigen Völkern Euroiia's eine ältere
Periode der Volksdichtung, welche ausschliesslich national ist und
sich noch nicht mit fremden Elementen vermischt hat. Es ist dies
die Periode , in welcher die skandinavischen , germanischen und
keltischen Völker iu den epischen Liedern ihrer Vorfahren noch
das Andenken an eine der römischen Civilisation und der Annahme
des Clu-istenthums vorhei-gehende Zeit bewahrt haben. Allein die
erhaltenen schriftlichen Denkmäler zeigen uns, dass diese Periode
nur von kurzer Dauer war. Schon die schriftliche Aufzeichnung
jener Gesänge liefert den Beweis für den Einfluss einer nicht-
nationalen Cultur: bediente man sich doch dabei der lateinischen
Schi'ift! Zahlreicher ist die Klasse von Volksdichtungen des Mittel-
alters, in denen sich das Nationale mit Elementen allgemeinerer
Natur verbindet , welche die verschiedenen Nationalitäten zu einer
bürgerlichen, geistigen und religiösen Einheit verschmolzen. Noch
1) S. Grimm und Schmeller, Lateinische Gedichte des 10. und
11. Jahrb. p. 65 ff. und Cholevius, Geschichte der deutchen Poesie
nach ihren antiken Elementen; I, 20 ff. In dem lateinischen rhythmischen
Liede der Soldaten von Modena (10. Jahrh.) wird die gewiss aus
Virgil bekannte Erzählung von Sino ei-wähnt. Vgl. Du Her il, Poes,
pop. lat. ant. au XII. siècle p. 268.
2) Zappert (Vii-gil's Fortleben im Mittelalter p. 7. ff. Anm. 64 ff.)
hat die Virgilreminiscenzen bei den Volksdichtern zusammengestellt. Aber
er begnügt sich mit zu allgemeinen Beziehungen und seine Behauptungen
gelten nur für- einen kleinen Theil der Stellen. Auf seine Art könnte
man auch beweisen, dass indische oder persische Dichter den Virgil ge-
lesen haben.
3) Vgl. Reiffenberg, Chron. rimée de Philippcs Mouskes.
p. CCXXXV ff.
Virgil in der Volkssage. 201'
reicher ist aber endlich die Gruppe von Dichtungeu, ans denen die
nationalen Bestandtheile ganz verschwunden und nur noch die
Allen gemeinsamen Elemente der Empfindung, Bildung und Re-
ligion als poetische Zwecke bemerkbar sind. Diese Gruppe,
welche weniger als die beiden anderen dem eigentlichen Epos
angehört, offenbart sich in einer Menge von phantastischen Er-
zählungen in Vers und Prosa, wie in der romantischen Lyrik, dem
Ausdrucksmittel einer Empfindung, die ja keinem Lande aus-
schliesslich und allein eigen war. In der Periode, als die grosse
Umwandlung der nationalen Elemente und ihre Verschmelzimg mit
universalen Gedanken besonders der Religion und Bildung vor
sich ging, als die Texte der Volksdichtungen in's Lateinische und
dann wieder umgekehrt die lateinischen Texte in die Volks.sprache
übertragen wurden, war es die Geistlichkeit, welche als Träger der
Bildung und Religion, d. h. der die Verschmelzung bewirkenden
Elemente, auch als der Urheber jener Umwandlung zu betrach-
ten ist.
In dieser ganzen Epoche einer allgemeinen Vereinigung und,
man kann wol auch sagen, der Verwirrung genoss die besonders
thätige Phantasie eine übermässige Freiheit. Die Geister des Mittel-
alters weichen in ihren Gewohnheiten und Aeusseruugen in der
That völlig von der Art und Weise normaler Zeiten ab, und man
begreift, wie durch das Uebergewicht der Allegorie selbst bei der
ernstesten geistigen Thätigkeit die Verschmelzung verschiedenartiger
Ideen etwas ganz gewöhnliches werden, die Erforschung der Natur
der Dinge und ihre richtige Darstellung verhindern musste, und
die stets zur Verwirrung geneigte Phantasie in der Thätigkeit des
Verstandes kein Correctiv mehr finden konnte, wie es ihr in der
Kritik geübte Zeiten gewähren. Wenn man auch hie und da in
den phantastischen Schöpfungen des Mittelalters einen vernünftigen
Zweck wahrnimmt, so gibt es doch wieder solche, die man nur
von einem pathologischen Gesichtspunkte aus betrachten kann, und
die sich nicht erklären liesse, wenn es nicht für gewisse Aus-
schreitungen ein Naturgesetz gäbe. Wer den verschiedenen Charakter
der antiken und mittelalterlichen Poesie genau betrachtet, wird
bemerken, dass die leere Phantasie und die falsche Sentimentalität,
mit welcher das Mittelalter endigt, auf ganz denselben Ursachen
beruhen, wie die Rhetorik und Declamatiou des untergehenden
Alteiihums.
Mit diesem Uebergewichte der Phantasie hing nun eine ausser-
ordentliche Vorliebe für das Wunderbare und ein allgemeines Be-
Comparett i, Virijil im Afittelulter. 14
210 Virgil in der Volkssage.
dürfniss nach abenteuerlichen Erzählungen zusammen, welches sogar
zur Personification der „Frau Aventiure" führte *). Und da sich Alle
in diesem Tranke berauschen wollten, konnte nur die vielseitigste
erfinderische Thätigkeit jenen Durst stillen. Auch die Erzählung
aus dem Alterthum musste sich dem Ideale der Zeit gemäss zur
romantischen Verkleidung hergeben. Was uns aber heute dabei
lächerlich und erzwungen erscheint, hatte damals diesen Charakter
nicht: jene Verkleidung war ja nur ein etwas bestimmterer Aus-
druck für die naive Anschauung, mit der man allgemein die Er-
zählungen aus dem Alterthum betrachtete. Die verschiedenai-tigsten
Stoffe nahmen jetzt eine gemeinsame Färbung an, und weil man
nur schwer die Anschauungsweise der Gegenwart aufzugeben ver-
mochte, kam man schliesslich anf Tvpen hinaus, die sich trotz
der verschiedenen Namen, Oerter und Thatsachen ganz gleich
sahen. Die kirchliche, klassische und orientalische Erzählung, die
Mythologie und Geschichte, die skandinavische, keltische und ger-
manische Sage erschienen jetzt in romantischer Form. Das Alter-
thum trat ganz wie die Gegenwart selbst auf: der antike Heros
ward ein Ritter, die Heroine eine Edelfrau und die Götter des
Heidenthums wurden zu Zauberern vom verschiedensten Gepräge;
Nero betet zu Muliammed, der Saracene zu Apollino, und auch die
Liebe, von welcher die antike Mythe und Geschichte handelte, wird
zu einer romantischen Empfindung. J)ie alten Dichter und Schrift-
steller endlich werden Philosophen, Weise und Gelehrte, natürlich
stets mit jener Uebertreibung und Ven'ückung der Gesichtspunkte,
die wir schon in der Ueberlieferung der Schule und bei den Ge-
lehrten des Mittelalters gefunden haben, die sich aber imter
der unumschränkten Herr.schaft der Phantasie noch bedeutend
steigert.
Bei dieser Umwandlung behauptet unter allen alten Autoren
Virgil auch in der Romantik dieselbe hervorragende Stellung,
welche er bei den Gelehrten und in der Schule einnahm. Jedoch
war jetzt nicht nur der Ruhm des Dichters, sondern auch sein
Werk als Erzählung den neuen Einflüssen ausgesetzt, die sich
zwar für jenen wie für dieses auf verschiedenen Gebieten geltend
machten, aber doch in Beziehung zu einander standen. Für den
romantischen Dichter gal) es aus der ganzen alten Dichtkunst,
Mythe und Geschichte nichts Anziehenderes, als die kriegerischen
1) VtTgl. Grimm, Frau Aventiure in seiuen Kleinen Sehr. 1,
83 ft-.
Vii-fril in der Volksaage. 211
Tliaten der Helden, die wunderbaren Begebenheiten und die Liebes-
abenteuer. Alles, was die antike, wie die auf-' ihr beruhende la-
teinische Literatur des Mittelalters in dieser Beziehung darbot,
wurde als Stoff oder als Ausschmückung für jene Darstellungen
verwandt: die trojanische Geschichte nach Virgil, nach dem Pseudo-
Dares und anderen lateinischen Texten, die thebanische nach
Statins, die wunderbaren Fabeln über Alexander nach lateinischen
Uebersetzungen aus dem Griechischen, die Geschichte Caesar's und
der römischen Eroberungen nach Lucan, so wie endlich der ganze
reiche mythologische Schatz, welchen die Metamorphosen des Ovid
enthalten^) — Alles dies ging jetzt in die Literatur über und .lieferte
den Stoff für freie Uebersetzungen und Umarbeitungen, bei denen
die Romantik an Stelle der antiken Idee auftrat. Der eigentliche
Mittelpunkt und Heerd dieser Schöpfungen ist von der zweiten
Hälfte des 12. Jahrhunderts an Frankreich; von dort aus verbreiten
sie sich in Uebersetzungen, Nachahmungen und Umarbeitungen
über ganz Europa, besonders in Deutschland, welches nächst Frank-
reich hierin am meisten thätig war. Benoit de Sainte-More, Lambert
li Cors, Heinrich von Veldeke, Albert von Halberstadt, Herbort
von Fritzlar u. a. haben derartige Werke geschrieben, welche
ungemein beliebt und bekannt waren").
Das Gefallen an der antiken Sage und Geschichte, wie ihre
phantastische Weiterbildung war freilich schon früher vorhanden,
als die eigentliche Romantik; noch bevor die Volksliteratur sich
entwickelte und mit den Elementen der überlieferten Cui tur ver-
band, gab es in der gelehrten Litei-atur des Mittelalters unter den
Schöpfungen der Geistlichkeit eine ähnliche Arbeit, wenngleich in
derselben noch die Vorstellung, welche die Schule vom Alterthume
hatte, so wie die moralisirende Richtung der Kirche durchaus vor-
herrschten. Unter den antiken Mythen war die vom trojanischen
Kriege die berühmteste und am häufigsten bearbeitete^). Virgil
1) Der König Alfons sagt: „El Ovidio mayor (Metamorfosi) non es
ài entra ellos (d. h. den Alten) sinon la theologia et la ßiblia dellos
entre los gentiles". — Grande et general estoria I, 8, e. 7. Vergi.
Amador de los Rios, Hist. crit. de la lit. espan. Ili,
p. 603.
2) Eine sehr verständige und eingehende historisch-kritische Unter-
suchung über die Umwandlung des antiken Stoffes in einen romantischen
findet man bei Cholevius, a. a. 0. cap. 3—9.
3) Vgl. Dung er, Die Sage vom Trojanischen Kriege in den Be-
arbeitungen des Mittelalters und ihren Quellen. Leipz. 1869.
14*
212 Virgil in der Volkssage.
als die oberste Autorität für diese Sage, welche Kom mit Troja
verknüpfte und «de wir sahen, unter den Völkern und Fürsten
Europa's die Mode aufgebracht hatte, nach dem trojanischen Ur-
sprünge der Familien, als dem charakteristischen Kennzeichen ihres
Adels zu suchen, hatte auch durch seinen Eintluss dazu beige-
tragen, dass die Erzählung vom trojanischen Kriege so beliebt war
und schliesslich mehr Sym'pathien für die Trojaner als fiü" die
Griechen erweckt wurden. Dies geht schon aus dem Umstände
hervor, dass der dem Dares zugeschriebene Text, den man von
einem zur Zeit des Ki-ieges lebenden Trojaner verfasst glaubte,
beliebter, als der nach griechischer Auffassung geschriebene Text
des Dictys war. Man strafte sogar den Homer Lügen, wenn
man bemerkte, dass er in seiner Darstellung von Dares ab-
wich ^).
Wie nun aber schon der ganze, besonders durch die Aeneis
]>erühmt gewordene Theil der trojanischen Sage zur romantischen
Erzählung wurde, so geschah dies natürlich noch weit mehr mit
der Aeneis selbst. Und in der That verfasste Benoit de Saint-
More ausser seinem „Roman von Troia" auch noch einen ,, Roman
des Aeneas^)". In dieser neuen, dem Kreise der Schule ganz fern
stehenden Aeneis kam das rein Historische, so wie alles das, was
etwa durch mythologische Vorstellungen den antiken Ursprung des
Gedichtes verrieth, erst in zweiter Linie in Betracht. Mehr, als
irgend etwas anderes, musste in der Aeneis das Element der Liebe
und die Darstellung des verliebten und umstrittenen Weibes, d. h.
Dido's und Lavinia's, auf den Dichter der Romantik anziehend
wirken. Und so entstand denn, indem man den Stoff des Epos
theils kürzte, theils erweiterte oder umgestaltete, ein romantisches
Gedicht, in welchem die antiken Namen zwar geblieben waren,
aber die erzählten Begebenheiten, Titel der Personen, Schilderungen,
so wie Ton und Farbe des Ganzen vielmehr der Gegenwart und
der ritterlich-höfischen Anschauung derselben entsprachen. Diese
1) So auch Guido delle Colonne. Vgl. Duugor, a. a. 0.
p. 19 f.
2) Publicirt vou Joly, Benoit de Saiute-More et le Roman de
Troie, ou Ics métamorphoses d'Homère et l'epopèe greco-latine au moyon-
age. Paris, 1870. Der „Roman d'Eneas", der gewiss auch von Benoit
herrührt, ist noch nicht herausgegeben. Ein Stück des Anfanges gab
Paul Heise in seinen „Romanische inedita" p. 31 ff. aus einem Cod.
Laur. heraus. Ein Auszug aus dem ganzen bei Pey „Essai sur li Ro-
mans d'Eneas d'aprés les Mss. de la bibl. imp." Paris 1856.
Virgil in der Volkssage. 213
Schöpt'uug fand grossen Beifall; noch mehr aber als der französische
Text, wurde die deutsche Bearbeitung des Heinrich von Veldeke
berühmt, der in Folge seiner „Eneit" als das Haupt einer grossen
deutscheu Dichterschule galt^).
Man darf diese romantische Umgestaltung der antiken Er-
zählungen nicht, wie es wol auf den ersten Blick scheinen könnte,
als eine eigentlich volksthümliche Schöpfung auffassen, die ohne
Kenntniss der klassischen Literatur zu Stande gekommen wäre.
Vielmehr war sie auf eine aristokratische, höher stehende Gesell-
schaft berechnet und das Product der höfisch gewordenen Volks-
literatur. Ihre Verfasser sind gebildete Laien oder Geistliche und
haben bei ihrer Arbeit den lateinischen Text vor Augen, auf dessen
Autorität sie sich oft ausdrücklich berufen"). Hierbei schufen sie
selbst nicht eigentlich etwas -Neues, da ja vielmehr Alles schon vorher
entstanden war, sondern fassten nur mit mehr Verständniss des
Stoffes und Zweckes in einem besonderen Werke zusammen, was
sich in der romantischen Literatur und der Volkspoesie im Allge-
meiuen bereits vorfand. Die antiken Namen und Begebenheiten,
die selbst bei den Geistlichen nicht mehr von einem richtigen
Verständniss des Alterthums begleitet waren, drangen nun als ein
Element der Cultur in die neue, volksthümliche Kunst ein, be-
rühi-ten sich mit der doi-t herrschenden Empfindung und assimilirten
sich derselben. Jeder Volksdichter kennt und nennt die Namen
1) Publicirt von Ettmüller, Heinrich von Veldeke, Leipz. 1852,
mit dem franz. Texte verglichen von Pey, L'Eneide de Henri de
Veldeke et le Roman d'Mneas, Jahrb. f. rem. u. engl. Litt. H, p. 1 ff. —
Gervinus, Gesch. d. deutsch. Dicht. I. p. 272 ff. urtheilte ohne Kennt-
niss des franz. Textes. Besser Cholevius, a. a. 0. p. 102 ff., obgleich
auch er die Bezeichnungen zum Original damals noch nicht kennen
konnte. Das Falsche in Gervinus' Urtheil hat. E. Wörner „Virgil und
Heinrich von Veldeke" (Zeitschr. f. deutsche Philol. von Höpfner und
Zacher III, 126 ff ) berichtigen wollen und zugleich gemeint dem Minne-
sänger durch Vergleichung mit dem grossen lateinischen Dichter einen
Dienst zu erweisen. Ueber das Lob, welches Wolfram von Eschenbach und
Gottfried von Strassburg dem Heinrich ertheilen, urtheilt Gervinus
richtig. Ueber die merkwürdigen Miniaturen in der Berliner Hdss. dieses
Gedichtes s. Piper, Mythologie d. ehr. Kunst. I, 246 ff und Kugler,
Kleine Schriften.
2) Auch Heinrich von Veldeke, der sich unmittelbarer auf das fran-
zösische Original stützt, citirt den Virgil häufig: „so saget VirgiJiüs der
märe", ,,so zeit Virgilius der helt". Vergi, auch das was er p. 26, v.
18 f. sagt.
214 Virgil in der Volkssage.
des Aeneas, der üido, Lavinia u. s. w.^), und unter den Erzählungen
der Troubadours finden sich antike mit romantischen Stoffen ver-
mischt''). Der fruchtbare Chrestien de Troies spricht in seinem
romantischen Gedichte „Erec" von einem prächtigen Sattel, auf
welchem die ganze Geschichte des Aeneas dargestellt war^). Na-
türlich war für alle diese Dichter, mochten sie Laien oder Geist-
liche sein, von der antiken Idee der Sage nicht mehr die Rede.
Dies hätte auch nur ein Missverhältniss erzeugt, da ja jede Kunst-
foi'm aus inneren Gründen ihre eigene Betrachtungsweise hat.
Andererseits aber hob doch die neue Kunstgattung nicht ganz die
Thätigkeit des Gedankens auf, sondern entwickelte sich neben einer
altüberlieferten Cultur und gelehrten Beschäftigung, die eben zu
der Zeit, als sich jene Romane ausbreiteten, von den Geistlichen
zu den Laien überging; und so geschah es, dass die romantische
Darstellung ebenso beliebt war, wie der antike Stoff, von welchem
1) Eine reiche Sammlung von Beispielen hierfür bei Bartsch, Al-
brecht von Halberstadt und Uvid im Mittelalter, Quedliub. und Leipz.
1861 (p. XI-CXXVII).
2) „Qui vele ausir diverses contea
De reis, de marques e de comtes
Auzir ne poc tan can si volo.
L'autre comtava d'Eneas
E de Dido consi remat;
Per lui doleuta e mesquina;
L'autre contava de Lavina
Con fes lo bren al cairel traire
A la gaita de Tauzor traire etc."
Roman de Flamenca pubi, von Paul Meyer v. 609 ff. p. 19 f.
Vgl. auch Guiraut de Calanson bei Diez, Poesie der Troubadours
p. 199, und andere Stellen bei Gr aesse, Die grossen Sagenkreise des
Mittelalters p. 7 ff.
3) „Si fu eutaillée l'estoire
Coment Eneas mut de Troie
Et com à Cartagc à grant joie
Dido en son lit le re^ut;
Coment Eneas la devut,
Coment eie por lui s'ocist;
Coment Eneas puis conquist
Laurente e tote Lombardie,
Et Lavine qui fu s'amie."
Ueber andere Volksdichter in Bezug auf die Schicksale des Aeneas s.
Bartsch a. a. 0. p. XXI tf. u. CXXII f. Der „Roman de Brut" von
Wace beginnt mit einem Auszuge aus der Aeueis zum Zwecke der
Genealogie des Helden des Romanes.
Virgil in der Volkssage. 215
man sich so weit entfernte, und den man jetzt für die Laien in
die Volkssprache übersetzte, ohne dass darum etwa die romantische
Bearbeitung daneben als Parodie oder auch nur als sonderbar er-
schienen wäre. Und dies ist nicht das einzige Gebiet, auf welchem
das Mittelalter zwei für uns so widerstrebende Dinge mit einander
vereinigt.
Jene Umgestaltung, welche das Werk Vii-gils erlitt, durften
wir schon deshalb nicht übergehen, weil sie mit dem Ruhme des
Dichters selbst in Beziehung steht. In der That gibt es einen
idealen Virgil, dem man eine derartig veränderte Aeneis zu-
schreiben könnte. Es ist der Virgil des Dolopathos, jenes Vorbild
eines hohen Geistlichen, der, umgeben von Herzögen, Baronen,
Bischöfen, Aebten, Höflingen, Frauen und turnierenden Rittern doch
zugleich Dichter ist^), obgleich er im Gedichte selbst nicht dazu
kömmt, dies zu beweisen. Wenn Herbers ihn als Dichter einer
Aeneis hätte auftreten lassen wollen, so wäre es gewiss nicht die
antike, sondern eine romantische Aeneis gewesen, die er ihm bei-
gelegt hätte. Die moralische Erzählung, welche Virgil im Dolo-
pathos vorträgt, ist in der That nach Form und Inhalt durchaus
romantisch^).
Wir sahen, wie jener Typus des Virgil im Dolopathos un-
mittelbar aus der literarischen und scholastischen Idee des Mittel-
alters entsprang. Der „clerc" und „la discipline di clergie" be-
deuten den Gelehrten und die Gelehrsamkeit der Schule, wie sich
solche eben in jener Zeit darstellten. In der romantischen Dich-
tung, die völlig frei und von der Schule unabhängig ist, erhielt
aber Alles, was von dieser herkömmt, den Charakter des Wunder-
baren, wie Etwas, das man nur von fern sieht, oder das fremd
an den Geist herantritt. Das Wunderbare verleiht daher auch gern
den Namen, welche aus dem Kreise der Schule stammen, seinen
Glanz. Bei Virgil war das um so eher möglich, als dessen Name
schon durch die Literatur und Schule mit dem Scheine des Wunder-
baren und Imponirenden umgeben war. Es musste demnach der
Virgil der Schule in der Romantik ebenso folgerichtig zu dem
1) „Onkes poetes ne fu tax" v. 1267.
2) Es ist die Erzählung von dem Chevalier à la trappe, die
mit einer anderen verbunden die Novelle Tofano e monna Ghita
im Decameroue bildet (VIII, 4). Vgl. hierüber d'Ancona, Il libro
dei sette savi di Roma p. 112 flF. p. 120; Oesterley zu Pauli 's
Schimpf und Ernst p. 678 und Benfey, Pantschat, I, 331.
216 Virgil ili der Volkssagc.
Viigil des Dülopalhüs^ werden, wie aus der antiken Aeueis eiu
Aeneat>ron)an geworden war. Sollte auch der Verfasser des Üolo-
pathos seinem Stande oder seiner Bildung nach ein Geistlicher
sein, so zeigt sich doch in jenem Typus des Gelehrten eine rein
volksmässige Vorstellung von der AVissenschaft, deren Wesen bei
dem merkwürdigen, man möchte sagen optischen Standpunkte
dessen, der sie betrachtet, ganz von selbst phantastisch und
wunderbar wird. Wie jeder grosse Weise, ist auch Virgil Astrolog
oder, wie man sagte, Astronom, und aus der Sternkmide Hoss
seine Kenntniss der zukünftigen Dinge. Das hielt damals Nie-
mand für unmöglich, ja, bedenkliche Leute, wie der Verfasser des
Dolopathos , bemerkten geradezu, dass so etwas nur mit Gottes
Willen geschehen könne. So weit also, nämlich bis zu dem Bilde
eines in allen Zweigen des Wissens, also auch in der Astrologie
bewanderten Weisen, vermochte es die in die Romantik über-
gehende gelehrte Vorstellung zu bringen.
Das Wunderbare, das ein so wesentlicher Bestandtheil der
romantischen Erfindung war, hatte aber unter seinen reichen Aus-
drucksmitteln den Typus des „Zauberers" aufzuweisen, welcher, so
wenig wahrhaft poetisch auch derselbe ist, doch in den Erzählungen
jener so leichtgläubigen und nach dem üebermenschlicheu und Wunder-
baren so begierigen Zeit eine sehr hervorragende und wirkungs-
reiche Figur ausmachte ^). Jeder Zauberer ist natüi-lich ein Weiser,
aber nicht umgekehrt jeder Weiser ein Zauberer; beide Begriffe
sind vielmehr gesondert und unabhängig von einander. Die
Zauberei ist eigentlich ein Zuwachs grosser Weisheit, im juora-
lischen Sinne aber auch eine Verschlechterung. Es gibt zwar eiu
Verhältniss , bei welchem die Zauberei als rein wissenschaftliche
Beschäftigung i;nd darum erlaubt erscheint, nur muss man fest-
halten, dass die Idee eines Zauberers nicht innerhalb der Wissen-
schaft oder der Schule entstand. Ich glaube nicht, dass sich der
scholastische Tyjjus des Vii-gil lediglich auf dem natüi-lichen Wege
einer Ideenassociation in den Typus des Zauberers hätte ver-
wandeln können. Für die Umwandlung eines „Weisen" in einen
Zauberer gibt es, was die Männer des Alterthums anlangt, nur
wenig Beispiele, welche auch meist auf eine augenblickliche Ver-
tauschung der Namen hinauslaufen. Bei keinem unter ihnen aber
1) Vgl. ilo iäcu kränz, Geschichte der deutsch. Poesie im Mittel-
alter p. 67.
Yirgil in der Volkssage. 217
hat .sich die Inognipliische Legende «o weit ausgedehnt, wie bei
Virgil. Es musste also unabhängig von der Literatur im Volke
eine" besondere Vorstellung über Virgil vorhanden sein , und unsere
Untersuchung wird uns in der That zeigen, dass die Vorstellung
von dem Wunderthäter und Zauberer Virgil lediglich im Volke
entstand, während sie erst später in die Literatur überging, als
sie dort verwandte Elemente vortand. Jene Vorstellung aber ist
italienischen Ursprungs.
Was die Italiener auch im Mittelalter auszeichnet und ihnen
in der Geschichte und Cultur vor den anderen Völkern Europa'«
eine höhere Stellung einräumt, ist der Umstand, dass sie mehr
als irgend ein anderes Volk an phantastischen Schöpfungen arm
«ind. ''üie Romantik ist, so weit sie sich in der Erfindung von
Erzählungen äussert, in Italien kaum vorhanden. Auch was das
Kitterthum betrifft, verhall sich Italien fast ganz passiv und gibt
in diesem Punkte nur einem unvermeidlichen Einflüsse nach, der
von aussen herandringt, aber doch zeigt, wie wenig jene Schöpfung
mit den Bestrebungen des Landes harmonirt. Unter den vom Aus-
lande hereingebrachten Erzählungen waren auch in Italien einige
französische Texte der trojanischen Geschichte behebt, weit weniger
der „Roman des Aeneas^)". Virgil Óvid und andere alte Dichter
wurden schnell in italienische Prosa übersetzt 2), und zwar ohne
grosse Veränderung, abgesehen von den üblichen moralischen Zu-
ihaten, mit welchen man besonders den Ovid bedachte. Guido da
Pisa, der die Schicksale des Aeueas beschrieben hat, offenbart zwar
in einigen Ausdrücken den Eiufluss des Mittelalters, aber er
war doch weit entfernt von einer romantischen Erzählung und wich
von Virgil nur da ab, wo er sich auf die Autorität anderer alter
Schriftsteller stützte. Die Phantasie fand in Italien grössere Hinder-
nisse als irgend w^o anders, sei es, dass in dem italienischen
Charakter der Verstand überwiegt, oder sei es, dass die über-
lieferte Cultur, so niedrig sie auch war, in Italien mehr als in
anderen Ländern heimisch war imd festere Wurzeln hatte. Italien
1) In der noch ungedruckten Fiorita von Armannino ist der
Roman d'Eneas benutzt. Vgl. Mussafia, Sulle versioni italiane della
storia Troiana p. 48 ff. , . .
2) Veri Gamba „Diceria bibliografica intorno ai volgarizzamenti
italiani d°elle opere di Virgilio" in der „Antologia di Firenze" voi. II
(1821) p 164 fi- ,L'Eneide di Virgilio volgarizzata nel buon secolo della
lin-ua da Ciampolo di Meo degli Ugurgieri." Florenz 1858. Diese Ueber-
setzung entstand gewiss nicht früher als die Divina Commedia.
218 Virgil iu der Volkssage.
l)leibt im ^Mittelalter , obgleich besiegt, zerrissen \nu\ verwildert,
(loch für die Geschichte und Cultiu- ein idealer Mittelpunkt, und
das Bewusstsein davon geht den Italienern niemals verloren ').
Darum sucht man bei ihnen vergebens nach Erscheinungen, wie sie
sich in anderen Ländern finden, in denen weniger starke und un-
mittelbar wirkende, gi'osse historische Erinnerungen, welche die
ei^ische Form nicht annehmen konnten, vor dem Geiste der
Menschen standen. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Italiener
nicht auch ihre Volkssagen haben, welche das Alterthum und die
Anlange verschiedener Städte behandelten. Wenn erst die histo-
rischen Studien in Italien sich wieder mehr entwickelt haben,
werden auch gewiss noch viele solcher Sagen zu Tage treten.
Thatsache ist, dass das Andenken an die alte römische Welt bei
den Barbaren viel lebendiger, als bei den Italienern auf die
Phantasie gewirkt hat. Nur der kleinste Theil von Sagen, welche
sich auf das römische Alterthum beziehen, sind in Italien ent-
standen; die meisten derselben, die sich in Italien finden, sind von
aussen hereingebracht.
Die in Italien selbst entstandenen Sagen haben öfters antike,
historische odei mythologische Begebenheiten, häufiger noch antike
Monumente zu ihrem Gegenstande, oft aber auch nur die Namen
antiker Persönlichkeiten. Viele erlauchte Namen des alten Rom's
erhielten sich im Andenken des Volkes, losgelöst von ihren ge-
schichtlichen Thaten, zwar nicht ganz ohne eine mit der Geschichte
im Einklang stehende Charakteristik, aber doch in einer Auffassung,
wie sie eben dem beschränkten Geiste des Volkes und den Er-
zählungen alter Frauen eigen war, von denen schon Dante sagt:
„ . . . . traendo alla rocca la chioma.
Favoleggiava colla sua famiglia
De' Troiani, e di Fiesole, e di Koma."
Mit diesen Namen verknüpfte nun die Phantasie des Volkes fabel-
hafte Erzählungen aller Art, je nach den Vorstellungen, die man
von jenen Personen hatte. Caesar, Catilina, Nero, Trajan u. a. sind
1) „During the gloomy and disastrous ceuturies which followed the
downfall of the roman empire, Italy had preserved in a far greater de-
gree than any other part of western Europe the traces of ancient ci-
vilisation. The night which desceuded upon her was the night of an
arctic feunimer. The dawn began to reappoar before the last reflection
of the preceeding suiisct had fudcd from the horizoii." Macaulay, Ess.
on Macchiavelli p. 04.
Virgil in der Volkssage. 219
solche Persnnlichkeitt'ii der Sage geworden, haben aber doch ihren
ganz verschiedenen Charakter iu derselben bewahrt. Nichtsdesto-
weniger treten, da sich natürlich die Zahl der von der Sage dar-
gestellten Typen nur auf die hervorragenden Erscheinungen, die
das Volk versteht, beschränkt, mehrere derselben zu einer einzigen
Gruppe, wie der des" Weisen, des Zauberers, des Tyrannen u. s. w.
zusammen und nehmen gemeinschaftlich Theil an dem betreffenden
Kreise der Sagen, welche die verschiedenen Erzähler dann wieder
bald auf die eine, bald auf die andere Person beziehen.
Eins der leuchtendsten Beispiele hierfür ist die Virgilsage,
welche in Neapel entstand und sich dann in der europäischen
Literatur verbreitete, zunächst eher ausser- als innerhalb Italiens.
Sie war die Schöpfung des niederen, abergläubischen Volkes, gleich
weit entfernt von künstlerischen wie literarischen Zwecken, und
gründete sich auf locale Erinnerungen, auf die Thatsache von des
Dichters langem Aufenthalte iu Neapel und die Berühmtheit
seines Grabes daselbst. Die Sage bezog sich ferner aach auf Orte
der Umgegend, auf Bilder und Denkmäler, mit denen dieselbe aus-
geschmückt war, und welchen Virgil eine wunderbare Kraft ver-
liehen haben sollte. Dieser Glaube erhielt sich im Volke, ohne
irgend eine poetische oder künstlerische Form anzunehmen; im
übrigen Italien wusste man wenig davon, und wenig Gewicht legte
man in Neapel selbst dai-auf, aber - Ausländer, welche Neapel be-
suchten, nahmen sich der Sage an und führten sie in die Literatur
ein, iu welcher sie sich gleichzeitig in romantischen und volks-
mässigen Schöpfungen, wie gelehrten lateinischen Arbeiten ver-
breitete. Hier wie da fand sie den Virgil schon zu jenem Typus
des Weisen reducirt, welcher ganz dazu angethan war, sich mit
ihr zu verbinden. Vom 12. Jahrhundert an begegnet man daher
zugleich mit dem Aufblühen der eigentlich romantischen Poesie
in der Literatur einer neuen Entwickelungsstufe für den Ruhm
Virgil's, deren verschiedene Wandlungen und Gestaltungen wir
nunmehr zu untersuchen haben. Von der bis jetzt betrachteten
unterscheidet sich dieselbe dadurch, dass sie von Voi'stellungen,
welche unabhängig von der Schule im Volke entstanden, ausgeht,
obgleich natürlich die gelehrte Vorstellung, die man zuletzt von
dem Dichter hatte, zu der volksmässigen in einem gewissen Ver-
hältnisse steht. Volksmässig nennen wir jene, nicht als ob sie
der Literatur ganz fremd wäre — denn wir müssen ihre Ge-
schichte im Gegentheil mit Hilfe von Schriften zusammenstellen,
die zum grössteu Theil gerade keinen volksmässigen Charakter
220 Virgil in der Yolkssage.
haben — sondern weil nie aus dem Volke enii^prungen itst und
sich aus volkythülulichen Gedanken gebildet hai. Ohne dies Ele-
ment wäre die literarische Ueberlieterung, so roh und verdorben
sie auch war, niemals zu jener Sage gekommen, von welcher sich
ja auch in der That vor dem zwölften Jahrhundert, selbst nicht
in den Zeiten der grössten Barbarei, eine Spur zeigt, bis- endlich
irgend Jemand, der sie dem neapoliianischen Volke abgelausclit
hatte, sie in die Literatur einführte.
Das unvernünftige Durcheinandeiniischen aller Allen von
(legenständen in den Kepertorien, Encyklopädieu, Compendieu,
Handbüchei'n und ähnlichen Werken lateinischer wie volksmässiger
Sprache besonders in der letzten Periode des Mittelalters ist ge-
rade so sonderbar, wie die zügellose Massenproductiou der phan-
tastischen Schöpfungen der Zeit. In ihnen zeigt sich der Ab-
lagerungsort des Mittelalters für klassische, christliche und romantische
Ideen, für Mythos, Geschichte, Sage und Roman zugleich. Der
„Novellino", welcher zur Unterhaltung geschrieben ist, die „Gesta
Romanorum", die durch merkwürdige moralische Erzählungen er-
bauen sollen, Vinceuz von Beaiivais mit seinem chaotischen „Spe-
culum historiale" und andere Verfasser gelehrter Werke sprechen
von Caesar, Arthur, Tristan, Alexander, Aristoteles, Saladin, Karl
dem Grossen und Merlin in gleicher Weise und mit demselben
Ernst. Walter Burley beschreibt in seinem „Leben der Philo-
sophen" mit grossem Ernste auch das Leben Virgil's und sagt,
dass derselbe ein Philosoph zu nennen sei, weil er Zauberer Avar
und die Geheimnisse der Natur kannte. Es gibt kaum ein Buch
aus jener Zeit, in welchem man nicht Sagen über Virgil erwarten
könnte. In einer Epoche, in welcher die Leichtgläubigkeit so all-
gemein war, bildete das niedere Volk nicht allein die Klasse der
Gesellschaft, welche keinen Antheil au der Bildung und Literatur
nimmt; obgleich aber die Zahl der Gebildeten damals weit geringer
als etAva zur Zeit der Renaissance war, ist doch die Kluft zwischen
Gebildeten und Ungebildeten lange nicht so gross, als in der mo-
dernen Zeit.
ZAveites Capitel.
Nach Allem, was bis jetzt bemerkt ist, kann es nicht auffallen,
wenn wir die ältesten Nachrichten über den Virgil der Volkssage
aus schriftlichen Quellen schöpfen müssen, und zwar gerade aus
solchen, die nicht für das Volk geschrieben, sondern von Gebildeten
Virgil in der Volkssage. 221
verfasst, für die höchste Klasse der Gesellschaft bestimmt und
iu lateinischer, nicht volksmässiger Sprache dargestellt waren.
Wir nennen unter den hier in Betracht kommenden Autoren vor
allen andern vier: Konx*ad von Querfurt, der Kauzler Kaiser Hein-
rich's VI, sein Stellvertreter in Neapel und Sicilien und zuletzt
Bischof in Hildesheim; Gervasius von Tilbury, Professor der Uni-
versität zu Bologna imd Marschall des Königreiches j^relat; Alexander
Xeckam, ein Milchbruder des Richard Löwenherz, Professor an der
Universität zu Paris, Abt von Cirencester und zugleich einer der
erträglichsten lateinischen Verskünstler seiner Zeit; endlich Johann
von Salisburj^ An ihrer Spitze stehen für uns Konrad und Ger-
vasius, die uns nicht nur als die Ersten ausführlich von den Virgil-
sagen sprechen, sondern auch den neapolitanischen Ursprung der-
selben andeuten, was unsere Untersuchung im folgenden bestätigen
wird. In der That erwähnen sie jene Sagen als lebend unter dem
Volke, aus dessen Munde sie dieselben vernommen haben.
Konrad spricht von ihnen iu einem aus Sicilien an seineu alten
Freund, den V^orgesetzten des Klosters zu Hildesheira, im Jahre
1194 gerichteten Briefe ^), in welchem er seine italienischen Keise-
eindrücke beschreibt. Dieser Brief ist, abgesehen von seiner Wichtig-
keit für unsere Untersuchung, auch deshalb ein merkwürdiges
Schriftstück, weil er uns den geistigen Standpunkt der gebildeten
Reisenden veranschaulicht, welche damals Italien besuchten. Der
Ruhm dieses Landes regte ihre Einbildungskraft so auf, und der
Art war das Ideal, was sich ihre Phantasie von demselben in der
Ferne geschaffen hatte, dass es selbst die Wirklichkeit nicht zu
zerstören vermochte. Unzählige merkwürdige Geschichten, die man
sich berichtete, klassische Erinnerungen, die man sich, wenn auch
nicht immer mit völliger Klarheit, von der Schule her bewahrt
hatte, gingen bunt in den Köpfen der Reisenden durcheinander,
welche, wie in einem Zauberlande, etwas Anderes und mehr als
die Wirklichkeit zu sehen vermeinten. Anders wenigstens kann
man sich nicht mehrere grobe Missverständnisse des guten Kanzlers
erklären, die er mit einer unglaublichen Ernsthaftigkeit vorträgt.
Wie viel schöne Dinge hat er nicht in Süditalien gesehen, den
Olymp, den Parnass, die Hipokrene ! Uud er ist glücklich, dass sie
innerhalb der Grenzen der deutschen HeiTSchaft liegen. Nachdem
1) In den „Scriptores rerum brunsvicensium" herausgegeben von
Leibnitz, II, p. C95-G98.
222 Virgil in der Yolkssago.
er mit grossem Schauder durch die Strudel der Scylla und Charybdis
gefahren ist, glaubt er irgendwo nach Skyros zu gelangen, wo
Thetys den Achill verborgen hielt ; er freut sich, in Taormina das
Labyrinth des Minotauros zu sehen, wofür er nämlich das alte
Theater hielt, und macht die angenehme Ikkanntschaft der Saracenen,
welche wie St. Paul die beneidenswerthe Fähigkeit besitzen sollten,
Sehlangen durch ihren Speichel zu tödteu. Wenn nuiu bedenkt,
dass Mandeville den Felsen gesehen haben will, an welchem „der
lliese Andromeda" angebunden war, so wird man den Brief Kon-
rad's eben so wenig wunderbar finden, wie zahllose andere der-
artige Erzählungen der damaligen Reisenden. Aufföllig bleibt dabei
nur, dass der Schreiber jenes Briefes ja nicht als einfacher Dile-
tant der Archäologie oder Tourist nach Italien gekommen war,
sondern als Minister Heinrich's VI, von dem er den abscheulichen
Befehl hatte, die Mauern der Stadt Neapel zu zerstören, was er
auch pünktlich ausführte. Dessenungeachtet wagt er ganz getreu-
lich den Glauben des neapolitanischen Volkes zu Ijerichten, dass
Virgil die Mauern Neapel' s gegründet und ihr zum Schutze ein
kleines Abbild der Stadt verliehen habe, das in einer fest ver-
schlossenen Flasche aufbewahrt gewesen sei. Wenn irgend einer
au der Wirksamkeit dieses Palladiums, welches Neapel vor jedem
feindlichen Versuche bewahren sollte, zweifeln durfte, so musste
es Konrad sein, da doch die Stadt von den Kaiserlichen selbst
eingenommen wurde. Wie aber kein Mensch tauber ist, als der,
welcher nicht hören will, so gibt es auch keinen Gläubigeren, als
den, welcher glauben will. Konrad bemerkt nämlich, dass jenes
Palladium deshalb nicht wirksam war, weil, wie die Kaiserlichen
entdeckten, im Glase der Flasche ein Sprimg war. Man ist ge-
neigt, dabei an einen Scherz zu denken, wenn dies nicht der Ton
des Briefes und die andern absurden Märchen, die der Schreiber
mit vollem Ernste erzählt, verböten.
