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Full text of "Völkerpsychologie : eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte"

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Völkerpsychologie 


Eine   Untersuchung   der   Entwicklungsgesetze 


Sprache,  Mythus  und  Sitte 


Wilhelm  Wundt 


Erster  Band 

Die  Sprache 

Zweite,   umgearbeitete  Auflage 
Erster  Teil 

Mit  40  Abbildungen  im  Text 


Leipzig 

Verlag  von  Wilhelm  Engelmann 

1904 


Alle  Rechte,  besonders  das  der  C^bersetzung;,  werden  vorbehalten. 


Vorwort  zur  ersten  Auflage. 
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Über  Plan  und  Absicht  des  vorliegenden  Werkes  gibt  die  Ein- 
leitung Rechenschaft.  Ich  kann  mich  daher  an  dieser  Stelle 
auf  einige  kurze  Bemerkungen  über  mein  —  wenn  ich  mich  des 
Ausdrucks  bedienen  darf  —  persönliches  Verhältnis  zu  dem  Gegen- 
stande beschränken.  Sprache,  Mythus,  Sitte  bilden  in  ihren  tatsäch- 
lichen Zusammenhängen  zunächst  den  Inhalt  bestimmter  philolo- 
gisch-historischer Arbeitsgebiete;  sie  nehmen  aber  zugleich  mehr 
als  andere,  dem  weiteren  Umkreis  der  Geschichte  angehörige  Stoffe 
Nein  direktes  psychologisches  Interesse  in  Anspruch.  Dieses  Ver- 
hältnis gibt  den  genannten  Gebieten  das  Vorrecht,  zugleich  Grund- 
lagen der  »Völkerpsychologie«  zu  sein.  Nun  könnte  es  scheinen, 
als  wenn  auch  der  Psychologie  dann  am  besten  gedient  wäre,  wenn 
derjenige,  der  sich  an  die  völkerpsychologischen  Probleme  heran- 
wagt, die  Eigenschaften  des  Philologen  und  des  Historikers  mit 
denen  des  Psychologen  verbände.  Aus  zwei  Gründen  glaube  ich 
jedoch,  daß  dieser  Wunsch,  vorläufig  wenigstens,  kaum  Aussicht 
hat,  verwirklicht  zu  werden.  Erstens  wird  man  bei  der  gegen- 
wärtigen Teilung  der  wissenschaftlichen  Arbeit  schwerlich  erwarten 
dürfen,  daß  der  Philologe  oder  Historiker  die  Sache  in  einer  den 
heutigen  Forderungen  der  psychologischen  Wissenschaft  genügenden 
Weise  in  Angriff  nehmen  werde;  und  vielleicht  Vv^ird  man  ihm  dies 
nicht  einmal  verdenken  können,  da  die  Aufgaben  und,  was  damit 
unvermeidlich  verbunden  ist,  die  Gesichtspunkte,  mit  denen  er  an 
die  Probleme  herantritt,  wesentlich  abweichend  sind.  Sodann  aber 
kann  ich  nicht  umhin  zu  glauben,  jene  Arbeitsteilung,  die  hier 
die  psychologische  Analyse  der  Erscheinungen  der  Psychologie 
und   nicht   der   Philologie  und  Geschichte  zuweist,  werde  in  einem 


VI  Vorwort. 

gewissen  Maß  immer  fortdauern,  wenn  auch,  wie  zu  hoffen  ist, 
beide   Gebiete  in  Zukunft    dadurch    einander   näher    treten    mösren, 

O  7 

daß  sich  die  Philologen  und  die  Historiker  mit  den  Betrachtungs- 
weisen der  wissenschaftlichen  Psychologie  mehr  befreunden,  und 
daß  sich  die  Psychologen  der  Bedeutung  der  Völkerpsychologie 
als  einer  unentbehrlichen  Erkenntnisquelle  mehr  bewußt  werden, 
als  dies  gegenwärtig  der  Fall  ist.  Gleichwohl  wird  die  Völker- 
psychologie als  solche  ein  Teil  der  Psychologie  bleiben.  Denn 
wenn  der  Philologe  gewiß  mit  Recht  geltend  macht,  daß  nur  der 
mit  Erfolg  in  die  Kulturwelt  des  Altertums  einzudringen  vermag, 
der  die  Elemente  der  philologischen  Methode  beherrscht,  so  wird 
doch  wohl  auch  der  Psychologe  daran  festhalten  müssen,  daß  man, 
um  die  verwickelten  Erscheinungen  der  Völkerpsychologie  zu  ent- 
wirren, zuerst  durch  die  exakte  Analyse  der  elementaren  Bewußt- 
seinsvorgänge, wie  sie  die  Methoden  der  experimentellen  Psycho- 
logie vermitteln,  den  Blick  geschärft  und  die  Fähigkeit  psycho- 
logisch zu  denken  geübt  haben  muß. 

Wohl  gibt  es  heute  selbst  noch  Psychologen,  die  das  Gebiet 
ihrer  Betrachtungen  grundsätzlich  auf  diese  einfacheren  Aufgaben 
einschränken  möchten;  und  in  der  öffentlichen  Meinung  findet  die 
gleiche  Anschauung  gelegentlich  in  der  bedauernden  Bemerkung 
ihren  Ausdruck,  die  heutige  Psychologie  sei  ganz  und  gar  zur  Psy- 
chophysik,  also  zu  einem  Anhangsgebiet  der  Physiologie  geworden, 
und  sie  sei  damit  in  den  Kreis  jener  Disziplinen  hinübergewandert, 
die  nur  für  diejenigen  ein  Interesse  besitzen,  die  sie  zu  ihrer  Spe- 
zialität machen.  Dies  ist  nach  meiner  tiefsten  Überzeugung  ein 
Irrtum,  einer  jener  Irrtümer,  die  daraus  entstehen,  daß  man  einen 
vorübergehenden  Zustand  für  das  bleibende  Wesen  eines  Dinges 
ansieht.  Daß  die  einfacheren  Fragen  der  physiologischen  Psycho- 
logie bis  zu  einem  gewissen  Grade  geklärt  sein  mußten,  ehe  sich 
die  wissenschaftliche  Arbeit  den  komplizierteren  völkerpsychologi- 
schen Problemen  zuwenden  konnte,  ist  wohl  begreiflich.  In  dieser 
Bedingung  liegt  aber,  wie  ich  meine,  ebensowenig  wie  in  der  teil- 
weise veränderten  Beschaffenheit  der  Hilfsmittel  eine  Rechtfertigung 


Vorwort.  VII 

dafür,  der  Psychologie  dauernd  ein  Gebiet  fern  zu  halten,  das  seiner 
eigensten  Natur  nach  zu  ihr  gehört,  und  das,  wie  man  vielleicht 
behaupten  darf,  den  wichtigeren  und  fruchtbareren  Teil  ihrer  Auf- 
gaben in  sich  schließt. 

Im  Hinblick  auf  die  in  den  obigen  Bemerkungen  angedeutete 
Scheidung  der  Standpunkte  des  Psychologen  und  des  Historikers 
versteht  es  sich  übrigens  von  selbst,  daß  ich  mich  in  dem  folgenden 
Werk  eines  eigenen  Urteils  über  streitige  Fragen  der  Sprach-, 
Mythen-  und  Sittengeschichte,  soweit  solche  rein  geschichtlicher 
Art  sind,  enthalte.  Nur  da,  wo  sich  die  historischen  Folgerungen 
mit  psychologischen  Hypothesen  verbinden  oder  gar,  wie  es  wohl 
zuweilen  geschieht,  ausschließlich  in  solchen  bestehen,  glaube  ich 
aus  dieser  Rolle  eines  unbeteiligten  Zuschauers  heraustreten  zu 
dürfen.  Ich  betrachte  demgemäß  die  geschichtlichen  und  ethno- 
logischen Ergebnisse  auf  allen  hierher  gehörigen  Gebieten  als  einen 
Stoff,  den  ich,  ebenso  wie  das  Resultat  eines  Experimentes,  als 
einen  gegebenen  anerkennen  muß ,  über  dessen  psychologische 
Natur  ich  mir  aber  wohl  mit  demselben  Rechte,  mit  dem  es  die 
Philologen  und  Historiker  selbst  tun,  ein  Urteil  gestatten  darf. 
Dabei  unterscheidet  sich  meine  psychologische  Betrachtung  dieser 
Dinge  von  derjenigen  der  Spezialforscher  auf  den  gleichen  Gebieten 
natürlich  dadurch,  daß  diesen  ohne  Zweifel  die  Tatsachen  leichter 
und  reichlicher  zu  Gebote  stehen,  daß  dagegen  meine  Betrachtungs- 
weise nach  den  anderwärts,  namentlich  nach  den  innerhalb  der 
physiologischen  Psychologie  gewonnenen  Ergebnissen  orientiert  ist, 
und  daß  sie  von  dem  Streben  geleitet  wird,  auf  diesem  Wege  so 
weit  als  möglich  die  allgemeinen  psychologischen  Erkenntnisse  zu 
ergänzen  und  zu  erweitern.  Ich  habe  geglaubt,  diesem  Standpunkte 
vor  allem  insofern  Rechnung  tragen  zu  müssen,  als  ich  meinen  Be- 
trachtungen nur  solche  Tatsachen  oder  —  soweit  die  letzteren 
hypothetische  Ergänzungen  nie  ganz  entbehrlich  machen  —  nur 
solche  Voraussetzungen  geschichtlicher  Art  zugrunde  legte,  die  als 
gesichert  oder  durch  die  übereinstimmende  Überzeugung  der  Sach- 
verständigen als   zureichend  beglaubigt  angesehen  werden  können. 


VIII  Vorwort. 

Ich  meinte  im  Zweifelsfalle  lieber  auf  ein  glücklich  gewähltes  Beispiel 
für  irgendeine  psychologische  Gesetzmäßigkeit  verzichten,  als  mich 
der  Gefahr  ungewisser  linguistischer,  mythologischer  oder  kultur- 
historischer Hypothesen  aussetzen  zu  dürfen.  Sollte  ich  trotzdem 
im  einzelnen  einmal  fehlgegriffen  haben,  so  wird  das  der  sach- 
kundige Leser,  wie  ich  hoffe,  mit  der  Schwierigkeit  des  Gegen- 
standes entschuldigen. 

Ich  kann  dieses  Vorwort  nicht  schließen,  ohne  dankbar  der  Hilfe 
zu  gedenken,  die  mir  zunächst  für  den  die  Sprache  behandelnden 
ersten  Band  die  sprachwissenschaftliche  Literatur,  in  der  wieder  die 
indogermanistische  und  germanistische  in  erster  Linie  steht,  geleistet 
hat.  Innerhalb  der  Jahre,  in  denen  ich  mich  mit  den  Vorarbeiten 
zu  diesem  Werke  beschäftigte,  hat  sich  mir  immer  mehr  die  Über- 
zeugung aufgedrängt,  daß  die  Sprachwissenschaft  von  sich  aus  in 
wachsendem  Maß  einer  gründlicheren  Vertiefung  in  die  psycho- 
logische Seite  der  Sprachprobleme  zugeführt  werde.  Dieser  Um- 
stand hat  es  gefügt,  daß  vielfach  innerhalb  der  Sprachwissenschaft 
selbst  schon  die  einzelnen  Tatsachengebiete  einer  psychologischen 
Behandlung  um  vieles  zugänglicher  geworden  sind,  als  sie  es  zu 
der  Zeit  waren,  da  ich  selbst  es  zum  ersten  Mal  unternahm,  mir 
die  Aufgaben  der  Völkerpsychologie  zurechtzulegen.  Es  würde  zu 
weit  führen,  hier  auch  nur  die  wichtigsten  Arbeiten  zu  nennen, 
denen  ich  in  dieser  Beziehung  verpflichtet  bin.  Ich  will  mich  auf 
die  drei  hauptsächlichsten  beschränken.  Zunächst  verdanke  ich 
Hermann  Pauls  »Prinzipien  der  Sprachgeschichte«  mannigfache 
Anregungen.  Sein  Streben,  überall  die  Analyse  der  sprachlichen 
Vorgänge  an  die  Erscheinungen  der  lebenden  Sprache,  und  hier 
wieder  das  Studium  der  generellen  an  das  der  individuellen  Erschei- 
nungen anzuknüpfen,  kam  durchaus  einer  von  mir  selbst  gehegten 
und  auf  andern  Gebieten  betätigten  Überzeugung  entgegen. 
Diese  Anregungen  möchte  ich  um  so  rückhaltloser  anerkennen, 
je  mehr  ich  sowohl  in  der  allgemeinen  psychologischen  Auffas- 
sung, wie  infolgedessen  zumeist  auch  in  der  Interpretation  des  ein- 
zelnen  andere  Wege   einschlagen   mußte.      Unter    den    spezielleren 


Vorwort.  IX 

sprachwissenschaftlichen  Werken  gewährte  mir  sodann  für  das  weite 
Gebiet  allgemeiner  Sprachvergleichung  vor  allem  Friedrich  Müllers 
»Grundriß  der  Sprachwissenschaft«  vielfache  Förderung.  Gerade 
die  Zurückhaltung,  die  sich  Müller  auferlegt  hat,  indem  er  sich 
überall  auf  die  Zusammenstellung  der  für  die  Beurteilung  einer 
Sprache  wesentlichen  Tatsachen,  der  Lautsysteme,  Paradigmen, 
Sprachproben  usw.,  beschränkte,  macht  dieses  Werk  vor  andern, 
die  von  vornherein  die  Erscheinungen  nach  bestimmten  linguistischen 
oder  psychologischen  Hypothesen  gruppieren,  für  den  Psychologen 
wertvoll.  Für  das  Indogermanische  bin  ich  endlich  hauptsächlich 
dem  »Grundriß  der  vergleichenden  Grammatik  der  indogermanischen 
Sprachen«  von  K.  Brugmann  und  B.  Delbrück  für  zahlreiche  Be- 
lehrungen verpflichtet. 

Leipzig,  im  März  igoo. 


Vorwort  zur  zweiten  Auflage. 

Die  zweite  Auflage  dieses  Werkes  hat  weder  in  der  Gesamt- 
auffassung noch  in  der  Anordnung  des  Stoffs  wesentliche  Ände- 
rungen gegenüber  der  ersten  aufzuweisen.  Dagegen  ist  alles  ein- 
zelne noch  einmal  sorgfältig  durchgearbeitet  worden.  Manches 
hoffe  ich  durch  ergänzende  Ausführungen  in  helleres  Licht  gesetzt, 
anderes  durch  Berichtigungen  und  Zusätze  verbessert  zu  haben. 
Zweifelhafte  oder  als  irrig  erkannte  Beispiele  wurden  beseitigt  und 
womöglich  durch  zuverlässigere  ersetzt.  Im  ganzen  aber  habe  ich 
auch  diesmal  geglaubt,  mich  jeweils  auf  wenige  erläuternde  Bei- 
spiele beschränken  zu  dürfen,  da  es  sich  ja  hier  nicht  sowohl  um 
die  Mitteilung  sprachwissenschaftlichen  Materials,  das  den  Sprach- 
forschern besser  und  reicher  zu  Gebote  steht  als  mir,  und  das  den 
Psychologen  vielleicht  als  eine  überflüssige  Belastung  erscheinen 
würde,  als  vielmehr  lediglich  um  die  notwendige  Exemplifikation 
der  an  der  Sprache  nachgewiesenen  oder  wahrscheinlich  gemachten 
psychischen  und  psychophysischen  Vorgänge  handelt.  Tiefer  greifende 


X  Vorwort. 

Umarbeitungen  hat  im  ersten  Teil  namentlich  das  Kapitel  über  den 
Lautwandel,  im  zweiten  die  Darstellung  der  Wortformen  und  teilweise 
die  des  Satzes  erfahren.  Für  viele  kritische  Bemerkungen  und  Be- 
richtigungen im  einzelnen  bin  ich  den  zahlreichen  Besprechungen, 
die  dieses  Werk  von  linguistischer  Seite  erfahren  hat,  verpflichtet. 
Besonders  habe  ich  den  Schriften  von  B.  Delbrück  über  »Grundfragen 
der  Sprachforschung«  und  von  L.  Sütterlin  über  »das  Wesen  der 
sprachlichen  Gebilde«,  die  beide  aus  Anlaß  dieses  Werkes  erschienen 
sind,  manche  Anregungen  zu  Verbesserungen  und  Umarbeitungen 
entnehmen  können,  wofür  ich  diesen  Forschern  aufrichtig  dankbar 
bin.  Freilich  sind  diese  Verbesserungen,  wenn  sie  als  solche  anerkannt 
werden  sollten,  nur  zu  einem  kleinen  Teil  Zugeständnisse,  die  ich 
dem,  wie  mir  scheint,  etwas  allzu  einseitig  historischen  Standpunkt 
der  genannten  Autoren  machen  durfte.  In  der  Mehrzahl  der  Fälle 
habe  ich  mich  vielmehr  genötigt  gesehen,  eben  einem  solchen  ein- 
seitigen Historismus  gegenüber  das  Recht  der  psychologischen  Be- 
trachtung zu  wahren  und  wenn  möglich  eingehender,  als  es  vielleicht 
da  und  dort  in  der  ersten  Auflage  geschehen  war,  zu  begründen. 
Hoffentlich  wird  aber  der  billig  denkende  Leser  nicht  verkennen, 
daß  ich  den  Wert  der  Sprachgeschichte  darum  wahrlich  nicht  gering 
achte,  sondern  daß  ich,  wo  sie  uns  zugänglich  ist,  hier  wie  überall 
im  Gebiet  der  geistigen  Vorgänge  das  geschichtliche  Werden  der  Er- 
scheinungen als  die  Grundlage  ansehe,  auf  der  sich  erst  die  psycho- 
logische Untersuchung  erheben  kann.  Doch  mit  der  bloßen  Ge- 
schichte läßt  sich,  wie  ich  glaube,  ebensowenig  wie  mit  reiner 
Psychologie  ein  tieferes  Verständnis  der  sprachlichen  Entwicklungen 
gewinnen,  sondern  beide  müssen  zu  diesem  Zweck  zusammenwirken. 
Für  das  Gebiet  der  indogermanischen  Sprachgeschichte  bin  ich  in 
dieser  Beziehung  meinem  verehrten  Kollegen  K.  Brugmann  für  viele 
berichtigende  und  ergänzende  Bemerkungen  zu  besonderem  Dank 
verpflichtet. 

Leipzig,  im  März  1904. 

W.  Wundt. 


Inhalt. 


Seite 

Einleitung i 

I.  Aufgaben  und  Nachbargebiete  der  Völkerpsychologie.    .  i 

n.  Volksgeist  und  Volksseele 7 

ni.  Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Völkerpsychologie    .    .  18 

IV.  Hauptgebiete  der  Völkerpsychologie 30 

Erstes  Buch. 

Die  Sprache. 

Erstes  Kapitel.     Die  Ausdrucksbewegungen 37 

I.  Allgemeine  Bedeutung  der  Ausdrucksbewegungen.    .    .  37 
IL  Verhältnis   der   Ausdrucksbewegungen   zu  den  Gefühlen 

und  Affekten 43 

1.  Einfache  Gefühlsformen 43 

2.  Gefühlsverlauf  der  Affekte 50 

3.  Innervation  der  Ausdrucksbewegungen 59 

4.  Sensorische  Rückwirkungen  der  Ausdrucksbewegungen 70 

III.  Prinzipien  der  Ausdrucksbewegungen 74 

1.  Herbert  Spencers  physiologische  Theorie 74 

2.  Darwins  Prinzip  der  zweckmäßig  assoziierten  Gewohnheiten   ...  78 

3.  Versuche  einer  psychologischen  Theorie 85 

4.  Allgemeinstes  psychophysisches  Prinzip   der  Ausdrucksbewegungen  90 

IV.  ntensi tätsäußerungen  der  Affekte 91 

1.  Ausdrucksbewegungen  starker  Affekte 91 

2.  Beteiligung    einzelner  Muskelgebiete    an    den  Intensitätssymptomen  94 

3.  Vasomotorische  Intensitätssymptome 96 

V,  Qualitätsäußerungen  der  Affekte loo 

1.  Gefühle  als  Grundlagen  der  Qualitätssymptome 100 

2.  Mechanismus  der  mimischen  Ausdrucksbewegungen loi 

3.  Mimische  Symptome  der  Lust-  und  Unlustgefühle 103 

4.  Mimische  Symptome  der  Spannungs-  und  Lösungsgefühle  ....  HO 

5.  Theorie  der  mimischen  Ausdrucksbewegungen 112 

VI.  Vorstellungsäußerungen  der  Affekte 123 

I.  Verhältnis     der    Vorstellungsäußerangen    zu    den    andern    Affekt- 

symptomen 123 


XII  Inhalt. 

Seite 

2.  Hauptformen  pantomimischer  Bewegungen 126 

3.  Theorie  der  pantomimischen  Bewegungen 128 

4.  Verbindungen    und  Übergänge   zwischen  verschiedenen  Ausdrucks- 
formen     133 

Zweites  Kapitel.     Die  Gebärdensprache 136 

I.  Die  Entwicklungsformen  der  Gebärdensprache 136 

1.  Begriff  und  allgemeine  Eigenschaften  der  Gebärdensprache    ...  136 

2.  Gebärdensprache  der  Taubstummen 138 

3.  Gebärdensprache  bei  den  Naturvölkern 145 

4.  Überlieferte  Gebärdezeichen  bei  den  europäischen  Kulturvölkern  .  147 

5.  Gebärdezeichen  der  Zisterziensermünche 151 

II.   Grundformen  der  Gebärden 154 

1.  Psychologische  Klassifikation  der  Gebärden 154 

2.  Hinweisende  Gebärden 157 

3.  Nachbildende  Gebärden 161 

4.  Mitbezeichnende  Gebärden 169 

5.  Symbolische  Gebärden 174 

III.  Vieldeutigkeit  und  Bedeutungswandel  der  Gebärden   .    .  191 

1.  Unbestimmtheit  der  Begriffskategorien 191 

2.  Begriffsübertragungen  und  Bedeutungswandel  der  Gebärden    ...  199 

IV.  Syntax  der  Gebärdensprache 208 

1.  Gebärdenfolge  der  Taubstummen 208 

2.  Gebärdenfolge  der  Indianer 214 

3.  Psychologische  Ursachen  der  Gebärdensyntax 217 

V.  Psychologische  Entwicklung  der  Gebärdensprache.    .    .  222 

1.  Ursprung  der  Gebärdensprache  aus  den  Ausdrucksbewegungen  .    .  222 

2.  Die  Gebärde  und  die  Anfänge  der  bildenden  Kunst 229 

3.  Gebärdensprache  und  Bilderschrift 233 

4.  Psychologischer  Charakter  der  Gebärdensprache 242 

Drittes  Kapitel.     Die  Sprachlaute     248 

I.  Stimmlaute  imTierreich 248 

1.  Stimmlaute  als  Ausdrucksbewegungen 248 

2.  Allgemeine  Entwicklung  der  Ausdruckslaute 252 

3.  Tonmodulationen  als  Ausdrucksformen  bei  Tieren 255 

4.  Tonmodulation  und  Lautartikulation  beim  Menschen 263 

II.  Sprachlaute  des  Kindes 271 

1.  Stadien  der  Lautbildung  beim  Kinde 271 

2.  Angebliche  Worterfindung  des  Kindes 277 

3.  Psychophysische  Bedingungen  der   individuellen  Sprachentwicklung  292 

4.  Psychologische  Eigenschaften  der  kindlichen  Sprache 298 

5.  Lautvertauschungen  und  Lautverstümmelungen  in  der  Kindersprache  302 
in.  Naturlaute  der  Sprache  und  ihre  Umbildungen 307 

I.  Primäre  und  sekundäre  Interjektionen 307 


Inhalt.  Xni 

Seite 

2.  Wortformen  mit  Affektbetonung:  Vokativ  und  Imperativ     ....  310 

3.  Naturlaute  als  Grundbestandteile  von  Wortbildungen 314 

IV.  Lautnachahmungen  in  der  Sprache 317 

1.  Schallnachahmungen  und  Lautbilder 317 

2.  Allgemeine  Bedeutung  der  Lautnachahmung 326 

3.  Lautgebärden  zur  Bezeichnung  der  Artikulationsorgane 333 

4.  Natürliche  Lautmetaphern 336 

a.  Lautmetaphern  in  den  Wörtern  für  Vater  und  Mutter     ....  339 

b.  Lautmetaphern  in  Ortsadverbien  und  Pronominalformen.    .    .    .  343 

c.  Korrespondierende  Laut-  und  Bedeutungsvariationen   bei  Tätig- 
keitsbegriffen      346 

5.  Psychologische  Entstehung   der  Lautgebärden   und  Lautmetaphern  354 

Viertes  Kapitel.     Der  Lautwandel 360 

I.  Die  Lautgesetze  in  der  Sprachwissenschaft 360 

1.  Das  Postulat  der  Ausnahmslosigkeit  der  Lautgesetze 360 

2.  Teleologische  Hypothesen  über  die  Ursachen    der  Lautänderungen  363 

3.  Annahme  physischer  und  psychischer  Momente  der  Lautentwicklung  367 

4.  Komplikation  der  Ursachen  des  Lautwandels 370 

n.  Individuelle  und  generelle  Formen  der  Lautänderung     .  372 

1.  Lautwandel  und  Lautwechsel 372 

2.  Spielraum  der  normalen  Artikulationen 376 

3.  Störungen  der  Lautbildung 379 

a.  Lauterschwerungen 380 

b.  Lautvermengungen 382 

c.  Wortvermengungen 387 

4.  Sprachmischungen  und  Mischsprachen 393 

5.  Grundformen  des  generellen  Lautwandels 402 

m.  Assoziative  Kontaktwirkungen  der  Laute 410 

1.  Regressive  und  progressive  Lautinduktion 410 

2.  Theorie  der  Kontaktwirkungen 416 

a.  Ästhetische,  teleologische  und  psychologische  Deutungen  .    .    .  416 

b.  Psychophysische  Theorie  der  Lautinduktion 422 

IV.  Assoziative  Fernewirkungen  der  Laute 431 

1.  Allgemeine  Formen  assoziativer  Fernewirkung 431 

2.  Grammatische  Angleichungen 434 

a.  Innere  grammatische  Angleichungen 434 

b.  Äußere  grammatische  Angleichungen 435 

3.  Begriffliche  Angleichungen 438 

a.  Angleichung  durch  Begriffsverwandtschaft 438 

b.  Angleichung  durch  Kontrast  der  Begriffe 440 

c.  Komplikationen  der  Angleichsvorgänge 441 

4.  Psychologische  Theorie  der  assoziativen  Fernewirkungen     ....  443 

a.  Entstehung  der  Fernewirkungen    aus    elementaren  Assoziationen  443 

b.  Psychologische  Analyse  der  vier  Hauptformen  der  Lautangleichung  452 

5.  Physiologische  Einflüsse  bei  den  Lautangleichungen 457 


XIV  Inhalt. 

Seite 

V.  Laut-  und  Begriffsassoziationen  bei  Wortentlehnungen.    .  459 

1.  Hauptformen  der  Wortentlehnung 459 

2.  Wortentlehnungen  mit  reiner  Lautassoziation 461 

3.  Wortentlehnungen  mit  Begriffsassoziationen 464 

a.  Wortassimilationen  mit  begrifflichen  Nebenwirkungen 466 

b.  Wortassimilationen  mit  Begriffsumwandlungen 469 

4.  Beziehungen    der   Wortentlehnungen    zu    den    anderen    assoziativen 
Femewirkungen 471 

"VI.  Regulärer  stetiger  Lautwandel 473 

1.  Allgemeine  Bedingungen  des  regulären  Lautwandels 473 

2.  Einfluß  der  Naturumgebung 478 

3.  Mischungen  und  Berührungen  der  Völker 481 

4.  Einflüsse  der  Kultur 484 

5.  Tempo  der  Rede  und  Wortbetonung 488 

a.  Allgemeine  Wirkungen  der  Artikulationsgeschwindigkeit.    .    .    .  488 

b.  Vokalkontraktionen  und  Lautschwächungen 491 

c.  Lautänderungen  der  Verschlußlaute 493 

d.  Lautänderungen  unter  Einfluß  des  Akzentwechsels 507 

6.  Zur  Theorie  des  regulären  Lautwandels 511 

a.  Physische,  psychophysische  und  psychische  Hypothesen  ....  511 

b.  Der   reguläre  Lautwandel    als   resultierende  Wirkung  der  singu- 
lären  Lautänderungen 517 

VII.  Allgeraeiner  Rückblick  auf  die  Vorgänge  des  Lautwandels  526 

Fünftes  Kapitel.     Die  Wortbildung 530 

I.  Psychophysische  Bedingungen  der  Wortbildung 530 

1.  Zentrale  Störungen  der  Wortbildung 530 

2.  Hypothesen  über  die  physischen  Substrate  der  Wortbildung  .    .    .  535 

3.  Unzulänglichkeit  der  Lokalisationshypothesen 538 

4.  Physiologische  und  pathologische  Amnesie 540 

5.  Erscheinungen  der  Paraphasie 544 

6.  Psychophysisches  Prinzip  der  Funktionsübung 547 

7.  Psychologische  Deutung  der  zentralen  Sprachstörungen 550 

II.  Psychologie  der  Wortvorstellungen 557 

1.  Psychische  Struktur  der  Wortvorstellungen 557 

2.  Tachistoskopische  Methode 564 

3.  Erscheinungen  bei  kurz  dauernder  Einwirkung  von  Wortbildern    .  569 

4.  Das  Wort  als  simultane  Vorstellung 573 

5.  Psychologische  Analyse  der  Wortassimilationen 579 

6.  Apperzeption  des  Wortes  als  Einzelvorstellung 582 

in.  Stellung  des  Wortes  in  der  Sprache 583 

1.  Grund-  und  Beziehungselemente  des  Wortes 583 

2.  Wurzeln  der  Sprache 585 

3.  Unterscheidung  von  Sprachtypen  auf  Grund  der  Wurzeltheorie  .    .  587 

4.  Reale  Bedeutung  der  Sprach  wurzeln 592 


Inhalt.  XV 

Seite 

5.  Wort  und  Satz 599 

6.  Ursachen  der  Wortsonderung 603 

IV.  Neubildungvon  Wörtern 606 

1.  Volkstümliche  Neubildungen 606 

2.  Gelehrte  Neubildungen 612 

V.  Wortbildung  durch  Lautverdoppelung 618 

1.  Allgemeine  Formen  der  Lautverdoppelung 618 

2.  Bedeutungsarten  der  Lautverdoppelung 623 

a.  Verdoppelung  zum  Ausdruck  sich  wiederholender  Vorgänge  .    .  623 

b.  Verdoppelung  bei  Kollektiv-  und  Mehrheitsbegriffen 625 

c.  Verdoppelung  zur  Steigerung  von  Eigenschaftsbegriffen  ....  627 

d.  Verdoppelung  als  Steigerungsform  der  Verbalbegriffe 628 

3.  Psychologisches  Schema  der  Verdoppelungsformen 632 

4.  Psychologische  Theorie  der  Verdoppelungsformen 634 

VI.     Wortbildung  durch  Zusammensetzung 642 

1.  Begriff  und  Hauptformen  der  Wortzusammensetzung 642 

2.  Sprachliche  Formen  der  Wortzusammensetzung 648 

3.  Laut-  und  Bedeutungsänderungen  der  Komposita      653 

4.  Theorie  der  Wortzusammensetzung  und  Wortverschmelzung    ...  657 
VII.  Ursprüngliche  Wortbildung 661 

1.  Verhältnis  der  urspünglichen  zu  den  sekundären  Wortbildungen    .  661 

2.  Wortbildungen    bei    der   Entstehung    neuer   Sprachen    aus   voran- 
gegangenen      664 


Einleitung. 


I.  Aufgaben  und  Nachbargebiete  der  Völkerpsychologie. 

Die  Psychologie  in  der  gewöhnlichen  und  allgemeinen  Bedeutung 
dieses  Wortes  sucht  die  Tatsachen  der  unmittelbaren  Erfahrung, 
wie  sie  das  subjektive  Bewußtsein  uns  darbietet,  in  ihrer  Entstehung 
und  in  ihrem  wechselseitigen  Zusammenhang  zu  erforschen.  In  diesem 
Sinn  ist  sie  Individualpsychologie.  Sie  verzichtet  durchgängig 
auf  eine  Analyse  jener  Erscheinungen,  die  aus  der  geistigen  Wechsel- 
wirkung einer  Vielheit  von  Einzelnen  hervorgehen.  Eben  deshalb 
bedarf  sie  aber  einer  ergänzenden  Betrachtung,  die  wir  der  Völker- 
psychologie zuweisen.  Demnach  besteht  die  Aufgabe  dieses  Teil- 
gebiets der  Psychologie  in  der  Untersuchung  derjenigen  psychi- 
schen Vorgänge,  die  der  allgemeinen  Entwicklung  mensch- 
licher Gemeinschaften  und  der  Entstehung  gemeinsamer 
geistiger  Erzeugnisse  von  allgemeingültigem  Werte  zu- 
grunde liegen. 

Indem  die  Völkerpsychologie  den  Menschen  in  allen  den  Be- 
ziehungen, die  über  die  Grenzen  des  Einzeldaseins  hinausreichen  und 
auf  die  geistige  Wechselwirkung  als  ihre  allgemeine  Bedingung 
zurückführen,  zu  ihrem  Gegenstande  nimmt,  bezeichnet  nun  aber 
freilich  jener  Name  nur  unvollständig  ihren  Inhalt.  Der  Einzelne 
ist  nicht  bloß  Mitglied  einer  Volksgemeinschaft.  Als  nächster 
Kreis  umschließt  ihn  die  Familie;  durch  den  Ort,  den  Geburt  und 
Lebensschicksale  ihm  anweisen,  steht  er  inmitten  noch  anderer, 
mannigfach  sich  durchkreuzender  Verbände,  deren  jeder  wieder  von 
der  erreichten  besonderen  Kulturstufe  mit  ihren  Jahrtausende  alten 
Errungenschaften   und  Erbschaften  abhängt.     Alles  das  wird  durch 

Wandt,  Völkerpsychologie  I,   i.     2.  Aufl.  j 


2  Einleitung. 

den  Ausdruck  »Völkerpsychologie«  natürlich  nur  unvollkommen  an- 
gedeutet, und  es  könnte  darum  vielleicht  sinngemäßer  scheinen,  der 
individuellen  eine  »soziale«  Psychologie  gegenüberzustellen.  Doch 
würde  diese  Bezeichnung  wiederum  wegen  der  Bedeutung,  die  man 
dem  Begriff  der  »Gesellschaft«  innerhalb  der  sogenannten  Gesell- 
schaftswissenschaften bereits  angewiesen  hat,  Mißverständnissen  be- 
gegnen können.  Auch  ist  das  Volk  jedenfalls  der  wichtigste  der 
Lebenskreise,  aus  denen  die  Erzeugnisse  gemeinsamen  geistigen 
Lebens  hervorgehen.  Wir  werden  daher  den  Namen  »Völker- 
psychologie« hier  um  so  mehr  beibehalten  können,  als  er  in 
einem  dem  hier  angewandten  annähernd  entsprechenden  Sinne  nun 
einmal  eingeführt  ist.  Allerdings  pflegt  man  dabei,  von  der  un- 
mittelbaren Bedeutung  des  Wortes  ausgehend,  mit  diesem  Namen 
noch  einen  spezielleren  Begriff  zu  verbinden,  indem  darunter  eine 
Charakteristik  der  geistigen  Eigentümlichkeiten  der  einzelnen 
Rassen  und  Völker  verstanden  wird.  In  der  Tat  ist  eine  nach 
diesem  Plan  ausgeführte  psychische  Ethnologie  neben  Sprach- 
wissenschaft, Mythen-  und  Sittengeschichte  eine  unentbehrliche 
Grundlage  der  Völkerpsychologie.  Zugleich  teilt  sie  aber  mit  diesen 
historischen  Hilfsgebieten  die  Eigenschaft,  daß  sie  sich  selbst  hin- 
wiederum überall  auf  die  allgemeinen  Gesetze  des  geistigen  Zu- 
sammenlebens, also  auf  das  Forschungsgebiet,  das  wir  hier  der 
Völkerpsychologie  vorbehalten,  angewiesen  sieht.  Diesem  Verhältnis 
läßt  sich  zweckmäßig  wohl  dadurch  Ausdruck  geben,  daß  man 
jenen  psychischen  Teil  der  Ethnologie  als  eine  spezielle  Völker- 
psychologie der  allgemeinen  gegenüberstellt,  mit  der  sich  die 
folgende  Betrachtung  beschäftigen  soll. 

Ein  wesentlich  anderer  Gesichtspunkt  ist  dagegen  für  die  Ab- 
grenzung der  historischen  Disziplinen  gegenüber  der  Völkerpsy- 
chologie maßgebend.  Natürlich  gehören  die  völkerpsychologischen 
Erscheinungen,  insofern  sie  an  der  allgemeinen  geschichtlichen  Ent- 
wicklung der  Menschheit  teilnehmen,  sämtlich  auch  zum  Inhalt  der 
Geschichte.  Aber  während  die  letztere  den  ganzen  Umfang  der 
physischen  und  geistigen  Bedingungen  ins  Auge  faßt,  aus  denen 
diese  Entwicklung  entspringt,  um  sie  danach  in  ihrem  tatsächlichen 
Verlaufe  zu  schildern,  zergliedert  die  Völkerpsychologie  dieselbe 
lediglich  mit  Rücksicht  auf  die  in  ihr  hervortretenden  psychologischen 


Aufgaben  und  Nachbargebiete  der  Völkerpsychologie. 


Zusammenhänge    und    Gesetze.      Sie    verhält    sich    also    annähernd 
ähnlich    zur    Völkergeschichte,    wie    die    Individualpsychologie    zur 
historischen    Biographie.       Insbesondere     auf  jenen    Gebieten    der 
Geistesgeschichte,    die    sich,    wie    Sprach-,    Mythen-    und    Sitten- 
geschichte, mit  dem  Inhalt  der  Völkerpsychologie  am  nächsten  be- 
rühren,  scheiden   sich   deshalb   die  Aufgaben  ziemlich  scharf  schon 
nach    dem    äußeren    Merkmal,    daß    die    Erscheinungen    von    dem 
Augenblick   an   der  Geschichte  zufallen,    wo   sie  unmittelbar  durch 
das    persönliche    Eingreifen    Einzelner    zustande    kommen. 
Darum   gehört   die   Geschichte   der   geistigen  Erzeugnisse    in 
Literatur,    Kunst    und    Wissenschaft    nicht    zur    Völkerpsychologie. 
Denn    es    ist    die    Hauptaufgabe    der    Geschichte    auf    allen    diesen 
Gebieten,    das  Zusammenwirken   der  Natur-  und  Kulturbedingungen 
sowie    der    psychischen  Anlagen    der  Völker   mit  der  persönlichen 
Begabung   und  Betätigung  Einzelner  in   ihrem   inneren  Zusammen- 
hange   verständlich    zu   machen.     Insoweit    bei    der   Lösung    dieser 
Aufgabe    psychologische    Momente    von    allgemeinerer    Natur    zur 
Geltung  kommen,  sind  es  mehr  solche,  die  der  psychischen  Ethno- 
logie  als   der   allgemeinen  Völkerpsychologie  angehören.     Von  den 
Gebieten  der  allgemeinen  Kulturgeschichte  ist  es  aber  besonders  die 
Urgeschichte,   mit  der  sich  jene  berührt.     Auch  von  ihr  wird  sie 
jedoch  durch  die  abweichende  Richtung  ihrer  Interessen  geschieden. 
Die   Urgeschichte    hat  ihren   Blick   der  Geschichte    zugewandt:    die 
Zeugnisse,   die  Sprache,   Mythen  und  sonstige  Volksüberlieferungen 
an   die  Hand  geben,    sucht  sie,    ebenso    wie    physische    und   geo- 
graphische Merkmale,    zu  verwerten,    um  die  Geschichte  über  die 
durch   die  historischen  Zeugnisse  gesteckten  Grenzen  hinaus  zu  er- 
gänzen.   Die  Völkerpsychologie  hat  dagegen  ihr  Augenmerk  auf  die 
psychologische    Gesetzmäßigkeit    des   Zusammenlebens    selber    ge- 
richtet.    Die   lokalen  und  nationalen  Unterschiede  seiner  Gestaltung 
sind  ihr  gleichgültig,    insoweit  sie  nicht  in    irgendeiner  Weise   auf 
jene  Gesetzmäßigkeit  Licht  werfen.     So  kann  für  sie  eine  konkrete 
Sprachform  von  Interesse  sein,   weil   sich  in  ihr  gewisse  allgemein 
menschliche    Gesetze    der    Sprachentwicklung    in    charakteristischer 
Weise  äußern.    Doch  dies  Interesse  hört  auf,  sobald  etwa  eine  solche 
Form   als  Merkmal   einstigen  Zusammenhangs  verschiedener  Völker 
benützt  wird,  ein  Punkt,  wo  nun  umgekehrt  die  Erscheinung  für  den 


A  Einleitung. 

Geschichtsforscher  ihren  Hauptwert  gewinnt.  Dieses  Verhältnis  ergibt 
sich  eben  mit  Notwendigkeit  daraus,  daß  die  Völkerpsychologie  nichts 
anderes  sein  will  als  eine  Erweiterung  und  Fortsetzung  der  Psycho- 
logie auf  die  Phänomene  gemeinsamen  Lebens. 

In  dieser  Aufgabe  liegt  nun  aber  zugleich  ein  Grund  dafür,  daß 
ihre  Abgrenzung  gegen  die  historischen  Nachbargebiete  niemals 
eine  absolute  sein  kann.  Denn  der  Punkt,  wo  die  Einflüsse  indi- 
vidueller Willensbetätigung  beginnen  oder  aufhören,  bleibt  nicht 
selten  unbestimmbar;  vor  allem  aber  bilden  die  Wechselwirkungen 
zwischen  den  Individuen  und  der  Gemeinschaft  selbst  wesentliche 
Faktoren  der  völkerpsychologischen  Entwicklungen.  Dies  erhellt 
schon  daraus,  daß  das  geistige  Leben  einer  Gemeinschaft  schließlich 
doch  nur  aus  dem  Leben  der  Einzelnen  besteht,  die  ihr  angehören, 
und  daß  daher  alle  die  geistigen  Erzeugnisse,  die  wir  auf  die 
Gemeinschaft  als  solche  zurückführen,  wenn  sie  auch  ohne  das 
Zusammenleben  und  seine  Wechselwirkungen  nicht  möglich  sein 
würden,  doch  in  den  individuellen  Eigenschaften  ihre  letzte  Quelle 
haben.  Gleichwohl  gibt  es  zwei  Merkmale,  an  denen  das,  was 
wir  im  Leben  eines  Volkes  ein  »gemeinsames«  Erzeugnis  nennen, 
von  einer  individuellen  Schöpfung  prinzipiell  stets  zu  unterscheiden 
ist.  Das  erste  besteht  darin,  daß  an  jenem  unbestimmt  viele 
Glieder  einer  Gemeinschaft  in  einer  Weise  mitgewirkt  haben,  welche 
die  Zurückführung  auf  bestimmte  Individuen  ausschließt.  Das  zweite 
ist  dies,  daß  die  gemeinsamen  Erzeugnisse  in  ihrer  Entwicklung 
zwar  mannigfache,  zumeist  geschichtlich  bedingte  Unterschiede  dar- 
bieten, trotz  dieser  Mannigfaltigkeit  aber  gewisse  allgemeingültige 
Entwicklungsgesetze  erkennen  lassen;  und  diese  sind  es  dann, 
in  deren  Auffindung  die  Völkerpsychologie  ihre  letzte  und  wichtigste 
Aufgabe  sieht. 

Neben  Ethnologie  und  Geschichte  liegt  endlich  noch  ein  drittes 
Gebiet,  das  mit  der  Völkerpsychologie  sich  berührt:  die  Sozio- 
logie. Die  Frage,  was  die  Soziologie  sei,  welche  Stellung  sie 
innerhalb  der  sonstigen,  die  gesellschaftliche  Existenz  des  Menschen 
voraussetzenden  Arbeitsgebiete  zu  übernehmen  habe,  ist  freilich 
noch  eine  umstrittene.  Ihre  Aufgabe  läßt  sich  daher  vorläufig  aus 
ihr  selbst  nicht  entnehmen,  da  sie  noch  nicht  oder  mindestens 
nicht  in  einer  anerkannten  Form  existiert.     So   bleibt    denn   nichts 


Aufgaben  und  Nachbargebiete  der  Völkerpsychologie.  e. 

anderes  übrig,  als  umgekehrt  nach  den  Bedürfnissen  zu  fragen,  die 
sich  von  bestimmten,  bereits  vorhandenen  Wissensgebieten  aus  im 
Sinn  einer  allgemeineren,  deren  eigene  Grenzen  überschreitenden 
Gesellschaftswissenschaft  erheben.  Unter  diesem  Gesichtspunkt  ist 
nun  wohl  vor  allen  Dingen  festzuhalten,  daß  die  Soziologie,  wenn 
man  sie  nach  dieser  Bedürfnisfrage  bemißt,  keine  philosophische 
Wissenschaft  ist,  so  oft  auch  der  Versuch  gemacht  wurde,  sie  als 
eine  solche  aufzufassen.  In  Wahrheit  ist  die  philosophische  Sozio- 
logie von  Auguste  Comte  und  Herbert  Spencer  an  bis  auf  die 
neuesten  ähnlichen  Versuche  durchaus  nichts  anderes  als  eine  Ge- 
schichtsphilosophie unter  neuem  Namen.  Denn  es  ist  ja  selbst- 
verständlich ,  daß  die  Geschichtsphilosophie  immer  zugleich  eine 
Philosophie  der  menschlichen  Gesellschaft  sein  muß,  daß  sich  aber 
diese  eben  wegen  des  allgemeinen  Zusammenhanges,  in  den  die 
philosophische  Betrachtung  die  gesellschaftlichen  Erscheinungen 
bringt,  stets  zu  einer  philosophischen  Beleuchtung  der  geschicht- 
lichen Entwicklung  der  Menschheit  erweitern  wird.  Ganz  abseits 
von  einer  solchen  philosophischen  liegt  jedoch  die  empirische  Auf- 
gabe ,  die  gesellschaftlichen  Erscheinungen  in  ihrem  gesamten  Zu- 
sammenhang und  mit  Rücksicht  auf  die  Beziehungen,  in  denen  sie 
zueinander  stehen,  zu  beschreiben  und  auf  ihre  Bedingungen  zurück- 
zuführen. Die  Soziologie  in  diesem  Sinn  ist  eine  Zustandsschil- 
derung  der  Gesellschaft  innerhalb  bestimmter  zeitlicher  und 
räumlicher  Grenzen.  Sie  steht  einerseits  mit  der  Geschichte,  ander- 
seits mit  den  einzelnen  sozialen  Wissenschaften,  Rechts-,  Wirt- 
schafts-, Staatslehre,  in  enger  Verbindung.  Ihre  Aufgaben  greifen  teils 
in  alle  diese  Einzelgebiete  ein,  teils  bringt  sie  in  der  Untersuchung 
der  Verhältnisse  der  verschiedenen  Faktoren  des  gesellschaftlichen 
Lebens  zueinander  eine  neue  und  eigenartige  Aufgabe  hinzu.  Für 
diese  bietet  vornehmlich  die  Statistik  der  Bevölkerungserscheinungen 
das  erforderliche  Material.  Von  der  Geschichte  scheidet  sich  eine 
solche  empirische  Soziologie  dadurch,  daß  jene  die  ganze  Aufein- 
anderfolge der  Zustände  samt  den  Ereignissen,  die  den  Wechsel  der 
Zustände  herbeiführten,  zu  ihrem  Objekt  hat,  während  diese  ge- 
wissermaßen Querschnitte  durch  einzelne  Stellen  dieses  fortan  sich 
verändernden  organischen  Ganzen  zu  legen  sucht.  Dabei  kon- 
zentriert sich  wiederum  naturgemäß   das  vor\valtende  soziologische 


6  Einleitung. 

Interesse  auf  gewisse,  auch  historisch  besonders  bedeutsame  Epo- 
chen, unter  denen  die  Zustände  der  Gegenwart  um  so  mehr  im 
Vordergrund  stehen,  als  für  sie  allein  die  Hilfsmittel  der  statistischen 
Methode  ausgebildet  genug  sind,  um  die  Ergebnisse  einer  gewissen 
Exaktheit  nahe  zu  bringen^).  Nun  ist  es  klar,  daß  eine  em- 
pirische Soziologie  in  diesem  Sinn  in  dem  Maße,  als  sie  von  den 
ihr  zunächst  obliegenden  deskriptiven  Aufgaben  zu  einer  Interpreta- 
tion der  Erscheinungen  fortschreiten  will,  nach  manchen,  die  physische 
Seite  des  Zusammenlebens  betreffenden  Richtungen  mit  gewissen 
Teilen  der  Naturwissenschaft,  nach  andern  mit  der  Individual-  und 
Völkerpsychologie  in  Konnex  treten  wird.  Aber  diese  psychologi- 
schen wie  jene  naturwissenschaftlichen  Gebiete  können  dabei  nur 
als  Hilfsdisziplinen  einer  solchen  die  gesellschaftlichen  Verhältnisse 
interpretierenden  Soziologie  gedacht  werden.  Dagegen  ist  es  völlig 
unfaßbar,  wie  etwa  umgekehrt  die  Soziologie  eine  Grundlage,  sei 
es  der  Psychologie  überhaupt,  sei  es  insbesondere  der  Völkerpsy- 
chologie werden  sollte.  Wenn  daher  behauptet  worden  ist,  die  hier 
der  Völkerpsychologie  zugewiesene  Aufgabe  sei  eigentlich  das  recht- 
mäßige Eigentum  einer  zukünftigen  Soziologie,  oder  diese  müsse 
mindestens  erst  gefestigt  sein,  ehe  sich  daran  denken  lasse,  nun  von 
ihr  aus  zu  einer  ihr  untergeordneten  sozialen  Psychologie  zu  ge- 
langen, so  zeigen  diese  Äußerungen,  daß  man  weder  von  dem, 
was  allenfalls  eine  Soziologie,  noch  von  dem,  was  die  Völkerpsy- 
chologie zu  leisten  hat,  eine  klare  Vorstellung  besitzt.  Hinsichtlich 
der  Soziologie  mag  das  angesichts  der  noch  bestehenden  Unsicher- 
heit ihres  Programms  entschuldbar  sein.  Nicht  so  für  die  Völker- 
psychologie, wo  in  den  allgemein  menschlichen  Erzeugnissen,  be- 
sonders in  Sprache,    Mythus  und   Religion,   Sitte  und  Kultur,    die 


^)  Vgl.  über  diese  Aufgaben  der  Soziologie  neben  und  über  den  einzelnen  Ge- 
sellschaftswissenschaften, -wie  Ethnologie,  Bevölkerungslehre,  Staatswissenschaft,  die 
Ausführungen  in  meiner  Logik  ~  Bd.  2,  2,  S.  436  ff.  Mit  der  Beschränkung,  daß  die 
philosopische  Soziologie  gemeint  sei,  stimme  ich  ganz  der  These  Paul  Barths 
zu,  daß  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie  eins  und  dasselbe  sind  (Paul  Barth, 
Die  Philosophie  der  Geschichte  als  Soziologie,  Bd.  i,  1897,  S.  10  ff.).  Aber  die 
These  verliert,  wie  ich  meine,  ihr  Recht,  wenn  man  den  Begriff  der  Soziologie  im 
Sinne  einer  empirischen  Gesellschaftswissenschaft  auffaßt:  dann  gehört  diese  ebenso- 
wenig wie  die  Geschichte  zur  Philosophie,  sondern  ist  höchstens  neben  der  Geschichte 
als  eine  Grundlage  der  Geschichtsphilosophie  anzuerkennen. 


Volksgeist  und  Volksseele. 


Probleme  überall  bereit  liegen  und  schon  auf  Grund  der  allgemeinen 
Ergebnisse,  die  uns  die  experimentelle  Psychologie  an  die  Hand 
gibt,  zu  einer  psychologischen  Analyse  und  Interpretation  heraus- 
fordern. 


II.  Volksgeist  und  Volksseele. 

Geist  und  Seele  sind  Wechselbegrifife,  deren  Bedeutungsentwick- 
lung, wenn  sie  auch  erst  einer  späteren  Zeit  angehört,  dennoch  bis 
in  das  mythologische  Denken  zurückreicht.  Geister,  nicht  Seelen, 
nennt  der  Aberglaube  noch  heute  die  körperlos,  aber  gleichwohl 
materiell  gedachten  Schatten  der  Verstorbenen  oder  jene  höheren 
Wesen,  von  denen  er  annimmt,  sie  seien  nie  an  einen  körperlichen 
Leib  gebunden  gewesen.  Die  Seele  gilt  ihm  zwar  auch  als  ein  be- 
sonderes Wesen,  das  beim  Tode  den  Körper  verlasse;  doch  sobald 
dies  geschehe,  entschwinde  sie  zugleich  der  sinnlichen  Anschauung. 
Wo  sie  in  dieser  bleibt,  da  wird  sie  eben  zum  Geiste.  Darum  ist 
die  Seele  für  den  Volksglauben  nur  in  ihrer  Gebundenheit  an  den  Leib 
der  Erfahrung  zugänglich.  Getrennt  von  ihm  existiert  sie  nur  in  einer 
überirdischen  Welt.  Die  Geister  dagegen  sind  Wesen,  die  ebensowohl 
in  der  Umgebung  der  Lebenden,  wie  jenseits  derselben  ein  selbständiges 
Dasein  führen. 

Diese  Unterscheidungen  des  mythologischen  Denkens  wirken 
deutlich  noch  in  dem  uns  geläufigen  wissenschaftlichen  Gebrauch  der 
Begriffe  nach.  Vom  Geist  und  von  geistigen  Vorgängen  reden  wir 
überall  da,  wo  an  irgendwelche  Beziehungen  zur  körperlichen  Natur 
nicht  gedacht,  oder  wo  geflissentiich  von  ihnen  abgesehen  wird.  Bei 
der  Seele  und  den  seelischen  Vorgängen  sind  uns  dagegen  stets 
zugleich  die  Beziehungen  zum  physischen  Leben  gegenwärtig.  Darum 
übersetzen  wir  mit  gutem  Recht  das  Wort  Psychologie  durch  »Seelen- 
lehre«, während  wir  den  Naturwissenschaften  die  »Geisteswissen- 
schaften« gegenüberstellen.  Die  Psychologie  kann  nun  unmöglich  an 
den  Beziehungen  des  Seelenlebens  zum  körperlichen  Sein  vorüber- 
gehen. Denn  empirisch  ist  uns  die  Seele  überhaupt  in  einem 
Zusammenhang  von  Erfahrungen  gegeben,  die  zu  ihrem  Zustande- 
kommen  einen  physischen  Organismus  von  gewissen  Eigenschaften 


8  Einleitung. 

fordern.  Diese  Beziehung  zur  Naturseite  der  Erscheinungen  gilt 
zwar  auch  für  die  sämtlichen  sogenannten  Geisteswissenschaften. 
Aber  da  bei  ihnen  doch  bald  mehr,  bald  weniger  diese  Naturseite 
außer  Betracht  bleibt,  so  scheint  es  berechtigt,  eine  solche  Rücksicht- 
nahme auf  physische  Bedingungen  und  Wirkungen  hier  nur  still- 
schweigend hinzuzudenken,  um  die  Beziehungen  zu  dem  geistigen 
Leben  als  das  allen  diesen  Gebieten  gemeinsame  und  sie  von  der 
Naturforschung  scheidende  Merkmal  zu  betonen.  Wie  die  Psycho- 
logie überhaupt,  so  hat  es  daher  auch  die  Völkerpsychologie,  in- 
sofern die  für  jene  maßgebenden  Bedingungen  notwendig  für  sie 
gleichfalls  gelten,  mit  der  Seele,  nicht  mit  dem  Geist  in  der  diesen 
unterscheidenden  Bedeutung  des  Wortes  zu  tun.  Nur  greift  sie  die 
besonderen  Erscheinungen  heraus,  die  an  die  Bedingungen  des 
menschlichen  Zusammenlebens-  gebunden  sind.  Sie  wird  daher 
sinngemäß  eine  »Lehre  von  der  Volksseele«  zu  nennen  sein.  Vom 
»Volksgeiste«  werden  wir  dagegen,  wie  es  auch  der  Sprachgebrauch 
bestätigt,  dann  reden  können,  wenn  es  sich  um  eine  Charakteristik 
der  geistigen  Eigentümlichkeiten  eines  bestimmten  Volkes  oder  ver- 
schiedener Völker  handelt.  Eine  solche  Untersuchung  würde  dem- 
nach nicht  der  eigentlichen  Völkerpsychologie,  sondern  einer 
Charakterologie  der  Völker  oder  dem  psychologischen  Teil  der 
Ethnologie  zufallen. 

Nicht  selten  hat  man  freilich  gegen  die  Berechtigung  einer  Völker- 
psychologie Bedenken  erhoben,  die  eben  an  jene  Vorstellungen 
anknüpfen,  von  denen  die  Unterscheidung  der  Begriffe  Seele  und 
Geist  ursprünglich  ausgegangen  ist.  »Wenn  wir  eine  Seele  als 
Substrat  der  geistigen  Lebensäußerungen  eines  Individuums  voraus- 
setzen«, sagt  man,  »so  entspricht  das  ebenso  dem  Gebundensein 
dieser  Lebensäußerungen  an  einen  bestimmten  physischen  Körper, 
wie  der  Unmöglichkeit,  aus  den  Eigenschaften  des  letzteren  die 
seelischen  Vorgänge  abzuleiten.  Wo  aber  soll  eine  Volksseele 
ihren  Sitz  haben?  So  wenig  es  einen  einzigen  einheitlichen  Volks- 
körper gibt,  ebenso  undenkbar  erscheint  ein  einheitliches  Substrat 
des  gemeinsamen  geistigen  Lebens.  Wie  vielmehr  der  Volkskörper 
aus  nichts  anderem  als  aus  den  Körpern  aller  einzelnen  Volks- 
genossen besteht,  gerade  so  löst  sich  die  sogenannte  Volksseele  ohne 
Rest  in  die  Summe  der  Einzelseelen  auf,  die  diesen  Volksgenossen 


Volksgeist  und  Volksseele. 


angehören.  Sie  ist  ein  Geschöpf  der  mythologischen  Phantasie,  keine 
Wirklichkeit. « 

Es  ist  jedoch  augenfällig,  daß  diejenigen,  die  diese  Einwände 
erheben,  selbst  in  jener  mythologischen  Vorstellungsweise  befangen 
sind,  die  sie  hinter  dem  Ausdruck  Volksseele  verborgen  wähnen. 
Der  Begriff  »Seele«  ist  für  sie  so  untrennbar  an  die  Vorstellung 
eines  substantiellen,  mit  einem  eigenen  Körper  ausgestatteten  Wesens 
geknüpft,  daß  ihnen  jeder  Wortgebrauch,  der  ihm  diese  Bedeutung 
raubt,  für  unerlaubt  gilt.  Da  die  Völkerpsychologie  nicht  der  ge- 
eignete Ort  ist,  um  an  metaphysischen  Hypothesen  Kritik  zu  üben, 
so  können  wir  uns  hier  mit  dem  Hinweis  begnügen,  daß,  wie  wichtig 
auch  im  metaphysischen  Interesse  die  Frage  nach  der  Bedeutung 
des  Begriffs  einer  substantiellen  Seele  sein  mag,  die  empirische 
Psychologie  als  solche  an  dieser  Frage  gänzlich  unbeteiligt  bleibt. 
Denn  wie  man  auch  über  die  Notwendigkeit  denkt,  zu  dem  Ge- 
samtinhalt dessen,  was  wir  das  seelische  Leben  nennen,  eine 
transzendente  Substanz  als  Trägerin  vorauszusetzen,  gewiß  ist,  daß 
wir  es  in  der  Erfahrung  niemals  mit  einer  solchen  zu  tun  haben, 
und  daß,  wo  man  etwa  über  diesen  Punkt  anders  dachte,  die 
Voraussetzungen  über  die  Seelensubstanz  entweder  sich  als  unnütze 
metaphysische  Ornamente  erwiesen  oder  zu  zweifelhaften,  wenn 
nicht  direkt  der  Erfahrung  widerstreitenden  Folgerungen  führten. 
Für  die  empirische  Psychologie  kann  die  Seele  nie  etwas  anderes 
sein  als  der  tatsächlich  gegebene  Zusammenhang  der  psychischen 
Erlebnisse,  nichts,  was  zu  diesen  von  außen  oder  von  innen  hinzu- 
kommt. 