Weiter schrieben, wie Konrad erzählt, die Neapolitaner dem
Vii-gil zu: ein broncenes Ross, das, so lange es wolerhalten blieb,
die Pferde davor bewahrte, sich die Glieder zu brechen, eine
broncene Fliege über einem Festungsthore, welche die Fliegen von
der Stadt verscheuchte, und eine Fleischbank, in der sich das
Fleisch sechs Wochen frisch erhielt; da ausserdem Neapel bei den
vielen Krypten und unterirdischen Bauten sehr von Schlangen
heimgesucht war, so verbannte Virgil diese Thiere unter die soge-
nannte „Porta Ferrea". Als die Kaiserlichen die Mauern nieder-
rissen, hielten sie, wie Konrad sagt, zaudernd vor diesem Thore
Virgil in der Volkssage. 223
iiine, weil sie fürchteten, es möchten alle jene Schlangen hervor-
kommen.
Sehr lästig musste für Neapel der feuerspeiende Vesuv sein,
aber Virgil wusste auch hierfür Abhilfe zu schaffen, indem er ihm
gegenüber die broncene Statue eines Mannes aufstellte, der eben
im Begriff war, seinen Pfeil von der Sehne des Bogens abzu-
schiessen. Das hielt den Berg lange Zeit in Ruhe; als aber eines
schönen Tages ein Bauer, der sich darüber wunderte, dass jener
so lange mit gespanntem Bogen stehen könnte, daran rührte und
bewirkte, dass der Pfeil abflog, traf dieser den Rand des Kraters,
und seit der Zeit begann der Berg wieder Feuer und Rauch zu
speien.
In seiner Sorge für das Gemeinwol richtete Virgil bei Bajä
und Pozzuoli öffentliche Bäder ein, die für alle Krankheiten heil-
sam waren, und schmückte sie mit Gipsfiguren aus, welche die
einzelnen Krankheiten darstellten und die dafür passenden Bäder
anzeigten.
Endlich erzählt uns auch Konrad, was man in Neapel von
den Gebeinen des Dichters glaubte: Dieselben sollen sich in einem
vom Meere umgebenen Castell befinden; wenn sie aber mit der
Luft in Berührung kommen, so wird es überall finster, ein Sturm
bricht los, und das Meer wird aufgeregt; „dies", sagt er, „haben
wir selbst gesehen und erfahren."
Eine Hauptquelle für die Volkssagen ^) ist Gervasius von Til-
bury, der seine „Otia imperialia"')", eine Art Encyklopädie, welche
die absurdesten Notizen jeden Kalibers enthält, 1212 als Unter-
haltungsschrift für den Kaiser Otto IV. verfasste. Was er unter
Wunderbar versteht, sagt er selbst in folgenden Worten: „Wunder-
bar nennen wir die Dinge, welche wir nicht verstehen, obgleich
sie natürlich sind; sie werden wunderbar, weil wir nicht wissen,
warum sie sind;" dabei citirt er die Beispiele des Salamanders, der
iiii Feuer lebt, des Kalkes, der sich m;r im Wasser entzündet,
und fährt dann fort: „Niemand glaube, dass ich Fabelhaftes be-
1) Den ganzen darauf bezüglichen Theil gab mit gelehrten Be-
merkungen heraus: Lieb recht „Des Gervasius von Tilbury Otia im-
perialia in einer Auswahl etc." Hannover 1856.
2) Bei Leibnitz, a. a. 0. I, p. 881 ff. Obgleich des Gervasius Werk
aus dem Jahre 1212 stammt, gehen doch seine Neapolitanischen Er-
innerungen auf eine frühere Zeit zurück. Er citirt z. B. eine Begeben-
heit a. d. J. 1190 und eine andere a. d. J. 1175.
224 Virgil ili der Volkssage.
richte es gibt Dinge, welche über den menschlichen Verstand
gehen und darum oft für nicht wahr gehalten werden, obgleich
wir uns ja auch von den Dingen, die uns täglich umgeben, keine
Rechenschaft geben können." Mit solchen Grundsätzen kann Ger-
vasius natürlich weit kommen und er bedient sich derselben in der
That oft genug. Es sei gestattet, hier eine Hanptstelle anzuführen,
in welcher er von Virgil spricht; sie ist von Bedeutung, weil sie
uns nach Neapel versetzt fam Ende des zwölften Jahrhunderts)
und uns Gelegenheit gibt, die noch lebendige Sage am Orte ihrer
Entstehung zu beobachten.
Nachdem auch Gervasius von der Fleischbank und den
Schlangen erzählt hat, fährt er fort: „Ein Drittes habe ich selbst
erfahren, obgleich ich damals noch unverständig war; aber da mir
ein glücklicher Zufall die Kunde davon gab, wurde ich von einer
Sache überzeugt, die, wenn ich sie nicht selbst erfahren hätte,
Niemand geglaubt haben würde In dem Jahre (1190), als
St. Jean d'Acre belagert wurde, befand ich mich eben zu Salerno,
als sich ein unerwarteter Gast bei mir einstellte .... Philipp, der
Sohn des erlauchten Patriziers, Grafen von Salisbury Nach
einigen Tagen beschlossen wir, nach Neapel zu reisen, in der
Hoffnung, dort ein Schiff zu finden, auf welchem ma)i die Ueber-
fahrt (nach England?) ohne viel Zeit- und Geldverlust machen
könnte. In Neapel angekommen, begaben wir uns in das Haus
des Giovanni Pinatelli, Archidiakon's von Neapel, der iu Bologna
mein Zuhörer im kanonischen Recht gewesen war und durch seine
Kenntniss, seine Werke und die Geburt eine hohe Stellung inne
hatte. Freundlich aufgenommen, nannten wir ihm den Grund un-
serer Reise, und um unseru Wunsch zu erfüllen begab er sich,
während man das Essen zubereitete, mit uns ans Meer, Es war
kaum eine Stunde verflossen, so hatten wir für den gewünschten
Preis ein Schiff gemiethet, und auf unser Drängen wird die Ab-
reise beschleunigt. Beim Nachhausegehen reden wir davon, wie
es möglich war, dass sich alle unsere Wünsche so schnell erfüllen
konnten. Da sprach der Ai-chidiakou, weil er sah, wie betroffen
wir über den glücklichen Erfolg waren: „Saget mir, zu welchem
Thore seid Ihr hereingekommen"? Nachdem ich ihm dasselbe ge-
nannt, sprach der weise Mann: — »Nun, da begreife ich, dass
Euch das Glück so günstig gewesen ist; aber sagt mir doch genau,
durch welche Seite des Thores Ihr gekommen seid?" Wir ant-
woi-teten: „Als wir vor dem Thore waren und eben zur linken
Seite eintreten wollten, ging uns unerwartet ein mit Holz Iteladener
Virgil iu der Volkssage. 225
Esel voraus, und um diesem auszuweichen mussten wir auf der
rechten Seite eintreten." — Darauf der Archidiakon: — „Auf dass
Ihr wisset, welche wunderbaren Dinge Virgil in dieser Stadt ver-
richtet hat, lasst uns zu jenem Thore gehen, und ich werde Euch
zeigen, welch schönes Denkmal Virgil von sich auf Erden gelassen
hat." — Dort angekommen, zeigt er vms in die Wand zur rechten
Seite des Thores eingelassen, einen Kopf aus parischem Marmor,
von sehr heiterem, lachendem Ausdruck. Auf der linken Seite be-
fand sich ebenfalls ein Marmorkopf, aber von ganz anderem Aus-
druck. An den Augen erkannte man eine weinende Person, und
musste an Jemand denken, der über ein trauriges Ereigniss klagte.
„Mit diesen beiden Bildern", sagte der Ax-chidiakon , „hängt das
Schicksal der Eintretenden zusammen, wenn sie nicht etwa mit
Absicht den linken oder rechten Weg wählen, sondern sich ganz
dem Zufalle überlassen: wer zur Rechten eintritt, dem gelingt
Alles sogleich ; wer zur Linken, der hat Unglück, und kein Wimsch
erfüllt sich ihm. Ihr seht also, wie ihr des Esels wegen rechts
habt gehen müssen, und euch so eure Eeise nach Wunsch aus:
fällt." — Gervasius wäre durch diese Begebenheit beinahe zum
Fatalisten geworden, aber er beugt sich vor Gott und ruft aus:
„Von deinem Willen, Herr, hängt Alles ab, und nichts kann ihm
widerstehen."
Einige Virgilsagen, die Gervasius erzählt, stimmen mit denen
bei Konrad überein, abgesehen von den Abweichungen, die sich
stets bei mündlichen Ueberlieferungeu finden. So verdankt die
Fleischbank nach Gervasius ihre Kraft einem Stück Fleisch, welches
Virgil in eine Wand derselben einliess, und das Fleisch erhält
sich nicht blos sechs Wochen, sondern unendlich lange frisch. Die
Schlangen wurden von Virgil unter einer Bildsäule (sigillum) bei
der Porta Nolana eingeschlossen. In Betreff der Fliege und der
Bäder findet sich keine Abweichung. Dagegen ist der Bericht des
Gervasius über die gegen den Vesuv gerichtete Statue ein an-
derer: die Bildsäule stand nach ihm nämlich auf dem Monte
Vergine, hatte keinen Bogen in der Hand, sondern eine Trompete
vor dem Munde, und damit vermochte sie den Wind zurückzu-
blasen, der den Rauch und die Asche des Vesuvs auf jene Felder
führte. „Unglücklicher Weise"^ bemerkt Gervasius, „sei es, dass
das Alter sie zerstört hat, oder neidische Menschen sie zerschlugen,
erneuern sich jetzt die alten Uebel des Vesuvs."
Gervasius spricht zwar weder von dem Rosse und Palladium,
noch von den duixh Virgil gegi'ündeten Mauern, aber er sagt uns
Comparetti, Virgil im Mittelalter. 15
22G Virgil in der Volkssage.
zuerst, dass Virgil vermöge seiner mathematischen Kenntniss es
einzurichten verstand, dass in der Grotte von Pozzuoli niemals
ein Hinterhalt gelegt werden könne, und dass er auf dem Monte
Vergine einen Garten anpflanzte, in welchem alle heilkräftigen
Kräuter wuchsen, z. B. das Kraut „Lucia", welches, wenn es von
einem blinden Schäfchen berührt wird, dieses sehend macht.
Nach Roth^J in seinem interessanten Aufsatze über den
Zauberer Virgil wäre auch Alexander Xeckam in Italien gewesen
und hätte die Virgilsagen aus dem neapolitanischen Volke geschöpft.
Aber Neckam sagt nicht nur nicht , wie Roth glaubt , dass er die
wunderbare Fliege gesehen habe, sondern er spricht nicht einmal
von ihr. Als Roth schrieb, war die Abhandlung „De naturis rerum"
noch nicht bekannt gemacht"), und Roth konnte noch keine Kennt-
niss von der Abhandlung Michel's haben, in welcher jene auf den
Zauberer Virgil bezügliche Stelle ganz wiederholt ist^).
Wir wissen von Neckam's Leben so wenig'*), dass man schwer
wird feststellen können, ob er in Neapel gewesen ist, oder nicht.
In seinem Gedichte „De laudibus divinae sapientiae", welches er im
Alter verfasst hat, spricht er von seinem Widerwillen gegen lange
Reisen, den Schnee des Mont Cenis und die Pfade, die Hannibal
ging; er sagt, dass er keinen Wunsch habe, nach Rom zu gehen,
und begründet das in einer für die Hauptstadt der Christenheit
wenig schmeichelhaften Weise"). Ich glaube also, dass er nicht
nach Italien gekommen ist. Die Zeit der Abfassung von „De na-
turis rerum" ist ungewiss. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass das
Werk in dem letzten Jahrzehend des zwölften Jahrhunderts ver-
fasst wurde; denn Neckam lebte von 1157 — 1217, sein Werk war
1) „üeber den Zauberer Virgilius" in Pfeiffer's Germania IV, (1859)
p. 257—298. Vgl. p. 264.
2) „Alexandri Neckam De naturis rerum libri duo", with the poem of
the same author „De laudibus divinae sapientiae," edited by Thomas
Whright. London, 1863.
3) „Quae vices quaeque mutatioues et Virgilium ipsum et ejus car-
mina per mediam aetatem exceperint explanare tentavit Franciscus
Michel." Paris 1840. Vgl. p. 18 ff.
4) S. Wright, Biographia Britannica literaria II, 449 ff. und des
selben Vorrede zu De naturis rerum; vgl. Hist. litt, de la France XVI 11,
521 ff.; Du Meril, Poésies inédites du moyen-age, p. 169 ff.
5) ,,Romae quid facerem? metiri nescio, libros
Diligo, sed libras respuo. Roma vale."
P. 448.
Virgil in der Volkssage. 227
bereits am Ende des zwölften Jahrhunderts bekannt, und er selbst
citirt darin schon andere grössere Arbeiten von sich^j. Daraus
würde folgen, dass die Virgilsagen zu jener Zeit in Europa unab-
hängig von den Schriften des Gervasius und Konrad bekannt ge-
wesen sein müssen. Aber wir werden sehen, dass die Sage schon
früher in Neapel entstanden sein muss , und andere Besucher der
Stadt sie weiter verbreitet haben.
Drittes Capitel.
Nachdem wir somit Neckam von der Zahl der Schriftsteller,
welche die Virgilsagen am Orte ihrer Entstehung selbst kennen
gelernt, ausgeschlossen haben, liegt uns nunmehr ob, die älteste
Beschaffenheit jener Sagen zu untersuchen, um ihre wahre Natur
und inneren Gründe zu erkennen. Die Leser werden schon bemerkt
haben, dass Virgil in dieser ältesten Form der Sage als Beschützer
der Stadt Neapel erscheint, und dass die ihm zugeschriebenen
wunderbaren Werke zumeist in einem Talisman bestehen. Abge-
sehen von den Ueberlieferungen des Alterthums so wie den
während des Mittelalters von semitischen Völkern in Europa ver-
breiteten Vorstellungen, war in Süditalien der Glaube an Talis-
mane durch die byzantinische Herrschaft gewiss wieder aufge-
frischt worden. Ganz in derselben Weise, wie man in Neapel mit
Virgil verfuhr, schrieb man in Konstantinopel dem ApoUonius von
Thyana ähnliche Werke zu; und wie natürlich, geschah dies auf
Grund verschiedener Monumente der Stadt. So betrachtete man
den berühmten ehernen Dreifuss, von welchem man noch heute
ein Stück im Hippodrom sieht, als einen Talisman. Die Sage^)
berichtete, dass, als Byzanz einmal von Schlangen heimgesucht
wurde, man den weisen Apollonius von Thyana hinberief, um die
Plage zu entfernen. Dieser errichtete eine Säule mit einem Adler
darauf, der in seinen Krallen eine Schlange hielt, und von der
Zeit an verschwanden die Schlangen. Die Säule bestand noch
zur Zeit des Niketas Koniates (fl216)^) und wurde erst zerstört,
als die Stadt in . die Hände der Lateiner fiel , die Sage erhielt
1) So folgert richtig Wright ia seiner Vorrede p. XIII, f.
2) Sie findet sich bei Niketas Koniates, Glykas, Hesychius Milesius.
Vgl. Fr ick. Das plataeische Weihgeschenk zu Constantinopel, in den
Jahrb. f. Phil. u. Paed. III, Suppl. p. 554 ff.
3) De signis Constant, cap. VIII, p. 861. Bk.
228 Virgil in der Volkssage.
riich aber nichtsdestoweniger \mà wurde nun auf das Fragment
des antiken Dreifusses angewandt, welches in der That aus drei
in einander geringelten Schlangen besteht. Weiter berichtete man
von Konstantinopel, dass Apollonius die Fliegen der Stadt durch
eine broncene Fliege, die Mücken durch eine broncene Mücke und
auf dieselbe Weise die Skorpionen und anderes Ungeziefer ver-
trieben hatte ^). Dieser Glaube beschränkte sich nun aber nicht
blos auf Neapel und Konstantinopel. Im sechsten Jahrhundert
finden wir ihn auch in Paris: „Man erzählte sich dox't", berichtet
uns Gregor von Tours, ,,dass die Stadt in alten Zeiten geweiht sei,
um sie vor Bränden, Schlangen und Mäusen zu schützen. Als man
den Abzugskanal des Pont-Neuf reinigte, fand man eine Schlange
und eine Maus von Bronce -) ; man räumte dieselben weg, und seit
der Zeit begannen unzählige Mäuse, Schlangen und Brände die
Stadt heimzusuchen^)."
Alte üeberlieferungen des Heidenthums sprachen gleichfalls
von Fliegen und Insecten, die von überirdischen Wesen verfolgt
worden waren. So erzählte man, dass auf diese Weise die Fliegen
vom Tempel des Hercules im Forum boarium und von einem Berge
in Kreta fortgescheucht waren '^). Solinus berichtet^): — „die
Cicaden bei Reggio sind stumm, was um so wunderbarer ist, weil
diese Thiere in dem ganzen Lande der Lokrer viel lauter sind, als
irgend wo anders. Granius gibt uns dafür den Grund an: „Als
nämlich eines Tages Hercules hier schlief, und die Cicaden lärmten,
befahl ihnen der Gott, still zu sein, und seit der Zeit schweigen
sie auch heute noch." Das ChristeLsthum, welches dem heidnischen
Aberglauben so viel Freiheiten zugestehen musste, hatte ebenso
1) Codin, De signis, p. 30 u. 3G; De aedif. Const. p. 62; Nie.
Calli St., Hist. eccles., III, IH.
2) Derartige Talismane wurden oft vergraben, und es gab eine Zeit,
in der man dazu lebendige Menschen benutzte! Vgl. PI in. Nat, hist.
28, (3) und Lieb recht, Eine altrömische Sage im Philologus, XXI,
p. 687 ff.
3) Hist. Fr., VIII, 33. Vgl. Fournier, Hist. du Pont-neuf. I, p. 19
ff. S. Liebrecht zu Gervasius p. 98 ff. und Naude, Apologie des gr.
personnes, acc. de magie, p. 624. Auch Albertus Magnus wurde eine
goldene Fliege zugeschrieben, welche alle Fliegen verjagte. Vgl. P.
Anton. De Tarsia, Hist. Cupersan. p. 26. (im Thes. Graev. et ßur-
mann, tom IX, p. 5).
4) Plin., hist. nat. X, 29 (45); XXI, 14 (46).
5) Collect, rer. memor. p. 40 (ed. Mommsen).
Viigil in der Volkssage. 229
nicht nur seine Heiligen, welche Fliegen und andere Insecteu ver-
bannten, wie den St. Bernhard, St. Gottfried, St. Patricius
u. s. w., sondern sogar Bannformeln , die officiell dafür festgesetzt
waren ^).
Es ist nicht wahrscheinlich, dass in Neapel der Glaube an
solche Schutzmittel nur auf Erzählungen beruhte und sich nicht
vielmehr auf bestimmte Gegenstände bezogen haben sollte'"^). Gewiss
knüpfte er sich auch hier an vorhandene Kunstwerke, denen das
Volk eine höhere Kraft beimass. Als dann einmal die Phantasie
des Volkes diese Richtung eingeschlagen hatte, war es ein Leichtes,
die Zahl solcher Talismane, „die einstmals vorhanden waren, jetzt
aber nicht mehr sind", zu vermehren.
Ganz besonders alt unter denselben scheint die eherne Fliege
gewesen zu sein. Schon vor Konrad und Gervasius erwähnte
sie und die darauf bezügliche Sage Johann von Salisbury, der
Neapel und Italien gut kannte; sagte er doch im Jahre 1160, er
sei bereits zehn Mal über die Alpen gegangen und habe zwei Mal
Süditalien durchwandert^).
Dieser geistreiche und wirklich bedeutende Mann erzählt uns
folgende Anekdote: „Man berichtet, dass Virgil den Marcellus, als
dieser darauf ausging, Vögel zu vernichten, gefragt habe, ob er
nicht lieber einen Vogel haben wolle, mit dem man die anderen
fangen könne, oder eine Fliege, welche alle anderen Fliegen ver-
tilge? Marcellus sprach darauf mit Augustus, und dieser entschied
sich dafür, dass man eine Fliege verfertige, welche die Fliegen
von Neapel vertrieb. Sein Wunsch wurde erfüllt, und hieraus
sieht man, dass man dem eigenen Vortheil den gemeinsamen Nutzen
vorziehen muss*)."
Die Namen des Marcellus und Augustus, welche auf diese
Weise mit Virgil in Beziehung gesetzt sind, können vielleicht an
1) Vgl. Liebrecht zu Gervas. p. 105; Laianne, Curiosités des
traditioDS etc. p. 218. Menabrea, De l'origine, de la forme et de
l'esprit des jugements rendus au moyen-age contro les animaux. Cham-
béry, 1845.
2) Vgl. Springer, Bilder aus der neueren Kunstgeschichte (Bonn,
1867) p. 19 f.
3) Vgl. Schaarschmidt, Joh. Saresberiensis, p. 31.
4) Polycraticus, I, 4. Geschrieben 1159. Vgl. Schaarschmidt,
a. a. 0. p. 143.
230 Virgil in der Volkssage.
den volksthümlichen Ursprung jener Sage zweifeln lassen. Man
darf jedoch nicht vergessen, dass die neapolitanische Volkssage grade
den Marcellus als Hen-n von Neapel und Virgil als dessen Minister
betrachtete. In der „Cronica di Partenope" werden die Schicksale Vir-
gil's in die Zeit versetzt, „als Octavian den Marcellus zum Herzog der
Neapolitaner machte." — Der anonyme Verfasser eines satirischen
Gedichtes gegen die Geistlichen aus dem Jahre 1180, spielt in
folgendem Verse auf die Fliege des Virgil an:
„Formantem (video) aereas muscas Virgilium ^).''
Diese Fliege, welche sich nach Konrad in der Grösse eines Frosches
auf einem Festungsthore befand , wurde später an ein Fenster
des Castell Capuano und endlich nach Castell Cicala, das in der
Folge Castell St. Angelo hiess und von den Priestern von Santa
, Chiara zei-stört ward, versetzt, wo sie ihre Kraft verlor. Die „Cro-
nica di Partenope" citirt sogar einen Alexander (aber gewiss nicht
Neckam), welcher sie noch gesehen haben will.
Die beiden steinenieu Köpfe an der Porta Nolana, welche, wie
der alte neapolitanische Schriftsteller Scoppa "J sagt, ,, Porta di
Forcella" hiess, waren wirklich vorhanden, und Scoppa will sie selbst
noch als Kind an dem Thore gesehen haben, bevor der König
Alfons VI. von Arragonien dasselbe zerstörte und die Köpfe nach
Poggio Reale brachte. Das eherne Pferd befand sich noch 1322
1) Apocalypöis Goliae episcopi, bei Wright, Early poems attributed
to Walter Mapes, p. 4.
2) Vergi. Jo. Scoppae Parthenopei in diverses auctores
collectanea ab ipso revisa etc., Neapel, 1534 p. 20 fi. Die auf Virgil be-
züglichen Stellen in diesem Buche, die nicht leicht aufzufinden sind, hat
mir mein Freund, Prof. De Blasis in Neapel mitgetheilt, dem ich auch
sonst manche Aufklärung für mein Werk verdanke. — Minieri Riccio
schreibt in seinem „Catalogo dei libri rari" (Neapel 18G1) Vol. I, p. llOf.
folgendes: „Lo Scoppa che scriveva nel giugno 1507, distrugge affatto
lo sciocco racconto tradizionale del Summonte intorno a sifiatte teste.
Costui riferisce che una giovane viissalla, essendo ricorso ad Isabella di
Aragona per essere stata violentata dal suo feudatario, Isabella ordinò
che il barone la sposasse, e dopo le nozze lo fece decapitare; che
quindi, a memoria di questo fatto, si fossero collocate in marmo quelle
due teste su quella porta della città che guarda il mercato dove sofi'rì
l'ultimo supplizio il barone. Racconto ch'io confutai fin dall' anno 1844
nelle mio Memorie degli scrittori nati nel reame di Napoli
prima che avessi letto il libro dello Scoppa." Gervasius, der älter ist als
Scoppa, noch mehr, dass Minieri Recht hat.
Virgil in der Volkssagc. 231
im Hofe der Hauptkirche Neapels. Die Zeit und die Barbarei der
Leute haben es später vernichtet. Das Volk erzählte sich jedoch,
dass die Hufschmiede, denen das Pferd Schaden zugefügt hatte,
ihm den Bauch ausschlugen, so dass es seine Kraft verlor, und
dass dann die Priester der Hauptkirche 1322 das Metall zu Glocken
umgiessen Hessen. Der Kopf, welcher sich erhalten hat, befindet
sich noch heute im Nationalmuseum von Neapel und kann uns
eine Vorstellung von den gewaltigen Proportionen dieses Kunst-
werkes geben ^). Auch die Erzählung von der Statue, welche Virgil
gegen den vom Vesuv herkommenden Wind aufstellte, scheint auf
einer wirklich vorhandenen Bildsäule zu beruhen. Scoppa sagt, dass
sich dieselbe an dem früher „Ventosa", dann „Reale'^ genannten
Thore befand, „wo", so fügt er hinzu, „noch jetzt einige Marmor-
figuren stehen^)." Was das Palladium der Stadt betrifft, von
welchem Konrad spricht, und welches er selbst in Händen gehabt
haben will, so ist an dessen Existenz, wie es beschrieben wird,
nämlich einem kleinen Abbilde der Stadt in einer Flasche, wol
nicht zu zweifeln. Auch heute noch staunt ja das Volk derartige
Merkwürdigkeiten an, und es ist daher nicht wunderbar, wenn
dergleichen im Mittelalter als ein übernatürliches Werk von
wunderbarer Kraft erschien. Vielleicht ging jener Schatz in den
Händen der Kaiserlichen zu (irunde. Die Legende erfand an seiner
Stelle später ein Ei^), welches sich in einer gläsernen Flasche be-
fand, die selbst wieder von einem eisernen Gefässe umschlossen
war. Diese Form der Sage entstand jedoch erst, nachdem das
alte, von Wilhelm L 1154 erbaute und von Friedrich H^. er-
weiterte Schloss, „Castello marino" oder „Castello di mare )" m
1) Vergi. Gali a ni, Del dialetto napoletano. Napoli, 1779,
p. 98 ff.
2) Schon im ó. .Jahrhundert wird eine Statue in Sicilien erwähnt,
die das Feuer des Aetna wie feindliche Einfälle abhielt. (Olympiodor
bei Photius, cod. 90). Von einer ähnlicben Statue ist die Rede im
Leben des S. Leo, des Thaumaturgen und Bischofs von Catania (8. Jahr-
hundert). Vergi. Acta SS. Febr. Ili, p. 224 und Liebrecht zu Gervas.
p 106 ff u 262. Wie Liebrecht richtig bemerkt, steht diese sicilische
Legende in Beziehung mit der alten Sage vom Agrigentmer Empedokles
und seiner ehernen Statue in Girgenti.
3) Ueber diesen Aberglauben s. Liebrecht in Pfeifler's Germania
V, p. 483 ff.; X, p. 408.
4) So nennen es Pietro d'Eboli, Falcone Beneven-
tano u. a.
232 Virgil in der Volkssage.
„Castel dell' uovo" verwandelt wurde. So viel ich weiss, lässt
sich die letztere Benennung nicht vor dem vierzehnten Jahrhundert
nachweisen. In den Statuten des durch Ludwig von Aujou 1352
gestifteten Ordens des heiligen Geistes hat es den Titel „Castellum
ovi incantati" '). Auf die Sage bezieht sich auch die räthselhafte
Inschrift aus dem vierzehnten Jahrhundert, welche in der Samm-
lung Signorili erhalten ist^) :
„Ovo mira novo sie ovo non tuber ovo,
Dorica castra cluens tutor temerare timeto."
Wie man nun Virgil als den beschützenden Wolthäter Neapel's
darstellte, indem man ihm jene Talismane, die Mauern der Stadt,
ja, die Stadt selbst zuschrieb, so führte man auf ihn auch die
Einrichtung der im Mittelalter wegen ihrer Heilkraft berühmten
Bäder von Pozzuoli zurück^). Der Gebrauch, an den Bädern durch
Inschriften^) die verschiedenen Krankheiten anzuzeigen, besonders
wenn verschiedene Quellen neben einander entsprangen, findet sich
auch u. a. bei den Bädern von Bourbon rArcbambault*''). Benjamin
von Tudela (fll73) spricht'') von einer Petroleuraquelle und sehr
besuchten heilkräftigen Bädern in der Nähe von Pozzuoli, ohne
jedoch des Virgil zu gedenken. Richard Endes ^) erwähnt in seinem
1392 verfassten Gedichte die Inschriften, sagt aber nichts von
Virgil; desgleichen La Sale in einer Abhandlung über die Moral,
1) Montf aucon, Mounmens de la monarchie frau(,"aise, tom II,
p. 329.
2) De Kossi, Prime raccolte d'antiche iscrizioni etc. (Roma 1852)
p. 92. Koth's Versuch (a. a. 0. p. 263), die Inschrift auszulegen, ist
misslungen.
3) Vgl. die hierüber gesammelten Stellen im Thesaurus von Grae-
vius und Burmann, pars IV, tom. IX.
4) Konrad spricht von Bildern, die meisten andern Schriftsteller nur
von Inschriften.
5) „A Borbo avio ri.sc bains;
Quis volc, fos privatz o estrains,
S'i pot mout ricamen bainar.
En cascun bain pogras trobar
Escrih a que avia obs."
Le Roman de Flamenca, public par P. Meyer. Paris, 1865, p. 45;
Vgl. p. XIII.
6) Itinerarium (ed. A s h e r), I. p. 42. Vgl. D u M é r i I , De
Virgile Tenchanteur, in seinen „Mólanges archéologiques et littéraires,"
p. 436.
7) Vgl. Meyer, Roman de Flamenca, p. XIII.
Virgil in der Volkssage. 233
die Le Grand d'Aussi^) citirt, Burkhard^), dei- jene Oerier 1404:
besuchte n. a. Die Volkssage verknüpfte mit den Bädern von
Pozzuoli den Namen des Virgil und die Vorstellung, dass sie für
jede Krankheit heilsam wären. Der wolthätige Dichter wollte so
besonders für die Armen sorgen und sie von den Aerzten befreien,
„welche", wie die Cronica di Partenope sagt^), „ohne Er-
barmen bezahlt sein wollen." Aber die Aerzte, welche, wie es in
einem altfranzösischen Gedichte heisst, „Ont fait maint mal et
maint bien^)'', fanden dabei ihre Rechnung nicht; die berühmtesten
aus der Schule von Salerno sahen vielmehr ihre Einkünfte
dadurch so vermindert, dass sie heimlich die Inschriften der Virgil-
bäder vernichteten ; die Armen wussten also nun dort keine Heilung
mehr zu finden. Aber der Legende nach strafte Gott die Aerzte,
indem diese auf ihrer Rückkehr von einem heftigen Sturme ergriffen
wurden, so dass sie „zwischen Capri und La Minerva ertranken,
einer ausgenommen, welcher das Geschehene erzählte^)." Dies Er-
eigniss, das sich bei Gervasius und Konrad erzählt findet, wird
auch von Burkhard und Anderen, die aber nicht mit der Erzählung
den Namen des Virgil zusammenbringen, berichtet. Ja, die Sage gab
sich geradezu das Ansehen der Geschichte und erzählte von einem
gerichtlichen Documente aus dem Jahre 1409, in welchem es
hiess :
Bei Pozzuoli habe man nahe bei dem „Tre Colonne^' genannten
Orte die folgende Inschrift gefunden:
,,Sir Antonius Sulimela, Sir Philippus Capogrossus, Sir Hector
de Procita, famosissimi medici salernitani supra parvam navim ab
ipsa civitate Salerni Puteolos transfretaveruut , cum ferreis instru-
mentis inscriptioues babieorum virtutum deleverunt et cum rever-
terunt, fuerunt cum navi miraculose submersi**)."
Dies also war die Virgilsage in ihrer ersten Gestalt: Virgil
lebte in Neapel, herrschte über die Stadt, oder hatte wenigstens
1) Vgl. Du Méril a. a. 0.
2) Joh. ßurchardi diari um, ed. ab. Ach. Genare Ili, Flor.
1854. p. 317.
3) Cap. 29.
4) Vgl. Du Méril, a. a. 0.
ò) Cren, di Partenope, cap. 29.
6) Vgl. Panvinio, Il forest, istr. alle antichità di Pozzuoli etc.
p. 100. De Renzi, Storia della medicina in Italia, II, p. 148. Mazza,
Urbis Salernitanae historia (im Thes. Graev. et Burm. tom IX, p. IV),
p. 72 f. •
234 Virgil iu der Volkssagc.
vermöge seiner Beziehungen zum Hofe Theil an der Regierung
und hat auf jede Weise für das Gemeinwol Neapel'« gesorgt.
Ausserdem gab es zu Neapel einige antike oder mittelalterliche
Kiuistwerke, denen das Volk, wie das ebenso an anderen Orten
geschah, eine überirdische Kraft beimass. Wir haben gesehen, in
welchem Glänze der Weisheit Virgil's Name bei den Gelehrten
des Mittelalters strahlte. Das neapolitanische Volk konnte daher
bei dieser allgemeinen Vorstellung, die man von seinem Beschützer
hatte, jene Talismane auch nur dem Virgil zuschreiben.
Einen Zauberer Virgil haben wir aber darum noch nicht vor
uns; wenn auch Konrad von „ars magica" und ,,magicae iucantationes"
spricht, vermittelst deren Virgil jene Talismane geschaffen haben
soll, so versteht er doch darunter nur die natürliche Magie d. h.
die Kenntniss verboi-gener Naturgeheimuisse ^). Man glaubte da-
mals wirklich, dass sich durch mechanische, astrologische und mathe-
matische Combinationen Wunder verrichten Hessen, ohne dass mau
dabei an Teufelskünste dachte und den, der die Wunder ver-
richtete, verabscheute, zumal wenn seine Künste zum Wole der
Menschheit beitrugen. Und so erscheint auch Virgil, wie wir ge-
sehen haben, in der ältesten Form der Sage in der That nicht
nur als ein unschuldiger Mensch, sondern sogar als ein grosser
Wolthäter, und kein Schriftsteller, welcher die neapolitanische Virgil-
sage erwähnt, denkt dabei an Teufelskunst. Gervasius schreibt
die vLrgilischen Werke einer „ars mathematica" oder „vis mathesis"
zu. Boccaccio, zu dessen Zeit die Sage schon ihren Charakter sehr
verändert hatte, sagt, dass Virgil jene Werke zu Neapel „con
l'aiuto della strologia" geschaffen habe, und nennt ihn einen, so-
1) Die Wunder des Apollonius von Tbyana schreibt Pseudo-Justin
(5. Jahrh.) „der tiefen Kenntniss der Naturkräfte und ihren Antipathien
und Sympathien zu." Vgl. Roth, a. a. 0. p. 280. Gewiss war es nicht
die Schwarzkunst, welche Albertus Magnus ausgeübt haben will: „cuius
etiam veritatem nos ipsi sumus experti in magicis." Oper. t. III. (Lugd.
1625) p. 23. In Betreff des von ihm geschaffenen sprechenden Kopfes
sagt ein alter italienischer Schriftsteller : ,,e non fu per arte diabolica
ne per negnomanzia però che gli grandi intelletti non si dilettano di
cioè; poiché è cosa da perdere l'anima e'I corpo, che è vietata tale
arte dalla fede di Cristo." Er schuf ihn „per la sua grande sapienza
a sì fatti corsi di pianeti e calcola così di ragione ch'ella favellava."
Rosario della vita di Matteo Corsini bei Z am brini, Libro di novelle
antiche, p. 74.
Virgil in der Volkssage. 235
lenissimo strologo^)", ein Gedanke, dem wir ja schon im Alter-
thum bei Servius u. A. begegnet sind.
Das Volk zog also in Neapel nur die thatsächlichen Folge-
rungen aus der Vorstellung, welche sich bei den Gelehrten der
Zeit von Virgil gebildet hatte, und darum konnten auch diese
wiederum an . derartigen Erzählungen keinen Anstoss nehmen. Da
jedoch jene Vorstellung ganz allgemein verbreitet, die Sage selbst
aber nur in Neapel entstanden war, fragt es sich, wie es möglich
war, dass Virgil den Neapolitanern so bekannt war, dass man ihn
zum Urheber der Talismane, an die man glaubte, machen konnte.
Dies also wäre die einfachste Form, auf welche sich die Frage
nach dem Ursprünge der Sage zurückführen lässt. Ehe wir nun
aber an die Beantwortung derselben gehen, ist es uöthig, eine
Thatsache zu erwähnen, die wir nicht übergehen können.
Gervasius von Tilbury erzählt, wie folgt: „Zu den Zeiten des
Königs Roger von Sicilien stellte sich demselben ein englischer
Gelehrter vor und bat den König um eine Gnade. Dieser, ein er-
lauchter und ausgezeichneter Mann, antwortete : — Bitte du selbst
um das, was du willst, ich werde es dir geben. — Es war aber
jener ein grösser Schriftsteller, wol bewandert im Trivium und
Quadrivium, dazu ein eifriger Physiker und Astronom. Er sagte
also dem Könige, dass er nicht ein Vergnügen für den Augenblick
suche, sondern etwas, das dem Menschen gering erscheine, und bat
um die Gebeine Virgil's, wo sie sich auch in des Königs Reiche
finden sollten. Der König willfahrte ihm, und der Gelehrte, mit
königlichem Handschreiben versehen, begab sich nach Neapel, wo
ja Virgil seine Kraft in so vielen Stücken bewiesen hatte. Er gab
die Briefe ab, und die Neapolitaner, welche das Grab Virgil's
nicht kannten, also auch die Erfüllung des Wunsches für unmög-
lich hielten, versprachen ihm behilflich zu sein. Endlich gelang
es dem Gelehrten durch seine Kunst die Gebeine im Grabe aufzu-
finden, und zwar im Innersten eines Berges, wo sie auch nicht
die geringste Spalte verrathen konnte. Man grub nun an diesem
Orte nach und stiess nach langer Anstrengung auf ein Grab, in
welchem man die wolerhaltene Leiche Virgil's und ausser anderen,
auf die Studien des Dichters bezüglichen Schriften unter seinem
Kopfe ein Buch, mit dem Titel „ars notoria^/' fand. Man räumte
1) Commento sopra Dante. Inf. I, 70.
2) Die von Evasmus verspottete ars notoria ist keine Teufelskunst,
sondern gründet sich auf praktische Beobachtungen. Cornelius Agrippa
236 Virgil in der Volkssage.
die Gebeine und die Asche weg und der Gelehrte nahm da« Buch.
Inzwischen erinnerten sich aber die Neapolitaner an die Wolthaten,
welche Virgil der Stadt erwiesen hatte, und aus Furcht, dass
Neapel, der Gebeine des Dichters beraubt, zu Grunde gehen würde,
beschlossen sie, sich dem königlichen Befehle zu widersetzen, Sie
glaubten, dass Virgil sein Begräbuiss eben deshalb im Innersten
eines Berges angeordnet habe, damit seine Werke durch das Fort-
räumen der Gebeine nicht ihre Kraft verlören. Der Herzog von
Neapel Hess also durch mehrere Bürger die Gebeine in einen Sack thun
und diesen nach Castel di Mare bringen, wo sie, hinter eisernen
Riegeln verwahrt, den Schaulustigen gezeigt werden konnten. Man
fragte den Gelehrten, was er mit den Gebeinen habe thun wollen,
und dieser antwortete, dass er durch gewisse Formeln aus ihnen
die ganze Kunst Virgil's habe erlernen wollen: er wäre schon zu-
frieden gewesen, wenn er sie nur auf vierzig Tage gehabt hätte.
Er begnügte sich indessen mit dem Buche und ging von dannen.
Wir selbst haben mit Hilfe des hochwürdigen Giovanni da Napoli ')
zur Zeit des Papstes Alexander einige Auszüge aus diesem Zauber-
buche zu sehen bekommen und uns von der Wirksamkeit desselben
überzeugt."
Diese merkwürdige Erzählung findet sich bei Andrea Dan-
dolo^) (1330) und in der „Cronica di Partenope" wieder, aus
welcher sie auch Andrea Scoppa geschöpft hat. Ausser Gervasius
spricht nur noch sein Zeitgenosse Johann von Salisbury in seinem
„Polycraticus" von einem ähnlichen Factum. Er sagt, dass er
einen gewissen Ludwig gekannt habe, der sich lange in Apulien
aufhielt und „nach langen Fasten und Kasteiungen endlich als
Frucht seiner Anstrengungen nach Gallien zwar nicht den Geist,
aber doch die Gebeine Virgil's brachte^)." Es ist nicht unwahr-
scheinlich, dass es sich hier, wne Roth glaubt, um dieselbe Person
handelt, von der Gervasius spricht; denn Johann von Salisbury
war zur Zeit des Königs Roger in Neapel, und der Ausdruck „in
Gallias" schliesst nicht aus, dass der Mann ein Engländer (Anglus)
war*), als welchen ihn Gervasius bezeichnet. Ich kann jedoch
schrieb ein Buch darüber. S. Liebrecht, ad Gervas. p. 161. Vgl.
Roth, a. a. 0. p. 294. Man vergi, auch den Virgilius Cordubensis
darüber.
1) Er starb nach Leibnitz 1175.
2) Muratori, Scriptores rer. ital., XII, p. 283.
3) Polycraticus, 2, 23.
4) Vgl. Roth, a. a. O. p. 295.
Virgil in der Volkssage. 237
nicht mit Koth übereinstimmen, wenn er in dieser Begebenheit
den Hauptkeim für die Entstehung der neapolitanischen Virgilsagen
erblickt.
Die Erzählung des Gervasius setzt das Vorhandensein der
Legende voraus. Es ist gar nicht unmöglich, dass sich ein ex-
centrischer Engländer in den Kopf gesetzt habe, die Gebeine Vir-
gil's zu bekommen, um daraus durch eine magiscAe Operation
jenen Schatz verborgener Weisheit zu erlangen. Der Umstand je-
doch, dass die Neapolitaner die Auslieferung verweigerten, so wie
der Grund dieser Weigerung selbst, beweist, dass Virgil's Ruhm
wegen seiner zum Schutze der Stadt aufgeführten Werke und seiner
dort aufbewahrten Gebeine schon in Neapel verbreitet war. Dass
man das Grab Virgil's entdeckte und dies so grossen Eindruck auf
die Neapolitaner gemacht haben soll, glaube ich bezweifeln ' zu
müssen, wenn auch Gervasius sagt, die Neapolitaner hätten das
Grab vorher nicht gekannt. Wenn man an die ungeheure Berühmt-
heit und Autorität Virgil's im Mittelalter denkt, so müsste jene
Entdeckung des Grabes nicht allein auf die Neapolitaner, sondern
auf die ganze literarische Welt den grössten Eindruck gemacht
haben; und doch spricht ausser Gervasius kein einziger von der-
selben. Sieht man genauer zu , so scheint es vielmehr, dass die
Erzählung von dem Engländer bei Johann von Salisbury mit einer
Legende verknüpft worden ist, deren Zweck es war, über einen
Sack mit menschlichen Gebeinen in Castel di Mare, in welchen
man die Gebeine Virgil's zu besitzen glaubte, Aufschluss zu geben,
und zugleich irgend ein Buch über Geheimkünste accreditiren sollte,
welches Gervasius gesehen haben will und von dem er sagt, es
stamme aus dem Grabe Vii-gll's. Wir dürfen nicht vergessen, dass
Johann von Salisbury von jenem Ludwig wie von einer historischen
Persönlichkeit spricht , die er kennt und über die er sich lustig
macht, während Gervasius, der einige Decennien später schrieb,
von ihm mehr wie von einer sagenhaften Persönlichkeit spricht,
und Johann von Salisbury sogar schon die Geschichte von der
broncenen Fliege kennt, woraus folgt, dass man in Neapel
ganz unabhängig von den thörichten Versuchen jenes Ludwig von
Virgil's Wunderwerken redete. Es ist also nicht möglich, in jener
Geschichte des Gervasius das Hauptmotiv für die Entstehung der
Virgilsage zu finden^).
1) Derselben Meinung ist auch Schaarschmidt, Johannes Sares-
beriensis nach Leben etc. p. 99.
238 Virgil in der Volkssage.
Es steht femer ganz fest, dass man schon vor den Zeiten
Roger's von dem Protectorate Virgils über Neapel und seiner
Regierung daselbst zu erzählen wusste. Alexander von Telese
(i. J. 1136) sagt ausdrücklich, dass Virgil wegen seines Distichon's
„Nocte pluit tota etc." von Augustus Neapel und die Provinz Ca-
labrien zu Lehen erhielt').
Vermögen ^vir also aus der Erzählung des Gervasius nicht
die Folgerungen wie Roth zu ziehen, so gestehen wh- doch anderer-
seits zu, dass sich aus dem Vorhandensein des Grabes Virgil's in
Neapel ganz besonders das Fortleben seines Ruhmes unter dem
Volke erklärt. Auf die Authenticität dieses vermeintlichen Virgil-
grabes kömmt es dabei nicht an -). Historisch beglaubigt ist, dass
Virgil seinem Wunsche gemäss in Neapel begraben wurde und
zwar, wie es in der Biogi"aphie heisst, auf der Strasse nach Puteoli
in der Nähe des zweiten Meilensteines^), Vermuthlich ging diese
Notiz aus der von Sueton verfassten Biographie (98 — 138 n.Chr.)
in seiner Schrift „De viris illustribus" in die Lebensbeschreibung
Virgil's, die man dem Donat zuschreibt, über; sie wird aber auch
durch andere Nachrichten bestätigt, welche beweisen, dass Virgil's
Grab eine Hauptzierde Neapel' s war und wie der Tempel eines
Gottes von den Reisenden besucht wurde. Silius Italiens war ge-
wöhnt, dasselbe wie ein Gotteshaus zu betreten, „adire ut templum",
Statins nennt es geradezu einen „Tempel", und noch im fünften
Jahrhundert wird es von Sidonius Appollinaris „ein Ruhm Neapel's"
1) Bei Muratori, Script, rer. it. V. p. 637, 644. Der-selbe Autor
hält auch Neapel für unbezwingbar und scheint dies dem Virgil zuzu-
schreiben: ,,Adeo ipsa inexpugnabilis constat ut nisi famis periculo
coartata nuUatenus comprehendi queat. Nempe buiusmodi urbis dominus
olim, Octaviano Augusto annuente, Virgilius maximum poetarum extitit.
Vgl. Roth a. a. 0. p. 288 ff.
2) Es ist auffallend, dass sich von den bedeutenderen Archä.ologen
bis heute Niemand ernstlich mit dem Grabe Virgils beschäftigt hat. Im
allgemeinen zweifelt man an der Authenticität des seit einigen Jahr-
hunderten dafür geltenden Grabes. Peignot, Recherches sur le tombeau
de Virgile (Dijon 1S40, ist durchaus ohne Bedeutung. Die Angabe in der
Biographie ist aber ganz bestimmt und glaubwürdig und nach derselben
wären etwaige Ausgrabungen vorzunehmen, welchen jedoch Untersuchungen
über die Topographie des alten Neapels vorhergehen müssten.
3) „Ossa eins Neapolim translata sunt tumuloque condita, qui est
via puteolana intra lapidem secundum." Donat. Vit. Vergib p. 63.
Virgil in der Volkssage. 239
genannt^). Es versteht sich daher von selbst, dass das Volk,
welches diesem Cultus zuschaute, Virgil's Andenken bewahren
musste, wenn uns auch für das älteste Mittelalter davon nicht
bestimmte Nachrichten überliefert sind, aus dem einfachen Grunde,
weil damals die Schriftsteller für dergleichen kein Interesse hatten.
Nach dem, was wir jedoch über den nie erloschenen Ruhm des
Dichters wissen, können wir schliessen, dass das neapolitanische
Volk viele Jahrhunderte hindurch an die Nachfrage aller Reisenden
nach Virgil's Grab gewöhnt sein musste.
Es ist also nicht unmöglich, dass die Volkssage von dem
Grabe Virgil's als einer Bürgschaft für das Wol der Stadt, • so
wie die von Konrad mitgetheilte Idee, dass Sturm und üngewitter
entstünde, sobald die Gebeine des Dichters aus dem Grabe ge-
nommen würden, von sehr altem Datum sind. Bereits in den ältesten
Virgilsagen, z. B. in der von der heiligen Unverletzlichkeit der
Grotte von Puteoli, unweit welcher sich noch heute das sogenannte
Grab Virgil's befindet, spielt letzteres eine Rolle. Aehnliche Sagen
waren schon im Alterthume gewöhnlich; so sahen u. a. die Athener
in dem Besitze der Gebeine des Oedipus ein Glück für die Stadt,
und von dem Hügel, in welchem Antäus begraben sein sollte, hiess
es, dass, wenn man davon etwas Erde wegnehme, es augenblicklich
zu regnen anfange^).
Der Dichter, welcher bei Mantua geboren war und in Neapel
begraben sein wollte, musste diese Stadt wol sehr lieb haben. Wir
wissen, dass er lange dort im Genüsse der Bequemlichkeiten, die
ihm sein hoher Beschützer verschafft hatte, lebte und in jener
wundervollen Gegend einen grossen Theil seiner unsterblichen
Dichtungen vollendete. Aus seiner Biographie geht hervor, dass
seine sanfte und bescheidene Persönlichkeit den Neapolitanern
bekannt war, und diese den Dichter sehr charakteristisch „Par-
thenias" nannten^). Ich zweifle ferner nicht daran, dass sein
1) „Non quod Mantua contumax Homero
adiecit latialibus loquelis,
aequari sibimet subinde livens
busto Parthenopem Macroniano."
Sid. Apoll. Carni. IX.
2) Pomp. Mela, De Chorogr. III. 106 (ed. Parthey). Vgl. auch Raw-
linson, ad Herodot. I, 66.
3) „ .... et ore et animo tam probum constat, ut Neapoli Parthenias
vulgo appellatus sit." Donat. Vit. Verg. p. 57.
240 Virgil in der Volkssage.
Name auch an einigen Landgütern, die er hier besass, haften ge-
blieben sein wird.
Man denke z.B. an jenen Garten des Virgil, den er der Sage nach
auf dem Monte Vergine hatte, und welcher nach Gervasius alle
möglichen Heilkräuter enthielt! Wie ich aus verschiedenen Docu-
menten ersehe, hiess der Berg früher „Mons Virginis", „Mons
Virginum" und „Mons Virgilianus". Giovanni Nusco, Verfasser der
Biographie des Wilhelm von Vercelli^) und Stifter der Congre-
gation aus der Kirche von Monte Vergine, sagt, dass der Berg
früher „Mons Virgilianus" geheissen habe, und bedient sich auch
sel8st dieser Benennung. Roth^) läugnet das und bemerkt, dass
man von dem Berge in einigen Documenten, die aus der Zeit des
Heiligen stammen, sagt „Mons qui Virginis vocatur" und von der
Kirche „S. Maria Montis Virginis". Dass aber, als man den Namen
des Berges änderte, die einen den älteren Namen beibehielten, die
anderen sich des neueren bedienten, ist gar nicht wunderbar. Auch
der Verfasser der „Vita des h. Wilhelm" war Zeitgenosse des
Heiligen, und wurde 1132^) unter die Priester von Monte Vergine
aufgenommen, zehn Jahre vor Wilhelm's Tode und sechs Jahre
nach Einweihung der Kirche. Daran z^'eifeln wollen, dass er sich
bei seiner Benennung „Mons Virgilianus" an eine örtliche Ueber-
lieferung hielt, heisst die Sache sich mit Gewalt leicht machen,
um so mehr, wenn man bedenkt, dass der Verfasser als Mitglied
der Congregation gewiss den Titel „Mons Virginis Mariae" dem
heidnischen Titel „Mons Virgilii^' vorgezogen haben würde, Avenn
nicht die Ueberlieferung stärker gewesen wäre. Wenn auch einige
Frommen in ihren Scheukungsacten von „Mons Virginis" sprechen,
so wurde die alte ueberlieferung doch noch 1197 sogar vom
Papste Coelestinus HI anerkannt, welcher in einer Bulle jenes
Kloster mehr als einmal „Monasterium sacrosanctae Virginis
Mariae de Monte Virgilü" nennt*). Da aber eine Oertlichkeit sehr
wol mehrere Namen zu gleicher Zeit haben kann, so ist es mög-
lich, dass jener Virgilberg, bevor man ihn nach der Jungfrau Maria
nannte, auch „Mons Virginum" hiess, wie wir aus Gervasius sehen.
Der hier vermuthlich aus der Heidenzeit vorauszusetzende Cultus
1) Acta Sanctorum Juu. V, p. 114 fi".
2) a. a. 0. p. 287.
3) Acta SS. Jun. V, p. 112 d.
4) Casto, La vera istoria dell' origine e delle cose notabili di
Monte Vergine, p. 123 flf.
Virgil in der Volkssage. 241
der Vesta und Cybele würde diese Benennung vollkommen er-
klären ^). Jedenfalls kann der Name „A' irgilberg", an welchem
gar nicht zu zweifeln ist, und die neapolitanische wie die Local-
Sage^), die hier einen Garten des Virgil annimnät, gar nicht besser
erklärt werden, als durch eine Besitzung Virgil's an diesem Orte.
Das lässt sich jetzt freilich nicht mehr positiv beweisen, wol aber
lässt sich beweisen, dass man kaum ein Jahrhundert nach dem
Tode des Dichters von seinen hier befindlichen Besitzungen
sprach.
Aulus Gellius'^j sagt nämlich, er habe in einem Commentare*)
die Notiz gefunden, dass die Verse:
„Talern dives arat Capua et vicina Vesevo
Ora jugo^ etc."
von Virgil erst mit der Lesart „Nola jugo" veröffentlicht worden
seien, dass aber der Dichter später, nachdem er die Nolaner ver-
gebens um die Erlaubniss ersucht hatte, Wasser auf sein nahes
Landgut leiten zu dürfen, aus Aerger über den abschläglichen Be-
scheid der Nolaner den Namen ihrer Stadt aus seinen Versen
vertilgt und das Wort „ora" an Stelle derselben gesetzt habe.
Gellius sagt freilich, dass er nicht für die Wahrheit der Erzählung
bürgen wolle; es genügt aber zu wissen, dass ein Schriftsteller
1) Die locale Ueberlieferung, die alle Historiker von Monte Vergine
erwähnen, meldete, dass der Berg früher nach einem Heiligthume der
Cybele benannt wurde. Auch die Benennung ,,Vestaberg" leitete ma«
von einem Tempel der Vesta am Fusse des Berges ab, Giordano, Ci'O-
niehe di Monte Vergino, p. 27, 38, 45.
2) Eine alte Hds. von Monte Vergine aus dem 13. Jahrh. mit der
Vita des h. Guglielmo sagt: ,,Nuncupatur Mons Virgilianus a quibusdam
operibus et nialeficiis Virgilü niantuani poetae inter latiuos principia;
construxerat enim hie maleficus daemonum ciiltor eorum ope bortulum
quemdam omnium genere herbarum cunctis diebus, et temi)oribus, maxime
vero aestatis poUentem, quarum virtutes in foliis scriptas monachi qui-
dam nostri fide digni fratres, qui praedictum montem inhabitant, apertis
vocibus testantur, saepe cabu in praedictum hortum, non semel, dum
per juga montis solatìi causa errarent, iucidisse, nihilomus intra hortum
huiusmodi maleficio afiectos esse, ut nec herbas tangere valuisse, nec
qua via inde egressi sint, cognovisse retulerunt. Deinde, mutato nomine
Virgilii, Virgineus appellatur a semper Virgine Maria, cni templum po-
situm est." Bei Giordano, Croniche di Monte Vergine p. 92.
3) Noct. att. Il, 213. Vgl. Serv. ad Aen. Yll, 740.
4) Kretschmer (De A. Geli. font. p. 77) und Merckliu (N. Jahr-
bücher f. Philol. 1861 p. 722) denken an einen Virgilcommentar des
Hygin.
Comparetti, Virgil im Mittelalter. ]Q
242 Virgil in der Volkssage.
des zweiten Jahrhunderts, gestützt auf ältere Gewührsniüuner, ganz
ausdrücklich von Besitzungen, welche Virgil in der Gegend von
Nola gehabt haben soll, redet, was auch, da Virgil so oft hier
verweilte, nichts weniger als unwahrscheinlich ist^). Jetzt verlegt
die Sage den wunderbaren Garten nach Avella^) an die Abhänge
des Monte Vergine, also ganz in die Nähe von Nola und verknüpft
sich auf diese Weise nach zehn Jahrhunderten mit der Nachricht
des Gellius, deren sie sich zu ihrer Erklärung bedient^). Auch
das ist nicht unmöglich, dass die Sage von Heilkräutern sich auf
einen hier wirklich einmal vorhandenen derartigen Garten, wie wir
solche öfter im Mittelalter finden, bezieht ■*).
Ich habe mich absichtlich bei diesem Gegenstande länger auf-
gehalten, weil sich daraus beweisen lässt, wie der Name Virgil's
in der Ueberlieferung des Volkes in jenen Gegenden fortwährend
erhalten blieb. Viele Sagen aus dem Mittelalter zeigen ganz den-
selben Charakter. In dunklen Zeiten entstanden, brauchen sie
lange Zeit zu ihrer Entwickelung und erscheinen dann mit einem
Male in der Literatur in vollkommener Gestalt. Bei der Virgil-
sage sind wir im Stande, aus der Geschichte ihren ersten Ursprung
und den Eindruck, welchen Virgil's Persönlichkeit auf die Nea-
politaner machte, zu erkennen, infolge dessen nach Jahrhunderten
Virgil im Schimmer der Sage ganz verändert erscheint. Er ist
nicht mehr der Augusteische Dichter, der herrlichste aller römischen
1) So meint auch Ribbeck, Prolegg. p. 25.
2) Die Cronica di Partenope versetzt ihn oberhalb AvoUa's „appresso
Mercholiano". Mercogliano liegt jedoch Avellino näher als Avella, und
deshalb meint vielleicht Roth (a. a. 0. p. 220) es müsse Avellino anstatt
Avella gelesen werden. Aber S coppa sagt ausdrücklich: „supra Abellam
nunc Avellani quam Virgilium in Georg, maliferam . . . nuncupat." Gior-
dano (Cron.di Monte Vergine, p.85 ff.) behauptet sogar, dass Virgil in Avella
seinen Sommeraufenthalt nahm. Natürlich konnte die Sage die Localität
eines solchen Wundergartens nicht genau bestimmen. In der erwähnten Hds.
heisst es, dass einige Mönche ihn gesehen haben wollten, da sie zufällig
iu ihn hiueiugeriethen und dann nicht wussten, wie sie herauskommen
sollten. Dasselbe erzählten andere Mönche im 17. Jahrhundert, und
Giordano verzeichnet .sogar ihre Namen! Cron. di Monte Vergine,
p. 92 ff.
3) Bemerkenawerth ist, dass die beiden neapolitanischen Sagen, von
den Schlangen und den marmornen Köpfen sich auf das Nolanische Thor
beziehen.
4) Vergi, das Epigramm 370 der Anthologia latina (Meyer): „De
horte domini Oageis, ubi omnes herbae mediciuales plantatae sunt."
Virgil in der Volkssage. 243
Poeten, sondern, was ja die Neapolitaner mehr interessii-en musste,
ein Mann von umsichtigem Geiste, der die Stadt Neapel in be-
neidenswerther Weise ausgeschmückt und. so geliebt hat, dass
er ihr noch im Grabe nahe sein wollte. Den ältesten Bestand theil
der Sage bildet daher die Vorstellung von dem Protectorate, welches
Virgil über Neapel ausübte. Und in der That findet sich dieselbe
mit den ältesten Nachrichten, welche wir über den Virgil der uea-
politanii^chen Sage besitzen, verbunden bei Johann von Salisbur}^,
wo er von der broncenen Fliege spricht, und bei Alexander von
Telese, welcher uns berichtet, dass Neapel und Calabrien von Au-
gustus Virgil zu Lehen gegeben seien. Mit dieser ursprünglichen
Vorstellung, in welcher die Sage recht eigentlich wurzelt, verknüpft
sich eine andere für die Bildung des Mittelalters bezeichnende
Thatsache. Seneca spricht nämlich im Anfange des sechsten Buches
seiner „Qiiaestiones naturales" von einem starken Erdbeben, welches
Campanien unter dem Consulate des Regulus und „Virginius" ver-
wüstete ; Neapel blos blieb „leniter ingenti malo perstricta". Nun
werden einige gewiss „Virgilius" für ,, Virginius" gelesen haben,
und da man nicht wusste, was ein Consul zur Zeit Virgil's war,
schloss man daraus, dass Virgil „Consul von Neapel" gewesen sei.
Noch Padre Giordano, der Abt von Monte Vergine, welcher 1649
eine Chronik seines Klosters zusammenstellte, erzählt, dass Virgil
von Augiistus zum Consul von Neapel gemacht sei, als Collegen
im Amte aber den Regulus gehabt habe, und citirt dann die
Stelle des Seneca vom Ausbruche des Vesuv ^). Wir können auch
vermuthen, dass, wenn Alexander von Telese, ein Geistlicher,
w^elcher unweit Neapel in Samnium lebte, von dieser Stadt wie
von einem Lehen Virgil's spricht, dies mit jener Senecastelle im
Zusammenhange steht, welche von einem Mönche aus Süditalien
missverstanden, nun die Veranlassung bildete, die volksthüraliche
Vorstellung vom Protectorate Virgil's über Neapel zu übertreiben. —
Es bleibt nunmehr nur noch übrig, das Resultat unserer Unter-
suchung in einigen Worten zusammenzufassen.
In der ältesten Form der Sage unterscheiden wir zwei ver-
schiedene Bestandtheile, erstens: Virgil's Berühmtheit und seine
Liebe zu Neapel, und zweitens: den Glauben an einige öffentliche
ihm zugeschriebene Talismane; jener, der sich auf historische That-
sachen und örtliche Ueberlieferungen gründet, gehört Neapel aus-
schliesslich an und geht vielleicht noch auf die Lebenszeit des
1) Croniche di Monte Vergine p. 84.
16^
244 Virgil in der Volkssage.
Dichters zurück; dieser ist jüngeren Datums und findet sich bei
vielen mittelalterlichen Sagen, die sich auf antike Monumente be-
ziehen, ist also nicht ausschliesslich neapolitanisch. Die Vorstellung
des Mittelalters von der imbegrenzten Weisheit Virgil's und die
Erinnerung an die Zuneigung des Dichters zu Neapel wurden dann
das Bindeglied zwischen jenen beiden Bestandtheilen und bewirkten,
dass mau dem Dichter zu Neapel Werke des Gemeinwols zu.
schrieb, die man für die Schöpfungen eines tiefen und verborgenen
Wissens ansah, wie man ähnliches in anderen Städten anderen
Männern beilegte. Eine verächtliche Vorstellung ist in dieser Form
der Sage durchaus noch nicht vorhanden, und der Gedanke an
Bosheit und Teufelskunst noch ganz ausgeschlossen.
Ersieht man nun hieraus die Art und Weise, wie die Sage
entstand, so bleibt nur noch zu untersuchen übrig, in welcher Zeit
dies geschah d. h., wann unter dem neapolitanischen Volke zuerst
der Glaube an jene Talismane aufkam und mit denselben den
Namen Virgil's verknüpfte. Allein die schriftlichen Zeugnisse, welche
uns zu Gebote stehen, antworten auf diese Frage nicht. Die älteste
Erwähnung der Sage findet sich zuerst, wie wir sahen, bei Johann
von Salisbury, also nicht vor der Mitte des zwölften Jahrhunderts.
Daraus folgt freilich nicht, dass jene Vorstellungen nicht schon
früher unter den Neapolitanern vorhanden waren. Wer das Mittel-
alter kennt, weiss, wie oft die Bildung und Fortpflanzung der
Sagen unter dem Volke lange im verborgenen bleiben, bis sie mit
einem Male bei den Schriftstellern auftauchen, und wie wahr-
scheinlich es ist, dass ein grosser Theil der Sagen vergessen
worden und ganz unbekannt geblieben ist. Nichts hindert uns zu
glauben, dass jene Virgilsagen älter als das zwölfte Jahrhundert
sind. Dass sie aber gerade in dieser Zeit zum ersten Male an's
Licht traten, darf nicht Wunder nehmen, wenn man bedenkt, dass
eben in jenem Jahrhundert das innere Leben der italienischen
Städte sich entwickelte, besonders Neapels, welches aus seiner
Vereinzelung in das neue, von Roger gegründete Königreich über-
ging und vermöge seines Wachsthumes alsbald die Hauptstadt
eines ansehnlichen Beiches wurde.
Indem wir aber, was die Entstehung der Sage betrifft, bis zu
diesem Zeitpunkte vorgedrungen sind, bestätigt sich uns, dass das
Eigenthümliche derselben in dieser ihrer ältesten Gestalt ihrem
Ursprünge so wie den allgemeinen, oben von uns gemachten Be-
merkungen durchaus entspricht: Virgil erscheint als einer, der die
tiefen Geheimnisse der Natur kennt und sie zum Wole der von
Virgil in der Volkssagc". 245
ihm geliebten Stadi anwendet. Er ist weniger Zauberer, als vielmehr
Gelehrter und versteht sich auf Dinge, die dem gemeinen Manne
nicht verständlich sind. Und so gibt sich uns bei der Umwandlung
des Ruhmes des Dichters ein Gesetz zu erkennen , welches fast
dasselbe bei dem neapolitanischen Volke, das die Erinnerung an
seinen alten Beschützer bewahrte, wie bei den Gelehrten ist, welche
gewohnheitsmässig fortfuhren, seine Gedichte zu lesen und sie
der Ueberlieferung nach zu bewundern. Daher kam es, dass jene
neapolitanischen Sagen, nachdem sie kaum in die Literatur einge-
drungen waren, vermöge der Vorstellung, welche die Gelehrten da-
maliger Zeit von Virgil hatten, den Boden zu ihrer Aufnahme so
wol vorbereitet fimden, dass sie darin Wurzel fassteu und bei ihrer
Fortpflanzung mit wahrhaft überraschender Schnelligkeit entarteten.
Viertes Capitel.
Dass sich Volkssagen, die 'von Munde zu Munde und von
einem Schriftsteller zum andern gehen, umwandeln, ist ein ganz
bekanntes und feststehendes Gesetz. Ein kleiner Kern der Sage
pflegt aber besondei-s auf zwei Weisen grosse Ausdehnung anzu-
nehmen, entweder, indem er von der Phantasie des Volkes im Laufe
der Zeit übertrieben und erweitert wird, oder indem sich andere
schon vorhandene, vereinzelte oder zu anderen Gruppen gehörige
Sagen an ihn ansetzen. Im Allgemeinen findet die Veränderung
nach der ersten Art dann statt, wenn Sagen, zumal solche, denen
eine locale, geschichtliche oder überlieferte Begebenheit zu Grunde
liegt, den Boden, in welchem sie entstanden sind, verlassen. Wenn
eine Sage der Art aus ihrer Heimath in ein anderes Land zieht,
so kann sie dort nicht das gleiche Interesse finden, sondern wird
zunächst missverstanden und umgestaltet. Dem Gefühle der Nea-
politaner widerstand es, dem Virgil Teufelkskünste zuzuschreiben
und zu glauben, dass der Beschützer Neapel's sich unehrenhafter
Mittel zum Wole der Stadt bedient habe; das änderte sich aber,
sobald die Sage sich in Europa verbreitete.
Von der „Ars mathematica" und der „Astrologie" war zur
,,Ars diabolica" nur ein Schritt, und es gab also gar keinen
Grund, weshalb nicht Virgil dasselbe Schicksal wie Gerbert und
andere bei'ühmte Mathematiker und Astrologen erleiden sollte, die
man zu Schwarzkünstlern im schwärzesten Sinne des Wortes machte^).
1) Nach der mittelalterlichen Etymologie: „mantia, graece divi-
natio dicitur, et nigro, quasi nigra, unde Nigromantia, nigra divinatio,
246 Virgil iu tler Volkssagc.
Der Uebergang war aber um yo leichter, da es sich bei Virgil
um einen Heiden handelte. Viele Geistliche des Mittelalters liebten
es ja, wie bereits bemerkt ist, die grossen Schriftsteller des Alter-
thums in Misseredit zu bringen, indem sie dieselben wegen ihrer
Kenntnisse und Talente, die sie besonders den höllischen Mächten
verdanken sollten, als Anbeter des Teufels darstellten: Vorurtheile,
die zwar nicht der gesanimten Geistlichkeit eigen waren, sich aber
doch lange genug erhielten.
Bedenkt mau diesen Umstand, so wird man die Veränderungen
und Erweiterungen erklären können, welche die Virgilsage erlitt,
als sie mit reissender Schnelligkeit das civilisirte Europa durchlief
und der zügellosen Phantasie der Bänkelsänger anheimtiel. Diese
mussten, da sie gezwungen waren, ihre Zuhörer zu fesseln und
ihren Handwerksgenossen Concurrenz zu machen, vor allen Dingen
auf ein reiches Repertorium von Erzählungen bedacht sein, um im
Falle der Missbilligung ihrer Zuhörer^) den Stoff rasch wechseln
zu können und zugleich ihre Kenntniss aller möglichen Sagenkreise
zu entfalten'''). Man begreift, mit welcher Begier sie sich eines
jeden neuen Stoffes bemächtigt haben werden. Auch die Virgilsage
tiel, nachdem sie Neapel vei'lassen hatte, in ihre Hände und war
im Anfange des dreizehnten Jahrhunderts schon ganz bekannt. In
einem langen Gedichte des Troubadours Giraud de Calan9on, das
wol zwischen 1215 — 1220^) verfasst ist, wird ausführlich von dem
gesprochen, was ein geschickter Bänkelsänger zu wissen braucht.
Der Aufzählung aller der Instrumente, die er spielen muss, der
Künste und Sprünge die er zu macheu hat, folgt ein langes Re-
gister von Erzählungen, theils Romanen, theils Novellen in Versen.
quia ad atra dacmonioium vincula utcntcs se adducit." Sic ist also keine
ars liberalis, denn: „sciri libere potest, sed opurari sine daemonum fa-
miliaritate nullatenus valet." So in einer Wiener Hds. bei Reiffenberg,
Chron. rim. de Philippe Mouskes, I, p. 6.
1) Darauf spielt eine Stelle aus der „Gemma Ecclesiastica" dos
Giraldus Cambrensia (1197) an mit Beziehung auf einige Priester: ,, Simile«
sunt cantantibus fabulas et gesta, qui videntes cantilenam de Laudcrico
non piacere auditoribus, statini incipiunfc cantare de Wacherio; quod
si non placuerit, de alio." Giraldi Cambrensis opera, ed. Brewer, il,
(Lond. 1862), p. 290.
2) Graessc, Die grossen Sagenkreise des Mittelalters, p. 6 tf.
3) Hist. litt, de la France, t. XVII, p. 580.
Virgil in der Volkssago. 247
Darunter finden sich denn auch Virgilsagen '), und zwar sowol die
vom Wundergarten, wie andere nicht neapolitanischen Ursprungs,
von denen später die Rede sein wird. Jedermann sieht ein , wie
diese „Cantores francigenarum", welche Dichter, Gaukler und Possen-
reisser in einer Person waren, mit den Legenden umspringen
mussten. Kam es ihnen doch nur darauf an, die Zuhörer zu
fesseln und denselben das Geld aus der Tasche zu locken. Es
versteht sich ganz von selbst, dass Virgil unter ihren Händen ein
Schwarzkünstler ersten Ranges werden musste.
Nicht viel anders war aber das Schicksal, welches Virgil bei
den Schriftstellern zu Theil wurde. Im Dolopathos^) zeigte sich
uns Virgil, obgleich er schon in Folge der literarischen Ueber-
lieferung bereits zu einer ganz idealen Figur geworden war, noch
ohne Beziehung zur Magie. In der französischen Uebersetzung
des Dolopathos in Versen, welche Herbers im dreizehnten Jahr-
hundert anfertigte, findet sich nur eine einzige Anspielung auf
Zauberei. Es heisst dort nämlich von dem Büchlein, in welchem
Virgil die sieben freien Künste für seinen Schüler Lucinian zu-
pammengefasst hatte, dass der Dichter dasselbe, als er starb, so
fest in der Hand gehalten habe und zwar
„Par engiu et par nigromance
Dont il sot tote la science^)",
dass man es ihm nicht entreissen konnte. Freilich hat hier die
„Zauberei" noch ein ziemlich unschuldiges Aussehen*). Man weiss
nicht, ob Dam Gehan, der erste Verfasser des Dolopathos ,' diese
Geschichten aus eigenem Antriebe wegliess, oder, als er im Jahre
1) E de Virgili
Com de la conca a saup cobrir
E del vergier
E del pesquier
E del foc que saup escantir.
Diez, D. Poesie d. Troubadours, p. 109. G ras ss e, a. a. 0. p. 21 ff.
Fauriel, Hist. de la poesie prov. IH, p. 495.
2) Vgl. Theil I, Gap. 16.
3) Li Romans de Dolopathos, publié par MM. Ch. Brunei et Anat.
de Montaiglon. Paris (Jannet), p. 384.
4) Roth bringt mit Unrecht, wie auch u. a. Grimm (Die Sage von
Polyphem, p. 4.) that, den lateinischen Text des Dolopathos mit der
H istoria Septem sapientium zusammen. Letztere ist nicht das Original,
sondern die lateinische Umarbeitung des „Roman des sept sages." Ich
kann dies jedoch hier nur andeuten.
248 Virgil in der Volkssagc.
1184 das Buch veifasste \i, noch nicht gekannt hat. Jedenfalls
spricht vor Gervasius und Konrad schon Neckam, welcher, wie
wir sahen, wol nicht in Neapel war, von den Wunderwerken
Virgil's.
Abgesehen von der Fleischbank erzählt nämlich Xeckam, dass
Virgil") vermittelst eines goldenen Blutegels") Neapel von deu
zahllosen Blutegeln, welche das Wasser verdarben, befreite, dass
or eine eherne Brücke baute, auf der man überallhin gelangen
konnte, und seinen Garten mit einer gleich einer Mauer undurch-
dringlichen Luftschicht umgab. Von einer anderen Sage , die er
ausserdem erwähnt, soll weiter unten die Rede sein.
Ein Schriftsteller, welcher schon vor Gervasius einige Virgil-
sagen kannte, ist ferner der Mönch Elinandus, der Verfasser einer
im Mittelalter viel gelesenen lateinischen Chronik*), die Vincenz
von Beauvais in sein „Speculum historiale" aufgenommen hat.
In dieser Chronik, welche bis zum Jahre 1204: reicht, spricht Eli-
nandus, ausser von der broncenen Fliege, den Bädern, der Fleisch-
bank und dem Garten, in dem es, wie er sagt, niemals regnet,
zum ersten Male von einem Glockenthurme des Virgil, der sich,
wenn die Glocken erklangen, mit diesen bewegte^), und erwähnt
dann auch gleich Neckam die „Salvatio Romae". Die Nachricliteu,
Avelche wir über Elinandus besitzen''), so wie der Charakter einiger
von ihm erwähnten Sagen machen .es nicht wahrscheinlich, dass
1) Dies Datum scheint mir das richtigste zu sein. Vgl. Güdcke,
Orient und Occident, III, p. 395. Die französische Uebersetzung von
Herbers gehört gewiss ins 13. Jahrhundert.
2) De naturis rerum, cap. 174. Nach Neckam referirt die Virgil be-
treffenden Erzählungen W. Burley, De vita et moribus philosophorum,
cap. 103.
3) Anders Pseudo- Villani. Nobile, Descriz. della città di Napoli, li,
p. 781, schreibt wie folgt: „La capella di S. Giovanni a Pozzo bianco
segue più innanzi al principio del vicolo dell' arcivescovado, anticamente
detto Gurgite; ed era così denominato perchè l'altro vicolo che gli
sta dirimpetto, aveva fino ad un secolo fa un pubblico pozzo ornato di
marmo bianco, e sovr' esso sanguisughe scolpite, di cui il cronista nostro
Giovanni Villani, seguendo l'ignoranza del volgo, dice che Vii-gilio Ma-
rone sotto la costellazione dell' Aquario aveale fatte scolpire etc."
4) Publicirt im 7. Bande der Biblioth. patr. cistercensium von
T i 8 s i e r.
5) Vincenz von Beauvais zweifelt an der Erzählung, weil die Er-
findung der Glocken jünger als Virgil sei. (!)
6) Vgl. Eist. litt, de la France, t. XVIII, p. 87 ff.
Virgil in der Volkssage. 249
er jemals in Neapel'geweseii ist. Wir tindeu bei ihm wie bei Neckam
bereits die Anzeichen der Verwandlung, welche die Sage ausser-
halb ihrer Heimath erlitten hatte. Man darf ferner nicht ver-
gessen, dass Elinandus fi-üher ein durch seine Gesänge sehr be-
liebter Troubadour war; er selbst beklagt diese seine Vergangen-
heit^) und sagt, dass es keinen öffentlichen Ort, kein Fest
gegeben habe, bei welchem er nicht seine Stimme habe ertönen
lassen. Daher kömmt es vielleicht, dass er da, wo er von seiner
Zeit spricht, sich auf keine Thatsachen einlassen will, sondern nur
von Phantastereien aller Art, Träumen, Visionen, Wundererschei-
nuugeu und Legenden, die sich besonders auf Virgil beziehen und
in denen sich der alte Troubadour verräth, spricht. Vincenz von
Beauvais und Alberich von Trois-Fontaines haben dieselben ge-
treulich wieder erzählt.
Gewiss hatten auch die Deutscheu, welche den französischen
Dichtern nachahmten, eben durch diese von dem Zauberer Vii:gil
zuerst gehört. Wolfram von Eschenbach lässt in seinem zwischen
1203 — 1215 verfassten und aus französischen Quellen abgeleiteten^)
„Parzival" vom Zauberer Virgil seineu Klinschor abstammen,
welcher, wie er sagt, in „Terra die Lavoro" geboren ward, und
in derselben Weise wird Virgil auch von andern deutscheu Dichtern
während des dreizehnten Jahrhunderts behandelt; hierhin gehören:
Boppo, Frauenlob, Rumeland, der Verfasser des Reinfrit von
Braunschweig u. A.^). Während also einerseits die Virgilsagen
von Gauklern, Minnesängern und Dichtern aller Art theils mündlich
theils schriftlich fortgepflanzt wurden, erlangten sie anderseits durch
ihre Aufnahme in viel gelesene wissenschaftliche Bücher und Re-
pertorien, wie die des Gervasius, Neckam, Elinandus, Vincenz von
Beauvais u. s. w. eine noch grössere Berühmtheit.
Fünftes Capitel.
Erwägt man den Standpunkt, auf welchem sich die Literatur
des Mittelalters befand, so wird man leicht bemerken, dass sich
an dem Virgil der neapolitanischen Volkssage gar bald die ün-
1) „Non scena, non circus, non theatrum, non amphitheatrum, non
forum, non platea, non gymnasium, non arena sine eo resonabat." De
reparat. lapsi, p. 318.
2) Vergi. Rochat in Pfeiffer's Germania, III, 81 ff. und IV,
411 ff.
3) Vergi. V. d. Hagen, Gesammtabenteuer, 111, p, CXL fi'.
250 Virgil in der Volkssape.
möglichkeit herausstellen miisste, denselben mit dem ganzen Ideen-
krelse, mit welchem der Name des Dichters zusammenhing, zu
vereinigen. Die neapolitanische Sage hatte Virgil nur mit Neajiel
in Verbindung gebracht. Das hörte nun auf, sobald die Sage sich
ausbreitete. In der That hatte ja der Aufenthalt des Dichters in
Neapel in der literarischen üeberlieferung nur eine untergeordnete
Bedeutung. Als eine der hervorragendsten Persönlichkeiten der
antiken Römerwelt musste Virgil nothwendig von der Sage auch
mit der Hauptstadt des Kaiserreiches in Berührung gesetzt werden. Rom
und Virgil waren zwei Begriffe, die sich in gewissen Ideenkreisen so
nothwendig gegeuteitig anzogen, dass sich auch der Virgil der Sage
von dem Rom der Sage nicht trennen liess. Er, der so viel für
Neapel gethan hatte, sollte für das goldene Rom, das Hauijt der
Welt, dessen Ursprung er in seinem unsterblichen Gedichte ver-
herrlicht hat, nichts gethan haben? Diese Lücke in der Sage
wurde denn auch ausgefüllt, sobald sie begann, sich in Europa
zu verbreiten. Schon bei Alexander Neckam und Elinandus finden
wir eine römische Sage mit der neapolitanischen verknüpft. Grosse
Erfindungsgabe war dazu nicht nöthig. Wenn in Neapel der
Glaube an jene Talismane auch unabhängig von der Berühmtheit
Virgil's vorhanden war, und das Volk den Namen des Dichters
nur auf jene Werke übertrug, so gab es auch in Rom seit alter
Zeit ähnliche Erzählungen, und es war also nicht schwer, nach
dem Beispiele Neapels Virgil mit denselben in Beziehung zu
l)ringen. Der Unterschied besteht nur darin, dass die neapolita-
nischen Virgilsagen Werk des Volkes, die römischen dagegen durch
Schriftsteller und Dichter spater von aussen herein gebracht
waren.