Aus  allem  dem  folgt,  daß  der  Begriff  »Seele«  keine  andere 
empirische  Bedeutung  haben  kann  als  die,  den  Zusammenhang  der 
unmittelbaren  Tatsachen  unseres  Bewußtseins  oder,  wie  wir  diese  der 
Kürze  wegen  nennen  wollen,  der  »psychischen  Vorgänge«  selbst  zu 
bezeichnen.  Natürlich  kann  auch  die  Völkerpsychologie  den  Seelen- 
begriff nur  in  diesem  empirischen  Sinne  gebrauchen;  und  es  ist  ein- 
leuchtend, daß  in  ihm  die  »Volksseele«  genau  mit  demselben  Recht 
eine  reale  Bedeutung  besitzt,  wie  die  individuelle  Seele  eine  solche 
für  sich  in  Anspruch  nimmt.  Die  geistigen  Erzeugnisse,  die  durch 
das  Zusammenleben  der  Glieder  einer  Volksgemeinschaft  entstehen, 
sind  nicht  minder  tatsächliche  Bestandteile  der  Wirklichkeit  wie  die 


1  o  Einleitung. 

psychischen  Vorgänge  innerhalb  des  Einzelbewußtseins.  Sic  sind 
allerdings  nichts,  was  jemals  außerhalb  individueller  Seelen  vor  sich 
gehen  könnte.  Aber  wie  nicht  die  psychischen  Elemente  im  iso- 
lierten Zustande,  sondern  ihre  Verbindungen  und  die  hieraus  ent- 
springenden Produkte  das  bilden,  was  wir  eine  Einzelseele  nennen, 
so  besteht  die  Volksseele  im  empirischen  Sinne  nicht  aus  einer 
bloßen  Summe  individueller  Bewußtseinseinheiten,  deren  Kreise  sich 
mit  einem  Teil  ihres  Umfangs  decken;  sondern  auch  bei  ihr 
resultieren  aus  dieser  Verbindung  eigentümliche  psychische  und 
psychophysische  Vorgänge,  die  in  dem  Einzelbewußtsein  allein 
entweder  gar  nicht  oder  mindestens  nicht  in  der  Ausbildung  ent- 
stehen könnten,  in  der  sie  sich  infolge  der  Wechselwirkung  der 
Einzelnen  ent\vickeln.  So  ist  die  Volksseele  ein  Erzeugnis  der 
Einzelseelen,  aus  denen  sie  besteht:  aber  diese  sind  nicht  minder 
Erzeugnisse  der  Volksseele,  an  der  sie  teilnehmen.  Es  wiederholt 
sich  hier,  was  bei  solchen  Begriftsbildungen,  die  nicht  bestimmte  Ob- 
jekte, sondern  ver\vickelte  Verbindungen  und  Beziehungen  von  Tat- 
sachen ausdrücken,  zumeist  geschieht:  die  Begriffe  erfahren  je  nach 
den  Gebieten  ihrer  Anwendung  notwendige  Modifikationen.  Ahnlich 
wie  wir  kein  Bedenken  tragen,  den  Staat  einen  »Organismus«  zu 
nennen,  ohne  zu  übersehen,  daß  dem  Begriff  in  dieser  neuen  Bedeu- 
tung nicht  alle  Merkmale  zukommen,  die  seiner  ursprünglichen  An- 
wendung auf  lebende  organische  Einzelwesen  eigen  sind,  und  daß 
er  dagegen  dort  Merkmale  annimmt,  die  ihm  hier  fehlen,  —  ähn- 
lich verhält  es  sich  mit  der  »Volksseele«.  Der  individuellen  Seele 
gegenüber  bezeichnet  sie  sowohl  eine  Erweiterung  wie  eine  Ver- 
engerung des  Begriffs:  eine  Erweiterung,  da  bei  dieser  Übertragung 
gewisse  Begriffselemente,  namentlich  die  der  Einzelseele  anhaftende 
Beziehung  auf  einen  physischen  Einzelorganismus,  verloren  gehen; 
eine  Verengerung,  indem  sich  aus  dem  Zusammenleben  vieler  In- 
dividuen besondere  Bedingungen  und  Eigenschaften  ergeben.  Hier- 
her gehört  namentlich  die  Beschränkung  der  völkerpsychologisch 
bedeutsamen  psychischen  Leistungen  auf  bestimmte  Seiten  des  gei- 
stigen Lebens,  sowie  die  Tatsache,  daß  die  völkerpsychologischen 
Ent^vicklungen  das  individuelle  Leben  überdauern,  dabei  aber  doch, 
da  sie  durchaus  von  den  psychischen  Eigenschaften  der  Einzelnen 
getragen  sind,   mit  dem  Wechsel  der  Generationen  eigenartige  Ver- 


Volksgeist  und  Volksseele. 


änderungen  erfahren,  die  prinzipiell  jeder  Vergleichbarkeit  mit  dem 
individuellen  Seelenleben  entrückt  sind.  Besonders  diese  Kontinuität 
psychischer  Entwicklungen  bei  fortwährendem  Untergang  ihrer  in- 
dividuellen Träger  ist  es,  die  als  ein  der  Volksseele  spezifisch  zu- 
gehörendes Merkmal  angesehen  werden  kann. 

Das  Verhältnis  der  Einzelseele  zur  Volksseele,  wie  es  in  allen 
diesen  Eigenschaften  zum  Ausdruck  kommt,  bedingt  nun  aber  not- 
wendig auch  eine  gewisse  Beschränkung  des  in  dem  zweiten  dieser 
Begriffe  zusammengefaßten  empirischen  Tatbestandes  und  damit 
eine  Begrenzung  der  völkerpsychologischen  Aufgaben  selber.  Wenn 
es  innerhalb  des  Bereichs  unmittelbarer  Erlebnisse  des  Einzelbewußt- 
seins schlechterdings  nichts  gibt,  was  nicht  als  Inhalt  subjektiver  Er- 
fahrung zugleich  Inhalt  der  Individualpsychologie  wäre,  so  kann 
von  den  psychischen  Erlebnissen  einer  Volksgemeinschaft  nicht  das- 
selbe gesagt  werden.  Der  Gesamtinhalt  dieser  Erlebnisse  umfaßt 
ja  auch  alles  das,  was  Einzelnen  als  ihr  ausschließliches  Eigentum 
angehört,  oder  was,  obzwar  es  in  weitere  Kreise  gedrungen  ist,  un- 
zweideutig auf  einen  individuellen  Ursprung  zurückweist.  Zugleich 
ist  es  aber  wegen  dieser  fortwährenden  Wechselwirkungen  des  Ein- 
zelnen und  der  Gesamtheit  unvermeidlich,  daß  die  Grenze  zwischen 
dem,  was  dem  Ganzen  angehört,  und  dem,  was  Eigentum  des  Ein- 
zelnen ist,  keineswegs  scharf  gezogen  werden  kann.  Ja  man  kann 
sagen:  das  Ineinanderfließen  beider  Gebiete  liegt  so  sehr  in  der 
Natur  des  Gegenstandes,  daß  es  fehlerhaft  wäre,  wollte  man  durch 
künstliche  Begriffsunterscheidungen  jenes  Übergangsgebiet  beseitigen. 
Dennoch  lassen  sich  zwei  allgemeine  Kennzeichen  festhalten,  ein 
äußeres  und  ein  inneres,  die  innerhalb  des  eine  Fülle  individueller 
und  gemeinsamer  geistiger  Bewegungen  umfassenden  Gesamtlebens 
bestimmte  Tatsachen  als  solche  genereller,  andere  als  solche  in- 
dividueller Natur  ausscheiden.  Erstens  ist  es  das  direkt  nach- 
weisbare Eingreifen  Einzelner  mit  den  durch  ihre  individuelle 
Eigenart  bestimmten  Willensrichtungen,  das  eine  Reihe  von  Er- 
scheinungen als  solche  erkennen  läßt,  die  zwar  auf  das  gemein- 
same Leben  Wirkungen  ausüben  können,  aber  in  ihrem  Ursprung 
nicht  der  Volksseele  angehören.  Zweitens  ist  es  durchgängig  das 
Gebiet  des  willkürlichen,  eine  bewußte  Abwägung  der  Motive 
voraussetzenden  Handelns,  das  außerhalb  der  völkerpsychologischen 


1 2  Einleitung. 

Vorgäng-e  liegt.  Für  diese  bleiben  dagegen  die  Gebiete  der  trieb- 
artigen  Willenshandlungen  von  vorwiegender  Bedeutung.  Daß  bei 
beiden  Merkmalen  die  Grenzen  vielfach  unsicher  sind,  versteht 
sich  übrigens  von  selbst,  da  ja  das  individuelle  Handeln  stets  und 
oft  unmerklich  in  allgemeine  Wirkungen  übergehen  kann,  und  da 
Trieb-  und  Willkürhandlungen  nicht  Vorgänge  verschiedener  Art, 
sondern  nur  Stufen  einer  und  derselben  Willensentwicklung  sind. 
Ebenso  ist  es  einleuchtend,  daß  beide  Merkmale  im  Grunde  nur  eine 
einzige  Tatsache  ausdrücken,  die  jedesmal  unter  einem  verschiedenen 
Gesichtspunkte  betrachtet  wird:  im  ersten  Fall,  wo  der  individuelle 
Einfluß  auf  das  allgemeine  Leben  zum  Maße  genommen  wird,  unter 
dem  historischen;  im  zweiten  Fall,  wo  die  Natur  der  Vorgänge 
dieses  Maß  bestimmt,  unter  dem  psychologischen.  Diesen  beiden 
kann  endlich  als  ein  dritter,  freilich  in  noch  höherem  Grade  bloß 
relativer  Gesichtspunkt  der  ethnologische  angereiht  werden.  Nichts 
bezeichnet  nämlich  die  Grenze,  wo  der  Begriff  des  Naturvolkes  dem 
des  Kulturvolkes  Platz  macht,  schärfer  als  eben  jenes  Eingreifen 
der  Individuen  mit  ihrem  willkürlichen  Handeln.  Denn  dieses  ist  es, 
durch  das  sich  das  gemeinsame  Leben  zu  einem  geschichtlichen  in 
der  engeren  Bedeutung  des  Wortes  erhebt,  indem  es  eine  dauernde 
Überlieferung  v^on  Generation  zu  Generation  ermöglicht.  Dagegen 
herrscht  bei  dem  Naturvolke  das  triebartige  und  instinktive  Leben 
vor,  das  aus  der  inneren  Naturbestimmtheit  und  den  äußeren  Natur- 
bedingungen mit  einer  Art  naturgesetzlicher  Notwendigkeit  hervor- 
geht und  deshalb  dem  Wechsel  geschichtlicher  Schicksale  gegen- 
über relativ  gleichförmig  abfließt.  Auch  die  Aufeinanderfolge  ver- 
schiedener Zustände  hat  darum  hier  etwas  von  jener  Regelmäßigkeit, 
welche  die  einfacheren  seelischen  Assoziations-  und  Triebvorgänge 
im  Einzelbewußtsein  beherrscht'].  Immerhin  bringt  es  die  nirgends 
ganz  fehlende  Kontinuität  der  Entwicklungen  mit  sich,  daß  auch  die 
Grenze  zwischen  Natur  und  Kultur  nirgends  scharf  zu  ziehen  ist, 
und  daß  daher  der  »Naturzustand«  eigentlich  immer  schon  einen 
primitiven  Kulturzustand  bedeutet.  Die  Frage,  wo  eine  Kultur  noch 
als  primitiv  anzusehen  sei  und  wo  nicht,  kann  daher  unmöglich  ein 
für  allemal  unzweideutig  beantwortet  werden.     Auch  ist  ja  nicht  zu 


A.  Vierkandt,  Naturvölker  und  Kulturvölker.   1S96,  S.  7  ff. 


Volksgeist  und  Volksseele.  j  ■} 


vergessen,  daß  sich  dereinst  alle,  selbst  die  höchsten  Kulturvölker, 
in  einem  Zustande  primitiver  Kultur  befanden.  Da  nun  Sprache, 
Mythus,  Sitte  überall  in  diese  Urzeit  zurückreichen  oder  wenigstens 
Überlieferungen  aus  ihr  enthalten,  so  bilden  beide,  die  Natur-  und 
die  Kulturvölker,  zusammengenommen  die  einander  ergänzenden 
Objekte  der  Völkerpsychologie.  Lassen  uns  die  Naturvölker  am 
deutlichsten  noch  die  Ausgangspunkte  der  psychischen  Entwick- 
lungen erkennen,  so  bieten  die  Kulturvölker  in  dem  geschichtlichen 
Werden  ihrer  geistigen  Erzeugnisse  das  unentbehrliche  Substrat  für 
die  Erkenntnis  dieser  Entwicklungen. 

Für  beide  Aufgaben  ist  nun  jenes  Verhältnis  des  Einzelnen  zur 
Gemeinschaft,  wie  es  die  obige  Definition  der  Begriffe  Einzelseele 
und  Volksseele  andeutet,  von  entscheidender  Bedeutung.  So  wenig 
auch  die  Gemeinschaft  eines  Volkes  ohne  die  einzelnen  Volksge- 
nossen bestehen  könnte,  so  ist  sie  darum  doch  nicht  eine  bloße 
Addition  und  Verstärkung  der  Eigenschaften  und  Tätigkeiten,  die 
dem  Einzelnen  für  sich  allein  schon  zukommen.  Vielmehr  ist  es 
eben  die  Verbindung  und  Wechselwirkung  der  Individuen,  welche 
die  Gemeinschaft  als  solche  zu  den  Anlagen  des  Einzelnen  hinzu- 
bringt, und  dui'ch  die  sie  in  diesem  neue,  dem  gemeinsamen  Leben 
spezifisch  angehörige  Leistungen  weckt.  Dieses  Medium  der  Ver- 
bindung und  Wechselwirkung  ist  es  aber,  in  welchem  die  Völker- 
psychologie ihre  eigensten  Aufgaben  vorfindet.  Wie  die  Annahme 
einer  substantiellen  Volksseele  ein  von  psychologischer  Auffassung 
weit  abführender  Irrweg  ist,  so  ist  auch  der  Versuch,  die  Er- 
zeugnisse der  Gemeinschaft  und  ihre  Veränderungen  ausschließlich 
auf  individuelle  Einflüsse  zurückzuführen,  also  die  Völkerpsycho- 
logie gewissermaßen  zugunsten  der  Individualpsychologie  auszu- 
schalten, nicht  minder  undurchführbar.  In  der  Tat  kommt  man  auf 
diesem  Wege,  abgesehen  von  gewissen  singulären  Grenzfällen,  durch- 
weg zu  willkürlichen  Interpretationen,  hinter  denen  schließlich  als 
letzte  Zuflucht  der  absolute  Zufall  steht.  Dahin  gehört  z.  B.  die 
noch  heute  in  der  Sprachwissenschaft  weit  verbreitete  Annahme, 
jeder  generelle  Laut-  oder  Bedeutungswandel  eines  Wortes  sei  auf 
irgendeine  einmalige  individuelle  und  okkasionelle  Abweichung  zu- 
rückzuführen. Während  zahlreiche  andere  individuelle  Abweichungen 
wieder  verloren  gingen,   sei  irgendeine,  weil  sie   einer  bestehenden 


I  ^  Einleirang. 

Neigung  entgegenkam,  usuell  geworden  V>  Diese  mitwirkende  Nei- 
gung selbst  gilt  dabei  im  allgemeinen  als  eine  von  dem  individuellen 
Ausgangspunkt  der  Veränderung  gänzlich  unabhängige  Anlage:  sie, 
wird  zuweilen  in  dem  Wohlgefallen  am  Neuen,  besonders  aber  in 
dem  der  menschlichen  Gattimg  eigenen  Nachahmungstrieb  gesehen. 
Da  nun  die  ursprünglichen  individuellen  Abweichungen,  namentlich 
soweit  sie  dem  Gebiet  der  Lautänderungen  angehören,  rein  zufälliger 
Art  sein  können  und  sich  wegen  ihrer  absolut  unberechenbaren 
Entstehvmgsweise  jeder  Erforschung  ihrer  Bedingungen  entziehen. 
so  geht  diese  Theorie  vom  Übergang  okkasioneller  in  usuelle  Er- 
scheinungen offenbar  der  Frage  nach  den  Ursachen  der  Erschei- 
nungen überhaupt  aus  dem  Wege,  oder  sie  weist  statt  der  Antwort 
auf  das  ^soziologische  Gesetz <  der  Nachahmung  hin,  nach  vv'elchem 
kein  einer  Gesellschaft  angehörendes  Individuum  irgend  etwas  Auf- 
fallendes oder  vom  Gewohnten  Abweichendes  tun  könne,  ohne  daß 
seine  Genossen  dem  suggestiven  Einfluß  unterliegen,  den  eine  solche 
Handlung  ausübt.  In  dieser  Nachahmungstheorie  ist  dann  im  eigent- 
lichsten Sinne  der  Zufall  zum  Schöpfer  der  sozialen  Erscheinungen, 
also  schließlich  der  Gesellschaft  selber  gemacht,  die  sich  doch  nur 
aus  allen  jenen  Erscheinungen  zusammensetzt.  »Die  Gesellschaft*  — 
so  resümiert  daher  folgerichtig  G.  Tarde  seine  auf  dieser  Voraus- 
setzung aufgebauten  Überlegimgen  —  >ist  die  Nachahmung,  und 
die  Nachahmung  ist  eine  Art  somnambulischer  Wirkung«  ^ ,. 

Nun  spielt  zwar  die  Nachahmung  gewiß  in  vielen  Fallen  eine 
mitwirkende  Rolle,  aber  gerade  bei  den  tiefer  greifenden  und  allge- 
meineren Verändenmgen  des  gemeinsamen  Lebens  und  seiner  Er- 
zeugnisse kommt  ihr  schwerlich  jemals  die  Hauptrolle  zu.  Vielmehr 
erweisen  sich  diese  Veränderungen  überall,  wo  wir  imstande  sind 
ihren  Bedingungen  nachzugehen,  und  sie  erweisen  sich  auch  dann, 
wenn  ims  die  letzten  imd  entscheidenden  Ursachen  noch  unbekannt 
bleiben,  regelmäßig  als  solche,  die  nicht  von  einem  Individuum  imd 
nicht  einmal  von    einer    bestimmt  begrenzten  Zahl  von  Individuen 


^  H.  PaoL  Prinzipien  der  Sprachgescliiclite  3,  S.  68.  Ähnlich  Delbrück.  Grund- 
fragen der  Sprachforschimg  1901.  S.  98  ff.  Vgl.  dzza  meine  Schrift:  Sprachgeschichte 
und  Sprachpsychologie.  S.  59  ff. 

^,  >La  societe  c  est  1  Imitation,  et  1  Imitation  c'est  une  espece  de  somnambnlisme« 
(Tarde,  Les  lois  de  l'imitatiön  ^,  1895,  pag.  95  . 


Volks^eist  und  Volksseele. 


ausgehen  können,  sondern  auf  Einflüssen  beruhen  müssen,  die  ent- 
weder die  sämtlichen  ]\Iitglieder  einer  Gemeinschaft  oder  mindestens 
die  überwiegende  Masse  derselben  treffen.  Dabei  mögen  dann  im- 
merhin die  einen  mehr,  die  andern  weniger  diesen  Einflüssen  unter- 
li^en,  und  es  mag  überdies,  nachdem  erst  die  allgemeine  Richtimg 
eingeschlagen  ist,  die  aus  dem  Zusammenleben  entspringende  und 
zum  Teil  auf  dem  Trieb  zur  Nachahmung  beruhende  Ausgleichung 
indiNndueller  Unterschiede  nachträglich  mit^\irken.  Nirgends  verrat  sich 
aber  bei  allem  dem  die  primäre  Natur  der  generelien  Einflüsse 
deutlicher  als  auf  dem  Gebiet  der  Sprache.  Wenn  lateinisch  t\--V  in 
italienisch  otto  oder  im  Deutschen  brumben  in  brumvicn  überging, 
und  diese  Beispiele  in  eine  fast  unübersehbare  Menge  analoger  Er- 
scheinungen sich  einreihen,  so  spricht  nicht  die  geringste  \\'ahr- 
scheinlichkeit  dafür,  daß  irgendwo  imd  irgend\^"ann  zufallig  einmal 
einem  Einzelnen  oder  mehreren  Einzelnen  diese  Abweichung  be- 
gegnet und  dann  erst  von  andern  ebenso  zufällig  wiederholt  oder 
nachgeahmt  und  so  endlich  usuell  geworden  sei.  Da  sich  xielmehr 
beobachten  läßt,  daß  ein  solcher  an  den  Kontakt  der  Laute  gebun- 
dener Wandel  leicht  von  selbst  eintritt,  namentlich  wenn  man  von 
einer  langsameren  zu  einer  schnelleren  Sprechweise  übergeht,  und 
da  dieser  letztere  Übergang  aller  \\"ahrscheinliclikeit  nach  stetig  und 
allgemein  bei  den  ^litgliedem  einer  Sprachgemeinschaft  erfolgt  sein 
wird,  so  liegt  durchaus  kein  Grund  zu  der  Annahme  vor,  daß  nicht 
auch  die  Wirkung  dieser  allgemeinen  Ursache  eine  gemeinsame  ge- 
wesen sei.  Natürlich  kömien  ja  hierbei  Zwischenstadien  existieren,  wo 
sich  die  neue  Sprechweise  erst  unvollkommen  durchgesetzt  hatte. 
Aber  auch  da  wird  die  Abweichung  von  der  älteren  doch  weder 
eine  üidividuelle  noch  eine  okkasionelle  genannt  werden  können:  das 
erstere  nicht,  weil  alle  Individuen  den  gleiclien  abändernden  Kräften 
unter^\orfen  sind  und  ihnen  daher  voraussichtlich  auch  ziemlich  gleich- 
förmig folgen  werden;  das  letztere  nicht,  weil  ein  solches  Z%nschen- 
stadium  ent\veder  darin  besteht,  daß  die  geläufige  durchschnittliche 
Lautform  zwischen  der  alten  und  der  neu  sich  bildenden  ungetahr 
die  Mitte  hält,  oder  darin,  daß  der  stets  vorhandene  Spielraum 
der  individuellen  Artikulationen  größer  als  zuvor  ist.  In  beiden 
Fällen  ist  aber  der  Zustand  ein  genereller  und  wird  daher  auch  sofort 
wieder  einen  usuellen  Charakter  gewimien.    Sobald  man  alloremeine, 


1 6  Einleitung. 

das  heißt  auf  die  Gesamtheit  einwirkende  Ursachen  annimmt,  so 
wird  demnach  die  Voraussetzung  des  individuellen  Ausgangspunktes 
ebenso  wie  die  des  zufälligen  Ursprungs  hinfällig.  Offenbar  müssen 
wir  nun  die  nämlichen  Gesichtspunkte  auch  dann  anwenden,  wenn 
nicht,  wie  in  jenen  leicht  zu  durchschauenden  Fällen  einer  unmittel- 
baren Kontaktwirkung  der  Laute,  die  generelle  Natur  der  wirkenden 
Ursachen  ohne  weiteres  erkennbar  sein  sollte,  sobald  nur  die  Erschei- 
nungen selbst  genereller  Art  sind.  Dann  weist  eben  die  Beschaffen- 
heit der  Wirkungen  auch  auf  eine  entsprechende  der  Ursachen  hin 
und  schließt  daher  eine  bloß  okkasionelle  und  individuelle  Ent- 
stehung aus.  Wenn  z,  B.  in  den  germanischen  Sprachen  allgemein 
der  im  Vorgermanischen  als  sogenannte  Tenuis  vorhandene  Ge- 
räuschlaut in  eine  Spirans  übergegangen  ist  [p  in  /,  t  in  engl,  th^ 
k  in  ch  oder  /z),  so  muß  dieser  Wandel  irgend  einmal  in  urger- 
manischer Zeit  eingetreten  sein.  Es  würde  aber  allen  Regeln  der 
Wahrscheinlichkeit  ins  Gesicht  schlagen,  wollte  man  annehmen, 
diese  Veränderungen,  mit  denen  noch  eine  Reihe  anderer,  die  man 
mit  ihnen  unter  dem  Begriff  der  gemeingermanischen  Lautverschie- 
bungen zusammenfaßt,  seien  zuerst  nur  okkasionell,  oder  sie  seien 
gar  nur  individuell  entstanden,  um  sich  dann  nach  dem  Ausdruck 
Tardes  durch  eine  »somnambulische«  Wirkung  weiter  auszubreiten. 
Ein  solcher  Ursprung  könnte  doch  immer  nur  für  eine  einzelne 
Lautänderung  angenommen  werden.  Die  Gesamtheit  der  Lautver- 
schiebungen würde  dann  also  durch  eine  Fülle  solcher  alleinstehender 
okkasioneller  Abweichungen  zustande  gekommen  sein,  die  schließlich 
sämtlich  durch  den  merkwürdigsten  aller  Zufälle  wieder  in  vollkom- 
mener Harmonie  miteinander  entstanden  wären.  Da  erscheint  es 
denn  doch  nicht  nur  einfacher,  sondern  geradezu  zwingend  geboten, 
zu  den  allgemeinen  Wirkungen  auch  allgemeine  und  gleichförmige 
Ursachen  vorauszusetzen.  Nicht  anders  verhält  es  sich  mit  der 
großen  Mehrzahl  der  Veränderungen,  die  der  begriffliche  Inhalt 
der  Wörter  erfährt,  namentlich  wenn  auch  dies  in  der  Form  lang- 
samer Verschiebungen  geschieht,  oder  mit  solchen,  die  in  den 
Wortformen  und  im  syntaktischen  Aufbau  der  Sprache  eintreten. 
Natürlich  schließt  das  nicht  aus,  daß,  je  mehr  bei  einzelnen  dieser 
Erscheinungen  die  Einflüsse  der  Kunst  und  der  wissenschaftlichen 
Literatur  einwirken,   nun  auch  wirklich  einmal  ein  individueller  und 


Volksgeist  und  Volksseele.  i  y 


bis  ZU  einem  gewissen  Grade  sogar  okkasioneller  Anstoß  weiter 
greifende  Veränderungen  hervorbringen  kann.  Wir  werden  solche 
Fälle  singulärer  Ursachen  zu  generell  werdenden  Veränderungen 
speziell  beim  Bedeutungswandel  der  Wörter  genugsam  kennen  lernen^). 
Je  deutlicher  aber  diese  Erscheinungen  von  Anfang  an  Merkmale 
an  sich  tragen,  die  sie  von  den  einer  allgemeineren  Gesetzmäßig- 
keit folgenden  Vorgängen  scheiden,  um  so  mehr  ist  es  geboten,  da, 
wo  es  sich  wirklich  einmal  um  bloß  individuelle  Wirkungen  handelt, 
diese  nun  auch  so  klar  wie  nur  immer  möglich  den  von  Anfang 
an  generellen  Vorgängen  gegenüberzustellen. 

Was  von  der  Sprache,  das  gilt  genau  ebenso  von  allen  andern 
Formen  gemeinsamen  Lebens.  Mag  es  sein,  daß  in  Mythus  und 
primitiver  Kunst,  in  Religion  und  Sitte  da  und  dort  verhältnis- 
mäßig frühe  schon  individuelle  Einflüsse  stärker  hervortreten,  die 
Übereinstimmungen,  die  alle  diese  Entwicklungen  darbieten,  weisen 
nicht  minder  auf  generelle  Bedingungen  hin,  die  erst  in  ihren  letzten 
Ausläufern  teilweise  in  individuelle  Einflüsse  ausmünden.  Die  Quelle, 
aus  der  hier,  ebenso  wie  bei  der  Sprache,  der  Fehler  jener  indivi- 
dualisierenden und  daher  jede  allgemeine  Gesetzmäßigkeit  schließlich 
auf  einen  ursprünglichen  Zufall  zurückführenden  Betrachtungsweise 
entspringt,  kann  nicht  zweifelhaft  sein.  Sie  geht  auf  jenen  in  der 
heutigen  Wissenschaft  immer  noch  fortwirkenden  Individualismus  der 
Aufklärungszeit  zurück,  dem  das  Individuum  als  der  Schöpfer  aller 
Erzeugnisse  des  menschlichen  Geistes  galt.  Wohl  hatte  schon  die 
Romantik  diese  in  der  Idee  eines  ersten  Erfinders  kulminierende  An- 
schauung zu  Fall  gebracht.  Aber  sie  selbst  hatte  den  Ursprung  der 
gemeinsamen  geistigen  Erzeugnisse  geflissentlich  in  ein  metaphy- 
sisch-mythologisches Dunkel  gehüllt.  Als  nun  in  den  aus  der  ro- 
mantischen Bewegung  entsprungenen  historischen  Wissenschaften 
allmählich  eine  positivistische  Strömung  die  Überhand  gewann,  da 
stellte  sich  dann  von  selbst  eine  Art  Kompromiß  zwischen  Aufklä- 
rung und  Romantik  heraus.  Wo  jene  eine  planmäßige  Erfindung, 
diese  ein  ursprüngliches  Wunder  gesehen  hatte,  da  machte  man  nun 
den  Zufall  zum  Schöpfer  und  den  Mechanismus  der  Gewöhnung 
und    Nachahmung    zum   Vollender    der    Dinge.      Zufällig    soll    hier 


')  Vgl.  Tl.  n,  Kap.  8,  V. 
Wundt,  Völkerpsychologie  I,   i.     2.  Aufl. 


1 8  Einleitung. 

einmal  jemand  ein  Wort  falsch  ausgesprochen,  dort  ein  anderer  eine 
irrtümliche  Vorstellung  mit  einem  solchen  verbunden  haben,  —  die 
Genossen  machen  das  nach,  und  ein  neues  Lautgesetz  oder  ein 
wichtiger  Begriffswandel  ist  in  die  Wege  geleitet.  In  griechischer 
Vorzeit  geschah  es,  wie  Max  Müller  erzählt,  daß  jemand  die  ähnlich 
klingenden  Wörter  für  die  Morgenröte  und  den  Lorbeer  (Daphne) 
verwechselte.  Damit  habe  er  der  Vorstellung  den  Ursprung  ge- 
geben, daß  dem  Apollo,  dem  einstigen  Sonnengott,  der  Lorbeer 
heilig  sei').  Nun  glaube  ich  zwar  nicht,  daß  diese  Ansicht  über  die 
individuelle  und  zufällige  Entstehung  neuer  geistiger  Werte  von  der 
Mehrzahl  der  Sprachforscher,  Mythologen  und  Kulturhistoriker  gerade 
in  solch  extremer  Form  geteilt  wird.  Doch  die  Grundanschauung, 
aus  der  jene  Theorien  erwachsen  sind,  ist  heute  noch  weit  ver- 
breitet. Wäre  sie  richtig,  so  würde  eine  Völkerpsychologie  als  eine 
irgendwie  selbständig  abzugrenzende  Wissenschaft  offenbar  kein 
Existenzrecht  besitzen.  Da  aber  jene  Anschauung  falsch  ist,  da 
vielmehr  jede  Gemeinschaft,  obgleich  sie  keine  neuen  psychischen 
Elemente  zu  den  Bewußtseinsinhalten  ihrer  Mitglieder  hinzufügt, 
doch  mit  den  Bedingungen  der  Verbindung  und  Wechselwirkung 
derselben  neue  geistige  Schöpfungen  erzeugt,  so  hat  in  diesen  und 
in  der  Nachweisung  ihrer  Beziehungen  zu  den  schon  im  Einzel- 
bewußtsein wirksamen  psychischen  Kräften  die  Völkerpsychologie 
ihre  große  selbständige  Aufgabe. 


III.  Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Völkerpsychologie. 

Schon  die  allgemeine  Psychologie  kann  nicht  ganz  an  der  Tat- 
sache vorübergehen,  daß  das  Bewußtsein  des  Einzelnen  unter  dem 
Einflüsse  seiner  geistigen  Umgebung  steht.  Überlieferte  Vorstellun- 
gen, die  Sprache  und  die  in  ihr  enthaltenen  Formen  des  Denkens, 
endlich  die  tief  greifenden  Wirkungen  der  Erziehung  und  Bildung 
sind  Vorbedingungen  jeder  subjektiven  Erfahrung.  In  vielen  Be- 
ziehungen kann  darum  der  Inhalt  der  Individualpsychologie  erst  von 
der  Völkerpsychologie  aus  unserem  vollen  Verständnisse  zugänglich 


I)  Max  Müller,  Essays,  Bd.  2^,   1881,  S.  83  ff. 


Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Völkerpsychologie.  ig 

werden.  Gleichwohl  bleibt  diese  im  ganzen  das  speziellere,  von 
jener  abhängige  Gebiet.  Denn  die  Erscheinungen,  mit  denen  sie 
sich  beschäftigt,  müssen  schließlich  doch  aus  den  allgemeinen 
Gesetzen  des  geistigen  Lebens  erklärt  werden,  die  schon  in  dem 
Einzelbewußtsein  auf  jeder  Stufe  seiner  Entwicklung  wirksam  sind; 
und  unmöglich  kann  durch  eine  Vereinigung  von  Menschen  ein 
geistiges  Erzeugnis  entstehen,  zu  dem  nicht  in  den  Einzelnen  die 
Anlagen  vorhanden  wären.  Läßt  sich  demnach  die  Völkerpsycho- 
logie mit  einem  gewissen  Recht  eine  angewandte  Psychologie 
nennen,  so  ist  übrigens  der  Ausdruck  »angewandt«  hier  in  einem 
andern  Sinne  zu  verstehen,  als  in  dem  man  etwa  von  einer  ange- 
wandten Physik  und  Chemie  oder  auch  von  der  Pädagogik  als  einer 
angewandten  Psychologie  redet.  Dies  liegt  schon  darin  ausgespro- 
chen, daß  die  Völkerpsychologie  von  den  allgemeinen  psychologi- 
schen Erfahrungen  zu  keinerlei  praktischen  Zwecken  Gebrauch  macht, 
sondern  daß  sie,  ebensogut  wie  die  Individualpsychologie,  eine  rein 
theoretische  Wissenschaft  ist.  Der  Ursprung  und  die  Entwicklung 
der  Sprache,  die  Bildung  mythologischer  und  religiöser  Vorstellungen, 
die  Entstehung  von  Sitten  und  sittlichen  Gefühlen  —  die  Behand- 
lung dieser  und  verwandter  Probleme  dient  unmittelbar  nur  den  Inter- 
essen der  Psychologie  selbst  und  der  mit  ihr  zusammenhängenden 
theoretischen  Geisteswissenschaften.  Von  solchem  Gesichtspunkt 
aus  besteht  daher  die  Völkerpsychologie  nicht  sowohl  in  einer  An- 
wendung als  in  einer  Ausdehnung  der  psychologischen  Unter- 
suchung auf  die  soziale  Gemeinschaft.  Diese  Ausdehnung  auf 
Erscheinungen,  bei  deren  Entstehung  neben  den  subjektiven  Eigen- 
schaften des  menschlichen  Bewußtseins  noch  die  besonderen  Be- 
dingungen des  gemeinsamen  Lebens  in  Betracht  kommen,  bringt 
es  zugleich  mit  sich,  daß  die  Völkerpsychologie  bestimmte,  ihr 
ausschließlich  angehörende  Gebiete  psychischer  Tatsachen  zu  er- 
forschen hat,  Gebiete,  die  von  der  allgemeinen  Psychologie  bei 
ihrer  gewöhnlichen  Begrenzung  ausgeschlossen  bleiben. 

Von  zwei  verschiedenen  Richtungen  her  hat  daher  auch  der 
Gedanke  der  Völkerpsychologie  in  der  neueren  Wissenschaft  Wurzel 
gefaßt.  Zuerst  wurde  innerhalb  einzelner  Geisteswissenschaften 
das  Bedürfnis  nach  einer  psychologischen  Grundlage,  die  den  eigen- 
tümlichen Erscheinungen   geistiger  Wechselwirkung   in   Gesellschaft 


20  Einleitung. 

und  Geschichte  gerecht  werde,  immer  mehr  fühlbar.  Dazu  gesellte 
sich  dann  in  der  Psychologie  selbst  das  Streben,  objektive  Hilfs- 
mittel zu  schaffen,  mittels  deren  man  der  Unsicherheit  und  Viel- 
deutigkeit der  reinen  Selbstbeobachtung  zu  entgehen  suchte. 

Unter  den  einzelnen  Disziplinen,  in  denen  sich  jenes  psycholo- 
gische Bedürfnis  regte,  standen  Sprachwissenschaft  und  Mythologie 
in  erster  Linie.  Beide  hatten  sich  aus  dem  allgemeineren  Umkreis 
philologischer  Studien  abgesondert.  Indem  sie  aber  dabei  den 
Charakter  allgemeiner  oder  »vergleichender«  Wissenschaften  an- 
nahmen, mußte  sich  ihnen  von  selbst  die  Erkenntnis  aufdrängen, 
daß  in  Sprachen-  und  Mythenentwicklung  neben  den  besonderen 
geschichtlichen  Bedingungen,  die  überall  die  konkrete  Gestaltung 
der  Erscheinungen  bestimmen,  allgemeine  psychische  Kräfte  wirk- 
sam seien. 

Hat  unter  diesen  Gebieten  wohl  am  meisten  die  Sprachwissen- 
schaft eine  Anlehnung  an  die  Psychologie  gesucht,  so  fand  freilich 
gerade  die  Psychologie  der  Sprache  ein  gewisses  Hindernis  darin, 
daß  ihre  Aufgaben  vielfach  mit  den  Zielen  verwechselt  wurden,  die 
seit  langer  Zeit  die  Sprachphilosophie  sich  gestellt  hatte.  Mögen 
aber  auch  in  dieser,  vom  platonischen  Kratylos  an  bis  auf  Wilhelm 
von  Humboldts  berühmte  Einleitung  »über  die  Verschiedenheit  des 
menschlichen  Sprachbaues«  und  andere  neuere  Werke  ähnlicher 
Richtung,  gelegentlich  psychologische  Überlegungen  enthalten  sein, 
so  ist  doch  die  vorherrschende  Tendenz  solcher  Arbeiten  eine 
metaphysische,  und  demgemäß  steht  ihnen  das  eine  Problem 
des  Ursprungs  der  Sprache  überall  im  Vordergrund.  Das  Verhält- 
nis zur  Sprachpsychologie  wird  hier  genugsam  schon  durch  den 
Umstand  gekennzeichnet,  daß  die  psychologische  Untersuchung  eine 
Menge  von  Aufgaben  auch  dann  noch  vorfände,  wenn  sie  auf  jenes 
Ursprungsproblem  gänzlich  verzichten  wollte,  daß  aber  dieses  vom 
Standpunkte  psychologischer  Betrachtung  aus  jedenfalls  erst  nach 
der  Erledigung  jener  konkreten  Aufgaben  die  Aussicht  auf  eine 
erfolgreiche  Lösung  bietet. 

Da  nun  die  Sprachwissenschaft  an  der  metaphysischen  Sprach- 
philosophie ebensowenig  wie  an  den  herrschenden  Richtungen  der 
Psychologie  eine  nennenswerte  Hilfe  fand,  so  war  es  begreiflich, 
daß  sie  zumeist  sich    auf  jene  Kunst  psychologischer  Interpretation 


Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Völkerpsychologie.  21 

verließ,   die   man   nirgends  zu   lernen   braucht,    weil  sie  von  jeder- 
mann bei  der  Beurteilung  praktischer  Lebensverhältnisse  fortwährend 
geübt  wird:    auf  die  Kunst  der  Vulgärpsychologie.     Mit  diesem 
Namen  darf  man  wohl  jene  Mischung  von  wirklichen  Beobachtun- 
gen, Überlebnissen  älterer  Theorien  und   populären  Vorurteilen  be- 
zeichnen,   mit    der   sich    die  Vertreter  einzelner  Wissenschaften    zu 
behelfen  pflegen,   wo  sie  einer  psychologischen  Interpretation  nicht 
entgehen  können.    Wenn  diese  Aushilfe  vornehmlich  in  den  »Geistes- 
wissenschaften«   tiefe   Wurzeln   gefaßt  hat,    so   liegt   das  wohl    vor 
allem  in  dem   eigentümlichen  Charakter  der  Vulgärpsychologie  be- 
gründet.    Denn  dieser  besteht  im   wesentlichen  darin,   daß   irgend- 
welche Erscheinungen  des  individuellen,    gesellschaftlichen  oder  ge- 
schichtlichen   Lebens    auf  solche    intellektuelle    Überlegungen    und 
Zweckmäßigkeitserwägungen  zurückgeführt   werden,   die   den  Beob- 
achter, falls  er  die  Erscheinungen  mit  Plan  und  Absicht  herbeige- 
führt hätte,  möglicherweise  bestimmt  haben  könnten.     Alle  Vulgär- 
psychologie   besteht    also    kurz    gesagt    in    der    Hinübertragung 
einer  subjektiven  Reflexion   über   die  Dinge  in   die  Dinge 
selbst.    Hat  sich  z.  B.  in  einer  Sprache  ein  Wort  in  zwei  verschie- 
dene Wörter  gespalten,   so   deutet   man  dies   als   ein  Streben  nach 
Erzeugung  bedeutsamer  Unterschiede.    Sind  dagegen  wichtige  Unter- 
schiede  durch   Lautverluste  geschwunden,   so   erklärt  man  das  um- 
gekehrt aus  der  Tendenz,  sich  das  Sprechen  so  bequem  wie  möglich 
zu  machen.    Nach  den  meisten  Ausführungen  über  Bedeutungswandel 
müßte  man  annehmen,   eine  redende  Gemeinschaft   sei  fortwährend 
bemüht,  die  logischen  Kategorien  der  Über-,  Unter-,  Nebenordnung 
usw.    auf  die  Worte   der   Sprache   anzuwenden;   denn   man   scheint 
der  Meinung  zu  sein,  mit  der  Zurückführung  auf  derartige  Begriffs- 
verhältnisse seien  die  psychologischen  Vorgänge  als  solche  erklärt, 
oder    es   bedürfe    doch,    wenn   ein    Begriffsverhältnis  gefunden   sei, 
einer  weiteren  Erklärung  nicht  mehr.     Nicht   anders  steht  es  in  der 
Mythologie.     Bald   soll    die  ursprüngliche  Mythenbildung    eine    aus 
dem   Streben    nach    Naturerklärung  hervorgegangene   phantastische 
Naturphilosophie,   also   eine  Art  primitiver   Naturwissenschaft    sein; 
bald  soll  sie  auf  zufälligen  Mißverständnissen  und  Begriffsverwechs- 
lungen beruhen.     Für  die  Deutung   gewisser   frühester  Formen  der 
Eheschließung  zieht  man  gelegentlich  Motive  herbei,  die  dem  Natur- 


2  2  Einleitung. 

menschen  einen  Grad  der  Fürsorge  für  die  Zukunft  seines  Geschlech- 
tes •  zutrauen,  von  dem  sich  die  ungeheuere  Mehrzahl  der  Kultur- 
menschen nichts  träumen  läßt.  Im  Prinzip  stimmt  diese  psycho- 
logische Interpretation  mit  der  teleologischen  Naturerklärung  des 
18.  Jahrhunderts  vollkommen  überein.  Nur  pflegte  die  letztere  die 
Motive  des  Geschehens  einem  vernünftigen  Urheber  der  Dinge  zu- 
zuschreiben, während  die  Vulgärpsychologie  dieselben  den  jeweils 
handelnden  Menschen  selbst  aufbürdet.  Ob  aber  solche  Motive 
wirklich  nachweisbar,  ja  ob  sie  unter  den  gegebenen  Bedingungen 
möglich  sind,  danach  wird  nicht  gefragt.  Wenn  also  das  Bestreben 
aller  wahren  Psychologie  dahin  gerichtet  sein  muß,  die  Tatsachen 
so  zu  erfassen,  wie  sie  unabhängig  von  unserer  subjektiven  Beur- 
teilung beschaffen  sind,  so  geht  umgekehrt  die  Vulgärpsychologie 
darauf  aus,  über  die  Wirklichkeit  ein  Netz  subjektiver  und  willkür- 
licher logischer  Reflexionen  zu  breiten.  In  dieser  allgemeinen  Ten- 
denz befindet  sie  sich  zugleich  in  Übereinstimmung  mit  einer  aus 
der  Scholastik  überkommenen,  bis  auf  unsere  .Tage  herabreichen- 
den intellektualistischen  Strömung  der  Philosophie  und  der  aus  ihr 
hervorgegangenen  Reflexionspsychologie.  Denn  auch  diese  betrach- 
tet es  nicht  als  ihre  Aufgabe,  festzustellen,  was  die  psychischen 
Vorgänge  wirklich  sind,  und  wie  sie  tatsächlich  zusammenhängen, 
sondern  auseinanderzusetzen,  was  nach  Maßgabe  irgendwelcher  logi- 
scher oder  philosophischer  Voraussetzungen  der  reflektierende  Psy- 
chologe von  ihnen  denkt. 

Dies  führt  uns  auf  das  zweite  Motiv  für  die  Entstehung  der 
Völkerpsychologie,  dessen  oben  gedacht  wurde.  Die  Psychologie 
selbst  bedarf  nicht  minder  dringend  des  völkerpsychologischen  Ma- 
terials, das  gewisse  Geisteswissenschaften  ihr  bieten,  wie  diese  der 
psychologischen  Grundlagen;  und  in  dem  Augenblick,  wo  die 
Psychologie  den  Quellen  nachgeht,  die  ihr  aus  den  einzelnen  Be- 
reichen des  geistigen  Lebens  zufließen,  wird  das,  was  hinwiederum 
sie  aus  der  allgemeinen  Betrachtung  dieses  Lebens  der  Würdigung 
des  Einzelnen  entgegenbringt,  nicht  mehr  unbeachtet  bleiben.  Denn 
in  Einem  kann  es  doch  der  feinste  praktische  Takt  und  die 
reichste  psychologische  Lebenserfahrung  mit  der  wissenschaftlichen 
Psychologie  nicht  aufnehmen:  in  der  Fähigkeit,  die  bei  der  Analyse 
der    einfacheren    Bewußtseinsvorgänge    gewonnenen    Gesichtspunkte 


Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Völkerpsychologie.  23 

für  das  Verständnis  der  verwickelten  Erscheinungen  des  gemeinsamen 
Lebens  zu  verwerten.  Der  Historiker,  der  Sprachforscher,  der  My- 
thologe,  sie  operieren,  solange  sie  jener  Analyse  fremd  gegenüber- 
stehen, bestenfalls  mit  komplexen  Begriffen.  Erst  wenn  es  gelungen 
ist,  die  Brücke  zu  schlagen,  die  von  dem  Einzelbewußtsein  zu  den 
Erzeugnissen  der  Gemeinschaft  hinüberführt,  besteht  aber  auch  die 
Aussicht,  den  Weg  wieder  rückwärts  zu  finden  und  die  völkerpsy- 
chologischen Ergebnisse  fruchtbar  zu  machen  für  die  Untersuchung 
jener  Gebilde  des  Einzelbewußtseins,  die  aus  diesem  allein  nicht 
begriffen  werden  können:  sei  es,  weil  sie  in  zureichend  vollständigen 
Entwicklungsformen  überhaupt  nur  als  Produkte  des  Völkerbewußt- 
seins vorkommen,  wie  die  Gebilde  der  Phantasietätigkeit,  oder  weil 
das  Einzelbewußtsein  selbst  schon  mit  fertig  überlieferten,  aus  der 
geistigen  Wechselwirkung  hervorgegangenen  Formen  arbeitet,  wie 
bei  den  in  ihrer  spezifischen  Gestaltung  an  die  Sprache  gebundenen 
Bildungen  des  logischen  Denkens. 

Von  den  verdienten  Forschern,  die  der  Völkerpsychologie  ihren 
Namen  gegeben  und  zum  erstenmal  ein  bestimmtes  Programm 
für  sie  entworfen  haben,  von  Steinthal  und  Lazarus,  ist,  so  um- 
fassend, ja  vielleicht  allzu  umfassend  auch  dieses  Programm  war, 
gerade  jener  Gesichtspunkt  kaum  zureichend  gewürdigt  worden, 
daß  gewisse  Geisteswissenschaften  nicht  bloß  selbst  der  psychologi- 
schen Analyse  und  Interpretation  bedürfen,  sondern  ihrerseits  unent- 
behrliche, bisher  vernachlässigte  Hilfsgebiete  der  Psychologie  sind  ^). 
Dieser  bei  einem  ersten  Versuch  gewiß  entschuldbare  Mangel  ist 
aber  sichtlich  durch  die  psychologischen  Grundanschauungen  be- 
dingt, von  denen  jene  Forscher  ausgingen;  und  deshalb  ist  er  zu- 
gleich bezeichnend  für  die  eigentümlichen  Hemmnisse,  die  sich  dem 
neuen  Gebiet  von  seiten  der  herrschenden  Richtungen  der  Psycho- 
logie entgegenstellten.  Jene  Grundanschauungen  waren  die  der 
Psychologie  Herbarts  mit  ihrem  an  den  metaphysischen  Begriff  der 
einfachen   Seele   und   an   die  Hypothese    der  Vorstellungsmechanik 


^)  Lazarus  und  Steinthal,  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie  und  Sprachwissen- 
schaft, I,  1860:  Einleitende  Gedanken  über  Völkerpsychologie,  S.  i — 73.  Vgl. 
dazu  meinen  Aufsatz  über  Ziele  und  Wege  der  Völkerpsychologie,  Phil.  Stud. 
IV,  S.  I  ff.,  sowie  Steinthals  Gegenbemerkungen,  Zeitschr.  für  Völkerpsych.  XVII 
S.  233  ff. 


24  Einleitung. 

gebundenen  einseitigen  Individualismus  und  Intellektualismus.  Daß 
eine  so  geartete  Psychologie  von  Haus  aus  den  Fragen  der  Völker- 
psychologie hilflos  gegenübersteht,  ja  zu  ihnen  eigentlich  gar  kein 
Verhältnis  hat,  dafür  liefern  Herbarts  eigene  gelegentliche  Aus- 
sprüche über  diese  Fragen  die  deutlichsten  Belege^).  Mochten  nun 
auch  die  Völkerpsychologen  der  Herbartschen  Schule  in  dieser  Be- 
ziehung den  von  dem  Meister  vertretenen  Ansichten  im  einzelnen 
nicht  überall  beipflichten,  im  Prinzip  blieb  doch  das  Verhältnis  der 
Individual-  zur  Völkerpsychologie  das  der  begründenden  Wissenschaft 
zu  ihren  Anwendungen.  Die  subjektive  Beobachtung  und  als  Er- 
gänzung allenfalls  noch  die  Psychologie  des  Kindes  sollten  das 
Erfahrungsmaterial  liefern,  aus  dem  durch  Abstraktion  die  Grund- 
gesetze einer  allgemeinen  » psychischen  Mechanik «  zu  gewinnen 
seien,  und  diese  sollte  dann  von  der  Völkerpsychologie  zur  Deutung 
der  verschiedenen  Erscheinungen  geschichtlichen  Lebens  verwendet 
werden^].  Gegen  eine  solche  Auffassung  mochte  der  von  hervor- 
ragenden Sprachforschern  erhobene  Einwand  vielleicht  nicht  ganz 
unzutreffend  sein,  das  neue  Gebiet  sei  überhaupt  nicht  Psycho- 
logie, sondern  eben  nur  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  ver- 
schiedenen Bestandteile  der  Geistesgeschichte ,  also  allenfalls  eine 
historische  »Prinzipienlehre«  auf  psychologischer  Grundlage^).  Je 
mehr  man  die  Psychologie  als  eine  fertig  gegebene,  ganz  und  gar 
auf  die  subjektive  Selbstbeobachtung  gegründete  »Norm Wissenschaft« 
betrachtet,   deren   Gesetze  in   irgendwelchen  allgemeingültigen  For- 


I)  Belehrend  ist  hier  F.  Misteiis  Zusammenstellung  der  Aussprüche  Herbarts 
über  die  Sprache,  unter  denen  als  der  merkwürdigste  der  hervorgehoben  werden 
mag,  daß  die  Befähigung  des  Menschen  zur  Sprache  nur  in  den  besonderen  Eigen- 
schaften seines  Kehlkopfes  begründet  sei,  wie  denn  überhaupt  der  Unterschied 
zwischen  Mensch  und  Tier  nach  Herbart  nicht  auf  der  an  sich  überall  gleich  be- 
schaffenen absolut  einfachen  Seele,  sondern  auf  den  Unterschieden  der  physischen 
Organisation  beruhe!  (Misteli,  Zeitschr.  f.  Völkerpsychologie,  XII,  S.  407  ff.)  Mit 
Recht  hebt  übrigens  schon  Misteli  hervor,  daß  sich  Steinthals  Ansichten  überall, 
wo  es  sich  um  konkrete  völkerpsychologische  Probleme  handelt,  weit  von  denen. 
Herbarts  entfernen. 

~)  Steinthal,    Einleitung    in    die    Psychologie    und    Sprachwissenschaft,   I,   1871 
bes.  S.  91  ff.,  290  ff. 

3)  Herrn.  Paul,  Prinzipien  der  Sprachgeschichte,  '  1883,  3  1898,  S.  6  ff.  Zu 
dessen  Auffassung  der  Sprachwissenschaft  als  einer  rein  geschichtlichen  Disziplin 
vgl.  Ottmar  Dittrich,  Grundzüge  der  Sprachpsychologie,  Bd.  i,  1903,  S.  3  ff.,  und 
Zeitschr.  f.  roman.  Philologie,  Bd.  23,    1899,  S.  538  ff. 


Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Völkerpsychologie.  2^ 

mein  einer  Vorstellungsmechanik  enthalten  seien,  um  so  weniger 
bleibt  außerhalb  dieser  Individualpsychologie  noch  Raum  für  eine 
auch  nur  relativ  selbständige  psychologische  Forschung.  Mochten 
die  Völkerpsychologen  immerhin  die  eigenartige  Natur  der  »Volks- 
geister« betonen  und  darauf  hinweisen,  daß  die  in  den  geschicht- 
lichen Entwicklungen  hervortretenden  Volkscharaktere  keineswegs 
bloß  als  Summen  individueller  Eigenschaften  betrachtet  werden 
könnten,  so  wurden  dadurch  doch  die  prinzipiellen  Einwände  nicht 
beseitigt.  Denn  jener  Begriff  des  Volksgeistes,  auf  den  man  sich 
hier  berief,  verblieb  ganz  innerhalb  der  allgemeinen  Sphäre  histori- 
scher Betrachtungen,  in  der  er  längst  zu  einem  Bestand  geschichts- 
philosophischer  Spekulationen  geworden  war").  Auch  dies  lag  aber 
im  Grunde  schon  in  der  individualistischen  Richtung  der  Herbart- 
schen  Psychologie.  Denn  blieb  gleich  für  diese  der  Begriff  einer 
Volksseele  seiner  eigentlichen  oder  substantiellen  Bedeutung  nach 
unvollziehbar,  so  legte  doch  die  »Mechanik  der  Vorstellungen«,  die 
für  die  wirkliche  Interpretation  der  seelischen  Erfahrung  an  die 
Stelle  jenes  transzendenten  Begriffs  trat,  den  Gedanken  einer  Über- 
tragung auf  die  Wechselbeziehungen  der  Individuen  innerhalb  einer 
Gemeinschaft  nahe  genug.  Hier  hatte  die  Analogie  um  so  mehr 
freies  Feld,  da  die  Herbartsche  Vorstellungsmechanik  selbst  eigent- 
lich als  eine  abstrakte  Theorie  der  Wirkungen  und  Gegenwirkun- 
gen irgendwelcher  einander  anziehender  oder  abstoßender  intensiver 
Größen  überhaupt  betrachtet  werden  konnte,  Ob  man  unter  diesen 
Größen  Vorstellungen  des  individuellen  Bewußtseins  oder  auf  einer 
höheren  Stufe  die  mit  solchem  Bewußtsein  ausgestatteten  Individuen 
verstand,  blieb  für  die  Theorie  an  sich  gleichgültig.  In  diesem  Sinne 
hatte  Herbart  selbst  schon  in  seinen  »Bruchstücken  zur  Statik  und 
Mechanik  des  Staats«  das  Spiel  der  gesellschaftlichen  Kräfte  er- 
örtert^). Demnach  wurden  hier  die  »Volksgeister«  vollständig  zu 
Ebenbildern  der  Einzelgeister,  mit  dem  einzigen  Unterschied,  daß 
sie  sich  aus  komplexeren  Einheiten  zusammensetzten.  Dadurch 
mußte  aber  gerade  der  eigenartige  Charakter  der  Erscheinungen  des 
gemeinsamen    Lebens,    der  aus    einer   bloßen    Analogie    mit    dem 


')  Vgl.  Lazarus,  Leben  der  Seele,  2  I,  S.  335  ff. 

2)  Herbart,   Psychologie  als  Wissenschaft,    2.  Teil,  Einleitung.     Werke,  heraus- 
gegeben von  Hartenstein,  VI.   S.  31  ff. 


26  Einleitung. 

individuellen  Seelenleben  niemals  begriffen  werden  kann,  völlig  ver- 
schwinden. Um  so  mehr  forderte  dieser  durch  die  Projektion  des 
individuellen  Geistes  ins  Große  entstandene  Volksgeist  dazu  heraus, 
vor  allem  den  Wandel  der  politischen  Geschichte,  wie  es  in  der 
Tat  bei  Herbart  geschah,  als  die  dem  individuellen  Leben  analogen 
Schicksale  des  Volksgeistes  zu  betrachten.  Damit  bewegte  man  sich 
aber  wieder  ganz  in  den  Bahnen  der  alten  Geschichtsphilosophie. 