Alexander Neckam erzählt, dass Virgil in Rom einen schönen
Talast erbaute und mit Bildsäulen ausschmückte, welche die unter-
worfenen Völker darstellten und je eine Glocke in der Hand
hielten. Sobald eine Provinz auf Abfall sann, begann die be-
trefi'ende Bildsäule mit der Glocke zu läuten. Darauf schwang ein
broncener Krieger, der auf der Spitze des Palastes stand, seine
Lanze nach der Richtung hin, wo jene Provinz lag, und so hatten
die Römer Zeit, Truppen auszurüsten und konnten die Aufstän-
dischen unterdrücken. Merkwürdig ist, dass Neckam, welcher hier
dem Virgil diese Wunderwerke zuschreibt, in seinem Gedichte „De
laudibus divinae sapientiae'j", einem Au.<zuge aus seinem
1) Dibt. 5. v. 290 S. (p. 447).
Virgil in der Volkssage. 251
Buche „De naturis rerum", zwar dieselbe Sage wiederholt, sie
aber nicht auf Virgil bezieht. Fast dasselbe erzählt unabhängig
von Ncckam Elinandus, welcher aber doch auch nicht sicher weiss,
ob jene Schöpfung von Yirgil herrührt; er sagt nur: ,,creditur a
quibusdam".
Dass sich das römische A^olk bei seiner Unwissenheit, in
welche es die Geistlichkeit wie die Barbaren im Mittelalter gestürzt
hatten, von den vorhandenen Denkmälern der Stadt keine Eechen-
schaft mehr zu geben wusste und alle möglichen Sagen auf die-
selben anwandte, darf um so weniger auffallen, als ganz dasselbe
unter dem Volke noch zu weit erleuchteteren Zeiten stattfand. Die
Masse von Erinnerungen, welche auf Kom lastete, war so gewaltig,
dass z\im richtigen Verständnisse jedes Denkmals historische Kennt-
nisse gehörten, die keine Stadtbevölkerung besitzt. Das stolze
Gefühl, Nachkommen der Römer zu sein, wurde freilich durch jene
erhabenen Monumente aufrecht erhalten, aber die Erinnerung an
Einzelheiten beschränkte sich nur auf diesen oder jenen Namen
und auf Sagen. Die gewaltige Grösse dieser Denkmäler musste
dagegen noch weit mehr die sagenbildende Thätigkeit der Fremden
anregen, welche nach Kom mit jener Frische des Geistes kamen,
wie sie Völkern, deren Civilisation noch jung ist, eigenthümlich
zu sein pflegt, und welche unfähig, die Avunderbaren Schöpfungen
der lömischen Macht zu begreifen, noch von den Ueberbleibseln
derselben überwältigt wurden. Wenn sie dann nach Hause kamen,
erzählten sie, was sie gesehen hatten, nicht ohne Uebertreibung,
imd der, welcher ihnen nacherzählte, übertrieb wieder: so bildete
sich die Sage.
In vielen derartigen, bei ausserrömischen Schriftstellern er-
haltenen Erzählungen zeigt sich die blose Thätigkeit der durch
starke Eindrücke angeregten Phantasie, welche fern von den Oertern,
auf die sich die Sage bezog, schafft und wirkt. Die weit einfacheren
und weniger phantastischen römischen Sagen gründeten sich auf
irgend ein noch vorhandenes Monument, dessen Bestimmung und
Namen nur die Sage veränderte; so erblickte man in einem ge-
weihten Schiffe die Barke, in welcher Aeneas nach Italien ge-
kommen war^j. Die durch Dante verherrlichte Erzählung von
1) Procop., Bell. Goth. IV, 22. Becker denkt an ein Modell oder
an irgend eine Curiosität: Handb. d. röm. Alt. I, p. 161. Nach Wilhelm
von Malmesbury (II, c. 13) [a. d. J. 1045] hätte man iu Rom das Grab
des Pallas entdeckt: „tunc corpus Pallantis filii Evandri de quo Virgilius
252 Virf^il in ilor Volkssage.
Tiajau und der Wittwe bctitaud schon, ehe mau sie auf Trajan
anwandte *). Vielleicht gab das Relief eines Triumphbogens,
welches den Kaiser zu Ross und vor ihm knieend die unterworfene
l'rovinz darstellte, den Anstoss dazu. Der Palast, der von Neckani
und Eliuandus dem Yirgil zugeschrieben wird und im Mittelalter
unter dem Namen „Salvatio Romae^)" wolbekannt war, ist
aus den verworrensten Erinnerungen an das Pantheon, Colosseum
und Capitol, so wie an die Bildsäulen der verschiedenen Nationen,
welche das Theater des Pompejus schmückten, und von denen
sich Nero in Augenblicken der Gewissensqual angegriffen glaubte,
entstanden; das Bindemittel dazu bildete die abergläubische Vor-
stellung von der Art und Weise, wie man die Bewachung über
ein so weites Reich ausüben konnte. Diese Legende, die gewiss
nicht in Italien entstand, wurde überall im Mittelalter erzählt,
ohne dass dabei Virgils gedacht wurde. Bei dem Griechen Kosmas
(8. Jahrh.)^), wie bei anderen Schriftstellern wird sie zuerst auf
das Capitol bezogen, welches seitdem als eins der sieben Wunder
der Welt galt, und ich vermuthe, dass der erste Grund dazu in
der Erzählung von den Gänsen des Tempels besteht, die einen
Hauptruhm des Capitols ausmachten, und dass die Sage von By-
zanz aus sich im Orient verbreitete. Es ist dies um so wahr-
scheinlicher, da sich in einigen arabischen Sagen ein Anklang an
dieselbe Erzählung, wobei die „Salvatio Romae" auf Aegypten un-
gewandt wird, so wie an die Geschichte von dem wunderbaren
Spiegel findet, von der sogleich die Rede sein wird*). Später
uarrat, Romae repertum est, ingenti stupore omnium. Hiatus vulueris
quod in medio pectore Turnus fecerat quatuor pedibus et semis mensu-
ratum est." Ich zweifle, dass diese Sage von gewiss gelehrtem Ursprünge,
sich auf eine wirkliche Entdeckung bezieht und von irgend einem rö-
mischen Archäologen herrührt, wie Gregorovius, Gesch. d. St. Rom IV,
p. 6'26 meint.
1) Vgl. Massmaun, Kaiserchronik, III, 753 ff.
2) Wird auch „Consecratio statuarum" genannt.
3) Mai, Spicilegium Romanum, II, p. 221.
4) Der König Sarca f „fece un anitra d'ottone e la pose alla porta
della città su di una colonna di marmo verde; quando uno straniero ve-
niva nella città questa anittra batteva le ali e gridava in modo che
tutti gli abitanti udivano, e così arrestavano Io straniero." Vgl. Orient
und Occident, I, p. 331, 335, 340, und Liebrecht, ebenda III, 360, 363.
Florus spricht bei der Erzählung von Manlius nur von einer Gans. Auf
dem Schilde des Aeneas bei Virgil ist nur eine silberne Gans. Aen. VIII,
Virgil in der Volkssage. 253
wird sie daun auch auf das Pantheon ^j und auf das Colosseum
bezogen. In einer dem Beda zugeschriebenen Schrift aus dem
achten Jahrhundert wird die Salvatio Bomae gleichfalls als eins
der sieben Weltwunder bezeichnet '') ; desgleichen in einer Wessobrunner
Handschrift des achten Jahrhunderts^) bei einem Anonymus von
Salerno aus dem zehnten Jahrhundert*), in einer vatikanischen
Handschrift des eilften Jahrhunderts^), in den „Mirabilia urbis
Romae", dem bekannten, später vielfach veränderten Fremd
führer'''), der aber gewiss schon im zwölften Jahrhundert^)
banden war und endlich auch bei Jacopo da Voragine
dreizehnten Jahrhundert«), welcher dabei an Teufelskunst dehkt=^)
len-
V or-
ini
652 ff. Dante, De Monarch, sagt: „anserem ibi ante non visum cecinisse
Gallos adesse." Im Soldatenliede von Modena heisst es: (10. Jahrb.).
„Vigili voce avis anser candida
fugavit Gallos ex arce romulea
pro qua virtute facta est argentea
et a Romanis adorata ut dea."
bei Du Méril, Poésies pop. lat. ant. au XII sièc. p. -200. - Massmann
will die Sage erklären, indem er sie auf die von selbst sich bewegenden
Statuen neben einigen Uhren, wie sich eine solche auch auf dem Capitol
befand, bezieht; Kaiserchr. Ili, 425. Er hält ihren Ursprung für deutsch
(p. 424); derselbe ward aber vielmehr byzantinisch sein.
1) So auch Lodovico Dolce:
„Non la Ritonda or sacra, e già profana,
Là dove tante statue erano poste
Che avean legata al collo una campana."
,Jl primo volume delle op. buri, del Berni etc." II, p. 271.
2) Libellus de septem -orbis miraculis, bei Beda, Op. I, 400.
3) Massmann, Kaiserchr. IH, 426.
4) Muratori, Rer. it. scr. II, 2 p. 272.
5) Preller im Philologus I, lO.S.
G) Graesse, Beitr. z. Liter, u. Sage d. Mittelalt. p. 10.
7) Die erste kritische Ausgabe der „Mirabilia Romae ex codd. vatt.
emendata" von Parthey, Berol. 1865 dann Jordan: „Topographie der
Stadt Rom im' Alterthum" II, Berlin 1871 p. 605 ff, dessen Aufsatz
(p. 357 ff) über die Geschichte des Textes wichtig ist. Endlich Urlichs
(C. L.) im „Codex urbis Romae topographicus" Würzburg. 1871
p. 126 ff
8) Legenda aurea, n. CLVII.
9) In der bereits citiiten Hds. wird sie ein Werk der Astrologie ge-
nannt: „Per hanc artem Romae senatores necem virorum et bella in
oris barbaris facta, regumque etregnorum detrimentum, statum et stabili-
nientum noverunt. Vgl. Reiffenberg, Chron. rim. de Philippe Mouskes,
I, p. 628.
254 Virgil in tkn- Volkssage.
Sie alle sprechen von dem Wunderbau, ohne denselben dem Virgil
zuzuschreiben, was wieder andere nach Neckam und Elinandiis
thaten^). Um diese Sage auf Virgil zu beziehen, bedurfte es je-
doch eines Bindemittels, welches die letzte Entwicklung der Sage
bildet, sobald nämlich der Dichter wieder wie in der literarischen
Ueberlieferung des Mittelalters zum Propheten Christi wird. Davon
soll im nächsten Capitel gehandelt werden. Um das Verschwinden
eines so herrlichen Baues zu erklären, berichtet der Anonymus
von Salerno, dass jene Bildsäulen nach Byzanz gebracht und dort
vom Kaiser Alexander (fölo), der sie in hohen Ehren hielt, mit
seidenen Gewändern bekleidet wurden, dass aber später der hei-
lige Petrus ihm im Traum erschienen sei und zornig zugerufen
habe: „Ich bin der er.>^te der TJümer", worauf der Kaiser plötzlich
.starb.
Auf diese Weise tritt also der Virgil der Sage zuerst in Be-
rührung mit Rom. Obwol wir wissen, dass Virgil auf dem Estpiilin
ein Haus besass'"^), geht doch aus seiner Biographie nicht hervor,
ob er daselbst gewöhnlich verweilt habe^); auf keinen Fall blatte
er dort ein Andenken wie in Neapel zurücklassen können. Die
Bevölkerung einer Kiesenhauptstadt wie Rom konnte unmöglich
von der Persönlichkeit Virgil's einen so dauernden Eindruck em-
pfangen, so sehr man auch sonst den Dichter dort zu schätzen
wusste. Wo wir also in Rom Virgil's Namen mit irgend einem
1) Die reichste Sammlung von hierauf bezüglichen Texten bei Mass-
maun, Kaiserchr. 111, 421 H". Wir fügen hierzu folgendeu unedirten italie-
nischen Text: ,,üua porta artificiata era in Roma sotto il monte Giauiiolo
dove anticamente abitò il re (ìiauo primo re d'Italia da cui è nominalo il
monte Gianicolo. La detta porta era di metallo ornata maravigliosamente
e con grande artificio, perocché quando Roma, quella nobilissima città,
aveva pace, stava la detta porta sempre serrata, e quando si ribellava
alcuna provincia, la porta per sé stessa si apriva. Allora li romani corre-
viino al Pantheon, cioè S. Maria Rotonda, dove erano iu luogo alto statue
le quali rappresentavano le provincie del mondo. E quando alcuua si
ribellava, quella cotale statua voltava le spalle e però li romani quando
vedevano la statua volta, s armavano le milizift, e prestamente andavano
iu quella parte a riacquistare'" Libro imperiale, .3, 8 (cod. S. XV, Magliii-
becchiana XXII, 9).
2) „Habuitque domum Romae Esquiliis juxta hortos Maeceu.itis,
quamquam secessu Campaniae Siciliaeque plurimum uteretur." l)on;tt.
Vit. Verg. p. 57.
3) „Si quando Romae, quo rarissime commeabat, viserotur in
publico etc." Donat. Vit. Verg. p. 57.
Virgil in der Volkssage. 255
Momente verknüpft finden, da war es nicht die Folge einer volks-
tUümlichen Ueberlieferung, sondern nur der Wiederliall von Virgil-
sagen, die ausserhalb Rom's enstanden waren.
Sechstes Capitel,
Im dreizehnten Jahrhundert finden wir die Virgilsage, die
schon über ganz Europa verbreitet war, vielfach erweitert und um-
gestaltet besonders in viel gelesenen französischen Volkspoesien.
Hierhin gehören jene im Jahre 1225 unter dem Namen „Image du
monde" verfasste und ohne Grund dem Walther von Metz zuge-
schriebene Art von Encyklopädie '), der „Roman des sept Sages"),
der in Vers und Prosa in alle möglichen Sprachen übersetzt eines
der populärsten Bücher in Europa war, so wie der von Adéuès
gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts^) geschi'iebene versificirte
Roman „Cleomadès".
Im Jahre 1319 erscheint die Virgilsage in dem noch nicht
herausgegebenen*) „Renart contrefait", so wie sich ferner Theile
derselben in Sammlungen von Anekdoten und Erzählungen finden,
welche zum Gebrauch der Moralisten und Prediger angelegt waren
und zur Erbauung der Gläubigen allegorisch ausgelegt zu werden
pflegten. Der Art sind einige Bearbeitungen der „Gesta Roma-
norura^)", so wie die von diesen abgeleitete Schi'ift, „Violier des
histoires romaines^)". Dem dreizehnten Jahrhundert gehört auch
1) Vgl. Eist. litt, de la France t. XXIII, p. 309; Du Méril, Mélauges,
p. 427 ff.
2) Keller, Li Romans des sept Sages, p. CCIII S. 153 ff; Derselbe:
Dyocletianus Leben von Hans von Bühel p. 57 ff.; Loiseleur Des-
longchamps, Essai sur les fables indiennes, p. 150 ff. D'Ancona, 11
libro dei sette Savi di Roma, p. 50 ff., 115 ff.
3) Hist. litt, de la Fr. XX, 712 ff. Du Méril, Mei. arch. 435 ff;
Li Roumaus de Cleomadès, per Adénès li Rois, pubi. p. 1. p. fois par
André van Hasselt, Brux. 1865—66, I, 52—58.
4) Du Méril, Mélanges, 440 ff.
5) Gesta romanorum hrsg. v. Ad. Keller, Stuttg. u. Tübing.
1842 und deutsch übersetzt von Graesse, Dresden u. Leipz. 1847. Vgl.
Wartou, Dissert. on the Gesta Romanorum in seiner Historj^ of eng-
lish poetry I, p. CXXXIX ff. Douce, Dissert. on the Gesta Romanorum
in seinen Illustrations of Shakespeare. (Lond. 1836) 519 ff. Gesta Roma-
norum hrsg. V. H. Oesterley, Beri. 1871, wovon bis jetzt erst das erste
Heft erschienen.
6) Le Violier des histoires romaines, nouv. édit. p. M. G. Bruuet. Paris
(Jannet) 1858.
256 Virgil in der Volkssage.
die von dem Wiener Jans Enenkel (1250) in Versen abge-
fasste Weltchronik an, in der sich gleichfalls einige Virgilsagen
finden.
In allen diesen Bearbeitungen gilt natürlich Rom als das haupt-
sächlichste Feld für Virgil'i? Thätigkeit. Die neapolitanischen Sagen
blieben dabei bestehen und wurden nur auf römischen Boden ver-
setzt und durch römische Sagen erweitert. Die Sage vom ,^Caste]
delio vo" hatte ganz ei'schr ecken de Verhältnisse angenommen: es
handelte sich jetzt nicht mehr um einen einfachen Talisman, son-
dern nach der „Image du monde" ruhte jetzt die ganze Stadt
auf einem Ei und gerieth ins Schwanken, sobald das Ei sich be-
wegte :
„Que quant aucuns l'uef reniuait
Toute la ci té en crolait."
Im Cleomadès heisst es hingegen, dass zwei solche im Meere
liegende Schlösser auf einem Eie ruhten, und dass, als Jemand
einmal versuchte, eins der Eier zu zerbrechen, sofort das eine
Schloss untersank; es blieb nur das andere übrig, welches noch
heute in Neapel „auf seinem Eie" zu sehen ist:
„Encor est là l'autres chastiaus
Qui en mer siet et bons et biaus:
Si est li oes, c'est vérités,
Seur quoi li chastiaus est fondés."
Die Idee der „Salvatio Romae" verband sich ferner mit einer
alten orientalischen Vorstellung von einem Spiegel, in welchem man
alles Zukünftige erschauen könnte. „Benjamin von Tudela")" er-
wähnt einen solchen Spiegel auf der Spitze des Leuchtthurmes von
Alexandria, den Alexander dort angebracht haben soll, und in
welchem man bis auf fünfhundert Parasangen alle Kriegsschiffe, die
gegen Aegypten heranzogen, sehen konnte ^j. Die „Salvatio Romae"
1) Der gauze darauf bezügliche Theil bei v. d. Hageu, Gesaninit-
abeuteuer, II, 513 ff.
2) Itinerario I, p. 155 ff. (Asber.) Vgl. de Guignes, Memoires
et extraits des ^ISS. etc. I, 26; Reinaud, Monumens arabes, persans et
turcs II, 418; Loiseleur, Essai sur les fahles indiennes,p. 153; Norden,
Voyage, III, 1G3 ff.
3) Zwei Spiegel figuriren auch in den arabischen Sagen bei Wüsten-
feld, Orient und Occident I, 331 ff. Im Titurel hat der Presbyter Jo-
hannes einen ähnlichen Spiegel. Vgl. v. d. Hagen, Briefe in die Hei-
math, IV, 119; Oppert, Der Presbyter Johanne.s in Sage und Geschichte,
Virgil in der Volkssage. 257
verwandelte sich in einen eben solchen SjHegel, welcher in dem
„Roman des sept Sages", im „Cleomadès" und „Renart contrefait"
dem Virgil zugeschrieben wird. Aus dem „Roman des sept Sages"
erfahi'en wir auch, wie dieser Spiegel leider zu Grunde ging: Ein
fremder König — je nach den verschiedenen Versionen ist es ent-
weder ein Ungar, Karthager, Deutscher oder Apulier, — welcher das
Joch der Römer nicht mehr ertragen mochte, nahm das Anerbieten
dreier Ritter an, die den Spiegel zerschlagen wollten: In Rom au-
gekommen, vergruben sie an mehreren Orten Gold und gaben sich
für Schatzgräber aus. Der habgierige Kaiser gedachte nun, ihre
Kunst auf die Probe zustellen, und darauf gruben, jene ihr eigenes
Gold aus. Nachdem sie so den Kaiser sicher gemacht hatten,
sagten sie ihm, dass sieh ein grosser Schatz unter dem Pfeiler des
Si^iegels finden müsse, und wurden beauftragt, diesen Schatz zu
heben. Sie zerstörten den Pfeiler, legten Holzstützen unter den
Spiegel und steckten diese in Brand. Bei Nacht entflohen sie, imd
der Spiegel zerbrach in tausend Stücke. Die Römer aber, empört
über die Zerstörung ihres Kleinods, zwangen den Kaiser, geschmolzenes
Gold zu trinken. — Die Erzählung, deren Schluss an die bekannte
Anekdote aus der römischen Geschichte erinnert, findet sich auch
ohne Beziehung auf Vii-gil und den Spiegel in der Novelle des
„Pecorone" erzählt, welche folgenden Titel hat : „Chello und Janni
von Velletri seben sich zum Schaden der Stadt Rom als Wahr-
p. 175 ff. Auch Catharina dei Medici soll einen solchen Spiegel gehabt
haben. Vgl. Reinaud, Monumens arabes, persans et turcs II, p. 418.
G. Batt. Porta, Magia naturalis (lib XVII, cap. 2) gibt sogar die Ge-
heimmittel dazu an: „ut speculis planis ea cernantur quae longe et in
aliis locis geruntur." Nach einer Version der mittelalterlichen Sage soll
sogar das Trojanische Palladium ein solcher Spiegel gewesen sein; vgl.
Caxton, Troye Boke, 11, c. 22 bei Du Meril, Me'l. p. 470. — Auch in
unserer Zeit werden derartige Spiegel in den Volkssagen erwähnt; vgl.
Afanasieff, Narodnyia russkiia skazki, VII, 2, 41, VIII, 18; Schott,
Walachische Märchen, 5, 13; Haltrich Deutsche Volksmärchen, 30 etc.
Meist sind es kleine tragbare Spiegel. Einen solchen besass auch Virgil
nach den Gesta Romanorum (c. 102, Keller). Mittelst desselben enthüllte
er einem Ehemanne die Untreue seiner Gattin und ihre Zauberkünste,
mit denen sie den Ersteren tödten wollte. Vgl. v. d. Hagen, Erzäh-
lungen und Märchen; Scheible, Das Kloster II, 126 tf.; Simrock, Die
deutschen Volksbücher VI, p. 380 ff. Vielleicht beziehen sich auf diese
Sage die in einigen Museen aufbewahrten magischen Virgilspiegel. Ueber
den Aberglauben, der im Mittelalter hieran haftete s. Papencordt, Cola
da Rieuzi, c. VI; Orioli, Biblioteca italiana, I, 1841, p. 07—90; Du
Méril, Mélanges, p. 469 ff.; Dunlop-Liebrecht, p. 201.
Comp aretti, Virgil im Mittelalter. 17
258 Virgil in der Volkssage.
sager aus. An dem Hofe des Crassus empfangen, graben sie für
diesen Gold aus, welches sie selbst erst verborgen hatten, und
sagen ihm dann, dass sich unter dem s. g. Thurme des Tribunen
ein grosser Schatz befände^). Crassus lässt Stützen an demselben
aufstellen, und sie zünden den Thurm an; in der Nacht fliehen sie
aus Rom, aber am Morgen stürzt der Thurm ein und erschlägt
viele Römer ^)". In dieser Sage handelt es sich also nur um die soge-
nannte „Torre del Tribuno", in welcher „von Metall verfertigt die Bilder
aller derer in die Aussenwaud eingefügt waren, welche in Rom
zu Ruhm oder Triumphen gelangt waren, und galt dieser Thui-m
für das Köstlichste, was Rom besass." Die Novelle steht in engster
Beziehung mit einer von Flamiuius Vacca ^), dem Archäologen des
sechzehnten Jahrhunderts, erzählten Geschichte, welcher aber die
Zerstörung den Goten zuschreibt.
Nachdem nun Virgil einmal zu einem vollkommenen Zauberer
geworden war, verknüpfte man mit seinem Namen das, was man
früher auch von anderen Männern, denen dasselbe Schicksal zu
Theil geworden war, erzählt hatte. Einer der bekanntesten unter
ihnen war Gerbert, der Papst Sylvester II., welcher für einen
Zauberer galt, weil er sich mit Mathematik und Mechanik zu einer
Zeit abgab, in welcher diese Beschäftigung als höchst anstössig
für einen Geistlichen, zumal für einen Papst erschien. Eine
1) Vgl. Gower, Confessio amantis 1. 5. Froissart, Poésies p. 270.
Hierauf bezieht sieh auch der iu dem französischen Gedichte Bai an er-
wähnte ,,Castiaus-Miróour" von Roui; vgl. G. Paris, Ilist. poet. de
Charlemagne, 251.
2) Pecorone, giorn. 5. nov. 1. — Auch der Spiegel von Alexaudiüa
wurde nach Benjamin von Tudela von einem feindlichen Griechen
zerstört.
3) „Mi ricordo che al tempo di Pio IV capitò in Roma un Goto con
un libro antichissimo, che trattava di un tesoro, con una serpe, ed una
figura di bassorilievo, e da un lato aveva un cornucopio, e dall' altro
accennava verso terra; te tanto cercò il detto Goto che trovò il segno
in un fianco dell' arco; ed andato dal Papa gli domandò licenza di
cavare il tesoro, il quale disse che apparteneva a' Romani ; ed esso man-
dato dal popolo ottenne grazia di cavarlo, e cominciato nel detto fianco
dell' arco, a forza di scarpello entrò sotto facendovi come una porta, e
volendo seguitare, li Romani dubitando non minasse l'arco a' sospetti
della malvagità del Goto, nella qual nazione dubitavano regnasse ancora
la rabbia di distruggere le romane memorie, si sollevarono contro di esso,
il quale ebbe a grazia di andarsene via, e fu tralasciata l'opera"; bei
Nardi ni, Roma antica; (Nibby) 1, p. 40.
Virgil in der Volkssage. 259
Verwirrung der auf Virgil wie Gerbert bezüglichen Sagen war
aber um so leichter* möglich, als viele der berühmtesten Schriftsteller,
wie Gervasius von Tilbury, Elinandus, Vincenzius von Beauvais,
Alberich u. A. von Beiden zugleich berichteten. Ein Beispiel dieser
Verwirrung liegt auch in den oben citirten Gedichten vor.
In den „Mirabilia" heisst es, dass da, wo heute in Eom die
Kirche S. Balbina steht und früher das „mutatorium Caesaris" sich
befand, ein aus „Asbestos" angefertigter Candelaber stand, der,
einmal angezündet, nicht mehr ausgelöscht werden konnte, wie es
ja auch die Etymologie des griechischen Wortes sagt. In der „Image
du monde" werden dem Virgil zwei Wachskerzen und eine ewig
brennende Lampe zugeschrieben. Im „Cleomadès" und in den
„Sieben Weisen^)" handelt es sich um ein immer brennendes
Feuer, vor welchem die Bildsäule eines Bogenschützen steht, jeden
Augenblick bereit, den Pfeil gegen das Feuer abzuschiessen, und
mit der hebräischen Inschrift versehen, welche aussagt: „Wenn
mich Jemand berührt, so werde ich treffen." Eines Tages berührte
ein Naseweiser, der vielleicht Hebräisch verstand, die Bildsäule,
der Pfeil flog ab, und das Feuer erlosch für immer. Dieselbe
Sage, die hier auf Virgil angewandt ist^), erzählte man schon von
Gerbert. Es hiess nämlich, dass auf dem Marsfelde eine Statue
mit erhobenem Zeigefinger sich befand, auf deren Stirn geschrieben
stand „hie percute!" Gerbert errieth zuerst den Sinn der Worte:
er beobachtete, als die Sonne im Zenith der Bildsäule stand, wohin
der Schatten des Zeigefingers fiel, merkte sich die Stelle und ging
bei Nacht mit einem Dienei'^ dahin. Nach einigen Beschwörungs-
formeln öffnete sich vor ihm die Erde, und er trat nun in einen
unterirdischen Raum, welcher mit Schätzen aller Art angefüllt
war, ein. Auch ein Saal war hier vorhanden, in welchem über
1) So auch in „Fleur des histoires" von Jean Hansel. Vgl. Du Meiil,
Mélanges p. 438.
2) In der Aeneit des Heinrich von Veldecke ist sie auf einen weisen
Geomatras bezogen. Im Romans d'Alexandre (Michelant) p. 46 hat Plato
eine immer brennende Lampe:
„En miliu de la vile ont drecié un piler.
C. pies avoit de haut: Piatons le fist fever;
Deseure ot une lampe, en sou I. candeler
Qui par jor et par nuit art et reluist si der
Qua partout en peut-on et venir et aler,
Et tons voient les gaites qui le doiveut garder."
17*
260 Viigil in der Volkssage.
eiuem Schilde ein prächtiger Karfunkel strahlendes Licht ausströmte.
Eine Menge goldener Ritter standen in den Hallen versammelt,
und dem Karfunkel gegenüber zeigte sich ein Knabe mit ge-
spanntem Bogen. Kaum berührte man etwas von den Schätzen,
so machten die Ritter Lärm mit ihren Wafien. Gerbert's Diener
vermochte der Verlockung nicht zu widerstehen und steckte ein
kleines Messer in die Tasche. Da schwirrte sofort der Pfeil von
der Sehne, der Karfunkel erlosch, und man fand den Ausweg
nicht eher, als bis das Messer wieder auf seinen Platz gelegt
war^), — Die Bildsäule und der Schatz werden dem VirgiLauch
von „Jans Enenkel" zugeschrieben, während andere ") weder au Gerbert
noch an Virgil denken und die Geschichte von einem Gelehrten
berichten^). Die ganze Erzählung ist übrigens nur eine Variante
von dem Märchen der Zobaide aus Tausend und eine Nacht ^).
Wie es ferner von Gerbert hiess, dass er einen Kopf^) ge-
schaffen habe, welcher die Zukunft weissagte, und dass er starb,
weil er eine Weissagung desselben nicht verstanden hatte ^), so wird
etwas Aehnliches auch von Virgil in der „Image du monde" und
im ,-,Renart contrefait berichtet^): — Als Virgil einst jenen Kopf
über eine Reise, die er vorhatte, befragte, erhielt er die Autwort:
1) Gugliem. Malmesb., De Gest. reg. angl. lib. II, c. 10; Al-
berich von Trois Fout.; Chron; jjars 11, 37—41. Vinceuzo di
Beauvais, Speculum historiale lib. 24, c. 98 ff; Hock, Gerbertus
c. 15.
2) V.d. Hagen, Gesaimntabenteuer; II, 525tt". Massmann, Kaiserchr.
III, 450.
3) Gesta Roman, c. 107 (Keller).
4) Loiseleur, Panthéon litt. p. 100 und derselbe, Tausend und eine
Nacht p. 346.
5) Albertus Magnus schuf einen sprechenden Kopf, den der heilige
Thomas von Aquino entzwei hieb; auch vom Marquis von Villeiia ward
dasselbe berichtet. Tostado (Sup. num. c. XXI) spricht von einem bron-
cenen Kopf, der im Dorfe Tabara weissagte. Sein Hauptgeschäft bestand
darin, anzuzeigen, wenn sich ein Jude im Dorfe fand; dann schrie er:
„Judaeus adest" solange bis man den Juden vertrieb. In der nordischen
Mythologie macht Oden den Kopf des Riesen Mimir sprechend und be-
fragt ihn um viele Geheimnisse. Vgl. Thorpe, Northern mythology, 1,
p. 15; Simrock, Edda, p. 392.
6) Alberich von Trois Fontaines, Chron. a. a. O.; Hock, Ger-
bertus, a. a. 0.
7) Vgl. Bart. Sibylla (Ende des 1."^. Jahrh.) Percgriu. ijnaest. dee.
III, quest. 2.
Virgil in clor Volksstige. 261
wenu er .seinen Kopf bewache, würde es , ihm gut geben ; er glaubte,
dass es sich um den prophetischen Kopf handle, und begab sich
auf die Reise. Aber da er sich nicht genug vor der Sonne schützte,
befiel ihn eine Gehirnentzündung und er starb. Man sieht deutlich,
wie die Anwendung derartiger Erzählungen auf Virgil doch nur
in den Kreisen von mehr oder weniger Gebildeten stattfinden
konnte. Und in der That heisst es in der Hauptbiographie des
Dichters, dass er auf einer Reise in Folge der Sonnenhitze starb ^).
Die rein volksthümliche Sage Neapels weiss davon nichts.
Der Leser muss entschuldigen, wenn die Reihe derartiger ein-
faltiger Erzählungen hier immer noch nicht zu Ende ist. Für die
lästige Arbeit, die in der Zergliederung der Phantastereien besteht,
entschädigt hoifentlich das Resultat, das sich daraus für die Er-
klärung einer der merkwürdigsten Erscheinung ergibt.
Siebentes Ca^iitel.
In der Zeit, welcher alle diese Legenden vom Zauberer Virgil
angehören, war die Vorstelhing von der Sibylle, die das Er-
scheinen Christi geweissagt haben sollte, bereits volksthümlich ge-
worden. Bei den Apologeten entstanden, hatte sie sich unter den
kirchlichen Schriftstellern verbreitet und ging dann auch in den
Anschauungskreis des Volkes über, so dass wir ihr vom zwölften
Jahrhundert an gleich häufig bei kirchlichen wie weltlichen Schrift-
stellern begegnen; und ebenso häufig finden wir auch die Figur der
Sibylle in den künstlerischen Darstellungen bis zum sechzehnten
Jahrhundert^). Die Vorstellung war aber für Alle um so zugäng-
licher, da ja die mittelalterlichen Theologen diesen Theil der christ-
lichen Lehre, worin der Glaube seine sicherste Bestätigung und
festeste Stütze fand, stets mit Vorliebe behandelt hatten, und
Jedem der Sinn einleuchtete, der in den bekannten Versen des
Franciscaners „teste David cum Sibylla^)" lag. Diese Berühmt-
1) „Dum Megara vicinum oppidum ferventissimo sole cognoscitlanguo-
rem nactus est eumque non intermissa navigatione auxit, ita ut gravior
aliquante Brundisium appellcret, ubi paucis diebus obiit." Douat. Vit.
Verg. p. 62 f.
2) Piper, Mythologia der Christ. Kunst I, p. 472 ff.
3) Schon im 5. Jahrh. citirte man in der Kirche um Weihnachten
die Verse der Sibylle. Vgl. Du Me'ril, Origines latiues du the'atre mo-
derne p. 185 f.
262 Virgil in der Volkssago.
heit der Sibylle, oder vielmehr der Sibyllen, war also das Werk
der Kirche und folgte aus der Art, wie dieselbe mit den Gläu-
bigen verkehrte und ihnen die Lehren der Religion vermittelte.
Vorzüglich waren der Religionsunterricht, die Predigt und auch
die zwischen Gottesdienst und Volkspoesie in der Mitte stehenden
Mysterien oder Heiligendarstellungen dazu geeignet, derartige
Kenntnisse und Anschauungen zu verbreiten. Indem man auf eine
naive, anspruchslose Weise Stoffe des Glaubens dramatisirte, er-
hielt die Kirche ein Mittel der Popularität, welches vermöge
seiner Natur wie der darin liegenden Beziehungen zum Ursprung
und zur Geschichte des modernen Theaters merklich dazu beitrug,
jene Vorstellungen auch in die neuen Literaturen, welche sich zu
ent\nckeln begannen, einzuführen.
Wir haben gesehen, wie eng der Name Virgil's mit der Sibylle
verknüpft und wie geläufig den mittelalterlichen Geistlichen die
vierte Ecloge wegen der darin enthaltenen Weissagung war, die
man auf Christus bezog. Indem aber die Figur der Sibylle so
populär wurde, blieb es auch Virgil mit ihr, um so mehr, da
dieser ja bereits auf einem anderen Wege ganz volksthümlioh ge-
worden war^). Besonders bot sich in den Weihnachtspredigten die
Gelegenheit dar, beide Personen neben einander zu erwähnen. In
der christlichen Kunst war der Dichter oft neben der Sibylle dar-
gestellt, oder es fanden sich wenigstens die betreffenden Verse aus
der vierten f]cloge verzeichnet"), und in mehr als einer Heiligen-
darstellung traten Virgil und die Sibylle neben einander auf •* ). Schon
im eilften Jahrhundert figurirte Virgil in dem lateinischen Myste-
rium von der Geburt Christi, das man in der Abtei des h. Mar-
1) „Evvi, Femonoè, quella Sibilla
Che ridicea li risponsi d'Apollo
Che delle X Sibille fu quella
E Virgilio il su' dire versificollo;
Di Cristo disse la prima novella
E del die del giudicio e profetollo"
L'Intelligenza bei Ozanam, Documents inédits, p. 364 f. Vgl. auch
das altdeutsche Gedicht: Die Erlösung (Bartsch, Quedlinb. u. Leipz. 1858)
p. 56 ff. V. 1903—1980.
2) Vgl. Theil I, Ende des 7. Capitels.
3) Vgl. Reidt, Das Geistliche Schauspieides Mittelalters in Deutsch-
land; Frankf. a. M. 18(58 p. 27. Ueber die Bibliographie dieses für die
Geschichte des modernen Theaters wichtigen Theiles s. Hanns, Lat.
böhm. Osterspiele des U-15. Jahrb. Prag, 1863, p. 17 ff.
Virgil in der Volkssage. 263
tial zu Limoges darstellte, unter den Propheten Christi^); des-
gleichen in einem Mysterium von Rheims ^) : Nach Moses , Jesaias,
Jeremias, Daniel, Habakuk, David, Simeon, Elisabeth und Johannes
dem Täufer ruft der Procentor Virgil mit den Worten
„Vates Maro gentilium
Da Chi'isto testimonium."
herbei, worauf dieser in Gestalt eines Jünglings auftritt und sagt:
„Ecce polo, demissa solo, nova progenies est."
Darauf werden Nebukadnezar und die Sibylle aufgerufen, worauf
sich der Procentor zu den Juden wendet mit den Woiien :
„Judaea incredula
Cur manes adhuc, inverecunda?"
In derselben Weise erscheint Virgil in dem Mysterium von den
thörichten Jungfrauen^) und in andern deutschen, holländischen
u. s. w. Heiligendarstellungen'*). In einer grossen dramatischen
1) Bei Monmerque et Michel, Théatre fran9ais au moyen-àge,
p. 9; Du Meril, Orig. lai du the'at. med. p. 184. Weinhold, Weih-
nachtsspiele, p. 70 f. Ueber die Ableitung dieser Mysterien und ihre
Beziehung zu einer Weihnachtspredigt des h. Augustin, s. Sepet, Les
prophètes du Christ, etude sur 'les origines du théatre au moyen-àge, in
der Bibl. de Fècole des Chartes, 1807. (Tora. III, 6. se'r.) p. 1 ff.
210 ff'.
2) Vgl. Du Gange, Gloss. med. et inf. lat. (ed. Henschel) s. v.
festum asinorum.
3) Wright, Early mysteries, p. 62.
4) Vgl. Weinhold, Weihnachtspiele, p. 74. Du Meril, Melanges
arch. p. 456; Mittelniederländisches Osterspiel, hrsg. v. Zacher in Haupt's
Zeitschr. f. deutsch. Alterth. 11, 310; Piper, Virgil als Theolog und
Prophet im Evangel. Kalender 1862, p. 72. In einem französischen Myste-
rium von der Rache Jesu sprachen im Rathe bei Tiberius zu Gunsten
Christi: Terenz, Boccaccio und Juvenal. Letzterer erinnert daran, dass
sich i. J. 42 des Octavius das Gerücht verbreitete, dass eine Jungfrau
gebären würde:
„Le noble poete Virgille
Qui lors etoit en ceste ville
Composa ancuns mots notables
Lesquels on a vu veritables
Et plurieurs grands choses en dict
Naguaires avant son trespas."
V. L. Paris, Teiles peintes de Reims, p. 680.
264 Virgil in clor Volkssagc.
Dichtung des Arnold Imineöscn (15. Jhrh.) citirt merkwürdigerweise
die cumäische Sibylle den Virgil als ihre Autorität^).
Jedoch tritt Virgil nicht immer in den Mysterien auf; öfters
mubs die Sibylle allein die heidnischen Propheten repräscntiren.
In einem lateinischen Mysterium von der Geburt Christi erkennt
sie die Ankunft des Heilandes an dem Stern, welcher die heiligen
drei Könige führte^), und nach einem spanischen Dichter soll auch
Virgil diesen Stern gesehen haben ^).
Dieser volksmässigen und in die Romantik eingedrungenen
Vorstellung entspricht nun eine Schöpfung der Sage, die nach ver-
schiedenen Umgestaltungen sich endlich mit der Idee vom Zauberer
Virgil vei'bindet. Eine Befähigung Virgil's zum Christenthum wird
ja schon in den von uns citirten, in Mautua gesungenen latei-
nischen Versen vorausgesetzt, welche von dem Besuche des Apostels
Paulus am Grabe des Dichters erzählen*) und dabei einer Legende
folgen, die nicht ausschliesslich Mantua angehört, sondern auch noch
ausführlicher in der „Image du monde" erzählt wird^). Es heisst
da nämlich, dass Paulus, der ein gelehrter Mann war, als er nach
Rom kam, traurig ward, da er von dem jüngst erfolgten Tode
Virgil's hörte. Ihm waren bereits jene Verse bekannt, die sich so
trefflich auf den Heiland anwenden Hessen, und so beklagte er es.
1) „Sibilla Cuniaca quae fuit tempore Tarquinii prisci: Ik finde ók
van dussen saken dat de meister Virgilius versehe geniaket hebbe, de
ludet alsus:
Magnus ab integro etc."
Der Sündenfall u. die Marienklage, hrsg. v. Schönemaun (Haniiov.
1855) p. 97; Piper, Virgil u. s. w. p. 73.
2) „Tertio loco Sibylla gcsticuloso procedat, quae iuspicicndo stcllam
cum gestu nobili cantet:
Haec stellac novitas
Fert novum nuntium etc."
Carmina burana herausg. von S(chmeller) Stuttgart 1847,
p. 81.
3) „Virgilio de Mantua fué sabio poeta
ca fue, cl priniero quo vide cometa
à partes de Grecia sus vrayos lan^audo."
Frag Diego de Valencia im Canconiero de Baena; S. Du Méril,
Mèi. arch. p. 460.
4) Theil I zu Anfang des 7. Capitels.
5) Der betreffende Text aus der Image du Monde bei Du Méril,
a. a. 0. 456 ff.
Vii-gil in -der Volkssage. 265
dass er nicht früher gelebt habe, um Virgil zu dem Christeuthume
bekehren zu können :
„Ahi se gè t' éusse trouvé
Que gè t' éusse à Dieu donne!"
Schliesslich gelang es ihm, den Ort aufzufinden, wo der Dichter
begraben war; der Weg dahin war fürchterlich: Ein heftiger Wind
stürmte, und schreckliche Töne Hessen sich vernehmen. Der Apostel
konnte zwischen zwei brennenden Kerzen Virgil sitzen und rings
um ihn auf der Erde Bücher zerstreut liegen sehen. Von der
Decke hing eine Lampe herab, und vor Virgil stand ein Bogen-
scbütz mit gespanntem Bogen. Das sah man von aussen, aber
herzutreten war nicht leicht, denn am Eingang standen zwei eherne
Männer, die gegen jeden Eintretenden ihre Hämmer von Stahl in
Bewegung setzten. Es gelang dem Apostel zwar, letztere zum
Schweigen zu bringen, aber da schoss der Mann den Pfeil gegen
die Lampe ab, und Alles zerfiel in Staub. Paulus hätte gern die
Bücher genommen, allein er musste mit leeren Händen um-
kehren.
Unter den Sagen, welche sich auf die kurz vor Christi Geburt
geschehenen Wunder beziehen, ist besonders die von S. Maria in
Ara coeli in Rom berühmt: Augustus Hess einst, so heisst es, die
Sibylle zu sich rufen, um sie über die göttlichen Ehren zu be-
fragen, welche ihm der Senat bewilligt hatte. Jene antwortete,
dass vom Himmel der König kommen werde, welcher ewig herr-
schen solle. Alsbald that sich der Himmel auf, und Augustus sah
eine Jungfrau von wunderbarer Schönheit, einen Knaben im Arm
haltend, auf dem Altare sitzen, und hörte eine Stimme, die rief:
„das ist der Altar des Gottessohnes." Betend fiel er nieder und
theilte später dem Senat das Gesicht mit. Auf dem Capitol
aber, wo die Erscheinung stattgefunden hatte, wurde jene Kirche
gebaut, die noch heute S. Maria in Ai-a coeli heisst. Die Sage
findet sich schon vom achten Jahrhimdert an bei byzantinischen
Schriftstellern, in der „Legenda aurea", in den „Gesta romano-
rum", den „Mirabilia" und anderen damals viel gelesenen
Buchern''. Die Kunst hat jene Sage mehrmals dargestellt, und
auch noch nach dem zwölften Jahrhundert finden wir sie oft von
den Schriftstellern erwähnt ; Petrarca spricht von ihr in einem
lì Vgl. Massmann, Kaiserchr. III, p. 553 ff.; Piper, Mvthol. I,
480 ff.
266 Virgil in der Volkssage.
seiner Briefe'). Die Mirabilia führen neben derselben noch
eine andere sehr ähnliche Sage an, welche sich auch in an deren
Schriften aus derselben Zeit erhalten hat"-'): Neben seinem Pa-
laste, da, wo die Tempel der Pietas und Concordia waren, stellte
Roraulus eine Bildsäule auf mit den Worten : „sie wird nicht eher
fallen, als bis eine Jungfrau gebären wii'd." Da kam Christus,
und die Bildsäule fiel zur Erde^). Die Erzählung wird auch von
andern auf die Tempel der Minerva oder der Pax, welche bei
Christi Geburt einstürzten, oder auf die „Salvatio Romae" so wie
die darin enthaltene Weissagung auf Virgil bezogen. Wo Alexander
Neckam von der Salvatio Romae spricht, fügt er hinzu: „Als
der ruhmvolle Dichter gefragt wurde, wie lange die Götter jenen
Bau schützen würden, antwortete er: ,so lange, bis eine Jungfrau
gebären wird'; da rief man ihm freudig Beifall zu und sprach:
,Wol, so wird er ewig stehend Wie aber der Heiland kam, stürzte
der Palast alsbald zusammen'*)." Mit der Einführung des Virgil
verliert die Sage natürlich ihre ursprüngliche Bedeutung. Der
Ausspruch des Romulus ist eine Prahlerei, welche die Zukunft zu-
nichte macht; und Virgil's Worte haben, wenn man die Beziehung,
in welcher der Dichter der Legende gemäss zur Sibylle stand, so
Avie seine Stellung unter den Propheten Christi bedenkt, den Werth
einer Prophezeiung.
Ein noch nicht veröffentlichtes französisches Gedicht, von
welchem sich eine Handschrift zu Turin befindet"''), zeigt eine
weitere Entwickelung dieser Virgillegende. Das Gedicht ist eine
sonderbare Darstellung, die aus drei Compositionen zusammengesetzt
ist, von denen zwei, „Vespasianus oder die Rache Jesu an den
1) Vgl. Piper, a. a. 0. I, 4S5 ff.
2) Massmann, a. a. 0. p. 554 ff.
3) Die Zeichen, die der Geburt Christi vorausgingen sind in den
,, Flores temporum" von Hermann Gigas so erzählt: ,,Fons olei Komao
erupit; vineae Engaddi balsamum protulerunt; omnes sodomitae obierunt;
bos et asinus ante praesepe genua flexerunt; idola aegj-pti corruerunt;
imago Romuli cecidit; templum pacis corruit; mane tres soles reperieban-
tur et in unum paulatim jungebantur; meridie circulus aureus in coelo
apparuit in quo virginem cum puero iCaesar vidit, et mox insonuit: hie
est arcus coeli." Die Varianten bei Massmann, a. a. 0. 557 f.
4) De naturis rerum (ed. Wright) p. 310.
5) Cod. gali. XXXVI, s. Pasini, Catal. etc. II, p. 472. — Fol. 583.
liest man: „Ces livres fu escris en Tau de l'incarnation MCCC et XI an
raois de joing."
Virgil in der Volkssage. 267
Juden" und „die Thaten der Lothringer" schon bekannt sind^).
Zur Verbindung beider dient die Erzählung von den Thaten des
heiligen Severin, welcher einerseits genealogisch mit Vespasian,
andererseits mit Herois und Garin von Lothringen verknüpft ist.
Aber der Verfasser hat sich damit nicht begnügt, sondei'n dem
„Vesjjasian" ein langes Gedicht vorausgeschickt, welches mit der
Schöpfung der Welt beginnt, alle Begebenheiten des alten und
neuen Testamentes erzählt und mit dem Tode Christi endigt. Bei
seiner heüigen Geschichte folgt er jedoch nicht der Autorität der
Bibel, sondern hat eine rein phantastische Erzählung geschaffen,
deren Grundlage die oben erwähnte Legende ist: Er lässt näm
lieh Virgil die ganze lauge Geschichte selbst vortragen. In der
einzigen mir bekannten Handschrift fehlt der Anfang, doch genügt
das Vorhandene für unsere Zwecke. An Stelle des guten Octavian
oder des Romulus tritt hier ein Kaiser Noirons li arabis auf, ein
Gegenstück zu dem mittelalterlichen Ideale des Nero, ein Anbeter
des Teufels und Muhammeds, der zu Ehren seiner Götter einen
von Gold und Edelsteinen strahlenden Palast erbaut. Nachdem er
dies gethan, ruft er den Virgil zu sich und fragt ihn: „Da du
Alles weisst, so sage mir, wie lange mein Palast stehen bleiben
wird?" Darauf Virgil: „Er wird stehen, bis dass eine Jungfrau
gebären wird.'' — „Also wird er ewig bleiben, denn das ^\-ird
niemals eintreffen". — ,,Und doch wird dem einst so sein". —
Dreissig Jahre später wird Christus geboren, und Nero's Palast
stürzt zusammen. Zornig lässt der Kaiser den Virgil rufen: „Du
hast also gewusst, dass die Jungfrau gebären wird; warum hast
Du es mir nicht gesagt?" Und da nun Virgil von dem neuen
Glauben zu sprechen beginnt, erhebt sich ein Wortwechsel: Nero
will nichts von jenem Glaiiben wissen. Endlich entschliesst er sich
zu einem Kampfe mit Virgil, und es wird festgesetzt, dass der
Sieger dem Gegner den Kopf abschlagen solle. Virgil nimmt den
Vorschlag an, aber wünscht vorher noch einmal nach Hause zu
gehen, um die Seinen, Hippokrates und seine weisen Freunde zu
sehen. Er geht, ruft sie alle zusammen und erzählt ihnen seinen
Fall. Hippokrates schlägt nun in seinen Büchern nach und sucht
Alles zusammen, was sich auf das Erscheinen Christi bezieht. Er
theilt es Virgil mit, imd dieser, mit so unbezwinglichen Waffen
1) Die Hds. ist den beiden Herausgebern der ,, Thaten der Lothringer"
Paulin Paris und Du Meril unbekannt geblieben. Eine Notiz davon
gab Prost in der Revue de l'Est, 1864 p. 5—9.
268 Virgil in ilor Vulk-ssago.
aiisgerüslet, euHeriit sich voll Zuversicht. Nero bemerkt nun, dass
der Kampf mit ungleichen Watten geführt wird, sieht sein p]nde
voraus und gibt Virgil Aufschluss über sein eigenes Wesen. Er
erzählt ihm die alte Geschichte vou Lucibel oder Lucifer, von den
empörten Engeln, die in Dämonen verwandelt sind, sagt, dass
auch er einer von diesen sei, und spricht von ihrer Mission auf
der Erde, von der Erbauung Babylons und anderen schönen Dingen.
Virgil antwortet ihm stehenden Fusses mit der Erzählung der
ganzen heiligen Geschichte von der Schöpfung der Welt an, und
hier ergiesst sich nun die Redelust des Dichtei's in unzähligen
Versen; von Virgil ist nicht mehr die Rede, und wir erfahren
nicht einmal, wie der Zweikampf zwischen Nero und Virgil endet.
Den Schluss bildet eine Scene, die in der Unterwelt spielt und in
der Nero und Muharamed mit einander reden; man kann also
daraus schliesscn, dass Nero von Virgil enthauptet worden ist. —
Man darf dieses Gedicht der Form wie dem Inhalte nach wol als
ein wahres Muster von Einfältigkeit bezeichnen.
Mit diesen Phantastereien des französischen Troubadours lassen
sich nun der deutsche „Reinfrit von Braunschweig ^)", vermuthlich
das Werk eines Zeitgenossen, so wie der „Wartburgkrieg^)" ver-
gleichen. Wir ziehen die Sage aus beiden Gedichten, wie folgt,
zusammen: — Auf dem Maguetberge oder Agetstein, der in den
mittelaltei'lichen deutschen Gedichten oft erwähnt wird''), wohnte
ein grosser Schwarzkünstler, ein Fürst von Griechenland oder Ba-
l)ylon, Namens Zàbulon (d. i. Teufel), welcher das Erscheinen des
Heilandes schon 1 200 Jahre früher aus den Sternen gelesen hatte
und nun alle seine Künste anwandte, dasselbe zu verhindern. Zu
diesem Zwecke erfand er die Negromanzie und Astrologie und
schrieb auch Bücher darübei\ Zur Zeit als die 1200 Jahre fast
verflossen waren, lebte aber der tugendhafte Virgil, welcher zum
Wole der Menschen sich alles Besitzes entäussert hatte. Als dieser
von jenem Zàbulon erfahren hatte, schiffte er sich ein und kam
zum Magnetberge. Hit Hilfe eines Ringes, in dessen Rubin ein
1) S. den Auszug dea Roiufiit von Gödckc: Archiv des bist Voreins
für Niedersachsen, N. F. 1849. p. 270 ff.
2) Sinirock, Wartburgkrieg, p. 19.5 ff. .303. Vgl. v. d. Ilagen,
Briefe in die Heimath, lU, p. 169 f. Gcnthc, Leben und Fortleben etc.
p. 68 f.
3) Vgl. Cholevius, Gesch. d. deutsch. Poesie nach ihren autiken
Elementen I, 96. Bartsch, Herzog Ernst, p. CXLVHl ff.
Virgil iu der Volkssage. 2Gi)
Geist iu Gestalt einer Fliege eingeschlosseu war, gelang es ihm,
sich der Bücher und Schätze des Zauberers zu bemächtigen. In-
zwischen waren die 1200 Jahre verflossen, und die Jungfrau gebar
Jesus. —
So verband sich also die älteste Vorstellung vom Propheten
Vii-gil mit der Sage vom Zauberer Virgil, welche den Dichter im
Besitze eines Zauberbuches, aus dem er jene Künste schöpfte, dar-
stellte ^). Wir erkennen in demselben das Buch über die „ars
notoria" wieder, welches nach Gervasius jener Engländer in Vir-
gil's Grabe gefunden hatte, und welches hier zu dem Buche Za-
bulous geworden ist, wie es bei anderen Schriftstellern zu dem von
Salomon verfassteu Buch über Schwarzkunst wird, welcher ja in
der Geschichte der Zauberei ebenfalls eine Rolle spielt. Im Wart-
burgkriege helsst es, dass Virgil jenes Buch Zabulons nur mit
grosser Anstrengung erlangte'). — In andern Versionen steht die
Sage aber auch in gar keiner Beziehung zu der Erscheinung Christi.
Ungefähr zu derselben Zeit einzahlt „Enenkel" in seinem „Welt-
buch", wie Virgil, jener „Sohn der Holle ^)" sich seine ausser-
ordentlichen Kenntnisse der Zauberei verschafi"t habe: Als er näm-
lich einst in einem Weinberge grub, stiess er den Spaten so tief
in die Erde, dass er eine Flasche traf, in welcher zwölf Teufel
eingeschlossen waren; während er sich noch über den Fund freute,
fing einer der Teufel an zu reden und sagte, dass er ihm alle
Geheimnisse lehren wolle, wenn er ihn befreie. „Erst lehrt mir
sie", antwortete Virgil, „und dann will ich Euch befreien". So
gaben ihm denn die Teufel Unterricht in der Magie, Virgil zer-
brach die Flasche und Hess die Geister frei. — Der in der Mitte
des vierzehnten Jahi-hunderts lebende Dichter Heinrich von
Müglin erzählt dieselbe Begebenheit in einer dem Reinfrit sehr
nahe kommenden Weise, ohne aber von dem Erscheinen Christi
zu sprechen*): Virgil besteigt mit andern Gefährten in Venedig
ein Schiff, um sein Glück zu versuchen und kömmt nach dem
1) Etwas Aehnliches erzählt die Sage vom Zauberer Heliodor und
Petrus Barliarius.
2) ,,Wer gab dir Zabulones buch,
sage fürwert, wiser man.
Das Virgüius öf den Agetsteine
mit grossen nöten gewan."
3) „Er was gar der helle kint" bei v.d. Hagen, Gesammtabenteuer,
11, p. 513 ff.
4) Publicirt von Zin gerle in Pfeiffer's Germania V, 369 ff.
270 Virgil in der Volkssage.
Magnetberge 'j, dort findet er in einer Flasche eingeschlossen einen
Geist, welcher ihm für den Preis der Freiheit einen Ort nennt,
wo unter dem Haupte eines Todten ein Zauberbuch liegt. Es ge-
lingt Virgil, dasselbe zu entdecken. Kaum aber schlägt er es auf,
so kommen 80,000 Teufel heraus, welche ihm zu Diensten stehen,
und durch welche er eine lange Strasse püasteni lässt. — Im
fünfzehnten Jahrhundert erzählte Feljx Hämmerlein ^), wie ein Geist
in der Hoffnung die Freiheit zu erlangen, deiu Virgil zum Besitze
des Zauberbuches Salomons verholten habe; Virgil lässt - also den
Geist aus der Flasche heraus; da er aber sieht, welche Ausdehnung
derselbe annimmt, glaubt er, es sei doch nicht gut, wenn ein Wesen
dieser Art die Freiheit habe. Er stellt sich daher einfältig und
sagt : „Du kannst gewiss nicht wieder in die Flasche hinein." Der
Teufel sagt „Ja", Virgil entgegnet „Nein, Nein", bis endlich der
Teufel sich klein macht und zeigt, dass er Recht gehabt hat. Kaum
ist er wieder in der Flasche, so versiegelt Virgil dieselbe mit dem
Siegel Salomons und lässt den Teufel für immer in der Flasche.
In jener ihrem Ursprünge nach rabbinischen und muhammedanischen
Sage von dem gefesselten Geiste, der dem Befreier seine Dienste
anbietet, erkennt man eine Erzählung aus Tausend und eine Nacht
wieder, welche der bekannten Geschichte vom „hinkenden Teufel"
zu Grunde liegt. Wie auf Virgil, so wird aber auch dieselbe Er-
zählung auf Paracelsus angewandt und kehrt ausserdem noch heute in
vielen Volksmärchen wieder^).
So durchwanderte also die Sage vom Zauberer Virgil alle
romanischen wie germanischen Länder; ja, es gab keinen Sclirifl-
steller, der sie nicht kannte, und da sie so reich au verschiedeneu
Begebenheiten und so berühmt war, eignete sie sich auch vor-
trefflich dazu, immer neuen Zuwachs in sich aufzunehmen; denn
auch für die Berühmtheit einer Sage gilt das Wort „Ün ne prete
qu'aux riches." Ein etwas mehr abstracter Ausdruck jener Vor-
1) Beim Alltritt der Reise betet er inbrünstig zu Maria:
„Maria muter, reine meit,
bbut uns vor leit!
wir sweben üf wildes meeres vlnt,
got der soll uns bewarn."
2) Do nobilitate, cap. 2, fol. VIII; vgl. Roth, a. a. ü. p. 298.
3) Vgl. Dunlop-Liebrecht, p. 185-483. Üriram, Kinder- und
Hausmärchen. 99. Du Morii, Etudes d'Archéol. p. 463. Jülg, Ardschi-
Bordschi p. 70. Benfey, Pantschatautra I, 115 ff. Vernaleckeu, Mythen
und Bräuche des Volkes in Oesterreich, p. 262.
Virgil in der Volkssage. 27 i
Stellung von Virgil findet sich in einem merkwüi-digen lateinischen
Buche, welches zwar keine Virgilsagen erzählt, aber doch seines
Inhaltes, wie des Ansehens wegen, das sich der Verfasser gibt,
hierher gehört. Der Titel des Buches lautet: „Virgili! cordubensis
philosophia ^)". Demnach wäre jener Virgil von Cordova ein ara-
bischer Philosoph, und sein Werk zu Toledo im Jahre 1290 aus
dem Arabischen in's Lateinische übersetzt^). Aber der Verfasser
war gewiss kein Araber und wusste noch weniger etwas von ara-
bischen Studien, sonst hätte er einen arabischen Philosophen nicht
Virgil imd als seine Zeitgenossen Seneca, Avicenna, Averroes und
Algazel nennen können. Der Verfasser ist vielmehr ein Charlatan,
jkvelcher durch Virgil's Xamen und den Schein arabischer Weis-
heit auf seine Leser Eindruck machen wollte. Mit unglaublicher
Dreistigkeit erzählt er am Anfange seines Werkes, dass alle grossen
Gelehrten, die in Toledo zusammen kämen, bei ihren Verhandlungen
ihn zu Käthe zögen, weil sie von seiner Kenntniss aller geheimen
und verborgenen Dinge erfahren hätten, die er sich „durch die
Wissenschaft der Schwarzkunst oder, wie andere richtiger sagen,
durch „Eefulgentia" angeeignet habe. Mau bat ihn, nach Toledo zu
kommen, aber er wollte nicht; und so begaben jene Wissbegierigeu
sich nach Cordova. Es werden nun in dem Buche alle die wich-
tigen Verhandlungen erörtert, die in Bezug auf den Grund aller
Dinge, die Welt und Seele Statt fanden, so wie die bedeutenden
Mittheilungen verzeichnet, welche der Autor jenen Philosophen
macht, nachdem er bei Gelegenheit die Geister darüber befragt
hat. Die Ars notoria nennt er eine heilige Wissenschaft, nur dem
zugänglich, der rein von Sünde sei, und geschaffen von den guten
Engeln, die sie dem Könige Salomo niittheilten^). Dieser nämlich
1) PubUcirt von Heine in der Bibliotheca aueedotorum, seu veterum
mouumentorum ecclesiasticorum coUectio novissima. Pars I. Lipsia 1848
p. 211 S.
2) Hr. Dr. Steinschneider äusserte mir seine Zweifel über dies Datum
und glaubte nicht, dass das Werk vor Raimondo di Pennaforte ge-
schrieben sei.
3) „Et unus magister legebat de arte notoria quae est scientia
saucta, et ita debet esse sanctus qui eam voluerit legere ; similiter et
audientes saucti et immaculati et sine peccato debent esse etc." p. 242.
Die erfundenen Xachrichteu, die der Autor in Betreff der Unterweisungen
in der Ars notoria, Pyromantia, >;egromantia und Geometria, die in Cor-
dova von specieUen Lehrern ertheilt worden seien, gibt, sind im Ama-
dor de Los Rios für baare Münze genommen worden (Hist. crit. de la
lit. espan. H, 159).
272 Virgil in der Volkssage.
schloss die Geister in einer Flasche ein, mit Ausnahme eines Ein-
zigen, welcher lahm war und nun die andern befreite. Zur Zeit,
als Alexander nach Jerusalem kam, glückte es dem Aristoteles,
der damals noch ganz unwissend und unbekannt war, die Bücher
des Salomo zu entdecken, und erst von da an wurde er ein grosser
Weiser. — Die Latinität dieses Werkes strotzt von grammatischen
Fehlern, und der philosophische Inhalt desselben ist eine sonder-
bare Mischung von jüdischen, rabbinischen und christlichen Lehren,
unter denen die von der Dreieinigkeit Gottes besonders hervor-
ragt. Auf Virgil bezieht sich eigentlich nur der Name des Ver-
fassers. Der Grund jedoch, weshalb sich derselbe „Virgil" nennt,
liegt in der idealen Vorstellung vom Zauberer Virgil, wie ja auch
die aus der Beziehung des Dichters zum grammatischen Studium
hervorgehende ideale Vorstellung jenen nicht weniger sonderbaren
Grammatiker dazu geführt hatte, sich „Virgil" zu nennen; und es
ist in der That von Bedeutung, wenn man sieht, wie sich die
Ergebnisse zweier so ganz verschiedener Entwickelungen in der
Geschichte des Ruhmes Vii-gil's entsprechen, so dass der Name
desselben nicht nur mehrmals von dem Wechsel der Cultur beein-
flusst worden ist, sondern auch dieselbe so in sich aufgenommen
hat, dass er geradezu zum Symbol und Repräsentanten derselben
wird.
Nichts von dem, was das Volk einem Zauberer zuschrieb, blieb
von der Sage dem Virgil erspart: nachdem einmal die Vorstellung
vom Zauberer Virgil sich gebildet und Wurzel gefasst hatte, und
der Kern der Sage bekannt geworden Avar, fanden sich alle Zu-
thaten von selbst ein. Wie alle guten Zauberer in Toledo studili,
haben mussten, so auch Virgil, Gerbert u. A. Elinandus sagt: „Die
Gelehrten gehen nach Paris, um die freien Künste, nach Bologna,
um die Gesetze, nach Salerno, um die Arzneien, nach Toledo, um
die Teufelskunst, und nirgendshin, um die guten Sitten zu studireu" ^).
Es war jedoch natürlich, dass die Berühmtheit des Zauberers
Virgil, so wie der Umstand, dass dabei Neapel eine solche Rolle
spielte, bewirkten, dass man nun, was den Ursiirung der Schwarz-
kunst betraf, auch Neapel als Schwesterstadt Toledo's betrachtete^);
und eben so unvermeidlich war es, dass die Romantik, in welcher
1) S. Tissier, Bibl. cisterc. VII, 257.
2) „De Toulete vint et de Naples qui des batailles sont les.chapes
àunenuit laNigroinance." La bataille des VII arts bei Jubiual, Oeuvres
de Ruteboef II, 423.
Virgil ili (lev Volkssago. 273
sich so viele andere Zauberer begegneten, auch den Virgil mit
einigen von diesen in Beziehung setzte. Im Parcival des Wolfram
von JJschenbach ist der Zauberer Klinsor aus Terra di Lavoro ge-
bürtig, und Virgil sein Vorfahr ^). Auch an einer Berührung Virgils
mit dem Zauberer Merlin hat es nicht gefehlt^). Die Sage hatte
sich auf diese Weise aus einer einfachen Aufzählung von wunder-
baren Werken, mit denen mau Virgils Namen verknüpfte, zu einer
Reihe von Begebenheiten umgestaltet, welche die Persönlichkeit
des Zauberers Virgil charakterisirten und gleichsam die Elemente zu
einer Biographie desselben abgaben. In der Image du Monde und
Renart contrefait schloss ja schon, wie wir gesehen haben, die Er-
zählung mit dem Tode Virgils, und in der Image du monde ward
der Dichter also beschrieben :
„II fu de petite estature
maigres et corbes par nature,
et aloit la teste baissant,
toz jors vers terre resgardant:
Car- coustume est de soutil sage
c'à terre esgarde par usage,"
ähnlich wie es im Dolopathos heisst :
„Virgile de poure estature
et petite personue estoit;
com philosophe se vesto it."
Ferner gibt es in der Vii-gilsage eine vereinzelte Gruppe von
Erzählungen, die nur selten auf Virgil bezogen werden, sich nie-
mals in einer Sammlung von Legenden finden, welche von der
Zauberei Virgils berichten, und in denen der Name des Dichters
ganz willkürlich und ohne inneren Zusammenhang von einem
Compilator mit der Darstellung verwebt wird. Dies zeigt sich be-
sonders in den „Gesta Romanorum", einem Repertorium, welches
die verschiedensten Schicksale erfahren hat. Der, welcher an die
Stelle eines „magister" in der Erzählung von der Bildsäule, die
1) „Sin lant heizt Terre de Labor.
Von des nachkomn er ist erborn,
der euch vii wunder het erkorn
von Napels Virgilius."
Parcival (Lachm.) p. 309.
2) Bei Bonamente Aliprando.
Comparetti, Virgil im Mittelalter. 18
274 Virgil iu der Volkssage.
alle Uebertreter des Gesetzes anklagte^), deu Namen VirgiFs setzte,
hatte gewiss dabei die „Salvatio Romae" und den „Wunderspiegel"
im Sinne, und ebenso dachte der, welcher in der Erzählung No. 102
dem Geistlichen, der einem Ehenianne die Untreue seiner Gattin
und deren Versuch, ihn durch Zauberkünste zu tödten, oÖenbart,
den Namen Virgils gab, au den Zauberspiegel desselben. Beson-
ders findet sich Virgil in die deutschen und englischen Texte der
„Gesta" eingeflochten, da, wo er in den ältesten Bearbeitungen
noch nicht auftritt"^), z, B. in der Erzählung vom Kauf manne von
Venedig. Diese ünbeschränktheit der Phantasie kann uns aber
nicht überraschen, sondern beweist nur, wie bekannt die Sage vom
Zauberer Virgil allen Erzählern war. Dieselben kannten Virgil
aus der Sage als Erbauer der Stadt Neapel und sclirieben ihm
nun natürlich auch die Erbauung von anderen Städten und Ge-
bäuden, besonders in Italien zu^), so die Häuser auf der Insel
Ponza^) unweit "Gaeta, oder die Gründung von Brescia''), letztere
nach einem unedirten französisch -italienischen Gedicht.
1) Cap. 57 (Keller). Vgl. die Note von Brunet zum Vidier des
bist. rem. p. 129 f. Hierauf spielt auch eine von Francowitz (Flacius
Illyricus) in seiner Sammlung: de corrupto ecclesiae statu (Basilea 1557)
veröffentlichtes Gedicht an. Die Justitita sagt nämlich:
„En sie meum opus ago
ut Romae fecit imago
quam sculpsit Virgilius,
quae manifestare suevit
fures, sed caesa quievit
et OS clausit digito;
numquam ultra dixit verbum
de perditione rerum
palam uec in abdito."
2) Vgl. Wright, The politicai songs of England from the reigu of
John to tbat of Edward the II, p. 388.
3) Alardo da Cambrai sagt in dem „Diz des Philosophes" :
„Virgiles fu apres li sages:
bien fu emploit's ses aages:
grant science en lui habonda;
mainte riche cito fonda."
4) Ruy Gonzales de Clavijo (tl412) sagt von Ponza: „bay en
ella graudes edificios de muy grande obra que tizo Virgilio." S. Tick no r,
Hist. ol' spanish lit. I, 185.
5) Das Gedicht steht in einem Ms. (13. Jahrb.) der Marciana von
Venedig, und hoisst es da von üggieri:
„Et albergò a un bon oster;
quel fo Virgilio qi la fondò primcr"
Virgil iu der Volkssage. 275
Wir beschliessen diese Bemerkungen mit einer zwar wenig
verbreiteten, aber beachtenswei'then Erzählung, welche die Virgil-
sage mit Julius Caesar verknüpft.
Die Eömer glaiabten im Mittelalter, dass die vergoldete Kugel
auf dem Vaticanischeu Obelisken die Asche Julius Caesar's ent-
hielte ^). Darauf beziehen sich die dem Marbod, Bischof von Rom,
zugeschriebenen mittelalte rhchen Verse, welche sich nebst der Le-
gende in den Mirabilia finden :
„Caesar, tantus eras quantus et orbis,
Et nunc in modico clauderis antro ^)."
Elinandus ^) fügt zu dieser Inschrift in einer seiner Reden noch die
folgenden dem Virgil zugeschriebenen Verse
„Post hiinc quisque sciat se ruiturum
Et jam nulla mori gloria toUat^)."
hinzu. Nach einer im „Victorial" des Gutien-e Diaz de Games
(15. Jahrb.) erzählten Sage wurde jener Obelisk von Salomon er-
richtet, welcher in der Kugel seine Gebeine beisetzen liess. Als
Julius Caesar stai-b, ging Virgil nach Jerusalem und verlangte von
den Juden das Denkmal. Diese glaubten, er treibe Spott mit ihnen,
und versprachen ihm dasselbe, vorausgesetzt, dass er ihnen täglich,
bis dass der Obelisk in Rom angekommen wäre, eine gewisse Summe
auszahle. Aber Virgil bevrirkte durch seine Zauberkünste, dass der
Obelisk in einer Nacht von Jerusalem nach Rom kam, imd so
setzte man die Gebeine Caesar's an Stelle der des Salomon in der
Kugel bei^).
d. h. er gründete die Stadt B esgora, die, wie aus den Toskanischen
Uebersetzungen hervorgeht, Brescia ist. Ich verdanke diese Notiz meinem
gelehrten Schüler Prof. Rajna, welcher im Begriffe i.st, eine Arbeit über
das Gedicht zu pubüciren.
1) Vgl. Gregorovius, Gesch. d. St. Rom III, 557 imd Mass-
maun, Kaiserchronik III, p. 537 ff. Dolce (Op. burt. del Berni I, parte
II, p. 271) sagt mit Anspielung darauf:
„Non la Guglia, ov' è il pomo che accogliea
II cener di chi senza Durlindana
Orbem 'terrarum si sottomettea."
2) Var: „At nunc exigua clauderis urna."
3) Bei Tissier, Bibl. patr. cisterc. VII, 222.
4) Vgl. „Bruchstücke aus den noch ungedruckten Theilen des Victo-
rial von Gutierre Diaz de Games" hrsg. v. L. G. Lemcke, Marb. 1865
p. 17 ff. Le Victorial par Gutierre Diaz de Games trad. de I'espagn. par
18*
27G Virgfil in der Volkssage.
Diese ziemlich vereinzelten Tiruehstücke der Sage liefern keinen
besonderen Beitrag zur Schilderung des Zauberer' s Virgil, i;nd mau
würde ohne Nutzen eine Sammlung sämmtlicher, derartiger Bei-
spiele veranstalten. Allein das Bild, welches wir bis jetzt aus der
Betrachtung der Sage gewonnen haben, ist noch nicht abgeschlossen,
wenn mau bedenkt, dass eine der Romantik so vertraute Figur
doch unmöglich ohne Beziehung zu dem schönen Geschlecht bleiben
konnte; und so wenden wir uns denn jetzt zu dieser Seite der
Sage.
Achtes Capitol.
Diejenigen, welche behaupten, dass das Weib dem Christen-
thum und Kitterthum besonders zu Danke verpflichtet sein müsse,
geben sich einer Täuschung hin, welcher die geschichtlichen That-
sachen durchaus nicht entsprechen. Es haben mich zwar einige
Kritiker darauf aufmerksam gemacht, dass ich hier der allgemeinen
Anschauung entgegentrete, ohne die meinige hinreichend zu begrün-
den. Allein meine Ansicht ist das Ergebniss eingehendster Studien,
und ich behalte mir vor, an einem passenderen Orte ausführlicher
auf diesen Gegenstand zurückzukommen. Das Ideal der heiligen
Jungfrau wie der Dame der romantischen Dichter sind Schöpfungen,
welche man mit der sittlichen Oi'dnung nicht vereinbaren kann.
Was sollte wol ans der Menschheit werden, wenn jedes Weib eine
heilige Therese oder eine Isolde wäre, zwei Gestalten, die, so ver-
schieden sie sind, für die Gesellschaft gleich verderblich wären,
weil sie die Grundlage derselben, die Familie vernichteten. Die
Menschheit hatte eine unerschöpfliche Kraft nöthig, um gegen
diese beiden mächtigen Prinzipien anzukämpfen ; das eine derselben
hätte aus der Welt eine Einöde geschaffen, in der nur noch das
Individuum lebte, das andere ein Narrenhaus, neben dem weder
Moral noch Gemeinsinn hätte bestehen können. Auf der einen
Seite feierten die Kirchenväter und kirchlichen Schriftsteller das
Coelibat als den einzigen Stand, in welchem der Mensch zur
Vollendung gelange. Eine solche Lehre aber ist nicht allein un-
vernünftig, sondern unsittlich, weil egoistisch, denn sie setzt die
Vervollkommnung des Menschen in offenen Widerspruch mit den
le C^e A. de Circouit et le C*^ de Puymaigre, Paris 1867 p. 39 f. 542 f.
Dieselbe Erzählung bei d'Outremeuse, Le myreur des bist. I. p. 24.3
(ed. Borguet, Brux. 18G4). Auch Rabelais spielt darauf an, da, wo er sagt
(II c. 33): Pour ce Ton feit dixsept grosses pommes de cui vre, plus
grosses que celle qui est à Rome à Taiguille de Virgilo."
Virgil in der Volkssage. 277
natürlichen Gesetzen der menschlichen Gesellschaft, ja, sie stellt
die Existenz der Menschheit selbst in Frage. Wer das Mittelalter
kennt und sich jene ganze Schaar von Autoritäten vergegenwärtigt,
die bei jeder Gelegenheit die Ehe iind das Weib durch Eede,
Schrift und Beispiel in Misscredit zu bringen suchen, dem muss
die Heiligsprechimg der Ehe geradezu als ein Hohn auf das
Christenthum erscheinen. Auf der anderen Seite trieb aber das
Ritt^-thum, welches die ehelichen Bande auflöste und dem Weibe
die Grundlage seiner Würde, die Ehrbarkeit und Achtung vor
sich selbst entzog, zu ganz denselben für die Gesellschaft tödtlichen
Folgen. So kam es, dass trotz einiger reiner Frauengestalten der
christlichen Legende, trotz des dem weiblichen Geschlechte bei
Turnieren, Liebeshöfeu und in Romanen gestreuten ' Weihrauches,
das Weib zu keiner anderen Zeit schändlicher beleidigt, verspottet
und erniedrigt worden ist, als im Mittelalter, und zwar in den
erwähnten theologischen Schriften in gleicher Weise wie in den
Gassenliedem. Eine unglaubliche Menge von meist trivialen imd
schmutzigen Anekdoten trugen zu dieser Erniedrigimg des Weibes
bei, und was unglaublich klingt, derartige Erzählungen finden sich
nicht blos in ünterhaltungsschriften sondern auch iu den Reper-
torien der Prediger, welche dieselben von der Kanzel herab vor-
trugen, scheinbar um eine Moral daraus zu ziehen, in Wahrheit
jedoch oft auch nur um die Lacher auf ihrer Seite zu haben ■^).
Wer derartige Repertori en kennt, wii'd den unwilligen Ausruf
Dante's verstehen:
„Ora si va con motti e con iscede
A predicare, e pur che ben si ride,
Gonfia il cappuccio, e più non si richiede."
Eine solche erniedrigende Anschauung zeigt auch der Theü
der Virgilsage, welcher sich auf das Weib bezieht. In der ältesten
und bekanntesten Erzählung vom verliebten Virgil tritt der Dichter
iu ein Verhältniss zu einer jungen römischen Kaiserstochter; die
Gluth seines Herzens aber findet keine Erwiderung, und seine
grausame Geliebte erlaubt sich sogar, den grossen Mann zu ver-
spotten. Sie stellt sich nämlich, als ob sie seinem Flehen Gehör
gäbe, und schlägt ihm vor, sich bei Nacht in einer Kiste an das
Fenster des Thurmes, in welchem sie wohnt, empor ziehen zu
1) Vgl. Graesse, Gesta Romanoi-um, II, p. 289. Du Méril;, Poésies
populaires latines du mcyen-age, p. 315.
278 Virgil in der Volkssage.
lassen. Virgil geht jubelnd auf den Vorschlag ein, legt, sich in
die Kiste und fühlt, wie dieselbe emporgehoben wird. So geht
die Reise bis zu einem gewissen Pmikte ganz gut, als das Ge-
fährt plötzlich auf halbem Wege anhält und bis Tagesanbruch
stehen bleibt, wo denn das laute Gelächter des römischen Volkes
ausbricht, welches die ehrbare Persönlichkeit Virgil's in einer so
schwankenden Situation sieht. Doch damit ist die Geschichte noch
nicht zu Ende. Virgil, welcher endlich wieder festen Boden iinter
seinen Füssen findet, wäre hart bestraft worden, wenn er sich
durch seine Kunst nicht der Strafe zu entziehen gewusst hätte.
Aber die Schmach, die man ihm angethan, war unverzeihlich, und
er sann auf schreckliche Rache : Er bewirkte deshalb, dass plötzlich
alles Feuer in Rom erlosch, und machte bekannt, dass, wer neues
haben wollte, es unter der Kaiserstochter finden würde, und zwar
müsse ein Jeder für sich selbst hingehen, um es zu holen, da sich
das Feuer nicht mittheilen lasse. So geschah es in der Tbat:
Die Kaiserstochter ward auf ötfentlichem Platze in einer nicht
näher zu beschreibenden Position ausgestellt imd musste sich die
Strafe gefallen lassen.
Diese Erzählung besteht aus zwei verschiedenen Theileu, die
sich auch getrennt von einander finden, der Verspottung des Dich-
ters und der Rache der Prinzessin. Als Magier tritt Virgil eigent-
lich nur in dem letzten Theile auf, während der erste gleich zahl-
losen anderen, der profanen wie der heiligen Geschichte, der
Ueberlieferung des Alterthums oder auch der reinen Sage ent-
lehnten Erzählvmgen des Mittelalters die Idee zur Anschauung
bringen will, dass keine Mannesgrösse an die Bosheit des Weibes
heranreiche. Adam, David, Simson, Hercules, Hippokrates, Aristo-
teles und eine Menge anderer erlauchter Geister figurirten in der
Liste derer, welche der Schlauheit des Weibes zum Opfer fielen.
Wenn also schon Hippokrates und Aristoteles ihren Namen für
solche Fabeleien hergeben mussteu, so verstand sich das für
Vii-gil, dessen Weisheit noch besonders berühmt war, eigentlich
ganz von selbst. Als Beleg dafür mögen die folgenden französischen
Verse eines Anonymus dienen:
„Par femme fut Adam deceu
et Virgile moqué en fu,
David en fist faulx jugement
et Salemon faulx testament;
Ypocras en fu enerbé.
Virgil in der Volkssage. 279
Sauson le fort deshonnoré;
feinme chevaucha Aristote,
il n'est rien qiie femme n'assote ^)."
Eiistache Deschamps (14. Jahrb.) sagt:
•„Par femme fu mis à destruction
Sanxes li fort et Hercules en rage,
ly roy Davis à redargucion,
si fut Merlins soubz le tombel en caige;
nul ne se puet garder de leur langaige.
Par femme fut en la corbaille à Eomrae
Virgile mis, dont ot moult de hontaige.
II n'est chose que femme ne consumme^)".