Sichtlich  ist  das  Programm  der  Völkerpsychologie,  das  Steinthal 
und  Lazarus  entwarfen,  zunächst  unter  dem  Eindruck  dieser  Herbart- 
schen  Analogien  entstanden.  Immerhin  machte  sich  aber  auch  das 
Bedürfnis  nach  psychologischem  Verständnis  des  Einzelnen,  besonders 
bei  den  von  der  Sprachwissenschaft  herüberkommenden  Vertretern 
jenes  Programms,  geltend.  Das  neue  Gebiet  selbst  zerfiel  dadurch 
eigentlich  wieder  in  zwei  Gebiete:  in  eine  Anwendung  individual- 
psychologischer  Gesetze  auf  die  Erzeugnisse  des  gesellschaftlichen 
Lebens;  und  in  eine  geschichtsphilosophische  Beleuchtung  der  ver- 
schiedenen Volksgeister  und  ihrer  Betätigungen  in  der  Geschichte. 
Nach  beiden  Richtungen  blieb  die  Stellung  der  Völkerpsychologie 
eine  fragwürdige.  War  es  dort  zweifelhaft,  ob  die  Anwendung  der 
Psychologie  auf  bestimmte  Probleme  der  geschichtlichen  Entwicklung 
nicht  den  historischen  Einzelwissenschaften  selbst  zuzuweisen  sei,  so 
war  hier  die  Geltendmachung  des  psychologischen  Gesichtspunktes 
zwar  berechtigt,  aber  man  hielt  dabei  gleichwohl  an  der  näm- 
lichen Aufgabe  fest,  die  sich  auch  bisher  die  Geschichtsphilosophie 
gestellt  hatte.  Um  so  mehr  muß  anerkannt  werden,  daß  der  Ver- 
such der  Durchführung  dieses  allgemeinen  Programms,  wie  er 
durch  die  einzelnen  Arbeiten  Steinthals  und  der  sich  ihm  an- 
schließenden Forscher  über  sprachliche  und  mythologische  Probleme 
gemacht  wurde,  ganz  von  selbst  den  Gesichtskreis  veränderte,  den 
jenes  unter  dem  Einflüsse  Herbartscher  Begriffe  entstandene  Programm 
eröffnet  hatte.  Erwiesen  sich  auf  der  einen  Seite  fast  überall,  wo 
die  Erbschaft  der  bisherigen  Geschichtsphilosophie  übernommen 
wurde,  die  Probleme  für  eine  völkerpsychologische  Betrachtung 
wegen  der  Ungeheuern  Bedeutung  individueller  und  äußerer  Einflüsse 
wenig  ergiebig,  so  schieden  sich  auf  der  andern  aus  dem  Umfang 
der  Geisteswissenschaften  solche,  die  durch  die  Allgemeingültigkeit 
ihrer    Entwicklung    der    Gewinnung    gesetzmäßiger    psychologischer 


Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Völkerpsychologie.  2  7 

Beziehungen  günstiger  sind,  von  selbst  als  diejenigen  aus,  auf  die 
sich  das  psychologische  Interesse  konzentrierte.  Dadurch  mußte 
aber  auch  mehr  und  mehr  offenbar  werden,  daß  die  allgemeine 
Psychologie  hier  mit  der  Anwendung  von  Gesichtspunkten,  die  der 
Analyse  des  individuellen  Bewußtseins  entnommen  sind,  nicht  aus- 
reicht, sondern  daß  sie  in  weit  höherem  Grad  aus  der  Fülle  völker- 
psychologischer Erscheinungen  für  sich  selbst  neue  Aufschlüsse  ge- 
winnt. So  hat  hier,  wie  so  oft,  der  Versuch  einer  Lösung  der  Aufgabe 
zu  einem  großen  Teile  selbst  erst  die  angemessene  Feststellung  ihres 
Inhaltes  herbeigeführt. 

In  diesem  Sinn  ist  nun  aber  die  neuere  psychologische  Forschung 
noch  von  einer  zweiten  Richtung  her  auf  völkerpsychologische  Hilfs- 
quellen hingewiesen  worden.  Denn  wie  weit  auch  die  Meinungen 
in  der  heutigen  Psychologie  auseinandergehen,  in  methodologischer 
Hinsicht  ist  es  ihr  vorherrschender  Charakterzug,  daß  sie  Hilfsmittel 
zu  gewinnen  strebt,  welche  die  planlose,  von  zufälligen  Einflüssen 
und  philosophischen  Vorurteilen  abhängige  Selbstbeobachtung  durch 
Anwendung  exakter  Methoden  und  objektiver  Kriterien  der  Beob- 
achtung verbessern  oder  beseitigen  sollen.  Das  erste  dieser  Hilfs- 
mittel besteht  in  der  Ersetzung  der  sogenannten  »reinen«  Selbst- 
beobachtung durch  die  experimentelle  Selbstbeobachtung.  So 
wenig  wir  die  Vorgänge  in  der  äußeren  Natur  in  ihrem  Verlaufe 
sicher  beobachten,  in  ihrer  Zusammensetzung  und  ihren  wechsel- 
seitigen Beziehungen  exakt  analysieren  können,  ohne  sie  im  Experi- 
ment genau  bestimmbaren  Bedingungen  und  Veränderungen  zu 
unterwerfen  oder  ohne  mindestens  Beobachtungshilfsmittel  anzu- 
wenden, die  der  experimentellen  Technik  entnommen  sind,  — 
gerade  so  wenig,  ja  im  Grunde  wegen  der  viel  geringeren  Stabilität 
der  Bewußtseinsvorgänge  noch  viel  weniger  ist  es  möglich,  auf  dem 
Wege  der  bloßen,  durch  keinerlei  planmäßige  Einwirkungen  unter- 
stützten Beobachtung  des  eigenen  Bewußtseins  andere  als  ganz  ober- 
flächliche und  trügerische  Aufschlüsse  über  Verlauf  und  Zusammen- 
hang der  psychischen  Vorgänge  zu  gewinnen. 

Die  experimentelle  oder,  wie  sie  wegen  der  notwendigen  An- 
wendung physiologischer  Hilfsmittel  zuweilen  auch  genannt  wird,  die 
physiologische  Psychologie  ist  aber  der  Natur  der  Sache  nach 
Individualpsychologie.     Das    einzige    dem  Experiment  zugäng- 


28  Einleitung. 

liehe  psychologische  Objekt  bleibt  das  Einzelbewußtsein.  Zugleich 
ist  die  experimentelle  Methode  durch  die  Notwendigkeit,  die  typischen 
Verlaufsformen  des  psychischen  Geschehens  unter  verhältnismäßig 
einfachen  Bedingungen  zu  beobachten,  im  wesentlichen  auf  die 
Analyse  einfacher  Bewußtseinsvorgänge  angewiesen.  Da  die 
geistigen  Gemeinschaften  die  Individuen,  und  da  die  zusammen- 
gesetzten psychischen  Vorgänge  die  einfachen  als  ihre  Bedingungen 
voraussetzen,  so  hat  demnach  die  experimentelle  Psychologie  einen 
allgemeineren  und  grundlegenden  Charakter.  Sie  ist  aber  zugleich 
an  die  Bedingungen  gebunden,  die  ihr  jenes  hoch  entwickelte  Einzel- 
bewußtsein entgegenbringt,  auf  das  die  psychologischen  Experimental- 
methoden  schon  wegen  der  Schwierigkeiten  der  bei  ihnen  geforderten 
Selbstbeobachtung  angewiesen  sind.  Ihr  Objekt  ist  also  einfach  und 
verwickelt  zugleich:  einfach  gemäß  dem  nicht  zu  beseitigenden 
Charakter  der  Methoden;  verwickelt  wegen  der  ungeheuer  zusammen- 
gesetzten Eigenschaften  des  Gegenstandes  der  Beobachtung.  In 
beiden  Beziehungen  bedarf  die  experimentelle  Methode  der  Er- 
gänzung. Die  zusammengesetzten  psychischen  Bildungen,  die  nicht 
oder  nur  in  gewissen  äußeren  und  nebensächlichen  Eigenschaften 
dem  Experiment  zugänglich  sind,  fordern  analytische  Hilfsmittel  von 
ähnlicher  objektiver  Sicherheit;  und  das  unter  den  verwickeltsten 
Kulturbedingungen  stehende  individuelle  Bewußtsein  verlangt  nach 
Objekten,  die  als  die  einfacheren  Vorstufen  jenes  letzten  Entwicklungs- 
zustandes betrachtet  werden  können.  Beidemal  bestehen  die  uns 
verfügbaren  Hilfsmittel  in  den  Geisteserzeugnissen  von  all- 
gemeingültigem Werte,  die  durch  die  naturgesetzliche  Art  ihrer 
Entstehung  dem  wechselvollen,  unberechenbaren  Spiel  individueller 
persönlicher  Eingriffe  entzogen  sind.  Es  ist  das  Verdienst  der 
englischen  Psychologie  des  letzten  Jahrhunderts,  daß  sie,  nach- 
dem die  vorangegangene  englische  Erfahrungspsychologie  die  For- 
derung einer  streng  empirischen,  von  philosophischen  Voraussetzungen 
unabhängigen  Analyse  des  Einzelbewußtseins  siegreich  zur  Geltung 
gebracht  hatte,  zum  ersten  Male  das  weite  Feld  ethnologischer 
Tatsachen  im  psychologischen  Interesse  verwertete.  Sie  ergänzte  so 
die  in  Deutschland  von  der  Sprachwissenschaft  ausgehende  Bewegung 
in  dem  Sinne,  daß  sie  sich  vorwiegend  den  Gebieten  des  Mythus 
und  der  Sitte  und  der  mit  beiden  zusammenhängenden  Anfänge  der 


Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Völkerpsychologie.  2Q 

Kultur  zuwandte.  Es  sei  hier  vor  allem  an  die  wertvollen  Forschungen 
E.  B.  Tylors")  und  an  Herbert  Spencers^)  »Soziologie«  erinnert, 
Arbeiten,  denen  eine  große  Reihe  anderer,  mehr  im  prähistorischen 
Interesse  ausgeführter  Untersuchungen  über  die  Anfänge  der  Gesell- 
schaft, der  Familie,  des  Rechts  usw.  sich  anreihen,  Probleme  der  Ur- 
geschichte, an  deren  Lösung  sich  gegenwärtig  Forscher  aller  Nationen 
beteiligen. 

Experimentelle  Psychologie  und  Völkerpsychologie  stehen  dem- 
nach gleichzeitig  in  dem  Verhältnis  zweier  einander  ergänzender 
Teile  und  zweier  nebeneinander  wie  nacheinander  zur  Anwendung 
kommender  Hilfsmittel  der  Psychologie.  Als  Teile  dieser  sind 
sie  zugleich  ihre  einzigen  Teile.  Denn  außer  dem  individuellen 
Bewußtsein,  dessen  Analyse  den  experimentellen  Methoden  zufällt, 
und  den  Erscheinungen  des  geistigen  Zusammenlebens,  mit  denen 
sich  die  Völkerpsychologie  beschäftigt,  gibt  es  nichts,  was  Inhalt  der 
Psychologie  als  selbständiger  Wissenschaft  sein  könnte.  Als  Hilfs- 
mittel aber  teilen  sich,  experimentelle  und  Völkerpsychologie  derart 
in  die  psychologischen  Probleme,  daß  jene  die  einfacheren  und 
darum  zureichend  schon  innerhalb  der  Grenzen  des  ausgebildeten 
Einzelbewußtseins  zu  analysierenden  Vorgänge,  diese  dagegen  jene 
verwickeiteren  Funktionen  betrachtet,  die  nur  auf  der  Grundlage  des 
Zusammenlebens  möglich  und  verständlich  sind.  Wie  experimentelle 
und  Völkerpsychologie  die  einzigen  Teile,  so  sind  sie  aber  auch  die 
einzigen  Hilfsmittel  der  Psychologie.  Die  sogenannte  Psychologie 
der  »reinen  Selbstbeobachtung«  ist  weder  das  eine  noch  das  andere, 
sondern  eine  rückständig  gebliebene  Behandlungsweise  mit  unzu- 
länglichen Methoden.     Geschichte,    Literatur,   Kunst,    Biographien, 


1)  E.  B.  Tylor,  Researches  into  the  Early  History  of  Mankind,  1865.  (Deutsch 
von  H.  Müller,  o.  J.)  —  Primitive  Culture,  1871.  (Deutsch  u.  d.  T.  Die  Anfänge  der 
Kultur,  übers,  von  Sprengel  und  Poske,  2  Bde.,   I873-) 

2)  Herbert  Spencer,  Principles  of  Sociology,  System  of  Synthetic  Philosophy. 
Vol.  VI— VIII,  1876—96.  (Deutsch  von  B.  Vetter,  4  Bde.,  1877—97.)  Obgleich 
Herbert  Spencers  Soziologie  in  dem  System  an  seine  Psychologie  sich  anschließt, 
so  verfolgt  sie  doch,  wie  schon  diese  Einordnung  in  ein  philosophisches  System  es 
andeutet,  wesentlich  philosophische  Zwecke.  Sie  ist,  trotz  der  Fülle  empirischen 
Materials,  mehr  eine  Geschichtsphilosophie  als  eine  Völkerpsychologie  im  empiri- 
schen Sinne.  Vgl.  die  eingehende  und  treffende  Kritik  der  Soziologie  Herbert 
Spencers  in  P.  Barths  Philosophie   der  Geschichte   als  Soziologie,   I,   1897,  S.  93  ff. 


30  Einleitung. 

Selbstbekenntnisse,  die  immer  noch  zuweilen  als  Quellen  psycho- 
logischen Wissens  gerühmt  werden,  sind  weder  Teile  noch  Hilfs- 
mittel, sondern  Anwendungsgebiete,  die  zwar,  infolge  der  überall 
bestehenden  Wechselbeziehung  zwischen  Theorie  und  Anwendung, 
gelegentlich  der  allgemeinen  psychologischen  Erkenntnis  förderlich 
sein  mögen,  die  aber  zu  einer  methodischen  Verwertung,  wie  sie 
zum  Charakter  eines  Hilfsmittels  erfordert  wird,  unfähig  sind. 


IV.  Hauptgebiete  der  Völkerpsychologie. 

In  den  obigen  Erörterungen  sind  im  wesentlichen  die  Aufgaben 
bezeichnet,  die  der  Völkerpsychologie  zufallen,  sowie  nicht  minder 
diejenigen,  die  sich  mit  ihr  berühren,  aber  aus  bestimmten  Gründen 
von  ihr  auszuschließen  sind.  Es  bleiben  ihr  hiernach  drei  selb- 
ständige Probleme,  die,  sofern  sie  als  rein  psychologische  be- 
handelt werden,  in  keiner  andern  Wissenschaft  ihre  Stelle  finden, 
während  sie  doch  ihrem  ganzen  Wesen  nach  eine  psychologische 
Untersuchung  erheischen.  Sie  bestehen  in  den  psychologischen 
Problemen  der  Sprache,  des  Mythus  und  der  Sitte.  Dem  My- 
thus schließen  sich  die  Anfange  der  Religion  und  der  Kunst,  der 
Sitte  die  Ursprünge  und  allgemeinen  Entwicklungsformen  des  Rechts 
und  der  Kultur  als  nicht  zu  sondernde  Bestandteile  an. 

Diese  drei  Gebiete  stimmen  darin  überein,  daß  sie  durchaus  an 
das  gesellschaftliche  Leben  gebunden  sind.  Nicht  nur  geht  ihre 
Entstehung  jedem  nachweisbaren  Eingreifen  Einzelner  und  jeder  ge- 
schichtlichen Überlieferung  voraus,  sondern  auch  nach  dem  Beginn 
des  geschichtlichen  Lebens  erfahren  sie  fortan,  neben  den  allmählich 
einen  immer  breiteren  Raum  einnehmenden  individuellen  Einflüssen, 
gesetzmäßige  Veränderungen,  die  aus  den  Veränderungen  der  gei- 
stigen Verbände  selbst  entspringen.  So  bleiben,  auch  nachdem 
Sprache,  Mythus  und  Sitte  Objekte  historischer  Betrachtung  geworden 
sind,  dennoch  innerhalb  jeder  dieser  Erscheinungen  psychologische 
Probleme  zurück,  deren  Lösung  zwar  nur  auf  Grund  der  Tatsachen 
des  individuellen  Bewußtseins  möglich,  aber  ihrerseits  wieder  dem 
Verständnis  vieler  dieser  Tatsachen  förderlich  ist.  Jedes  jener  Ge- 
biete gemeinsamen  Vorstellens,  Fühlens  und  Wollens,  auf  denen  die 


Hauptgebiete  der  Völkerpsychologie.  ^  j 

völkerpsychologische  Untersuchung  ihre  Aufgaben  vorfindet,  steht 
ferner,  und  mit  wachsender  Kultur  in  zunehmendem  Maße,  unter  dem 
Einfluß  hervorragender  Individuen,  welche  die  überlieferten  Formen 
willkürlich  gestalten.  Auf  solche  Weise  geht  die  völkerpsycholo- 
gische Entwicklung  überall  in  eine  Reihe  geschichtlicher  Entwick- 
lungen über,  in  denen  sie  nur  noch  als  allgemeine  Grundströmung 
fortwirkt.  Darum  berührt  sich  die  Völkerpsychologie  mit  einer  An- 
zahl historischer  Gebiete,  die  als  Fortsetzungen  und  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  zugleich  als  Anwendungen  jener  ihrer  Hauptteile  be- 
trachtet werden  können.  So  der  Mythus  mit  der  Geschichte  der 
Kulturreligionen,  der  Wissenschaft  und  der  Kunst;  so  die  Sitte  mit 
der  Geschichte  der  Rechtsordnungen  und  der  in  den  philosophischen 
Moralsystemen  niedergelegten  sittlichen  Weltanschauungen. 

Bilden  nach  allen  diesen  Richtungen  Sprache,  Mythus  und  Sitte 
die  natürlichen  und  allgemeinen  Grundlagen  der  geschichtlichen  Ent- 
wicklungen, so  zeigen  sie  sich  nun  dementsprechend  auch  selbst  so 
eng  aneinander  gebunden,  daß  eigentlich  keines  ohne  das  andere 
möglich  ist.  Wie  sehr  auch  der  Sprache  als  dem  notwendigen  Hilfs- 
mittel 4,es  gemeinsamen  Denkens  hier  der  Vorrang  gebührt,  so  muß 
doch  wiederum  der  Mythus  als  die  innere  Form  des  Denkens  seiner 
äußeren  Betätigung  in  Sprache  und  Sitte  vorangehen.  Darum  trägt 
die  Sprache  von  Anfang  an  die  Spuren  des  mythologischen  Denkens 
an  sich ;  und  nicht  minder  ist  die  Sitte  als  Norm  des  Handelns  so  sehr 
bloße  Ausdrucksform  der  die  Gemeinschaft  beseelenden  Vorstellungen 
und  Gefühle,  daß  sie  im  Verhältnis  zu  den  andern  Gebieten  die 
Bedeutung  eines  Symptoms  gewinnt,  ohne  das  jene  so  wenig  sich 
denken  lassen,  wie  etwa  im  individuellen  Seelenleben  Gefühle  und 
Triebe  ohne  äußere  Willenshandlungen. 

Dieser  engen  Verbindung  der  drei  Teile  der  Völkerpsychologie 
entspricht  zugleich  ihr  Verhältnis  zu  gewissen  Erscheinungen  des 
Einzelbewußtseins  und  deren  wechselseitigen  Beziehungen.  In  der 
Sprache  spiegelt  sich  zunächst  die  Vorstellungswelt  des  Men- 
schen. In  dem  Wandel  der  Wortbedeutungen  äußern  sich  die  Gesetze 
der  Veränderungen  der  Vorstellungen,  wie  sie  unter  dem  Einflüsse 
wechselnder  Assoziations-  und  Apperzeptionsbedingungen  stattfinden. 
In  dem  organischen  Aufbau  der  Sprache,  in  der  Bildung  der  Wort- 
formen und  in  der  syntaktischen  Fügung  der  Redeteile  gibt  sich  die 


2  2  Einleitung. 

Gesetzmäßigkeit  zu  erkennen,  von  der  die  Verbindung  der  Vor- 
stellungen unter  den  besonderen  Natur-  und  Kulturbedingungen  der 
einzelnen  Sprachgemeinschaften  beherrscht  ist.  Der  Mythus  gibt 
sodann  den  in  der  Sprache  niedergelegten  Vorstellungen  vornehm- 
lich ihren  Inhalt,  da  er  in  dem  ursprünglichen  Völkerbewußtsein  die 
gesamte,  aus  Wahrnehmungen  und  Phantasieschöpfungen  sich  auf- 
bauende Weltanschauung  noch  in  ungesonderter  Einheit  umschließt. 
Dabei  zeigt  sich  die  in  ihm  wirksame  Phantasietätigkeit  außerdem 
so  sehr  von  Gefühls richtungen  bestimmt,  daß  die  Wahrnehmungs- 
einflüsse zumeist  nur  die  äußeren  Gelegenheitsursachen  bilden,  die, 
indem  sie  Furcht  und  Hoffen,  Bewunderung  und  Staunen,  Demut 
und  Verehrung  erwecken,  ebenso  die  Richtung  der  mythologischen 
Vorstellungen  wie  die  Auffassung  der  Objekte  überhaupt  bedingen. 
Die  Sitte  endlich  umfaßt  alle  die  gemeinsamen  Willensrich- 
tungen, die  über  die  Abweichungen  individueller  Gewohnheiten  die 
Herrschaft  erringen  und  sich  zu  Normen  verdichtet  haben,  denen 
von  der  Gemeinschaft  Allgemeingültigkeit  beigelegt  wird.  In  diesem 
Sinn  entspricht  daher  unter  jenen  drei  Hauptgebieten  der  Völker- 
psychologie die  Sprache  zunächst  der  Sphäre  des  Vorstellens.  In 
dem  Mythus  treten  die  Gefühle  als  vorwaltende  Inhake  hinzu.  Der 
Sitte  gehört  das  Gebiet  des  gemeinsamen  Wollens.  Aber  wie  in 
dem  individuellen  Bewußtsein  Vorstellen,  Fühlen  und  Wollen  keine 
getrennt  vorkommenden  seelischen  Vorgänge,  sondern  nur  verschie- 
dene, an  sich  unlösbar  verbundene  Faktoren  eines  und  desselben 
Geschehens  sind,  so  haben  auch  jene  Beziehungen  der  drei  völker- 
psychologischen Gebiete  zu  diesen  seelischen  Richtungen  nur  die 
Bedeutung,  daß  sie  diejenigen  Elemente  des  Seelenlebens  bezeichnen, 
die  vorzugsweise  für  die  einzelnen  Erscheinungen  maßgebend  sind. 
Die  Sprache  ist,  wie  schon  ihr  Verhältnis  zum  Mythus  lehrt,  über- 
all von  Gefühlsmotiven  abhängig,  und  nach  ihrem  eigensten  Cha- 
rakter ist  sie  eine  Willensfunktion.  Nicht  minder  ist  der  Mythus 
von  Vorstellungen  und  Willensmotiven  erfüllt,  und  in  die  Sitte  grei- 
fen, eben  weil  sie  in  allgemeinen  Willensnormen  besteht,  fortwäh- 
rend jene  Vorstellungs-  und  Gefühlsprozesse  ein,  die  den  Willens- 
vorgang zusammensetzen.  Davon  also,  daß  sich  diese  psychischen 
Faktoren  in  den  drei  völkerpsychologischen  Hauptgebieten  auch  nur 
durch  Abstraktion  trennen  ließen,  kann  nicht  die  Rede  sein.   Vielmehr 


Hauptgebiete  der  Völkerpsychologie.  ^^ 

gilt  hier  womöglich  noch  in  höherem  Grad  als  von  dem  Einzelbewußt- 
sein, daß  die  unmittelbare  seelische  Erfahrung  alle  Elemente  zumal 
in  sich  schließt.  Ahnlich  bezeichnen  aber  die  drei  Begriffe  Sprache, 
Mythus  und  Sitte  selbst  nur  die  Haupterscheinungen,  mit  deren  Be- 
trachtung sich  die  Völkerpsychologie  beschäftigt,  und  um  die  sich 
andere  gruppieren,  deren  spezieller  Hervorhebung  wir  uns  deshalb 
entschlagen  können,  weil  sie  entweder  selbst  wichtige  Faktoren  der 
genannten  oder  Umgestaltungen  und  Weiterentwicklungen  derselben 
sind;  und  dabei  gilt  natürlich  auch  für  diese  Gebiete  wiederum,  daß 
sie  mannigfach  ineinander  greifen.  So  sind  an  die  Sprache  die  An- 
fänge der  Poesie,  so  an  den  Mythus  die  ursprünglichen  Formen 
künstlerischer  Betätigung  überhaupt  gebunden.  Ebenso  ist  dann 
aber  die  Religion  zunächst  mit  dem  Mythus  und  dann  durch  diesen 
mit  der  Sitte  verwoben,  so  daß  sie  sich  besonders  von  dem  ersteren 
in  ihrer  psychologischen  Entwicklung  unmöglich  trennen  läßt.  End- 
lich die  Sitte  führt  neben  den  Beziehungen  zu  Mythus  und  Sprache 
solche  zu  den  anfänglich  mit  ihr  zusammenfließenden  Erscheinungen 
des  Rechtes  mit  sich,  indes  außerdem  ihre  weiteren  Verzweigungen 
über  die  gesamte  Kultur  sich  erstrecken. 


Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl. 


Erstes  Buch. 


Die    Sprache. 


Erstes  Kapitel. 

Die  Ausdrucksbewegungen. 

I.   Allgemeine  Bedeutung  der  Ausdrucksbewegungen. 

Die  psychophysischen  Lebensäußerungen,  denen  die  Sprache 
als  eine  besondere,  eigenartig  entwickelte  Form  zugezählt  werden 
kann,  bezeichnen  wir  ihrem  allgemeinen  Begriffe  nach  als  Aus- 
drucksbewegungen. Jede  Sprache  besteht  in  Lautäußerungen 
oder  in  andern  sinnlich  wahrnehmbaren  Zeichen,  die,  durch  Muskel- 
wirkungen hervorgebracht,  innere  Zustände,  Vorstellungen,  Gefühle, 
Affekte,  nach  außen  kundgeben.  Ist  das  die  Definition,  die 
dem  Begriff  der  Ausdrucksbewegungen  überhaupt  entspricht,  so 
pflegt  man  nun  als  das  besondere  Merkmal,  durch  das  sich  die 
Sprache  von  andern  Bewegungen  ähnlicher  Art  unterscheidet,  dies 
zu  betrachten,  daß  sie  durch  den  Ausdruck  von  Vorstellungen  der 
Gedankenmitteilung  dienen  könne.  Dieses  Merkmal  vermag 
jedoch  der  Sprache  schon  deshalb  keine  absolute  Sonderstellung 
anzuweisen,  weil  auch  andere  Ausdrucksbewegungen  nicht  selten 
von  Vorstellungssymptomen  begleitet  sind,  und  weil  umgekehrt  die 
Sprache  selbst  neben  den  Vorstellungen  auch  Gefühle  zum  Aus- 
druck bringen  kann.  Die  Gedankenmitteilung  ist  also  immer  nur 
ein  möglicher  Zweck,  der  nicht  bei  jeder  einzelnen  Sprachäußerung 
notwendig  bestehen  muß.  Überdies  pflegt  das  einsame  Denken 
die  sprachliche  Form  auch  unter  Verhältnissen  anzunehmen,  unter 
denen  die  Absicht  wie  die  Möglichkeit  der  Mitteilung  ausgeschlossen 
ist.  Noch  weniger  ist  ^schließlich  die  lautliche  Form  des  Aus- 
drucks ein  Kriterium  der  Sprache  als  solcher,  da  unter  den  reinen 
Ausdrucksformen  der  Gefühle,  die  wir  nicht  zur  Sprache  rechnen, 
auch  Ausdruckslaute  vorkommen,  während  anderseits  die  Gebärden- 


■ig  Die  Ausdrucksbewegungen. 


spräche    aus  unhörbaren  Bewegungen  besteht,    trotzdem  aber   alle 
wesentlichen  Eigenschaften  einer  wirklichen  Sprache  besitzt. 

Diese  Schwierigkeiten,  denen  die  Definition  der  Sprache  be- 
gegnet, stehen  offenbar  in  engem  Zusammenhang  damit,  daß  der 
Begriff  der  »Ausdrucksbewegungen«  selbst  nur  einen  sympto- 
matischen Wert  hat,  da  durch  ihn  in  keiner  Weise  die  all- 
gemeinere physiologische  oder  psychologische  Natur  dieser  Be- 
wegungen bestimmt  wird.  Mit  Rücksicht  auf  diese  ihre  allgemeinere 
Natur  können  alle  durch  Muskelaktionen  bewirkten  Bewegungen, 
mögen  sie  nun  Ausdrucksbewegungen  sein  oder  nicht,  in  die  drei 
Klassen  der  automatischen,  der  Trieb-  und  der  Willkür- 
bewegungen unterschieden  werden.  Hierbei  verstehen  wir  unter 
den  automatischen  Bewegungen  rein  physiologische  Erscheinungen, 
die,  nur  in  der  Verbindung  'der  zentralen  Nervenelemente  be- 
gründet, bewußtlos  und  willenlos  vor  sich  gehen;  unter  den  Trieb- 
bewegungen einfache,  unter  der  Wirkung  eines  einzigen,  das  Gefühl 
erregenden  Motivs  entstehende  Willenshandlungen;  endlich  unter 
den  Willkürbewegungen  solche,  bei  denen  in  irgendeinem  Maße 
ein  Wettstreit  mehrerer  Gefühlsmotive  die  äußere  Handlung  vor- 
bereitet. Die  automatischen  Bewegungen  zerfallen  dann  wieder  nach 
den  besonderen  Bedingungen  der  zentralen  Reizübertragung  in  die 
Reflexbewegungen  und  die  Mitbewegungen.  Bei  den  ersteren 
wird  ein  sensibler  Reiz  auf  motorische  Nerven  übertragen  und 
durch  eine  ihm  im  allgemeinen  zweckmäßig  zugeordnete  Muskel- 
bewegung beantwortet.  Bei  den  letzteren  breitet  sich  eine  motori- 
sche Erregung,  die  selbst  entweder  eine  Reflex-  oder  eine  Willens- 
bewegung hervorrufen  kann,  auf  weitere  motorische  Nerven  aus, 
deren  Erregung  in  der  Regel  der  zunächst  ausgelösten  Reizung 
zweckmäßig  koordiniert  ist.  Nun  ist  leicht  ersichtlich,  daß  die  Aus- 
drucksbewegungen jeder  dieser  Klassen  angehören  können,  daß  sie 
sich  aber  auch  nicht  selten  aus  verschiedenen  Bewegungsformen 
zusammensetzen,  oder  daß  sie,  entsprechend  den  allgemeinen  Ge- 
setzen des  Übergangs  dieser  Bewegungen  ineinander,  je  nach  Zeit- 
bedingungen ihre  Bedeutung  wechseln.  So  müssen  wir  die  beim 
Neugeborenen  auf  Geschmacksreize  eintretenden  mimischen  Be- 
wegungen jedenfalls  zu  den  Ausdrucksbewegungen  zählen:  sie  sind 
aber  höchstwahrscheinlich  reine  Reflexe,   oder  sie  können  doch  als 


Allgemeine  Bedeutung  der  Ausdrucksbewegungen.  -ig 

solche  vorkommen,  wie  der  Umstand  beweist,  daß  man  sie  auch 
bei  hirnlosen  Mißgeburten  beobachtet  hat.  Die  charakteristischen 
Bewegungen  des  Erschreckten  sind  dagegen  teils  Reflex-,  teils  Trieb- 
bewegungen :  als  Reflex  ist  das  plötzliche  Zusammenfahren,  das  beim 
heftigsten  Schreck  zu  einem  lähmungsartigen  Zusammenstürzen  wer- 
den kann,  zu  deuten;  triebartig  sind  die  unwillkürlich  eintretenden 
Abwehr-  und  Fluchtbewegungen.  Ebenso  gehören  die  Ausdrucks- 
bewegungen des  Zorns,  der  ausgelassenen  Freude,  des  tiefen  Kum- 
mers und  anderer  Afiekte  zumeist  zu  den  Triebhandlungen.  Sie 
können  sich  aber  teils  mit  gänzlich  willenlosen  und  unbewußten, 
also  reflexähnlichen  Mitbewegungen,  teils  auch  mit  einzelnen  Will- 
kürhandlungen verbinden,  wobei  im  allgemeinen  diese  letzteren  am 
wenigsten  für  einen  bestimmten  Affekt  typisch  sind,  sondern  durch 
mehr  zufallig  dazwischentretende  Gelegenheitsursachen  bestimmt  wer- 
den. Die  Willkürbewegungen  endlich  können  als  primäre  Bestand- 
teile einer  komplexen  Ausdrucksform  höchstens  dann  auftreten,  wenn 
die  Bewegung  überhaupt  zu  einer  bloßen  Scheinbewegung  wird, 
also  bei  geheuchelten  Affekten;  obgleich  auch  hier  durch  die 
Rückwirkung  der  begleitenden  Empfindungen  auf  den  Seelenzustand 
in  der  Regel  Triebbewegungen  hinzutreten,  mit  denen  sich  mei- 
stens noch  automatische  Mitbewegungen  verbinden.  So  können  z.  B. 
gewisse  Ausdrucksbewegungen  eines  Schauspielers  willkürlich  und 
sogar  auf  Grund  vorangegangener  Überlegung  erfolgen :  sie  sind  aber 
mit  andern  Bewegungen  von  der  gleichen  Bedeutung  so  fest  asso- 
ziiert, daß  die  Wahl  der  Ausdrucksform  im  allgemeinen  bloß  den 
Anfang  und  die  allgemeine  Richtung  der  Erscheinungen  zu  be- 
stimmen pflegt. 

Die  generelle  EntAvicklung  der  Ausdrucksbewegungen  erfolgt 
aller  Wahrscheinlichkeit  nach  gemäß  den  allgemeinen  Entwicklungs- 
gesetzen tierischer  Bewegungen.  Nach  diesen  sind  es  aber  nicht, 
wie  so  oft  auf  Grund  dogmatischer  Vorurteile  angenommen  wird, 
die  Reflexe,  aus  denen  allmählich  oder  plötzlich,  infolge  einer  zu- 
vor ungeahnten  Entdeckung  der  Seele,  Willenshandlungen  ent- 
springen. Vielmehr  sind  die  einfachen  Willens-  oder  Triebhand- 
lungen durchaus  als  die  primären  tierischen  Bewegungen  anzu- 
sehen. Aus  ihnen  können  einerseits  durch  die  allmählich  eintretende 
Vervielfältigung  der  Motive  Willkür-  oder  Wahlhandlungen,  auf  der 


40  Die  Ausdrucksbewegungen. 


andern  Seite,  durch  die  infolge  der  Einübung-  geschehende  Me- 
chanisierung, Reflexe  und  automatische  Mitbewegungen  hervorgehen. 
Es  können  sich  aber  auch  die  bereits  entwickelten  Willkürhand- 
lungen wieder  zuerst  in  Trieb-  und  dann  in  automatische  Be- 
wegungen zurückverwandeln.  Hiernach  läßt  sich  dieser  ganze  Zu- 
sammenhang progressiver  wie  regressiver  Entwicklungen  durch  das 
folgende  Schema  veranschaulichen: 


Triebbewegungen 


Automatische  Bewegungen  Willkürbewegungen 

Die  äußeren  größeren  Pfeile  deuten  die  primären  Entwicklungen 
an,  die  nach  zwei  Richtungen  erfolgen:  regressiv  von  den  ur- 
sprünglichen Triebbewegungen  durch  deren  Mechanisierung  zu  den 
Reflexen  und  Mitbewegungen,  und  progressiv  von  den  nämlichen 
Triebbewegungen  zu  den  zusammengesetzten  Willens-  oder  Will- 
kürhandlungen. Die  inneren  kleineren  Pfeile  bezeichnen  die  sekun- 
däre Entwicklung,  die  nur  in  der  einen  Richtung  der  Mechanisierung 
ursprünglich  psychisch  bedingter  Bewegungen  stattfindet.  Für  den 
Teil  des  Verlaufs,  der  von  den  triebartigen  zu  den  automatischen 
Bewegungen  geht,  fällt  daher  diese  sekundäre  vollständig  mit  der 
regressiven  Form  der  primären  Entwicklung  zusammen.  Für  den 
andern  Teil,  der  die  beiden  Formen  der  Willenshandlung  miteinander 
verbindet,  ist  der  sekundäre  dem  primären  Verlauf  entgegengesetzt, 
jener  progressiv,  dieser  regressiv  gerichtet.  Damit  zusammen- 
hängend bildet  der  primäre  Verlauf  überhaupt  zwei  ganz  verschie- 
dene, divergierende  Entwicklungen,  während  der  sekundäre  in  kon- 
tinuierlicher Folge  von  der  höchsten  Form,  den  komplexen  Willens- 
handlungen, zu  der  niedersten,  den  automatischen  Bewegungen, 
führen  kann,  wie  dies  in  unserem  Schema  durch  den  oberen,  die 
beiden  Seiten  verbindenden  Pfeil  angedeutet  wird.  Zugleich  ist 
aber  zu  beachten,  daß  die  hier  gegebene  Interpretation  dieses 
Schemas,   nach   der  alle  Entwicklungen  von  den  Triebbewegungen 


Allgemeine  Bedeutung  der  Ausdrucksbewegungen.  4I 

als  der  ursprünglichen  tierischen  Bewegungsform  ausgehen,  in  ihrer 
Allgemeinheit  nur  für  die  generelle  Entwicklung  gilt.  Bei  den 
individuellen  Organismen,  die  mit  den  mannigfaltigsten  vererbten 
Anlagen  in  das  Leben  eintreten,  sind  von  Anfang  an  Trieb-  und 
Reflexbewegungen  gleichzeitig  anzutreffen.  So  reagieren,  wie  be- 
reits bemerkt  wurde,  die  mimischen  Muskeln  des  Kindes  sofort  nach 
der  Geburt  reflektorisch  auf  Geschmacksreize;  andere  Bewegungen 
desselben  sind  wahrscheinlich  als  Reflexe  des  Tastsinnes  zu  deuten. 
Auch  bei  den  meisten  Tieren  sind  zwar  die  ursprünglichen  Be- 
wegungen unverkennbare  Triebhandlungen;  doch  sind  viele,  wie 
z.  B.  die  Bewegungen  des  eben  aus  dem  Ei  geschlüpften  Hühn- 
chens, zugleich  deutlich  von  einem  System  komplizierter  Mitbe- 
wegungen begleitet,  die  wohl  automatisch  an  die  einfachsten  Trieb- 
äußerungen gebunden  sind. 

Diese  unverkennbare,  nur  aus  den  allgemeinen  Vererbungs- 
gesetzen begreifliche  Tatsache,  daß  die  Tiere  mit  einer  Menge  in 
der  physiologischen  Organisation  ihres  Nervensystems  begründeter 
Anlagen  ins  Leben  treten,  hat  nun  offenbar  auch  die  Hypothese, 
nach  der  die  Reflexe  allgemein  den  Willenshandlungen  voraus- 
gehen sollen,  veranlaßt.  Denn  diese  Hypothese  besteht  eben  nur 
in  der  Verallgemeinerung  einer  bei  der  individuellen  Entwicklung 
vorkommenden  Gruppe  von  Erscheinungen  und  in  ihrer  Übertra- 
gung auf  die  generelle  Entwicklung.  Hierbei  ist  aber  erstens  jene 
Verallgemeinerung  in  den  Tatsachen  selbst  nicht  begründet:  auto- 
matische Reflexe  treten  im  Gegenteil,  gegenüber  den  als  ursprüng- 
liche Triebhandlungen  zu  erkennenden  Bewegungen,  bei  den  frühe- 
sten Lebensäußerungen  um  so  mehr  zurück,  eine  je  tiefere  Stufe  in 
der  Reihe  der  psychophysischen  Organisation  die  Tiere  einnehmen. 
Zweitens  entzieht  man  sich  durch  diesen  Versuch,  den  Reflexen 
die  erste  Stelle  anzuweisen,  jede  Möglichkeit,  die  zweckmäßige, 
den  Endeffekten  angepaßte  Beschaffenheit  der  Bewegungen  über- 
haupt zu  deuten.  Dagegen  ergibt  sich  diese  Zweckmäßigkeit  von 
selbst  aus  der  Natur  der  Willenshandlungen,  da  diese  stets  nach 
bestimmten  Zweckmotiven  erfolgen.  Drittens  endlich  treten  uns 
Erscheinungen  einer  Mechanisierung  triebartiger  und  sogar  willkür- 
licher Handlungen  fortwährend  im  individuellen  Leben  in  den  Er- 
folgen der  Übung  entgegen.     Die  verwickeltsten,  ursprünglich  nur 


Die  Ansdrucksbewegungen. 


unter  steter  Kontrolle  der  Aufmerksamkeit  ausführbaren  Bewegungen 
können  bekanntlich  durch  Einübung  derart  automatisch  werden, 
daß  der  Anfang  der  Handlung  die  weitere  Folge  derselben  mit 
mechanischer  Sicherheit  nach  sich  zieht,  oder  daß  sogar  die  ganze 
Bewegung  auf  irgendeinen  passenden  Sinnesreiz  hin  von  Anfang 
an  automatisch  ausgeführt  wird.  Wir  haben  also  nur  nötig,  diese 
in  der  individuellen  Entwicklung  uns  fortwährend  begegnende  Er- 
fahrung auf  die  generelle  Entwicklung  auszudehnen,  um  die  Zweck- 
mäßigkeit der  Reflexe  begreiflich  zu  finden;  während  sie  für  den 
entgegengesetzten  Standpunkt  entweder  ein  ursprüngliches  Wunder 
bleibt  oder  auf  eine  Ansammlung  zufalliger  Einflüsse,  die  schließlich 
doch  einen  zweckmäßigen  Erfolg  haben  sollen,  bezogen  werden 
muß,  eine  Deutimg,  die  eigentlich  wiederum  die  Voraussetzung  des 
Wunders,  nur  in  einer  andern  Form,  einschließt.  Zu  erklären  frei- 
lich, wie  die  ursprünglichen  Triebe,  das  heißt  wie  die  Empfindungen 
und  Gefühle  tierischer  Wesen  überhaupt  entstanden  seien,  das  liegt, 
wie  überall  die  Nachweisung  der  ursprünglichen  Elemente  der  Er- 
fahrung, außerhalb  der  Grenzen  unserer  Untersuchung.  Die  funda- 
mentalen psychischen  Tatsachen  müssen  wir  ebensogut  wie  die 
Existenz  jener  letzten  Bestandteile  der  Körperwelt,  zu  denen-  die 
Analyse  der  Naturerscheinungen  vorzudringen  vermag,  als  gegeben 
voraussetzen. 

Diese  unumgängliche  Anerkennung  des  Gegebenseins  der  nicht 
weiter  analysierbaren  psychischen  Elemente  schließt  nun  aber 
weiterhin  die  Notwendigkeit  ein,  auch  die  Zuordnung  der  Triebe 
zu  bestimmten  körperlichen  Bewegungen  als  eine  ursprünglich  ge- 
gebene zu  betrachten.  Sie  läßt  schon  deshalb  keine  Zurückführung 
auf  entferntere  Bedingungen  zu,  weil  die  ursprünglichen  Willens- 
vorgänge überhaupt  psychische  und  körperliche  Vorgänge  zugleich 
sind,  jeder  Versuch,  den  einen  dieser  Faktoren  aus  dem  andern 
abzuleiten,  sich  also  mit  dieser  Tatsache  in  Widerspruch  setzt: 
mag  das  nun  in  der  Weise  geschehen,  daß  man  die  Seele  zuerst 
wollen  und  dann  gewisse  körperliche  Aktionen  ihres  Leibes  ent- 
decken läßt,  die  sie  ihrem  Wollen  dienstbar  mache;  oder  mag 
es  so  gedacht  werden,  daß  aus  einem  Zusammenhang  mechani- 
scher Bewegungen,  der  zufällig  zweckmäßig  geworden  ist,  plötz- 
lich   ein    zwecksetzender  Wille    entstanden    sei.      Das    erste    anzu- 


Einfache  Gefühlsformen. 


43 


nehmen,  ist  unzulässig,  weil  die  Seele  kein  den  Körper  von  außen 
betrachtendes  und  dann  sich  unterwerfendes  Ding  ist,  sondern  mit 
dem  leiblichen  Organismus  zusammen  ein  einziges  unlösbar  ver- 
bundenes Ganzes  bildet,  das  nur  durch  unsere  Abstraktion  zum 
Zweck  der  Analyse  in  seine  Bestandteile  gesondert  werden  kann. 
Die  zweite  Annahme  ist  unerlaubt,  weil  hier  die  Willenshandlungen, 
die  überall  in  der  Welt  erst  objektive  Zwecke  zustande  bringen, 
selbst  als  die  Ergebnisse  einer  ihnen  angeblich  vorausgehenden, 
völlig  motivlosen  Zwecktätigkeit  aufgefaßt  werden.  Dagegen  setzt 
die  hier  vertretene  genetische  Auffassung  allerdings  ebenfalls  eine 
den  psychischen  Zuständen  entsprechende,  in  diesem  Sinn  also 
zweckmäßige  Bewegungsreaktion  als  Ausgangspunkt  aller  tierischen 
Handlungen  voraus.  Doch  diese  Reaktion  kann  und  muß  dabei 
als  eine  solche  einfachster  Art  gedacht  werden.  Gebunden  an  die 
niederste,  der  späteren  Differenzierungen  noch  entbehrende  Organi- 
sationsform, bedeutet  sie  die  ursprüngliche  und  darum  einfachste 
psychophysische  Zuordnung.  Aus  ihr  sind  dann  alle  verwickeiteren 
Formen  als  Erzeugnisse  der  in  dem  obigen  Schema  (S.  40)  ver- 
anschaulichten vor-  und  rückwärts  schreitenden  Differenzierungen 
hervorgegangen.  Diese  selbst  aber  müssen  zugleich  als  psycho- 
physische Begleiterscheinungen  der  fortschreitenden  organischen  Ent- 
wicklung betrachtet  werden.  Damit  erfüllt  diese  Annahme  ebenso 
die  Forderung  möglichster  Einfachheit  der  letzten  Voraussetzungen, 
wie  die  der  Übereinstimmung  dieser  Voraussetzungen  und  der  aus 
ihnen  abgeleiteten  Folgerungen  mit  der  Erfahrung. 


II.  Verhältnis  der  Ausdrucksbewegungen  zu  den 
Gefühlen  und  Affekten. 

I.    Einfache  Gefühlsformen. 

Sind  die  Triebhandlungen  als  die  ursprünglichen  tierischen  und 
menschlichen  Handlungen  überhaupt  und  demnach  auch  als  die 
ursprünglichste  Art  der  Ausdrucksbewegungen  aufzufassen,  so  wer- 
den nun  die  wesentlichen  Eigenschaften  dieser,  ebenso  wie  die 
Unterschiede,  die  sie  in  ihren  verschiedenen  Formen  darbieten,  auf 
die  psychologische   Natur  der  Triebe  zurückzuführen  sein.     Jede 


44 


Die  Ausdrucksbewegungen. 


J7 


Triebhandlung  schließt  aber  neben  mannigfachen  Vorstellungs- 
elementen einen  Gefühlsverlauf  ein,  dessen  Eigenschaften  für 
den  allgemeinen  Charakter  der  Handlung  bestimmend  sind.  Das 
nächste  Ergebnis  der  Analyse  eines  solchen  Verlaufs  ist  dieses, 
daß  jedes  einfache,  nicht  weiter  in  verschiedene  Qualitäten  zu  zer- 
legende Gefühl  einer  der  drei  Hauptdimensionen  der  Lust-  und 
Unlust-,  der  erregenden  und  beruhigenden,  der  spannen- 
den und  lösenden  Gefühle  angehört.  Geometrisch  können  wir 
uns  daher  auch  die  Gesamtheit  dieser  Gefühlsformen  durch  eine 
dreidimensionale   Mannigfaltigkeit  versinnlichen   (Fig.  i),   deren   drei 

Hauptachsen  L  U,  ED, 
SR  jenen  drei  Haupt- 
dimensionen entspre- 
chen ,  während  der 
Durchschnittspunkt  / 
der  drei  Achsen  den 
—  U  Indifferenz-  oder  Null- 
punkt andeutet,  bei 
dem  das  Bewußtsein 
als  gefühlsfrei  anzu- 
sehen ist.  Von  diesem 
Nullpunkte  gehen  dann 

die  Hauptrichtungen 
der  Gefühle  aus,  so 
daß  die  von  /  in  der 
Richtung  IL  gemessene  lineare  Strecke  der  Größe  eines  gegebenen 
Lustgefühls,  die  in  der  Richtung  lU  gemessene  der  eines  Unlust- 
gefühls  entspricht  usw.  Im  allgemeinen  kann  aber  ein  konkretes 
Gefühl  entweder  nur  einer  der  sechs  Hauptrichtungen,  oder  es  kann 
gleichzeitig  zweien,  oder  es  kann  endlich  dreien  derselben  ange- 
hören. Im  ersten  Fall  liegt  es  auf  einer  der  drei  Hauptachsen 
selbst,  im  zweiten  wird  es  durch  einen  Punkt  in  einer  der  durch 
zwei  Hauptachsen  gelegten  Ebenen,  im  dritten  durch  irgendeinen 
sonstwo  im  Raum  außerhalb  der  Hauptebenen  liegenden  Punkt 
repräsentiert.  Allgemein  hat  also  ein  konkretes  Gefühl  drei  Be- 
stimmungsstücke, die  jedoch  einzeln  oder  selbst  alle  zusammen 
gleich  Null   werden   können,    welcher  letztere   Fall  dann  dem  Null- 


Fig.  I.    Symbolische  Darstellung 
der  HauptrichtuKgen  der  Gefühle. 


Einfache  Gefühlsformen. 


45 


oder  Indifferenzpunkt  der  Gefühlslage  entspricht.  Ausschließend 
verhalten  sich  nur  stets  die  Kontrastgefühle  zueinander,  die  in 
einer  und  derselben  Hauptdimension  entgegengesetzt  gerichtet  sind. 
Hiernach  kann  man  auch  die  in  verschiedenen  Dimensionen  liegen- 
den Gefühle,  nach  Analogie  der  Kräftezerlegungen  der  Mechanik, 
als  die  Komponenten  eines  gegebenen  Totalgefühls,  und  um- 
gekehrt jedes  gegebene  Gefühl  als  ein  im  allgemeinen  in  drei  Kom- 
ponenten zerlegbares  psychisches  Gebilde  betrachten. 

Dieses  durch  die  Fig.  i  dargestellte  Verhältnis  der  Hauptrich- 
tungen der  Gefühle  bezieht  sich  zunächst  nur  auf  Momentangefühle 
oder  auf  Gefühle,  die  während  der  betrachteten  Zeit  hinreichend 
unverändert  bleiben,  daß  von  ihrem  Zeitverlauf  abstrahiert  werden 
kann.  Solche  momentane  oder  relativ  stabile  Gefühle  haben  zu- 
gleich die  Eigenschaft,  daß  sie  sich  nicht  oder  nur  in  verschwin- 
dendem Grade  durch  eigentliche  Ausdrucksbewegungen  verraten. 
Um  letztere  hervorzubringen,  dazu  gehört  stets  ein  bestimmter  Ge- 
fühlsverlauf, der  dann  immer  auch  mit  einem  Wechsel  der  Gefühle, 
sei  es  bloß  mit  einem  solchen  ihrer  Intensität,  sei  es  außerdem  mit 
Veränderungen  ihrer  Richtung,  verbunden  ist.  In  diesen  Verhält- 
nissen liegen  die  Schwierigkeiten  begründet,  denen  die  Untersuchung 
der  reinen  Gefühle  begegnet.  Auch  ist  ein  momentanes  Gefühl 
subjektiv  schwer  in  gleichbleibender  Beschaffenheit  festzuhalten,  weil 
es  entweder  zu  rasch  verschwindet  oder  in  einen  Gefühlsverlauf, 
einen  Affekt,  übergeht.  Die  Analyse  der  Gefühle  gehört  deshalb 
zu  den  mißlichsten  und  meistumstrittenen  Aufgaben  der  Psychologie. 
Für  die  experimentelle  Untersuchung  derselben  ergibt  sich  aber  aus 
den  angedeuteten  Bedingungen  die  Regel,  daß  man  zu  ihrer  Erzeu- 
gung nur  mäßige  Reize  anwende.  Stärkere  Reize  erwecken  unver- 
meidlich auch  stärkere  Gefühle,  und  diese  gehen  stets  in  Affekte 
über.  Ein  bei  der  Verbindung  mit  aufmerksamer  Selbstbeobach- 
tung durch  seine  wegweisende  Bedeutung  wertvolles  Hilfsmittel  be- 
steht außerdem  in  der  Untersuchung  der  physischen  Begleiter- 
scheinungen. Sie  bestehen  bei  den  reinen  Gefühlen  nur  zum 
allergeringsten  Teil  in  äußerlich  sichtbaren  Ausdrucksbewegungen. 
Bei  sehr  schwachen  und  rasch  vergänglichen  Gefühlen  können 
solche  sogar  ganz  fehlen.  Was  auch  hier  niemals  zu  fehlen  scheint, 
das  sind  aber  Innervationsänderungen  des  Herzens,  der  Blut- 


a6  ßie  Ausdrucksbewegungen. 


gefäße  und  der  Atmungsmuskeln.    Sie  bilden  daher  die  empfind- 
lichsten objektiven  Erkennungsmittel  reiner  Gefühlserregungen. 

Den  einfachsten  Bedingungen  begegnet  naturgemäß  sowohl  die 
subjektive  Beobachtung  der  Gefühle  wie  die  Analyse  ihrer  objek- 
tiven Begleiterscheinungen,  wenn  die  durch  irgendwelche  Sinnes- 
reize erregten  Gefühle  nur  einer  der  oben  unterschiedenen  sechs 
Komponenten  angehören,  nicht  aus  irgendwelchen  Verbindungen 
derselben  bestehen,  wenn  sie  also  in  unserer  symbolischen  Darstel- 
lung (Fig.  i)  in  eine  der  sechs  Hauptrichtungen  selbst  fallen.  Am 
leichtesten  läßt  sich  dieser  Forderung  bei  den  reinen  Lust-  oder 
Unlustgefühlen  nachkommen;  und  am  besten  eignen  sich  zu  ihrer 
Erzeugung  einfache  Geschmacks-  oder  Geruchsreize.  Ein  mäßig 
süßer  Eindruck  auf  die  Zungenspitze  appliziert  erweckt  ein  schwaches, 
aber    unverkennbares    und,    soviel    sich    subjektiv   beobachten    und 


^^N\^f\^.J4^A/^ 


I 


b 

Fig.  2.     Lust.     (Bei   a   b   Einwirkung    eines    sehr    angenehmen    Geruchs,    Menthol, 

Lehmann  Taf.  XLIV  Bj. 


?  2 

Fig.  3.     Unlust.     (Schwefels.  Chinin,    Einwirkung   bei    /,   Anfang    der   Geschmacks- 
empfindung bei  2,  Lehmann  Taf.  XXXI  C  . 

durch  die  Vergleichung  mit  andern  abweichenden  Gefühlswirkungen 
objektiv  konstatieren  läßt,  unvermischtes  Lustgefühl.  Ebenso  ent- 
steht durch  einen  mäßig  bitteren,  auf  den  hinteren  Teil  der  Zunge 
einwirkenden  Reiz  ein  reines  Unlustgefühl,  das  sich  nur,  wenn  der 
Reiz  stärker  wird,  mit  einem  erregenden  Gefühl  zu  verbinden  pflegt. 
Bei  diesen  einfachen  Lust-  und  Unlustformen  beobachtet  man  als 
durchaus  regelmäßige  Pulswirkungen  die,  daß  der  lusterregende  Ein- 


Einfache  Gefühlsformen. 


47 


druck  die  Pulswelle  verstärkt  und  verlangsamt,   der  unlusterregende 
sie  schwächt  und  beschleunigt,    so  daß   sich  also   diese  physischen 
Wirkungen    ähnlich    gegensätzlich    zueinander    verhalten     wie    die 
Gefühle   selbst    Fig.  2  und  3).     Viel    schwieriger    ist    es,    mit    Hilfe 
äußerer  Sinnesreize  rein  erregende  oder  deprimierende  Gefühle  von 
einigermaßen  dauernder  Beschaffenheit  zu   erzeugen.     Am    ehesten 
leisten  dies  Farbeneindrücke.     Namentlich  Rot  und  Blau  bilden   in 
dieser  Beziehung  scharf  ausgeprägte  Gegensätze,  Rot  als  erregender, 
Blau   als    beruhigender  Eindruck.     Mit   beiden  kann   sich   auch   ein 
Lustgefühl  oder  bei  starken  Lichtreizen   ein  Unlustgefühl  verbinden. 
Hält  sich  aber  der  Eindruck  innerhalb  mäßiger  Grenzen,  und  sind 
Glanz,  Kontrast  und  ähnliche  den  Gefühlston  ändernde  Nebenbedin- 
gungen   ausgeschlossen,    so    dürften    die    subjektiven   Zustände   der 
Erregung  und  Beruhigung   in   diesen   Fällen   ziemlieh  rein  zur   Er- 
scheinung kommen.     Weniger  ungemischt  sind  wohl  die  analogen 
Wirkungen  der  Tonqualitäten,  wo  zwar  hohe  Töne  den  erregenden, 
tiefe    den    beruhigenden    Charakter   zeigen,    außerdem  jedoch   teils 
Assoziationseinflüsse,     teils     die     sonstigen    Eigentümlichkeiten    der 
Klangfarbe    Nebenwirkungen    ausüben.      Ferner    lassen    sich    solche 
Erregungs-   und    Hemmungswirkungen    ziemlich    rein    bei    mäßigen 
Affektzuständen  (Aufregung,  Niedergeschlagenheit)  wahrnehmen,  wo- 
bei  sie   sich   dann   nur   durch   ihre   längere  Dauer   etwas   intensiver 
gestalten.     Darum  ist  wohl  auch  bei  diesen  Gefühlsgegensätzen  bis 
jetzt   erst   in  den   erwähnten  Affektzuständen  ein   regelmäßiges  Zu- 
sammengehen mit  Pulsänderungen  beobachtet:    die    erregende    Ge- 
fühlswirkung ist  hier  mit  \^erstärkung,  die  hemmende  mit  Abnahme 
der  Pulswelle   verbunden,  —  ein   ähnlicher   Gegensatz  also,   wie   er 
zwischen    den   Symptomen    von  Lust  und   Unlust    besteht,    jedoch 
ohne  die  für  diese  kennzeichnende  gleichzeitige  Verlangsamung  und 
Beschleunigung    des    Pulses   (Fig.  4   und   5).     Erst    bei    gesteigerten 
Erregungs-    und    Hemmungszuständen ,    wie    sie    bei    dem    Gefühls- 
verlauf starker  Affekte  vorkommen,  pflegt   sich  die  Erregung   zu- 
gleich  in    Beschleunigung,    die    Hemmung    in    Verlangsamung    des 
Pulses  zu  äußern.     Doch  läßt  sich  in  diesen  Fällen  nicht  feststellen, 
inwieweit  die  Symptome  in  den  bei  den  Affekten  niemals  fehlenden 
Verbindungen  mit   andern  Gefühlsformen  ihre  Quelle   haben.     Um 
schließlich  auch  das  dritte  Gegensatzpaar  einfacher  Gefühle,  das  der 


48  Die  Ausdrucksbewegungen. 


Spannung  und  Lösung,  in  möglichster  Isolierung  zu  erwecken,  muß 
man  zur  zeitlichen  Aufeinanderfolge  von  Eindrücken  greifen.  Kein 
Gemütszustand  enthält  so  ausgeprägt  und  unter  geeigneten  Bedin- 
gungen so   frei  von  andern   Elementen   das   Gefühl   der  Spannung 


Fig.  4.     Erregung,    nach   vorausgehender   Unlust   und  Depression.     (Erschreckender 
Reiz   bei   /,    Unlust    und    Depression    von    a   bis   3,    Erregungskurve    von    b   bis    t", 

Lehmann  Taf.  XIX  C). 