Später liess Bertrand Desmoulins in seinem Rosier des Dames
die Wahrheit also sxH-echen:
„Que fist à Sanson Dalida
quant le livra aux Philistins,
n'à Hercules Dejanira
quant le fict mourir par venius?
une femme par ses engins
ne trompa-elle aussi Virgile
quant à uns panier il fut prins
et puis pendu emmy la ville ^)?"
1) Aus einem Berner Mauucript, mitgetheilt von C ha baili e , Li
livres don Tresor par Brunetto Latini, p. XVI. Uebrigens fällt auf, dass
Brunetto wo er (lib. II, p. 2 cap. 89) von dem Unheil, das die Weiber
angerichtet haben, redet, zwar Adam, David, Salomon, Sinison, Aristo-
teles und Merlin, aber nicht Virgil erwähnt.
2) Aehnlich die von Mila y Fontanals (De los trovatore« cn Espaiìa
p. -435) citirteu Verse des Pan de Bellviure:
„Por fembre fo Salomó engauat
lo rey Daviu e Samssó examen,
lo payra Adam ne trencä 'l mandament
Aristotil ne fon com ancantat,
e Virgil, fou pendut en la tor,
e sent Joan perde lo cap per llor
e Ypocras morì per llur barat."
3) S. Recueil de Poésies fran^. des XV et XVI sièclcs réunies et anno-
téos par Anat. de Montaiglon, V, p. 195. Montaiglon citirt dabei
noch andere französische Verse aus dieser Epoche, die sich auf das
Abenteuer VirgiFs beziehen, aus Gracian Dupont, der Nef des
Princes und dem Débat de Thomme et de la femme.
280 Virgil in der Volkssage.
Zahllos sind die Belege für diese Anschauung, welche iu der
satirischen, moralischen una komischen Poesie der europiiischen
Literatur vom dreizehnten bis sechzehnten Jahrhundert geradezu
einen Gemeinplatz bildet^). Von Aristoteles erzählt eine orienta-
lische Darstellung, dass er sich seiner Geliebten zu Gefallen dazu
verstanden habe, einen Sattel zu tragen^), und nach einem
Fabliau ^) musste Hippokrates ganz dasselbe erleiden , was man
später nur dem Virgil zuschrieb '^). Ohne den Namen beider Männer
kömmt die Geschichte aber auch noch in einer Novelle des Fortini^),
1) Wir dürfen auch den berühmten Heinrich von Meissen (Fiuucn-
lob) nicht übergehen der die Schlachtopfcr weiblicher List der Reihe
nach aufzählt:
„Adam den crsteu menschen betroug ein wi])
Samsones lip
wart durch ein wip geblendet etc."
und auch den Virgil nicht vergisst:
„Vii-gilius
wart betrogen mit valscheu sitten."
Aber der galante Frauenlob, der sonst mit Recht diesen Namen führte,
sieht darin nm- die Aufforderung, die Launen seiner Schönen geduldig
zu ertragen. Vgl. v. d. Hagen, Minnesinger, HI, p. 355.
2) Barbazan-Meon, Fabliaux, 111, 96; Le Grand d'Aussy, Fa-
bliaux, I, 214. V. d. Hagen, Gesammtabeuteuer, I, LXXV ff.; Benfey,
Pantschatautra I, 461 ff. — Die Anekdote kehrt auch in dem zum Ge-
brauche der Prediger compilirten Promptuarium exemplorum wieder.
Vgl. Du Méril, Mélanges p. 474.
3) Le Grand d'Aussy, Fabliaux, 1, 232 ff. meint, dass der Name
des Hi]>pokrate8 in dieser Erzählung älter als der des Virgil sei. In dem
französchen Roman vom h. Graal ist das Abenteuer von Hippokrates er-
zählt, die Rache ist aber anders, insofern Hippokrates bewirkt, dass
sich seine Schöne zur Strafe in einen abscheulichen Zwerg verlieben
muss. Vergi. Paulin-Paris, Les romans de la table ronde 1,
246 fi".
4) Auch diese Erzählung stammt wol aus dem Orient, wenngleich
sich bis jetzt in der orientalischen Literatur noch nichts Aelinliches gezeigt
hat. Mit den tartarischen Novellen des Gueulotte, mit denen Hagen und
andere die Geschichte haben zusammenbringen wollen, hat sie doch nur
eine sehr entfernte Aehnlichkeit.
5) „Un pedante credendosi andare a giacere con una gentildonna
si lega nel mezzo perchè ella lo tiri su per una finestra; resta appiccato a
mezza via: dipoi messolo in terra con sassi e randelli gli fu data la
corsa." Fortini, Novelle 5. Hagen imd Roth wollen damit die Novelle
Vili, 7 des Decameron und eine Stelle des Philocopus Qi. 283. Sanso-
vino) in Beziehung bringen. Aber gerade in der Hauptsache stimmt der
Vergleich nicht.
Virgil iu der Volkssage. 281
so wie in einem deut.scheu ^) und französischen noch hente bekannten
Volksliede vor^).
Der zweite Theil der Erzählung taucht in der europäischen
Literatur schon zwei Jahi-hunderte früher auf, bevor man denselben
auf Virgil bezogen hatte, z. B. in einem alten Texte von den
„Acta" des Thaumaturgen S. Leo ^), welcher im achten Jahrhundert
in Sicilien lebte. Diese Acta sind aus dem Griechischen übersetzt,
und die Erzählung stammt gewiss aus dem Orient. In der That
hndet sich dieselbe mit einigen Abweichungen in einer persischen,
von Defréméry*) übersetzten Geschichte von den mongolischen
Khans Turkestans und Transoxiaua's, wie auch in einer, einem
arabischen Sprichwort zu Grunde liegenden Anekdote^), die sich
dann unter den Byzantinern verbreitet haben wird. In einer neu-
gi-iechischen Schrift aus dem vorigen Jahrhundert finden wir beide
Theile mit einander vereinigt und auf den Kaiser Leo den Philo-
sophen bezogen''). Auf Virgil wurde der zweite Theil eher als
der erste angewandt, und zwar scheint das älteste Beispiel dafür
das bereits citii-te Gedicht des Troiibadours Giraud de Calan^on
(nicht später als 1220) zu sein, welcher unter anderen Thaten
1) Aus dem 15. — 16. Jahrh. unter dem Titel: „Der ScLroibiir im
Korl", bei Simrock, die deutschen Volksbücher, Vili, 396. Vgl. v. d.
Hagen, Gesammtabenteuer III, CXLIII und Uh land, Schlitten IV,
512 ff.
2) De Puymaigre, Chants populaires recueilüs daus le pays
messin, p. 151 f.
3) Acta Sanctorum. Feb. III^ 225. In der englischen Version des
Volksbuches über Virgil heisst es dagegen von diesem, dass er in der
Kaiserstochter, die eben auf der Strasse ist, die Vorstellung erweckt, als
ob sie im Wasser stehe und sich daher das Kleid hoch aufnimmt. Vgl..
Gen the, Leben und Fortleben des P. Virgilius Maro als Dichter und
Zauberer p. 56. Die Anekdote findet sich auch in der Sage vom Zauberer
Heliodor: „alias (mulieres) iter facientes, falsa fluminis specie objeeta,
indecore nudaii compulit, et per siccum pulverem quasi aquam inambu-
lare. Vgl. Liebrecht, Orient und Occident I, 131. Ebenso macht mich
Liebrecht auf eine gleiche arabische Sage aufmerksam bei De Hammer,
Rosenöl, I, 102. Vgl. auch Weil, Biblische Legenden der Muselmänner,
p. 267.
4) Journ. asiat., IV. sér. 19, 85 ff.; Liebrecht in der Germania
X, 414 ff.
5) Freytag, Arabum proverbia II, 445, No. 124.
6) Liebrecht, Neugriech. Sagen in der Zeitschr. f. deut. Philol.
V. Höpfner u. Zacher, H, p. 183.
282 Virgil in der Volkssage.
Virgils auch von dem Feuer berichtete, „das er auszulöschen wus.ste"
(„del fbc quo saup escautir"). In der „Image du monde" wird der
ganze zweite Theil ohne den ersten erzählt. Es wäre indcss nicht
unmöglich, dass man diesen unabhängig von jenem mit Virgil
zusammengebracht hätte, noch bevor die Idee vom Zauberer Virgil
entstand. Virgil tritt darin nur als ein weiser Mann auf, was ge-
rade die Erzählung als Novelle komischer, als Beispiel massgebender
macht. Der zweite Theil lässt deutlich erkennen, dass er an den ersten
nur angeflickt worden ist: Virgil zeigt sich darin als mächtiger
Zauberer, während er im ersten Teile der Verspottung ahnungs-
los unterliegt.
So vereinigt begegnet nun die Erzählimg in einer lateinischen
Handschrift aus dem dreizehnten Jahrhundert') und in der Wclt-
chronik von Jans Enenkel^), ferner im Renai't contrefait und iu
vielen, besonders deutschen und französischen, aber auch englischen,
spanischen und italienischen Schriften des vierzehnten bis sech-
zehnten Jahrhunderts; unabhängig von den Darstellimgen, in denen
das Factum zugleich mit anderen Virgilsagen berichtet wird, er-
wähnen die meisten dasselbe in spasshaften wie ernsten Declama-
tionen über das Weib i;nd die fleischlichen Sünden. Der Spanier
Jean Ruiz de Hita (1313) erzählt es bei Gelegenheit des „Pe-
cado de Luxuria." In den Zeiten Ferdinand's und Isabellen's, als
Diego de Santo Pedi-o in seinem „Carcel de amor" im Interesse
des Weibes es aussprach, dass „uns die Weiber mit den theolo-
gischen, wie den Cardinal-Tugenden beschenken und uns mehr als
die Apostel zu Katholiken machen", ward die Virgilanekdote zum
Spott der Weiber in einem spanischen Gedichte citirt, dessen Titel
sich nicht augeben lässt ^). Im Bunde mit der Moral tritt die
1) Du Morii, Mélanges p. 430.
•2) V. d. Hageu, Gesammtabcntcuer II, 515 fl'.; Massmaun, Kaiscr-
thronik III, 455 ff.
3) ,,Canconiero de obras de burlas provocantes a ri.sa" p. 152. Aussei'-
dcm sind hier noch als bezüglich auf die Sage zu erwähnen: das fran-
zösische Gedicht „Le bätard de Bouillon" (vgl. llist. litt, de la Fr. XXV,
613); eine anonyme Chronik der Bischöfe v. Lüttich. (De Siuner, Ca-
tal. cod. bibl. bern. II, 149); Symphorien Champier, De claris medi-
cinae scriptoribus , tractat. 2; Martin Franc ,, Champion de.s danics"
fol. CIV; eineHds, und die alte Ausgabe des Lanzelot iu Prosa (Hagen,
Gesammtabenteuer III, p. CXL); Reinfrit v. Braunschweig. (Hagen,
a. a. 0. p. CXL. Das "Weib hcisst hier Athanata); ein altdeutsches Lied,
Virgil in der Volkssage. 283
Erzählung nicht nur in der Literatur') bis zum üebermass auf,
sondern ward auch in der Kunst in Marmor, Holz und Elfenbein
dargestellt, und musste sogar in den Kirchen die Augen der Gläu-
bigen ergötzen^). Auch in Gemälden und Holzschnitten hat sie
ihren Ausdruck gefunden und zählt berühmte Künstler wie Lucas
von Leyden, Georg Pencz, Sadeler, Hopfer, Sprengel u. A. zu den
Urhebern derselben ^),
Unter den Italienern scheint^ abgesehen von Alipraud, von
welchem weiter unten die Rede sein wird, die Erzählung von
Sercarabi (1347 — 1424) in seiner unedirten Chronik zuerst auf
Virgil angewandt worden zu sein''). Die Geschichte war so be-
kannt, dass man sogar einen der Thürme Roms als Ort der Hand-
lung bezeichnete. Nur so erkläre ich mir den „Torre di Vii-gilio"
benannten Thurm der Frangipani^), so wie die in der deutschen
welches anfängt: „Her Vilius von Astronome}' ze schule gie" (Hagen,
a. a. 0. p. CXLI); Hawes, Pastime of pleasure, c. XXIX; Gowcr, con-
fessio amantis, 1. VIII, fol. 189; die spanische Tragikomödie „La Celestina",
7. Act; Der „Corbacho" des Erzpriesters Talavera; Diego Martiuez
im Canconiorc de Baena ed. Michel, II, p. 29; Diego de Valencia,
ebenda p. 87; der „Romance de don Trista" bei Michel, Tristan, II,
p. 302 ff. u. s. w.
1) Ein Metzer Chronist, Philipp v. VigneuIIes beschreibt ein Fest,
das in Metz statt fand, bei dem zu Ross und Wagen David, Alexander,
Karl der Grosse, Arthur, Salomon etc. auftraten und fügt dann hinzu:
„pareillement estoit en I'uug d'iceux chariots le saige Virgile rpii pour
femmc pendelt à une corbeille." S. Puymaigre, Chants populaires re-
cueillis dans le pays messin, p. 153 und desselben „Les vieux auteurs
castillans" Bd. II, p. 59.
2) L. Langlois, Stalles de la cathédrale de Rouen, p. 173; De la
Rue, Essais historiques sur la ville de Caen, p. 97 ff.; Montfaucon
Ant. expl. Bd. III, Pars III p. 356.
3) Vgl. Bartsch, Peintre graveur. No. 16,51,87,88,130; Graesse,
Beiträge p. 35 ff'; Bekker und von Hefner, Kunstwerke und Geräth-
schaften des Mittelalters und Renaissance, erste Lieferung. Auf die Ge-
schichte von dem ausgelöschten Feuer bezieht man ohne Grund ein Bild
Malpicci's, gestochen von Andreani in der „Iconogr. des estampes à su-
jets galants" par M. le C. D'I . . . (Genève 1868) p. 501. — Auch die
Erzählung von Aristoteles und Phyllis ward in einigen Kunstwerken dar-
gestellt. Vgl. Benfey, Pantschatantra I, 462.
4) „Novella inedita di Giovanni Sercambi." Lucca 1865 (in 30 Exem-
plaren gedruckt) und wiederholt von D'Ancona, Novelle di Giovanni
Sercambi" Bologna, 1871 p. 265 ff.
5) Marangoni, Memorie dell' anfiteatro romano, p. 51.
2S4 Vir<?il iu der Volkssage.
Version der Mirabilia des fünfzehnten Jahrlnmderls und iu einer
deutschen gleichzeitigen Schrift über die sieben Hauptkirchen Kom.s
eingeÜochtene Anekdote'). Berni erwähnt auch^) unter den Alter-
thümcrn, welche von den Pilgern gesehen werden müssen:
„ . . la torre ove stette in due cestoni
Virgilio spenzolato da colei"
Aeneas Silvius citirt in seinem Gedichte: „De Euryalo et Lucretia"
(1440) den ersten Theil der Begebenheit als moralische Ermah-
nung, während derselbe iu der „Murtoleide" die Stelle einer Ver-
wünschung einnimmt:
„Possa come Virgilio in una cistola
Dalla fenestra in giù restar pendente."
In dem alteu italienischen Gedichte „11 padiglione di Carlomaguo"
heisst es:
„Ancora sinede Aristotil storiare
E quella femmina che l'ingannò,
Che come femmina lo facea filare
E come bestia ancor lo cavalcò,
E'I morso iu bocca gli facea portare,
E tutto lo suo senno gli mancò; •
Da l'altra parte Virgilio si mirava
Che nel cestone a mezza notte stava ^)".
Und so findet sich die Erzählung noch in vielen anderen ita-
lienischen Texten des fünfzehnten und sechszehnten Jahrhunderts.
Unedirt ist bis jetzt eine „Canzone morale in disprezzo d'amore'*)",
welche sich in einer Handschrift aus dem fünfzehnten Jahrhundert
in der Magliabecchiaua zu Florenz fiudet. Hier gesellt sich zu
Jupiter, Aristoteles, Salomon u. s. w. gleichfalls Vii-gil:
„Letf hai d'una donzella che ingannava
Virgilio collocato in una cesta,
E fuor della finestra
Attaccato lasciollo in fino a giorno."
1) Massmann, Kaiserchr. Ili, 4.'ì4.
2) „Il primo libro delle opere di M. Francesco Berni e di altri." (Leiden
1823) Tbl. I, p. 147.
3) Dieso Octave, die sich in alien Ausgaben fiudet, soll nach Prof.
liajna ebenso wie eilf oder zwölf andere iu der llds. fehlen. Die älteste
bekannte Ausgabe ist aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhundert.
4) Cod. 40, Pal. II f. 140b— 141b. Mitgetheilt durch Raj na. Das dem
Liede vorausgehende Gedicht trägt den Namen des Guido da Siena,
der aber ausgestrichen ist. An seine Stelle trat der Name: Messer
Bartolomeo da Castello della Pieve.
Virgil in clor Volkssage. 285
In einem noch nicht herausgegebenen Gedichte gegen die Liebe
(aus derselben Zeit) heisst es:
„E tu Virgilio parasti le botte
Che sanno dar le donne a' loro amanti,
Tu ti pensasti rimetter le dotte
Con colei che ti fea inganni tanti.
A casa sua tu andasti una notte
Fatto lo'mposto cenno, ella fu presta,
E pianamente aperse la finestra.
Con una fune una cesta legoe,
Per dimostrare di farti contento,
E fuor della finestra la mandoe
Dove tu eri e tu v'entrasti drento;
Tiretti a mezza via e poi t'appiccoe
A un arpion per tuo maggior tormento
e finoal giorno istesti appiccato,
Dal popolo e da lei fosti beffato ^).''
In dem „Contrasto delle donne" des Antonio Pucci") geschieht eben-
falls des Virgil Erwähnung:
„Diss una che Virgilio avia 'n balia:
— Vieni stasera, ed entra nella cesta
E collerotti a la camera mia. —
Ed ei v'entrò, ed ella molto presta
Il tirò su; quando fu a mezza via
Il canape attaccò, e quivi resta;
E la mattina quando apparve il giorno
Il pose in ten-a con suo grande scorno,
Risp. Virgilio avea costei tanto costretta
Per molti modi con sua vanitade
Ch'ella pensò di farli ime befifetta
A ciò che correggiesse sua retade;
1) Das mir von d'Ancona mitgetbeilte Gedicht in einer Hds. des
Herrn Guasti beginnt: „Or mi posso doler di te Tubbia" und endigt:
„E tu ti goderai col tuo marito." Der 6. Vers der ersten Octave fehlt
in der Hds.
2) Herausgegeben von d'Ancona ira Propugnatore, 1870, I, 417 f.
die erste Ausgabe von Brunet (IV, p. 121) ist sehr selten, und ohne
Namen des Verfassers.
2SG Virgil iu dor Yolkssagc.
E fe' quel che tu dì non per vendetta
Ma per difender la sua castitade;
Ver' è che poi, con sua gi-ande scienza,
Fece andar sopra lei aspra sentenza."
Also auch die italienische Dichtkunst jener Zeit wühlte sich diese
Begebenheit zum Stoffe für ihre Dichtungen, Der Holzschnitt eines
unbekannten Verfassers aus der altitalienischen Schule trägt unter
der Darstellung 'derselben Anekdote folgende, dem Pucci entlehnte
Verse :
„Essendo la mattina chiaro il giorno
Il pose in terre con suo grande scorno;
Ver' è che poi, con sua gi-an sapfenza;
Contr' a costei mandò asjjra sentenza ^)."
Ein Bild des Peiin del Vaga, welches die Scene der Rache dar-
stellte, hat E. Vico in einem Stiche reproducii't, der die Unter-
schrift trägt: „Virgilium eludeus meritas dat foemina poenas. Roma
1542^)." Eine Handschrift der „Trionfi" des Petrarca in der
Laurenziana weist in einer Miniatur vier Schlachtopfer des Liebes-
gottes nach: den spinnenden Hercules, den geschorenen Simson,
Aristoteles mit dem Sattel und Virgil in der Kiste ^).
Der zweite Theil der Novelle kömmt in einem der zahlreichen
italienischen Volksbücher vor, die noch fortwährend gedruckt werden,
wird aber hier freilich nicht auf Virgil, sondern auf Pietro Bar-
liario (nicht Pieti'o Abelardo, wie einige meinten) bezogen ''), welcher
1) In der Dresdner Sammlung; beschrieben von Gracsse, Beiträge,
p. 35 f. /
2) S. Bartsch, 40 und „Teonographie des estampes etc."
p. 7.S3.
3) Cod. Strozz. No. 174. Man sieht Virgil in einer Kiste schwebend
(ohne den Thurm) und vor ihm die Prinzessin.
4) Das Gedicht führt den Titel: „Vita conversione é morte di Pietro
Barliario nobile salernitano e famosissimo mago, composta da Filippo
Cat aloni romano." Lucca. — Eine andere Redaction des Gedichtes, je-
doch ohne die citirte Episode trägt den Titel: ,, Stupendo miracolo del
crocifisso di Salerno con la vita e morte di Pietro Baiiardo famosissimo
mago, opera nuova per consolazione dei peccatori posta in ottava rima
e data in luce daLuca Pazienza, napoletano." Lucca, 1799. Beide Aus-
gaben besitzt Prof. d'Ancona. — Man glaubt, dass dieser Pietro Barliario
(auch Baiiardo oder Baialardo) sich mit Alchymie beschäftigt habe und
darum für einen Zauberer galt, sowie dass er als Mönch unter den Beue-
dictincru von Salerno am 25. März 1149 starb. Mazza will sein Grab
Virgil iu der Volkssage. 287
wie Virgil in mehr als einer Hinsicht die Erbschaft des alten
Zanberers Heliodor autrat;
„Adirato si parte indi comanda
A'demoni che tosto abbiano spento
Tutto il fuoco che fosse in ogni banda,
Fosse da loro estinto in un momento.
Onde per compir l'opera nefanda
La donna fé pigliar con gran tormento,
E in piazza tw portata di repente,
Nuda, parea che ardesse in fiamme ardente.
Correa il popol tutta in folta schiera
A provveder di fuoco le lor case.
Fra le piante di qiiella in tal maniera
Sorgea la fiamma, onde ciascun rimase.
E l'uno a l'altro darlo invano spera
Che presto si smorzava; intanto sparse
La Dea eh' ha cento bocche un gran romore
E l'avvisonandò al governatore."
Diese, ausserhalb Italiens entstandene Erzählung war aber
nicht die einzige, welche den Zauberer Virgil mit dem schönen
Geschlechte in Verbindung setzte. — Einige Ueberreste antiker Vor-
stellungen der griechisch-römischen wie der orientalischen Welt,
mehr aber noch die nationalen Gebräuche der erobernden deutschen,
Barbaren verbreiteten im Mittelalter selbst in den Ländern einer
feineren Cultur wie Italien die Idee und Anwendung der Gottes-
urtheile, wobei die Gottheit durch ein Wunder die Wahrheit offen-
baren sollte. Bei der geringen Achtung, welche das Weib genoss,
galten auch sie für ein Mittel, den Lebenswandel des schönen
Geschlechts auf die Probe zu stellen^). Noch fruchtbarer indess,
als die Phantasie der Eifersüchtigen, die nicht müde wurden, alle
nur möglichen Arten von Proben aufzufinden, war die Phantasie
der Novellisten, Moralisten und Eomanschreiber , welche zum Be-
gesehen und darauf gelesen haben: ,,hoc est sepulcrum m. magistri
Petri Barliari." S. Urbis Salernitanae bistoria p. 33 f. (bei Graev. et
Burm., Thes. IX, 4). Vgl. De Renzi, Storia della medicina in Italia, H
p. 118. Das neapolitanische Volk schreibt dem Barliario die Brücke
des Caligula zu; s. Ampere, L'empire romain à Rome. II, 9.
1) S. die reiche Aufzählung bei Du Meril, Einleitung zu „Floire et
Blauceflor" p. CLXV ff.
288 Virgil in der Volkssage.
weise, dass die weibliche List sich selbst dem strengsten Gottes-
uitheil zu entziehen wisse, die verschiedenai-tigsten Anekdoten er-
sannen. Hierbei fand sich Europa ganz im Einklänge mit dem
Orient, wo die Lage des Weibes die alleniiedrigste war, und
von wo man auch die schändlichsten Erzählungen der Art heriiber-
nahm.
Mit einer derselben, welche gleich bekannt im Orient wie
Occident war, wurde auch der Name Vii-gil's vertlochten, und zwar
in ähnlicher Weise wie bei der Geschichte mit der Iviste. — Vir-
gili), so hiess es, verfertigte in Rom einen Kopf, dessen Mund
geöflFnet war. Diejenigen, welche ihre Keuschheit oder eheliche
Treue beweisen sollten, mussten nun ihre Hand in den Mund des
Kopfes legen; logen sie, so blieben ihre Finger in dem Munde.
Ein Weib, das sich eben rechtfertigen sollte, verstand es jedoch, den
Beweis zu vereiteln. Sie zwang ihren Galan, sich als Nan-en zu
verkleiden, und sobald er ihrer auf dem Platze, wo das Gottes-
nrtheil vor sich gehen sollte, ansichtig geworden sei, auf sie zu
zu laufen und sie zu umarmen. So geschah es. Das Weib stellte
.sich höchst entrüstet, aber der Ehemann wollte von dem armen
Narren kein Aufhebens machen. Und so schwur das Weib, dass
sie in ihrem ganzen Leben Niemand iimarmt hätte, mit A usnahme
ihres Mannes und jenes NaiTen. Das war aber die Wahrheit, und
so ging ihre Hand unverletzt aus dem schrecklichen Munde heraus.
•Virgil merkte den Betrug und musste gestehen, dass die Weiber
doch noch schlauer seien, als er selbst.
Diese Erzählung findet sich nur mit Veränderung der Namen
und Oertlichkeiten im (^'ukasaptati, einer Sammlung indischer No-
vellen, sowie in der Geschichte von Ardschi Bordschi Chan, einem
mongolischen, aber seinem Ursprünge nach indischen (Siuhàsanad-
vàtrin9at) Werke ^) wieder. In Europa Avar sie schon längst be-
1) Vgl. Jean Hansel: Fleur des Listoires bei Du MériI, Mclanges
p. 444 f.; die „Faits mevveilleux de Virgile"; „Kurzweilige Gespräch"
Frankf. 1563; „Leben und Fortleben des P. Virgilius Marc'* bei
Genthe p. 75; Massmann, Kaiserchr. III, 449; Schmidt, Bei-
träge, 139—141 f.
2) Vgl. Benfey, Pantschatiintra I, 457; Bartsch in Pfeiffers Ger-
mania V, 95 ff; den Text der moiiijfolischen Erzählung bei Jülg: „Er-
zählung aus der Sammlung Ardschi Bordschi, ein Seitenstück zum
Gottesgericht in Tristan und Isolde" (publicirt 18G7. Innsbruck), nnd in
desselben gelehrtem Werke „Mongolische Märchen" (Innsbruck 1808J.
Vgl. meinen Aufsatz in der Revue critiqne 18G7, I, p. 185 ff.
Virgil in der Volkssago. 289
bannt, wie denn Lei Macrobius eine ihr ganz gleiche, gewiss altlatei-
nischen Schriftstellern entlehnte Anekdote zu lesen ist, in welcher
nur das erotische Element fehlt ^). Dieselbe machte als ein Bei-
spiel für die „Schlauheit der galanten Frau" die Rundreise durch
ganz Europa, auch unabhängig von dem Namen Virgils, und findet
sich z. B. im französischen Tristan ^), in den Novellen Straparolas,
Celio Malispinis, im „Patranuelo des Timoneda u. s. w.^). So viel
ich weiss, wird der Name Virgils zuerst in einem deutschen Ge-
dichte aiis der ersten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts unter
dem Titel : „Von einer Bildsäule in Rom, die den Ehebrecherinnen
die Finger abbiss" mit der Geschichte verflochten*). Das Denkmal
aber, auf welches sich dieselbe bezieht, steht in Rom bei S. Maria
in Cosmedin und heisst noch heute „Bocca della verità." Es ist
die antike Maske einer Cloakenoifnung, von der die Mirabilia er-
zählten, dass sie wahrsagen könne. Eine dabei befindliche Inschrift
aus dem Jahre 1632 sagt aus, dass man beim Schwören die Hand
hinein legen musste, was auch der gewiss noch aus dem Mittel-
alter stammende Name des Platzes bei der Kirche, der gleichfalls
Bocca della verità heisst, bezeugt^). Es erklärt sich daraus auch,
wie die Erzählung in Rom localisirt und dann mit Virgil in Zu-
sammenhang gebracht worden ist. Die deutsche Bearbeitung der
1) „Tremellius vero Scropha cognominatus est eventu tali. Is Tre-
mellius cum familia atque liberis in villa erat. Servi ejus, cum de vicino
scropha erraret, subreptam conficiunt; vicinus advocatis custodibus, om-
nia circumvenit, ne qua afferri posit: isque ad dominum appellat restituì
sibi pecudem. Tremellius qui ex villico rem comperisset, scrophae cadaver
sub centonibus conlocat super quos uxor cubabat; quaestionem vicino
permittit. Cum ventum est ad cubiculum, verba jurationis concipit:
nullam esse in villa sua scropbam nisi istam, inquit quae in centonibus
jacet: lectulum moustrat. Ea facetissima juratio Tremellio Scrophae cogno-
nientum dedit." Macrob. Sat. I, 6, 30.
2) Michel, Tristan I, 199 S.
3) Dunlop-Liebrecht, p. 500.
4) Publicirt von Bartsch in Pfeiffer's Germania IV, 237 ff.
Tj) Hagen (Briefe in die Heimatb, IV, 106) bemerkt, dass, wo jetzt
S. Maria in Cosmedin steht, früher ein Tempel der Pudicitia stand, was
also der Ursprung der Legende erklärt. Nahe beim Forum boarium war
der Tempel gewiss, allein die Archaeologen (z. B. Becker-Marquardt,
Handb. d. röm. Alterth. I, 480) glauben nicht, dass er an der Stelle
der Kirche gestanden habe. Die älteste Notiz (in den Mirabilia) über die
Sage spricht übrigens nicht von Orakeln, die sich auf die Keuschheit
bezögen. Vgl. Beschreibung der Stadt Rom, III, 2, p. 381.
Couiparetti, Virgil im Mittelalter. 19
290 Virc;il in der Volkssage.
Mirabilia aus dem fünfzehnten Jahi'lmudert nennt in der That be-
reits den Virgil und erzählt, weshalb der Stein später seine Be-
deutung verlor^).
Neuntes Capitel.
Wer all diese mit dem Namen des Virgil verknüiiften Er-
zählungen ordnen und einigen Lücken mit der Phantasie nachhelfen
wollte, der könnte eine vollständige romantische Biographie des
berühmten Zauberers zu Stande bringen, wie dies denn in der
That aucli geschehen ist. Bevor wir jedoch derartige Schöpfungen
betrachten, ist es nöthig, auf die Schicksale zu sehen, welche die
Virgilsage in dem Lande hatte, wo sie zuerst entstanden war.
Der Leser wird sich erinnern, dass mit Ausnahme der Legenden,
welche Gervasius und Kourad in Xeapel gehört hatten, alle übrigen
von anderen Ländern her nach Italien gekommen waren; obgleich
jene Erzählungen sehr bald in die Literatur übergingen, kamen
doch nur wenige den italienischen Schriftstellern zu Ohren. Der
älteste italienische Beleg für die Sage ist die „Cronica di Parte-
nope" von „Bartolomeo Caraczolo dicto Carafa, cavaliere di Napoli",
die bis zum Jahre 1382 geht^) und nach der Aussage des Au-
toi'S selbst nur eine Compilation aus anderen Chroniken ist. Der
Verfasser erzählt demnach über Virgil nicht blos das, was er in
Neapel gehört, sondern auch, was er bei Gervasius und einem ge-
wissen Alexander gefunden hatte. Wäre unter Letzterem Alexander
Neckam zu verstehen, so müssten wir sagen, dass er „de naturis
rerum" in einer verstümmelten und interpolirten Handschrift oder
1) Vgl. Massmann, Kaisercbr. III, 449. — Die Anekdote ist dar-
gestellt auf einigen Holzschnitten nach Lucas v. Leiden. Vgl. (ausser
Bartsch) Passavant, Le Peintre graveur III, 9. Ein darauf bezügliches
Gemälde in einem Hause zu Rom erwähnt die Beschr. d. St. Rom 111,
2, .382. Hans Sachs schrieb dem Virgil die Construction einer Brücke zu,
auf der sich beim Tönen eines Glöckleins kein Ehebrecher festhalten
konnte. Er tröstet damit Arthur und zeigt ihm, in wie zahlreicher (ie-
sellschaft er sich befinden müsse. Vgl. v. d. Hagen, Gesammt-
abeuteuer, III, CXXXVI.
2) Der Titel der Chronik in den Hdss. ist auch „Cbroniche de la
inclita cita de Napole con li bagni di Puzzole et Ischia." Hdss. der beiden
ältesten Ausgaben sind sehr zahlreich. S. Brunet, Manuel, V, 1226 f.
Das auf Virgil Bezügliche haben Graesse, Beitrüge, p. 27 ff.. Vili ari,
Annali delle Università toscane, VIII, p. 162 ff. und zum Theil auch Ga-
lla ni, Del dialetto napoletano p. 0!^> ff. publicirt.
Virgil in der Volkssago. 291
in irgend einem unvollstündigen und abweiclienden Auszuge bei
einem anderen Scliriftsteller gelesen hat.
Das, was uns Gervasius sagt, finden wir auch in der Chronik
wieder: es ist, einige Bemerkungen des Verfassers ausgenommen,
die bekannte neapolitanische Sage des zwölften Jahrhunderts. Virgil
erscheint als der Wolthäter der Stadt zu der Zeit, als er „con-
sili ario et quasi rectore o vero maistro di Marcello" und von
Octavian zum „duca de li napolitani" erwählt worden war. Er
legte , Wasserleitungen, Quellen, Brunnen und Cloaken in Neapel
an; er führte das Carbonaraspiel^), ähnlich dem Pisaner „Giuoco
del Ponte" ein, jene kriegerische Uebung in fingirten Angriffen,
die schliesslich mit tödtlichen Zwisten endete, und fügte zu den
vorhandenen Talismanen eine kupferne Cikade hinzu, welche alle
anderen Cikaden von Neapel verjagte, so wie einen kleinen stei-
nernen Fisch an der „preta de lo pesce" genannten Stelle, wodurch
zahlreiche andere Fische angelockt wurden^). Die Idee des im
Castello dell' Ovo bewahrten Palladiums der Stadt bleibt dieselbe.
Auch die von Gervasius berichtete Erzählung von dem Verlangen
jenes excentrischen Engländers findet sich in der Chronik wieder.
Das geheimnissvolle Buch soll Virgil, „wie es in einer alten
Chronik heisst," selbst in einer Grotte des Monte Barbaro, wohin
er sich oft mit einem gewissen Philomelus begab, unter dem
Kopie des Chiron gefunden haben ^). Obgleich aber dies Buch mit
„Negromanzie" bezeichnet wii-d, und der Verfasser der Chronik
bei Virgilischen Werken in Neapel an „Magie" denkt, so meint
1) Vgl. Petrarca, Epist. de rebus fam. V, ep. 6.
2) Vgl. Sacchetti, Novelle 216: „Maestro Alberto della Magna
giugendo a uno oste sul Po gli fa uno pesce di legno col quale pigliava
quanti pesci volea."
3) Es kann wol nur der Kentaur Chiron gemeint sein, der in der
mythischen Periode der Geschichte der Medicin, die sich ja im Alter-
thum mit der Magie berührte, eine Rolle spielt. Auf Chiron ward auch
ein im Mittelalter sehr gebrauchtes Buch: „Herbarium Apulei Platonici
traditum a Chirone Centauro magistro Achillis" zurückgeführt. Unter
Philomelus wird wol der alte Arzt Philumenos zu verstehen sein, von
dem einige Hausmittel herstammen sollen, die allerdings magischen
Operationen sehr ähnlich sind (S. Becker -Mar quardt, Handb. d.
röm. Alt. IV, 117 ff.). Möglich, dass die Erzählung des Caracciolo gar
nicht aus dem Volke stammt, sondern erfunden ist, um das Werk eines
Vorläufers des Cardanus und Paracelsus zu empfehlen. — Nach der
neapolitanischen Sage ist der Monte Barbaro voll von Schätzen, wie
schon Conrad von Querfurt bemerkt.
19*
292 Virgil in der Volkssage.
er damit doch bloss die Keuutniss vom Einflüsse der Plaueteu.
Er redet von Virgil mit grosser Achtung, nennt ihn- einen ausge-
zeichneten Dichter imd sieht durchaus nichts Teuflisches in seinen
Schöpfungen. Die Grotte von Pozzuoli, welche vor jedem Unheil
bewahrt sein sollte, hatte Virgil nicht durch Teufelskunst, sondern
mit Hilfe der „Geometrie" so geschafl'eu.
Natürlich musste das auf dem Wege nach Puteoli gelegene
Grab des Dichters der Mittelpunkt der Virgilsagen werden. Und
so fügte auch später Scoppa zu den nach der Cronica di Parteuope
wiedererzählten Sagen noch folgende Bemerkung über die Grotte
von Pozzuoli hinzu: „Ich weiss, dass Einige, gestützt auf die Au-
torität des Plinius, nicht davon abzubringen sind, dass die Grotte
von Lucullus und nicht von Virgil gemacht sei. Aber ich bleibe
auf Seiten unserer Chroniken, weil vom Alterthunie die Alten am
meisten wissen, zumal wenn sie im Lande einheimisch sind." Und
wie volksthümlich diese Anschauung war, beweist der Umstand,
dass der Name „Grotta di Virgilio" noch heute vorhanden ist, so
wie die Thatsache, dass Petrarca, als ihn der König Robert alles
Ernstes hierüber befragte, antwortete: „Ich erinnere mich nicht,
jemals gelesen zu haben, dass Virgil die Steine behauen
habe ')."
Die Sage muss demnach noch im vierzehnten und fünfzehnten
Jahrhundert in Neajpel existii't liaben, ohne dass man hier etwas
von dem Zauberer und verliebten Virgil wusste. Es scheint, dass
nur die Sage von den vier Todtenköpfen, welche Virgil in Neapel
aufstellte, und welche dem Herzog Alles, was in der Welt geschah,
enthüllten, von aussen hereingebracht sei. Hier ist die der „Sal-
vatio liomae" und dem wunderbaren Spiegel zu Grunde liegende
Idee also mit dem "sowol Virgil wie Gerbert zugeschriebenen spre-
chenden Kopfe zusammengebracht.
Der Verfasser der Chronik hat sich wol gehütet, die Sage zu
erweitern und phantastisch auszuschmücken. Er berichtete sie ganz
1) „Nusquam memini me legisse luarmorarium fuisse Virgilium."
Itiner. Syriac. I, 560 (Ed. Bas. 1581); Theod. a Niem, De schisuiate,
II, 22. — Als Werk Virgil's wird die Grotte u. a. citirt von T her-
sander, Schauplatz viel, ungereimt. Meyn. II, 308, 554; Jean d'Autun,
Chroniques, I, p. 321 etc., Marlowe, Doctor Faustus, erster Act, Sc. 26
sagt:
„There aaw we learned Maro's golden tombe,
the way he out an english mile in length
thoroug a rock of stoue, in one night's space."
Virgil in der Volkssagc. 293
einfach als Historiker, weil er sie im Volke gehört und Gervasius
sie aufgezeichnet hatte ; aber es fiel ihm nicht ein, an das Märchen
zu glauben. Am Schlüsse gibt er eine Erklärung, die der ge-
sunden Vernunft der Italiener alle Ehre macht : „Ich könnte von
Virgil noch vieles Andere erzählen, was man von ihm hört, allein
es erschien mir meist fabelhaft und falsch zu sein, und deshalb
wollte ich den Verstand der Leute nicht damit beschweren. Und
dieweil ich schon Vieles von Virgil berichtet habe, woran zu
glauben nicht einmal mir einfällt, bitte ich jeden Leser, mich zu
entschuldigen, darum, dass ich weder den wahren oder falschen
Ruf des grossen Dichters, noch das Wolwollen, welches er selbst
gegen das berühmte Neapel hegte, verringern wollte. Aber die
Wahi-heit aller Dinge weiss Gott allein. Ich schreibe nichts Falsches
oder Unglaubliches, ohne den Leser darauf aufmerksam zu
machen."
Obgleich die Sagen auch im südlichen Italien wol bekannt
waren, so verbreiteten sie sich doch sehr langsam auf der Halb-
insel, Die älteste Erwähnung glaube ich in einem Gedicht des
Ruggieri von Apulien zu finden, der wol nicht später als in der
ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts gelebt haben wird :
„Aggio poco senno alla stagione,
E saccio tutte l'arti di Vii-gilio ^)."