'^^^,^w;-MViwJ^X/^^^\  .^vj'- 


Fig.    5.     Depression.      (Stark    deprimierte    Stimmung   infolge    eines    unangenehmen 

Ereignisses ;    darunter   einige   normale  Kurven   des  gleichen  Beobachters  von  einem 

andern  Tage,  Lehmann  Taf.  X  A). 

wie  die  Erwartung;  und  ebenso  prägt  sich  das  entgegengesetzte 
Gefühl  der  Lösung  nirgends  so  rein  aus  wie  in  dem  Moment  der 
erfüllten  Erwartung.  Wenn  man  daher  Gehörseindrücke  nimmt,  die 
hinreichend  indifferent  sind,  etwa  die  einfachen  Taktschläge  eines 
Pendels,  und  wenn  man  diese  nun  außerdem  noch  derart  regel- 
mäßig einander  folgen  läßt,  daß  der  gewählte  Rhythmus  nicht  in 
merklichem  Grade  Lustgefühle  erweckt,  aber  den  Spannungs-  und 
Lösungsgefühlen  Zeit  genug  gibt  sich  zu  entwickeln,  welche  Bedin- 
gungen beide  bei  ziemlich  langsam,  in  1,5—2  Sek.  einander  fol- 
genden Eindrücken  am  besten  erfüllt  sind,  so  kann  man  diese  dritte 
Gefühlsform  in  ausgezeichneter  Weise  und  zugleich  so  gut  wie  ganz 


Einfache  Gefühlsformen. 


49 


losgelöst  von  andern  Gefühlsqualitäten  beobachten.  Der  Puls  scheint 
dann  bei  bestehendem  Spannungsgefühl  Verlangsamung  und  Stärke- 
abnahme, bei  eintretender  Lösung  der  Spannung  allmähliche  Ver- 
stärkung und  Beschleunigung  der  Pulswelle  zu  zeigen.  Die  glei- 
chen Erscheinungen  lassen  sich  auch  bei  unbestimmten,  nicht  an 
rhythmische  Eindrücke  gebundenen  Erwartungszuständen  beob- 
achten (Fig.  6  und  7).     Das  Symptomenbild   der  Spannungsgefühle 


'VMVxj^^»vf^u^.^M 


'X 


Fig.  6.     Spannung.     (Nachwirkung    eines    schwachen    Tones,    dessen    Wiederholung 
erwartet  wird,  Spannungskurve  von  a  bis  l>.  Lehmann  Taf.  XXIX  A). 


A,    p 


r  \ 

1  2  c  d 

Fig.   7.     Lösung.     (Unmittelbare  Fortsetzung   des  Versuchs  von  Fig.  6,  von  i  bis  2 
Einwirkung  des  erwarteten  Tones,  von  c  bis  d  Lösungskurve,  Lehmann 
Taf.  XXIX  B). 

scheint  also  dem  der  Unlustgefühle  sowie  der  beruhigenden  Ge- 
fühle durch  die  Stärkeabnahme  des  Pulses  zu  gleichen,  sich  aber 
von  ihnen  durch  die  Verlangsamung  zu  unterscheiden,  durch  die 
es  sich  an  die  Seite  der  Lustsymptome  stellt.  Analog  verhält 
es  sich  mit  dem  Lösungsgefühl,  das  durch  die  Beschleunigung  des 
Pulses  den  Unlustsymptomen,  durch  seine  Verstärkung  den  Lust- 
und  Erregungssypmtomen  verwandt  erscheint.  Die  Figuren  2 — 7  ent- 
halten einige  den  sorgfältigen  Untersuchungen  Alfr.  Lehmanns  ent- 
nommene Kurvenabschnitte,  die  das  Gesagte  verdeutlichen.  Diese 
Kurven  geben  die  Volumenschwankungen  einer  Flüssigkeitsmasse 
wieder,  die  in  einem  die  Hand  wasserdicht  umschließenden  Beutel 
enthalten  war  (sogenannte  »plethysmographische«  Kurven).    Es  sind 

Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  4 


50  Die  Ausdrucksbewegungen. 


daher  bei  ihnen  neben  den  Pulskurven  auch  noch  die  langsameren, 
von  dem  wechselnden  Kontraktionszustand  der  Blutgefäße  abhängigen 
Volum-  oder  vasomotorischen  Kurven  zu  bemerken^). 

Alle  diese  Pulssymptome,  sowie  die  sie  begleitenden  Verände- 
rungen der  Gefäß-  und  Atmungsinnervation  sind,  solange  es  sich 
um  reine  Gefühle  handelt,  unbedeutend  und  vorübergehend.  Sie 
nehmen  dagegen  zu  beim  Übergang  in  den  Affekt;  zugleich  kommen 
dann  aber  auch  Vermischungen  der  verschiedenen  Symptome  vor, 
welche  die  Erscheinungen  komplizieren. 

2.    Gefühlsverlauf  der  Affekte. 

Da  jeder  Affekt  einen  bestimmten  Gefühls  verlauf  darstellt,  kein 
einziges  Gefühl  aber  als  ein  streng  momentaner  oder  auch  als  ein 
konstant  in  der  Zeit  andauernder  Zustand  festgehalten  werden  kann, 
so  sind  »reine  Gefühle«  eigentlich  die  Erzeugnisse  einer  psycho- 
logischen Abstraktion.  Alle  wirklichen  Gefühle  bilden  vielmehr 
Bestandteile  eines  niemals  ganz  zur  Ruhe  kommenden  Affektverlaufs; 
und  es  läßt  sich  bei  diesem  immer  nur  von  einzelnen  relativen 
Ruhepunkten  reden.  Verfolgt  man  nun  von  solchen  Punkten  aus 
die  Gefühle  in  die  bewegteren  Affekte,  so  kann  man  nicht  zweifeln, 
daß  zwar  das  so  entstehende  Zusammenwirken  der  Gefühle  und  ihr 
zeitlicher  Ablauf  die  Intensität  und  die  Verbindung  der  einzelnen 
in  hohem  Grade  beeinflussen  kann,  daß  aber  niemals  aus  dem  Affekt 
selbst  eigentlich  neue  Gefühlselemente  entspringen.  Hieran  scheitert 
denn  auch  von  vornherein  die  Annahme,  alle  in  dem  Verlauf  eines 


^)  Alfred  Lehmann,  Die  Hauptgesetze  des  menschlichen  Gefühlslebens,  1892. 
Die  körperlichen  Äußerungen  psychischer  Zustände,  I,  1899  (mit  einem  Atlas  ple- 
thysmographischer, pneumo-  und  sphymographischer  Kurven).  Zoneff  und  Meumann, 
Philos.  Studien,  Bd.  18,  1903,  S.  i  ff.  Werner  Gent,  ebd.  S.  715  ff.  Max  Erahn, 
ebd.  S.  127  ff.  Da  Lehmann  noch  unter  der  Voraussetzung  arbeitete,  daß  die  ein- 
fachen Gefühle  in  die  eine  Dimension  der  Lust-Unlust  einzureihen  seien,  so  hat  er 
selbst  den  von  ihm  gewonnenen  Resultaten  eine  von  der  obigen  abweichende  Deu- 
tung gegeben.  Wichtige  Ergänzungen  hinsichtlich  der  Symptomatik  der  Gefühle  im 
Gebiet  der  Atmungsbewegungen  bieten  die  Untersuchungen  von  Zoneff  und  Meumann, 
sorgfältige  Analysen  pletysmographischer  Kurven  bei  Gefühlen  und  Affekten  auf 
Grund  der  das  Experiment  begleitenden  Selbstbeobachtung  enthält  die  Arbeit  von 
W.  Gent.  Vgl.  zu  dem  Ganzen  meine  Physiol.  Psychologie  5,  H,  S.  273  ff.,  und 
O.  Dittrich,  Grundzüge  der  Sprachpsychologie,  I,  S.  658  ff. 


Gefüblsverlauf  der  Affekte. 


51 


Affektes  vorkommenden  Gefühle  seien  aus  bloßen  Lust-  und  Unlust- 
gefühlen  zusammengesetzt,  oder  alle  in  Affekten  vorkommenden 
Gefühle,  die  nicht  der  Lust  und  Unlust  unterzuordnen  sind,  ent- 
stünden erst  infolge  der  Affekte.  Weder  auf  die  eine  noch  auf  die 
andere  Weise  läßt  sich  begreifen,  wie  solche  Gefühle  überhaupt 
entstehen  können.  Sollten  sie  aus  den  Lust-  und  Unlustgefühlen 
hervorgehen,  so  müßte  sich  doch  nachweisen  lassen,  daß  Erregung 
und  Beruhigung,  Spannung  und  Lösung  wirklich  mit  Lust  und  Un- 
lust verwandt  seien  oder  mindestens  konstante  Beziehungen  zu  diesen 
angeblich  einfacheren  Gefühlen  darbieten.  Dem  widerspricht  aber 
direkt  die  Tatsache,  daß  jede  jener  andern  Gefühlsrichtungen  sowohl 
mit  einem  Lust-  wie  mit  einem  Unlustgefühl  sich  verbinden,  wie  end- 
lich ohne  eines  dieser  Gefühle  bestehen  kann.  Es  gibt  einen  Zustand 
der  Erwartung,  bei  dem  man  nichts  als  ein  deutliches  Gefühl  der 
Spannung  wahrnimmt.  Dieses  auf  bloße  Spannungsempfindungen 
der  Haut  und  der  Muskeln  zurückzuführen,  die  allerdings  infolge 
begleitender  Muskelerregungen  entstehen  und  jenes  Gefühl  begleiten, 
geht  deshalb  nicht  an,  weil  sich  solche  Spannungsempfindungen 
auch  ohne  jede  Spur  eines  Erwartungsgefühls  hervorbringen  lassen, 
z.  B.  durch  einen  Induktionsstrom  oder  durch  eine  absichtlich  vor- 
genommene willkürliche  Innervation  der  Muskeln.  Nicht  minder 
lehrt  die  Beobachtung,  daß  sich  die  Spannungsgefühle  bald  mit 
Lust-,  bald  mit  Unluststimmungen  verbinden  können.  So  ist  die  lange 
fortgesetzte  ungeduldige  Erwartung  ein  oft  bis  zur  Unerträglichkeit 
unlustvolles  Spannungsgefühl.  Die  mäßig  ansteigende  Erwartung 
dagegen  kann,  z.  B.  bei  rhythmischen  Eindrücken,  ein  lustvolles 
Spannungsgefühl  sein.  Ebenso  gibt  es  Affekte,  bei  denen  das  Gefühl 
der  Erregung  mit  Unlustgefühlen  verbunden  ist,  wie  der  Zorn,  und 
andere,  bei  denen  es  Lustgefühle  begleitet,  wie  die  Freude. 

Mißlingt  demnach  der  Versuch,  die  genannten  Gefühlsbestandteile 
der  Affekte  auf  einzelne  unter  ihnen  zu  reduzieren  oder  sie  in 
anderweitige  Elemente  aufzulösen,  so  läßt  sich  aber  umgekehrt 
auch  die  Frage  erheben,  ob  nicht  außer  ihnen  noch  weitere  Grund- 
formen vorkommen.  Ist  die  Erregung  des  Zornigen  wirklich  dasselbe 
Gefühl  wie  die  des  Erfreuten?  Oder  sind  nicht  etwa  die  Gefühle, 
welche  die  Tätigkeit  der  Aufmerksamkeit,  die  Willenshandlung  oder 
die  Erinnerungs-  und  Erkenntnisvorgänge  begleiten,  z.  B.  die  bei  der 

4* 


t^2  Die  Ausdrucksbewegiingen. 


Wiedererkennung  eines  Gegenstandes,   beim  gelingenden  oder  miß- 
lingenden Vollzug   eines  intellektuellen  Prozesses,  —  sind  nicht  alle 
diese   einzeln  wieder   ebenso   spezifisch  verschiedene  Qualitäten  wie 
Lust,  Unlust,  Erregung,  Beruhigung  usw.?    Nun  enthält  diese  Frage 
eigentlich   zwei  Fragen.     Erstens:   sind   die  angegebenen  sechs  die 
einzigen  Hauptrichtungen  der  Gefühle?    Und  zweitens:  bezeichnet 
jede  dieser  Richtungen  zugleich  eine  einzige  einfache  Gefühlsqualität, 
oder   deuten   sie   nur  Gefühls  arten   an,    unter  deren  jeder  wieder 
eine  Mannigfaltigkeit  konkreter  einzelner  Gefühle  enthalten  sein  kann, 
ähnlich  wie  unter  der  Farbe  Blau  eine  Menge  einzelner  Farbennuancen 
verstanden    wird?     Die    große    Vergänglichkeit    der    Gefühle,    ihre 
mannigfachen    Verbindungen    und    Verschmelzungen,    endlich    ihre 
mangelhafte    Unterscheidung     in     den    Benennungen    der    Sprache 
machen  es  nicht  leicht,  diese  Fragen  zu  entscheiden.     Bei  unbefan- 
gener Prüfung  müssen  sie  aber  doch,  wie  mir  scheint,  dahin  beant- 
wortet werden,  daß  wirklich  diese  Hauptrichtungen  nicht  Individual-, 
sondern  Artbegriffe  andeuten,   daß  sie  dann  aber  auch  die  einzigen 
Arten  sind,   welche  vorkommen.     Zunächst  lassen  sich  nämlich  die 
verschiedensten  konkreten  Gefühle,  denen  man  auf  den  ersten  Blick 
geneigt    sein    möchte    eine    selbständige    Stellung    anzuweisen,    bei 
näherer   Betrachtung    auf  Modifikationen   oder  Verbindungen   jener 
zurückführen.      So    dürften    z.  B.    die    eigentümlichen   Erkennungs- 
und Wiedererkennungsgefühle   bei  der  Begegnung  mit  früher  wahr- 
genommenen Gegenständen  sowie    die   oft  sehr   intensiven  Gefühle 
bei    den  Vorgängen   des   Besinnens  und   Erinnerns  aus  aufeinander 
folgenden  Spannungs-    und  Lösungsgefühlen   bestehen,    mit   denen 
sich  in  etwas  wechselnderer  Weise  Erregungs-  und  unter  Umständen, 
aber  keineswegs   immer,  Lust-  und  Unlustgefühle  verbinden.     Die 
eigentümlichen  Gefühle,  die  dunkel  im  Bewußtsein  vorhandene  Vor- 
stellungen   begleiten,    und    durch    die    sich  diese  deutlich  verraten, 
während   sie  selbst  doch  durchaus  unbestimmt  bleiben,    sind  wohl 
ihrem  Hauptcharakter  nach  Spannungsgefühle,  zunächst  der  Erwartung 
verwandt;    es   ist  ihnen  aber  außerdem  der  sonstige  Gefühlston  der 
dunkel   perzipierten  Vorstellung  eigen,    durch   den  jene   oft  wahr- 
zunehmende Stimmung  entsteht,  es  gebe  irgend  etwas  Angenehmes 
oder  Unangenehmes,  das  uns  widerfahren  sei  oder  widerfahren  werde, 
ohne  daß  wir  doch  zu  sagen  wissen,  was  dies  Angenehme  oder  Un- 


Gefühlsverlauf  der  Affekte. 


53 


angenehme  sei.  Aus  einer  eigenartigen  Verbindung  von  Spannungs- 
und Lösungs-  mit  Erregungsgefühlen  erscheint  endlich  der  Willens- 
vorgang zusammengesetzt,  und  zugleich  sind  hier  die  verschiedenen 
Entwicklungsformen  der  Willenshandlungen  durch  die  verschiedene 
Intensität  und  Dauer  der  Gefühlskomponenten  gekennzeichnet.  Bei 
dem  einfachen  Willensvorgang  oder  der  Triebhandlung  wachsen  im 
allgemeinen  das  Spannungs-  und  das  Erregungsgefühl,  die  der 
Handlung  vorausgehen,  rasch  an,  um  dann  plötzlich  mit  dem  Vollzug 
des  Willensaktes  dem  meist  zugleich  mit  Lust  verbundenen  Lösungs- 
gefühl Platz  zu  machen.  Bei  der  Willkürhandlung  und  besonders 
bei  der  Wahl  zwischen  deutlich  einander  bekämpfenden  Motiven 
befinden  sich  außerdem  jene  einleitenden  Gefühle  in  einem  oszillie- 
renden Zustand,  der,  wie  immer  das  Schwanken  zwischen  entgegen- 
gesetzten Gefühlsphasen,  die  Intensität  der  Gefühle  zu  verstärken 
pflegt.  Übrigens  zeigt  sowohl  der  Gefühlsverlauf  der  Willenshand- 
lungen wie  die  Beschaffenheit  sonstiger  komplexer  Gefühle  und 
Stimmungen,  daß  die  Erregungs-  und  Hemmungsgefühle,  so  oft 
sie  auch  mit  den  Spannungs-  und  Lösungsgefühlen  vereinigt  sind, 
doch  von  diesen  der  Art  nach  abweichen.  Denn  auch  hier  können 
beide  Gefühlsformen  wieder  in  wechselnden  Verbindungen  vor- 
kommen. So  ist  das  Spannungsgefühl  bei  hochgradiger  Erwartung 
von  Erregung  begleitet;  aber  dieses  Erregimgsgefühl  kann  nun  bei 
eintretender  Erfüllung,  wo  das  Lösungsgefühl  bereits  intensiv  hervor- 
bricht, noch  andauern,  ja  stärker  werden  als  vorher. 

Die  drei  Grundformen  der  Gefühle,  auf  die  wir  so  bei  der  Analyse 
der  einzelnen  Gemütszustände  immer  wieder  geführt  werden,  scheinen 
nun  außerdem  zu  den  wichtigsten  Eigenschaften  des  Verlaufs  der 
Affekte  in  einer  nahen  Beziehung  zu  stehen.  Erinnern  wir  uns 
nämlich,  daß  das  einzelne  Momentangefühl  strenggenommen  stets 
eine  Abstraktion  ist,  weil  jedes  Gefühl  Teil  eines  Gefühlsverlaufes, 
jeder  Gefühlsverlauf  aber  seinem  allgemeinen  Wesen  nach  ein  Affekt 
ist,  so  ergibt  sich,  daß  in  diesem  kontinuierlichen  Strom  der  Gefühle 
jedes  einzelne  Element  in  dreifacher  Weise  bestimmt  sein  kann. 
Erstens  hat  der  Gefühls  verlauf  in  jedem  Augenblick  einen  be- 
stimmten qualitativen  Inhalt.  Diese  Gefühlsqualität  des  gegen- 
wärtigen Eindrucks  gibt  dem  Gefühl  jene  Eigenschaften,  die  wir 
den  allg-emeinen  Besrriffen  der  Lust  und  Unlust  unterordnen  können. 


CA  '     Die  Ausdrucksbewegungen. 

Zweitens  übt  der  momentane  Bewußtseinszustand  immer  eine  Wir- 
kung auf  den  nachfolgenden  aus,  die  sich  als  intensive  Erregung 
oder  Hemmung  äußern  kann:  das  erstere,  wenn  die  Gefühlskurve 
vom  gegenwärtigen  Moment  zum  folgenden  ansteigt,  das  letztere, 
wenn  sie  sinkt.  Da  sich  dieser  Unterschied  der  Schwankungen  des 
Gefühlsverlaufs  dem  Vorstellungsinhalte  des  Bewußtseins  mitteilt,  so 
pflegt  das  Gefühl  der  Erregung  zugleich  von  einem  rascheren,  das- 
jenige der  Hemmung  von  einem  retardierten  Vorstellungswechsel 
begleitet  zu  sein.  Drittens  ist  die  gegebene  Gefühlslage  durch  den 
unmittelbar  vorangehenden  Zustand  des  Bewußtseins  zeitlich  be- 
stimmt. Danach  kann  sich  entweder  ein  vorangegangener  Gefühls- 
verlauf seinem  Abschlüsse  zudrängen:  dann  entsteht  ein  Lösungs- 
gefühl; oder  es  kann  sich  die  Vorbereitung  zu  einem  solchen  Ab- 
schlüsse vom  vorangegangenen  Moment  auf  den  gegenwärtigen 
fortsetzen:  dann  ist  ein  Spannungsgefühl  von  verschiedener  Stärke 
vorhanden.  So  sind  es  die  drei  allen  psychischen  Inhalten  gemein- 
samen Eigenschaften  der  Qualität,  der  relativen  Intensität  und  des 
Zeitverlaufs,  zu  denen  sich  die  drei  Bestimmungsstücke  eines  jeden 
in  einen  Affekt  eingehenden  Momentangefühls  in  Beziehung  bringen 
lassen.  Damit  ist  aber  natürlich  nicht  ausgeschlossen,  daß  die  nähere 
qualitative  Färbung  in  jeder  dieser  Dimensionen  noch  eine  wech- 
selnde sein  kann,  da  sie  jeweils  von  den  unendlich  variierenden  In- 
halten des  Bewußtseins  abhängig  ist;  und  daß  gelegentlich  die  Be- 
stimmtheit in  irgendeiner  Richtung  oder  in  mehreren  gleichzeitig  zu 
Null  werden  kann,  was  der  partiellen  oder  eventuell  totalen  Indiffe- 
renzlage der  Gefühle  und  damit  dem  Zustand  der  Affektlosigkeit 
entspricht.  Doch  wird  dieser  Zustand  wahrscheinlich  nur  zuweilen 
gestreift. 

Wird  so  jedes  Gefühl  eigentlich  erst  in  seiner  Zugehörigkeit  zu 
einem  Gefühlsverlauf  oder  Affekt  in  allen  seinen  Eigenschaften  ver- 
ständlich, so  ergibt  sich  nun  hieraus  zugleich,  daß  jene  graphische 
Versinnlichung  der  Grundformen  der  Gefühle,  wie  sie  die  Fig.  i 
(S.  44)  zeigt,  eine  unvollständige  ist,  weil  sie  eben  nur  die  momen- 
tanen Bestimmungselemente  eines  gegebenen  Gefühls,  nicht  dieses 
in  seiner  ganzen  Zugehörigkeit  zu  einem  konkreten  Affekt  zum  Aus- 
druck bringt.  Wollen  wir  die  letztere  Aufgabe  irgendwie  lösen, 
also  die  Veränderungen  der  Gefühlslage  in  einer  Reihe  aufeinander 


Gefühlsverlauf  der  Affekte. 


55 


folgender  Momente  oder  gar  während  der  Dauer  eines  Affekts 
symbolisch  darstellen,  so  ist  dies  innerhalb  einer  einzigen  ebenen 
Konstruktion  natürlich  nicht  mehr  möglich,  da  bereits  die  Bestim- 
mung der  momentanen  Gefühlslage  ein  dreidimensionales  Gebilde 
fordert.  Dagegen  läßt  es  sich  schon  mit  Hilfe  der  Ebene  ausführen, 
wenn  wir,  wie  in  Fig.  8,  den  Affektverlauf  in  bezug  auf  die  drei 
Gefühlsdimensionen  in  drei  gesonderten  Kurven  darstellen,  deren 
Abszissen  die  Zeiten  bedeuten.  Hier  ordnet  sich  der  einem  ge- 
gebenen Moment  entsprechende  Gefühlszustand  den  ihm  voraus- 
gehenden und  nachfol- 
genden Momenten  un- 
mittelbar ein,  wenn  wir 
die  senkrecht  überein- 
ander liegenden  Punkte 
der  drei  Abszissenach- 
sen den  gleichen  Zeit- 
punkten entsprechen 
lassen.  Es  wird  dann 
bei  einer  solchen  Dar- 
stellung, gegenüber 
dem  einfachen,  von  der 
Zeit  abstrahierenden 
Schema     der     Fig.    i, 

zweckmäßig  noch  die  weitere  Veränderung  vorgenommen,  daß  man 
die  innerhalb  einer  und  derselben  Dimension  liegenden  Gegensätze, 
wie  Lust  und  Unlust,  durch  die  Lage  des  betreffenden  Punktes  der 
Gefühlskurve  über  oder  unter  der  Abszissenlinie  der  Zeiten  ausdrückt. 
Die  positiven  Ordinaten  der  auf  der  Linie  LL  gezeichneten  Kurve 
bedeuten  demnach  Lustgefühle,  die  negativen  Unlustgefühle,  während 
die  Höhe  der  Ordinate  jedesmal  die  Intensität  des  Gefühls  mißt,  wo- 
mit dann  von  selbst  der  Punkt,  wo  die  Kurve  die  Abszissenachse 
schneidet,  die  Indifferenzlage  anzeigt.  Ahnlich  können  wir  durch 
die  Kurve  EE'  den  Verlauf  der  Erregungs-  und  Hemmungsgefühle, 
durch  SS'  den  der  Spannungs-  und  Lösungsgefühle  darstellen.  Der 
momentane  Gefühlszustand  in  irgendeinem  Zeitpunkte  t  wird  dann 
in  seiner  Zerlegung  nach  den  drei  Gefühlsdimensionen  durch  die 
drei    dem   Abszissenwert    entsprechenden    positiven    oder   negativen 


Fig.  8.     Beispiel  eines  Gefühlsverlaufs  Im  Affekt. 


56  Die  Ausdrucksbewegungen. 

Ordinaten  ausgedrückt.  Alle  drei  Kurven  zusammen  schildern  aber 
einen  Affektverlauf  in  bezug  auf  seine  sämtlichen  Gefühlskompo- 
nenten und  ihre  Veränderungen  in  der  Zeit.  Die  in  Fig.  8  ge- 
zeichnete.! Kurven  würden  so  beispielsweise  dem  Vorgang  entspre- 
chen, der  bei  der  Erwartung  und  dem  Eintritt  eines  lusterregenden 
Eindrucks  sich  abspielt.  Der  Prozeß  beginnt  bei  5  mit  einem  all- 
mählich ansteigenden  Spannungsgefühl,  dem  sich  nach  kurzer  Zeit 
ein  Unlust-  und  ein  Erregungsgefühl,  beide  ebenfalls  allmählich 
wachsend,  zugesellen.  Wirkt  in  einem  Moment  t'  der  erwartete 
Reiz  ein,  so  folgt  nun  sofort  ein  Übergang  des  Spannungs-  in  das 
Lösungs-,  des  Unlust-  in  das  Lustgefühl,  während  die  Erregung 
noch  einige  Zeit  anhält,  um  dann  auf  Null  zu  sinken  und  eventuell 
ebenfalls  in  ihren  Gegensatz,  die  Beruhigung,  überzugehen. 

Sucht  man  in  dieser  Weise,  die  subjektive  Beobachtung  durch 
experimentelle  Versuchsbedingungen  unterstützend,  Affekte  zu  analy- 
sieren, so  ergibt  sich,  daß  für  die  allgemeinen  Typen  des  Ver- 
laufs der  Affekte  nicht,  wie  für  ihre  momentanen  Gefühlsinhalte,  die 
Lust-  und  Unlustrichtung,  sondern  die  beiden  andern  Dimensionen, 
die  Erregung  und  Hemmung,  die  Spannung  und  Lösung,  von  vor- 
wiegender Bedeutung  sind.  Dies  wird  verständlich,  wenn  wir  uns  an 
die  oben  bemerkte  Abhängigkeit  von  den  zeitlichen  Bedingungen 
der  Gefühle  erinnern.  So  sehr  hier  für  deren  unmittelbare  Qualität 
das  Lust-  oder  Unlustmoment  von  entscheidendem  Wert  ist,  weshalb 
eben  die  andern  Hauptrichtungen  meist  ganz  übersehen  wurden,  so 
sehr  müssen,  sobald  man  vom  Gefühl  zum  Affekt  übergeht,  diejeni- 
gen Momente  in  den  Vordergrund  treten,  bei  denen  diese  Beziehung 
zum  Zeitverlauf  die  Hauptrolle  spielt,  während  der  Lust-  und  Un- 
lustwert bloß  die  Bedeutung  eines  konkreten  qualitativen  Inhalts  hat, 
der  auf  die  Verlaufsform  als  solche  nur  indirekt  von  Einfluß  ist. 
Dabei  sind  dann  weiterhin  die  Erregungs-  und  Hemmungsgefühle 
hauptsächlich  für  die  eigentlichen  Affekte  maßgebend,  die,  ohne  daß 
sie  Wirkungen  von  unmittelbar  affektlösendem  Charakter  hervor- 
bringen, durch  allmähliche  Beruhigung  des  Gefühlsverlaufs  endigen. 
Die  alten  Einteilungen  in  exzitierende  und  deprimierende,  sthenische 
und  asthenische  Affekte  weisen  in  der  Tat  deutlich  auf  dieses  Über- 
gewicht der  Erregungs-  und  Hemmungsgefühle  hin.  Es  würde  ja 
unbegreiflich  sein,   wie  man  dazu  kam,    einerseits  Zorn  und  ausge- 


Gefühls  verlauf  der  Affekte.  ^y 


lassene  Freude,  anderseits  Schreck  und  überwältigende  Freude  jedes- 
mal als  Affektformen  von  übereinstimmendem,  beide  Arten  der 
Freude  daher  als  solche  von  entgegengesetztem  Typus  zu  betrachten, 
hätte  sich  hier  nicht  dieses  für  die  Affekte  und  die  sie  begleitenden 
Ausdrucksbewegungen  überwiegende,  den  Lust-  und  Unlustcharakter 
zurückdrängende  Moment  der  Erregung  und  Hemmung  geltend  ge- 
macht. Übrigens  ist  es  charakteristisch,  daß  erst  der  Versuch  einer 
wissenschaftlichen  Einteilung  der  Affekte  zu  diesen  die  Verlaufsform 
in  den  Vordergrund  rückenden  Abstraktionen  geführt  hat,  während 
die  Unterscheidungen  des  gewöhnlichen  Bewußtseins,  wie  sie  in  den 
sprachlichen  Bezeichnungen  niedergelegt  sind,  auch  hier  bei  den 
momentanen  Gefühlswerten  mit  ihrer  Einordnung  in  die  Lust-  und 
Unlustreihe  stehen  blieben.  Solche  Ausdrücke  wie  exzitierend,  de- 
primierend, sthenisch,  asthenisch  gehören  ausschließlich  der  psycho- 
logischen Theorie  an.  Die  Sprache  unterscheidet  nur  Freude,  Leid, 
Kummer,  Sorge,  Hoffnung,  Furcht  usw.  Der  Reichtum,  über  den 
die  Sprache  bei  diesen  Lust-  und  Unlustbezeichnungen  der  Affekte 
verfügt,  indes  sie  den  übrigen  Gefühlsrichtungen  gegenüber  versagt, 
begünstigte  aber  auch  hier  wieder  das  intellektualistische  Vorurteil, 
das  sich  der  psychologischen  Analyse  der  Gemütsbewegungen  so 
oft  bemächtigt  hat:  man  hielt  jene  Gegensätze  der  Erregung  und 
Hemmung  meist  für  bloße  Unterschiede  des  Vorstellungsverlaufs 
und  erkannte  nicht,  daß  die  letzteren  selbst  Begleiterscheinungen 
bestimmter,  wohl  ausgeprägter  Gefühlsqualitäten  sind. 

Neben  den  Gefühlen  der  Erregung  und  Beruhigung  treten  sodann 
in  vielen  Affekten  auch  die  Spannungs-  und  Lösungsgefühle  als  be- 
deutsame Elemente  hervor.  So  bei  Erwartung,  Angst,  Furcht, 
Kummer,  Sorge,  Hoffnung,  Zweifel,  Erfüllung,  Befriedigung  usw. 
Auch  hier  hat  in  der  Sprache  wieder  vorwiegend  das  Lust-  und 
Unlustmoment  seinen  Ausdruck  gefunden.  Nur  in  der  eigentüm- 
lichen Nebenbedeutung,  die  man  schon  im  gewöhnlichen  Sprach- 
gebrauch diesen  Benennungen  gegenüber  den  einfachen  Begriffen 
der  Freude  und  des  Leids  beilegt,  und  in  dem  für  viele  dieser  Formen 
von  der  Psychologie  gelegentlich  gebrauchten  Ausdruck  »Zukunfts- 
affekte« kommen  jene  Momente  der  Spannung  und  Lösung  unwill- 
kürlich zur  Geltung.  Einen  entscheidenden  Wert  besitzen  aber 
schließlich  die   Spannungs-  und  Lösungsgefühle,   zugleich   in   eigen- 


Die  Ausdnicksbewegungen. 


tümlicher  Verbindung  mit  Gefühlen  der  Erregung  und  Beruhigung, 
bei  den  Willensvorgängen,  ein  Verhältnis,  das  diese  in  die  un- 
mittelbare Nachbarschaft  der  Affekte,  namentlich  der  sogenannten 
Zukunftsaffekte,  rückt.  Näher  betrachtet  sind  sie  in  der  Tat  nur 
eine  besondere  Klasse  der  letzteren,  die  sich  von  den  übrigen  durch 
die  den  Verlauf  abschließende  plötzliche  Lösung  des  Affekts 
unterscheidet.  Diese  Lösung  wird  aber  bei  den  ursprünglichen 
Willensvorgängen  stets  durch  eine  äußere  Körperbewegung  ver- 
mittelt. 

Durch  alle  diese  Beziehungen  gewinnen  nun  die  physischen 
Begleiterscheinungen  der  Affekte,  die  Ausdrucksbewegungen,  ihre 
psychologische  Bedeutung.  Jeder  Affekt  ist  vermöge  jener  natür- 
lichen Einheit  der  psychophysischen  Organisation,  die  als  die  nicht 
weiter  empirisch  abzuleitende  Voraussetzung  der  physischen  wie 
psychischen  Lebensvorgänge  angenommen  werden  muß,  von  Be- 
wegungen begleitet,  die  seinem  Charakter  entsprechen.  Nennen 
wir  diese  begleitenden  Bewegungen  allgemein  Ausdrucksbewegungen, 
so  ist  es  daher  nur  eine  besondere,  diesen  in  gewissen  Fällen  zu- 
kommende Nebenbestimmung,  daß  sie  einen  die  endgültige  Lösung 
des  Affekts  bewirkenden  Verlauf  nehmen ;  und  zugleich  ist  dies  eine 
Eigentümlichkeit,  in  der  sich  die  Willensbewegungen  nur  durch  ihre 
besondere  Anpassung  an  den  vorhandenen  Gemütszustand  unter- 
scheiden. Denn  alle  Ausdrucksbewegungen  sind  schließlich  auf 
Wirkungen  gerichtet,  die  zur  Lösung  des  Affekts  beitragen.  So  die 
Bewegungen  des  Erfreuten,  des  Zornigen,  des  Erschreckten  usw. 
Wenn  wir  diese  Bewegungen  zwecklose  nennen,  so  geschieht  dies 
nur,  weil  sie  den  Zweck,  den  sie  sichtlich  verraten,  und  ohne  den 
wir  den  Charakter  des  einzelnen  Affekts  gar  nicht  erkennen  würden, 
nicht  in  einer  die  Lösung  desselben  verwirklichenden  Weise  er- 
reichen. Nicht  einmal  dies  läßt  sich  jedoch  behaupten,  daß  die 
Bewegungen  in  diesem  Fall  für  die  Lösung  ganz  ergebnislos  seien. 
Die  Bewegungen  des  Zornigen,  des  Erfreuten,  des  Bekümmerten, 
ja  selbst  des  Erschreckten  können  immerhin  dazu  beitragen,  daß 
sich  der  Affekt  ermäßigt.  Auch  können  diese  Bewegungen,  falls 
nur  der  Gegenstand  des  Affekts  gegenwärtig  ist,  unmittelbar  in  wirk- 
liche Willenshandlungen  übergehen.  In  solchen  Fällen  pflegen  wir 
dann    den    ganzen  Vorgang   bis    zu    einem   bestimmten   Funkt    als 


Gefühlsverlauf  der  Affekte. 


59 


Afifekt,  und  von  da  an  erst  als  Willensakt  zu  betrachten.  Aber  es 
ist  klar,  daß  diese  Scheidung  im  Grunde  willkürlich  bleibt.  Der 
Affekt  selbst  ist  eben  ein  die  Willenshandlung  vorbereitender  Prozeß ; 
und  deshalb  ist  es  schließlich  nur  ein  Unterschied  der  meist  durch 
äußere  Bedingungen  bestimmten  größeren  oder  geringeren  Vollstän- 
digkeit dieses  Prozesses,  der  die  eigentlichen  Affekte  von  den  Wil- 
lensvorgängen scheidet.  So  steht  der  Afifekt  in  der  Mitte  zwischen 
Gefühl  und  Willenshandlung,  und  die  Begrenzung  gegenüber  jenem 
elementareren  und  diesem  komplexeren  Vorgang  ist,  weil  sie  alle 
ein  einziges,  zusammenhängendes  Geschehen  bilden,  niemals  streng 
durchzuführen.  Von  dem  Gefühl  ist  der  Affekt  nicht  sicher  abzu- 
grenzen, weil  jedes  Gefühl  eigentlich  schon  Bestandteil  eines  Afifekt- 
verlaufs  ist.  Von  der  Willenshandlung  scheidet  sich  dieser  nur  durch 
die  besondere  physische  und  psychische  Endwirkung  der  begleiten- 
den Ausdrucksbewegungen.  Nehmen  wir  aber  die  physiologischen 
Symptome  zu  Maßstäben,  so  lassen  sich  die  einzelnen  Gefühle  als 
solche  Gemütserregungen  definieren,  deren  physiologische  Begleit- 
erscheinungen hauptsächlich  auf  Veränderungen  der  Herz-,  Gefäß- 
und  Atmungsinnervation  beschränkt  sind;  die  Affekte  als  solche, 
bei  denen  außerdem  noch  Innervationsänderungen  der  allgemeinen 
motorischen  Nerven  hinzutreten;  die  in  äußeren  Handlungen 
endigenden  Willensvorgänge  endlich  als  solche,  bei  denen  diese 
allgemeinen  Muskelinnervationen  zweckbewußte  Bewegungen  her- 
beiführen, welche  entweder  unmittelbar  durch  ihre  Erfolge  die  Lö- 
sung des  Affekts  erreichen  oder  mindestens  auf  diese  Lösung  ab- 
zielen. Die  ohne  einen  solchen  äußeren  Enderfolg  verlaufenden 
Willensvorgänge  aber,  die  sogenannten  »reinen  inneren  Willenshand- 
lungen«, sind  nicht  primäre  Formen,  sondern  sekundäre  Entwick- 
lunCTsorodukte. 

3.    Innervation  der  Ausdrucksbewegungen. 

Wie  jene  Innervationsänderungen  des  Herzens  uud  der  Blutgefäße, 
welche  die  einfachen  Gefühlsregungen  begleiten,  lediglich  als  Symp- 
tome der  psychologischen  Natur  dieser  Vorgänge  anzusehen  sind, 
so  ist  das  nicht  anders  bei  den  eigentlichen  Ausdrucksbewegungen, 
die  als  Teilerscheinuns^en    der  Affekte    auftreten.     Auch    hier    läßt 


(^O  Die  Aasdracksbevresrungen. 


sich  daher  strenggenommen  nur  von  einer  regelmäßigen  Beziehung 
gewisser  psychischer  Vorgänge  zu  ihrer  physischen  Äußerung,  nicht 
von  einem  im  eigentlichen  Sinne  kausalen  Verhältnis  reden.  Der 
Affekt  und  die  Ausdrucksbewegung  samt  den  ihr  vorausgehenden 
Inner\-ationen  sind  eben  in  Wahrheit  nur  Bestandteile  eines  und 
desselben  Vorgangs,  die  verschiedenen  Formen  oder,  wenn  man 
will,  Standpunkten  unserer  Erfahrung  angehören.  Sie  lassen  deshalb 
nur  Beziehungen  regelmäßiger  Koordination,  aber  kein  wirkliches 
Verhältnis  von  Grund  und  Folge  erkennen.  Immerhin  wird  man 
gemäß  dieser  Koordination  erwarten  dürfen,  daß  den  allgemeinsten 
formalen  Eigenschaften  der  Affekte  analoge,  wenn  auch  nach 
ihrem  realen  Inhalt  unvergleichbare  Eigenschaften  ihrer  physischen 
Begleiterscheinungen  entsprechen.  Namentlich  in  zwei  Beziehungen 
ist  eine  solche  formale  Analogie  nach  dem  Prinzip  des  psycho- 
physischen  Parallelismus  vorauszusetzen.  Erstens  weist  der  einheit- 
liche Charakter  der  Affekte  selbst  und  ihrer  äußeren  Erscheinungs- 
formen darauf  hin,  daß  die  physischen  Symptome  des  gesamten 
Gefühlslebens  von  einem  einheitlichen  Zentrum  aus  reguliert  werden, 
welches  den  zum  Teil  weit  auseinander  liegenden  direkten  Inner- 
vationsherden  übergeordnet  ist.  Zweitens  legt  der  Umstand,  daß 
sich  die  Inner\-ationsprozesse  der  Gefühls-  und  Affektsymptome, 
ebenso  wie  die  Gefühle  und  Affekte  selbst,  zwischen  Gegensätzen 
bewegen,  die  Annahme  nahe,  daß  sich  in  diesem  Fall  ein  psycho- 
physischer  Parallelismus  irgendwelcher  Art  auch  auf  diese  Gegen- 
sätze erstrecken  werde. 

Die  erste  dieser  Folgerungen  führt  auf  ein  physiologisches 
sZentralorgan  der  Gefühle«.  Natürlich  kann  jedoch  in  diesem  Zu- 
sammenhang von  einem  »Organ«  nur  in  demselben  Sinne  geredet 
werden,  wie  dies  bei  dem  Gehirn  überhaupt  den  psychischen  Funk- 
tionen gegenüber  möglich  ist:  nicht  in  dem  gleichen  Sinne  nämlich, 
in  dem  wir  irgendeinen  Körperteil  als  Organ  bestimmter  physi- 
scher Funktionen  betrachten,  den  ]\Iuskel  z.  B.  als  Organ  der 
mechanischen  -Arbeitsleistung,  sondern  in  der  jener  oben  berührten 
Koordination  entsprechenden  Bedeutung,  wonach  ein  bestimmter 
Gehimteil  nur  Organ  der  physischen  Teilvorgänge  ist,  die  in  einen 
psych ophysischen  Vorgang  eingehen.  Demnach  schließt  die  Be- 
zeichnung 5 Organ«,  auf  die  psychischen  Prozesse  selbst  angewandt, 


Innervation  der  Ausdrucksbewegungen.  ß  I 

eine  Ergänzung  des  wirklichen  Kausalgliedes  durch  ein  anderes  ein, 
welches   der  an   sich    abweichenden   psychologischen  Betrachtungs- 
weise  angehört.     Wenn  wir   uns  zu   dieser  Substitution   gerade  bei 
der  Physiologie  des  Gehirns  beinahe  regelmäßig  genötigt  sehen,  so 
erklärt  sich  dies   hinreichend  daraus,    daß    die   psysiologische  Seite 
der   Erscheinungen  hier   vorläufig   noch  so   gut  wie  unbekannt    ist, 
während  wir  die    psychologische    aus    der    unmittelbaren  Erfahrung 
kennen.    Freilich  ersieht  man  hieraus  zugleich,  auf  einem  wie  gänz- 
lich verkehrten  Wege  sich  jene  immer  wieder  auftauchenden  Versuche 
befinden,    die  aus  den  physiologischen  oder  gar   den  anatomischen 
Verhältnissen  des  Gehirns  eine  Theorie  der  psychischen  Funktionen 
gewinnen  möchten.      Gerade   der  umgekehrte  Weg    ist    der    einzig 
mögliche:  nur  die  Analyse  der  psychischen  Funktionen  selbst  kann 
hier  der  physiologischen  Untersuchung  als  Führerin   durch  das  all- 
mählich  zu    lichtende  Dunkel    der  Nervenprozesse    und    durch    das 
Labyrinth   der  Leitungswege   zwischen    den    verschiedenen  Zentren 
dienen.    In  vielen  Fällen  sind  wir  aber  leider  noch  ganz  darauf  an- 
gewiesen,  überhaupt  nur  auf  Grund  der  psychischen  und  psycho- 
physischen  Funktionsbeziehungen  Zentren  und  Leitungswege  zu  po- 
stulieren, für  die  uns  das  anatomisch-physiologische  Bild  des  Gehirns 
vorläufig  keine   oder  nur  zweifelhafte  Anhaltspunkte  bietet.     Wenn 
man  nun  die  engen  Beziehungen  ins  Auge  faßt,    die  zwischen  den 
verschiedensten   Gefühlen   und  Affekten  bestehen,    und  die   in    der 
oben   erörterten  Einordnung  in  eine  und    dieselbe  Mannigfaltigkeit 
allgemeiner  Gefühlsrichtungen  ausgedrückt  sind  (S.  55),  so  kann  man 
sagen:    hier  machen  die  psychologischen  Tatsachen  ebensosehr   ein 
einheitliches  physiologisches  Substrat  wahrscheinlich,  wie  sich  um- 
gekehrt bei  den  Sinnesempfindungen,   schon  bevor  man  die  abwei- 
chenden Leitungswege  der  Sinnesnerven  kannte,  gesonderte  Sinnes- 
zentren der  Vermutung   aufdrängten.      Aber   wo    liegt   ein    solches 
»Gefühlszentrum«?     Und  wie  führen  die  Wege,   die  von   ihm  aus 
den  Zusammenhang  der  Gefühle  und  Affekte  mit  den  vasomotorischen 
Innervationen    und    den   Ausdrucksbewegungen   vermitteln?      Beide 
Fragen  sind  nicht  mit  Sicherheit  zu  beantworten.     Wir  wissen   nur, 
daß  es  solche  Wege  geben  muß;  und  wir  entnehmen  hauptsächlich 
daraus,  daß  es  bei  den  verschiedensten  Gemütsbewegungen  die  näm- 
lichen Leitungswege  sind,  die  in  Anspruch  genommen  werden,   die 


52  Die  Ausdracksbewegungen. 


Vermutung,  das  »Gefühlszentrum«  selbst  sei  ein  einheitliches  Organ. 
Fragen  wir  aber  nach  den   Beziehungen  dieses   Organs   zu   andern 
Zentralteilen,   so  sind  es  wiederum  nur  psychologische  Zusammen- 
hänge, aus  denen  auf  die  physiologischen  zurückzuschließen  ist.    Das 
Gefühl  ist,    im  Unterschiede  von   den   als   Objekte  gedachten  Vor- 
stellungen, ein  einheitlicher  Zustand,  in  welchem  das  Verhalten  des 
Subjektes  zu  diesen  Objekten  seinen  Ausdruck  findet.     Diese  un- 
mittelbare   Beziehung    zum  Subjekt    legt    die   Annahme    nahe,    das 
»Gefühlszentrum«  sei  mit  dem  allgemeinen  Substrat  der  Verbindung 
aller  Bewußtseinsvorgänge  oder,  wie  wir  dies  für  die  letzte  Zentrali- 
sierung   der    psychophysischen    Prozesse    zu    postulierende    Gebiet 
nennen,  mit  dem  »Apperzeptionszentrum«  identisch.    Nun  liegen  die 
nächsten  Innervationsherde  des  Herzens,  der  Blutgefäße,  der  Atmung, 
der  mimischen  und  der  pantomimischen  Bewegungen  unweit  vonein- 
ander im  verlängerten  Mark,  und  sie  sind  durch  mannigfache  sekun- 
däre Leitungsbahnen  zu  koordinierten  Wirkungen  verbunden.     Als 
ein  Zentrum,  das  den  verschiedenen  Sinnes-  und  Bewegungszentren 
übergeordnet  ist,    da  es  mehr  als  irgendein  anderer  Teil    der  Hirn- 
rinde von    den  verschiedensten   dieser   direkten  Zentren   her  Fasern 
aufnimmt,  ist  aber  vermutlich  der  Teil  der  Hirnrinde  anzusehen,  der 
bei  dem  Menschen  der  Stirnregion  entspricht.   Läßt  man  diese  An- 
nahme zu,  so  würde  dann  eine,  sei  es  direkte,  sei  es  irgendwie  durch 
Zwischenzentren  unterbrochene  Bahn  zwischen  diesem  Apperzeptions- 
zentrum und  den  unmittelbaren  Zentren  bestimmter  Bewegungsorgane 
die  hypothetische  Grundlage  der  physiologischen  Gefühls-  und  Affekt- 
äußerungen sein.     Diese  Voraussetzungen  müssen  aber  noch   durch 
weitere  physiologische  Annahmen  ergänzt  wenden,  sobald  man  auch 
dem  speziellen  Parallelismus  zwischen   dem  Gegensatz   der  Gefühls- 
richtungen und  den   gegensätzlichen  Erscheinungsformen  der  Inner- 
vation gerecht  werden  will.    Freilich  wird  man  hier  bei  den  physischen 
Symptomen  von  vornherein   nicht  dieselbe   qualitative  Mannigfaltig- 
keit erwarten,  wie  sie  uns  in  den  psychischen  Inhalten  der  Affekte 
entgegentritt.   Der  Begriff  eines  gleichartigen,  bloß  in  den  Bewegungs- 
formen seiner  Elemente  unterschiedenen  Substrates,  den  wir  für  die 
physische  Seite    der  Lebenserscheinungen  festhalten  müssen,    führt 
vielmehr   auch   hier  die   Forderung   mit  sich,    daß   den  qualitativen 
psychischen  Eigenschaften  quantitative  physische  Relationen 


Innervation  der  Ausdrucksbewegnngen. 


entsprechen  werden;    ähnlich   wie  dies  bei  den  Sinnesempfindungen 
nachzuweisen  ist,  sobald  wir,  das  physiologische  Zwischenglied  über- 
springend, die  psychophysische  Beziehung  als  eine  solche  zwischen 
einem  physikalischen  und  einem   psychologischen  Vorgang 
auffassen.      Denn  hier   gilt   auf  Grund   der   physikalischen  Analyse 
im    allgemeinen   der   Satz,    daß    den  Unterschieden   der    Form  und 
Geschwindigkeit    objektiver    Schwingungsvorgänge,    wenn    sie    einen 
bestimmten ,    von    der    besonderen    Organisation    der    Sinneswerk- 
zeuge   abhängigen    Grad    erreichen,    Modifikationen   qualitativer 
Art  innerhalb  der  reinen  Empfindungen  zugeordnet  sind.     Wenden 
wir   diese   den   bekannteren  Verhältnissen   der   Sinneserregung    ent- 
nommenen  Gesichtspunkte   auf  die    Gefühlsvorgänge    an,    so    kann 
demnach  nicht  erwartet  werden,    daß   man  die  Grundqualitäten   der 
Gefühle  in  den  begleitenden  physiologischen  Vorgängen  unmittelbar 
wiederfinde;    sondern  es  kann  sich  nur   um   eine  Korrespondenz   in 
jenem  weiteren  Sinne  handeln,  in  dem  einem  einfachen  qualitativen 
Gefühlsunterschied  sehr  komplexe,  aber  nicht  minder  charakteristische 
Unterschiede  der  Innervation  entsprechen  mögen.    Einen  deutlichen 
Maßstab  für  dieses  Verhältnis  geben  uns  hier   gerade  die   äußerlich 
sichtbaren  Wirkungen  der  an  die  Gefühle  und  Affekte   gebundenen 
Innervationen.      Lust,    Unlust  usw.   sind,  als  Gefühle  betrachtet,  für 
uns  unanalysierbare  Qualitäten.     Aber  ihre  an  den  mimischen  Mus- 
keln des   Mundes  hervortretenden   Ausdrucksformen  sind  im   allge- 
meinen   von    höchst    zusammengesetzter    Beschaffenheit.      Dennoch 
treten  sie  insofern  in  ein  den  Gefühlen  analoges  Verhältnis,  als  ein- 
zelne Bewegungen  bei  Lust   und   Unlust,   bei  Erregung  und  Hem- 
mung, bei  Spannung  und  Lösung  entgegengesetzte  Richtungen  zeigen. 
So  wird  der  Mundwinkel  bei  Lustgefühlen  aufwärts,   bei  der  Unlust 
abwärts   gezogen.      So   sind  bei   der  Erregung  die   mimischen   und 
pantomimischen  Bewegungen  lebhafter,   bei   deprimierter  Stimmung 
sind   die   mimischen  Muskeln   erschlafft.     Die  Spannung  als   Gefühl 
ist   auch  physisch   mit  verstärkten  Spannungen   der  Antlitzmuskeln, 
die  Lösung  mit  einem  plötzlichen  Nachlaß    dieser  Spannungen  ver- 
bunden usw.     Dabei  lassen  sich  die  Erscheinungen  keineswegs  dem 
einfachen  Schema  eines  überall  gleichförmig  wiederkehrenden  Gegen- 
satzes räumlicher  Richtungen,  Geschwindigkeiten  und  Energien  unter- 
ordnen,   sondern    infolge    der    verwickelten    Zusammensetzung    der 


5j.  Die  Ausdrucksbe^vegunge^. 


psychophysischen  Zustände  können  Bewegung  und  Ruhe,  Spannung 
und  Erschlaffung  sowie  verschiedene  Richtungen  der  Bewegung  bei 
einer  und  derselben  Ausdrucksform  nebeneinander  und  über  ver- 
schiedene Muskelgruppen  verteilt  vorkommen.  Allgemein  gilt  daher 
nur,  daß  die  Ausdrucksbewegungen  hinreichend  verschieden  sind,  um 
in  unserer  Gesamtauffassung  als  gegensätzliche  Symptome  zu  gelten 
und  sich  so  mit  Gegensätzen  der  Gefühle  selbst  fest  zu  assoziieren. 
Diesem  Verhältnis  der  äußeren  Bewegungen  muß  aber  notwendig 
das  der  zentralen  Innervationen  entsprechen. 

Innerhalb  dieser  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen  gibt  es  einen 
Punkt,  bei  dem  sich  jene  allgemeine  Korrespondenz  begleitender 
Unterschiede  zu  einer  bestimmteren  Analogie  verdichtet,  einen  Unter- 
schied der  Innervationen  nämlich ,  der  zugleich  die  Bedeutung  eines 
vollkommenen  Gegensatzes  hat.  Dies  ist  der  physiologische  Gegen- 
satz der  Erregung  und  Hemmung.  Er  ist  wahrscheinlich  in  ge- 
wissen allgemeinen  funktionellen  Eigenschaften  der  nervösen  Substanz 
vorgebildet.  In  den  für  die  zusammengesetzten  Innervationswirkungen 
maßgebenden  Formen  scheint  er  jedoch  überall  erst  infolge  der  Da- 
zwischenkunft  zentraler  Elemente  zustande  zu  kommen,  wo  er  vielleicht 
mit  der  verschiedenen  Verbindungsweise  leitender  Fasern  und  zen- 
traler Gebilde  zusammenhängt^).  Die  übersichtlichsten  Verhältnisse 
bietet  in  dieser  Beziehung  die  Herzinnervation.  Denn  es  sind  im 
Herzen  selbst  liegende  zentrale  Elemente,  die,  je  nach  der  Art,  wie 
ihnen  von  den  höheren  Zentralorganen  aus  die  Reize  zufließen,  ent- 
weder erregend  oder  hemmend  auf  die  Herzbewegungen  wirken^). 
Da,  soviel  wir  wissen,  der  Reizungsvorgang  in  den  leitenden  Nerven 
selbst  überall  ein  gleichartiger  ist,  so  kann  die  erregende  oder  hem- 


')  Vgl.  die  Erörterung  der  hier  möglichen  Vorstellungsweisen  in  meinen  Unter- 
suchungen zur  Mechanik  der  Nerven  und  Nervenzentren,  IL,  1876,  S.  113  f.,  und 
Grundzüge  der  physiol.  Psychologie  5,  I,  S.  83  S.,  dazu  das  von  O.  Dittrich  entwor- 
fene allgemeine  Schema,  Grundzüge  der  Sprachpsychologie,  I,  1903,  S.  444  Anm., 
und  Atlas  Fig.  77. 

2)  Ob  als  solche  Elemente  ausschließlich  die  zwischen  den  Muskelfasern  des 
Herzens  gelagerten  Ganglienzellen  anzusehen  sind,  oder  ob,  wie  manche  Beobach- 
tungen wahrscheinlich  machen,  auch  die  Muskelfasern  selbst  der  Übertragung  der 
Bewegungsreize  dienen,  mag  hier  dahingestellt  bleiben.  Das  allgemeine  Verhältnis 
der  beiden  Innervationsvorgänge  wird  davon  nicht  berührt.  Vgl.  Th.  W.  Engelmann, 
Über  die  Leitung  der  Bewegungsreize  im  Herzen,  Pflügers  Archiv  für  Physiologie, 
1894,  Bd.  56,  S.  149  fr. 


Innervation  der  Ausdrucksbewegungen.  55 

mende  Wirkung  in  diesem  Fall  nur  in  der  Art  begründet  sein,  wie 
die  Reizung  auf  jene  Elemente  einwirkt,  die  sich  im  Herzen  selber 
befinden.  Hierbei  sondert  sich  aber  diese  doppelte  Art  der  Inner- 
vation deshalb  deutlich  für  unsere  Beobachtung,  weil  die  Nerven- 
bahnen, die  erregende  und  hemmende  Wirkungen  auf  das  Herz  über- 
tragen, zumeist  in  getrennten  Nervenstämmen  verlaufen :  die  erregen- 
den in  den  mit  dem  Sympathikus  zum  Herzen  tretenden  Fasern,  die 
jenem  in  den  Rückenmarksnerven  des  sympathischen  Geflechtes  zu- 
fließen; die  hemmenden  in  den  dem  zehnten  Hirnnerven  (Nervus 
vagus)  angehörenden  Herznerven.  Zugleich  ist  bemerkenswert,  daß 
sich  die  Hemmungsnerven  in  einem  Zustand  dauernder,  sogenannter 
»tonischer«  Reizung  befinden,  wie  wir  aus  der  infolge  der  Durch- 
schneidung beider  Vagusnerven  bei  Tieren  eintretenden  Beschleu- 
nigung des  Herzschlags  schließen  müssen.  An  den  Erregungsnerven 
des  Sympathikus  läßt  sich  dagegen  auf  ähnlichem  Wege  keinerlei 
tonische  Reizung  nachweisen.  Daß  nun  die  Zentren  oder  Nerven- 
kerne dieser  beschleunigenden  und  hemmenden  Herznerven  ihrer- 
seits wieder  mit  noch  höher  gelegenen  Zentralteilen  in  Verbindung 
stehen,  ist  schon  im  Hinblick  auf  die  bald  beschleunigenden,  bald 
hemmenden  Wirkungen,  welche  die  Gefühle  und  Affekte  auf  den 
Herzschlag  ausüben,  jedenfalls  im  höchsten  Grade  wahrscheinlich. 
Im  Sinne  der  oben  über  die  Zentren  der  Gefühlsinnervation  ge- 
machten Voraussetzungen  wird  hier  vor  allem  wieder  an  das  »Apper- 
zeptionszentrum« zu  denken  sein.  Abgesehen  von  dieser  einheit- 
lichen Verbindung  zusammengehöriger  Innervationswirkungen  zeigt 
es  sich  aber  auch  hier,  daß  schon  bei  einfachen  psychischen  Vor- 
gängen die  korrespondierenden  physischen  Erscheinungen  von  sehr 
verwickelter  Natur  sind.  Gibt  es  doch  schlechterdings  keine  ein- 
fache Affektform,  der  nicht  eine  höchst  zusammengesetzte,  even- 
tuell aus  verschiedenen  Erregungen  und  Hemmungen  bestehende 
Innervationswirkung  entspräche.  Außerdem  zwingen  uns  die  physi- 
schen Symptome  anzunehmen,  daß  Innervationen  verschiedener 
Zentralgebiete  interferieren  und  infolgedessen,  je  nach  den  Be- 
dingungen der  Leitung,  bald  gleichzeitige  Vorgänge  sich  verstärken, 
bald  aber  auch  Erregungs-  in  Hemmungs-  und  Hemmungs-  in  Er- 
regungswirkungen übergehen  können.  So  läßt  der  Herzstillstand 
des  Schrecks  auf  eine  in  dem  Vaguszentrum  ausgelöste  Erregungs- 

Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  C 


66  I-*i^  AusdrucksbeweguBgen. 


innervation  schließen,  die  dann  in  den  Zentren  des  Herzens  selbst 
in  eine  Hemmungsinnervation  übergeht.  Die  Wirkung,  die  wir  bei 
einfachen  Lustgefühlen  beobachten,  Verlangsamung  und  gleichzeitige 
Verstärkung  der  Herzschläge,  läßt  sich  ferner  durch  eine  mäßige 
Vagusreizung  hervorbringen;  umgekehrt  können  wir  die  als  Unlust- 
symptom eintretende  Beschleunigung  und  Verminderung  der  Pulse 
durch  eine  Herabsetzung  der  normalen  Dauererregung  des  nämlichen 
Nerven  erzielen  usw.  Bedenkt  man  nun,  daß  bei  den  Gefühls-  und 
Affektwirkungen  die  entsprechenden  Einflüsse  mutmaßlich  direkt 
dem  Vaguszentrum  im  verlängerten  Mark  zugeleitet  werden,  so 
führt  dies  zu  der  Annahme,  daß,  ähnlich  wie  im  Herzen  selbst 
hemmende  und  erregende  Verbindungen  mit  den  Muskelfasern  des- 
selben vorhanden  sind,  so  der  Vaguskern  ebenfalls  von  den  ihm 
aus  den  höheren  Hirnteilen  zugeleiteten  Fasern  erregende  und 
hemmende  Reizwirkungen  empfangen  kann'). 

Wie  das  Herz  vom  Vagus  aus  unter  einer  dauernden  zentralen 
Innervation  steht,  so  sind  nun  im  allgemeinen  auch  die  äußeren  Mus- 
keln unseres  Körpers  dauernd  in  einem  geringen,  nach  den  beson- 
deren Bedingungen  der  Raumlage  der  Körperteile  variierenden  Grad 
innerviert.  Im  Unterschiede  von  den  Verhältnissen  der  Herzerregung 
führt  aber  hier  die  Dauerinnervation  nicht  zu  einer  Beeinflussung 
rhythmischer  Bewegungsvorgänge,  sondern  sie  äußert  sich  als  ein 
stetig  andauernder  Einfluß  auf  die  Muskeln:  diese  befinden  sich  in 
einer  geringgradigen  dauernden  Spannung,  einer  tonischen  Er- 
regung.     Hierbei   ist  die   letztere  in   ihrer   Größe,    abgesehen    von 


^)  Die  nach  dem  Zusammenhang  der  physischen  Symptome  mit  psychischen 
Zuständen  zu  postulierenden  Verbindungen  mit  höheren  Zentren  müssen  übrigens, 
wie  hier  nebenbei  bemerkt  sei,  noch  durch  ein  weiteres  System  von  Leitungsbahnen 
ergänzt  werden,  das,  nach  seinen  Wirkungen  jenem  analog,  in  psychophysischer 
Beziehung  insofern  eine  wesentlich  andere  Bedeutung  hat,  als  es  mit  den  Gefühls- 
und Apperzeptionszentren  nicht  in  Beziehung  steht.  Zu  der  Annahme  eines  solchen 
Systems  zentraler  Verbindungen  von  rein  physiologischer  Bedeutung,  also,  nach  dem 
oben  (S.  38)  aufgestellten  Begriffe  des  Reflexes,  von  bloßen  Reflexbahnen,  nötigt 
nämlich  die  Tatsache,  daß  irgendwelche  Reize  auf  zentripetal  verlaufende  Nerven 
von  im  allgemeinen  sensorischer  Funktion  auch  dann  bald  erregende,  bald  hem- 
mende Wirkungen  auf  die  Herzbewegungen  ausüben  können,  wenn  jene  Reize  gar 
nicht  als  Empfindungen  und  Gefühle  zum  Bewußtsein  kommen.  Wahrscheinlich 
sind  es  die  Nervenkerne  des  verlängerten  Markes,  in  denen  diese  Reflexbahn  sich 
schließt. 


Innervation  der  Ausdrucksbewegungen.  5y 

sonstigen  zentralen  Bedingungen,  von  den  stattfindenden  dauernden 
Sinneserregungen  abhängig,  wie  sich  daraus  ergibt,  daß  der  Tonus 
der  Muskeln  einer  Körperprovinz  nachläßt,  wenn  man  die  von 
dem  zugehörigen  Hautgebiet  kommenden  sensibeln  Nerven  durch- 
schneidet. Außerdem  scheint  es,  daß  die  relative  Stärke  der 
tonischen  Erregungen  verschiedener  Körperteile  nach  der  Raum- 
lage der  Organe  reflektorisch  reguliert  wird.  Ihre  Verteilung  über 
die  Flexoren  und  Extensoren  der  Glieder  z.  B.  hängt  wesentlich 
davon  ab,  ob  wir  sitzen,  stehen  oder  liegen,  und  welche  besondere 
Lage  wir  in  jedem  dieser  Fälle  annehmen.  Besteht  in  dieser  ge- 
nauen Regulierung  der  relativen  tonischen  Erregungen  nach  den 
Sinneseindrücken,  die  offenbar  sehr  vollkommene  zentrale  An- 
passungsvorrichtungen verlangt,  schon  eine  erhebliche  Verwicklung 
dieser  äußeren  Muskelwirkungen,  so  liegt  noch  eine  weitere  in  der 
Verteilung  der  Innervationen  über  eine  große  Anzahl  von  Muskeln. 
Hier  sind  wieder  vorzugsweise  die  antagonistisch  wirkenden  durch 
besondere  zentrale  Verknüpfungen  einander  angepaßt,  derart  daß 
der  Zunahme  des  Tonus  einer  gegebenen  Muskelgruppe  regelmäßig 
eine  Abnahme  bei  ihren  Antagonisten  zu  entsprechen  pflegt^). 
Diese  Verhältnisse  führen  zu  dem  Schluß,  daß  jener  doppelten  Re- 
gulierung des  Tonus  auch  hier  eine  doppelte  Innervation  entspricht, 
die  den  beiden  Bestandteilen  der  Herzinnervation  gleicht,  indem  die 
eine  eine  Zunahme,  die  andere  eine  Abnahme  des  Tonus  herbei- 
führt, daher  jene  wieder  als  die  erregende,  diese  als  die  hemmende 
bezeichnet  werden  kann.  Der  Unterschied  vom  System  des  Her- 
zens liegt  nur  darin,  daß  in  den  Muskeln  selbst  keinerlei  Umwand- 
lung der  zugeführten  Nervenerregungen  in  Erregungs-  oder  in 
Hemmungswirkungen  möglich  ist,  sondern  daß  diese  schon  im 
Zentralorgan  stattfindet.  In  den  peripheren  Nervenleitungen  sind 
daher  überhaupt  nur  solche  Fasern  anzutreffen,  deren  Reizung 
Muskelerregung  bewirkt.  Dagegen  scheinen  in  den  Nervenzentren 
getrennte  Leitungen  zu  verlaufen,  die  in  den  im  Gehirn  und 
Rückenmark  gelegenen  Muskelzentren  je  nach  besonderen  Be- 
dingungen bald  Steigerung,  bald  Herabsetzung  des  Tonus  auslösen. 


I)  H,  E.  Hering  und  C.  S.  Sherrington,  Cber  Hemmungen  der  Kontraktion  will- 
kürlicher Muskeln  bei  elektrischer  Reizung  der  Großhinrinde,  Pflügers  Archiv  für 
Physiologie,  Bd.  68,    1897,  S.  222  ff. 


58  Die  Ausdrucksbewegungen. 


Wie  die  Nervenkerne  des  Vagus  und  Akzelerans,  so  müssen  aber 
auch  diese  Tonuszentren  schon  in  Anbetracht  der  Gefühls-  und 
Affektsymptome  noch  mit  höheren  Zentralgebieten,  vor  allem  mit 
dem  »Apperzeptionszentrum«,  in  Verbindung  stehen,  von  wo  ihnen 
bald  erregende  bald  hemmende  Wirkungen  zufließen.  Betrachten 
wir  einen  gewissen  mittleren  Tonusgrad  als  neutralen  Ausgangs- 
punkt, der  zugleich  der  Indifferenzlage  der  Gefühle  entspricht,  so 
kann  daher  von  diesem  Punkt  aus  in  vierfacher  Weise  eine 
Innervationsänderung  eintreten:  erstens  als  dauernde  Erhöhung  des 
Tonus,  zweitens  als  Abnahme  desselben,  drittens  als  vorübergehen- 
der Kontraktionsvorgang,  viertens  als  plötzliche  Hemmung  tonischer 
Erregungen.  Bedenkt  man,  daß  diese  vier  Innervationen  in  der 
verschiedensten  Weise  kombiniert  und  über  eine  große  Zahl  von 
Muskelgruppen  verbreitet  neben-  und  nacheinander  vorkommen,  so 
gibt  dies  eine  schwache  Vorstellung  von  der  unabsehbaren  Kom- 
plikation der  zentralen  Vorgänge,  die  einer  einzelnen  Ausdrucks- 
bewegung zugrunde  liegen.  Auch  wird  diese  Komplikation  nur 
wenig  dadurch  vereinfacht,  daß  die  genannten  vier  allgemeinen 
Erregungsformen  wieder  auf  zwei  zu  reduzieren  sind:  auf  Er- 
regung und  Hemmung,  die  nur  je  nach  Umständen  dauernd, 
tonisch  oder  in  der  Form  eines  plötzlichen,  rasch  vorübergehen- 
den Impulses,  als  Kontraktion  oder  Lähmung,  zur  Erscheinung 
kommen. 

Am  größten  ist  diese  Komplikation  sichtlich  bei  den  mimischen 
Ausdrucksbewegungen.  Sie  ergibt  sich  hier  schon  aus  Beobachtungen, 
die  man  bei  der  peripheren  elektrischen  Reizung  einzelner  Bündel  der 
beim  Mienenspiel  wirksamen  Muskeln  machen  kann.  Solche  Ver- 
suche wurden  zuerst  von  Duchenne  de  Boulogne  ausgeführt').  Er 
variierte  und  kombinierte  die  Angriffspunkte  der  Reize  so  lange,  bis 
es  ihm  geglückt  war,  diejenige  Ausdrucksform  zu  erzeugen,  die 
einer  bestimmten  seelischen  Stimmung,  wie  der  Freude,  dem  Miß- 
behagen, dem  Kummer,  der  Sorge  usw.,  entsprach.  Die  so  ge- 
wonnenen Ergebnisse  zeigen  deutlich,  daß  es  kaum  eine  Aus- 
drucksform gibt,  an  der  irgendein  einzelner  Antlitzmuskel  mit 
allen  seinen    Fasern    gleichmäßig  beteiligt  wäre;    daß    es    dagegen 


I)  Duchenne  de  Boulogne,  Mecanisme  de  la  Physiognomie  humaine,   1862. 


Innervation  der  Ausdracksbewegungen.  6g 

in  vielen  Fällen  nur  ein  eng  begrenzter  Faserzug  innerhalb  eines 
größeren  Muskelganzen  ist,  der  durch  seine  Zusammenziehung  einem 
bestimmten  Gesichtsausdruck  sein  charakteristisches  Gepräge  ver- 
leiht. Gleichwohl  ist  es  der  eine  Nervenstamm  des  Fazialis,  von 
dem  aus  die  sämtlichen  Antlitzmuskeln  innerviert  werden.  Die 
von  den  direkten  Nervenkernen  des  Fazialis  sowie  von  den  höheren 
Zentren  ausgehenden  Innervationen  können  also  in  der  feinsten 
Nuancierung  auf  einzelne  Fasern  des  Nerven  beschränkt  sein;  sie 
können  aber  nicht  minder  auch  räumlich  getrennte  Fasern  zu  ge- 
meinsamer Aktion  verbinden.  Insbesondere  müssen  für  die  Nerven 
beider  Seiten  solche  Einrichtungen  gemeinsamer  Aktion  existieren, 
die  gleichwohl  in  bestimmten  Fällen  außer  Wirksamkeit  treten 
können,  um  eigenartige  mimische  Ausdrucksformen,  wie  z.  B.  die 
der  Verachtung,  des  Argwohns  und  ähnlicher  Gemütsstimmungen 
von  zwiespältigem  Charakter,  hervorzubringen.  Dächte  man  sich, 
diese  ganze  Fülle  teils  tonischer,  teils  vorübergehender  Erregungen 
samt  den  namentlich  bei  gewissen  Affekten  noch  hinzutretenden 
Hemmungserscheinungen  sollte  willkürlich  in  dieser  Weise  verteilt 
und  abgestuft  werden,  so  würde  schon  der  einfachste  Affektaus- 
dnick  ein  Zusammenspiel  zahlreicher,  alle  wieder  einem  herrschen- 
den Willen  gehorchender  Einzelkräfte  fordern,  dem  höchstens  die 
Ausführung  eines  symphonischen  Kunstwerkes  von  verwickeltstem 
kontrapunktischen  Aufbau  durch  ein  wohlgeschultes  Orchester  ver- 
glichen werden  könnte.  Nur  werden  jene  natürlichen  Ausdrucks- 
formen der  Gefühle  meistens  überhaupt  nicht  willkürlich  hervor- 
gebracht, oder,  wo  dies  der  Fall  sein  sollte,  da  sind  sie  bloß  in 
gewissen  Endwirkungen,  niemals  in  den  einzelnen  Bestandteilen  und 
Hilfsmitteln  dieser  Wirkungen  gewollt.  Bei  den  sonstigen  Aus- 
drucksformen, so  namentlich  bei  dem  Gebärdenspiel  der  Arme  und 
Hände,  ist  zwar,  der  verhältnismäßig  roheren  Muskelanordnung 
gemäß,  die  isolierte  Beweglichkeit  einzelner  Faserbündel  nicht  zu 
gleich  hoher  Vollendung  ausgebildet;  die  Kombination  der  Be- 
wegungen bleibt  aber  auch  hier  von  gleichem  unübersehbaren 
Reichtum,  und  die  größere  Unabhängigkeit  der  symmetrischen 
Organe  beider  Körperhälften  voneinander  erhöht  in  diesem  Falle 
noch  die  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen.  Zu  welch  unend- 
licher Verwicklung  gestaltet    sich   vollends   dieses   Spiel  der   Inner- 


70 


Die  Ausdrucksbewegunafen. 


vationen,  wenn  man  der  Verbindungen  gedenkt,  in  die  mimische 
und  pantomimische  Bewegungen  untereinander  treten  können!  Be- 
sonders, wenn  man  erwägt,  daß  beinahe  jede  Ausdrucksform  nach 
ihren  psychophysischen  Bedingungen  wieder  eine  dreifache  Bedeu- 
tung haben  kann:  die  des  automatischen,  ohne  jede  Beteiligung 
des  Bewußtseins  auftretenden  Reflexes,  die  der  einfachen  Triebbe- 
wegung, endlich  die  der  willkürlichen  Handlung  —  Formen,  die  sich 
dann  noch  mannigfach  miteinander  verbinden,  weil  Willenshand- 
lungen stets  zugleich  von  eingeübten  automatischen  Mitbewegungen 
begleitet  werden.  Immerhin  zeigt  diese  verschiedene  psychophy- 
sische  Bedeutung,  die  eine  und  dieselbe  Ausdrucksform  haben  kann, 
daß  mannigfaltiger  noch  als  das  Spiel  der  äußeren  Erscheinungen 
die  innere  Mechanik  der  Innervationen  selbst  ist.  Kann  doch  jede 
einzelne  Bewegung  aus  verschiedenen  Formen  des  Zusammen- 
wirkens hervorgehen,  indem  bald  nur  die  nächsten  Nervenzentren, 
bald  komplizierte  Reflexzentren,  bald  endlich  die  höheren  Zentral- 
eebiete  daran  beteilicrt  sind. 


4.    Sensorische  Rückwirkungen  der  Ausdrucksbewegungen. 

Die ,  sobald  wir  an  eine  elementare  Analyse  der  Funktionen 
denken,  sofort  unabsehbar  werdende  Verwicklung  der  Innervationen 
erfährt  noch  eine  letzte  Steigerung  durch  eine  meist  vernach- 
lässigte, aber  nichtsdestoweniger  auch  für  die  psychologische 
Seite  der  Erscheinungen  überaus  wichtige  Wechselbeziehung  sen- 
sorischer und  motorischer  Vorgänge.  Sie  hat  darin  ihre  Grund- 
lage ,  daß  der  gesamte  Bewegungsapparat  des  Körpers  zugleich 
dem  allgemeinen  Tastsinne  zugehört,  indem  die  bewegten  Or- 
gane der  Sitz  jener  »inneren  Tastempfindungen«  sind,  die,  in  ihrer 
Qualität  den  äußeren  Druckempfindungen  verwandt,  durch  ihre 
relativ  exakten  Intensitätsänderungen,  sowie  durch  ihre  mannigfach 
nuancierte  Verteilung  über  verschiedene  Muskelgruppen  ein  System 
wechselvoller  und  fein  abgestufter  Empfindungen  abgeben.  Dieses 
entspricht  nun  natürlich  auf  das  genaueste  dem  System  der  Aus- 
drucksbewegungen, so  daß  jeder  noch  so  leisen  Veränderung  der 
letzteren  eine  entsprechende  Veränderung  jener  Spannungs-  und  Tast- 
empfindungen parallel   geht.      Wie  daher   eine  Ausdrucksbewegung 


Sensorische  Rückwirkungen  der  Ausdrucksbewegimgen. 


primär  einem  bestimmten  psychischen  Affekte  zugeordnet  ist,  so 
sind  wiederum  sekundär  die  Spannungs-  und  Tastempfindungen 
fest  mit  bestimmten  Ausdrucksbewegungen  assoziiert.  Nach  dem 
allgemeinen  Prinzip  der  Assoziation  gleichzeitig  geübter  Funktionen 
verbinden  sich  aber  mit  den  inneren  Tastempfindungen  zugleich 
die  primären  psychischen  Zustände,  deren  physische  Symptome 
ursprünglich  die  Ausdrucksbewegungen  waren.  So  ist  z.  B.  der 
Eindruck  eines  unangenehmen  bitteren  Geschmacksstofifes ,  sowie 
jeder  in  seiner  allgemeinen  Gefühlsqualität  mit  einem  solchen 
Geschmackseindruck  übereinstimmende  Unlustaffekt  durch  einen 
bestimmten  Komplex  mimischer  Bewegimgen  gekennzeichnet.  Wenn 
wir  nun  die  nämliche  Bewegung  des  »bitteren«  mimischen  Aus- 
drucks ohne  den  begleitenden  Gefühlszustand,  etwa  willkürlich  oder 
durch  elektrische  Reizung  der  entsprechenden  mimischen  Muskeln, 
hervorbringen,  so  entsteht  die  nämliche  zusammengesetzte  Span- 
nungsempfindung, die  bei  der  Affekterregung  des  gleichen  Aus- 
drucks beobachtet  wird.  Aber  nicht  bloß  dies:  es  entsteht  auch 
eine  Gefühlsstimmung,  die  der  Afifektgrundlage  der  Ausdrucksbe- 
wegung verwandt,  und  die  zunächst  schwach  ist,  jedoch,  wenn  die 
Bewegung  des  öfteren  wiederholt  wird,  beträchtlich  sich  steigern 
kann.  Auch  wird  sie  besonders  dadurch  verstärkt,  daß  die  kon- 
krete Richtung  der  eingeleiteten  Assoziation  bestimmte  unlustbetonte 
Vorstellungen  wiedererweckt.  Natürlich  kommen  nun  solche  se- 
kundäre Assoziationen  auch  dann  zustande,  wenn  der  Ausgangspunkt 
der  Erscheinungen  ein  wirklicher  Affekt  ist;  nur  daß  in  diesem 
Falle  die  Dispositionen  zu  bestimmten  Gefühlserregungen  noch  gün- 
stiger liegen  und  daher  energischer  in  Wirksamkeit  treten.  So  er- 
klärt sich  die  bekannte  Erscheinung,  daß  nichts  mehr  geeignet  ist, 
Affekte  und  Leidenschaften  zu  steigern,  als  der  ungehemmte  Erguß 
derselben  in  äußeren  Handlungen. 

Diese  assoziative  Steigerung  der  Affekte  durch  ihre  Ausdrucks- 
bewegungen ist  gelegentlich  bestritten  worden. '1  Nicht  als  ob  man 
eine  solche  Beziehung  überhaupt  leugnete,  wohl  aber,  indem  man 
eine  umgekehrte  Richtung  der  Assoziation  annahm.  Nicht  durch 
die  Ausdrucksbewegungen  werde  die  zugehörige  Stimmung  er- 
weckt, sondern  durch  reine  Vorstellungsassoziationen  werde  ein 
Affekt  erzeugt  oder  ein   vorhandener  verstärkt   und    dann  erst   die 


7  2  Die  Ausdrucksbewegungen. 


entsprechende  Ausdrucksform  hervorgerufen').  Diese  Auffassung 
der  Sache  entspricht  jedoch  weder,  wie  mir  scheint,  den  in  diesem 
Falle  zu  machenden  Beobachtungen  noch  den  sonst  nachzuweisen- 
den Bedingungen  der  Assoziation.  Das  früher  so  verschwenderisch 
angenommene  Auftreten  »reiner  Erinnerungsbilder«  reduziert  sich, 
wenn  man  den  Phänomenen  des  Wiedererkennens  und  der  Wieder- 
erinnerung genauer  nachgeht,  auf  außerordentlich  seltene  Fälle,  bei 
denen  überdies  meist  der  Verdacht,  daß  irgendwelche  direkte 
Empfindungselemente  übersehen  worden  seien,  nicht  ausgeschlossen 
bleibt.  Als  allgemeine  Regel  darf  es  daher  gelten,  daß  von  un- 
mittelbar gegebenen  Eindrücken  ausgehende  Assoziationswirkungen 
überall  das  bilden,  was  wir  einen  Erinnerungsvorgang  nennen. 
Nun  ist  in  dem  vorliegenden  Falle  das  tatsächlich  gegebene  Ver- 
hältnis dies,  daß  wir  eine  Affektsteigerung  an  lebhafte  Aus- 
drucksbewegungen gebunden  sehen,  und  daß  wir  diese  Steigerung 
selbst  dann  noch  beobachten,  wenn  die  Ausdrucksbewegung  in  ihrer 
ersten  Entstehung  nicht  einmal  die  Begleiterscheinung  eines  be- 
stimmten Affektes  war.  Alle  diese  Tatsachen  fügen  sich  ohne 
Schwierigkeit  dem  durch  die  mannigfachsten  Erfahrungen  bestätigten 
Satze,  daß  jeder  Sinneseindruck  Erregungen  wachruft,  die  früher 
mit  ihm  verbunden  gewesen  sind.  Dagegen  wird  hier  ganz  ohne 
Not  eine  willkürlich  und  ursachlos  schaltende  Phantasietätigkeit  zu 
Hilfe  gerufen,  wenn  man  die  Erscheinungen  aus  bloßen  Assoziationen 
zwischen  den  psychischen  Affektinhalten  selbst  ableiten  will.  Auf 
Grund  jener  wohlbekannten  Verbindungen  zwischen  direkten  und 
reproduktiven  Elementen  läßt  sich  aber  diese  Wechselbeziehung 
zwischen  Ausdrucksbewegung  und  Affekt  in  zwei  eng  verbundene 
Vorgänge  zerlegen.  Zuerst  erzeugen  die  Ausdrucksbewegungen  be- 
stimmte Tast-  und  Spannungsempfindungen;  und  dann  assoziieren 
sich  diese  Empfindungen  wieder  mit  den  Seelenzuständen,  deren 
Symptome  jene  Bewegungen  sind.  Ist  das  Bewußtsein  ursprüng- 
lich affektfrei,  wird  also  z.  B.  die  Ausdrucksbewegung  rein  will- 
kürlich erzeugt,  so  sind  dann  freilich  auch  die  assoziierten  Gefühle 
und  Affekte  von  sehr  unbestimmtem  Inhalt.  Dies  ändert  sich  jedoch, 
sobald  eine  Assoziation  mit  gewissen  bereit  liesf enden  Affektinhalten 


')  Piderit,  Mimik  und  Physignomik,  -   1886,  S.  20. 


Sensorische  Rückwirkungen  der  Ausdrucksbewegungen.  r^ 

erfolgt,  oder  wenn  der  ganze  Vorgang  schon  mit  inhaltsvollen 
Affekten  beginnt.  In  diesem  Falle  wirkt  die  Ausdrucksbewegung 
sofort  verstärkend  auf  den  primären  Affekt,  und  indem  sich  der 
so  gesteigerte  Affekt  wiederum  in  verstärkten  Bewegungssymptomen 
äußert,  ist  damit  auch  die  Bedingung  zu  einer  Wiederholung  dieser 
Wechselwirkungen  gegeben. 

Für  das  physiologische  Innervationsproblem  der  Ausdrucksbe- 
wegungen entsteht  nun  aus  diesen  Verhältnissen  eine  weitere,  nicht 
unerhebliche  Verwicklung.  Denn  physiologisch  wird  der  verstär- 
kende Einfluß  der  Ausdruckssymptome  auf  die  psychischen  Vor- 
gänge und  dieser  auf  jene  wiederum  nur  durch  ein  System  von 
Miterregungen  und  Reflexerregungen  verständlich,  die  zu  allen  den 
vorhin  erwähnten  Hemmungs-  und  Erregungsinnervationen  hinzu- 
treten, während  sie  zugleich  von  diesem  ersten  System  derart  ab- 
hängen, daß  sie  immer  erst  durch  die  in  ihm  ablaufenden  Inner- 
vationsvorgänge  erweckt  werden  können.  Aus  allem  dem  ergibt 
sich,  daß,  so  groß  auch  die  qualitative  Mannigfaltigkeit  der  Gefühls- 
inhalte und  der  psychischen  Verlaufsformen  der  Affekte  sein  mag, 
wenn  man  sie  dem  relativ  einfachen  Schema  erregender  und  hem- 
mender Innervationen  gegenüberstellt,  doch  anderseits  die  ungeheure 
Komplikation  dieser  Innervationswirkungen  vorläufig  für  uns  noch 
in  viel  höherem  Grad  ein  unabsehbares  Problem  ist.  Darin  findet 
die  allgemeine  Tatsache  ihren  Ausdruck,  daß  überall,  wo  uns  zu- 
sammengehörige psychische  und  physische  Vorgänge  gegeben  sind, 
der  unendlichen  qualitativen  Mannigfaltigkeit  der  psychischen  Ele- 
mente eine  große  Gleichförmigkeit  der  physischen  gegenübersteht, 
daß  dafür  aber  die  extensive  Ausdehnung  und  Komplikation  der  Er- 
scheinungen hier  um  so  größer  wird.  Eben  durch  diese  Übertragung 
der  intensiven  in  eine  extensive  Mannigfaltigkeit  von  Vorgängen 
kommt  dann  jene  durchgängige  Beziehung  der  Variationen  der  Ge- 
mütsstimmung zu  dem  wechselnden  Spiel  ihrer  Ausdrucksformen 
zustande,  vermöge  deren  wir  jede  Ausdrucksbewegung  als  ein  ad- 
äquates Symptom  der  entsprechenden  seelischen  Regung  betrachten 
lernen. 


74 


Die  Ausdrucksbewescunreii. 


III.  Prinzipien  der  Ausdrucksbe^vegungen, 

I.    Herbert  Spencers  physiologische  Theorie. 

Da  die  Ausdrucksbewegungen  physische  Erscheinungen  sind  und 
von  uns  als  Symptome  psychischer  Zustände  gedeutet  werden,  so 
kann  man  die  Prinzipien  zu  ihrer  Erklärung  auf  jeder  dieser  Seiten, 
der  physischen  wie  der  psychischen,  zu  gewinnen  suchen.  Als 
Hauptvertreter  einer  physiologischen  Erklärung  darf  Herbert 
Spencer  gelten  ^).  Indem  er  als  die  objektiven  Tatsachen,  auf  die 
alle  subjektiven  Phänomene  unseres  Bewußtseins  zurückzuführen 
seien,  die  Funktionen  des  Nervensystems  betrachtet,  ist  damit  auch 
sein  allgemeiner  Standpunkt  in  der  vorliegenden  Frage  gegeben^). 
Jeder  psychische  Zustand,  ob  er  dem  Gebiet  der  Empfindungen 
und  Vorstellungen  oder  dem  der  Gefühle  und  Affekte  angehört,  ist 
nach  Spencer  die  Begleiterscheinung  irgendeiner  Molekularbewegung 
innerhalb  des  Nervensystems,  die  eine  auf  den  übrigen  Körper  aus- 
strahlende nervöse  Entladung  bewirkt,  so  daß  dadurch  verschiedene 
Symptome  im  Gebiete  der  Herz-  und  Gefäßinnervation  sowie  des 
gesamten  Muskelsystems  entstehen  können.  Von  dieser  Entladung 
wird  angenommen,  sie  sei  ursprünglich  eine  völlig  diffuse,  in  ihrer 
Ausbreitung  nur  nach  der  Stärke  der  stattfindenden  Erregung  ver- 
schieden. Erstes  Prinzip  der  Ausdrucksbewegungen  ist  demnach 
das  Gesetz  der  wachsenden  Ausbreitung  der  Entladung  bei  zuneh- 
mender Erregung.  Dazu  gesellt  sich  als  zweites  die  Voraussetzung, 
daß  bei  jeder  diffusen  Entladung  kleine  und  an  leicht  beweglichen 
Organen  befestigte  Muskeln  leichter  als  große  und  schwer  beweg- 
liche ergrififen  werden.  Dies  soll  die  vorwiegende  Beteiligung  der 
Antlitzmuskeln  an  allen  Afifektäußerungen  und  ihre  ausschließliche 
bei  schwachen  Affekten  erklären.  Dazu  kommt  endlich  als  drittes 
Prinzip  die  Annahme  eines  allmählichen  Übergangs  beliebiger  zweck- 
loser Körperbewegungen  in  zweckmäßige  im  Laufe  der  generellen 
Entwicklung.  Hierdurch  soll  allmählich  eine  engere  Beziehung  zwi- 
schen den  Nerven,  in  denen  bestimmte  Empfindungen  und  Gefühle 


^)  H.  Spencer,  Prinzipien  der  Psychologie,  deutsche  Ausg.  II,  S.  6io  ff. 
2)  Ebenda  I,  S.  99  ff. 


Herbert  Spencers  physiologische  Theorie.  -ir 

lokalisiert  sind,  und  den  Muskelgruppen  entstehen,  deren  Zusammen- 
spiel in  der  Regel  die  Befriedigung  jener  Gefühle  herbeiführt.  Auf 
diese  Weise  erklärt  es  sich,  daß  die  Ausdrucksbewegungen  zahl- 
reicher Affekte  gemilderte  Formen  von  Handlungen  sind,  die  ur- 
sprünglich bestimmten,  die  Befriedigung  des  Affekts  erzielenden 
Zwecken  dienten:  so  das  Ballen  der  Faust  und  das  Zähneknirschen 
des  Zornigen'). 

Der  ganz  und  gar  hypothetische  Charakter  dieser  drei  Prinzipien 
springt  in  die  Augen.  Das  dritte  namentlich  ist  offenbar  nichts  als 
eine  Anwendung  der  allgemeinen  Annahme,  daß  die  Willenshand- 
lungen aus  automatischen  Bewegungen  von  ursprünglich  zufälliger 
und  zweckloser  Beschaffenheit  durch  eine  Art  Auslese  des  Nütz- 
lichen entstanden  seien.  Es  bedarf  kaum  noch  der  Bemerkung, 
daß  gerade  das,  was  diese  Hypothese  als  den  Ausgangspunkt  von 
Willenshandlungen  wie  Ausdrucksbewegungen  annimmt,  nämlich 
die  Entstehung  zweckmäßig  koordinierter  Reflexe  aus  zufälligen 
Nervenentladungen,  nirgends  nachzuweisen  ist.  Zu  dieser  imaginären 
Natur  des  vorausgesetzten  Anfangs  komme  dann  aber  noch  eine 
andere  Schwierigkeit.  Die  Theorie  setzt  zwar  ein  ursprüngliches 
»Bewußtsein«  voraus,  das  eine  an  die  Nervenentladungen  unmittel- 
bar gebundene  »ästho-physiologische«  Erscheinung  sein  solP).  Doch 
sie  stattet  dieses  Bewußtsein  mit  einer  Eigenschaft  aus,  die  keinem 
wirklichen  Bewußtsein  zukommt,  nämlich  mit  der  sozusagen  bloß 
theoretischen  Fähigkeit  der  Empfindung  und  WahrnehmAmg.  Aus 
dieser  soll  sich  dann  erst  allmählich,  nachdem  zufällig  einige  jener 
Bewegungen  zu  nützlichen  Wirkungen  geführt  haben,  eine  will- 
kürliche Beherrschung  derselben  herausbilden. 

Aber  auch  dem  ersten  und  zweiten  Prinzip  fehlt  die  zureichende 
empirische  Begründung.    Indem  das  erste  die  Zunahme  der  äußeren 


I)  Einige  weitere  diesen  Prinzipien  von  Spencer  beigefügte  Hilfsannahmen  können 
hier  übergangen  werden,  weil  sie  für  die  Beurteilung  des  Ganzen  unwesentlich  sind, 
während  ihre  Unwahrscheinlichkeit  und  der  Widerspruch,  in  den  sie  sich  mit  den 
Voraussetzungen  der  Theorie  verwickeln,  auf  der  Hand  liegen.  Dahin  gehört  z.  B. 
die  Annahme,  daß  das  Streben  des  Bewußtseins,  gewisse  Affekte  zu  verbergen,  bei 
der  Verlegenheit,  Scham  usw.  dazu  geführt  habe,  die  primären  Wirkungen  durch 
sekundäre  von  entgegensetzter  Beschaffenheit  zu  verdecken. 

2;  Prinzipien  der  Psychologie,  I,  S.  99. 


Die  Ausdrucksbewesnineen. 


Symptome  mit  der  Zunahme  der  inneren  \'orgänge  hervorhebt. 
bietet  es  an  sich  keine  Erklärung  irgendwelcher  Ausdnicksbewe- 
gungen;  sondern,  da  nun  einmal  bei  allen  von  nachweisbaren  phy- 
sischen Prozessen  begleiteten  Aftektionen  des  Bewußtseins  ein 
solches  Verhältnis  beziehungsweisen  Wachstums  zu  bestehen  pflegt, 
so  konstatiert  es  im  Grunde  nur  diese  allgemeine  Tatsache  auch 
für  diesen  einzelnen  Fall.  Daneben  ist  das  Prinzip  zugleich  in- 
sofern mangelhaft  formuliert,  als  es  in  der  -diffusen  Erregung^ 
einen  an  sich  eigentlich  gleichartigen,  nur  nach  Ausbreitung  und 
Stärke  verschiedenen  Vorgang  voraussetzt.  Um  den  Hemmungs- 
wirkungen gewisser  Affekte  gerecht  zu  werden,  verweist  darum 
Spencer  auf  den  bei  starken  'Affekten  vorkommenden  Stillstand 
des  Herzens,  der  wegen  der  Störung  des  Blutzuflusses  zu  den  Mus- 
keln eine  allgemeine  Erschlaffung  zur  Folge  habe.  Nun  ist  es 
richtig,  daß  der  Herzstillstand  in  hohem  Grade  deprimierend  auf  die 
willkürlichen  Muskeln  wirkt.  Aber  jene  plötzlichen  Aftektlähmungen, 
wie  man  sie  z.  B.  beim  Schreck  beobachtet,  wo  die  äußeren  Wir- 
kungen vollkommen  gleichzeitig  mit  den  Herzsymptomen,  wenn 
nicht  schneller  eintreten,  können  unmöglich  auf  diese  Weise  ge- 
deutet werden.  Überdies  kommen  solche  Hemmungsinner\-ationen 
nicht  bloß  als  Wirkungen  stärkster  Aftekte  vor.  Namentlich  zeigt 
das  wechselnde  Spiel  der  Antlitzmuskeln  eine  oft  äußerst  fein  ab- 
gestufte, meist  auf  verschiedene  Muskeln  verteilte  Kombination  er- 
regender und  hemmender  Innervationen.  So  pflegt  sich  z.  B.  die 
Mimik  der  Überraschung  in  einer  plötzlichen  Erschlaftung  der  zu- 
vor gespannten  Wangenmuskeln  imd  daneben  in  einer  Kontraktion 
der  bei  gespannter  Aufmerksamkeit  auf  einen  Gegenstand  in  Aktion 
tretenden  Augen-  und  Stirnmuskeln  zu  äußern.  Die  Gefühlskom- 
ponenten des  Vorgangs  verteilen  sich  also  hier  in  ihren  äußeren 
Symptomen  über  verschiedene  Muskelgebiete:  die  Erschlaffung  der 
Wangenmuskeln  spiegelt  die  plötzliche,  dem  Schreck  verwandte 
deprimierende  Wirkung  des  unervvarteten  Eindrucks;  in  der  Kon- 
traktion der  Augen-  und  Stirnmuskeln  kommt  die  gleichzeitige,  die 
gesteigerte  Aufmerksamkeit  begleitende  Erregung  und  Spannung 
zur  Geltung.  i\Ian  darf  daher  wohl  sagen:  wenn  die  Existenz 
einer  der  des  Herzens  analogen  doppelten  Inner\'ation  für  das 
äußere   Muskelsystem   nicht    durch    andere    physiologische  Erschei- 


Herbert  Spencers  physiologische  Theorie. 


nungen  nahegelegt  wäre,  schon  die  Beobachtung  der  Ausdrucksbe- 
wegungen würde  sie  unzweifelhaft  machen. 

Noch  weniger  als  das  erste  läßt  sich  das  zweite  Prinzip,  das  die 
besondere  Bedeutung  der  mimischen  Bewegungen  aus  der  Kleinheit 
und  leichten  Beweglichkeit  der  Antlitzmuskeln  ableiten  will,  ab  ein 
glücklicher  Ausdruck  der  Tatsachen  anerkennen.  Gibt  es  doch  eine 
große  Zahl  kleinerer  Muskeln  am  menschlichen  Körper,  z.  B.  die 
kleinen  Wirbel-  und  Zwischenrippen-,  die  Finger-  und  Zehenmus- 
keln, von  denen  manche  überdies  an  leicht  beweglichen  Teilen  be- 
festigt sind,  ohne  daß  sie  darum  zu  den  Afiektäußerungen  in  einer 
näheren  Beziehung  stehen.  Es  ist  also  klar,  daß  die  Antlitzmuskeln 
die  besondere  Wichtigkeit,  die  sie  für  den  Ausdruck  der  Gemüts- 
bewegungen erlangt  haben,  nicht  ihrer  Kleinheit  verdanken  können. 
Auch  v.'eisen,  wie  Spencer  selbst  zugibt  manche  Erscheinungen  auf 
andere  Bedingungen  hin.  Wenn  z.  B.  der  Zornige  mit  den  Zähnen 
knirscht,  so  geschieht  das  zunächst  nicht  deshalb,  weil  die  Mund- 
muskeln klein  und  leicht  beweglich,  sondern  weil  sie  eben  die  Muskeln 
sind,  die  schon  im  tierischen  Zustand  bei  dem  Beißen  und  Zer- 
reißen des  Feindes  wirksam  werden  mußten.  Oder  wenn  Spencer 
das  Stirnrunzeln  als  erstes  Anzeichen  eines  unangenehmen  Gefühls 
daraus  ableitet,  daß  der  Urmensch,  um  seine  aus  der  Feme  heran- 
nahende Beute  zu  erspähen,  die  Augen  beschattet  habe' ,  so  würde 
es,  selbst  wenn  man  diese  immerhin  zweifelhafte  Hypothese  an- 
nehmen will,  wiederum  nicht  die  Kleinheit  des  >Corrugator  super- 
cüiorum«,  sondern  seine  Beziehung  zum  Auge  sein,  die  diese  mi- 
mische Bewegung  erzeugt  hat.  Alle  diese  einzelnen  Interpretationen 
bewegen  sich  übrigens,  wenn  man  von  der  fragwürdigen  Aimahme 
des  ersten  Ursprungs  zweckmäßiger  Willenshandlungen  absieht, 
eigentlich  auf  psychologischem  Gebiet.  Man  kann  daher  das  Ur- 
teil über  die  ganze  Theorie  dahin  zusammenfassen:  wo  sie  sich 
auf  die  Erklärung  der  einzelnen  Erscheinungen  einläßt,  da  fallt  sie 
aus  der  Rolle  und  wird  psychologisch :  umgekehrt,  insoweit  sie  wirk- 
lich physiologische  Theorie  ist,  besteht  sie  aus  teils  unkontrollier- 
baren, teils  der  Erfahrung   widerstreitenden  H>-pothesen,    die,  wenn 


^    Prinzipien  der  Päycliologie.  LI.  S.  6iS. 


-7  8  Die  Ausdrucksbewegungen. 


man  sie  trotzdem  annehmen  wollte,   nicht  einmal   das,  was   sie   er- 
klären sollen,  wirklich  zureichend  erklärt'). 

2.    Darwins  Prinzip  der  zweckmäßig  assoziierten 
Gewohnheiten. 

Bei  dem  Punkte,  wo  Spencers  Prinzipien  auf  die  generelle  Ent- 
wicklung gewisser  Ausdrucksbewegungen  hinweisen,  hat  Darwin  das 
Problem  aufgenommen").  Die  Frage  der  Vererbung  steht  im  Vorder- 
grund seiner  Untersuchungen.  Die  Ausdrucksbewegungen  sind  ihm 
nicht  sowohl  um  ihrer  selbst  willen  von  Wert,  als  deshalb,  weil  sie 
ein  Gebiet  bilden,  auf  dem  sich  die  Vererbung  funktioneller  Anlagen 
in  der  verschiedensten  Weise  nachweisen  läßt:  im  allgemeinsten 
Umfang  an  der  Analogie  tierischer  und  menschlicher  Ausdrucks- 
formen, in  etwas  engeren  Grenzen  an  der  Übereinstimmung  der 
Gebärden  bei  verschiedenen  Menschenstämmen,  im  engsten  Bezirk 
endlich  an  der  Vererbung  individueller  Bewegungen  in  einzelnen 
Familien.  Die  in  dieser  Absicht  von  Darwin  gesammelten  Beob- 
achtungen sind  überaus  wertvoll,  und  es  kann  kaum  einem  Zweifel 
unterliegen,  daß  der  erstrebte  Zweck  durch  sie  erreicht  ist:  die  von 
Spencer  nur  an  wenigen,  zum  Teil  in  ihrer  Deutung  zweifelhaften 
Fällen  erläuterte  Vererbung  ist  auf  diesem  Gebiete  von  Darwin 
durch  eine  Fülle  von  Tatsachen  erwiesen  worden.  Viele  dieser 
Tatsachen  bestätigen  zugleich  den  Satz,  daß  sich  zahlreiche  Aus- 
drucksformen als  abgeschwächte  Überlebnisse  einstiger,  in  tierischen 
Zuständen  noch  jetzt  zu  beobachtender  Willenshandlungen  betrachten 
lassen.  Für  uns  steht  natürlich  nicht  diese  speziell  auf  die  Ver- 
erbungslehre gerichtete  Tendenz  der  Darwinschen  Untersuchung,  die 


^)  Schon  die  Theorie  Spencers  steht  der  Annahme  nahe,  daß  nicht  die  Aus- 
drucksbewegung die  Wirkung  des  Affekts,  sondern  umgekehrt  der  Affekt  selbst  erst 
eine  Wirkung  der  Ausdrucksbewegungen  sei.  C.  Lange  (Über  Gemütsbewegungen, 
aus  dem  Dänischen  von  H.  Kurella,  1887)  und  W.  James  (Principles  of  Psychology, 
1890,  II,  pag.  442  ff.)  haben  dann  den  Versuch  gemacht,  diese  Annahme  näher  durch- 
zuführen. Das  Mittelglied  sollen  dabei  die  »Gemeinempfindungen«  bilden.  Ich  ent- 
halte mich  hier  einer  näheren  Erörtenmg  dieser  Theorie  und  verweise  hinsichtlich 
derselben  auf  die  kritischen  Bemerkungen  Philos.  Stud.  VI,  S.  335  ff.  und  Physiol. 
Psychol.5,  n,  S.  367  f.,  m,  S.  241. 

2)  Darwin,  Der  Ausdruck  der  Gemütsbewegungen  bei  dem  Menschen  und  den 
Tieren.     Deutsche  Ausg.   1872. 


Darwins  Prinzip  der  zweckmäßig  assoziierten  Gewohnheiten.  -q 

ihre  eigentliche  Bedeutung  ausmacht,  sondern  der  sonstige,  nament- 
lich der  psychologische  Ertrag  derselben  im  Vordergrund  des  Inter- 
esses. Hier  aber  hat  Dar\vin,  abgesehen  von  der  sorgfältigen  Analyse 
einzelner  Ausdrucksbewegungen  bei  Tieren  und  Menschen,  den  durch 
Spencer  vertretenen  allgemeineren  Anschauungen  nichts  Wesentliches 
hinzugefügt.  Immerhin  darf  man  vom  empirischen  Standpunkt  aus 
auch  das  als  ein  Verdienst  seiner  Arbeit  ansehen,  daß  er  sich  auf 
physiologische  Hypothesen  über  den  Ursprung  der  Willenshandlun- 
gen nicht  einläßt.  Infolgedessen  stellen  sich  seine  Prinzipien  der 
Ausdrucksbewegungen  teilweise  schon  auf  den  Boden  einer  psycho- 
logischen Deutung.  Das  wichtigste  dieser  Prinzipien  ist  das  der 
»zweckmäßig  assoziierten  Gewohnheiten«.  Gewisse  Handlungen  seien 
dadurch,  daß  sie  die  Gefühle  und  Triebe,  die  an  bestimmte  Seelen- 
zustände  gebunden  sind,  befriedigen,  von  direktem  oder  indirektem 
Nutzen.  Es  entstehe  daher  eine  gewohnheitsmäßige  Assoziation 
zwischen  diesen  Seelenzuständen  und  jenen  Bewegungen,  so  daß  beide 
einander  stets  und  auch  in  solchen  Fällen  begleiten,  wo  die  Be- 
wegungen infolge  der  obwaltenden  Bedingungen  von  gar  keinem 
Nutzen  mehr  sein  können.  Hierher  gehören  das  Zähneknirschen  in 
der  Wut,  die  Angriffsbewegungen  im  Zorn,  das  Zusammenfahren  im 
Schreck,  welches  letztere  ursprünglich  durch  die  Gewohnheit  ent- 
standen sein  soll,  einer  Gefahr  so  schnell  als  möglich  durch  einen 
Sprung  zu  entgehen.  Auf  diese  Weise  nimmt  auch  Darwin  einen 
allmählichen  Übergang  gewohnheitsmäßig  assoziierter,  also  ursprüng- 
lich willkürlicher  Bewegungen  in  Reflexe  an,  obgleich  er  bezweifelt, 
daß  alle  Reflexbewegungen  auf  solche  Weise  zu  erklären  seien. 
Besonders  aber  betont  er  gerade  bei  den  zweckmäßig  assoziierten 
Bewegungen  das  Gesetz  der  Vererbung,  nach  welchem  eine  von  den 
Vorfahren  erworbene  Assoziation  in  den  späteren  Generationen  als 
eine  angeborene  Anlage  auftreten  könne'). 

Die  Umschau  über  das  ganze  Gebiet  >  zweckmäßig  assoziierter 
Gewohnheiten«  lehrt  nun  aber,  daß  die  so  entstandenen  Ausdrucks- 
bewegungen entweder  ausschließlich  oder  doch  vorzugsweise  zu 
Unlustaffekten  in  Beziehung  stehen.  Zorn,  Wut,  Verachtung,  Schmerz 
äußern    sich    in   Bewegungen,    die   sich    auf   ursprünglich    nützliche 


I)  A.  a.  O.  S.  28  ff. 


^O  Die  Ausdrucksbewegungen. 


Willenshandlungen  zurückführen  lassen.  Bei  Freude,  Hofthung,  Zu- 
neigung ist  das  gleiche  nicht  ohne  weiteres  ersichtlich.  Dennoch 
äußern  auch  sie  sich  in  Bewegungen,  die  wir  als  bezeichnende 
Symptome  für  die  Qualität  der  Affekte  ansehen.  Zu  ihrer  Inter- 
pretation glaubt  daher  Darwin  nur  den  allgemeinen  Gesichtspunkt 
verwerten  zu  können,  daß  sie  ihrer  Erscheinungsweise  nach  zu  be- 
stimmten andern  Symptomen  im  Gegensatze  stehen.  So  sind  z.  B. 
die  Bewegungen,  die  ein  Hund  oder  eine  Katze  ausführen,  wenn  sie 
sich  einem  andern  Tier  oder  dem  Menschen  in  feindseliger  Absicht 
nahen,  unmittelbar  Vorbereitungsakte  zu  Angriffsbewegungen.  Die 
Bewegungen  der  gleichen  Tiere  in  demütigen  und  zuneigungsvollen 
Stimmungen  dagegen  sind  an  sich  zwecklos,  bilden  aber  einen 
durchgängigen  Gegensatz  zu  jenen.  Sie  werden  also  aus  dem 
Prinzip  des  Kontrastes  erklärt.  Eine  direkte,  von  dem  Kontrast 
unabhängige  Beziehung  der  Bewegungen  zur  Seelenstimmung  läßt 
sich  nach  Darwins  Meinung  in  diesen  Fällen  im  allgemeinen  nicht 
auffinden^). 

Mögen  nun  immerhin  unter  diesen  Prinzipien  zahlreiche,  für  die 
Entwicklung  der  Willenshandlungen  wie  der  Ausdrucksbewegungen 
bedeutsame  Tatsachen  unter  einheitlichen  Gesichtspunkten  zusammen- 
gefaßt sein,  so  bleibt  es  doch  ein  Übelstand,  daß  hier  allgemeine 
Begriffe,  wie  Gewohnheit  und  Gegensatz,  die  selbst  erst  der  Er- 
klärung bedürfen,  als  erklärende  Ursachen  eingeführt  werden.  Bei 
der  Gewohnheit  kann  man  sich  wohl  am  ehesten  noch  diese  Lücke 
ergänzt  denken,  und  mit  dem  Vorbehalt  dieser  Ergänzung  wird  in 
der  Tat  hier  so  wenig  wie  anderwärts  das  »Gesetz  der  Gewohnheit« 
zu  missen  sein.  Nach  den  Erscheinungen  individueller  Einübung 
und  des  durch  sie  vermittelten  Übergangs  willkürlicher  in  automatische 
Bewegungen,  auf  die  oben  (S.  40  f.)  schon  hingewiesen  wurde,  ist 
es  aber  doch  erforderlich,  daß  man  diesen  Begriff  der  »Gewohn- 
heit« in  seine  psychophysischen  Elemente  zerlege.  Auf  psychi- 
scher Seite  besteht  nun  jeder  Vorgang  der  Übung  darin,  daß 
von  einer  ursprünglich  in  allen  ihren  Bestandteilen  mit  Bewußt- 
sein ausgeführten  Bewegung  zuerst  gewisse  Zwischenglieder  und 
dann  allmählich  der  sranze  Verlauf  aus  dem  Beuoißtsein  verschwinden. 


I)  A.  a.  O.  S.  28,  51  ff. 


Darwins  Prinzip  der  zweckmäßig  assoziierten  Gewohnheiten.  8l 

Nach  seiner  physischen  Seite  besteht  der  gleiche  Vorgang  in  einer 
immer  vollkommener  werdenden  Anpassung  des  Umfangs  und  Ver- 
laufs der  Bewegung  an  eine  bestimmte  Endwirkung,  demnach  in  einer 
Ausschaltung  von  Nebeneffekten,  die  ursprünglich  in  wechselnder 
Weise  die  Bewegung  begleiteten.  Dieser  Prozeß  setzt  als  Bedingung 
eine  Eigenschaft  des  Nervensystems  voraus,  die  sich  uns  in  der  Tat 
schon  in  gewissen  elementaren  Erscheinungen  der  Nervenerregung 
zu  erkennen  gibt.  Es  ist  die,  daß  mäßige  Reizungen  irgendeiner 
Nervenfaser  eine  Steigerung  der  Erregbarkeit  erzeugen.  Diese 
Nachwirkung  in  ihrer  auf  bestimmte,  oft  wiederholte  Erregungen 
eingeschränkten  Ausbreitung  ist  offenbar  mit  dem,  was  wir  »Übung« 
oder  »Gewöhnung«  nennen,  identisch.  Denn  sobald  irgendeine 
komplexe  Bewegung  wiederholt  in  der  Weise  ausgeführt  wird,  daß 
gewisse  ihrer  Bestandteile  variieren,  während  andre  gleichmäßig 
wiederkehren,  so  müssen  notwendig  infolge  jener  Steigerung  der 
Erregbarkeit  durch  die  Erregung  diese  regelmäßigen  Bestand- 
teile des  Vorgangs  immer  mehr  erleichtert  werden^).  Die  hierbei  zu- 
gleich sich  einstellende  Mechanisierung  der  Bewegungen  weist  außer- 
dem darauf  hin,  daß  zu  diesen  allgemeinen  Erregbarkeitsänderungen 
noch  die  allmähliche  Ausschaltung  höherer  Nervenzentren  als  eine 
komplizierende  Erscheinung  hinzutritt.  Der  wachsenden  Reizbar- 
keit der  zunächst  erregten  zentralen  Elemente  geht  also  eine  Be- 
schränkung in  der  Ausbreitung  der  Reizungsvorgänge  paralleP). 
Aus  diesen  Betrachtungen  erhellt  übrigens,  daß  eine  rein  phy- 
siologische ebensogut  wie  eine  rein  psychologische  Erklärung 
des  Begriffs  »zweckmäßig  assoziierter  Gewohnheiten«  unmöglich  ist. 
Denn    physiologisch    können    wir    zwar,    wenn    erst   gewisse,    auf 


1)  Vgl.  meine  Untersuchungen  zu  Mechanik  der  Nerven,  11,  1876,  S.  65,  132  ff. 
Phys.  Psych.  ^  I,  S.  69  ff.  Ähnlicht  Anschauungen  sjud  in  neuerer  Zeit  noch  von 
verschiedenen  Physiologen  ausgesprochen  worden.  So  namentlich  von  S.  Exner 
(Entwurf  zu  einer  physiologischen  Erklärung  der  psychischen  Erscheinungen,  I,  1894, 
S.  76  ,  der  hierbei  für  die  Übungserfolge  der  Erregungsleituüg  den  Ausdruck  »Bah- 
nung« vorgeschlagen  hat.  ,   /  <t  ö  6  6 

2)  Auch  diese  Tatsache  ist  wahrscheinlich  zu  gewissen  allgemeinen  Ergebnissen 
der  Nervenphysiologie  in  Beziehung  zu  bringen,  und  zwar  wird  man  hier  vor  allem 
an  die  im  Gebiete  der  zentralen  Nervenerregung  nachzuweisenden  Interferenz-  und 
Hemmungserscheinungen  denken  können.  Vgl.  Untersuchungen  zur  Mechanik  der 
Nerven,  ü,  S.  84  ff.,  106  ff.,  Phys.  Psych.  ^  1,  S.  85  ff. 

Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  6 


32  TDie  Ausdrucksbewegungen. 


bestimmte  Zwecke  gerichtete  Willenshandlungen  gegeben  sind,  deren 
allmähliche  Vervollkommnung  und  Mechanisierung  an  der  Hand  der 
Gesetze  der  Nervenerregung  und  der  Nachwirkungen  der  Erregbar- 
keit begreifen.  Was  wir  jedoch  auf  diesem  physiologischen  Wege 
nicht  verständlich  machen  können,  das  ist  der  Anfang,  die  Willens- 
handlung selbst  und  ihre  unmittelbare  Verbindung  mit  bestimmten, 
bereits  dem  Inhalt  des  WoUens,  d.  h.  den  dasselbe  konstituierenden 
Gefühlen  und  Vorstellungen,  irgendwie  adäquaten  Körperbewegungen. 
Wenn  wir  daher  alle  empirisch  nicht  gerechtfertigten  metaphysischen 
Hilfskonstruktionen  beiseite  lassen,  so  führt  das  Darwinsche  Prinzip 
der  Gewöhnung  auf  vielleicht  unvollkommene,  aber  doch  von  Anfang 
an  unmittelbar  mit  den  psychischen  Willensregungen  verbundene 
zweckmäßige  Bewegungen  zurück.  Der  Vorgang,  durch  den  solche 
Willenshandlungen  in  bloße  Ausdrucksbewegungen  übergehen,  muß 
dann  wiederum  als  ein  doppelter,  als  ein  psychischer  und  ein  phy- 
sischer, gedacht  werden.  Auf  beiden  Seiten  ist  hier  ein  zwiefacher 
Prozeß  vorauszusetzen.  Erstens  hat  sich  infolge  der  Kultur  allmäh- 
lich der  psychische  Inhalt  der  Affekte  ermäßigt,  und  ist  demgemäß 
physisch  die  Intensität  der  Ausdrucksbewegungen  vermindert  worden; 
und  zweitens  hat  sich  der  Willensvorgang  zuerst  in  einzelnen  seiner 
Glieder  und  dann  in  seinem  ganzen  Ablauf  verdunkelt,  während  in 
gleichem  Maße  die  mechanische  Sicherheit  der  Bewegungen  zunahm. 
Dem  entspricht,  daß  diese  physiologisch  dezentralisiert  wurden, 
indem  sich  die  Arbeit  der  Übertragung  des  Reizes  in  motorische 
Erregungen  mehr  und  mehr  auf  niedrigere  Zentren  einschränkte. 
Zugleich  muß  freilich  hinzugefügt  werden,  daß  es  sich  gerade  bei 
den  Ausdrucksbewegungen,  solange  sie  wirkliche  Symptome  be- 
stimmter Gemütsbewegungen  sind,  nicht  um  eine  Ausschaltung  der 
höheren  Zentren  überhaupt  handelt,  sondern  nur  jener,  die  zu 
den  Vorstellungen  der  äußeren  Bewegungen  in  Beziehung 
stehen.  Die  Gefühls-  und  Vorstellungsprozesse,  die  in  die  Gemüts- 
bewegungen selbst  eingehen,  bleiben  ja  im  allgemeinen  bewußt  und 
weisen  also  auf  die  Funktionen  der  entsprechenden  Sinnes-  und 
Apperzeptionszentren  hin.  Solche  Ausdrucksbewegungen  aber,  die 
zu  reinen  Reflexen  geworden  sind,  bei  denen  also  Gefühls-  und 
Vorstellungsinhalte  überhaupt  hinwegfallen,  bilden  offenbar  nur  einen 
Grenzfall.     Die    meisten    bleiben    fortan    auf  der    Stufe    triebartiger 


Danvins  Prinzip  der  zweckmäßig  assoziierten  Gewohnheiten.  g^ 

Handlungen:  bestimmte  Motive  sind  im  Bewußtsein,  nicht  minder 
der  Ausdruck  dieser  Motive  in  Bewegungen;  doch  die  letzteren 
folgen  ohne  vorausgehenden  Streit  der  Motive  und  darum  auch  ohne 
besondere  Anpassung  an  einen  äußeren  Erfolg  den  herrschenden 
Eindrücken  und  Gefühlen.  Mit  dieser  näheren  Bestimmung  seines 
Inhalts  kann  man  das  Darwinsche  Gesetz  »zweckmäßig  assoziierter 
Gewohnheiten«  als  ein  für  zahlreiche,  wenn  auch  keineswegs  für 
alle  iflusdrucksbewegungen  zutreffendes  psychophysisches  Prinzip  an- 
erkennen. 