In dem übrigen Italien erscheint die Sage nicht vor dem vier-
zehnten Jahrhundert, mischt aber dann Originales und Einheimisches
mit Fremdartigem zusammen. Einige Autoren vùn Toscana, welche
in Neapel gewesen waren, hörten sie dort von dem Volke. Boccaccio
citirt in seinem Dantecommentar (1373) nur drei Wunderwerke
Virgil's : die broncene Fliege, das broncene Pferd und die Marmor-
köpfe an der Porta Nolana. Er bemerkt dazu, dass Virgil weit
mehr in Neapel als in Rom lebte und dass er dorthin von Mai-
land aus kam^), weil er ein guter Dichter war und wusste, „dass
1) Das Gedicht, welches anfangt:
„Giammai null' uom non ha si gran ricchezza."
findet sich in dem berühmten Libro reale des Vatican (3793 No. 71) das
hoffentlich in nächster Zeit von mir und d'Ancona herausgegeben
werden wird. Vgl. Giron, in „Romanische Studien" v. Boehmer I, (1821)
p. 61 ff.
2) So heisst es in dem interpolirten Texte der s. g. Biographie des
Donat. Nach dem achteren Text kommt der Dichter direct von Mailand
294 * Virgil in der Volkssagc.
die Dichter Octavian angenehm seien". Vor ihm spielte Cino da
Pistoia *) auf die wunderbare Fliege an in den Spottversen gegen
Neapel, die Ciampi nicht verstanden hat:
„0 sommo vate, quante mal facesti
A venir qui; non t'era me' morire
A Pietola colà dove nascesti?
Quando la mosca, per l'altre fuggire.
In tal loco ponesti
Ov' ogni vespa doveria venire
A punger quei che su ne' boschi stanno."
Der Florentiner Volksdichter Antonio Pucci aus dem vierzehnten
Jahrhundert erwähnt in seinem „Zibaldone", von dem es zwei Hand-
schriften in Florenz gibt"), unter den Wunderwerken Virgil's die
Fliege, das Pferd, das auf dem Ei schwebende Schloss, den Garten,
die zwei Leuchter und eine Lampe, die immer brannten, di^ List
des Weibes und Virgils Rache, den sprechenden Kopf, die Ge-
schichte vom Tode des Dichtei's und die Wunderkraft seiner Ge-
beine. Aber er verlegt, wie so viele fremde Romandichter, Virgil's
Grab nach Rom. Man weiss, dass er die Dichtungen der Aus-
länder kannte"'); dennoch sprach er nicht von „Teufelskunst", son-
dern schrieb die Werke Virgils seiner Kenntniss der Astrononüe
zu, so wie sie Gidino da Somraacampagna in einem an Francesco
Vannozzo gerichteten Sonnett^) der Kenntniss, welche Vii-gil von
den Naturgeheimnissen hatte, zuschreibt:
„Dell' eccellente fisico Marone
Che circa il natural pose sua cura."
Während aber der Virgil der neapolitanischen Sage Nichts mit jener
lächerlichen oder hässlichen Figur gemein hat, die sich in an-
nach Rom (vgl. Keifferscheid, Suet. p. 401), wie auch Francesco da
Buti in seinem Commentar sagt.
1) „Poesie di Messer Cino da Pistoia race, da Seb. Ciampi" II, 157
(3. Ausg.). Die Meinung Ciampi's, dass die Satire auf Rom und nicht aut
Neapel gehe, wird durch die citirten Verse widerlegt. Das „Animai sì
vile", welches in alter Zeit dem Reiche, wo „ogni senso ò bugiardo e
fallace", seinen Namen gab, ist die Sirene Parthenope.
2) Vgl. d'Ancona im Propugnatore, 1870, I, 397 S.
3) Vgl. Wesselofsky, „Le tradizioni popolari nei poemi di Antonio
Pucci" im Ateneo italiano, Anno I.
4) Publicirt von Zanella, Verona 1858.
Virj^il in der Volkssage. 295
deren Länderu aus dem Dichter gebildet hatte, war dies doch nicht
im übi'igen Italien ebenso der Fall. Zu Rom ward Virgils Name
ganz nach der Art der ausländischen Sage mit einigen Monumenten
der Stadt verknüpft ^). Der Tempel des Jupiter Pluvius hiess z. B.
„Casa di Virgilio"^), die Meta Sudans „Torre di Virgilio^)", des-
gleichen der alte Thurm der Frangipani*) und das Septizonium
„Scuola di Virgilio^)." Nehmen wir hinzu, dass Petrarca wegen
seiner Virgilstudien von Seiten des römischen Hofes harte Unbill
erfuhr, so ist kein Zweifel, dass Virgil in Rom wie anderswo in
dem allerschlimmsten Gerüche der Zauberei stand. Aber älter als
in anderen Ländern ist diese römische Sage auf keinen Fall. Wenn
man bedenkt, wie sich diese Virgilsagen mit dem Namen Roms
vermischt hatten imd so in die zum Gebrauche der zahlreichen
Besucher der Stadt verfassten Führer übergingen, so begreift man,
dass dieser Umstand genügte, um auch die Römer mit einem
„Zauberer" Virgil bekannt zu machen und von den Letzteren oder
1) Dass sich der noch heute in Rom erhaltene Strassenname „Tor
de' specchi" auf den Wunderspiegel Virgil's beziehe, ist eine falsche An-
nahme von Keller, Hagen, Massmanu u. A. Gregorovius (Gesch. d. St.
R. IV, C29) vermuthet mit Grund, dass der Name von einer Familie
„De Speculo" oder „De' Specchi" herstamme, die hier ihre Burg hatte.
Wer freilich mit Erinnerungen an die Virgilsagen Rom besuchte, konnte
sich wol auch durch jene den Strassennamen erklären, und vielleicht
ist auch mit der „Spiegelburg", wohin eine deutsche Version das Locai
der Virgilerzählung verlegt, nichts Anderes als „Tor de' specchi" gemeint.
Vgl. Massmann, Kaiserchr. III, 454.
2) Montfaucon Diar. ital., 108.
3) Georg. Fabricius, Roma (1587) p. 21.
4) Von Gregor IX. im 13. Jahrb. zerstört (Vgl. Marangoni, Me-
moire deir Anfiteatro romano, p. 51.
5) S. V. d. Hagen, Briefe in die Heimath IV, 118. — Das Septi-
zonium Hess Sixtus V zerstören. Scuola di Virgilio heisst noch heute in
Neapel eine Oertlichkeit am Meeresstrande, wo ein Tempel der Venus
Eupleia oder der Fortuna gestanden haben soll. Ich weiss nicht, ob der
Name schon im Mittelalter existirt. In dem französischen Volksbuche
„les faits merveilleux de Virgile" wird eine Zauberschule Virgifs in
Neapel erwähnt, die vielleicht in Folge jener Oertlichkeit erfunden ist.
Ein in der Nähe wohnender Fischer erzählte einem Fremden, dass
Virgil hier dem Marcellus Unterricht gegeben habe. In der Cronica di
Pärteuope heisst Virgil in der That der Lehrer des Marcellus; und da-
durch erklärt sich wol zur Genüge jener Name, ohne dass man die An-
nahme nöthig hat, es sei „scuola" aus „scoglio" (Felsen) ent-
standen.
296 Virgil in der Volkssage.
den Fremden sein Name mit Oertliclikeilen und Denkmälern Rom's
in Beziehung gesetzt wiu'de. In der That findet sich auch in den
ältesten Handschriften der „Mirabilia urbis Eomae" (aus dem
zwölften Jahrhundert) zwar wol das „Martyrologium" d. h. „die
Fasti" des Ovid als Autorität citirt, nicht aber Virgil, und zwar
nicht einmal da, wo er bei der Geschichte von Octaviau und der
Sibylle als Prophet hätte genannt werflen müssen. Wenn Virgils
Name zu dieser Zeit schon an irgend einem Monumente gehaftet
hätte, so würden die Mirabilia gewiss davon gesprochen haben.
Aber erst nach der Verbreitung der Sage ging derselbe in die
Mirabilia über und wurde dann auch in Rom bekannt.
In einer Handschrift der Mirabilia aus dem dreizehnten Jahr-
hundert findet sich zuei'st bei Erwähnung des Viminali« folgende
Nachricht: „ von hier aus (d. h. vom Viminalis) ging Virgil,
als er von den Römern ergriffen ward, indem er sich unsichtbar
machte, nach Neapel; und daher stammt der Ausdruck „vado ad
Napulum." Diese rohe Etymologie bezieht sich auf eine noch heute
„Magnanapoli" genannte Strasse, auf welcher man zum Viminalis
emporsteigt. Zu Grunde aber liegt auch hier natürlich die Sage
von der Kiste und dem Auslöschen des Feuers. Wir sahen ja,
wie der letzte Theil dieser Erzählung von Alters her in Süditalien
bekannt war und zuerst auf den Zauberer Heliodor, dann auf
Virgil und Petrus Barliarius angewandt wurde; ebenso schrieb man
das, was auf jene Begebenheit folgte, schon dem Heliodor zu.
Dieser, so hiess es, habe, um sich der verdienten Strafe zu ent-
ziehen, vermittelst eines Stöckchens, ein Schiff mit Segeln und
Matrosen auf die Wand gezeichnet, dasselbe dann durch Zauberei
in ein wirkliches verwandelt und sei so nach Sicilien entflohen*).
1) Acta Ranct. Febr. Ili, 255. Nach einem lateinischen Texte bei
Du Meril (Mèi. p. 4.30) befreite sich Virgil dadurch aus dem Gctang-
nisse, dass er sich in einer Schüssel Wasser bringen Hess, darin unter-
tauchte und verschwand. Darauf geht vielleicht das „com de la conca
a saup cobrir", des Giraud de Calan(,on. In der Erzählung von Heliodor
kömmt dieses Factum zwei Mal ver: ,,ut autem aliata est (pelvis cum aqua)
continuo in cani se coniicit et ex oculis abit cum hoc dicto: salvus sis,
Imperator, quaere me Catanae." Und in der Sage von Barliario heisst
es p. 13:
„Venne Tora fatal che dee morire,
E al patiVjolo giunto immantinente
Già salito sul palco, s'udì dire:
Datem un poco d'acqua, amica gente.
Virgil in der Volkssage. 297
Ganz dasselbe soll auch Virgil, als er von den Römern zur Strafe
für den schlechten Stx-eich, den er dem Weibe gespielt hatte,
eingekerkert war, gethan haben, und auf dem Schiffe zugleich mit
allen anderen Gefangenen nach Neapel entflohen sein^). Diese,
übrigens auch auf Barliarius bezogene Erzählung^) finden wir end-
lich ausser in den Mirabilia auch in der von Bonamente Aliprando
i. J. 1414 verfassten, und nach ihm „Aliprandina" genannten Mau-
tuaner Chronik, von der wir jetzt zu sprechen haben, wieder.
Von den drei Städten, welche im Leben Virgils eine Rolle
spielen, hat für die Sage keine die Bedeutung wie Neapel erlangt.
Mantua, wo der Dichter sich doch wol nur kurze Zeit aufgehalten
haben wird, ist in der Beziehung ganz unproductiv geblieben. Man
Un vaso d'acqua ebbe apparire
Ma, prima che bevesse lietamente,
Signori di Palermo gli ebbe detto,
Jo vi saluto e a Napoli v'aspetto."
Hieraus erklärt sich ferner auch das „vado ad Napulum" Virgils in den
Mirabilia. In einer Erzählung von den 40 Vesiren (übersetzt von ßehrnauer
p. 23) taucht ein Scheik unter's Wasser und befreit sich so vom Tode,
indem er unmittelbar nach Damaskus versetzt wird.
1) Die Vorstellung von einem durch die Luft fliegenden Schiffe ist
den Volkssagen ganz geläufig. Man vgl. z. B. die russische Erzählung
„letuccii korabl" in der Sammlung bei Afanasieff, VI, 137 ff. und die
ebenda VIII, 484 ff", angeführten Beispiele.
2) „Preso un piccol carbone, a disegnare
Incominciò una barca in quell' istante;
Indi poi i compagni ebbe a chiamare
Che ponessero in quella le lor piante.
Ridevan quelli e pur per soddisfare
Il suo pensier, che a liberarli è amante,
Di sei eh' erano entrare un sol non vuole,
Perchè fede non presta a sue parole.
Ma lo sfotto n'avrà doglia e rancore;
La barca è presto in aria sollevata,
E se ne uscì dalla prigione fuore
Benché la porta fosse ben serrata;
Per l'aria se n' andava, o gran stupore.
Ed in parte lontana è già arrivata.
E come l'aurora i raggi sparse
Ognun di quei trovossi alle lor case."
VgL Orioli, Spighe e paghe (Corfù, 1845) III, 190.
(Pag. 18.
298 Virgil iu der Volkssagc.
vergass zwar im Mittelalter, wie wir au« Donizo^) sehen, nicht,
dass Virgil in Mantiia gehören war, und erwähnte auch einige
Oerter in der Umgegend Mantua's, die von ihm hewohnt oder be-
sucht worden sein sollten; allein dies stand doch nur mit den
vorhandenen biographischen Notizen über den Dichter in Verbindung
und schloss die Idee einer wunderbaren Thätigkeit desselben aus.
Wenn man ihm in Mantua eine Statue errichtete^), oder eine
Münze ^) mit seinem Bilde schlug*), so war das nur die Begeiste-
rung einiger gebildeten Einwohner der Stadt für den Dichter ; und
dies beweist auch jene in Terzinen abgefasste „Aliprandina^)". Die-
Roheit dieser Composition und der einfältige, darin zusammenge-
stellte Stoff lassen keinen Zweifel darüber, dass, wenn Mantua
1) „llaec tibi sint uota, Marouis dicitur aula
Hactenuä et sylva, per quam pasccbat ovillas,
Ast et Balista mous nascitur haue prope sylvam
In quo Virgilius titulum fecit lioc modo scriptum :
Monte sub hoc lapidum etc."
Doniz. Vit. Mathild. bei Muratori, Script, rcr. it. v. 360. Zum Nameu
Balista bemerkt Muratori: „nuuc appellatur Monte di Vilestra....
sed ÌOììge ante Vergilium ßalistac monti nomcu fuit."
2). Im 14. Jahrh. Carlo Malatesta, der sie iu den Mincio hatte, werfen
lassen, musste sie später wieder aufstellen. — Ob die Ueberlicferuug,
von der Key ssl er, Neueste Reisen p. 1016 spricht, und nach welcher
2 Miglien von Mantua die Grotte gezeigt wird, in der Virgil zu dichten
pflegte, alt ist, kann ich uicht sagen. Vgl. Burckhardt, Gultur der
Ken. 148. — Aeneas Sylvius besuchte, als er 1459 auf dem Congresso
von Mantua war, auch die „Villa di Virgilio". S. Burckhardt, a. a. 0.
lì. 181. Der Präsident De Brosses, welcher im vorigen Jahrh. nach Pie-
tola gereist war, um Dorf und Haus zu besuchen, in dem Virgil geboren
war, schreibt: „Je n'y vis autre chose qu'uue maison de ca,mpa,gne assez
propre où il n'est pas la plus petite question de Virgile. Jc demandai
aux gens du Heu pourquoi cette maison, portait le nom de Virgiliana,
lls me répondirent que ce nom lui venait d'un ancien due de Mantouc
qui ctait roi d'une nation qu'on appelle Ics Poètes et qui avait écrit
beaucoup de livres qu'on avait euvoyé en France." Colomb, Le Presi-
dent de Brosses en Italie. Paris 1809 p. 117.
3) Eine Abbildung dieser Münzen befindet sich auf dem Titelblatte
des Werkes.
4) üeher diese und ähnliche Münzen vgl. Zanetti Nuova raccolta
delle monete e zecche d'Italia, Voi. Ili, 249 ff. tav. XVII.
5) „ Aliprandiua, osia Chronica della città di Mantova di B u o n a m e n t e
Aliprando, cittadino Mantovano", bei Muratori, Antiqu. It. V, 1061
ff. Vgl. Cantù St. uuiv. II, 658 ff'.
Virgil in der Volkssage. 299
sagenhafte Ueberlieferungen iu Betreff des Dichters aufbewahrt
hätte, der Verfasser dieselben eifrigst verzeichnet haben würde.
Er spricht indessen von Virgil nur als von einem „Ruhme Man-
tuas." In der Biographie des Dichtei'S, die er theils aus Donat,
theils aus den damals bekannten, aber Mautua fremden Virgilsagen
zusammengestellt hat, erwähnt er Vater und Mutter Virgils, den
verhängnissvollen Traum, welchen letztere' von der Geburt des
Kindes hatte, und fährt dann fort:
„La donna fece l'animo giocondo
E quando venne lei al partorire
Nacque il figlio maschio tutto e tondo."
Darauf spricht er von dem Aeusseren Virgils, seinen Studien und
Werken, so wie vom Verluste seiner Landgüter, die er aber wieder-
erlangte, nachdem Octavian die berühmten Verse „Nocte pluit tota"
kennen gelernt hatte. Auf die Erzählung von der Prophezeihung
Christi folgt das Abenteuer mit dem Korbe, die Hache, Gefangen-
schaft und Befreiung des Dichters, Alles in der bekannten Weise der
Sage. Femer heisst es, dass Virgil, als er sich eben auf Reisen
befand, einen Geist ausschickte, um ihm vom Tische Octavians
Essen zu holen, imd dass dieser, da er das Essen verschwinden
sah, ausrief:
„Virgilio questo ha fatto fare;
E della beffa rallegrò la mente."
Dieselbe Geschichte wird übrigens auch von anderen Zauberern
erzählt und findet sich in dem Volksbuche von Barliarius wieder^).
Von den Wunderwerken Virgils kennt Aliprand nur die broncene
Fliege, welche sich nach ihm in einem Glase befinden soll, so wie
das „Castel dell' ovo", das Virgil im Meere erbaut habe; dazu
fügt er schliesslich noch eine von Virgil für die Neapolitaner ge-
,,Si vide in quella grotta immantinenti
Circondare di lumi la parete,
E una mensa si vide apparecchiata,
Di preziose vivande era adornata.
Cena Pietro con gli altri carcerati,^
Ed era ognun di maraviglia pieno,
E sazi dalli cibi che portati
Fur dagli spirti in quell' oscuro seno etc."
300 Virgil iu der Volkssage.
schaifene Oelquelle ^) hinzu. Der Tod Virgil's wird nach Donat
erzählt, und nachdem der Verfasser einige Bemerkungen über
des Dichters Grab gemacht hat, schliesst er mit folgendem Meister-
stück der Beredtsamkeit, einer Leichenrede, die er den Octavian
halten lässt:
„Di scienza ò morte lo più valente
Non credo che nel mondo il simil sia.
Prego Dio che grazia gli consente.
Che l'anima sua debba accettare;
Le sue virtudi non m' usciran di mente
Ben mi dolgo. Non posso io altro fare."
Trotz dieser schönen Eede und trotz seiner Weissagungen von
Christus gilt Aliprand's Virgil aber doch als ein Zauberer vom rein-
sten Wasser, steht mit Satauas im Bunde und ist im Besitze des
unvermeidlichen Zauberbuches. Als er nach seiner Flucht aus Rom
nach Neajiel gekommen war, bemerkte er, dass er dies Buch ver-
gessen habe, und sandte sofort seinen Zögling Milino nach Rom -),
um es zu holen, jedoch mit der ausdrücklichen Weisung, es nicht
zu öffnen, was natürlich so viel war, als wenn er gesagt hätte :
öffne es! So that denn auch Milino, und alsbald erschienen eine
Menge Geister vor ihm, die schrieen: „Was willst du, was willst
du?" Um sie los zu werden, befahl er ihnen endlich, sie sollten
die Strasse von Rom nach Neapel pflastern. — Diese Erzählung
ist eine einfache Erweiterung der uns bereits bekannten Sage von
der Grotte Pozzuoli, wie sie denn auch in der That von Felix
Hemmerlin, welcher 1426 Neapel besucht hatte, auf jene Grotte
bezogen wird^). Mit einigen leichten Varianten findet sie sich dann
1) Nach der Sago strömte aus dem einen Bein der in Sicilien (von
Olympiodor erwähnten) befindlichen Statue Wasser, aus dem anderen
Beine immer brennendes Feuer. So glaubten auch die Byzantiner, dass
aus den drei Köpfen der Schlangen am Dreifuss an Festtagen Wasser,
Wein und Milch hervorsprudele. S. Bondelmonti, Liber insularum (ed.
De Sinn er) p. 12.3.
2) Milin d. h. Merlin; auch die Formen Mellin, Merilin, Merilian,
Merleg u. s. w. kommen vor, wie man Virgil besonders iu Deutschland
in Filius, Filias, Filigus verwandelte. Jacob v. Königshofen (14. Jahr-
hundert) spricht von dem grossen Meister Virgilius, den die Laien Fi-
lius nennen." Vgl. v. d. Hagen, Gesammtab. III, p. CXLIII.
3) De nobilitate, cap. 2. Vgl. Roth, a. a. 0. p. 262.
Vìrgil in der V^olkssage. 301
bei Heinricli von Mügliu (14, Jalirh.) wieder^), und oline Zweifel
spielt auch Fazio degli Ubeiii in seinem „Dittamondo^j" da, wo
er seine Reise von Rom nach Neapel beschreibt, dai-auf an:
„quella fabbricata e lunga strada
che di Virgilio fa parlare assai."
Die Vermischung der Sage aber mit den historischen Notizen
bringt uns endlich auf die Biographie des Donat zu sprechen. Die-
selbe enthält, wie bereits im ersten Theile bemerkt ist^), vex'-
schiedene Intei^polationen rein literarischer wie volksthümlicher
Art. Was darin mit der historischen Persönlichkeit des Dichters
nicht übereinstimmt, beschränkt sich auf eine Erzählung, in welcher
Virgil als ein Weiser auftritt und besonders vor Augustus seine
Kirnst als Pferdedoctor geltend macht. Gewöhnlich bestand die Be-
lohnung, welche ihm der Kaiser gab, in Brod, und Virgil wurde
also wie ein einfacher Stallknecht behandelt. Als er nun eines
Tages richtig herausgebracht hatte, von welchen Eltern ein Pferd
abstammte, gedachte Augustus, der über seinen eigenen Ursprung
einige Zweifel hegte, das Talent des Dichters auf die Probe zu
stellen, und fragte, von wem er denn abstamme: „Von einem
Bäcker" erwiederte Virgil, „denn das sehe ich daraus, weil du mir
immer Brod gibst." Jedermann begreift, dass es sich hier nur um
einu schlagfertige, witzige Antwort handelt, die aber mit dem
Zauberer Vü-gil gar Nichts zu thun hat. Roth vermuthet, dass diese
Erzählung in Italien in die Biographie etwa von einem Neapoli-
taner aus der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts hineinge-
bracht sei; allein der Zusatz wird wol jünger sein. Roth selbst
bemerkt ja, dass derselbe sich in Donathandschriften, die älter als
das fünfzehnte Jahrhimdert sind, noch nicht findet. Dieselbe Anek-
dote wird im Novellino (2. Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts)
einem griechischen Weisen zugeschrieben'*) und findet sich auch in
1) Germania, V, 371: Kaum öffnete Virgil das Buch, so umgaben
ihn 80,000 Teufel, die nach seinem Befehl fragten:
„Er sprach: vart in den grünen walt,
Und macht mir palt
Eine gute straz, das man darnach
niuge varen und euch riten."
2) Lib. III, cap. I, V. 5.
3) Cap. 10.
4) Vgl. auch Papanti, Catalogo dei novellieri in prosa, I,
p. XV tf.
302 Virgil in der Volkssage.
Tausend uud eine Nacht ^). Dazu kommt noch, class Alipraud, der
doch die Biographie des Donat so stark benutzt liat, die Begeben-
heiten nicht erwähnt, und dass diese überhaupt von keinem
anderen Schriftsteller vor dem fünfzehnten Jahrhundert auf Virgil
bezogen wird ^). Jedenfalls nimmt sie in der Biographie, deren Zu-
sätze fast nur literarischen Ursprunges sind, eine ganz vereinzelte
Stellung ein, und man kann viel eher sagen, dass die Biographie
von Schriftstellern, welche Virgilsageu behandelten, benutzt worden
ist, als umgekehrt, dass sie Elemente der Sage in sich aufge-
nommen hat. In einigen anderen lateinischen, meist zum Schul-
gebrauche bestimmten Biograjibien des Dichters aus der letzten
Zeit des Mittelalters, z. B. in der auf S. 129 citii-ten, Avird da-
gegen Virgil Zauberer, Arzt und Astrolog genannt, und zugleich
sein wunderbares Werk der „Salvatio Romae" erwähnt^
Jedenfalls wird der Leser überzeugt sein, dass die Virgilsage
in Italien niemals die Ausdehnung wie in anderen Ländern ange-
nommen hat. Eigentlich geläufig scheint den Italieneni nur die
Erzählung von der Kiste gewesen zu sein , die ja in ganz Europa
verbreitet war, aber gewiss einen anderen Ursprung als der übrige
Theil der Virgilsage hatte. Der teuflische Zauberer Virgil ist eine
Figur, die in Italien dui'chaus nicht von der Sage so scharf aus-
geprägt ward, wie anderswo. Selbst im vierzehnten Jahrhundert
wusste Caracciolo über Virgil noch nicht viel mehr, als das, was
man schon in Neapel erzählte, bevor sich die Sage in Europa
verbreitete. Boccaccio kennt nur einige Züge der neapolitanischen
Volkssage; Aliprand hat noch im Anfange des fünfzehnten Jahr-
hunderts nur eine sehr unbestimmte und widerspruchsvolle Vor-
stellung vom Zauberer Virgil und weiss sehr wenig von doi- Volks-
sage überhaupt. Weder Caracciolo noch Aliprand verlieren dagegen
1) Nacht 459 in der Ausgabe von Habicht und v. d. Hagen.
2) AmjDcre (L'empire romain à Rome I, p. 351 f.) glaubt, dass die
Anekdote mit dem 1838 wieder eutdeckteu Grabmal des Bäckers 1\I. Vir-
gilius Eurysaces vor Porta Maggiore iu Beziehung stehe, und dass dieses
selbst dem Dichter Virgil fälschlich zugeschrieben sei. Dies ist jedoch,
abgesehen von anderen Gründen, schon deshalb unmöglich, weil man
dann annehmen müsstc, dass jene späte Interpolation zu den Zeiten Do-
nats selbst, der kurz vor Honorius lebte, gemacht sei, während das
Denkmal eben durch die Bauten, die gewiss aus den Zeiten des Honorius
stammen, verdeckt wurde.
Virgil in der Volkssage. 303
je die liistorisclie Persönliclikeit des Dicliters Virgil aus den Augen.
Im sechzehnten Jahrhundert aber stellt sich uns eine Thatsache dar,
welche beweist, wie wenig in Italien die Berührung des Dichters
mit jenen Fabeleien Anklang fand: Der anonyme Verfasser der
„Compassionevoli avvenimenti di Erasto", welcher in seiner Be-
arbeitung des „Romaii des sept Sages" sowol von d*em unauslösch-
lichen Feuer wie dem Wunderspiegel spricht, unterdrückt bei diesen
Erzähhmgen geradezu den Namen Virgils und nennt „Rodi" an
Stelle „Roms". Jene Erzählungen konnten um so weniger in Italien
gefallen, da gerade damals die klassischen Studien wieder aufzu-
blühen begannen. Indem man sich tiefer in das Wesen der alten
Schriftsteller versenkte und von der blinden, traditionellen Bewun-
derung frei machte, musste der Schimmer der Sage erlöschen, mit
welchem das Mittelalter die Namen der alten Autoren umgeben
hatte. Da die Italiener die Ersten waren, unter denen das Licht
der Wissenschaften wieder aufging, so wagten auch die Virgil-
sagen nicht tiefer in das Land einzudringen, sondern fristeten nur
i^i einigen Gegenden unter dem Schutze des Aberglaubens oder
der possenhaften Dichtung ein kümmerliches Dasein.
Zehntes Capitel.
Nachdem die Virgilsage in den verschiedenen Ländern die
geschilderte Ausbildung erfahren hatte, wurde sie schliesslich noch
in einer weitläufigen Biographie des Dichters zusammengefasst,
und zwar in der Lütticher Chronik von Jean d'Outremeuse unter
dem Titel „Myreur des histors^)". Diese Chronik ist eine Zu-
sammenstellung aus den verschiedensten, theils genannten, theils
ungenannten Schriftstellern (bis zum vierzehnten Jahrhundert) und
besonders enthält der auf die alte Geschichte bezügliche Theil der-
selben ein wunderbares Gemisch zahlloser Sagen und Phantastereien.
Die Biographie Virgils wird hierselbst mehr als ein Mal von Er-
zählungen ganz anderer Art unterbrochen; denn der Autor wollte
nicht vei-gessen, dass das erste Gesetz für einen Chronikschreiber
die Zeitfolge der Thatsachen sei, die er freilich, wo sie nicht vor-
handen ist, schnell erfindet. Abgesehen aber von den Daten,
welche die Sage mit anderen Bestandtheilen des Werkes in Ver-
1) ,,Ly myreur des histors ckronique de Jeau des Preis dit d'Outre-
meuse publiée iDar Ad. Borgnet, Bruxelles. 1864. Vgl. Lieb recht iu
Pfeiffer's Germania X, 408 ff.
304 Virgil iu der Volkssage.
Linduug bringen, scheint diese Biographie doch eine vom Ver-
fasser vorher besonders ausgearbeitete Schrift gewesen zu sein, die
ihres sonderbaren Charakters wegen in mehr als einer Hinsicht
unsere Aufmerksamkeit verdient.
Besonders hatte der Verfasser der Chronik den Text der „Image
d\i monde" sowie andere französische und lateinische Texte, welche
von den Wunderthaten Virgils erzählten, vor Augen, suchte aber
.^0 viel Sagen als möglich zusammenzubi-ingen, indem er oft so-
gar aus mehreren Versionen einer Sage verschiedene Erzählungen
machte^). Dazu fügte er selbst neue Sagen hinzu oder entwickelte
alte weiter. Vor den Notizen aus Donat hat er sich wolweislich
gehütet xmd ist überhaupt bemüht, die Vorstellung von einer
wirklich historischen Persönlichkeit des Dichters so fern als mög-
lich zu halten. Virgil erscheint nun aber bei ihm vornehmlich
unter drei Gesichtspimcten : er ist entweder Zauberer, Prophet oder
„homme galant". Da der Verfasser ohne Zweifel die Dichtungen
der Alten sowie die Vii-gilbiographien gut kannte und seine No-
tizen aus allen möglichen Werken zusammentrug, so kann er die
historischeu Thatsachen nur mit Absicht ausgeschlossen haben, wie
er denn wirklich die sagenhafte Figur Virgils in einer bis dahin
noch nicht dagewesenen Weise übertrieben hat.
Der Ort der Begebenheiten bleibt auch bei Jean d'Outremeuse
Rom oder Neapel; aber Virgil selbst ist kein Italiener, sondern
der Sohn eines Königs von Bugie (in Libyen), Namens Gorgilius.
Nachdem er auf Abenteuer ausgegangen war, gelangte er in das
Reich der Lateiner, deren König, ein Onkel des Julius Caesar, ihm
so viel von Rom vorredete, dass er beschloss, selbst dorthin zu
gehen. Allein wir verzichten darauf, dem Leser die ganze Masse
iler sonderbaren und plumpen Erfindungen der Biographie vorzuführen,
und begnügen uns mit einigen allgemeinen Bemerkimgen, welche
den Zusammenhang derselben mit den bereits geschilderten Sagen
erkennen lassen.
1) Im Cleomadès heisst es z. B., dass Virgil in Rom vier Statuen
verfertigte, welche die Jahreszeiten vorstellteu und sich einander je
nach dem Ablauf einer Jahreszeit einen Apfel zureichten. Dagegen er-
wähnt der „Roman des sept Sages'' nur zwei Statuen, welche den Ueber-
gang von einer Woche zur anderen anzeigte. Jean d'Outremeuse
aber schreibt dem Virgil vier Statuen für die Jahreszeiten, zwei für die
Wochen und ausserdem noch zwölf andere für die Monate zu. Von
letzteren spricht auch Jean M ansei in „La Fleur des histoires"; vgl.
Du Meril, Mt-1. p. 440.
Virgil in der Volkssage. 30ö
Zur Charakteristik des Zauberers Virgil Hesse sich eigentlich
kaum noch etwas hinzufügen; was sich bei Jean d'Outremeuse
als neu vorfindet, beschränkt sich auf die Erzählung von luxu-
riösen Gastmälern, welche Virgil gab, and wobei er die Einge-
ladenen mit Hilfe seiner dienstbaren Geister durch wunderbare
Spiele und lächerliche Spässe ergötzte^).
Dagegen verstand es Jean d'Outremeuse die Vorstellung vom
Propheten Virgil, die ja ihrem, eigentlichen Ursprünge nach nicht
volksthümlich war, sondern es erst wurde, weiter zu entwickeln.
Mit der Sage vom Zauberer Virgil hat sich diese Idee nur wenig
berührt^); erst Jean d'Outremeuse wusste aus der Zusammen-
stellung beider Elemente Capital zu schlagen und noch weiter
zu gehen, als alle die, welche vor ihm des Propheten Virgil
gedacht hatten. Er erwähnt zwar bei seiner Scheu, die er vor der
historischen Persönlichkeit des Dichters hat, weder die Sibylle noch
die betreffenden Verse Virgils, lässt aber den Dichter nicht nur
vor Römern, sondern auch vor Aegyptern lange Reden über die
Ankunft, Christi halten, Leben und Sterben des Heilandes auf das
genaueste auseinandersetzen, und die Einheit Gottes, die Dreieinig-
keit und alle Glaubensartikel auslegen, sodass dadurch viele Heiden
sich zu dem Glauben bekehrten, der künftig in die Welt kommen
sollte. Virgil bleibt darum freilich immer der grosse Zauberer;
aber sobald ihm jener berühmte Kopf sein nahes Ende voraussagt, da
jagt er alle seine bösen Geister zum Teufel, beugt sich vor Gott
indem er das Glaubensbekeuntniss ablegt, schreibt schnell ein Buch
über die christliche Lehre, gibt noch ein herrliches Abschiedsessen
zur Bekräftigung seines neuen Glaubens und lässt sich provisorisch
taufen. Schliesslich macht er sich zum Sterben bereit, indem er
ein theologisches Buch vornimmt und sich auf einen prächtigen
Stuhl setzt, in welchen er mit eigner Hand alle Begebenheiten
des neuen Testamentes von der Verkündigung bis zur Himmel-
fahrt eingemeisselt hatte. Und so blieb er sitzen mit dem Anscheine
1) Albertus Magnus liess vor seinen Gästen den Frühling inmitten
des Winters erscheinen, und ähnliche Geschichten wusste auch das Alter -
thum vom grossen Zauberer Pases. Vgl. Suidas, s. v. nccai]g und
Friedlaender, Darst. d. Sitteng. I, 364.
2) So ist sie z. B. der neapolitanischen Sage ganz fremd, was um
so auffälliger ist, da doch abgesehen von der Nähe von Cumae, den
Neapolitanern die Sibylle auch durch die berühmte Grotte bekannt
genug war.
Comparetti, Virgil im Mittelalter. 20
306 Virgil in der Volkssage.
des Lebens, bis der h. Paulus kam und ihn beim ^Mantel zupfte,
worauf Virgil in Asclie zerfiel. Der Apostel fing nun an, bitter-
lich zu weinen, weil er vermuthete, Virgil sei als Heide gestor-
ben, allein er kam zu seinem Tröste bald von seinem Irrthum
zurück, da er das Buch erblickte, welches der Dichter hinter-
lassen hatte.
Jean d'Outremeuse ist es auch gelungen, das Abenteuer von
der Kiste, welches die Grundlage des ,, galanten Theils" der Bio-
graphie bildet, zu erweitern und zu modificireu: Wenige Weiber
waren je so verliebt in Virgil gewesen, als die schöne Phoebilla,
die Tochter Julius Caesars, obwol sie den Dichter noch nicht ein-
mal gesehen hatte. Ohne viel Rücksicht auf ihren Stand zu nehmen,
Hess die kaiserliche Dame Virgil zu sich rufen und erklärte ihm
frisch von der Leber weg: „Sire Virgile, dites-moy se vos aveis
amie; car se vos me voleis avoir, je suis vostre por prendre à
fem me ou estre vostre amie; s'il vos plaiste." Virgil entgegnete,
dass er augenblicklich nicht gesonnen sei, sich zu verheirathen,
aber dass er sie wol lieben wolle, wenn es ihr so gefiele, und so
ward denn rasch das unerlaubte Verhältniss angeknüpft. Uuter-
dess verrichtete Virgil immer grössere Wunder, aber je mehr sein
Ruhm wuchs, desto eifriger begehrte Phoebilla sein rechtmässiges
Weib zu werden. Jedesmal jedoch, wenn sie diese Saite berührte,
sagte Virgil, dass er an andere Dinge zu denken habe, „ilh moy
convient penser à outres chouses," dass ihm seine Studien nicht
erlaubten , ein Weib zu nehmen , aber dass , wenn er doch einmal
eines Tages auf den Gedanken käme, er sie gewiss allen anderen
Frauen vorziehen werde. Allein die Tage vergingen, und Virgil
blieb unerbittlich. Endlich ward es die Prinzessin müde, so zum
Narren gehalten zu werden und verfiel deshalb auf den Gedanken,
dem Virgil einzureden, ihr Vater habe Alles entdeckt und drohe mit
furchtbaren Strafen, Virgil musste natüi-lich diesen Betrug durch-
schauen und sagte ihr, solches Geschwätz möge sie anderen er-
zählen, er wolle nun einmal nichts von der Ehe wissen, aber
wenn sie sich weiter lieben lassen wolle, so könne es beim Alten
bleiben. Da ergab sich Phoebilla scheinbar wieder in ihr Schicksal,
sann jedoch heimlich auf Rache. Sie gab vor, dass der Vater, um
das Verhältniss abzubrechen, sie in einen Thurm einsperren wolle,
und machte dem Virgil den Vorschlag, sich in eine Kiste durchs
Fenster emporziehen zu lassen; und hier folgt nun das bekannte
Abenteuer, nur mit dem Unterschiede, dass Jean d'Outremeuse,
der wol bemerkt hatte, wie der zweite Theil der Geschichte schlecht
Virgil in der Volkssage. 307
zu dem ersten stimmte, den Widerspruch künstlich beseitigte: Virgil
durchschaute nämlich die List, sagte zwar zu, aber setzte in die
Kiste einen Geist, der ihm ganz ähnlich war. Dieser spielte auch
seine Rolle ganz vortrefflich, bis der Tag anbrach. Da zog der
Kaiser heran, um den gottlosen Verführer seiner Tochter zu be-
strafen, und gab zunächst dem vermeintlichen Virgil mit seinem
Schwerte einen heftigen Schlag auf den Kopf, aber erschrak nicht
wenig, wie er aus der Wunde anstatt Blut stinkenden Qualm
hervorgehen sah, welcher so dicht wurde, dass die Römer im
Dunkeln dastanden, als wäre es stockfinstere Nacht.
Virgil reiste darauf sofort von Rom ab, und nahm das Feuer
mit sich, Hess sich aber durch die Bitten des Kaisers und Volkes
versöhnen, freilich nicht, ohne an der armen Phoebilla noch sein
Müthchen zu kühlen. Er bewirkte nämlich, dass alle Frauen, die
sich in einem bestimmten Tempel befanden, auf einmal alle ihre
Geheimnisse ausplaudern mussten, und natürlich hatte auch Phoe-
billa mancherlei zu erzählen. Inzwischen starb Julius Caesar, und
es folgte ihm Octavian, ohne auf die Ansprüche zu achten, die
Caesars Frau an den Thron machte. Dieselbe verband sich des-
halb mit Phoebilla, und Beide versuchten sich Octavians wie seines
Helfershelfers, Virgils, zu entledigen. Allein letzterer sah Alles
voraus und brachte es durch seine Zauberkunst dahin, dass die
Frauen, ia der Meinung, Octavian und Virgil zu tödten, zwei grosse
Hunde umbrachten. Da Virgil erfuhr, dass die beiden Schuldigen,
die er hart zu bestrafen gedachte, sich mit Hilfe des Senates ent-
fernt hatten, ward er so zornig, dass auch er Rom für immer
verliess und das Feuer mit sich nahm, das sich die Römer später
von der Phoebilla wieder holen mussten, die dabei vor Scham uud
Wuth starb. Hier hören nach dem „Mii-oir des histors" die Be-
ziehungen Vii-gils zum weiblichen Geschlechte auf. Von der „Bocca
della Verità" spricht Jean d'Outremeuse auch, ohne jedoch die
darauf bezügliche Anekdote zu erwähnen.
Die Chronik, aus der wir diese Notizen entlehnt haben, war
indessen zu umfangi-eich und wenig bekannt, als dass diese Zu-
sammenstellung auf die Virgilsage selbst einen folgereichen Ein-
fluss hätte ausüben können. Und so hat denn auch das wahr-
scheinlich in Frankreich entstandene^) Volksbuch, welches von
1) Görres, (Die teutschen Volksbücher, 228) verwechselt den Ur-
sprung der Sage mit der Herkunft des Buches, wenn er sagt, dass dies
20*
308 Virgil in der Volkssage.
Virgil handelte und vom sechzehnteu Jahrhundert au in Europa
bekannt war, mit der Darstellung des Jean d'Outremeuse nur
wenig gemein. Handschriften davon sind nicht erhalten; auch wird
die Abfassung nicht lange vor Erfindung der Buchdruckerkunst
Statt gehabt haben. Die älteste Version findet sich in der Ausgabe
aus dem Anfang des sechzehnten Jahrhunderts unter dem Titel:
„Les faits merveilleux de Virgille", die eben so selten ist wie zwei
siJätere moderne'). Das Buch war so populär, dass man es in das
Englische^), Holländische^) und Deutsche'*) übertrug. Eine islän-
"lische Uebersetzung ist noch unedirt'^). Die dabei voi-komraenden
Variauten sind ganz unwesentlich.
in Italien verfasst sei. Unsere Beobachtungen haben gezeigt, dass dies
nicht möglich ist.