Anders  als  mit  dem  Begriff  der  Gewohnheit  verhält  es  sich 
mit  dem  des  Kontrastes.  Er  ist  einem  doppelten  Einwurf  aus- 
gesetzt. Zunächst  ist  es  überhaupt  unzulässig,  Erscheinungen  nicht 
aus  sich  selbst  und  aus  ihren  eigenen  Bedingungen  zu  erklären, 
sondern  aus  andern,  die  von  verschiedener,  ja  entgegengesetzter  Art 
sind.  Dies  Verfahren  ersetzt  die  wirkliche  Interpretation  durch  eine 
bloße  Einteilung  nach  dem  unbestimmtesten  aller  Einteilungsgründe, 
nach  dem  des  kontradiktorischen  Gegensatzes,  wo  das  den  Gegen- 
satz bildende  Glied  bloß  negativ  bestimmt  ist.  Sodann  läßt  sich 
bei  vielen  der  hierher  bezogenen  Erscheinungen  mit  Grund  bestreiten, 
daß  bei  ihnen  ein  ursprünglicher  oder  ein  noch  fortdauernder  posi- 
tiver Zweck  der  Bewegung  überhaupt  nicht  nachzuweisen  sei.  Wenn 
sich  die  Demut  in  kriechenden  Bewegungen,  die  Liebe  im  innigen 
Anschmiegen  an  den  Gegenstand  der  Zuneigung  äußert,  so  scheint 
dort  die  Unterwerfung  unter  den  fremden  Willen,  hier  die  Ver- 
einigung mit  dem  geliebten  Gegenstand  ebensogut  ein  unschwer 
erkennbarer  Zweck  noch  jetzt  zu  sein  oder  in  den  gesteigerten 
Formen  der  gleichen  Ausdrucksbewegungen  einer  früheren  Stufe 
gewesen  zu  sein,  wie  der  drohende  Blick,  der  aufgerichtete  Nacken 
und    die    geballte   Faust    des   Erzürnten.     Darwin    selbst    hat    diese 

o 

Möglichkeit  direkter  Gründe  bei  einzelnen  der  hierher  gehörigen 
Beispiele  anerkannt').  Wenn  er  trotzdem  sein  Prinzip  des  Kon- 
trastes stehen  ließ,  so  dürfte  ihm  wohl  der  Umstand  Bedenken 
erregt  haben,  daß,  falls  er  die  Ausdrucksbewegungen  der  Freude, 
Zuneigung  usw.  dem  Prinzip  der  »assoziierten  Gewohnheiten«  zu- 
rechnete, der  Begriff  des  Nutzens  für  die  ursprüngliche  Entstehung 

Ausdruck  der  Gemütsbewegungen,  S.  217,  und  anderwärts. 

6* 


84  Die  Ausdrucksbewegungen. 


vieler  dieser  Gewohnheiten  kaum  mehr  passend  erschien.  Was  für 
einen  Nutzen  sollte  es  haben,  wenn  der  Hund  durch  Schweifwedeln 
und  durch  Drehungen  und  Windungen  seines  Körpers  seine  Freude 
oder  Zuneigung  ausdrückt?  Das  spricht  aber  doch  nur  dafür,  daß 
der  Nutzen  überhaupt  hier  ein  bedenklicher  Begriff  ist.  Das  Lachen 
und  Weinen  und  die  große  Mehrzahl  der  andern  mimischen  Be- 
wegungen lassen  sich  kaum  oder  höchstens  mittels  einer  gewaltsamen 
und  fragwürdigen  Interpretation  als  nützliche  oder  einmal  nützlich 
gewesene  Erscheinungen  deuten.  Offenbar  haben  die  von  ihm  ein- 
gehend analysierten  Gebärden  des  Zornes,  bei  denen  allerdings  die 
Beziehung  zu  Kampf  und  Angriff  unverkennbar  ist,  den  ausge- 
zeichneten Naturforscher  zu  einer  Verallgemeinerung  verleitet,  die 
sich  der  Gesamtheit  der  Ausdmcksbewegungen  gegenüber  nicht 
aufrechterhalten  läßt.  Ist  gerade  bei  dem  Zorn  diese  in  gewissem 
Sinn  »nützliche«  Natur  der  Affektäußerung  augenfällig,  so  hat  dies 
aber  seinen  nächsten  Grund  darin,  daß  bei  ihm  die  Beziehung  zu 
bestimmten  Vorstellungen,  etwa  zu  solchen  von  wirklichen  oder 
imaginären  Feinden,  ungleich  mehr  als  bei  sonstigen  Affekten  in 
den  Vordergrund  tritt.  Darum  ist  es  aber  selbst  hier  zweifelhaft,  ob 
alle  Symptome  eine  derartige  Deutung  zulassen.  In  der  Tat  wird 
man  das  namentlich  von  jenen  Symptomen  sagen  müssen,  die, 
wie  die  an  den  Winkeln  herabgezogene  Unterlippe,  die  gerunzelte 
Stirn,  eigentlich  nur  allgemein  den  Zorn  als  einen  Unlustaffekt 
charakterisieren;  daher  sie  sich  auch  bei  andern  Unlustaffekten,  wie 
Kummer,  Sorge,  bei  denen  von  ein^r  Beziehung  auf  einen  äußeren 
Feind  nicht  die  Rede  sein  kann,  in  ähnlicher  Weise  vorfinden. 
Damit  kommen  wir  auf  einen  Punkt,  bei  dem  sich  der  einseitige 
und  unzulängliche  Standpunkt  dieser  Theorie  deutlich  zu  erkennen 
gibt.  Darwin  analysiert  in  einzelnen  Fällen  vortrefflich  solche  Be- 
standteile der  Ausdrucksbewegungen,  die  dem  Vorstellungsinhalt 
der  Affekte  angehören.  Er  würdigt  aber  die  Symptome,  in  denen 
sich  die  Gefühle  spiegeln,  nicht  zureichend.  Nun  sind  gerade  die 
Gefühle  die  wesentlichsten  Elemente  der  Affekte,  während  die  Vor- 
stellungen im  allgemeinen  variablere  Bestandteile  bilden.  So  be- 
greiflich also  nach  jener  intellektualistischen  Auffassung  des  Seelen- 
lebens, wie  sie  nun  einmal  in  der  von  Darwin  angewandten  Vulgär- 
psychologie  herrscht,  diese   einseitige   Bevorzugung   sein    mag,    so 


Versuche  einer  psychologischen  Theorie.  85 

unmöglich   kann  sie   doch  der  Gesamtheit  der  Erscheinungen   ge- 
recht werden. 


3.    Versuche  einer  psychologischen  Theorie. 

Zwischen  den  physiologischen  Deutungen  und  den  rein  psy- 
chologischen Theorien  über  Ausdrucksbewegungen  stehen  solche 
Ansichten  mitteninne,  die  zwar  von  gewissen  Eigenschaften  der 
physischen  Organisation  ausgehen,  dabei  aber  doch  auf  die  psy- 
chische Seite  das  Hauptgewicht  legen.  Natürlich  bleibt  hierbei 
ein  ziemlich  weiter  Spielraum  für  verschiedene  Auffassungen.  So 
brachte  E.  Harless  die  Affektäußerungen  überhaupt,  namentlich 
die  mimischen,  mit  den  an  die  Hautempfindungen  gebundenen  an- 
genehmen und  unangenehmen  Gefühlen  in  Verbindung.  Durch  die 
mimischen  Muskeln  entstehe  »ein  verschiedenes  Hautgefühl,  die 
Natur  dieses  Gefühls  sei  aber  unserer  geistigen  Erregung  verwandt, 
und  sie  sei  daher  das  entscheidende  Moment  für  die  Bedeutung  einer 
Miene« ').  Es  ist,  wie  wir  es  heute  ausdrücken  würden,  das  Prinzip 
der  Assoziation  der  durch  die  Ausdrucksbewegungen  entstehenden 
sinnlichen  Gefühle  mit  den  Gefühlsinhalten  der  Affekte,  auf  das  dem- 
nach Harless  den  mimischen  Ausdruck  zurückführt.  Noch  allgemeiner 
macht  A.  Bain  die  Gegensätze  der  Steigerung  und  der  Herabsetzung 
der  Lebensfunktionen,  die  sich  in  den  Gefühlen  kundgeben  sollen, 
auch  für  die  Verschiedenheit  der  Ausdrucksbewegungen  geltend^). 
Daß  solche  Hypothesen  zu  allgemein  und  unbestimmt  sind,  um 
über  die  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen  Rechenschaft  geben  zu 
können,  ist  einleuchtend,  wenn  auch  namentlich  dem  von  Harless 
ausgesprochenen  Gedanken  zweifellos  etwas  Richtiges  zugrunde  liegt. 

Eingehendere  Versuche  einer  psychologischen  Deutung  gingen 
zumeist  von  ästhetischen  Interessen  aus.  Daraus  erklärt  es  sich, 
daß  man  stillschweigend  oder  ausdrücklich  einen  Begriff  in  den 
Vordergrund  stellte,  der  von  Haus  aus  ein  ästhetischer,  kein  psycho- 
logischer ist:    den  Begriff  des  Symbols.     Von  den  »Conferences« 


1)  E.  Harless,  Lehrbuch  der  plastischen  Anatomie  1856,  S.  125. 

2)  A.  Bain,  The  Senses  and  the  Intellect.^  1864,  p.  285.  Die  Annahme  Bains 
nähert  sich  übrigens  zugleich  durch  die  starke  Betonung  der  physischen  Grundlagen 
der  Gefühle  der  physiologischen  Theorie  Herbert  Spencers. 


86  Die  Ausdrucksbewegungen. 


des  Malers  Le  Brun^)  und  J.  J.  Engels  »Ideen  zu  einer  Mimik«  ^) 
bis  zu  den  Arbeiten  von  Th.  Piderit^)  und  Pierre  Gratiolef*)  ist  es 
dieser  Beg-riff  des  Symbols,  der,  zum  Teil  in  abweichender  Form, 
zuweilen  auch  nur,  wie  bei  Engel,  als  nicht  ausgesprochene  Voraus- 
setzung, die  Deutung  der  Erscheinungen  beherrscht.  Piderit  hat 
das  Prinzip  in  dem  Satz  ausgesprochen:  »Alle  Ausdrucksbewegun- 
gen beziehen  sich  entweder  auf  imaginäre  Gegenstände  oder  auf 
imaginäre  angenehme  oder  unangenehme  (harmonische  oder  dishar- 
monische) Sinneseindrücke«.  Als  psychologische  Begründung  des 
ersten  Teiles  dieses  Satzes  gilt  ihm  die  Tatsache,  daß  »jede  Vor- 
stellung dem  Geiste  gegenständlich  erscheint«,  daher  eine  mimische 
oder  sonstige  Ausdrucksbewegung,  die  durch  Vorstellungen  erregt 
werde,  sich  eben  damit  zugleich  auf  imaginäre  Gegenstände  beziehen 
müsse.  Für  den  zweiten  Teil  führt  er  an,  daß  »abstrakte«  Vor- 
stellungen, weil  sie  gegenständlich  gedacht  werden,  ähnlich  den  un- 
mittelbaren Sinneseindrücken  angenehm  oder  unangenehm  auf  uns 
wirken,  wie  dies  auch  die  Sprache  in  ihren  metaphorischen  Aus- 
drücken, "^bittere  Kränkung',  'süße  Liebe'  und  ähnlichen,  bestätige. 
Demnach  sind  ihm  die  Ausdrucksbewegungen,  ebenso  wie  diese 
Metaphern,  Übertragungen  des  Nicht-Sinnlichen  in  das  Sinnliche,  die 
aber  nicht  direkt,  sondern  erst  durch  das  Zwischenglied  der  »Vor- 
stellungen« —  unter  denen  er  hier  nur  Erinnerungs-  oder  Phantasie- 
vorstellunsren  versteht  —  zustande  kommen. 


')  Le  Brun,  Conferences  sur  Texpression  des  differentes  characteres  des  passlons, 
1667. 

2)  J.  J.  Engel,  Ideen  zu  einer  Mimik,  2  Bde.   1785 — 86. 

3)  Mimik  und  Physiognomik,  1866.  Als  ersten  Entwurf  dieses  späteren  Werkes 
veröffentlichte  Piderit  1858  »Grundsätze  der  Mimik  und  Physiognomik«,  in  denen  er 
sein  allgemeines  Prinzip  der  Ausdrucksbewegungen  bereits  bestimmt  formuliert.  In 
diesem  Punkte  gebührt  ihm  daher  Gratiolet  gegenüber,  der  das  seinige  beinahe  in 
dieselben  Worte  faßt,  die  Priorität.  Übrigens  hat  Gratiolet,  gerade  so  wie  früher 
Engel,  vorwiegend  die  pantomimischen,  Piderit  die  mimischen  Bewegungen  berück- 
sichtigt. Darwin,  der  Gratiolet  und  Piderit  einigemal  mit  Anerkennung  erwähnt, 
urteilt  über  das  von  diesen  Autoren  aufgestellte  Prinzip,  daß  darin  überhaupt  keine 
Erklärung  der  Ausdrucksbewegungen  enthalten  sei  (Über  den  Ausdruck  der  Gemüts- 
bewegungen ,  S.  6;,  ein  für  die  Verschiedenheit  der  Standpunkte  bezeichnender 
Ausspruch. 

^)  De  la  Physiognomie  et  des  mouvements  d'expression,  1865.  (Das  Werk  ist 
nach  dem  Tode  des  Verf.s  herausgegeben.) 


Versuche  einer  psychologischen  Theorie. 


Daß  diese  Theorie  insofern  eine  psychologische  ist,  als  sie  aus- 
schließlich den  psychischen  Wert  der  Ausdrucksbewegungen  her- 
vorhebt, ist  augenfällig.  Schon  darin  zeigt  sich  jedoch  ihr  mehr 
ästhetischer  als  psychologischer  Charakter,  daß  sie  nur  auf  die 
geistige  Bedeutung  dieser  Erscheinungen  hinweist,  ihre  Motive, 
den  Zusammenhang  ihrer  psychischen  Bedingungen  im  Dunkeln 
läßt  oder  darüber  mindestens  keine  befriedigende  Auskunft  gibt. 
Sagt  man  z.  B.,  der  Zornige  drücke  den  tätlichen  Angriff  auf  einen 
Feind  symbolisch  aus,  so  entspricht  das  wohl  dem  objektiven  ästhe- 
tischen Eindruck  auf  den  Zuschauer,  schwerlich  aber  dem  wirklichen 
Vorgang,  wie  er  sich  in  der  Seele  des  Erzürnten  abspielt.  Ähnlich 
verhält  es  sich  mit  den  zur  Erklärung  der  mimischen  Bewegungen 
herbeigezogenen  Beziehungen  auf  imaginäre  Gegenstände.  Hier 
hat  namentlich  Piderit  durch  seine  verständnisvolle  Analyse  dieser 
Bewegungen  unleugbar  auch  die  psychologische  Deutung  gefördert. 
Daß  dieselben  in  engster  Beziehung  zu  den  Funktionen  der  am 
Kopfe  vereinigten  Organe  der  vier  Spezialsinne  stehen,  und  daß 
Lustgefühle  jeder  Art  mit  Bewegungen  verbunden  sind,  die  ange- 
nehmen, Unlustgefühle  mit  solchen,  die  unangenehmen  Sinnesein- 
drücken entsprechen,  dies  erkannt  zu  haben,  bleibt  ein  nicht  zu 
unterschätzendes  Verdienst  der  symbolistischen  Theorie.  Freilich 
muß  aber  auch  hier  wieder  gesagt  werden,  daß  die  Beziehung 
auf  »imaginäre  Sinneseindrücke <  noch  keine  psychologische  Deu- 
tung ist.  Die  Erinnerung  an  die  Metaphern  der  Sprache  kann  um 
so  weniger  als  eine  solche  gelten,  weil  diese  Metaphern  selbst  ver- 
mutlich erst  aus  der  Wahrnehmung  der  Ausdrucksbewegungen  her- 
vorgegangen sind  (vgl.  unten  V,  5).  Das  Wort  »symbolisch«  bringt 
also  nur  die  beobachteten  Tatsachen  unter  einen  allgemeinen  und 
in  den  einzelnen  Fällen  selbst  erst  der  psychologischen  Erklärung 
bedürftigen  ästhetischen  Begriff'). 

Hiernach  könnte  man  vermuten,  es  sei  nur   erforderlich,   den  in 


')  Bezeichnend  für  diese  ästhetische  Bedeutung  und  freilich  auch  für  die  Ver- 
wechselung ästhetischer  Betrachtung  und  psychologischer  Analyse  ist  es,  wenn 
der  hervorragendste  unter  den  neueren  Vertretern  der  symbolistischen  Ästhetik, 
F.  Th.  Vischer,  in  einer  von  Piderit  mitgeteilten  Briefstelle  das  von  diesem  aufgestellte 
Prinzip  der  >unbewußt  übertragenden  Symbolik«  das  »einzig  wahre  leitende  Prinzip 
im  Gebiet  der  Mimik«  nennt.     (Piderit  a.  a«  O.  S.  17.) 


88  Die  Ausdrucksbewegungen. 


diesem  Prinzip  ausgesprochenen  ästhetischen  Gedanken  psycholo- 
gisch umzuformen  oder  in  seinen  psychologischen  Wurzeln  bloß- 
zulegen, um  zu  einer  haltbaren  Deutung  der  Erscheinungen  zu 
gelangen.  In  der  Tat  mag  das  für  die  meisten  mimischen  Be- 
wegungen bis  zu  einem  gewissen  Grade  richtig  sein.  Aber  es  gilt 
keineswegs  für  alle  Ausdrucksbewegungen,  da  es  eben  solche  gibt 
—  man  erinnere  sich  nur  an  die  Äußerungen  des  Schrecks  oder 
an  das  Erröten  bei  der  Scham  — ,  wo  die  Unterordnung  unter  den 
Begriff  des  Symbols  auch  im  ästhetischen  Sinne  gezwungen  oder 
gänzlich  unzureichend  sein  würde.  Dazu  kommt  noch  ein  anderer, 
allgemeinerer  Gesichtspunkt.  Jede  psychologische  Theorie  der  Aus- 
drucksbewegungen nimmt,  da  diese  Bewegungen  körperliche,  an 
bestimmte  physiologische  Bedingungen  geknüpfte  Erscheinungen 
sind,  notwendig  einen  ihrem  Gegenstand  nicht  adäquaten  Stand- 
punkt ein.  Mag  sie  darum  in  die  psychischen  Vorgänge,  die  jene 
physischen  Symptome  begleiten,  noch  so  tief  eindringen,  über 
die  Symptome  selbst  kann  sie  keine  zureichende  Rechenschaft 
geben.  Denn  es  ist  an  und  für  sich  ebenso  unmöglich,  diese  aus- 
schließlich aus  dem  psychischen  Inhalt  der  Affekte  abzuleiten,  wie 
es  für  die  physiologische  Theorie  unmöglich  ist,  aus  den  Inner- 
vationszuständen,  welche  die  Ausdrucksbewegungen  begleiten,  deren 
psychische  Bedeutung  zu  begreifen. 

Diese  Erwägungen  führen  bei  dem  engen  Zusammenhang,  in 
dem  hier  die  körperlichen  und  die  seelischen  Bestandteile  der  Vor- 
gänge zueinander  stehen,  unvermeidlich  zu  dem  Schlüsse,  daß  über- 
haupt weder  eine  rein  physiologische  noch  eine  rein  psychologische 
Theorie  der  Ausdrucksbewegungen  Aussicht  auf  Erfolg  haben  wird. 
Eine  physiologische  nicht,  weil  der  Affekt  als  unmittelbares  seelisches 
Erlebnis  durch  keine  körperliche  Begleiterscheinung,  wäre  uns  diese 
selbst  noch  so  bekannt,  ersetzbar  ist.  Eine  psychologische  nicht, 
weil  die  Ausdrucksbewegungen  physische  Funktionen  sind  und  da- 
her auch  in  ihrer  Bedeutung  für  die  psychische  Seite  der  Vor- 
gänge nur  mittelst  des  physischen  Zusammenhangs,  in  dem  sie  stehen, 
richtig  gewürdigt  werden  können.  In  der  Tat  finden  sich  bei  un- 
befangener Betrachtung  der  Erscheinungen  keinerlei  Gründe,  die  es 
rechtfertigen  könnten,  in  dem  Gesamtbilde  seelischer  und  körper- 
licher Vorgänge,  das  uns  ein  Affekt  darbietet,  einem  dieser  Bestand- 


Versuche  einer  psychologischen  Theorie.  gg 

teile  die  zeitliche  Priorität  vor  dem  andern  einzuräumen.  Wenn  die 
gewöhnliche  Auffassung  die  Gemütsbewegung  als  das  Vorangehende, 
ihre  körperlichen  Symptome  als  das  Nachfolgende  ansieht,  so  hat 
sie  darin  natürlich  recht,  insoweit  es  sich  nur  um  die  äußeren,  sicht- 
baren Symptome  handelt.  Damit  ist  aber  nicht  gesagt,  daß  auch 
die  zentralen  Innervationsvorgänge,  deren  Wirkungen  erst  jene  Symp- 
tome sind,  später  als  die  Affekte  selbst  wären.  Vielmehr  spricht 
alle  Wahrscheinlichkeit  dafür,  daß,  sobald  wir  auf  diese  zentralen 
Prozesse  selbst  zurückgehen,  der  Affekt  und  seine  physischen 
Korrelaterscheinungen  gleichzeitig  beginnen,  und  daß  sie  ebenso 
in  ihrem  weiteren  Verlauf  einander  zugeordnet  sind.  Damit  ist 
schon  gesagt,  daß  auch  die  entgegengesetzte  Auffassung,  wonach 
der  physische  Vorgang  der  Zeit  nach  das  Erste,  der  Affekt  aber 
das  Nachfolgende  sein  soll,  keinerlei  Stütze  in  der  Erfahrung  findet. 
In  Wahrheit  sind  Affekt  und  Ausdrucksbewegung  zusammen  ein 
einziger  psychophysischer  Vorgang,  den  wir  erst  auf  Grund 
einer  durch  die  Erfahrung  geforderten  Analyse  und  Abstraktion  in 
jene  zwei  Bestandteile  sondern.  Die  Motive,  aus  denen  diese  Zer- 
legung entspringt,  bringen  es  dann  freilich  mit  sich,  daß  bei  der 
Betrachtung  der  Affekte  selbst  wie  der  Ausdrucksbewegungen  das 
Hauptgewicht  unseres  Interesses  auf  die  psychologische  Seite  fällt. 
Denn  die  Bedeutung  der  Ausdrucksbewegungen  wird  für  uns  alle- 
zeit wesentlich  darin  bestehen,  daß  sie  Symptome  seelischer  Vor- 
gänge sind'). 


^)  In  der  Voranstellung  des  psychologischen  Gesichtspunktes  stimmt  mit  den 
folgenden  Ausführungen  ein  gleichzeitig  mit  der  i.  Auflage  dieses  Bandes  erschie- 
nenes Werk  von  Henry  Hughes  überein  (Die  Mimik  des  Menschen  auf  Grund  vo- 
luntarischer  Psychologie,  mit  119  Abb.  1900).  Dasselbe  enthält  im  einzelnen  be- 
merkenswerte Ergänzungen,  namentlich  zu  den  Beobachtungen  Piderits.  Seine  Theorie 
der  mimischen  Bewegungen  gründet  der  Verf.  auf  eine  eigentümliche  psychophysische 
Theorie  des  Willens  und  der  Gefühle,  die  gewissermaßen  eine  Umkehrung  der  oben 
)S.  37  ff.)  entwickelten  Auffassung  ist,  da  ihm  der  Willensvorgang  nicht  ein  Gefühls- 
verlauf, sondern  jedes  Gefühl  ein  aus  Willenselementen  zusammengesetzter  kom- 
plexer Vorgang  Ist  (S.  210  ff.).  Es  scheint  mir  aber  nicht,  daß  diese  Theorie  mit 
den  Beobachtungen  über  den  Verlauf  der  Willensvorgänge,  wie  sie  vornehmlich  bei 
den  »Reaktionsversuchen«  auszuführen  sind,  in  Einklang  gebracht  werden  kann.  (Vgl. 
Grundzüge  der  physiol.  Psychol.s  Bd.  3,  S.  250  ff.) 


üO  Die  Ausdrucksbewegungen. 


4.    Allgemeinstes  psychophysisches  Prinzip  der  Ausdrucks- 
bewegungen. 

Sucht  man  in  dem  angegebenen  Sinne  die  Ausdrucksbewegungen 
in  erster  Linie  als  psychophysische  Funktionen,  in  zweiter,  in  An- 
betracht ihrer  allgemeinen  Bedeutung,  als  Merkmale  psychischer 
Vorgänge  zu  verstehen,  so  wird  nun  von  vornherein  darauf  zu  ver- 
zichten sein,  daß  man  sie  irgendwelchen  spezifischen  Prinzipien 
unterordne.  Vielmehr  wird  hier  lediglich  das  allgemeinste  Prinzip 
psychophysischen  Inhalts,  nach  dem  mit  jeder  Veränderung 
psychischer  Zustände  zugleich  Veränderungen  physischer 
Korrelatvorgänge  verbunden  sind,  auch  für  die  Ausdrucks- 
bewegungen und  die  Seelenzustände  gelten,  als  deren  Symptome 
wir  jene  auffassen. 

Nun  bilden,  wie  mehrfach  hervorgehoben  wurde,  in  dem  ge- 
samten Tatbestand  unserer  subjektiven  Erfahrung  die  Gefühle  und 
Affekte  oder,  da  die  Gefühle  nur  als  Bestandteile  von  mehr  oder 
minder  ausgebildeten  Affekten  vorkommen,  die  Affekte  diejenige 
Seite  des  Seelenlebens,  als  deren  physische  Begleiterscheinungen 
wir  die  Ausdrucksbewegungen  und  die  sie  erzeugenden  Innerva- 
tionsvorgänge  betrachten  müssen.  Daraus  ergibt  sich  ohne  Avei- 
teres,  daß  eine  nähere  Analyse  dieser  Bewegungen  nur  in  steter 
Beziehung  zur  Analyse  der  entsprechenden  Affekte  selbst  vorge- 
nommen werden  kann.  Die  letzten  leitenden  Gesichtspunkte  werden 
aber  den  Elementen  des  Affekts,  den  ihn  zusammensetzenden  ein- 
fachen Gefühlen,  zu  entnehmen  sein.  Damit  sind  wir  wiederum  auf 
jene  fundamentalen  Eigenschaften  hingewiesen,  die  jedem  noch  so 
einfachen  Gefühl  als  seine  näheren  Bestimmungen  zukommen,  und 
die  sich  daher  auch  in  jedem  Affekt  in  irgendeiner  Weise  wieder- 
finden. Dieser  Eigenschaften  gibt  es  im  ganzen  drei.  Zwei  von 
ihnen  sind  dem  Gefühl  als  solchem  eigen,  unabhängig  von  seinem 
Zusammenhange  mit  andern  Bewußtseinsvorgängen;  die  dritte  ent- 
steht durch  seine  Beziehung  zu  den  objektiven  Inhalten  unserer 
unmittelbaren  Erfahrung.  Die  beiden  ersten  nennen  wir  die  In- 
tensität und  die  Qualität  des  Gefühls;  die  dritte  können  wir  als 
seine  Vorstellungsverbindung  oder,    da    solche    Verbindungen 


Ausdrucksbewegungen  starker  Affekte.  gi 

regelmäßige  Inhalte  der  Affekte  bilden,  als  seinen  Vorstellungs- 
inhalt bezeichnen.  Auf  diese  Weise  gewinnen  wir  drei  Klassen 
von  Ausdrucksbewegungen  oder  vielmehr,  da  im  allgemeinen  diese 
Klassen  nicht  getrennt  voneinander  vorkommen,  sondern  jede  Aus- 
drucksform in  jede  von  ihnen  gehören  kann,  drei  Richtungen 
von  Ausdruckserscheinungen.  Wir  wollen  sie  kurz  die  In- 
tensitäts-',  die  Oualitäts-  und  die  Vorstellungsäußerungen 
der  Affekte  nennen.  Innerhalb  jeder  dieser  Richtungen  findet  sich 
eine  Fülle  einzelner  Formen,  die  durch  mannigfaches  Übereinander- 
greifen  der  Symptome  und  durch  die  Koexistenz  von  Erscheinungen 
verschiedener,  ja  entgegengesetzter  Art  noch  beträchtlich  vermehrt 
wird.  Eine  eingehende  Betrachtung  auch  nur  der  hauptsächlichsten 
würde  von  dem  nächsten  Zwecke  dieses  Werkes  allzuweit  abliegen. 
Es  kann  sich  daher  im  folgenden  nur  darum  handeln,  bei  jeder 
der  genannten  Klassen  die  Gesichtspunkte  hervorzuheben ,  die  für 
das  allgemeine  Problem  der  Ausdrucksbewegungen  und  damit  zu- 
gleich für  das  Problem  der  Sprache  von  Bedeutung  sind. 


IV.  Intensitätsäußerungen  der  Affekte. 

I.    Ausdrucksbewegungen  starker  Affekte. 

Die  erste  und  allgemeinste  Eigenschaft,  die  uns  die  Intensitäts- 
äußerungen der  Affekte  darbieten,  ist  die,  daß  sie  sich  zwischen 
den  Gegensätzen  der  Erregungs-  und  Hemmungssymp- 
tome bewegen,  wobei  die  letzteren  keineswegs  in  einer  bloßen  Ab- 
nahme oder  Aufhebung  der  Erregung,  sondern,  ebenso  wie  diese, 
in  einem  positiven,  nur  in  entgegengesetztem  Sinn  auf  die  Muskeln 
einwirkenden  Innervationsvorgange  bestehen.  Die  Bedingung  zu 
diesem  gegensätzlichen  Charakter  der  Ausdruckssymptome  liegt 
aber  darin,  daß,  wie  das  Herz,  so  auch  die  äußeren  Körpermuskeln 
im  Zustande  der  Affektlosigkeit  oder  unmerklicher  Affektwirkungen 
immer  noch  eine  dauernde  tonische  Erregung  zeigen,  von  welchem 
Indifferenzpunkt  aus  nun  Innervationen  nach  entgegengesetzten 
Richtungen  stattfinden  können.     (Vgl.  oben  S.  66.) 

Am  reinsten,  verhältnismäßig  unvermischt  mit  Qualitäts-  und 
Vorstellungssymptomen,  lassen  sich  diese  Intensitätsäußerungen  bei 


Q2  Die  Ausdrucksbewegungen. 


sehr  starken  Affekten  beobachten,  weil  hier  durch  die  gesteigerten 
Erregungs-  oder  Hemmungswirkungen  alle  sonstigen  Erscheinungen 
verwischt  oder  verdeckt  werden.  Solche  reine  Intensitätssymptome 
können  wir  daher  als  »Ausdrucksbewegungen  starker  Affekte« 
bezeichnen.  Sie  bilden  wegen  ihrer  relativ  unvermischten  Be- 
schaffenheit zugleich  den  zweckmäßigsten  Ausgangspunkt  für  das 
Studium  dieser  Ausdrucksformen.  Der  Gegensatz  der  Erregung 
und  Hemmung  ist  aber  bei  ihnen  stets  an  Gradunterschiede  der 
Affekte  gebunden,  so  daß  wir  sie  wieder  in  Intensitätsäußerungen 
starker  und  in  solche  stärkster  Affekte  unterscheiden  können.  Bei 
jenen  wird  die  Erregungsinnervation  in  die  Nähe  ihres  Maximums 
gehoben;  bei  diesen  besteht  eine  mehr  oder  minder  ausgebreitete 
Hemmungsinnervation.  Die  Grenze,  wo  die  erste  in  die  zweite 
Form  übergeht,  wechselt  beträchtlich  nach  den  besonderen  Be- 
dingungen; in  jedem  einzelnen  Falle  scheint  sie  aber  eine  ziemlich 
scharfe  zu  sein,  so  daß  plötzlich  die  höchste  Erregung  in  eine  fast 
momentane  und  oft  ausgebreitete  Hemmung  überspringt.  Am  deut- 
lichsten ist  das  beim  Herzen  zu  verfolgen,  dessen  Pulsationen  bei 
starken  Affekten,  wie  Schreck,  Angst,  Wut,  zunächst  in  ihrer  Fre- 
quenz enorm  gesteigert  werden  können,  worauf  dann  sehr  bald  ein 
plötzlicher  Abfall  der  Höhe  der  Pulskurve  oder  selbst  Herzstillstand 
eintritt.  Dieser  Erscheinungsfolge  entsprechen  vollkommen  die 
eigentlichen  Ausdrucksbewegungen,  jedoch  mit  der  besonderen 
Eigentümlichkeit,  daß  die  Erregung  vorwiegend  eine  »klonische«, 
die  Hemmung  eine  »tonische«  Innervation  ist.  Starke  Affekte  der 
Freude,  des  Zorns,  der  Angst,  der  Sorge  äußern  sich  in  raschen 
und  wechselnden  Bewegungen,  denen,  wie  die  psychischen  Er- 
scheinungen lehren,  ähnliche  explosive  Erregungsvorgänge  der 
höheren  Nervenzentren  entsprechen.  Auch  der  Verlauf  der  Gefühle 
und  Vorstellungen  wird  nämlich  ein  beschleunigter,  oft  ein  so 
stürmisch  beschleunigter,  daß  darin  schon  für  das  unmittelbare 
Erleben  der  Affekte  eine  Nötigung  zu  plötzlichem  Stillstande  mit 
der  Wirkung  eines  der  Bewußtlosigkeit  sich  nähernden  Zustandes 
oder  wirklicher  Bewußtlosigkeit  liegt.  Nach  dem  formalen  Charakter 
der  Symptome  bietet  sich  also  hier  auf  psychischer  Seite  genau 
dasselbe  Bild,  das  die  Pulskurve  in  den  obenerwähnten  verschie- 
denen Phasen  ihres  Verlaufs  zeigt.     Nur  in  dem  einen  Punkt  unter- 


Ausdrucksbewegungen  starker  Affekte.  g^ 

scheidet  sich  jener  psychische  Verlauf,    daß   er  in  außerordentlich 
mannigfaltiger  Weise  qualitativ    gefärbt    sein  kann,    indem  jeder 
konkrete  Affekt  aus  seinen  besonderen  Gefühlen  und  Vorstellungen 
besteht,  die  ihn  von  jedem  andern,  formal  noch  so  ähnlichen  unter- 
scheiden, während  die  Herzsymptome,   eben  weil   sie  bloße  Inten- 
sitätserscheinungen ohne  qualitative  Nebenbestimmungen  sind,    nur 
diesen  formalen  Verlauf  widerspiegeln.     Dagegen  zeigen  die  äußern 
Körperbewegungen  ein  mittleres  Verhalten:    sie  sind,  wie  die  Herz- 
bewegungen,  in  Energie  und  Geschwindigkeit  nach  der  Stärke  des 
Affekts  intensiv   abgestuft;    und  sie   lassen  zugleich   zwar  nicht  die 
konkrete    Besonderheit   des    Affekts,    aber    doch    seine    allgemeine 
Gefühlsrichtung  und  einzelne  besonders  hervortretende  Vorstellungs- 
bestandteile deutlich  erkennen.     Diese  Erscheinungen    gehören   je- 
doch   schon   zu    den    nachher    zu    erörternden    Qualitäts-  und  Vor- 
stellungsäußerungen,   die    auf   dieser    ersten    Stufe,    derjenigen    der 
»starken  Affekte«,   noch   die  reinen   Intensitätssymptome   begleiten. 
Solche  qualitative  Nebenbestimmungen  treten  nun  in  dem  Maße 
zurück,  als  sich  die  »starke«   der  »stärksten«  Affektäußerung  nähert. 
Ist   sie   in  diese  übergegangen,    so  tritt   plötzlich    statt   der  bisher 
vorhandenen  Erregungsinnervation   die  Hemmung  hervor,    in  deren 
Folge    die   an   der    Affektäußerung   beteiligten    Muskeln    nicht    nur 
momentan    erschlaffen,    sondern    für    eine    längere,    je    nach    der 
Stärke  des   Affekts   wechselnde   Zeit  im  erschlafften  Zustande  ver- 
harren,  um  dann   nicht   plötzlich,    sondern   allmählich    wieder   den 
normalen    Erregungstonus    zu    gewinnen.      Alle   diese   ;Hemmungs- 
erscheinungen  werden  um  so  mehr,  je  intensiver  und  ausgebreiteter 
sie  sind,  zu  bloßen,   gegenüber  dem   qualitativen  Inhalt  der  Affekte 
indifferenten    Intensitätssymptomen.     Bei    jenen    seltenen    äußersten 
Graden   der  Gemütsbewegung,    wo    der  Körper  jäh   und    blitzartig 
von   einem   Hemmungsstoß    getroffen   zusammensinkt,   sind   so    die 
Äußerungen     der    verschiedensten    Affekte,     der    übermächtigsten 
Freude,    der  Wut,    der    höchsten    Angst,    des    Schrecks,    überein- 
stimmend.     Kann  man  auch   das  Bild   des   Schrecks    als   diejenige 
Form   betrachten,    der   sich  die  andern   Gemütsbewegungen   zuerst 
nähern,  um  dann  ganz  in  sie  überzugehen,   so   ist  dies  doch  offen- 
bar  nur   darin   begründet,    daß   der  Schreck  vermöge   seiner  Ent- 
stehungsbedingungen schon  bei  relativ  unbedeutenden  Ursachen  ein 


g/1  Die  Ausdrucksbewegungen. 


Afifekt  von  stark  hemmendem  Charakter  ist.  Übrigens  ist  auch 
diese  Gleichförmigkeit  der  Hemmungserscheinungen  nicht  auf  die 
Ausdrucksbewegungen  beschränkt,  sondern  sie  erstreckt  sich  nicht 
minder  auf  die  psychische  Symptomenreihe;  und  die  plötzliche 
Hemmung  des  Vorstellungs-  und  Gefühlsverlaufs,  die  hier  ein- 
tritt, läßt  der  Natur  der  Sache  nach  ebensfalls  keine  qualitativen 
Unterschiede  zu.  Man  kann  daher  diese  Tatsache  mit  ihren  sämt- 
lichen Teilerscheinungen  in  den  Satz  zusammenfassen:  alle  Affekte 
gehen  beim  äußersten  Grad  in  einen  einzigen  intensivsten  Affekt 
von  schreckhaftem  Charakter  über,  und  ihr  innerer  Verlauf  wie  ihre 
äußeren  Symptome  werden  von  diesem  Punkt  an  gleichförmig. 

2.    Beteiligung  einzelner  Muskelgebiete  an  den 
Intensitätssymptomen. 

An  den  geschilderten  Erregungs-  und  Hemmungssymptomen 
pflegen  keineswegs  alle  Körpermuskeln  gleichmäßig  teilzunehmen. 
Abgesehen  von  dem  Herzen  und  den  muskulösen  Wandungen  der 
Blutgefäße,  die  hier  als  innere  muskulöse  Organe  eine  eigenartige 
Stellung  einnehmen  (vgl.  unten  3),  sind  es  in  erster  Linie  die 
Atmungs-  sowie  überhaupt  solche  Muskeln,  die  gleich  ihnen  in 
wechselnder  Tätigkeit  geübt  sind,  welche  die  Intensitätssymptome 
der  Affekte  erzeugen.  Aus  der  Gesamtheit  der  äußeren  Körper- 
muskeln treten  dann  aber  wieder  drei  Gruppen  durch  die  beson- 
dere symptomatische  Bedeutung  ihrer  Wirkungen  hervor:  die  mimi- 
schen Muskeln  des  Angesichts,  die  pantomimischen  Muskeln,  die 
der  Bewegung  der  Arme  und  Hände  dienen,  und  endlich  die  Mus- 
keln der  Gehwerkzeuge.  Diese  drei  Gruppen  bilden  zugleich  eine 
symptomatische  Intensitätsskala,  indem  die  Bewegungen  um  so  mehr, 
einer  je  weiter  voranstehenden  Gruppe  sie  angehören,  nicht  mehr 
reine  Intensitäts-,  sondern  zugleich  Qualitäts-  und  Vorstellungs- 
äußerungen sind.  So  spiegelt  sich  in  den  mimischen  Bewegungen 
in  der  Regel  nur  neben  den  vor  allem  hervortretenden  qualitativen 
Gefühlsmerkmalen  auch  der  Grad  des  Affekts.  Mehr  sind  schon 
die  Gebärden  der  Arme  und  Hände,  wenn  nicht  ein  aus  bestimmten 
Ursachen  entstehender  Trieb  nach  Mitteilung  hinzukommt,  Zeichen 
gesteigerten  Affekts.     Die  Muskeln  der  Gehwerkzeuge  aber  werden 


Beteiligung  einzelner  Muskelgebiete  an  den  Intensitätssymptomen.  g^ 

im  allgemeinen  erst  bei  den  stärksten  Affekten  in  Anspruch  ge- 
nommen, und  sie  sind  dann  fast  reine  Intensitätssymptome.  Gerade 
bei  den  stärksten  Affekten  ist  die  hemmende  Wirkung  auf  diese 
Muskeln,  mag  sie  sich  nun  als  bloße  Empfindung  der  Ermattung 
oder  als  lähmungsartige  Schwäche  oder  endlich  bei  den  äußersten 
Graden  als  wirkliche,  das  momentane  Zusammenbrechen  des  Kör- 
pers verursachende  Lähmung  äußern,  die  subjektiv  wie  objektiv  am 
meisten  hervortretende  Affekterscheinung.  Übrigens  steigern  sich 
bei  diesem  Hinzutreten  der  sonst  an  der  Affektäußerung  unbe- 
teiligten Muskelgebiete  immer  auch  die  bei  minder  ausgebreiteten 
Wirkungen  vorhandenen  Symptome,  und  diese  gewinnen  die  näm- 
liche, mit  der  Stärke  des  Affekts  zunehmende  Unabhängigkeit  von 
der  besonderen  Qualität  der  seelischen  Zustände.  So  können  schon 
bei  starken,  aber  noch  nicht  übermäßigen  Affekten  die  heftigeren 
mimischen  und  noch  mehr  die  pantomimischen  Bewegungen  die 
besonderen  Färbungen  der  Gemütsvorgänge  zurücktreten  lassen ; 
und  bei  den  stärksten  Affekten  ist  namentlich  die  lähmungsartige 
Erschlaffung  der  Gesichtsmuskeln  eine  charakteristische  Teilerschei- 
nung der  allgemeinen  Hemmung. 

Im  Gegensatz  zu  diesen  intensivsten  Affektäußerungen,  bei  denen 
alle  besonderen  Nuancen  des  Ausdrucks  verschwinden,  bietet  bei 
schwächeren  Gemütsbewegungen  speziell  das  Gebiet  der  mimischen 
Bewegungen  nicht  selten  das  Schauspiel  einer  mannigfaltigen  Ver- 
bindung verschiedener  und  selbst  entgegengesetzter  Symptome  — 
eine  Folge  jener  weitgehenden  Sonderung  der  einzelnen  Innervations- 
gebiete,  die  vor  allem  dem  Nervus  facialis  eigen  ist  (S.  6g).  Dem 
entspricht  es  ganz,  daß  die  um  die  einzelnen  Sinnesorgane  ge- 
lagerten Muskeln,  insbesondere  die  um  Auge  und  Mund,  in  hohem 
Grad  unabhängig  voneinander  innerviert  werden  können,  und  daß 
nicht  selten  selbst  die  symmetrischen  Muskelregionen  beider  Ge- 
sichtshälften verschiedene,  ja  entgegengesetzte  Erscheinungen  dar- 
bieten. In  den  Bereich  der  Intensitätsäußerungen  der  Affekte  fallen 
jedoch  diese  Wirkungen  nur  insofern,  als  sie  in  Kombinationen  von 
Erregungs-  und  Hemmungssymptomen  bestehen,  die  immer  zu- 
gleich qualitative  Merkmale  gewisser  gemischter  Affekte  sind.  So  ist 
die  plötzliche  Hemmung  der  Innervation  der  Wangen-  und  Mund- 
muskeln ein  sehr  ausgeprägter  Zug,  der  bei  manchen  Personen  jede 


g  6  I^ie  Ausdrucksbewegungen. 


auch  nur  leiseste  Regung  eines  deprimierenden  oder  erregenden 
Affekts  begleitet,  also  bei  Sorge,  Kummer  ebensowohl  wie  bei  Er- 
staunen, Verwunderung,  Neugierde  vorkommt,  und  der  mit  lebhaften 
und  je  nach  den  besonderen  Bedingungen  wieder  qualitativ  nuan- 
cierten Erregungssymptomen  der  das  Auge  und  seine  Umgebung 
bewegenden  Muskeln  verbunden  zu  sein  pflegt.  Auf  solche  Weise 
reichen  diese  kombinierten  Erscheinungen,  in  denen  sich  der  ge- 
mischte oder  kontrastierende  Charakter  gewisser  Affekte  spiegelt, 
bereits  in  das  Gebiet  der  Qualitätsäußerungen  hinüber. 

3.   Vasomotorische  Intensitätssymptome. 

Zu  den  an  den  äußeren  Körpermuskeln  hervortretenden  Symp- 
tomen bilden  die  oben  (S.  46  ff.)  erörterten  Innervationsänderungen 
des  Herzens  und  der  kleineren  arteriellen  Gefäße  Begleiterschei- 
nungen, die  auch  insofern  eine  eigentümliche  Stellung  einnehmen, 
als  sie,  im  Gegensatze  zu  der  in  der  Regel  gemischten  Natur  nament- 
lich der  mimischen  und  der  pantomimischen  Bewegungen,  durch  alle 
Stufen  der  Affektäußerung  hindurch  den  Charakter  reiner  Inten- 
sitätssymptome bewahren.  Dabei  ist  allerdings  dieser  Ausdruck 
nicht  so  zu  verstehen,  als  wenn  nicht  auch  hier  aus  der  eigentüm- 
lichen Kombination  der  Erscheinungen  irgendwie  auf  die  Qualität 
des  Affekts  zurückgeschlossen  werden  könnte.  Vielmehr  haben  wir 
ja  speziell  für  die  Herzbewegungen  solche  Beziehungen  kennen 
gelernt.  Ebenso  ist  das  vasomotorische  Symptom  des  Errötens 
in  der  eigentümlichen  Beschränkung,  in  der  es  bei  der  Scham 
und  der  Verlegenheit  vorkommt,  für  diese  Affekte  kennzeichnend. 
Trotzdem  ist  es  augenfällig,  daß  diese  Innervationsänderungen  nicht 
in  ähnlicher  Weise  eindeutige  Merkmale  der  Qualität  bestimmter 
Gefühle  und  Affekte  sind  wie  die  Mimik  des  Mundes  und  des 
Auges,  oder  wie  in  anderem  Sinn,  in  der  Beziehung  auf  irgend- 
welche Vorstellungen,  die  Gebärden  der  Arme  und  Hände.  Der 
Grund  dieses  Unterschiedes  liegt  offenbar  darin,  daß  es  immer  nur 
eine  eigentümliche  Kombination  an  sich  rein  intensiver  Symptome 
ist,  die  den  vasomotorischen  Erscheinungen  den  Wert  von  quali- 
tativen Merkmalen  verleihen  kann.  Wir  werden  daher  zu  dem 
Schluß  gedrängt,   daß   die  vasomotorischen  Erregungen  eine  quali- 


Vasomotorische  Intensitätssymptome.  q^ 

tative  Bedeutung  immer  erst  sekundär,  durch  die  besonderen  In- 
tensitätsmerkmale, die  bestimmte  Gefühle  und  Affekte  in  ihrem  zeit- 
lichen Verlauf  darbieten,  gewinnen  können.  Mit  anderen  Worten: 
die  Herz-  und  Gefäßinnervation  bleiben  reine  Intensitätssymptome, 
aber  die  Verteilung  der  Intensitätsschwankungen  der  Ge- 
fühle in  der  Zeit  ist  zugleich  für  jede  qualitative  Klasse  von  Ge- 
fühlen eine  besondere,  im  wesentlichen  ihr  allein  eigentümliche,  und 
die  aus  dieser  Verteilung  entspringenden  Merkmale  besitzen  so 
neben  ihrem  intensiven  einen  qualitativen  Wert. 

Betrachtet  man  unter  diesem  Gesichtspunkt  die  vasomotorischen 
Erscheinungen,  so  springt  in  die  Augen,  daß  sie  sich  sämtlich  zu- 
nächst auf  die  zwei  gegensätzlichen  Reizwirkungen  zurückführen 
lassen,  die  überhaupt  alle  Intensitätsäußerungen  der  Affekte  beherr- 
schen: auf  Erregung  und  Hemmung.  Beide  in  ihrem  einfachen 
Gegensatz  treten  bei  der  Innervation  der  Gefäße  in  der  Verenge- 
rung und  Erweiterung  des  Gefäßlumens  hervor,  jene  ein  Erregungs-, 
diese  ein  Hemmungssymptom.  Verwickelter  verhält  es  sich  bei  der 
Herzinnervation,  wo  infolge  der  besonderen  Einrichtungen  des 
regulatorischen  Nervensystems  Erregung  wie  Hemmung  in  zwei 
Formen  in  die  Erscheinung  treten  können :  erstens  als  Zu-  und  Ab- 
nahme der  Höhe  der  Pulswelle;  zweitens  als  Beschleunigung  und 
Verlangsamung  (Verkürzung  und  Verlängerung)  derselben.  Hier- 
nach werden  wir  speziell  für  die  Herzerscheinungen  voraussetzen 
dürfen,  daß  sie,  als  reine  Intensitätssymptome  aufgefaßt,  in  doppelter 
Weise  für  die  quantitativen  Eigenschaften  der  Affekte  charakteristisch 
sind:  erstens  in  der  Beschaffenheit  der  einzelnen  Herzkontraktionen 
oder  der  ihnen  entsprechenden  Pulswellen  für  die  Intensität  des 
Gefühlsinhaltes;  und  zweitens  in  dem  zeitlichen  Verlauf  der  Puls- 
bewegungen für  die  extensiven  zeitlichen  Eigenschaften  der  Ge- 
mütsbewegung. In  beiden  Beziehungen  oszilliert  dann  wieder  die 
Veränderung  zwischen  den  Gegensätzen  der  Erregung  und  Hem- 
mung; und  es  können  nicht  bloß  diese  intensiv  und  extensiv  zu- 
sammentreffen, sondern  es  kann  sich  auch  eine  intensive  Erregung 
mit  einer  extensiven  Hemmung  verbinden,  und  ebenso  umgekehrt. 
Nun  ist  es  augenfällig,  daß  unter  den  drei  allgemeinen  Gefühls- 
dimensionen, die  uns  die  psychologische  Analyse  der  Affekte  unter- 
scheiden ließ,  die  der  Erregung  und  Beruhigung  [IE  und  ID  Fig.  i 

Wundt,  Völkerpsychologie!,  i.     2.  Aufl.  7 


Die  Ausdrucksbewegungen. 


S.  44)  dem  Gegensatz  der  physiologischen  Erregungs-  und  Hem- 
mungsinnervation  am  unmittelbarsten  entspricht.  Scheinen  doch  in 
diesem  Fall  die  letzteren  nur  die  auf  das  physische  Gebiet  über- 
tragenen Kontraste  der  psychischen  Zustände  selbst  zu  sein.  So 
ist  denn  auch  in  intensiver  Beziehung  unzweifelhaft  die  gesteigerte 
psychische  Erregung  durch  Erhöhung,  die  herabgesetzte  durch  Er- 
niedrigung der  Pulswelle  gekennzeichnet,  wogegen  analoge  extensive 
Innervationsänderungen ,  Beschleunigung  und  Verlangsamung  der 
Herzbewegungen,  erst  bei  den  höheren  Graden  gehobener  und  depri- 
mierter Stimmung  hinzuzutreten  scheinen.  Diese  zu  den  physiolo- 
gischen Symptomen  in  nächster  Beziehung  stehenden  Gefühlsrich- 
tungen der  Erregung  und  Beruhigung  sind  aber  zugleich  diejenigen, 
die  in  der  Verbindung  der  Gefühle  zu  einem  Affektverlauf  die  we- 
sentlichsten Intensitäts-  und  Verlaufsunterschiede  der  Affekte  kon- 
stituieren. Hierdurch  wird  es  begreiflich,  daß  die  vergleichende 
Betrachtung  der  Affekte  immer  wieder  zu  Einteilungen  geführt  worden 
ist,  die,  wie  die  Ausdrücke  sthenisch  und  asthenisch,  exzitierend  und 
deprimierend,  auf  solche  von  der  sonstigen  Beschaffenheit  der  Ge- 
fühlsinhalte unabhängige  Gegensätze  hinweisen,  und  die  infolgedessen 
ebensowohl  auf  die  physischen  wie  auf  die  psychischen  Symptome 
bezogen  werden  können  —  ein  sprechendes  Zeugnis  dafür,  daß  in 
dieser  Hinsicht  beide  eine  zusammengehörige  Einheit  bilden.  Die 
physische  Erregung  oder  Hemmung  ist  daher  ein  unmittelbares 
Maß  für  die  in  der  Richtung  der  erregenden  und  hemmenden 
Gefühle  liegenden  Komponenten  der  Affekte.  Bei  den  anderen 
Gefühlsrichtungen  verhält  sich  dies  insofern  abweichend,  als  sich 
hier  die  intensiven  und  die  extensiven  Wirkungen  in  verschiedener 
Weise  verbinden  können.  Mit  jeder  solchen  Kombination  steht  aber 
die  besondere  Qualität  des  Gefühls  derart  in  Beziehung,  daß  der 
formale  Charakter,  den  die  Gefühle  dem  Affekt  mitteilen,  zum 
Ausdruck  kommt.  Zugleich  zeigt  es  sich  hierbei,  daß  eben  dieser 
formale  Charakter  es  ist,  der  den  erregenden  und  hemmenden  Ge- 
fühlen in  ihrer  Bedeutung  für  den  Affektverlauf  eine  Art  Suprematie 
über  die  andern  Richtungen  verleiht,  so  daß  auch  diese  nach  ihrer 
formalen  Natur  in  verschiedener  Weise  in  Erregungs-  und  Hemmungs- 
komponenten zerlegt  werden  können.  Insofern  bei  einer  solchen 
formalen  Analyse  der  qualitative  Inhalt  der  Gefühle  unberührt  bleibt, 


Vasomotorische  Intensitätssymptome.  gg 

entspricht  dieses  Ergebnis  der  allgemeinen  Beziehung,  die  sich  über- 
all   zwischen    den    psychischen   Vorgängen    und    ihren    physischen 
Parallelerscheinungen   findet.      Demnach    wird  man   die  gesteigerte, 
aber  verlangsamte  Pulswelle  bei  Lustgefühlen  daraus  ableiten  können, 
daß   die   formale  Affektwärkung   dieser  Gefühle  in  einer  Steigerung 
und  zugleich  in  einem  Festhalten  der  Stimmung  an  dem  lusterregen- 
den  Eindruck  besteht:    daher  die   Verbindung  intensiver  Steigerung 
mit  extensiver  Verzögerung  des  Verlaufs.     Von  entgegengesetztem 
Einfluß  ist  der  Unlustcharakter  der  Gefühle.    Intensiv  entsteht  hier 
Hemmung  der  Erregung,   extensiv  beschleunigter  Verlauf,    der  sich 
in   der  konkreten   Aufeinanderfolge   der  Vorstellungen   und  Affekte 
als  ein  Fliehen   vor   den   unerfreulichen  Eindrücken   darstellt.     End- 
lich   bei    den   Spannungsgefühlen   sind    intensiv  wie   extensiv   nur 
Hemmungen  wirksam,   wie  wir  das  bei  gespannter  Erwartung  psy- 
chologisch  an   der   verminderten    Reizbarkeit  für  äußere  Eindrücke 
und  an  dem  verlangsamten  Vorstellungsverlauf  beobachten.    Bei  der 
Lösung  der  Spannung  bricht  dagegen  in  beiden  Formen  die  Um- 
kehrung   zu    gesteigerter  Erregung  durch,    die,   wie  an    verstärkter 
und  beschleunigter  Herzaktion,    so   auch  auf  der  psychischen  Seite 
des   Vorgangs   an    den    rasch    zuströmenden    und   stark   erregenden 
neuen  Bewußtseinsinhalten  zu  erkennen  ist  (vgl.  Fig.  2 — 7,  S.  46  f.). 
Wesentlich    einfacher    gestaltet    sich    die    Innervation    der 
Blutgefäße,    da  sie   bloß    zwischen   den   Zuständen   der   Kontrak- 
tion   und    der  Dilatation    durch    Hemmung    der    dauernden  Tonus- 
erregung wechselt,   wobei  jedoch   die  verschiedene  Ausbreitung  der 
Symptome    eine    diesem    Gebiet    eigentümliche    extensive    Mannig- 
faltigkeit der  Erscheinungen  bewirken  kann.    Zugleich  sind  es,  viel- 
leicht   im    Zusammenhang    mit   der    überwiegenden  Bedeutung    der 
mimischen    Muskeln    für    den    Ausdruck    der    Affekte,     die    Blut- 
gefäße des  Angesichts,   die   am  empfindlichsten  auf  Reize  jeder  Art 
reagieren.     Erröten  und  Erblassen  bilden   so  die    zwei   den  ent- 
gegengesetzten   Formen    der   erregenden    und    hemmenden   Affekte 
entsprechenden  Symptome.     Ihre  Ausbreitung  folgt  im  allgemeinen 
dem  Gesetze,  daß  sich  schwächere  Reize  erregender  wie  hemmender 
Art  zunächst  nur  auf  die  vasomotorischen  Nerven   der  Wangen  er- 
strecken,  worauf  dann  erst  bei  stärkeren  Reizungen  dieselben  Wir- 
kungen auf  die  nähere  Umgebung  dieses  Gebietes,  wie  Stirn,  Nacken, 

7* 


lOO  Die  Ausdracksbewegungen. 


Hals,  endlich  in  seltenen  Fällen  und  nur  bei  den  stärksten  Hem- 
mungswirkungen auch  auf  andere  Teile  sich  ausdehnen:  so  auf  die 
Kopfhaut,  wo  nun  infolge  der  Kontraktion  der  kleinen  Gefäßmuskeln 
die  Haare  sich  sträuben. 


V.    Qualitätsäußerungen  der  Affekte. 

I.    Gefühle  als  Grundlagen  der  Qualitätssymptome. 

Mit  den  Bewegungs-  und  Hemmungserscheinungen,  welche  die 
Stärke  des  Affektes  messen,  verbinden  sich  in  der  Regel  untrennbar 
charakteristische  Ausdrucksbewegungen  von  beschränkterem  Umfang, 
in  denen  sich  die  Qualität  des  Affektes  spiegelt.  Da  diese  Qualität 
ganz  und  gar  auf  dem  Gefühlsinhalte  beruht,  so  sind  es  die  Grund- 
formen der  Gefühle,  nach  denen  sich  hier  die  hauptsächlichsten 
Ausdruckserscheinungen  scheiden.  Von  den  früher  hervorgehobenen 
sechs  Hauptqualitäten  der  Gefühle  nehmen  aber  nicht  alle  in 
gleicher  Weise  an  dieser  qualitativen  Charakteristik  der  Affekte 
teil.  Dies  hängt  damit  zusammen,  daß  der  Affekt  gegenüber  dem 
einfachen  Gefühl  ein  Prozeß  zusammengesetzter  Art  ist,  auf  dessen 
Eigenschaften  daher  auch  die  einzelnen  Elemente,  die  in  ihn  ein- 
gehen, einen  verschiedenen  Einfluß  ausüben.  In  der  Tat  haben  uns 
auf  einen  solchen  Unterschied  die  obigen  Betrachtungen  über  die 
Intensitätsäußerungen  bereits  geführt.  Die  Gefühlsgegensätze  der  Er- 
regung und  Beruhigung  besitzen  nämlich,  wie  sich  dort  zeigte,  für 
den  ganzen  Verlauf  des  Affekts  und  für  die  an  diesen  Verlauf  zu- 
nächst gebundenen  Intensitätssymptome  eine  so  vorwiegende  Bedeu- 
tung, daß  die  letzteren  für  uns  zugleich  Merkmale  sind,  nach  denen 
wir  die  Gefühle  der  Erregung  und  Hemmung  selbst,  die  an  einem 
Affektverlauf  teilnehmen,  bemessen.  Diese  Gefühle  nehmen  daher 
mit  Rücksicht  auf  den  Affektverlauf  und  seine  körperlichen  Begleit- 
erscheinungen eine  eigentümliche  Sonderstellung  ein.  Sie  sind  qua- 
litative Gefühle  wie  die  andern,  aber  als  Bestandteile  eines  Affektes 
sind  sie  außerdem  diejenigen  Gefühlselemente,  die  dessen  formale 
Eigenschaften,  seine  Energie  und  Geschwindigkeit,  und  damit  die 
Energie  und  den  Verlauf  seiner  physischen  Symptome  unmittelbar 
bestimmen,  während  die  übrigen  Gefühlsrichtungen  nur  indirekt,  durch 


Mechanismus  der  mimlsctien  Ausdrucksbewegimgen.  lOi 

den  Einfluß,  den  sie  auf  den  exzitierenden  oder  deprimierenden 
Charakter  des  Affektes  äußern,  für  jene  formalen  Eigenschaften  in 
Betracht  kommen.  Demnach  sind  aber  auch  umgekehrt  nur  die 
beiden  andern  Gefühlsdimensionen,  der  Lust  und  Unlust,  der 
Spannung  und  Lösung,  für  die  spezifischen  Qualitätssymp- 
tome der  Affekte  bestimmend.  Sie  geben  sich  durch  Ausdrucks- 
bewegungen zu  erkennen,  die  an  sich  freilich  gleichfalls  keine  quali- 
tativen Merkmale  sind,  —  solches  ist  ja  durch  die  Natur  aller  Affekt- 
äußerungen als  Bewegungserscheinungen  ausgeschlossen.  Wohl  aber 
gewinnen  diese  Bewegungen  durch  ihre  eigentümliche  lokale  Be- 
schränkung und  Verteilung  für  unsere  Auffassung  der  Affekt- 
äußerungen durchaus  den  Wert  qualitativer  Symptome.  Hierbei 
lassen  nun  natürlich  auch  diese  Erscheinungen  mannigfache  intensive 
Abstufungen  zu.  Doch  solange  sie  eine  vorwiegend  qualitative  Be- 
deutung bewahren,  beschränken  sie  sich  auf  bestimmte,  ihnen  zu- 
geordnete Muskelgebiete.  Soweit  sie  das  nicht  tun,  werden  sie  zu- 
gleich Symptome  einer  Erregung  oder  Hemmung,  und  sie  ver- 
binden sich  dann  mit  ausgebreiteteren  und  unbestimmteren  Intensi- 
tätsäußerungen. 


2.    Mechanismus  der  mimischen  Ausdrucksbewegungen. 

Die  in  solcher  Weise  den  genannten  Richtungen  der  Gefühle 
zugehörigen  spezifischen  Qualitätsäußerungen  der  Affekte  sind  in 
ihrer  ursprünglichen  und  reinen  Form  ganz  und  gar  beschränkt  auf 
die  Ausdrucksbewegungen  der  Antlitzmuskeln.  Der  allgemeine 
Grund  dieser  Bevorzugung  ist  augenfällig:  jene  Bewegungen  stehen 
in  engster  Beziehung  zu  den  am  Angesicht  vereinigten  Organen  der 
vier  sogenannten  Spezialsinne.  Unter  diesen  Organen  sind  aber 
wieder  Auge  und  Mund  diejenigen,  die  durch  die  Ausbildung  der 
ihre  Funktionen  unterstützenden  Muskulatur  die  größte  Mannigfaltig- 
keit charakteristisch  verschiedener  Bewegungen  zulassen.  Die  Mus- 
keln des  äußeren  Gehörorgans  sind  beim  Menschen  verkümmert,  so 
daß  ihre  Beteiligung  an  den  mimischen  Bewegungen  ganz  hinweg- 
fällt. Wo  die  Richtung  auf  Schalleindrücke  Bewegungen  heraus- 
fordert, da  gehen  diese  von  der  Gesamtmuskulatur  des  Kopfes  aus: 
solche  Bewegungen  gehören    dann    aber   wesentlich    schon   in    das 


102 


Die  Ausdrucksbewegungen. 


Gebiet  der  Vorstellungsäußerungen  der  Affekte.  Eine  stärker  hervor- 
tretende Rolle  spielt  die  Nase  bei  den  mimischen  Gefühlsäußerungen. 
Im  ganzen  ist  aber  doch  auch  diese  Rolle  eine  nur  sekundäre,  indem 
sich  mit  den  Ausdrucksbewegungen  des  Mundes  entsprechende  Wir- 
kungen der  Nasenmuskeln,  namentlich  Erweiterung  und  Verengerung 
der  Nasenöffnung,  Hebung  und  Senkung  der  Nasenflügel,  verbinden. 
Bei  Mund  und  Auge  ist  die  typische  Anordnung  der  umgeben- 
den  Muskeln   eine   wesentlich   übereinstimmende   (Fig.  9).      Nur   ist 


Buccinator- 


■■  Orbicular.  oculi 

—  Dorsalis  narium 

-•Leiator  alae  nasi 
"  Triangularis  nasi 

"  Levatcr  Iah.  sup. 

-Quadrat,  l.  s. 

-  Orbicular.  oris 
7ygomaticvs 

Bisorius  Santorini 
Qiiadratus  lab.  inf. 
Ti  tangularis 


Fig.  9.     Übersicht  der  mimischen  Muskulatur. 


die  äußere  Muskulatur  des  Mundes  reicher  und  feiner  gegliedert. 
Analog  verhalten  sich  bei  beiden  Organen  zunächst  die  in  dichten 
und  fest  mit  der  Haut  verwachsenen  Bündeln  verlaufenden  Schließ- 
muskeln der  Mund-  und  der  Augenspalte  (Orbicularis  oris  und 
oculi).  Indem  diese  Muskeln  in  beiden  Fällen  der  festen  Anhef- 
tungspunkte  ermangeln,  und  indem  ganz  besonders  bei  ihnen  die 
früher  (S.  69)  für  die  Gesichtsmuskeln  im  allgemeinen  hervorgehobene 
Eigenschaft  lokal  beschränkter  und  mannigfach  kombinierter  Reiz- 


Mimische  Symptome  der  Lust-  und  Unlustgefühle.  lO^ 

barkeit  der  einzelnen  Faserbündel  hervortritt,  ist  jeder  von  ihnen 
für  sich  allein  schon  mannigfacher  Nuancen  des  Ausdrucks  fähig. 
Daneben  besitzt  dann  der  Mund  noch  ein  vollkommen  symmetrisch 
ausgebildetes  System  geradlinig  ziehender  Muskeln,  die  teils  die 
Oberlippe  heben,  die  Unterlippe  senken  (Levator  und  Quadratus 
labii  superioris,  Quadratus  labii  inferioris),  teils  im  selben  Sinn  auf 
die  Mundwinkel  und  die  an  sie  angrenzenden  Gebiete  beider  Lippen 
einwirken  (Zygomaticus,  Risorius  Santorini,  Triangularis).  Dem  gegen- 
über bieten  die  das  Auge  umgebenden  Antlitzmuskeln  eine  wesent- 
lich einfachere  und  insofern  eine  minder  symmetrische  Anordnung, 
als  nur  den  Hebemuskeln  der  Oberlippe  hier  in  den  breiten  Faser- 
zügen des  Stirnmuskels  (Frontalis)  und  in  dem  in  der  Tiefe  der 
Ringmuskelschichten  liegenden  (darum  in  der  Fig.  nicht  sichtbaren) 
Heber  des  oberen  Augenlides  sowie  in  dem  dem  Mundwinkelheber 
entsprechenden  »Stirnrunzier«  (Corrugator  superciliorum)  ähnliche 
Muskeln  gegenüberstehen,  während  am  äußeren  Augenwinkel  solche 
fehlen.  Dafür  bilden  hier  die  Bewegungen  des  Augapfels  selber, 
die  unter  der  Wirkung  der  in  der  Augenhöhle  liegenden,  das  Auge 
um  seinen  Mittelpunkt  drehenden  Muskeln  erfolgen,  einen  um  so 
wichtigeren  Bestandteil  des  mimischen  Ausdrucks.  An  der  Nase 
treten  als  oberflächliche  mimische  Muskeln  ein  die  Nasenöffnung 
verengender  (Compressor  oder  Triangularis),  sodann  der  die  ganze 
Nase  emporhebende  Nasenrückenmuskel  (Dorsalis  narium),  und  end- 
lich ein  Heber  des  Nasenflügels  (Levator  alae  nasi)  hervor,  welchem 
letzteren  in  der  Tiefe  ein  Niederzieher  des  Nasenflügels  und  ein 
solcher  der  Nasenscheidewand  gegenüberstehen. 

3.    Mimische  Symptome  der  Lust-  und  Unlustgefühle. 

Unter  den  durch  dieses  System  der  Antlitzmuskeln  erzeugten 
Bewegungen  sind  es  in  erster  Linie  die  Mundbewegungen,  die 
teils  für  sich  allein,  teils  mit  unterstützender  Mitwirkung  der  das 
Auge  und  die  Nase  umgebenden  Muskeln  die  Gefühle  der  Lust 
und  Unlust  in  ihren  mannigfachen  Färbungen,  Verbindungen  und 
Intensitätsabstufungen  ausdrücken.  Die  leichte  Verständlichkeit  die- 
ses Mienenspiels  beruht  vor  allem  darauf,  daß  der  von  der  Mimik 
des  Mundes  angegebene  Grundton  des  Ausdrucks  in  nichts  anderem 


lOA  I^^s  Ausdrucksbewegungen. 


als  in  einer  Wiedergabe  jener  Bewegungen  besteht,  die  bei  lust- 
oder  unlusterregenden  Geschmackseindrücken  reflektorisch  er- 
folgen. Schon  beim  neugeborenen  Kinde  sind  sie  auf  die  Einwir- 
kung süßer,  saurer  und  bitterer  Geschmacksreize  zu  beobachten, 
unter  Bedingungen  also,  unter  denen  es  noch  zweifelhaft  ist,  ob  die 
Eindrücke  bereits  Lust-  oder  Unlustgefühle  erregen  können,  wo  aber 
jedenfalls,  wie  es  sich  auch  mit  dem  Vorhandensein  solcher  Gefühle 
verhalten  möge,  die  Bewegungsreaktionen  selbst  als  reflektorische, 
in  der  vererbten  Anlage  der  zugehörigen  niederen  Zentren  begrün- 
det angesehen  werden  müssen^).  Auch  wenn  wir  an  uns  selbst 
die  mimischen  Wirkungen  der  Geschmacksreize  prüfen,  beobachten 
wir  übrigens,  daß  [diese  Ausdrucksbewegungen  ohne  unser  Wissen 
und  Wollen  erfolgen,  [und  daß  es  außerordentlich  schwer  wird,  sie 
willkürlich  zu  unterdrücken.  Ebenso  verbinden  sich  die  durch  diese 
Bewegungen  hervorgerufenen  Tastempfindungen  so  innig  mit  den 
zugehörigen  Geschmackserregungen,  daß  beide  bei  jeder  Reizqualität 
eine  jener  festen  Assoziationen  bilden,  von  denen  das  eine  Glied 
das  andere  unabänderlich  in  das  Bewußtsein  ruft.  Mag  aber  auch 
diese  Assoziation  noch  so  sehr  in  den  Reflexverbindungen,  die  im 
Laufe  der  generellen  Entwicklung  entstanden  sind,  mechanisch  vor- 
gebildet sein,  so  läßt  sich  doch  kaum  zweifeln,  daß  ursprünglich 
alle  diese  mimischen  Bewegungen  Triebbewegungen  waren,  die, 
durch  die  Sinnesreize  hervorgerufen,  der  lust-  oder  unlusterregenden 
Beschaffenheit  derselben  entsprachen.  Für  diese  Beurteilung  ist 
besonders  die  Tatsache  maßgebend,  daß  die  Papillen  der  Zunge, 
die  auf  die  verschiedenen  Geschmacksstoffe  mit  verschiedener  Emp- 
findlichkeit reagieren,  derart  über  die  Oberfläche  dieses  Organs 
verteilt  sind,  daß  an  der  Zungenspitze  vorzugsweise  dicht  die  für 
süße  Eindrücke  reizbaren  Elemente  liegen,  die  durch  saure  Reize 
erregbaren  dagegen  in  größerer  Menge  längs  der  beiden  Zungen- 
ränder, und  die  für  bittere  Stoffe  empfindlichen  an  der  oberen  Fläche 
der  Zungenbasis.  Die  letztere  Papillenregion  scheint  auch  das  Sal- 
zige am  stärksten  zu  empfinden"^].   Nun  stehen  die  mimischen  Reflexe, 

^)  A.  Kußmaul,  Untersuchungen  über  das  Seelenleben  des  neugeborenen  Men- 
schen, 1859,  S.  16  ff.  Genzmer,  Die  Sinneswahrnehmungen  des  neugeborenen  Men- 
schen,  1892.     Vgl.  oben  S   38  f. 

2)  D.  P.  Hänig,  Phil.  Stud.,  Bd.  17,  1901,  S.  576  ff.,  Physiol.  Psych.  5  ÜI,  S.  290. 


Mimische  Symptome  der  Lust-  und  Ünlustgefühle. 


IO  = 


die  bei  Einwirkung-  süßer,  saurer  und  bitterer  oder  stark  salziger 
Geschmacksreize  beobachtet  werden,  zu  den  genannten  drei  Re- 
gionen des  Geschmacksorgans  in  deutlicher  Beziehung.  Dies  spricht 
sich  schon  darin  aus,  daß  die  Bewegungen  jedesmal  solche  Teile 
der  Mundmuskulatur  ergreifen,  die  den  genannten  Regionen  benach- 
bart sind.  Daneben  ist  aber  auch  eine  teleologische  Beziehung 
dieser  Bewegungen  zu  den  Geschmacksreizen  nicht  zu  verkennen. 
Sie  beruht  darauf,  daß  das  Süße  durchweg  ein  angenehmer,  das 
Bittere  ebenso  allgemein  ein  unangenehmer  Reiz  ist,  während  salzige 
und  saure  Eindrücke  mehr  indifferent  in  der  Mitte  stehen,  jedenfalls 
aber  bei  erheblicher  Intensität  ebenfalls  vorwiegend  unangenehm 
sind.     Dem  entspricht  es  nun,  daß  die  Reflexe  auf  Süß  und  Bitter 


Fig.  lo.     Mimik  des  Süßen. 


Fig.  II.     Mimik  des  Bittern. 


den  ausgesprochensten  Gegensatz  bilden.  Der  süße  Eindruck  erzeugt 
eine  Bewegung  der  Zunge  und  der  Lippen,  welche  die  vollkommenste 
Berührung  der  reizbaren  Stellen  des  Geschmacksorgans  mit  dem 
Reize  vermittelt.  Äußerlich  tritt  dabei  die  gleichmäßige  Zusammen- 
ziehung des  den  Mund  umgebenden  Ringmuskels  deutlich  hervor 
(Fig.  lo).  Umgekehrt  bewirkt  der  bittere  Reiz  reflektorisch  eine 
Senkung  der  Zungenwurzel  und  gleichzeitig  eine  Hebung  des  weichen 
Gaumens,  Lageänderungen,  bei  denen  der  bittere  Stoff  möglichst 
wenig  mit  der  empfindlichen  Geschmacksregion  in  Berührung  kommt. 
Hierbei  erzeugt  die  erste  jener  inneren  Bewegungen  als  Folgewir- 
kung das  Herabziehen  des  Mundwinkels,  die  zweite  das  Empor- 
ziehen des  Nasenflügels  durch  gleichzeitige  Aktion  der  nach  ent- 
gegengesetzter Richtung  wirkenden  Muskeln  (Fig.  1 1),    Der  mimische 


Io6  Die  Ausdrucksbewegungen. 


Reflex  des  Sauern  steht  zwischen  diesen  beiden  Fällen  in  der  Mitte. 
Er  besteht  in  einer  Erweiterung  der  Mundspalte,  die  geringer  bei 
mäßigen,  sehr  stark  bei  intensiven  Reizen  ist  und  demnach  im  ersten 
Fall  eine  vollkommene  Berührung  des  Reizes  mit  den  empfindlichen 
Zungenrändern  möglich  macht,  im  zweiten  dagegen  einer  beschleu- 
nigten Vorüberbewegung  an  diesen  Teilen  zureichenden  Raum  läßt 
Bei  mäßigen  Reizen  bleibt  dabei  die  Mundspalte  geschlossen;  bei 
intensiveren  wird  sie  durch  die  Aktion  der  Heber  der  Oberlippe 
geöffnet,  während  sich  zugleich  die  Mundwinkel  etwas,  jedoch  be- 
deutend weniger  als  bei  der  Einwirkung  bit- 
terer Geschmacksreize,  senken  (Fig.  12). 

Natürlich  läßt  sich  nicht  annehmen,  daß 
alle  diese  Bewegungen  ursprünglich  oder 
überhaupt  jemals  auf  Grund  willkürlicher 
Überlegung  ausgeführt  worden  seien.     Aber 

Fig.  12.     Mimik  ö      &  fa 

des  Sauem.  sobald  man   zugibt,  daß    ihre  zweckmäßigen 

Beziehungen  zur  Empfindlichkeit  der  verschie- 
denen Regionen  der  Zunge  irgend  einmal  entstanden  sein  müssen,  so 
ist  es  nicht  minder  im  höchsten  Maß  unwahrscheinlich,  daß  eine 
solche  Anpassung  aus  einer  bloßen  Häufung  von  Zufälligkeiten 
hervorgegangen  sein  sollte.  Vielmehr  wird  die  nächstliegende  An- 
nahme auch  hier  die  bleiben,  daß  aus  den  ursprünglich  unbestimmter 
begrenzten,  durch  Sinnesreize  hervorgerufenen  Triebbewegungen  die- 
jenigen sich  stabilisiert  und  vervollkommnet  haben,  die  im  einen  Fall, 
bei  lusterregenden  Eindrücken,  der  Aufnahme  des  Reizes  günstig 
waren,  im  andern  Fall,  bei  unlusterregenden,  die  leichteste  Besei- 
tigung derselben  bewirkten,  und  daß  sich  dann  die  so  entstandenen 
Verbindungen  befestigten,  wodurch  die  Triebhandlungen  mehr  und 
mehr  in  mechanisch  wirksame  Reflexe  übergingen. 

Ihre  Bedeutung  als  mimische  Ausdrucksbewegungen  empfangen 
nun  diese  sämtlichen  Geschmacksreflexe  dadurch,  daß  sie  bei  allen 
möglichen  lust-  oder  unlusterregenden  Eindrücken,  die  mit  dem 
Geschmackssinn  gar  nichts  zu  tun  haben,  sowie  nicht  minder  bei 
bloß  innerlich  vorgestellten  Erlebnissen  von  ähnlichem  Gefühls- 
charakter auftreten.  So  deutet  der  'süße'  Ausdruck  des  Mundes 
(Fig.  10)  jede  beliebige  angenehme  oder  erfreuliche  seelische  Stim- 
mung an;    der  ""bittere'   Ausdruck  begleitet  alle  möglichen  unange- 


Mimische  Symptome  der  Lust-  und  Unlustgefühle. 


107 


nehmen  Gefühle  (Fig.  11).  Nicht  in  gleicher  Weise  unzweideutig-, 
sondern  in  seiner  besonderen  Gefühlsfärbung  immer  erst  teils  durch 
die  Intensität  der  Erregung,  teils  durch  begleitende  mimische  Be- 
wegungen bestimmbar  ist  der  "^saure^  Ausdruck.  Dies  ergibt  sich 
schon  daraus,  daß  die  beiden  gegensätzlichen,  im  allgemeinen  ge- 
steigerte Lust-  und  Unlustgefühle  ausdrückenden  Bewegungen  des 
Lachens  und  Weinens  dieselbe  Verbreiterung  der  Mundspalte  er- 
kennen lassen,  wie  sie  durch  saure  Geschmacksreize  hervorgerufen 
wird  (Fig.  13   und    14).     Das  lachende   und   das    weinende   Gesicht 


Fig.  13.     Lachen. 


Weinen. 


unterscheiden  sich  nicht  oder  in  kaum  nennenswertem  Grade  durch 
die  Mimik  des  Mundes  selbst.  Sie  erhalten  ihr  eigentümliches  Ge- 
präge hauptsächlich  durch  die  begleitende  Mimik  von  Nase  und 
Auge.  Beim  Lachen  ist  die  Nasenöffnung  erweitert,  die  Nasen- 
flügel sind  gehoben,  das  Auge  geöffnet  und  bei  mäßigem  Affekt 
fixierend  einem  Gegenstand  zugewandt  (Fig.  13).  Das  weinende 
Gesicht  zeigt  herabgezogene  Nasenflügel,  verengerte  Nasenöffnungen, 
halb  geschlossene,  besonders  am  inneren  Winkel  etwas  zusammen- 
gedrückte und  nach  einwärts  gezogene  Augen,  womit  sich  infolge 
der  Kontraktion  des  diese  Bewegung  bewirkenden  Corrugator  super- 
ciliorum  kurze  senkrechte,  unmittelbar  über  dem  Augenlid  gegen 
die  horizontale  Richtung  sich  neigende  Stirnfalten  verbinden  (Fig.  14). 
Durchgängig  bilden  so,  wie  diese  beiden  Beispiele  andeuten,  die 
mimischen  Ausdrucksformen  der  Umgebung  von  Nase  und  Auge 
ergänzende  Bestandteile  zur  Mimik  des  Mundes,  von  übereinstimmen- 


Die  Ausdrucksbewegungen. 


dem  Charakter  und  von  analoger  Bedeutung.  Wir  erweitern  die 
Nase,  heben  die  Nasenflügel  und  öffnen  das  Auge,  um  Geruchs- 
oder Lichtreize  aufzunehmen.  Durch  die  entgegengesetzten  Bewe- 
gungen schützen  wir  uns  vor  den  Eindrücken  auf  diese  Sinne. 
Auch  diese  Bewegungen  sind  aber,  ebenso  v;ie  die  mimischen  des 
Mundes,  angeborene  Reflexe,  wenngleich  sie  im  allgemeinen  erst 
in  einer  etwas  späteren  Zeit  deutlich  hervortreten^).  Indem  sich 
ferner  diese  mimischen  Bewegungen  der  Sinnesorgane  des  Angesichts 
in  verschiedener  Weise  kombinieren,  kann  der  Gesamtausdruck  alle 
möglichen  Schattierungen  zwischen  Lachen  und  Weinen  durch- 
laufen.    So    unterscheidet   sich    das    heftige    Lachen    vom    Weinen 

eigentlich  nur  durch  wenige,  aber  charak- 
teristische Züge  (Fig.  14  und  15).  Die 
Züge  um  den  Mund  sind  fast  genau  die- 
selben, nur  ist  beim  Weinen  die  Lippe 
leicht  gebogen,  den  Übergang  in  den 
bitteren  Ausdruck  andeutend.  Noch  ähn- 
licher ist  der  Ausdruck  um  die  Augen, 
da  die  mit  dem  heftigen  Lachanfall  ver- 
bundene Anstrengung  hier  dieselbe  Ver- 
engerung der  Lidspalte  mit  hinzukommen- 
der Tätigkeit  des  Stirnrunzlers  hervorbringt. 
Den  Hauptunterschied  des  Ausdrucks  er- 
zeugen daher  in  diesem  Fall  die  sonst 
zurücktretenden  mimischen  Züge  der  Nase,  wo  das  heftig  lachende 
Gesicht  (Fig.  15)  die  starke,  die  Öffnung  der  Nase  unterstützende 
Hebung  der  Nasenflügel  und  die  hilfsweise  eingreifende,  den  grinsen- 
den Ausdruck  erzeugende  Wirkung  des  Rückenmuskels  der  Nase 
höchst  augenfällig  zeigt,  während  beim  weinenden  umgekehrt  die 
Nasenöffnungen  gesenkt,  die  Nasenflügel  gegen  den  Mund  herab- 
gezogen sind.  Diese  Züge  sind  es,  mittelst  deren  ein  in  der  Wieder- 
gabe des  mimischen  Ausdrucks  geübter  Zeichner  mit  wenigen  Strichen 
ein  lachendes  in  ein  weinendes  Gesicht  überführen  kann. 

Ähnliche    Kombinationen    teils    übereinstimmender,     teils    kon- 


Fig.  15.     Heftiges  Lachen. 


i)  Übrigens  hat   Kußmaul  (a.  a.  O.  S.  2$:   schon   bei   Neugeborenen  Reaktionen 
auf  Gerüche  beobachtet. 


Mimisclie  Symptome  der  Lust-  und  Unlustgefühle. 


log 


trastierender  mimischer  Ausdrucksformen  können  noch  in  mannie- 
faltiger  Weise  vorkommen.  Es  mag  hier  die  Erwähnung  zweier 
besonders  häufiger  Beispiele  genügen.  Das  eine  besteht  in  der 
kombinierten  Ausdrucksbewegung  von  Mund,  Nase  und  Auge,  die 
ein  stark  bitterer,  Ekel  erregender  Geschmacksreiz  hervorruft,  und 
die  uns  dann  allgemein  als  Symptom  sehr  heftiger  UnlustafFekte 
begegnet,  wie  Zorn,  Wut,  Verachtung,  nur  jedesmal  nach  der 
besonderen  Beschaffenheit  des  Affekts  in  etwas  veränderter  Form 
(Fig.  i6).  Der  mimische  Ausdruck  in  allen  seinen  Bestandteilen 
ist  hier  lediglich  eine  Steigerung  der  einfach  bitteren  Miene,  wie 
sie  die  Fig.  1 1    wiedergibt.     Ein  Gegenstück  zu  dieser  Steigerung 


Fig.  i6,     Ekel. 


Fig.  17.     Kombination  von  Süß  und  Bitter. 


bietet  die  in  Fig.  17  dargestellte  Verbindung  der  süßen  mit  der 
bitteren  Miene  (Fig.  10  und  11),  wie  sie  als  Ausdruck  zwiespältiger 
Stimmungen  sehr  oft  vorkommt.  Sie  ist,  ähnlich  den  Übergängen 
des  Lachens  in  das  Weinen,  für  die  außerordentlich  kleinen,  der 
oberflächlichen  Beobachtung  leicht  entgehenden  mimischen  Unter- 
schiede bezeichnend,  die  dem  Ausdruck  dennoch  einen  sofort  in 
die  Augen  fallenden  mimischen  Gesamtcharakter  verleihen  können. 
Der  einzige  Unterschied  zwischen  Fig.  10  und  17  besteht  in  der  Tat 
darin,  daß  im  letzteren  Fall  Mundwinkel  und  Nasenflügel  um  eine 
kaum  merkliche  Größe  gesenkt  sind.  Dieser  kleine  Zug  gibt  aber 
der  süßen  Miene  jenen  leichten  Anflug  von  Bitterkeit,  den  man 
als  Symptom  einer  resignierten,  halb  selbstzufriedenen,  halb  welt- 
schmerzlichen Stimmung  findet. 


I  lO  Die  Ausdrucksbewegungen. 


4.    Mimische   Symptome   der   Spannungs-   und  Lösungsgefühle. 

Die  mimischen  Bewegungen,  die,  unmittelbar  an  die  Sinnesorgane 
des  Angesichts  gebunden,  den  Lust-  oder  Unlustinhalt  der  Affekte 
andeuten,  sind  nun  aber  keineswegs  die  einzigen.  Es  verbinden 
sich  mit  ihnen  weitere,  ebenfalls  dem  mimischen  Gebiet  angehörende 
Erscheinungen,  die  als  charakteristische  Symptome  der  Spannungs- 
und Lösungsgefühle  betrachtet  werden  können.  Sie  sind  physio- 
logisch durch  die  Eigenschaft  gekennzeichnet,  daß  sie  nicht  oder 
doch  nur  in  nebensächlicher  Weise  von  den  Muskeln  der  speziellen 
Sinnesapparate  ausgehen,  vielmehr  vorzugsweise  an  den  die  Mund- 
bewegungen unterstützenden  Wangenmuskeln,  dem  Buccinator 
(Fig.  g)  und  dem  unter  dem  Platysma  zum  Unterkiefer  herab- 
steigenden Masseter,  zum  Ausdruck  kommen,  während  in  geringerem 
Grade  die  übrigen  mimischen  Muskeln  beteiligt  sein  können.  Inso- 
weit hierbei  auch  die  Muskeln  der  Sinnesorgane  in  Aktion  treten, 
lassen  diese  eine  direkte  Beziehung  zu  lust-  oder  unlusterregenden 
Eindrücken  nicht  erkennen,  es  sei  denn,  daß  Komplikationen  mit 
den  mimischen  Bewegungen  der  vorigen  Art  vorliegen.  Ein  weiteres 
physiologisches  Merkmal  dieser  Bewegungen,  das  minder  allgemein- 
gültig ist,  besteht  darin,  daß  sie  nicht  rasch  wechselnde,  sogenannte 
klonische  Bewegungen,  sondern  mehr  oder  minder  dauernde  Steige- 
rungen oder  Hemmungen  des  Tonus  der  mimischen  Muskeln  sind. 
Doch  ist  dieses  Merkmal  nicht  immer  zutreffend,  da  die  mi- 
mischen Ausdrucksformen,  die  ursprünglich  von  Sinneseindrücken 
ausgehen,  wie  der  süße,  bittere,  saure  Ausdruck  usw.,  durch  Ge- 
wohnheit und  Übung  ebenfalls  zu  tonischen  Zuständen  führen  kön- 
nen, wo  sie  dann  in  physiognomische  Züge  übergehen.  Psy- 
chophysisch  kann  man  schließlich  als  das  hauptsächlichste  Unter- 
schiedsmerkmal beider  Arten  mimischer  Ausdrucksformen  wohl  dies 
ansehen,  daß  die  Symptome  der  Lust  und  Unlust  in  Bewegungen 
von  abweichender  Form  bestehen,  die  erst  indirekt,  durch  die 
Beziehung  zu  Sinneseindrücken,  auf  die  qualitativen  Gegensätze  der 
Gefühle  hinweisen,  wogegen  die  mimischen  Symptome  der  Spannung 
und  Lösung  durch  die  verschiedenen  Grade  der  Erhöhung  und 
der  Herabsetzung  des  Tonus   unmittelbar   einen  Gegensatz  aus- 


Mimische  Symptome  der  Spannungs-  und  Lösungsgefühle. 


I  I  I 


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■^---.. 


drücken.  In  dieser  Beziehung  sind  die  Gefühle  der  Spannung  und 
Lösung  in  ihren  physischen  Äußerungen  offenbar  den  Symptomen 
der  Erregung  und  Beruhigung  näher  verwandt.  Doch  es  bleibt, 
abgesehen  von  der  bei  mäßigeren  Affekten  stets  zu  beobachten- 
den Beschränkung  der  ersteren  auf  die  mimischen  Muskeln,  der 
wichtige  Unterschied,  daß  sich  die  exzitierenden  und  deprimieren- 
den Gemütsbewegungen  in  dem  wechselnden  Spiel  gesteigerter  und 
herabgesetzter  Muskeltätigkeit  zu  erkennen  geben,  während  Spannung 
und  Lösung  in  dauernden  Zuständen  gradweise  verschiedener  toni- 
scher Erregung  bestehen.  Da- 
bei können  übrigens  auch  diese 
Zustände  bald  allmählich,  bald 
plötzlich  sich  einstellen. 

Diese  Momente  allmählicher 
oder  plötzlicher  Entstehung  sind 
es  nun  zugleich,  die  neben  dem 
verschiedenen  Grad  der  Erhöh- 
ung und  der  Erniedrigung  des 
Tonus  die  eigentümlichen  Unter- 
schiede bestimmen,  durch  die 
diese  Innervationsverhältnisse 
der  mimischen  Muskeln  charak- 
teristische Symptome  für  be- 
stimmte qualitative  Gefühlszu- 
stände  werden.  Als  solche 
kommen    aber   hier,   nach  der 

psychologischen  Natur  der  Span-      ^'S-  »8.     Ausdruck  dauernder  Befriedigung. 

nungs-  und  Lösungsgefühle  wie 

nach  dem  tonischen  Charakter  der  entsprechenden  physischen  Er- 
scheinungen, nicht  sowohl  vorübergehende  Affekte  als  dauernde 
Stimmungen  in  Betracht.  So  ist  eine  mäßige  tonische  Spannung 
der  Wangenmuskeln  das  deutliche  Merkmal  dauernder  Befrie- 
digung, besonders  wenn  sich  damit  auch  noch  ein  schwacher 
Tonus  der  Mund-  und  Augenmuskeln  verbindet,  der  bei  den  ersteren 
eine  nur  eben  erkennbare  leichte  Schließung  der  Mundspalte,  bei 
den  letzteren  einen  die  starre  Fixation  vermeidenden  Blick  herbei- 
führt (Fig.  i8).     Der  Ausdruck   ändert  sich   sofort  in  seiner  Bedeu- 


I  12 


Die  Ausdrucksbewegungen. 


tung,  wenn  die  tonische  Spannung  aller  der  genannten  Muskel- 
gruppen um  eine  kleine  Größe  zunimmt,  wo  nun  der  stärkere  Druck 
der  Wangen,  der  fester  geschlossene  Mund,  der  strenger  fixierende 
Blick  jene  intensiveren  Spannungsgefühle  andeuten,  die  dem  er- 
höhten Selbstgefühl  eigen  sind,  und  die  sich  bei  weiterer  Ver- 
stärkung zum  Hochmut  steigern  können,  in  dessen  Symptome 
dann  auch  der  mimische  Ausdruck  ohne  scharfe  Grenze  übergeht 
(Fig.  19).     Verbindet  sich  dieser  noch  mit  der  bittere  Geschmacks- 


Fig.  19.     Hochmut. 


Fig.  20.     Verachtung. 


eindrücke  und  unangenehme  Stimmungen  andeutenden  Senkung 
des  Mundwinkels,  so  wird  er,  namentlich  wenn  der  letztere  Zug 
auf  eine  Seite  beschränkt  bleibt,  zum  Ausdruck  der  Verachtung 
(Fig.  20).  Dabei  ist  der  Blick  nach  der  nämlichen  Seite  gerichtet, 
auf  der  auch  der  Gegenstand  der  Verachtung  vorauszusetzen  ist; 
doch  pflegt  die  Blickrichtung  an  dem  Gegenstand  selbst  vorbei- 
zugehen. Es  ist  ganz  besonders  diese  einseitige  Richtung  des  mi- 
mischen Ausdrucks,  die  ihm  jenes  besondere  Gepräge  verleiht,  in 
dem  sich  das  erhöhte   eigene  Selbstgefühl  mit  dem  unangenehmen 


Mimische  Symptome  der  Spannimgs-  und  Lösungsgefühle. 


113 


Eindruck,  den  ein  anderer  ausübt,  verbindet.  Eine  davon  wesentlich 
abweichende  Bedeutung  gewinnt  der  äußerste,  auf  alle  mimischen 
Muskeln  sich  ausdehnende  Grad  tonischer  Spannung,  wie  er  im  Zu- 
stand angstvoller  Erwartung  oder  bei  intensivstem,  in  hohem  Maße 
zugleich  Furcht  wie  Hoffnung  erregendem  Schmerz  vorkommt. 
Neben  den  Wangenmuskeln  sind  in  diesem  Fall  besonders  auch 
die  Kiefermuskeln,  die  Stirn-  und  die  Augenmuskeln  in  tonischem 
Krampf  kontrahiert;  daher  die  Zähne  fest  zusammengepreßt,  die 
Stirn    gerunzelt,    das    Auge 

starr  fixierend  erscheint 
(Fig.  21).  Zugleich  pflegt 
das  Symptomenbild  insofern 
ein  kompliziertes  zu  sein,  als 
die  Spannungs-  nicht  nur  mit 
Unlust-,  sondern  auch  mit 
Erregungssymptomen  ver- 
bunden sein  können,  wobei 
sich,  wie  oben  erörtert,  die 
Unlust  hauptsächlich  in  der 
Mimik  des  Mundes,  die  Er- 
regung in  wiederholten  klo= 
nischen  Bewegungen  der 
übrigen  Körperorgane  sowie 
in  solchen  der  Muskeln  des 

Angesichts,  welche  die 
tonische     Spannung     unter- 
brechen, äußern  kann. 

Die  diesen  Ausdrucksweisen  gesteigerter  Spannung  entgegen- 
gesetzten Symptome  der  Lösung  bieten  sich  wieder  in  verschie- 
denen Formen  dar,  je  nachdem  sie  dauernde  Stimmungen  begleiten 
oder  bei  plötzlichen  Affekten  auftreten,  wobei  sie  in  letzterem  Falle 
meist  auf  eine  unmittelbar  vorangegangene  Erwartung,  Furcht  und 
dergleichen  folgen.  Die  Lösung  als  dauernder  Ausdruck  erscheint 
als  eine  einfache  Umkehrung  der  in  Fig.  18  und  19  dargestellten 
Ausdrucksformen  der  Spannung.  Die  schlaff  herabhängenden  Wan- 
gen, der  unbestimmt  fixierende  Blick,  wie  sie  die  wesentlichen  Be- 
standteile  dieses    Symptomenbildes    ausmachen,    können  ebensogut 

Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  g 


Fig.  21.     Heftiger  Schmerz. 


114 


Die  Ausdrucksbewegungen. 


als  Zeichen  stumpfer  Teilnahmlosigkeit  wie  träumerischer  Ver- 
sunkenheit  und  ähnlicher  passiv  hingegebener  Seelenzustände  vor- 
kommen (Fig.  2  2).  Ganz  anders,  wenn  der  Zustand  plötzlich  her- 
einbricht und  sich  durch  die  größere  Intensität  der  Erscheinungen 
sowie  durch  den  Kontrast  zu  vorangegangenen  Spannungszuständen 
sogleich  als  heftiger  Affektanfall  zu  erkennen  gibt,  wie  in  aus- 
gesprochenem Maße  beim  Schreck  und  in  geringerem  bei  der 
Überraschung,  wo  beinahe  alle  zuvor  tonisch  erregten  Muskeln 
des  Angesichts   ihre   Dienste   versagen,    die    Wange  schlaff  herab- 


^ 


v: 


Fig.  22.     Passiver  Gesiclitsausdruck 
eines  Imbezillen. 


Fig.  2T,,     Schreck. 


sinkt,  der  Mund  sich  öffnet,  das  Auge  ins  Weite  starrt,  und  zu- 
gleich durch  seine  krampthafte  Öffnung  eine  begleitende  starke 
Erregung  erkennen  läßt  (Fig.  23).  Die  ähnliche  Komplikation  der 
Symptome,  bei  der  das  übrige  Angesicht  völlige  Hingebung,  nach 
den  Gefühlselementen  betrachtet  Lösung  und  Depression,  das  Auge 
und  seine  Umgebung  eine  bald  unbestimmtere,  bald  bestimmter  ge- 
richtete Spannung  andeutet,  findet  sich  nicht  selten  auch  bei  dauern- 
den Stimmungen.  So  bildet  diese  Komplikation  von  Ausdrucks- 
formen verschiedener  Gefühlsrichtungen  das  überaus  charakteristische 


Mimische  Symptome  der  Spannungs-  und  Lösungsgefühle. 


115 


Symptomenbild  des  Kummers  (Fig.  24),  und,  wenn  sich  die  Unlust- 
und  die  Erregungssymptome  steigern,  der  Angst  (Fig.  25].  Bei 
dem  letzteren  Afifekt  bilden  zugleich  die  Hemmung  des  Herzschlags 
und  die   diese   kompensatorisch  begleitende  Kontraktion  der  kleinen 


"X.... 


n  ^' 


Fig.  24.     Kummer. 


Fig.  25.     Angst. 


Arterien  Nebensymptome,  die  sich  äußerlich  an  der  tiefen  Blässe 
des  Angesichts  und  zuweilen,  infolge  der  Beteiligung  der  Kopfhaut 
an  dem  Krampf  der  Arterien,  an  dem  sich  emporsträubenden  Kopf- 
haar zu  erkennen  geben  ^). 


^)  Zu  den  obigen  die  Hauptformen  des  mimischen  Ausdrucks  erläuternden  Ab- 
bildungen haben,  insoweit  sie  sich  auf  die  Mimik  der  Lust-  und  Unlustaffekte  be- 
ziehen (Fig.  10 — 17),  die  von  Piderit  mitgeteilten  Skizzen  (Mimik  und  Physiognomik^) 
als  Vorlagen  gedient.  Die  Ausdnicksformen  der  Spannungs-  und  Lösungsgefühle 
sind  teils  nach  Abbildungen  von  Harless  (Plastische  Anatomie,  S.  127  if.),  teils 
nach  solchen  Morisons  (Physiognomik  der  Geisteskrankheiten  1853)  ausgeführt. 
Parallelen  zu  den  obigen  Figuren  bieten  einige  von  Kraepelin  (Psychiatrie^,  1899, 
n,  S.  132,  232,  364)  mitgeteilte  Gruppenbilder,  sowie  eine  Reihe  physiognomischer 
Abbildungen  Geisteskranker  bei  Th.  Kirchhoff,  Lehrbuch  der  Psychiatrie.  1892. 
10  Gesichtstafeln  . 


8* 


j  1 5  Die  Ausdrucksbewegungen. 


5.    Theorie  der  mimischen  Ausdrucksbewegungen. 

Die  hier  an  einigen  Beispielen  vorgeführten,  in  unzähligen  Ab- 
stufungen, Variationen  und  Kombinationen  vorkommenden  Grund- 
formen mimischer  Ausdrucksbewegungen  bieten  uns  überall  in  der 
praktischen  Lebenserfahrung  die  Merkmale,  nach  denen  wir  vorüber- 
gehende Affekte  oder  bleibende  Stimmungen  und  die  Qualität  der 
in  sie  eingehenden  Gefühle  beurteilen.  Aber  so  sehr  wir  auch  in 
der  Beobachtung  dieser  Merkmale  geübt  sein  mögen,  so  erstreckt 
sich  doch  diese  Übung  in  der  Regel  nur  auf  den  Totaleindruck, 
den  sie  hervorbringen,  nicht  auf  den  objektiven  Tatbestand  selbst 
in  den  einzelnen  ihn  konstituierenden  Bestandteilen.  Unter  diesen 
Bestandteilen  bieten  wohl  die  mimischen  Bewegungen  der  Mund- 
muskeln nebst  den  sie  in  übereinstimmendem  Sinn  begleitenden  Be- 
wegungen der  übrigen,  Nase  und  Auge  umgebenden  mimischen 
Muskeln  der  psychologischen  Deutung  die  geringsten  Schwierigkeiten. 
Die  einfachen  Gefühle,  die  sich  mit  den  Geschmacksreizen  des  Süßen, 
Sauern,  Bittern,  sowie  mit  entsprechenden  Geruchs-  und  Gesichts- 
reizen verbinden,  sind  allen  möglichen  zusammengesetzten  Gefühlen 
und  Affekten  insofern  verwandt,  als  diese  den  nämlichen  allgemeinen 
Gefühlsrichtungen  angehören.  Jene  sinnlichen  Formen  der  Lust  und 
Unlust  sind  aber  zugleich  diejenigen,  die  in  der  Entwicklung  der 
Gattung  wie  in  der  Lebensgeschichte  des  Einzelnen  am  frühesten 
auftreten;  gemäß  dem  Gesetze,  daß  die  seelischen  Zustände,  die  an 
unmittelbare  sinnliche  Eindrücke  gebunden  sind,  stets  in  ihrer  Ent- 
stehung den  verwickeiteren,  frühere  Erlebnisse  und  erworbene  An- 
lagen voraussetzenden  vorausgehen.  Wie  Sinneswahrnehmungen 
früher  sind  als  Phantasievorstellungen,  äußere  Willenshandlungen 
früher  als  innere  Entschlüsse  und  Vorsätze  zu  künftigen  Handlungen, 
so  sind  naturgemäß  auch  die  einfachen  sinnlichen  Erregungen  durch 
lust-  und  unlusterregende  Tast-,  Geschmacks-,  Geruchs-  und  sonstige 
Sinneseindrücke  früher  als  die  inneren  seelischen  Stimmungen  der 
Freude,  des  Kummers,  des  Ärgers  usw.  Nun  ist  aber  die  sogenannte 
innere  Seelenstimmung  gleichfalls  eine  seelisch-körperliche  Erregung, 
wie  die  Veränderungen  von  Herzschlag,  Blutgefäß reizung  und  Atmung, 
und  die  gesamten,   die  erregende  oder  deprimierende  Richtung  des 


Theorie  der  mimischen  Ausdnicksbewegungen.  nj 

Affekts  anzeigenden  Einflüsse  auf  die  äußeren  Körpermuskeln  zeigen. 
Daß  unter  diesen  motorischen  Erregungen  diejenigen  in  bevorzugter 
Weise  auftreten  werden,  deren  ursprüngliche  Entstehung  der  all- 
gemeinen Richtung  des  Affekts  entspricht,  ist  wiederum  eine  not- 
wendige Folge  jener  Assoziation  analoger  Gefühle,  die  ihrerseits  nur 
als  ein  Spezialfall  des  durch  zahllose  Erfahrungen  bestätigten  all- 
gemeinen Assoziationsprinzips  angesehen  werden  muß.  Sobald  sich 
eine  neue,  zusammengesetztere  seelische  Stimmung  entwickelt,  die  in 
ihrer  Lust-  oder  Unlustqualität  einer  früheren,  einfacheren  verwandt 
ist,  wird  daher  diese  durch  Assoziation  wachgerufen,  und  mit  ihr 
entstehen  naturgemäß  auch  die  an  sie  gebundenen  physischen  Aus- 
drucksbewegungen. Hierdurch  gewinnen  zugleich  die  bekannten 
Metaphern  der  Sprache  ihre  psychologische  Beleuchtung.  Wenn 
wir  Freude  und  Hoffnung  'süß',  das  Leid  'bitter',  den  entsagenden 
Entschluß  'sauer'  nennen,  so  können  diese  Ausdrücke  ursprünglich 
unmöglich  absichtliche  Übertragungen  des  sinnlichen  Eindrucks  auf 
eine,  wie  man  sich  ausdrückt,  »nicht  sinnliche  Vorstellung«  sein.  Ist 
doch  hier  die  sogenannte  Metapher  selbst  erst  auf  Grund  jener 
natürlichen  Assoziationen  verständlich,  bei  denen  die  Verbindung 
zunächst  gar  nicht  als  eine  Übertragung,  sondern  als  eine  un- 
mittelbare Übereinstimmung  empfunden  wird').  Nachdem  sich  ein- 
mal solche  Assoziationen  gebildet  haben,  kann  dann  allerdings 
auch  eine  willkürliche  Metapher  einsetzen,  die  nach  dem  Vor- 
bild jener  natürlichen  Verbindungen  neue,  künstliche  schafft.  Aber 
diese  Übertragungen  folgen  dabei  doch  den  natürlichen  Vorbildern 
der  primären  Assoziationen,  durch  welche  neu  sich  entwickelnde 
seelische  Stimmungen  ihnen  verwandte  sinnliche  Gefühle,  die  in 
der  psychischen  Entwicklung  vorausgingen,  erwecken.  An  die  sinn- 
lichen Gefühle  und  die  sie  leise  begleitenden  Empfindungen  sind 
dann  wieder  mit  mechanischer  Sicherheit  die  durch  die  letzteren 
ausgelösten  Bewegungen  gebunden.  Vermutlich  ist  daher  die  Ent- 
stehung jener  sprachlichen  Metaphern  selbst  ein  sekundärer  Vor- 
gang, der  sich  nicht  an  die  Empfindung,  sondern  an  den  mimi- 
schen  Ausdruck   derselben   angeschlossen   hat.     Mußte   doch    dieser 


^)  Vgl.  hierzu   die   in  Kap.  Ylll  (Bedentungswandel)   folgende   eingehendere  Er- 
örterung der  »Metaphern  der  Sprache«. 


I  I  8  I^ie  Ausdrucksbewegungen. 


erst  dem  sinnlichen  Gefühl  jene  bestimmte  Beziehung  verleihen,  die 
den  objektiven  Beobachter  wie  den  Fühlenden  selbst  veranlassen 
konnte,  sich  der  Assoziation  eines  rein  inneren  Seelenzustandes  mit 
gewissen  Sinneseindrücken  deutlich  bewußt  zu  werden.  Vorher  war 
diese  Assoziation  eine  jener  dunkel  bewußten,  die,  so  wichtige  Erfolge 
sie  auch  für  die  elementaren  psychischen  und  psychophysischen 
Vorgänge  haben  mögen,  doch  nicht  in  die  Sphäre  des  sprachlichen 
Denkens  hineinreichen. 

Innerhalb  der  individuellen  Entwicklung  wird  man  nun  die  Asso- 
ziation der  zusammengesetzten  Gefühle  und  Affekte  mit  den  einfachen 
sinnlichen  Gefühlen  durchaus  als  eine  solche  ansehen  müssen,  die  sich 
an  die  angeborenen  und  vererbten  Reflexe  der  den  Sinnesorganen 
beigegebenen  mimischen  Muskeln  anschließt,  und  zu  der  deshalb 
ebenfalls  in  ähnlichen  angeborenen  und  vererbten  Anlagen  der  Grund 
gelegt  sein  mag.  In  der  Tat  stehen  ja  die  Leitungsbahnen  der  Ge- 
schmacksnervenfasern mit  den  Fazialis-  und  Hypoglossuszentren 
offenbar  in  einer  durch  die  generelle  Entwicklung  eingeübten  Ver- 
bindung, so  daß  sofort  nach  der  Geburt  durch  bestimmte  Geschmacks- 
reize die  ihnen  adäquaten  Bewegungen  ausgelöst  werden  (S.  104).  Dies 
vorausgesetzt,  ist  aber  natürlich  auch  die  allmähliche  Entwicklung 
anderer,  uns  noch  unbekannter  Nervenverbindungen  nicht  aus- 
geschlossen, durch  die  jene  Übertragung  der  inneren  Seelenzustände 
in  äußere  sinnliche  Formen  vermittelt  werden  kann,  bevor  die  Asso- 
ziationseinflüsse des  individuellen  Lebens  in  merklicher  Weise  wirk- 
sam geworden  sind.  Hier  werden  sich  eben  niemals  individuelle 
und  generelle  Entwicklung  ganz  voneinander  sondern  lassen.  Doch 
für  das  psychophysische  Verständnis  der  Vorgänge  ist  dies  deshalb 
nicht  von  erheblicher  Bedeutung,  weil  die  in  bestimmten  organischen 
Anlagen  niedergelegten  Erwerbungen  der  generellen  Entwicklung 
doch  nur  auf  dem  Weg  einer  zahllosen  Menge  individueller  Ent- 
wicklungsvorgänge entstanden  sein  können.  Im  vorliegenden  Falle 
wird  man  nun  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  die  Stufen  des  Prozesses 
so  zwischen  beiden  Gebieten  verteilen  dürfen,  daß  man  die  Ent- 
stehung der  zweckmäßigen  Sinnesreflexe  ganz  und  gar  der  gene- 
rellen, die  Assoziationen  zwischen  sinnlichen  Empfindungen  und 
Gefühlen  und  inneren  Seelenzuständen  aber  der  Hauptsache  nach  der 
individuellen    Entwicklung    zuweist;    wenn    auch    immerhin    diese 


Theorie  der  mimischen  Ausdrucksbewegungen.  I  I  n 

Assoziationen  durch  gewisse  generell  erworbene  zentrale  Anlagen  be- 
günstigt sein  mögen.  Für  die  erste  Annahme  bildet  das  Vorkommen 
der  Geschmacks-  und  Geruchsreflexe  beim  Neugeborenen  ein  un- 
zweifelhaftes Zeugnis.  Die  zweite  erscheint  aus  dem  Grunde  wahr- 
scheinlich, weil  die  zusammengesetzteren  Gefühle  und  Affekte  über- 
haupt erst  während  des  individuellen  Lebens  sich  ausbilden. 

Ist  die  Assoziation  zwischen  dem  physischen  Zustand  und  der 
einem  Sinneseindruck  von  verwandtem  Gefühlston  entsprechenden 
mimischen  Bewegung  eingetreten,  so  schließt  sich  aber  an  sie  not- 
wendig eine  zweite,  sekundäre  Assoziation,  die  zugleich  verstärkend 
auf  die  erste  zurückwirkt.  Die  mimische  Bewegung  selbst  wird 
nämlich  von  einer  Tast-  und  Muskelempfindung  begleitet,  die  auf 
das  engste  ^mit  den  entsprechenden  Sinneseindrücken  assoziiert  ist. 
Die  so  erweckten  psychischen  Inhalte  sind  allerdings  in  ihren  Emp- 
findungsbestandteilen sehr  schwach  und  unbestimmt,  was  sich  teils 
aus  der  außerordentlich  geringen  Intensität  der  Erinnerungsbilder 
von  Geschmacks-  und  Geruchsempfindungen,  teils  aus  der  Mannig- 
faltigkeit lust-  oder  unlusterregender  Gesichtsempfindungen  erklärt. 
So  kommt  es,  daß  diese  reproduktiven  Elemente  hier  großenteils 
durch  die  an  die  mimischen  Bewegungen  gebundenen  Tastempfin- 
dungen ersetzt  werden,  mit  denen  nun  die  entsprechenden  sinn- 
lichen Gefühle  fest  assoziiert  sind.  Darum  ist  bei  dem  Geschmacks- 
ausdruck des  Süßen,  Bittern,  Sauern  wirklich  etwas  vom  gleichen 
Geschmacks  ei nd ruck  in  unserem  Bewußtsein.  Aber  zugleich  tritt 
die  eigentliche  Geschmacksempfindung  sehr  hinter  der  ihr  asso- 
ziierten Tastempfindung  zurück.  Mit  dieser  Beschränkung  haben 
dann  die  Ausdrücke  ""süße  Freude',  'bitteres  Leid"*  und  dergleichen 
keine   metaphorische,    sondern   eine  wirkliche,   sinnliche   Bedeutung. 

Die  ähnlichen  Verhältnisse  wie  beim  Geschmackssinn  kehren  bei 
den  mimischen  Bewegungen  wieder,  die  lust-  und  unlusterregende 
Licht-  und  Geruchseindrücke  andeuten.  Nur  kann  es  schon  wegen 
der  sehr  viel  größeren  Anzahl  der  Geruchs-  und  Gesichtsqualitäten 
hier  nicht  zu  ähnlichen  scharf  charakterisierten  Ausdrucksformen 
kommen.  Damit  hängt  wohl  zusammen,  daß  überhaupt  die  mimi- 
schen Hilfsmittel  dieser  beiden  Sinne  beschränkter,  die  Ausdrucks- 
bewegungen gleichförmiger  sind,  indem  sie  nur  die  Gegensätze  solcher 
Eindrücke,   die  vom  Sinnesorgan  aufgesucht,   und  solcher,   die  von 


I  2  O  Die  Allsdrucksbewegungen. 


ihm  gemieden  werden,  angeben.  Erst  als  Begleiterscheinungen  der 
feiner  nuancierten  mimischen  Mundbewegungen  gewinnen  diese  un- 
bestimmteren Lust-  und  Unlustsymptome  ihre  konkretere  Bedeutung. 
Gerade  die  Armut  des  Geschmackssinns  an  spezifisch  verschiedenen 
Empfindungen  scheint  hier  mit  dem  größeren  Reichtum  der  von 
ihm  ausgehenden  mimischen  Bewegungen  zusammenzuhängen.  Auch 
die  an  die  mimischen  Tastempfindungen  jener  andern  Sinne  ge- 
bundenen Assoziationen  sind  daher  von  unbestimmterem  Charakter: 
die  Sinnesqualitäten  selbst  verschwinden  in  den  entstehenden  Kom- 
plikationen. Um  so  mehr  ist  wieder  an  die  jede  Bewegung  be- 
gleitende innere  Tastempfindung  ein  deutliches  Lust-  oder  Unlust- 
gefühl  geknüpft,  das  die  Rückwirkung  des  mimischen  Ausdrucks  auf 
den  Affektverlauf  verstärkt.  Dies  ist  vor  allem  bei  den  Ausdrucks- 
bewegungen des  Lachens  und  Weinens  zu  beobachten,  an  denen 
sich  diese  Geruchs-  und  Gesichtsreflexe  der  Affekte  hauptsächlich 
beteiligen.  So  wird  man  kaum  sagen  können,  daß  durch  die  ener- 
gische Tätigkeit  des  Stirnrunzlers,  wie  wir  sie  bei  verdrießlichen  und 
traurigen  Stimmungen  wahrnehmen,  jemals  irgendeine  Assoziation 
an  ein  bestimmtes  Gesichtsbild  erweckt  werde.  Aber  gewiß  ist,  daß 
diese  Bewegung  —  was  man  sogar  durch  ihre  willkürliche  Herbei- 
führung erproben  kann  —  eine  Unluststimmung  mit  sich  führt,  der 
wir  mit  aller  Gewalt  nicht  widerstehen  können.  Man  versuche  es 
einmal,  mit  dem  Ausdruck  des  Grams  heitere,  fröhliche  Vorstellungen 
zu  verbinden,  und  man  wird  bald  wahrnehmen,  daß  dies  entweder 
nicht  gelingt,  oder  daß  der  Ausdruck  mit  einer  Art  mechanischen 
Zwangs  der  ihm  widerstreitenden  Stimmung  weicht. 