1) Bruuet (Manuel, II, 1167 f.) beschreibt fünf Ausgaben, von denen
die weniger alte nach 1530 gedruckt ist. Die Ausgabe von Wilhelm
Nyverd ist in einigen Exemplaren facsimilhrt von Techener (Paris
1831) und Pinard 1831. Ein moderner Nachdruck trägt den Titel: Les
faits merveilleux de Virgille, réimpression textuelle de Féditiou sans
date, publiée à Paris, chez Guillaume Nyverd; suivie d'une notice
bibliographique par Philomneste Iunior. Genève. Gay et fils 1867.
2) ,,This boke treatethe of the lyfe of Virgilius and of his death,
and many maravayles that he dyd in his lyfe tyme by witchcraft and
nigromansy, thorough the help of the devylls of hell. Emprynted in
the cytie of Anwarpe by me John Doesborcke." 4. 30 SS. mit Holz-
schnitten. Utterson Hess das Buch zu London wieder auflegen. Abge-
druckt bei Thoms ,,Early english prose romances" Lond. 1828 (2. Ausg.
Lond. 1858). No. 2; übersetzt von Spazier, , Altenglische Sagen und
Märchen" hrsg. v. William Thoms, deutsch und mit Zusätzen.
Braunschweig 1830. I. 73 fi'. Vgl. Wright, „Narratives of sorcery and
magic." Lond. 1851. I, 103 fi".
3) „Eeu schone Historie van Virgilius van ziju Leuen, Doot, ende
van zijn wonderlijke werken, di hy deede by Nigromantien , ende by
dat behulpe des Duyvels." Amsterd. H. S. Muller. 1552. Ueber diese
Version, welcher die enghsche Redaction zu Grunde liegt, s. Gör res.
Die teutschen Volksbücher p. 225 fi', und Van den Bergh, De Neder-
landsche volksromans. (Amst. 1837) p. 81 ff". Deutsch übersetzt bei v. d.
Hagen, „Erzählungen und Märchen" I, 153 ff. und bei Scheible, Das
Kloster II, 129 ff.
4) Von der von Simrock „die deutschen Volksbücher" (Frkf. a. M.
VI, 1847, p. 323 fi.) angeführten „deutschen" Version, der übrigens ein
holländischer Text zu Grunde liegt, sind mir keine alten Ausgaben be-
kannt und werden auch von Simrock keine erwähnt.
6) Diese isländische Uebersetzung, welche 1676 nach einem hollän-
dischen Texte angefertigt ward, befindet sich zu Kopenhagen; s. Half-
Virgil in der Volkssage. 309
Die „Faits merveilleux" unterscheiden sich in mehrfacher Hin-
sicht von der umfänglichen Darstellung des belesenen Jean d'Outre-
meuse, zunächst, insofern ihnen die Vorstellung vom Propheten
Virgil abgeht, ferner aber, indem sie eine Menge der von Jean
d'Outremeuse berichteten Geschichten von den Talismanen über-
springen und dafür andere Pai-tieen der Sage mit grösserer Freiheit
behandeln.
Das Buch beginnt mit einer auf die Gründung Roms und
Rheims' bezüglichen Legende, die uns auch unabhängig von der
Virgilsage in dem Romane „Atis et Pi-ofilias'") begegnet. Virgil
ward als der Sohn eines Ritters von den Ardennen bald nach der
Gründung Roms geboren; als er auf die Welt kam, zitterte ganz
Rom. Während er zu Toledo studirte, erfuhr er, dass man die
Güter seiner Mutter usurpirt hatte, imd eilte sofort, von ihr ge-
rufen, nach Rom. Da er indessen vom Kaiser kein Recht erlangen
konnte^), verfolgte er seine Feinde durch Zauberkünste; selbst
der Kaiser, der ihn in seinem Schlosse angriff, wurde von ihm
gezwungen, vom Kriege abzustehen und ihm die Güter wieder
herauszugeben. — Der Leser der ersten Ecloge Virgils wird sofort
bemerken, dass dieser Zusatz auf der Ueberlieferung einer alten
biographischen Notiz beruht. Das Abenteuer mit der Kiste wii-d
dann ohne die Erweiterungen, die dasselbe bei Jean d'Outremeuse
erfahren hatte, berichtet. Dafür aber treten zu demselben, wie zu
der Anekdote von der „Bocca della verità", die sich übrigens
hier in den Kopf einer ehernen Schlange verwandelt, zwei Zusätze,
welche dem Buche völlig den Charakter eines Romans geben.
Virgil hatte nämlich unter anderen nützlichen Dingen für die
Stadt Rom auch eine Statue angefertigt, welche, in der Luft
schwebend und von allen Punkten der Stadt sichtbar, die Fähigkeit
besass, von jedem Weibe, wenn es ihrer ansichtig ward, alle un-
keuschen Gedanken fern zu halten^). Das schien indessen nicht
dan Einarssou, Hist. litt. Isl. 108. Nyerup, Dan. Volksb. p. 203.
Müller, Sagabibl, III, 484.
1) Du Mèrli, Mélanges, 426.
2) Der römische Kaiser war nach der Erzählung der auch in den
Mirabilia vorkommende Persis. Nach dem „Roman des sept Sages"
lebte Virgil zur Zeit des Servius, nach einem Capitel der Gesta Roma-
norum zu der des Titus, und nach einem anderen Capitel derselben Gesta
zur Zeit des Darius. Hans Sachs versetzt ihn gar in die Zeiten Arthurs
und nach Brittannien.
3) In einer französischen Geschichte der Pisaner aus dem löten
310 Viigil in der Volkssage.
uach dem Geöchniacke der Rönierinneii zu sein, und sie baten des-
halb die Frau Virgils, die Statue zu vernichten. In der That ge-
lang es jener, als ihr Mann gerade abwesend war, sich einer von
ihm verfertigten wunderbaren Brücke zu bedienen und die Bild-
säule herabzuwerfen. Virgil kehrte zurück, ward sehr zornig und
stellte die Statue wieder auf ihren Platz. Als das Weib, von den
Römerinnen aufgefordert, einen zweiten Versuch wagte, wurde sie
von ihrem Manne dabei ertappt und der Bildsäule in den Fluss
nachgeworfen. Allein durch diese Begebenheiten war Virgil doch
so muthlos geworden, dass er darauf verzichtete, gegen die Arglist
der Weiber zu kämpfen: „pour bien je l'avoy faite (nämlich die
Bildsäule): mais plus ne m'en meslerai et faient les dames à leur
voulenté ^).
Die darauf folgenden Anekdoten haben nicht mehr den Zweck,
das schöne Geschlecht zu schmähen:
Virgil, welcher an seine erste Frau nicht lüehr denken mochte,
hatte von einer wunderschönen Tochter des Sultans von Babylonien
gehört. Schnell wie der Blitz nahte er sich ihr, verführte sie und
brachte sie mit sich nach Rom. Als das Fräulein jedoch Neigung
Jahrb., die in eiuem Berner Codex erhalten ist, werden zwei von Virgil
verfertigte und in der Kathedrale voii Pisa befindliche Säulen erwähnt,
auf denen jedesmal das Bild dessen erscheine, der gestohlen oder Ehe-
bruch getrieben habe. Vgl. De Sinner, Catal. codicum mss. bibl. Ber-
nensis 11, 129; Du Méril, Mei. 472. Ganz im Widerspruch mit diesen
Erzählungen steht freilich, was Enenkel in seinem Weltbuche erwähnt,
dass Virgil für die Römer eine künstliche öffentliche Dirne verfertigt
habe. Vgl. v. d. Hagen, Gesammtabenteuer II, 515; Massmann,
Kaiserkr. 111, 451. Das Gleiche wird in einer rabbinischen Legende be-
richtet; vgl. Praetor ins, Anthropodemos pluton. 1, 150 und Liebrecht
in der „Germania" X, 414. Vielleicht erklärt sich die Sage durch die
in den Mirabilia erhaltenen sonderbaren Worte: „femina circumdata ser-
pentibus sedens et habens concham ante se, significat Ecclesiam multis
scripturarum voluminibus circumdatam quam quicumque audire voluerit
non poterit nisi prius lavetur in concha illa." In mehreren Handschriften
ist diese Stelle verdorben, wenn es heisst: „femina circumdata serjjentibus
sedens habens concham ante se (signat) ijudicatores qui pudicabant eam,
ut quicumque ad eam ire voluerit non poterit nisi prius lavetur in concha
illa." Graesse, Beitr. p. 8 und p. VIII; vgl. auch „Graphia aureae
mrbis Romae" bei Ozanam, Docum. inéd. 170.
1) Im französischen Romane vom h. Graal hat Hippokrates eine Frau,
die ihn so betrübt, dass er deswegen stirbt. Es lässt sich überhaupt
zwischen dieser Erzählung und der von Virgil eine Parallele ziehen. S.
Pauli u Paris, Les romans de la table ronde, I, 267 ff.
Virgil in der Volkssage. 311
zeigte, wieder zu ihrem Vater zurückzukehren, sichaffte sie Virgil
wieder sofort zu diesem und kehrt nach Rom zurück. Der Sultan
fragte die Tochter, wo sie gewesen, imd diese gestand ihr Erlebuiss,
ohne aber den ihr unbekannten Namen des Verführers anzugeben.
„Wenn er wiederkömmt", sagte der Sultan, „so bitte ihn, dir
einige Früchte aus seinem Lande zu geben." Das that die Tochter,
und so wusste der Sultan, aus welchem Lande Jener gekommen
war. „Wenn er wiederkömmt", sagte der Sultan abermals, „so
gib ihm zuei-st einen Schlaftrunk, damit wir wissen, wer er ist."
Der wahre Grimd war jedoch der, dass er den Verführer fangen
und bestrafen wollte. Es gelang ihm auch, Virgil ward mit der
Prinzessin ins Gefänguiss geworfen, und Beide wurden verurtheilt,
lebendig verbrannt zu werden. Aber am Tage der Hinrichtung
erweckte Virgil den Schein, als ob der Fluss aus seinen Ufern
träte, worauf Alle begannen, in ihrer Todesangst die Bewegungen
des Schwimmens zu machen, ünterdess erhob der Zauberer sich
und seine Schöne in die Lüfte und brachte sie nach Rom. Als
es sich nun darum handelte, ihr einen Mann und eine reiche Mit-
gift zu verschaffen, gi-ündete Virgil für sein Weib die Stadt Neapel,
die so schön war, dass der Kaiser, welcher neidisch geworden war,
sie belagerte. Aber Virgil zwang ihn durch seine Zauberkünste,
sich zurückzuziehen, und das Fräulein heirathete nun einen adligen
Spanier, welcher Virgil bei der Vertheidiguug der Stadt beige-
standen hatte ^). In Neapel errichtete er eine Schule der Schwarz-
kunst, baute für die Gewerbtreibeuden eine Brücke, schuf noch eine
Menge anderer schöner Sachen uud blieb in der Stadt bis zu seinem
Tode, den der Verfasser der Faits merveilleux in sehr wunder-
barer Weise ausgeschmückt hat. Er lässt nämlich den Dichter
das Meer befahren: dort erhebt sich ein furchtbarer Sturm, und
bei diesem verschwindet Virgil spurlos. Noch grandioser ist aber
die Todesart desselben nach den deutschen, holländischen und
englischen Versionen. Da Virgil nämlich merkte, dass er schon
ziemlich alt geworden war, so versuchte er sich durch Zauberei
wieder zu verjüngen. Er unterwies also seinen treuen Diener genau
über das, was er zu thun habe und Hess sich zunächst von diesem
in Stücke zerschneiden und einsalzen. Wii-klich begann auch schon
der Körper sich zu verjüngen, als plötzlich der Kaiser, welchem
1) Roth mciut, dass hiermit auf die siianische Hcrischaft iu Neapel
angespielt werde und das Buch nicht vor dem Jahre 1435 geschrieben sein
könne, a. a. 0. p. 283.
312 Virgil in der Volkssage.
bange geworden war, weil er Virgil seit mehreren Tagen nicht
gesehen hatte, unglücklicher Weise hinzukam und die Wirkung des
Zaubers, ohne es zu ahnen, störte; denn mit einem Male fing es
an sich in der Wanne, worin Virgils Fleisch lag, zu regen, und
ein kleines Kind, das daraus hervorkam, schrie laut: „Verflucht sei
die Stunde, in der du kamst." Darauf verschwand das Kind wieder,
und der Dichter blieb todt. Diese Erzählung, die an die alte Fabel
von Medea und Pelias anklingt, begegnet tjfter bei mittelalterlichen
Schriftstellern 'j und wird merkwürdiger Weise auch auf Paracelsus,
der in seinen Werken vom Zauberer Virgil spricht, bezogen.
Das Abenteuer mit der Sultanstochter, dessen Grundcharakter
von den übrigen Sagen, die Virgil mit den Frauen m Berührung
bringen, bedeutend abweicht, wird wol aus anderen volksthümlichen
Erzähhmgeu ^) , vielleicht auch aus spanischen Romanen hinzugefügt
sein. An diese Version der Faiis merveilleux reiht sich endlich auch
die „Romance de VirgUio"^), die wir im „Roraancero" von 1550
finden, obgleich an den Virgil der Sage darin kaum mehr als das
erotische Element erinnert^). Die Uebersetzung lautet in Prosa
etwa folgendermassen :
„Es befahl der König, dass Virgil gefangen genommen und
in Sicherheit gebracht würde, wegen des Verrathes, den er im
Palaste beging, als er der jungen Donna Isabella Gewalt anthat.
Sieben Jahre hielt der König ihn im Gefänguiss, ohne seiner zu
gedenken, bis er einmal eines Sonntags bei Tische^) sich desselben
erinnerte und zu fragen anhub: „Meine Ritter, und Virgil, was ist
1) Vgl. Graesse, Die Sage d. ew. Juden p. 44; Simrock, Handb.
d. deutsch. Mythol. (2te Ausg.) p. 260.
2) Einige Elemente der Erklärung finden sich auch in der 5ten No-
velle des Iten Buches Pantschatantra bei Benfey, I, 159 ff.
3) „Romaucero castellano pubi, par G. B. Depping" II Nr. 82p. 202 f.
Vgl. Ticknor, History of spanish literature I, 114 ff.
4) Braga (Historia da poesia populär portugueza, Porto 1867
p. 176 ff.) findet zwischen der spanischen und einer portugiesischen Ro;
manze von Reginald (Ameida Garret, Romanceiro II, 163 ff.) Be-
ziehungen. Nach der letzteren verführt ein Page die Tochter des Königs
und wird zum Tode verurtheilt; der König hört aber, wie er im Thurme
singt, begnadigt ihn und gibt ihm seine Tochter zur Frau.
5) Hinard (Romancero espagnol, II, 242) übersetzt „bei der Messe"
und wirklich schrieben Duran, Ochoa u. A. „en misa"; aber die Lesart
„en mesa" bei Depping ist die allein richtige.
Virgil in der Volkssage. 313
aus dem geworden?" Da antwortete ein Ritter, der dem Virgil
zugethan war: „Gefangen hältst du ihn, o König, im Gefängnisse
bewahrst du ihn." „Lasst uns essen", sprach der König, „und
sobald wir gegessen haben, wollen wir Virgil besuchen." Da sprach
die Königin : „Ohne Virgil will ich nicht essen." Also gehen sie
zum Gefängniss, wo Virgil verweilt. „Was macht Ihr hier Vii-gilius,
Virgilius was macht Ihr?" — „Herr, ich kämme meinen Bart und
meine Haare. Hier müssen sie wachsen und müssen grau werden,
denn heute sind es sieben Jahre, dass Ihr mich eingekerkert."
„Sei ruhig, sei ruhig Virgilius. An zehn fehlen drei nur noch."
„Herr, wenn du befiehlst, so will ich hier mein Lebelang bleiben."
— „Virgilius, weil du geduldig bist, sollst essen du mit mir." —
„Nicht darf ich zeigen mich, denn zerrissen sind meine Gewänder."
— „Ich gebe dir neue, Virgilius, neue heisse ich dir machen."
Das gefiel gar wol den Rittern und den Damen. Mehr noch gefiel's
der Donna Isabella; sie riefen einen Erzbischof, und gaben sie
Virgil zum Weibe. Der nimmt sie bei der Hand und führt sie
in den Garten."
Hiermit schliesst die lange Reihe der mannigfachen und sonder-
baren Erzählungen, welche die Berühmtheit des grossen Dichters
zu ihrem Gegenstande haben. Nach dem sechzehnten Jahrhundert
hat sich nur noch bei den Gelehrten eine Kunde von der Virgil-
sage erhalten. Die Zeit der Leichtgläubigkeit war vorüber, und
vor dem Lichte der Vernunft und Kritik, wie vor der empirischen
Philosophie, die den Weg zur Erforschung der Wahrheit wies,
verschwanden jene Sagen und Phantasieen. Freilich geschah das
nicht plötzlich, sondern wir begegnen den Spuren der Virgilsage
auch später noch in einigen gelehrten Werken, die sich mit den
verborgenen Wissenschaften abgeben. Im fünfzehnten und sech-
zehnten Jahrhundert gedenken derselben noch gläubig Trithemius,
Paracelsus , Vigenère , Le Loyer u. A. in ihren Schriften ^). Im
siebenzehnten Jahx-hundert war es gar eine brennende Frage ge-
worden, ob Magie und Hexerei wirklich existirten^), eine Frage,
1) Bl. de Vigenère spricht in seinem ,,Traité des chiffres et secrètes
manières d'écrire" von einem ,,Virgilischen Alphabet", Trithemius
(Antipal. I c. 3) von den Rechnungstafeln, die Virgil anfertigte, um den
Charakter einer Person zu bestimmen, Paracelsus (De imaginibus
cap. XI) schreibt ihm magische Bilder und Figuren zu, Le Loyer (Des
spectresi cap. VI) sogar ein Echo.
2) Vgl. Roskoff, Gesch. des Teufels (Leipz. 1869; IT, 359 ff.
314 Virgil ili der Volkssagc.
die mis heute kiudisch dünkt, die aber voll des t'urchtbait^len
Ernstes war, wenn sie zwischen dem Flammeugeprassel der Scheiter-
haufen und den Schinerzenssclireien der Gefolterten ertönte. Wer
aber damals die Existenz der Zauberei vertheidigte, der erwähnte
auch wol zuweilen den Zauberer Virgil als eine historische Persön-
lichkeit. Solche Leute konnten sich natüi-lich nicht vorstellen, dass
der Kanzler Gervasius von Tilbury auch unwahre Dinge erzählt
habe^). Dem verständigen und gelehrten Gabriel Naudé gelang
es endlich in einem lange Zeit berühmten Buche ^), das heute
freilich keinen Eindruck mehr machen würde, diese Fabeln zu zer-
stören, und schliesslich vergass man über der geistigen Entwickelung
der Menschlieit ganz des Mittelalters, das sich immer mehr im
unklaren Dümmer der Erinnerung verlor. Die Virgilsage ward
nur noch dann und wann von den Gelehrten als eine Curiositüt
erwähnt, wie man ja auch in Antiquitätensammlungen oft magische
Spiegel dem Virgil zuschrieb"^). Als dann in der neuesten Zeit
die Studien über das Mittelalter selbst wieder aufgenommen wurden,
wich die Vorstellung, die man von dem grossen lateinischen Dichter
hatte, schon so von der mittelalterlichen ab, dass man sich diese gar
nicht mehr zu erklären verstand, ja sogar oft ihre Existenz be-
zweifelte, wie denn in der That einige Gelehrte es vorzogen, lieber
1) ,,Gervasiuni qnod attinet baud qnideni cum fabulosum et
vanum auctorem existimaverini ; fuit cnim Cancellarins Aulae Othonis
imperialis, cui etiaiu aliud opus (I) Ocia impciialia iuscriptum dedicavit
Fatcudum quidom est fabulosa nounumquam a principi bus legi,
sed a Cancellariis non proficiscuntur." Jac. Gaffarclli, Curiositates
inauditac p. 160. Auch L'Ancre, rincrédulité et mescreance du sortilège
plainement touvaincue p. 280 f. citiit den Virgil als Beispiel; s. Bodin,
Daemonom. lib. II, c. 2.
2) „Aiiologie jiGur toiis Ics grands personnages qui out esté fausse-
ment soup<;ouné8 de magie." Due, ganze 21te Capitel handelt über Virgil.
Von Gervasius und seinem Buche hei^st es: „ . . . qui est à la veritu si
rempli de choses absurdes fabulcuses et du tout impossibles, que diffi-
cileuient me pourrois je persuader qu'il fust en son bon sens quand il le
composoit" p. 611.
3) Ein solcher Sjiiegel befand sich nach Naudé, a. a. U. p. G27
zu Florenz, ein anderer unter dem Schatze von St. Denis in Paris, wie
es in dem Inventar des vorigen Jahrhunderts heisst: ,,Le miroir du
prince des poetes Virgile, qui est de jaiet." Fougcroux de Boudaroy
hielt 1787 über denselben in der Akademie der Wissenschaften einen Vor-
trag; der Spiegel zerbrach aber, als ihn Mabillon untersuchen wollte.
S. Du Méril, Mei. p. 447.
Virgil iu der Volkssage. 315
an den Bischof Virgil von Salzburg oder au einen beliebigen Mann aus
dem Mittelalter ]S^amens Virgil, al« an den Dichter Virgil ui denkenM.
Die Virgilsage, Avie sie sich das Mittelalter hindurch besonders im
Munde des Volkes bewahrt hatte, erhielt sich in dieser Form nur
noch in Neapel und Süditalien, wo sie entstanden war^). Der
Padre Giordano, Abt des Klosters Monte Vergine, nahm sie noch
im siebzehnten Jahi'hundert für baare Münze iind benutzte sie in
seiner gelehrten Biographie des Dichters als historische Notiz, wie
er deren freilich auch viele selbst erfunden hat^). Ein Reisender,
1) Vgl. Cullili de Plancy, Le Grand d'Aussy und ,,Mélauges
tirés d'une grande biblioth." V, p. 182.
2) Was die slawische Volksliteratur anlangt, so theilt mir Prof.
S Chief ner eine Notiz über ein von ihm in den Esthnisc^en Märchen
(aufgez. V. Kreutzwald, übers, v. Löwe) angedeutetes polnisches Kinder-
spiel mit, iu welchem der Name Virgils vorkömmt: Virgil steht in der
Mitte und seiue Genossen umkreisen ihn singend:
„Ojeice Wirgiliusz uczyl dzieci swoje
Hejze^ dzieci, hejze ha!
Róbcie wszystko, co i ja!''
(,,Vater Virgil lehrte seine Knaben: Aufmerksam Knaben, aufmerksam!
Thut alles das, was ich thue"), darauf halten die Knaben still und ahmen
alles nach, was Virgil thut; wer's nicht recht macht, muss dann selber
Virgil sein." Man könnte daran zweifeln, ob es sich hier um den Zau-
berer Virgil handelt; allein Schiefner erinnert mit Recht an ein englisches
ganz ähnliches Kinderspiel, iu welchem der Name Simon an die Stelle
Virgils getreten ist, und hier wol nur au den Zauberer Simon zu denken ist.
3) „Croniche di Montevergine" j). 66—95. Nach Giordano hatte
Virgil die fixe Idee, die sibyllinischen Bücher zu verstehen, in denen sich
die Weissagung auf Christus fand. Aus diesen entlehnte er die betreffenden
Verse der iten Ecloge, ohne sie zu verstehen. Bei dem Studium der-
selben strengte er sich so an, dass er krank ward; er bat deshalb den
Octavian^ seiner Gesundheit wegen nach Neapel gehen zu können, und
dieser ernannte ihn zum Consul der Stadt. Zur Erholung von seinem
mühevollen Amte ging er dann auf einige Tage nach Avella, wo er von
dem berühmten Cybeleheiligthume auf dem später Monte Vergine ge-
nannten Berge hörte. Als er hier mehrmals über die Bedeutung des
sibyllinischen Orakels anfragte, ward ihm die Antwort: „Satis est, dis-
cedite", und als er sich dabei nicht beruhigte, „satis est: nondum tem-
pus." In der Meinung, man werde ihm die Antwort später geben, baute
er sich eine Villa auf dem Berge und schuf hier den Wundergarten.
Aber die Antwort kam nicht, und so ward er immer schwennüthiger.
Endlich gab er das Studium der sibyllinischen Bücher ganz auf, machte
sich an die Aeneis und unternahm jene für ihn so verhängnissvolle Reise
nach Griechenland und Asien. — Jeder bemerkt, dass in dieser Erzählung
316 Virgil in der Volkssage.
welcher bei Neapel die „Scuola di Virgilio" besuchte'), bestätigte
indess noch im Anfang dieses Jahrhunderts das Vorhandensein der
Volkssage. Ein alter Fischer nämlich, den er zufällig dort antraf,
erzählte ihm, wie folgt:
„An einem schönen Abend bestieg ich im Hafen von Neapel
eine kleine Barke, ohne gerade bestimmt zu wissen, wohin ich
wollte. Zween Ruderer leiteten sie, wir waren ausser dem Hafen,
ehe ich mich noch entschlossen hatte.
Rudert nach der Schule des Virgils, antwortete ich endlich
auf ihre Fragen. Es war ihnen selbst lieb. Munter plätscherten
die Ruder, die Gebirge, welche den Golf umschliessen , lagen im
Rosenflor des Abends da, unzählige Barken flogen zum Fischfang
hinaus, mehrere Segel an des Horizontes Linie waren sichtbar, alle
bepurpurt von der untergehenden Sonne.
Die grosse, lärmvolle Stadt schwebte neben mir hin, meine
Barke schien stille zu stehen. Es gibt Augenblicke, wo auch die
gewöhnlichsten Erscheinungen ungewöhnliche Empfindungen und
Gedanken wecken.
Wir kamen an bei der Schule des Virgils. Es war eine
etwas grössere Grotte, in welcher man der Menschen Hände erkannte.
Die sich weiser denken, nennen sie einen Tempel der Venus, und
gerne mag man glauben, dass die Göttin der Schönheit bei ihrem
ersten Tritt ans Land den Fuss , unter welchem Rosen, und damals
noch Lilien, aufsprossten, in ihren Tempel setzte.
Virgils Schule nennt sie der gemeine Mann. Wir fanden
einen alten Fischer darin sitzen, der gerade an einem Netze knüpfte.
Er grüsste mich freundlich und arbeitete fort. Ich ging um-
her und sah still hinaus auf die See. Sie müssen sich von diesem
Alten erzählen lassen, sagte mir der jüngere von meinen Ruderern
ins Ohr, er ist reich an wunderbaren Geschichten.
Ihr seid wol oft hier, Alter, fing ich an. Oft und gerne,
erwiederte er mii\ Mein Vater hat da immer seine Netze geknüpft,
sein Vater hat es ihn hier gelehrt, und dieser wuvde auch da von
seinem Ahn unterrichtet. Hier nebenan ist unsere Grotte, wo wir
geschichtliche, sagenhafte und phantastische Elemente bunt durcheinander
gemischt sind.
1) 8. S. 295.
2) Vgl. V. d. Hagen, Briefe in die Heimath HI, 180. Dunlop-
Liebrecht, 187; Roth a. a. 0. 280.
3) „Italienische Miscellen" (Tübingen, Cotta, 1803) IH, 150 S. Vgl.
Dobeneck, Desdeutschen Mittelalters Volksglauben undHexensagenl, 195.
Virgil in der Volkssage. 317
die Fische aufbewahrea, die wir nicht verkaufen künneu, und das
kleine Häuschen da unten, beim Palast der Königin Johanna, ist
meine Wohnung. Wer weiss, ob Virgil nicht selbst hier zuweilen
mit dem Prinzen Marcellus Netze geknüpft hat? Er püegte gerne
zu fischen, und verstand es, Netze zu verfertigen, welche nie einen
Fehlzug thaten.
Wenn wir doch auch solche Netze hätten, sagte einer der
Jüngern leise.
Ihr müsst wol mancherlei von Virgil wissen, frug ich ihn.
Wenigstens pfleg' ich viel davon zu erzählen, antwortete er
Man hört mir gerne zu. Ich bin ein alter Mann, Sie sind weit
her gereist, haben viel gesehen, aber Sie können vielleicht doch
Manches von mir lernen.
Das Alter ist immer lehrreich, die Jugend lehrbedürftig, er-
wiederte ich. Ich habe die Bücher gelesen, die Virgil geschrieben
hat, ich habe ihn darum sehr lieb gewonnen, ich gehe oft nach
seinem Grabe, um mich da seiner recht lebhaft zu erinnern.
Setzen Sie sich dort auf jenes Mäuerchen, fuhr er fort. Da
pflegte Virgil gerne zu sitzen. Da hat man ihn oft mit dem Buche
in der Hand liegen gesehn. Er war ein schöner, blühender Mann.
Die Jugend hatte er sich erhalten durch Zauberkünste. Diese
Mauern alle waren mit Kreisen und Linien bemalt. Hier stand
er dann mit dem Priazen Marcellus und lehrte ihn die Geheim-
nisse der Geisterwelt. Oft, beim schrecklichsten Sturme, wenn sich
kein Fischer hinauswagte, kam er auf einem Boote angefahren.
Kein Rudei;;gr fürchtete sich, sobald er im Kahn war, und wenn
es am schrecklichsten draussen tobte, war er am liebsten hier.
Oftmals sass er oben auf dem Berge und sah hinaus in den Golf.
Mancherlei hat er da geschrieben. Wol mögen es Prophezeiungen
gewesen sein; denn es war kein Sturm, den er nicht verkündigte.
Da besuchte er dann die Gärtner und Feldarbeiter der Gegend,
gab ihnen manchen nützlichen Rath, und belehrte sie, unter welchem
Zeichen das Samenkorn am besten gedeiht. Oft wendete er auch
Sturm und Gewitter, wenn es eben herabsteigen wollte vom Vesuv,
durch einen kräftigen Spruch ab, und ganze Nächte sah man ihn
hinschauen nach dem Berg, wenn es eben um seinen Scheitel
blitzte, wahrscheinlich im stillen Gespräche mit den Geistern des-
selben. Lange war man mit dem Gedanken umgegangen, eine
Strasse von Neapel über den Posilipo zu führen. Da half er plötz-
ich. In einer Nacht war der Weg durch die Felsengi'otte von
seinen Geistern vollendet.
318 Virgil in der Volkssage.
Man kann denken, wie mich diese Erzählung des Alten in
Verwunderung setzte. Aber lachen konnte ich nicht über den
frommen Unglauben, der den höheren Verstand und das mächtigere
Wissen nur durch Wunder begreiflich finden kann.
So half er ein anderes Mal, fuhr der Alte fort, den Neapoli-
tanern auf eine verwundemswürdige Weise. Die Mücken hatten
sich so stark vermehrt in der Gegend, als in Egypten zu Mosis
Zeiten. Da verfertigte er eine grosse goldene Fliege, welche sich
auf seinen Befehl in die Luft erhob, und alle die beschwerlichen
Gäste verjagte. So waren einmal alle Quellen und Brunnen im
ganzen Königreich durch zahllose Blutigel, da darin entstanden,
gefährlich geworden. Durch einen grossen Blutigel, den er aus Gold
bildete, und in einen Brunnen warf, half er auch diesem Uebel ab.
Der Alte hätte noch lange fortgefahren ; aber es wurde ganz
dunkel in der Grotte. Ich dankte ihm für seine Erzählung und
fuhr zurück."
Heutzutage sind die Virgilsagen in Neapel im Aussterben
begriflFen. Doch beschrieb mir noch ein Mann aus dem Volke in
der Nähe der Grotte von Pozzuoli das Haus, welches Virgil an
jenem Berge besass, und durch welches die Grotte hindurch ging.
Ein Anderer meinte, dass die eine Spalte in der Grotte das Fenster
gewesen sei, durch welches Virgil mit seiner Schönen zu sprechen
pflegte; imd das folgende anmuthige Liebeslied wurde noch vor
Kurzem von einer Bäuerin eines kleineu Dorfes bei Lecce gesungen^):
Wenn ich Virgil der Zaub'rer war',
Ich führt' an deine Thür das Meer,
Ich wüi-de dann ein Fischlein klein
Und schlüpfte in dein Netz hinein;
Ein Hänfling würd' ich, der mit Lust
Sein Nest sich baut auf deiner Brust,
Und der in heisser Mittagsgluth
Im Schatten deines Haares ruht^).
1) Nach Mittheilung des Prof. Morosi.
2) „Diu! ci tanissi Tarte da Vargiliu!
'Nnanti le porte to' 'nducla lu mare
Ca da li pisci me facìa pupillu
"Mmienzu le riti to' enìa 'ncappare;
Ca di l'acelli me facìa cardillu,
'Mmienzu lu piettu to' lu nitu a fare;
E suttu l'umbra de li to' capilli
Enìa de menzugiurnu a rrepusare."
BIBLIOTHECA GRAECA
VIRORUIVI DOCTORÜM OPERA
RECOGNITA ET CO:\IMENTARIIS INSTRUCTA
CURANTIBUS
FR. JACOBS ET VAL CHR. FR. ROST.
LIPSIAE IN AEDIBUS B. G. TEUBNERI.
Bedeutend ermässigte Preise.
Erschienen sind bis jetzt: Mk. Pf.
Aescliinis in Ctesiphontem oratio recensuit explicavit A. Weidner . 3.60
Aeschyli Choephorae, illustr. E. H. Klausen. 8. mai. 1835 .... 2.25
Agamemno, iWustr. E.H. Klausen. Ed. II. ed.E.Enger. 8. mai. 18r.3 3.75
Anacveontis carmina, Sapphus et Erinnae fragmenta, annotatt.
illustr. E. A. Moebius. 8. mai. 1826 — 60
AristophaiiisNubes. Ed. illustr. praef. est W.S. Teuffei. Ed. II. 8. mai. 1863 1.20
Delectus oj)ig:rammatum Graecorum, novo ordine conc. et comment.
instr. Fr. Jacobs. 8. mai. 1826 1.80
Demosthenis conciones, ree. et explic. R. Sauppe. Sect. I. (cont.
Philipp. I. et Olynthiacae I— III.) Ed. II. 8. mai. 1845 .... 1.—
Enripidistragoediae, ed. Pflugk et Klotz. Vol. I, II et III. Sect. I— III. U.70
Einzeln:
Vol. I. Sect. 1. Medea. Ed. Ili 1.50
„ I. „ 2. Hecuba. Ed. II 1.20
„ I. „ .3. Andromaclia. Ed. II 1.20
., I. , 4. Heraclidae. Ed. II 1.20
„ II. „ 1. Helena. Ed. II 1.20
„ II. „ 2. Alcestis. Ed. II . 1.20
„ IL „ 3. Hercules furens 1.80
„ II. „ 4. Phoenissae 1.80
„ III. „ 1. Orestes 1.20
„ III. ,, 2. Iphigenia Taurica 1.20
,, III. „ 3. Iphigenia quae est Anlide 1.20
Hesiodi carmina, recens. et illustra C. Goettling. Ed. II. 8. mai. 184,i . 3 —
Einzeln :
Theogouia — 75
Scutum Herculis — 50
Opera et dies ; 1. —
Homeri certamen, fragmenta et vita Hesiodi 1.50
Honieri Ilias, varietat. lect. adi. /Spitówer. Sect. I— IV. 8. mai. 18:}2— 36 4.50
Einzeln:
Sect. I. lib. 1—6 —.90
Sect II. lib. 7—12 —.90
Sect. III, lib. 13-18 1.35
Sect. IV. üb. 19—24 1.35
Die einzige Ausgabe der Ilias, welche den kritischen Apparat toU-
ständig enthält.
Lygiae et Aescliinis orationes selectae, ed. I. H. Bremi. 8. mai. 1826 1.50
Lysiae orationes selectae, ed. /. H. Bremi. 8. mai. 1826 —.90
Piiidari carmina cum deperditarum fragm., variet. lect. adi. et com-
ment. illustr. L. Bissen. 'Eid.lV. c\xr. Schneidewin. Vol. I. 1843 , 3.90
Vol. II. Sect. I. II. (Comment. in Olymp, et Pyth.) 1846. 47.
(à 1 Mk. 50 Pf.) 3.—
riatouis opera omnia, recensuit, prolegomenis et commentariis in-
struxit G. Stallbaum. X voll. (21 Sectiones). 8. mai. 1836 — 61.
compi, (excl. Voll. II. VI. 2 et VII) 60 -
Einzeln:
Vol. I. Sect. 1. Apologia Socrati et Crito. Ed. IV. 1858 . . 2.40
„ 1. „ 2. Phaedo. Ed. V. cur. Wohlrab. 1875 ... . 2.70
„ I. ,, 3. Symposium c. ind. Ed. III. 1852 2.20
* „ n. „ 1. Gorgias. Ed. III. 1861 2.40
„ U. ,, 2. Protagoras c. ind. Ed. [II. ed. Kroschel. 1865 1.80
„ Hl. Politia si ve de republica libri decem. 2 voll.
Ed. H. 7.50
Piatonis opera omni aed. Cf. Stallbaum. Mk. pf.
Einzeln:
Vol. III. Sect. 1. Politia lib. 1-V. 1858 4=. 20
„ III. „ 2. üb.VI— X. 1859 3.30
IV. „ 1. Phaedrus. Ed. II. 1857 2.40
,, IV. „ 2. Menexenus, Lysis, Hippias uterque, Io.
Ed. IL 1857 2.70
„ V. ,, 1. Laches, Charmides, Alcibiades I. IL Ed. IL
1857 2.70
„ V. „ 2, Cratylus cum. ind. 1835 2.70
VI. „ 1. Euthydemiis. 1836 2.10
,, VI. „ 2. Meno et Eiithyphroiteraque incerti scripto riß
Theage8,Erastae,Hipparciuis. 1836. [Vergr.J 4.20
,, VII. „ 1. Timaeus et Critias. 1838 5.40
„ VIII. „ 1. Theaetetus. Ed. IL ree. Wohlrah. 1869 3 —
„ VIII. „ 2. Sophista. 1840 2.70
„ IX. „ 1. Tolitieus et incerti auctoris Minos. 1841 2.70
„ IX. „ 2. Philebus. 1842 2.70
„ X. „ 1. Leges. Vol. I. lib. I — IV. 1858 ... 3.60
X. „ 2. lib. V-VIII. 1859 3.60
„ X. „ 3. lib.IX — Xll. et Epinomia. 1860 3.60
Sophoclis tragoediae, ree. et explan. E. Wtmderus. 2 voll. 8. mai.
1847 — 1857 9 —
Kinzeln:
Vol. I. Sect. 1. Philoctetes. Ed. IV ed. WecJclein 1.50
,, I. „ 2. Oedipus tyrauuus. Ed. IV 1.20
„ I. „ 3. Oedipus Coloneus. Ed. III 1.80
, I. „ 4. Antigona. Ed. IV 1.20
' IL „ 1. Electra. Ed. III 1,20
„ IL „ 2. Aiax. Ed. Ili 1.20
, IL „ 3. Trachiniae. Ed. H 1.20
Tlmcydidis de bello Peloponnesiaco libri Vili, explan. E. F. Poppo.
4 voll. 8. mai. 1843 — 1866 12 —
Einzeln:
Vol. I. Sect. 1. Lib. I. Ed. U 3 -
„ I. „ 2. Lib. IL Ed. II 2.25
„ IL „ 1. Lib. IIL Ed. 11 ed. J. M. Stahl 2.40
„ IL „ 2. Lib. IV. Ed. II ed. J. M. Stahl 2.70
„ III. „ 1. Lib. V 1.50
,, IIL „ 2. Lib. VI 1.80
„ IV. „ 1. Lib. VII 1.50
„ IV. „ 2. Lib. VIU 1.50
XenophoutÌ8Cyropaedia,comment.instr.i'^.^..Bor«ewan«. 8. mai. 1838 1.50
Memorabilia (Commentarii), illustr. R. Kühner. 8. mai. 1858.
Ed. II 2.70
-_ Anabasis (expeditio Cyri min.), illustr. B. Kühner. 1852. . . 3.60
Einzeln à 1 Mk. 80 Pf.
Sect. I. lib. I-IV.
Sect. IL lib.V— VIII.
üeconomicus, ree. et explan. L. Breitenbach. 8. mai. 1841 . 1.50
Agesilaus ex ead. recens. 8. mai. 1843 1.20
Hiero ex ead. ree. 8. mai. 1844 — 75
Hellenica, Sect. 1. (lib. I. IL), ex ead. ree. 8. mai. 1853. . . 1.20
Sect. 11. (lib. Ili— VII.), ex ead. ree. 8. mai. 1863 . 4.80
. Teubner In Lelpilg.
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University of Toronto
Library
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