Die  nämlichen  hin-  und  herwandernden  Assoziationswirkungen 
fehlen  nun  auch  bei  den  Ausdrucksformen  der  andern,  die  qualitativen 
Symptome  der  Affekte  mitbestimmenden  Gefühle  der  Spannung 
und  Lösung  nicht.  Bei  ihnen  verschwinden  aber  im  allgemeinen 
noch  mehr  als  bei  den  mimischen  Gesichts-  und  Geruchsreaktionen 
die  Assoziationen  mit  den  äußeren  Eindrücken,  die  als  ursprüng- 
liche Gelegenheitsursachen  der  psychischen  Stimmungen  wirksam 
gewesen  sein  mögen.  Um  so  größer  ist  die  Mannigfaltigkeit  dieser 
Ursachen  und  um  so  unbestimmter  der  einzelne  zu  assoziierende 
Eindruck,  weil  nicht  nur  Reize  aller  möglichen  Sinnesorgane  an  der 
Entstehung  der  Ausdrucksformen  beteiligt  sein  können,  sondern  weil 


Theorie  der  mimischeu  Ansdrucksbewegnngen.  I  2  i 

gerade  die  Gefühle  der  Spannung  und  Lösung,  ebenso  wie  die  oft 
mit  ihnen  verbundenen  der  Erregung  und  Herabstimmung,  von 
frühe  an  aus  Anlaß  psychischer  Vorgänge  entstehen,  die  nur  noch 
indirekt  äußere  Sinneserresrunsfen  als  ihre  entfernteren  Vorbedin- 
gungen  voraussetzen.  Besonders  gilt  das  von  jenen  dauernden 
mimischen  Ausdrucksformen,  die  in  dem  tonischen  Spannungs- 
grade der  Antlitzmuskeln  zutage  treten,  und  die  auf  gleichmäßig 
andauernde  psychische  Ursachen  zurückweisen.  Reproduktionen 
früherer  Eindrücke  kommen  als  dauernde  seelische  Zustände 
kaum  vor.  So  mögen  sie  denn  auch  hier  höchstens  bei  den  nie- 
mals ganz  fehlenden  momentanen  Schwankungen  der  Gemütslage 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  mitwirken.  Um  so  mehr  drängen  sich 
in  diesem  Fall  die  unmittelbar  gegebenen  Spannungsempfindungen 
selbst  und  ihr  Einfluß  auf  die  Gemütslage  in  den  Vordergrund. 
Jener  wechselnde  Tonus  der  Wangenmuskeln,  der  bald  aufmerk- 
same Erwartung,  bald  ruhige  Festigkeit  des  Entschlusses,  bald 
plötzliche  Lösung  einer  psychischen  Spannung  oder  fortwährende 
apathische  Ruhe  ausdrücken  kann  —  er  ist  jedesmal  von  Empfin- 
dungen begleitet,  die  der  Seelenstimmung  einen  bestimmten,  ihr 
adäquaten,  eben  darum  aber  auch  sie  wiederum  steigernden  sinn- 
lichen Gefühlston  hinzufügen.  Dies  tritt  wegen  der  Summation  der 
Wirkungen  in  der  Zeit  ganz  besonders  bei  den  dauernden  Stim- 
mungen hervor.  Hier  kann  man  geradezu  sagen:  der  mimische 
Ausdruck  des  Selbstzufriedenen,  des  Hochmütigen,  des  Kummer- 
vollen (Fig.  18,  19,  24)  ist  ein  wichtiges  Moment  der  Erhaltung  seiner 
Gemütslage.  Aus  dieser  können  die  einzelnen  psychischen  Bestand- 
teile auf  längere  Zeit  ganz  verschwinden:  bleibt  der  mimische  Aus- 
druck, so  bleibt  mit  den  an  ihn  gebundenen  Empfindungen  und 
Gefühlen  auch  der  Grundcharakter  der  seelischen  Stimmung  be- 
stehen. 

Vergleicht  man  die  so  in  ihren  wesentlichsten  Elementen  in  der 
Mimik  des  Angesichts  vereinigten  Qualitätsäußerungen  der  Affekte 
mit  den  vorher  erörterten  Intensitätssymptomen,  so  fällt  ohne  wei- 
teres die  reichere  und  feinere  Ausbildung  der  ersteren  in  die  Augen. 
Dies  hat  im  allgemeinen  seinen  verständlichen  Grund  darin,  daß  die 
Intensitätsäußerungen  in  ihren  ursprünglichen  Formen  Trieb-  und 
Reflexbewegimgen  sind,   die  auf  Tastreize  erfolgen,    die   Oualitäts- 


12  2  Die  Ausdrucksbewegungen. 


äußerungen  dagegen  Reaktionen,  die  Eindrücken  auf  die  Sinnes- 
organe des  Angesichts  entsprechen.  Mit  diesem  Verhältnis  läßt  es 
sich  auch  in  Beziehung  bringen,  daß  nicht  nur  beide  Formen  stets 
miteinander  verbunden  vorkommen,  sondern  daß  in  einem  gewissen 
Sinne  die  mimischen  Bewegungen  als  eine  höhere  Entwicklungsform 
oder,  wenn  man  will,  als  eine  nähere  qualitative  Nuancierung  der 
unbestimmteren,  die  Intensität  der  Erregung  spiegelnden  Ausdrucks- 
bewegungen betrachtet  werden  können.  Damit  steht  die  Tatsache 
in  naher  Beziehung,  daß  unter  den  drei  allgemeinen  Gefühlsdimen- 
sionen die  der  Erregung  und  Beruhigung  nicht  an  den  Qualitäts- 
symptomen im  engeren  Sinne  teilnimmt,  weil  die  Erscheinungen,  die 
hierher  gehören,  immer  zugleich  Intensitätssymptome  sind. 

Ihnen  stehen  am  nächsten  die  mimischen  Äußerungen  der  Span- 
nung und  Lösung,  die  bereits  in  nähere  Beziehung  zu  den  höheren 
Sinnesorganen  treten,  da  an  ihnen  die  mimischen  Muskeln  hervor- 
ragend beteiligt  sind.  Gleichwohl  sind  es  auch  hier  nicht  sowohl 
die  höheren  Sinnesorgane  als  die  besonderen  Eigenschaften  der  ent- 
sprechenden Teile  des  Tastorgans,  die  bei  der  Entstehung  der 
Ausdrucksformen  eine  Rolle  spielen.  Denn  die  Bedeckung  der 
mimischen  Muskulatur  ist  zugleich  das  empfindlichste  Gebiet  des 
Tastsinns,  das  namentlich  auf  die  leisen,  von  den  Kontraktionen  der 
unterliegenden  Muskeln  ausgehenden  Tastreize  reagiert.  Dadurch 
wird  es  zu  einem  besonders  feinen  Maße  für  jene  Spannungsver- 
hältnisse der  Gemütszustände,  wie  sie  eben  in  den  Spannungs-  und 
Lösungsgefühlen  enthalten  sind. 

Daß  es  das  Gebiet  der  Wangenmuskeln  ist,  das  vorzugsweise 
dem  Ausdruck  dieser  Gefühle  dient,  dafür  darf  man  aber  wohl  die 
entferntere  Ursache  in  der  engen  Beziehung  erblicken,  in  der  jene 
Muskeln  zur  Aufnahme  und  ersten  Bewältigung  der  Nahrung 
stehen.  Indem  die  Kaumuskeln  diesem  physischen  Bedürfnis  die 
nächste  Befriedigung  schaffen,  reflektieren  sich  in  ihren  Spannungs- 
zuständen  auch  die  damit  assoziierten  sinnlichen  Gefühle.  Hunger 
und  Sättigung  geben  sich  zu  allererst  in  der  Ab-  und  Zunahme  des 
Tonus  dieser  Muskeln  zu  erkennen.  Die  ursprünglichsten  sinnlichen 
Beziehungen  läßt  auch  hier  die  Kultur  nicht  verschwinden.  Wir 
übertragen,  sichtlich  von  dem  mimischen  Eindruck  ausgehend,  die 
Bezeichnungen  des  'Hungrigen'  und  des  "^Satten""  gelegentlich  ebenso 


Verhältnis  der  Vorstellungsäußerungen  zu  den  andern  Affektsymptomen.      121 

wie  die  des  'Süßen\  'Bittern'  und  "^Säuern'  auf  moralische  Eigen- 
schaften. Ein  physiognomischer  Ausdruck,  wie  der  in  Fig.  18  (S.  iii) 
dargestellte,  kann  nicht  minder  den  physisch  Gesättigten  wie  den 
Selbstzufriedenen  verraten.  Die  durch  den  Gefühlston  der  Tast- 
empfindungen dieser  Muskelgebiete  vermittelte  Verbindung  erscheint 
daher  vollkommen  analog  den  bei  den  andern  mimischen  Muskeln 
durch  die  Sinneseindrücke  auf  Geschmack,  Geruch  und  Gesicht 
erregten  Assoziationen.  Zugleich  bringt  es  aber  diese  Entstehung 
der  an  die  Wangenmuskeln  gebundenen  mimischen  Ausdrucks- 
formen mit  sich,  daß  die  letzteren  immer  auch  an  den  Lust-  und 
Unlust-  sowie  an  den  Erregungs-  und  Hemmungssymptomen  teil- 
nehmen. Sättigung  und  Hunger  sind  ja  nicht  bloß  Spannungs-  und 
Lösungs-,  sondern  stets  auch  Lust-  und  Unlust-,  und  mehr  oder 
minder  erregende  und  deprimierende  Gefühle.  Erst  im  Gefolge  des 
Übergangs  der  gleichen  mimischen  Bewegungen  auf  andere  Seelen- 
zustände  dürfte  hier,  unterstützt  durch  die  mit  der  ursprünglichen 
Funktion  zusammenhängende  Tastempfindlichkeit  der  Wangen,  der 
Ausdruck  der  Lösungs-  und  der  Spannungsgefühle  mehr  in  den 
Vordererund  getreten  sein. 


VI.  Vorstellungsäußerungen  der  Affekte. 

I.    Verhältnis  der  Vorstellungsäußerungen  zu  den  andern 
Affektsymptomen. 

Jeder  Affekt  enthält  Vorstellungen,  die,  ebenso  wie  die  den  Affekt 
zusammensetzenden  Gefühle,  untereinander  verbunden  sind  und  auf 
diese  Weise  einen  Vorstellungsverlauf  bilden.  Nirgends  zeigt  es  sich 
daher  so  augenfällig  wie  bei  der  Beobachtung  der  Affekte,  daß  die 
Vorstellungs-  und  die  Gefühlsseite  des  seelischen  Lebens  nur  ver- 
schiedene Seiten  der  nämlichen  unmittelbaren  Erlebnisse  sind,  von 
denen  sich  je  nach  den  besonderen  Bedingungen  bald  mehr  die  eine, 
bald  mehr  die  andere  unserer  Wahrnehmung  aufdrängt.  Wenn  wir 
uns  an  einem  Gegenstand  erfreuen  oder  über  ihn  erzürnen,  so  er- 
scheint uns  wohl  die  Vorstellung  des  Gegenstandes  als  die  Ursache, 
der  die   Gefühlserregung  als  ihre  Wirkung  folgt.     Wenn  wir   aber, 


1 24  I-^'^  Ausdrncksbewegnngen. 


wie  es  bei  den  dauernden  Gemütsrichtungen  die  Regel  ist,  in  ge- 
hobener oder  gedrückter  Stimmung  sind,  und  wenn  dann  dort  heitere, 
hier  trübe  Bilder  der  Zukunft  vor  uns  auftauchen,  so  sind  wir  geneigt, 
das  umgekehrte  Verhältnis  anzunehmen.  Genau  genommen  ist  jedoch 
weder  hier  noch  dort  von  irgendeiner  regelmäßigen  zeitlichen  Son- 
derung dieser  Erfahrungsinhalte  zu  reden.  In  dem  Moment,  wo  uns 
ein  Objekt  als  Vorstellung  gegeben  wird,  ist  auch  schon  ein  Gefühls- 
zustand vorhanden,  der  dieser  Vorstellung  irgendwie  entspricht;  und 
der  Verlauf,  den  Vorstellung  wie  Gefühl  darbieten,  kann  ebensooft 
dieses  wie  jene  zuerst  in  den  Vordergrund  des  Bewußtseins  heben. 
So  ist  bei  neuen  Sinneseindrücken  meist  die  Vorstellung,  bei  Er- 
innerungsbildern sehr  oft  das  Gefühl  der  anscheinend  zunächst  sich 
aufdrängende  Bestandteil.  Ebenso  gibt  es  aber  keine  Art  seelischer 
Stimmung,  die  nicht  an  irgendwelche  gegenständliche  Inhalte  ge- 
bunden wäre. 

Dieses  Verhältnis  bringt  es  mit  sich,  daß  die  Affekte  ebenso 
in  Vorstellungs-  wie  in  Gefühlssymptomen  sich  äußern  können. 
Dabei  sind  beide  Formen  der  Ausdrucksbewegungen  so  eng  an- 
einander gebunden ,  daß  sie  erst  durch  eine  ähnliche  Abstraktion, 
wie  sie  zur  Scheidung  der  Vorstellungen  von  den  Gefühlen  selbst 
dient,  zu  sondern  sind.  Hierfür  ist  in  diesem  Falle  schon  der  Um- 
stand bezeichnend,  daß  alle  jene  Gefühlsäußerungen,  in  denen  sich 
bestimmte  Sinneseindrücke  von  einem  dem  vorhandenen  Affekt  ent- 
sprechenden Gefühlscharakter  spiegeln,  nicht  bloß  auf  die  Gefühle, 
sondern  stets  auch  auf  die  äußern  Eindrücke  hinweisen,  die  mit 
jenen  Gefühlen  assoziiert  werden.  Aber  in  der  Festigkeit  dieser 
Assoziationen  ist  es  zugleich  begründet,  daß  hier  die  ursprünglichen 
Vorstellungsgrundlagen  der  Ausdrucksbewegungen  zurücktreten  und 
wir  daher  den  Symptomen  einen  bestimmten  Vorstellungswert  über- 
haupt nicht  mehr  beilegen.  Demnach  können  als  spezifische  »Vor- 
stellungsäußerungen« der  Affekte  nur  solche  physiologische  Er- 
scheinungen gelten,  in  denen  sich  unmittelbar  die  Gegenstände,  auf 
die  sich  der  Affekt  bezieht,  die  Erinnerungen,  die  er  wachruft,  zu 
erkennen  geben.  Dabei  ist  aber  von  vornherein  zu  erwarten,  daß 
sich  diese  Erscheinungen  hinwiederum  untrennbar  mit  Gefühlsäuße- 
rungen verbinden,  mögen  sich  nun  solche  durch  besondere  mimi- 
sche Bewegungen  oder  durch  die  Energie  und  Geschwindigkeit  der 


Verhältnis  der  Vorstellungsäußerungen  zu  den  andern  Affektsymptomen,      j  2 1; 

Vorstellungssymptome  selbst  verraten.  In  dieser  letzteren  Form 
verbinden  sich  vorzugsweise  die  Merkmale  der  für  den  Verlauf  der 
Affekte  entscheidenden  Gefühle  der  Erregung  und  Depression  innig 
mit  den  Vorstellungsgebärden.  Indem  so  auch  bei  dieser  Klasse 
eine  Bewegung,  in  der  sich  überhaupt  kein  Affekt  verriete,  nicht 
oder  annähernd  höchstens  in  gewissen  Grenzfällen  vorkommt,  die 
der  willkürlichen  Verwertung  der  ursprünglich  triebartigen  Aus- 
drucksbewegungen zufallen,  gehören  die  Vorstellungsäußerungen  im 
vollen  Sinne  des  Wortes  zu  den  Affektsymptomen.  Zugleich  ist 
hier  durchaus  die  für  die  Ausdrucksbewegungen  im  allgemeinen 
gültige  Voraussetzung  maßgebend,  daß  sie  in  keinem  ihrer  Be- 
standteile ursprünglich  aus  Überlegung  und  Wahl  entspringen, 
sondern  daß  sie  natürliche  und  notwendige  Erzeugnisse  der  bei 
den  ursprünglichen  Trieben  und  deren  allmählicher  Entwicklung 
wirksamen  psychophysischen  Bedingungen  sind.  Wo  bei  einer 
Bewegung  Plan  und  Absicht  wirklich  bestehen,  da  ist  dies  selbst 
bei  den  Vorstellungsäußerungen  stets  Resultat  späterer  Entwick- 
lung. Doch  diese  Lösung  von  der  einstigen  Affektgrundlage  voll- 
zieht sich  gar  nicht  anders  als  bei  den  Intensitäts-  und  Qualitäts- 
symptomen: sie  ist  dort  wie  hier  ein  Bestandteil  jener  allgemeinen 
Entwicklung  der  Willenshandlungen,  in  deren  Gefolge  sich  die 
ursprünglichen  psychischen  Motive  bestimmter  Bewegungen  er- 
mäßigen und  allmählich  mit  andern  Motiven  ihre  Stellen  tauschen 
können.  Und  wieder  fehlt  auch  hier  nicht  ganz  das  bei  den  Inten- 
sitätsäußerungen hervorgehobene  Moment  der  Rückwirkung  der 
Bewegungen  auf  den  psychischen  Inhalt  der  Affekte.  Wo  irgend 
einmal  eine  Ausdrucksbewegung  affektlos  entstehen  sollte,  da  müßte 
sie  doch,  da  sie  selbst  ein  Bestandteil  des  ganzen  psychophysischen 
Komplexes  aller  Affekterscheinungen  ist,  die  übrigen  Elemente, 
mit  denen  sie  fest  assoziiert  ist,  hervorrufen.  Das  gilt  um  so  mehr 
auch  für  die  Vorstellungsäußerungen,  weil  diese  eben  in  der  Energie 
und  Geschwindigkeit,  mit  denen  sie  ausgeführt  werden,  stets  zu- 
gleich Intensitätssymptome  sind,  denen  als  solchen  ganz  besonders 
die  affektverstärkende  und  affekterregende  Wirkung  zukommt. 

Mit  der  in  diesem  Verhältnis  abermals  zutage  tretenden  all- 
gemeineren Stellung  der  Intensitätsmerkmale  hängt  die  weitere 
Tatsache   zusammen,    daß,    wie    die   Qualitäts-,    so  auch  die  Vor- 


120  Die  Ausdnicksbewegungen. 


Stellungssymptome  im  wesentlichen  auf  bestimmte  Muskelgebiete 
beschränkt  sind.  Wie  für  jene  das  Gebiet  der  mimischen,  so  tritt 
nämlich  für  diese  vorzugsweise  das  der  pantomimischen  Muskeln 
in  der  engeren  Bedeutung  des  Wortes  ein.  Dieser  engere  Begriff 
umfaßt  das  Bewegungssystem  der  Arme  und  Hände.  Nur  aus- 
hilfsweise können  dazu  auch  noch  andere  Körperteile  treten,  wie 
der  Kopf,  der  Rumpf,  die  Gehwerkzeuge. 


2.    Hauptformen  pantomimischer  Bewegungen. 

Wie  die  mimischen,  so  haben  die  pantomimischen  Bewegungen 
frühe  schon  ein  wissenschaftliches  Interesse  erregt,  das  freilich  mehr 
von  praktisch-ästhetischen  als  von  psychologischen  Gesichtspunkten 
geleitet  war;  daher  es  denn  auch  weniger  in  dem  Versuch  einer 
genetischen  Erklärung  als  in  der  sorgfältigen  Beschreibung  einzelner 
Pantomimen  bestand,  die  man  auf  Grund  irgendeiner  durch  die 
Beobachtung  nahegelegten  Einteilung  der  Erscheinungen  unter- 
nahm. Dabei  wurde  jedoch  schon  diese  Einteilung  durch  die  im 
Vordergrund  stehenden  praktischen  Interessen  beeinträchtigt.  Denn 
da  man  bei  der  Beurteilung  der  Bewegungen  des  Schauspielers 
und  des  Redners  auf  eine  möglichst  adäquate  Darstellung  wirklich 
erlebter  Affekte  den  Hauptwert  legte,  so  ergab  sich  zunächst,  daß 
mimische  und  pantomimische  Bewegungen  überhaupt  nicht  gesondert 
wurden.  Sodann  erschien  es  als  das  Natürlichste,  daß  man  vor 
allem  die  von  dem  Gefühl  getragenen  eigentlichen  Affektäußerungen 
und  diejenigen  Bewegungen,  die  Gedanken  oder  Worte  andeuten, 
unterschied.  In  diesem  Sinne  stellt  bereits  Cicero  der  »significatio«, 
unter  der  er  den  Ausdruck  der  »afifectiones  animi«  versteht,  und 
auf  die  er  den  rednerischen  Vortrag  beschränken  möchte,  die  »de- 
monstratio« gegenüber,  durch  die  das  Wort  verdeutlicht  oder  ersetzt 
werde,  und  die  er,  weil  sie  vom  Schauspieler  verwendet  wird,  auch 
den  »gestus  scenicus«  nennt').  Ähnlich  unterscheidet  noch  J.  J.  Engel 
»ausdrückende«  und  »malende  Gebärden«,  wobei  er  den  letzteren 
auch    die   hinweisenden    zuzählt^].      Meist    ging   man  jedoch    nicht 


Cicero,  De  oratore,  Lib.  III,  cap.  9. 

J.  J.  Engel,  Ideen  zu  einer  Mimik,  I,   1785,  S.  59  ff. 


Hauptformen  pantomimischer  Bewegungen.  127 

einmal  so  weit,  sondern  verzichtete  nach  dem  Vorbilde,  das  schon 
der  gründlichste  Erörterer  der  Lehre  vom  »gestus«  im  Altertum, 
Quintilian,  gegeben,  überhaupt  auf  eine  Subsumtion  der  Erscheinun- 
gen unter  bestimmte  Allgemeinbegriiife ,  um  statt  dessen  einzelne 
Beispiele  in  loser  Aufeinanderfolge  zu  schildern'). 

Gegenüber  dieser  im  einzelnen  verdienstlichen,  an  allgemeinen 
Gesichtspunkten  aber  ergebnislosen  praktisch-ästhetischen  Betrach- 
tungsweise war  es  eine  für  die  psychologische  Behandlung  förderliche 
Wendung,  daß  in  neuerer  Zeit  mehr  und  mehr  ein  anderes  Inter- 
esse die  Beschäftigung  mit  den  Gebärden,  die  dem  Ausdruck  der 
Vorstellungen  dienen,  in  den  Vordergrund  rückte.  Es  waren  die 
praktischen  Fragen  der  Taubstummenbildung,  die  notwendig 
auch  auf  die  natürliche  Gebärdensprache  dieser  Unglücklichen  die 
Aufmerksamkeit  lenkten.  Hier  wurde  nun  von  selbst  eine  Unter- 
scheidung nahegelegt,  die  bei  den  ästhetischen  Erörterungen  über 
Mimik  und  Pantomimik  immer  wieder  verwischt  worden  war:  die 
Unterscheidung  derjenigen  Gebärden ,  die  dem  reinen  Ausdruck 
\'on  Vorstellungen  dienen,  von  den  Gefühlsäußerungen  der  Affekte. 
Waren  einmal  so  die  Gebärden  der  »Gedankenmitteilung*  als  eine 
selbständige  Klasse  gewonnen,  so  mußte  sich  unter  dem  hier 
betonten  Gesichtspunkt  der  Analogie  mit  der  Lautsprache  auch 
die  Forderung  einer  gewissen  »Etymologie«  der  als  Vorstellungs- 
zeichen verwendeten  Gebärden,  also  einer  Untersuchung  ihres  Ur- 
sprungs und  ihrer  näheren  Beziehungen  erheben.  Wie  sehr  man 
dabei  meist  noch  geneigt  blieb,  einfach  die  der  Lautsprache 
entnommenen  Kategorien  auf  die  Gebärden  zu  übertragen,  dafür 
bildet  freilich  die  noch  heute  vollständigste  Sammlung  von  Zeichen 
dieser  Art  einen  Beleg.  Sie  unterscheidet  die  Gebärden  lediglich 
in  Symbole  für  Hauptwörter,  Eigenschaftswörter  und  Zeitwörter, 
ohne  darauf  Rücksicht  zu  nehmen,  daß  diese  grammatischen  Kate- 
gorien in  der    Form,    in   der   sie   die  Lautsprache   besitzt,    für   die 


')  Quintilianus,  Institutiones  oratoriae,  XI,  3,  65 — 136.  Einen  revidierten  Text 
dieser  für  die  antike  Mimik  sehr  lehrreichen  Ausführungen  gibt  C.  Sittl  als  Anhang 
zu  seinem  den  Gegenstand  auf  Grund  der  Angaben  der  Schriftsteller  und  der  vor- 
handenen Kunstdenkmäler  behandelnden  Werke:  Die  Gebärden  der  Griechen  und 
Römer,   1890,  S.  350  ff. 


128  Die  Ausdrucksbewegungen. 


Gebärde  überhaupt  nicht  existieren').  Den  ersten,  auf  die  Natur 
der  Gebärden  selbst  gegründeten  und  mindestens  die  Haupt- 
gruppen mit  sicherem  Takt  herausgreifenden  Versuch  einer  Ein- 
teilung hat  wohl  E.  B.  Tylor  gemacht,  indem  er  »Bilder  in  der 
Luft«  und  das  wirkliche  Hinweisen  auf  die  Gegenstände  als  die 
zwei  Hauptklassen  pantomimischer  Bewegungen  unterschied^).  Wenn 
wir  uns  statt  der  > Bilder  in  der  Luft«  des  etwas  allgemeineren 
Ausdrucks  »Nachahmung«  bedienen,  so  dürften  in  den  beiden 
Klassen  der  hinweisenden  und  der  nachahmenden  Bewegun- 
gen in  der  Tat  die  Grundformen  der  Vorstellungsäußerungen  zu- 
treffend bezeichnet  sein.  Für  die  allgemeine  Bedeutung  dieser  bei- 
den Gebärdeformen  ist  aber  maßgebend,  daß  sie  keineswegs  bloß 
in  solchen  Fällen  vorkommen,  wo  durch  sie  ein  Ersatz  der  Laut- 
sprache erstrebt  wird,  sondern  daß  sie,  gerade  so  gut  wie  die 
mimischen  Bewegungen,  allgemeine  Bestandteile  der  Ausdrucks- 
bewegungen sind. 

3.    Theorie  der  pantomimischen  Bewegungen. 

Für  die  richtige  Würdigung  der  Bedeutung  der  pantomimischen 
Ausdrucksformen  ist,  wie  für  die  der  mimischen  Bewegungen,  das 
schon  oben  im  allgemeinen  berührte  Verhältnis  zu  den  Intensi- 
tätsäußerungen der  Affekte  in  erster  Linie  maßgebend.  Indem 
unter  allen  diesen  Symptomen  die  Intensitätsäußerungen  die  allge- 
meinsten, verbreitetsten  sind,  geben  sich  dadurch  die  beiden  andern 
von  vornherein  als  deren  besondere  Entwicklungsformen  zu  er- 
kennen, die  in  den  spezifischen  Eigenschaften  der  mimischen  und 
der  pantomimischen  Muskeln  begründet  sind  —  Eigenschaften, 
die  sich  infolge  der  Lage  und  allgemeinen  Funktion  der  Organe 
ausgebildet  haben.  Diese  Auffassung,  wonach  Qualitäts-  wie  Vor- 
stellungsäußerungen gewissermaßen  nach  verschiedenen  Richtungen 


I)  Dieses  im  übrigen  wertvolle  Verzeichnis  findet  sich  in  dem  Werke  von 
Ed.  Schmalz,  Über  die  Taubstummen  und  ihre  Bildung,  i  1838,  =  1842.  S.  314—339- 

']  E.  B.  Tylor,  Forschungen  über  die  Urgeschichte  der  Menschheit.  A.  d.  Engl. 
Kap.  II,  S.  20.  »Descriptive  or  imitative  signs«  unterscheidet  auch  W.  R.  Scott  (The 
Deaf  and  Dumb,  1870,2  p.  124).  Er  stellt  ihnen  aber  unzweckmäßigerweise  als 
zweite  Klasse  »natural  signs«  gegenüber,  unter  denen  alle  möglichen  andern,  ins- 
besondere auch  die  mimischen  Ausdrucksbewegungen,  zusammengefaßt  werden. 


Theorie  der  pantomimischen  Bewegungen.  J2q 

hin  entwickelte  Intensitätssymptome  darstellen,  bestätigt  sich  auch 
darin,  daß  sich  ganz  besonders  in  den  mimischen  und  pantomimischen 
Bewegungen,  abgesehen  von  ihrer  spezifischen  Bedeutung,  jedesmal 
zugleich  die  Stärke  des  Affektes  spiegelt.  Heftigere  Mimik  und 
rasche  pantomimische  Gestikulationen  verraten  meist  zu  allererst 
erregende  Affekte;  und  nicht  minder  gibt  sich  der  deprimierende 
Charakter  anderer  zunächst  im  Nachlaß  der  tonischen  Spannungen 
der  nämlichen  Muskelgebiete  zu  erkennen. 

Ist  es  auf  diese  Weise  eine  Art  Auslese,  die  den  Vorstellungs- 
äußerungen wie  den  Gefühlssymptomen  ihr  besonderes  Substrat  in 
bestimmten  Muskelgruppen  angewiesen  hat,  so  ist  aber  von  vorn- 
herein zu  erwarten,  daß,  analog  wie  die  mimischen  Bewegungen  in 
ihrer  Beziehung  zu  der  Funktion  der  spezifischen  Sinnesorgane  und 
in  der  hervorragenden  Sensibilität  der  Hautbedeckung  des  Angesichts 
(S.  iigf)  die  Bedingungen  dieser  Auslese  erkennen  lassen,  so  nicht 
minder  bei  den  pantomimischen  Bewegungen  ganz  bestimmte  Gründe 
der  Bevorzugung  obgewaltet  haben.  In  der  Tat  springt  ja  die 
Beziehung  dieser  Bewegungen  zu  den  Gegenständen  der  uns 
umgebenden  Außenwelt,  auf  die  alle  unsere  Vorstellungen  be- 
zogen werden,  unmittelbar  in  die  Augen.  Die  Arme  und  Hände  sind 
von  der  frühesten  Entwicklung  des  Menschen  an  als  die  Organe 
tätig,  mit  denen  er  die  Gegenstände  ergreift  und  bewältigt.  Aus 
dieser  offenbar  ursprünglicheren  Verwendung  als  Greiforgane,  in 
welcher  der  Mensch  den  analogen  Tätigkeiten  der  ihm  nahe- 
stehenden Tiere  nur  dem  Grade,  nicht  dem  Wesen  nach  überlegen 
ist,  führt  aber  eine  jener  stufenweisen  Veränderungen,  die  zunächst 
eigentlich  regressiver  Art  sind,  in  ihren  Wirkungen  jedoch  wichtige 
Bestandteile  einer  fortschreitenden  Entwicklung  bilden,  zur  ersten, 
primitivsten  Form  pantomimischer  Bewegungen:  zur  hinweisenden 
Gebärde.  Sie  ist  genetisch  betrachtet  nichts  anderes  als  die  bis 
zur  Andeutung  abgeschwächte  Greifbewegung.  In  allen 
möglichen  Übergängen  von  der  ursprünglichen  zur  späteren  Form 
begegnet  sie  uns  noch  fortwährend  beim  Kinde.  Dieses  greift  auch 
nach  solchen  Gegenständen,  die  es,  weil  sie  ihm  zu  fern  sind,  nicht 
erreichen  kann.  Damit  geht  aber  die  Greifbewegung  unmittelbar 
in  die  Deutebewegung  über.  Nach  oft  wiederholten  vergeblichen 
Versuchen,  die  Gegenstände  zu  ergreifen,  verselbständigt  sich  dann 

Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  g 


I  ?o  Die  Ausdrucksbewegungen. 


erst  die  Deutebewegung  als  solche.  Das  Kind  weist  auf  einen 
Gegenstand  hin,  den  es  zu  besitzen  wünscht,  und  dann  bald  auch 
auf  einen  solchen,  der  seine  Neugierde  erregt,  und  auf  den  es 
die  Aufmerksamkeit  seiner  Umgebung  lenken  möchte.  Hiermit  ist 
der  Weg  von  der  Greif-  zur  Deutebewegung  vollständig  zurück- 
gelegt, und  diese  gewinnt  nun  neben  jener  in  dem  Maß  eine  selb- 
ständige Bedeutung,  als  die  anfänglichen  Bewegungstriebe  vor  ihrem 
Übergang  in  äußere  Willenshandlungen  gehemmt  und  zu  bloßen 
Affekten  ermäßigt  werden.  Daneben  wird  aber  zugleich  als  posi- 
tives Moment  das  Streben  wirksam,  die  eigenen  Gemütszustände 
nach  außen  kundzugeben.  Beide  Bedingungen  gehören  mindestens 
in  diesem  Grade  der  Ausbildung  nur  der  menschlichen  Entwicklung 
an.  Darum  ist  kein  Tier,  nicht  einmal  der  in  der  Organisation 
der  Arme  und  Hände  dem  Menschen  so  nahestehende  Affe,  zu 
der  Entwicklung  hinweisender  Gebärden  aus  Greifbewegungen  vor- 
geschritten. Höchstens  sind  hier  jene  Übergangsformen  zu  finden, 
bei  denen  eine  bestimmte  Bewegung  erst  durch  die  Unmöglich- 
keit, den  Gegenstand  zu  erreichen,  die  Bedeutung  einer  Gebärde 
empfängt. 

Zu  dieser  ersten  tritt  viel  später  die  zweite  Form  von  Vorstel- 
lungsäußerungen, die  der  nachahmenden  Gebärden.  Auch  sie 
haben  ihre  Vorstufe  in  Erscheinungen,  die  im  Tierreich  weitver- 
breitet sind,  und  als  deren  höhere  Entwicklungsformen  sie  betrachtet 
werden  können.  Imitative  Bewegungen  finden  sich  als  Wirkun- 
gen des  Zusammenlebens  bei  höheren  wie  niederen  Tieren.  Sie 
bestehen  aber  hier  ausschließlich  darin,  daß  die  Handlungen  glei- 
cher oder  ähnlicher  lebender  Wesen  nachgeahmt  werden. 
Solche  Bewegungen  spielen  bei  den  Instinktäußerungen  aller  gesellig 
lebenden  Tiere  offenbar  eine  wichtige  Rolle.  Wenn  die  Ameisen 
und  Bienen  bei  der  Anlegung  ihrer  Bauten,  der  Herbeischaffung  der 
Nahrung  usw.  unverkennbar  in  Übereinstimmung  handeln,  so  beruht 
dies  sicherlich  nicht  auf  absichtlicher  Verständigung;  und  noch  we- 
niger kann  es  ein  rein  mechanischer  Ablauf  von  Nervenerregungen 
sein,  der  in  jedem  Individuum  durch  äußere  Reize  ausgelöst  wird. 
Mögen  daher  auch  vererbte  Anlagen  der  Organisation  bei  den 
Äußerungen  der  tierischen  Instinkte  mithelfende  Bedingungen  sein, 
in  alle  jene  scheinbar  nach  gemeinsamem  Plan  ausgeführten  Instinkt- 


Theorie  der  pantomimischen  Bewegungen.  1^1 

handlungen  greifen  vor  allem  Nachahmungsbevvegungen  bestimmend 
ein.     Sie  machen   es  verständlich,    wie,   sobald  nur   einmal  gewisse 
übereinstimmende   Triebrichtungen   gegeben    sind,    ein    Zusammen- 
wirken  der  Individuen  möglich   wird,   das  zweckmäßige  Enderfolge 
herbeiführt,    die   keineswegs  von   den   einzelnen  selbst  als  zu   errei- 
chende Zwecke  vorgestellt  worden  sind^).     Niemals  kommen  in  der 
Tat  psychische  Massenerscheinungen  im  Tierreich   anders   zustande, 
als   indem    gewisse   Individuen   gewisse  Triebhandlungen    ausführen, 
die    dann    von    andern    unter    der   Wirkung    der    nämlichen    Triebe 
nachgeahmt    werden.     Diese    subjektive   Bedingung   für   den  Erfolg 
der  Nachahmungsreize   führt   aber  zu  dem  Schluß,   daß  bei  solchen 
Kollektiverscheinungen    die    Wirkung    der    Nachahmung    auf    ähn- 
lichen Bedingungen  beruht   wie  die  Erregung  mimischer  oder  pan- 
tomimischer  Mitbewegungen  beim  Menschen.     Ein  mimischer  Aus- 
druck, z.  B.   ein  lachendes  oder  weinendes  Gesicht,  bringt  bei  dem, 
der    ihn     sieht,     infolge    der    festen    Assoziation    von    Ausdrucks- 
bewegung  und   Affekt,    eine    ähnliche    Gemütsbewegung   und    diese 
wiederum    den   nämlichen    mimischen   Ausdruck  hervor.     Beim   er- 
wachsenen   Kulturmenschen    hat    sich    diese    Wirkung,    infolge    der 
hemmenden  Einflüsse   des  Willens   auf  die   Äußerung   der   Affekte, 
zu  einer  schwachen  inneren  Affekterregung  ermäßigt.     Beim  Kinde 
pflegt   sich   noch   ungehemmt    das    erweckte   Mitgefühl   in   überein- 
stimmenden Ausdrucksbewegungen  zu  entladen,  die  dann  nach  dem 
gleichen  Assoziationsgesetz   wieder  verstärkend  auf  die  Gemütsstim- 
mung zurückwirken.     Von  einem  »Nachahmungstrieb«  als  einer  so- 
zusagen   unzerlegbaren   psychischen  Kraft  zu   sprechen,    haben   wir 
daher    nirgends    Anlaß.      Vielmehr    werden    wir   annehmen    dürfen, 
daß   auch   bei  den  Tieren  die  wahrgenommene  Triebbewegung  zu- 
nächst den  nämlichen  Affekt  und  Trieb  erzeugt,  der  sich  dann  durch 
die  gleiche  Bewegung  Befriedigung  schafft.    Während  aber  bei  den 
niederen  Tieren   vorzugsweise    die   zu   irgendwelcher  Arbeitsleistung 
geeigneten  Körperbewegungen  der   Sitz    nachahmender  Affektäuße- 
rungen  sind,    treten   schon   bei    dem   menschenähnlichen  Affen  und 
dann  ebenso  beim  Menschen   die   mimischen  Bewegungen  beson- 


^)  Über  die  Frage  der  Entwicklung  der  Instinkte  überhaupt  verweise  ich  hier 
auf  die  Erörterung  in  meinen  Vorlesungen  über  die  Menschen-  und  Tierseele,  ^ 
1897,  S.  455  ff- 


1-7  2  Die  Ausdrucksbewegungen. 


ders  hervor.  Der  Grund  liegt  hier  offenbar  in  der  nur  dem  Men- 
schen und  den  ihm  ähnlichsten  Wesen  eigenen  Ausbildung  der 
mimischen  Ausdrucksbewegungen  der  Affekte.  Auch  bei  dem  Affen 
bleibt  jedoch  die  mimische  oder  pantomimische  Nachahmungsbe- 
wegung eine  Affektäußerung,  die  sich  durchaus  auf  die  Nachahmung 
der  gleichen  Ausdrucksbewegungen  anderer  ähnlicher  Wesen,  z.  B. 
eines  andern  Affen  oder  des  Menschen,  seltener  schon  solcher 
Tiere,  die  in  ihrer  Leibesgestalt  mehr  abweichen,  beschränkt. 
Darum  erscheinen  diese  Nachahmungen  in  der  Regel  als  ein  ab- 
solut zweckloses  Tun,  ähnlich  etwa  dem  sinnlosen  Nachsprechen 
idiotischer  Kinder,  Auch  ihre  Quelle  liegt  sichtiich  in  der  Miterre- 
gung von  Affekten,  deren  Symptome  die  nachgeahmten  Hand- 
lungen selbst  sind.  Der  Übergang  solcher  rein  sympathischer 
Bewegungen,  bei  denen  die  Handlungen  gleichartiger  Wesen  die 
notwendigen  Objekte  der  imitativen  Affektäußerung  bleiben,  auf 
beliebige  in  den  Affektverlauf  eingehende  Vorstellungen 
ist  nun  eben  deshalb,  weil  er  eine  spezifisch  menschliche  Erwerbung 
ist,  jedenfalls  ein  spätes  Produkt  der  Entwicklung.  Darum  ist  es 
nicht  wahrscheinlich,  daß  er  vor  der  Sprache  und  unabhängig 
von  ihr  hervorgetreten  sei.  In  der  Tat  wird  dieser  Übergang  am 
ehesten  begreiflich,  wenn  wir  annehmen,  daß  er  unter  der  Mit- 
wirkung des  Strebens,  die  Sprachäußerung  einem  andern  verständ- 
lich zu  machen,  zustande  kam.  Dieser  zu  dem  ursprünglichen 
Affekt  hinzukommende  Trieb  konnte  erst  der  nachahmenden  Be- 
wegung jene  Richtung  auf  beliebige  Objekte  der  Außenwelt  geben, 
wodurch  diese  nun  ebensolche  affekterregende  Vorstellungsinhalte 
wurden,  wie  es  zuvor  nur  die  wahrgenommenen  Ausdrucksbewe- 
gungen gewesen  waren.  Vor  allem  dann  lag  dieser  Übergang  nahe, 
wenn  der  nachzubildende  Gegenstand  kein  ruhendes  Objekt,  son- 
dern wiederum  eine  Handlung  war,  dadurch  also  auch  dem  Aus- 
gangspunkt der  primären  imitativen  Bewegungen  nahelag.  Vollends 
nahe  gerückt  wurden  sich  beide  Formen,  wenn  die  durch  die  Aus- 
drucksbewegung mitgeteilte  Vorstellung  eine  frühere  oder  bevor- 
stehende Handlung  des  Redenden  selbst  oder  des  Angeredeten  be- 
zeichnete. Denn  hier  ging  ja  nur  das  eine  Assoziationsglied  der 
imitativen  Mitbewegung  von  der  unmittelbar  gesehenen  Handlung 
auf  ihr  Erinnerunp-sbild    über.     In    der    Tat    kommen    noch    heute 


Verbindungen  und  Übergänge  zwischen  verschiedenen  Ausdrucksformen,      i  -^  -j 

nachahmende  Bewegungen  als  einfache  Afifektäußerungen  hauptsäch- 
lich da  vor,  wo  sie  die  Vorstellung  einer  Handlung  andeuten;  und 
sie  begleiten  hier  am  häufigsten  entweder  die  afFektstarke  Erzählung 
geschehener  Ereignisse  oder  die  afifektbetonte  Aufforderung  zur  Aus- 
führung gewisser  Handlungen,  die  Ermahnung,  den  Befehl,  die  Bitte. 
Bewegungen,  die  als  Nachahmungen  ruhender  Gegenstände  er- 
scheinen, sind  innerhalb  der  gewöhnlichen  Affektäußerungen  sehr 
selten.  Sie  gewinnen  erst  ihre  Bedeutung  unter  der  Wirkung  der 
Motive,  die  aus  den  Ausdrucksbewegungen  die  eigentliche  Gebärden- 
sprache hervorgehen  lassen^). 


4.    Verbindungen  und  Übergänge  zwischen  verschiedenen 
Ausdrucksformen. 

Sind  die  hinweisenden  und  die  nachahmenden  Gebärden  zwei 
Formen  der  Vorstellungsäußerung,  die,  verschiedenen  Quellen  ent- 
sprungen, auch  in  ihrer  Erscheinungsweise  wesentlich  abweichen,  so 
bietet  nun  gleichwohl  die  Beobachtung  eine  Menge  einzelner,  auf 
Vorstellungen  zu  beziehender  Afifektsymptome,  die  zwischen  diesen 
Formen  in  der  Mitte  stehen  oder  beiden  gleichzeitig  zuzurechnen 
sind.  Diese  Komplikation  wird  noch  dadurch  erhöht,  daß  sich  der 
mimische  Ausdruck  von  Gefühlen  nicht  nur  mit  den  pantomimischen 
Bewegungen  verbindet,  sondern  auch  in  dieser  Verbindung  eine  Be- 
deutung gewinnen  kann,  durch  die  er  gleichzeitig  oder  sogar  vor- 
zugsweise zur  Vorstellungsäußerung  wird.  So  läßt  sich  schon  bei 
der  einfachen  Gebärde  des  Winkens  mit  der  Hand,  mit  der  wir  je 
nach  ihrer  Richtung  jemandem  zu  verstehen  geben,  er  möge  näher 
kommen  oder  sich  entfernen,  wohl  fragen,  ob  sie  als  hinweisende 
oder  als  nachahmende  zu  deuten  sei.  Wenn  der  Zornige  gegen  die 
wirkliche  oder  die  bloß  vorgestellte  Person,  die  seinen  Affekt  er- 
regt, die  Fäuste  ballt,  mit  den  Zähnen  knirscht  und  mit  dem  gan- 
zen Körper  energische  Angriffsbewegungen  ausführt,  so  wird  man 
diesen  ganzen  Symptomenkomplex,  insoweit  er  neben  Gefühls-  zu- 
gleich Vorstellungsäußerungen  enthält,  als  eine  Verbindung  be- 
trachten müssen,    die  in  jeder   einzelnen  Bewegung  beide  Gebärde- 


')  Vgl.  das  folgende  Kapitel.  V,   i. 


l^i\  Die  AnsdrucksbewegungeB. 

formen  vereinigt.  So  ist  das  Ballen  der  Faust  zunächst  eine  hin- 
weisende Gebärde,  denn  es  erhält  erst  durch  die  Richtung  auf  den 
Gegenstand  seine  Bedeutung.  Zugleich  ist  es  aber  eine  höchst 
ausdrucksvolle  nachahmende  Gebärde,  nämlich  die  abgeschwächte 
Form  des  aus  dem  gleichen  Affekt  entspringenden  tätlichen  An- 
griffs auf  einen  Feind.  Dazu  kommt  ein  weiteres  Moment,  das 
die  Grenzen  noch  mehr  verwischt,  weil  es  einer  und  derselben 
Ausdrucksform  in  verschiedenen  Fällen  wechselnde  Bedeutungen 
anweist.  Es  besteht  in  der  zunehmenden  psychischen  Um- 
wandlung der  ursprünglich  triebartig  auftretenden  Ausdrucks- 
bewegungen in  willkürliche.  Infolgedessen  können  diese  bald  noch 
in  ihrer  ursprünglichen  triebartigen  Form,  als  ungesuchte  Symptome 
wirklicher  AlTekte,  auftreten,  bald  infolge  von  Hemmungen,  die 
von  widerstreitenden  Motiven  ausgehen,  bloß  rudimentäre  Afifekt- 
äußerungen  sein,  bald  endlich  infolge  anderer  Konstellationen  der 
Motive  als  willkürliche  Nachbildungen  natürlicher  Äußerungen  er- 
scheinen. In  diesem  letzteren  Fall  verwandeln  sich  von  selbst  alle 
Ausdrucksbewegungen  in  nachahmende  Gebärden.  Auch  die  mimi- 
schen Bewegungen  sind  dann  nicht  mehr  bloße  Gefühlssymptome, 
sondern  sie  bilden  Bestandteile  des  ganzen  Symptomenbildes,  das 
z.  B.  an  die  Vorstellung  eines  Erzürnten  erinnern  soll,  indem  es 
die  Mienen  und  Gebärden  desselben  nachahmt.  Hierin  liegt  schon 
ausgesprochen,  daß  sich  gerade  in  diesem,  für  die  Psychologie 
der  Sprache  wichtigsten  Fall  die  sämtlichen  sonstigen  Affektäuße- 
rungen den  Vorstellungssymptomen  unterordnen.  Dies  entspringt 
aber  wieder  aus  der  mit  solcher  Mitteilung  immer  verbundenen 
Ermäßigung  der  Affekte  und  der  entsprechenden  Verstärkung  der 
Vorstellungsbestandteile  der  psychischen  Inhalte.  Gleichwohl  darf 
diese  Tatsache  nicht  zu  dem  oft  begangenen  Irrtum  verführen, 
als  wenn  die  Mitteilung  von  Vorstellungen  allgemein  auf  einem 
affektlosen  Verhalten  der  Seele  beruhe  oder  auch  nur  in  der  Regel 
mit  einem  solchen  verbunden  sei.  Da  vielmehr  die  Entstehung 
von  Ausdrucksbewegungen  überhaupt  gar  nicht  anders  denkbar 
ist  als  auf  Grund  bestimmter  Affekte,  so  kann  es  sich  überall 
nur  um  ein  Zurücktreten  der  Gefühlsinhalte  derselben  hinter  ihre 
Vorstellungselemente,  und  insofern  also  um  eine  Ermäßigung  der 
Affekte     selbst    handeln.      Doch    den    alls^emeinen    Charakter    des 


Verbindungen  und  Übergänge  zwischen  verschiedenen  Ausdrucksformen.        1^5 

Affekts  behält  der  die  Mitteilung  begleitende  Seelenzustand  immer, 
und  auch  die  ursprüngliche  Intensität  und  Gefühlsstärke  gewinnt  er 
um  so  mehr  zurück,  je  lebhafter  die  Ausdrucksbewegungen  werden. 
Denn  die  begleitenden  sinnlichen  Empfindungen  und  die  intensiver 
werdenden  Gefühle  nähern  nun  die  nachahmenden  Gebärden  selbst 
mehr  und  mehr  einem  wirklichen  Nacherleben  der  Handlungen,  die 
sie  andeuten. 


Zweites  Kapitel. 

Die  Gebärdensprache. 

I.   Die  Entwicklungsformen  der  Gebärdensprache. 

I.    Begriff  und  allgemeine  Eigenschaften  der  Gebärdensprache. 

Man  pflegt  die  Gebärdensprache  als  eine  »Äußerung  der  Ge- 
danken durch  sichtbare,  aber  nicht  hörbare  Bewegungen«  zu  defi- 
nieren und  demnach  der  Gebärdenäußerung  ihre  Stellung  mitten- 
inne  zwischen  Schrift  und  Sprache  anzuweisen.  Gleich  der  ersteren 
stelle  sie  die  Begrifle  in  sichtbaren  Zeichen  dar,  während  doch  diese 
Zeichen,  ähnlich  den  Sprachlauten,  rasch  vorübergehende  Vorgänge 
seien.  Sie  erscheint  so  als  eine  Bilder-  oder  Zeichenschrift,  die  ihre 
Symbole  mittels  der  flüchtigen  Gebärde  in  die  Luft  zeichnet,  statt 
auf  ein  solides,  sie  dauernd  festhaltendes  Material"). 

Da  nun  die  Schrift  der  Sprache  gegenüber  ein  verhältnismäßig 
spätes  und  in  höherem  Grade  die  erfinderische  Tätigkeit  heraus- 
forderndes Erzeugnis  ist,  so  wird  dadurch  zugleich  die  weitver- 
breitete Meinung  verständlich,  die  Gebärdensprache  sei,  wie  in  den 
meisten  Fällen  ihrem  Erfolge  nach  ein  Ersatzmittel  für  die  Laut- 
sprache, so  auch  nach  ihren  ursprünglichen  Motiven  aus  der  Absicht 
entsprungen,  einen  solchen  Ersatz  zu  schaffen.  Sie  wird  daher  von 
diesem  Standpunkt  aus  ganz  oder  mindestens  in  höherem  Maß  als 
die  Lautsprache  für  ein  Produkt  planmäßiger  Erfindung  gehalten; 
und  deshalb,  weil  sie  willkürlich  erfunden  sei,  sollen  denn  auch 
die  Gebärden  in  einer  leichter  verständlichen  Beziehung  zu  den 
Gegenständen  stehen,  die  sie  andeuten. 

Diese  Auffassung  wird  jedoch  von  einer  andern  durchkreuzt,  die 


Tylor,  Urgeschichte  der  Menschheit.  A.  d.  Engl,  von  H.  Müller  S.  105  ff. 


Begriff  und  allgemeine  Eigenschaften  der  Gebärdensprache.  i  ^  - 

von  einem  nicht  minder  bezeichnenden  Unterschiede  der  Gebärden- 
und  Lautsprache  ausgeht.  Die  Lautsprache  tritt  uns  in  einer  unab- 
sehbaren Fülle  einzelner  Gestaltiuigen  entgegen,  deren  nähere  oder 
entferntere  Beziehungen  sich  durchweg  erst  den  Hilfsmitteln  der 
sprachwissenschaftlichen  Analyse  erschließen,  so  daß  für  die  prak- 
tischen Zwecke  der  Mitteilung  jede  Sprache  wie  ein  konventionelles 
System  von  Zeichen  erscheint,  dessen  Gebrauch  besonders  erlernt 
und  eingeübt  sein  muß.  Das  ist  wesentlich  anders  bei  der  Gebärden- 
sprache, die  schon  Quintilian  »omnium  hominum  communis  sermo« 
genannt  hat').  Sie  ist,  wenn  auch  nicht  in  allen,  so  doch  in  ihren 
wichtigsten  und  verbreitetsten  Formen  eine  Art  Universalsprache, 
die  unter  den  verschiedensten  Entstehungsbedingungen  zahlreiche 
Bestandteile  gemein  hat,  so  daß  zwischen  ihren  verschiedenen,  allen- 
falls den  »Dialekten«  einer  Lautsprache  vergleichbaren  Entwicklungs- 
formen oft  ohne  besondere  Schwierigkeit  eine  Verständigung  möglich 
ist.  Dieser  universelle  Charakter  ist  aber  sichtlich  durch  die  un- 
mittelbar in  der  Anschauung  gegebene  Beziehung  bedingt,  in  der 
die  Gebärde  und  ihre  Bedeutung  zueinander  stehen.  Durch  diese 
Beziehung  gewinnt  die  Gebärdensprache  eine  Ursprünglichkeit  und 
Natürlichkeit,  wie  solche  die  Lautsprache  weder  heute  besitzt  noch 
in  irgendwelchen  früheren  sprachgeschichtlich  zu  erschließenden 
Formen  jemals  besessen  hat.  Nimmt  man  hinzu,  daß  schon  ge- 
wisse Ausdrucksbewegungen  der  Tiere  eine  den  Gebärden  des 
Menschen  ähnliche  und  darum  für  uns  leicht  verständliche  Bedeu- 
tung haben,  so  kann  man  dadurch  wohl  zu  der  von  manchen 
Anthropologen  ausgesprochenen  Vermutung  geführt  werden,  die 
Gebärdensprache  sei  die  eigentliche  Ursprache,  und  sie  sei,  als  das 
natürlichere  Hilfsmittel  der  Mitteilung,  der  Lautsprache  vorausge- 
gangen. 

Die  Antinomie,  die  in  diesen  verschiedenen  Auffassungen  zutage 
tritt,  macht  es  bereits  wahrscheinlich,  daß  die  Gebärdensprache  durch- 
aus kein  so  einheitliches,  nach  ihrem  Ursprünge  zusammengehöriges 
Ganzes  ist,  wie  man  dies  bei  ihrer  zuletzt  erwähnten  Charakterisierung 
als  einer  Ur-  und  Universalsprache  anzunehmen  pflegt.  In  der  Tat 
kann    sie    nach    den   mannigfachen    Bedingungen    ihrer   Entstehung 


1,1  Quintilian,  Instit.  orator.  XI,  3,  87. 


I^S  I^is  Gebärdensprache. 


Abweichungen  darbieten,  die  uns  von   vornherein   nötigen,  mehrere 
Entwicklungsformen  zu  unterscheiden. 

2.    Gebärdensprache  der  Taubstummen. 

Unter  allen  Formen  der  Gebärdensprache  hat  in  neuerer  Zeit 
diejenige  der  Taubstummen  wohl  am  meisten  die  Aufmerksamkeit 
auf  sich  gelenkt.  Das  praktische  Interesse  des  Taubstummenunter- 
richts ist  hier  der  Beschäftigung  mit  dem  Gegenstand  besonders 
förderlich  gewesen.  Freilich  hat  aber  auch  dieses  Interesse  durch 
die  mannigfachen  einander  zum  Teil  widerstreitenden  pädagogischen 
Anschauungen  und  Maßregeln,  die  aus  ihm  hervorgegangen  sind, 
auf  die  Art  und  den  Umfang  der  Gebärdenmitteilung  selbst  nicht 
wenig  hinübergewirkt.  Unter  den  sonstigen  Bedingungen  steht  natür- 
lich der  Einfluß  der  Umgebung  obenan.  Neben  ihm  kommt  dann 
noch  der  Grad  des  Gehörmangels  und  die  Zeit  seines  Eintritts  in 
Betracht.  Denn  der  Gehörmangel  des  Taubstummen  fällt  zwar  stets 
unter  die  hochgradigen  Sinnesdefekte,  da  geringere  Gehörsschwäche 
nicht  den  Verlust  der  Sprache  zur  Folge  hat.  Aber  darum  ist  jener 
doch  keineswegs  in  allen  Fällen  ein  absoluter,  und  je  nachdem  Reste 
des  Gehörs  oder  auch  nur  Erinnerungen  an  einstige  Schallempfin- 
dungen vorhanden  sind  oder  fehlen,  gestalten  sich  die  Bedingungen 
für  die  Gebärdenmitteilung  verschieden.  Nicht  minder  ist  die  Frage, 
ob  der  Taubstumme  im  Hause,  in  der  ausschließlichen  Umgebung 
Hörender,  oder  ob  er  in  Anstalten  mit  seinesgleichen  aufwächst, 
und  endlich,  unter  welchem  Unterrichtssystem  er  erzogen  wird,  von 
Bedeutung. 

Am  ungünstigsten  für  die  spontane  Entwicklung  der  Gebärden- 
sprache ist  begreiflicherweise  das  Leben  des  einzelnen  Taubstummen 
in  einer  hörenden  Umgebung.  Wie  das  hörende,  so  empfangt  auch 
das  gehörlose  Kind  die  erste  Anregung  zur  Mitteilung  seiner  Wünsche 
und  Vorstellungen  vom  Erwachsenen.  Die  Unmöglichkeit,  sich  ihm 
durch  Laute  verständlich  zu  machen,  läßt  dann  von  selbst  zu  ein- 
fachsten, zunächst  fast  ausschließlich  hinweisenden  Gebärden  greifen. 
Sobald  sich  aber  die  Intelligenz  des  Kindes  zureichend  entwickelt 
hat,  pflegt  allmählich  die  Umgebung  das  gesprochene  Wort  durch 
das   geschriebene    zu   ergänzen,    und    da    die    wirkliche  Schrift  nicht 


Gebärdensprache  der  Taubstummen.  I  -jg 

überall  zur  Hand  ist,  so  wird  sie  dann  durch  die  Nachbildung  der 
Schriftzeichen  mit  den  Fingern  ersetzt.  So  kann  gewissermaßen  auf 
natürlichem  Weg  eine  völlig  künstliche,  erst  auf  Grundlage  der 
Schrift  mögliche  Gebärdensprache  entstehen. 

Diese  Verhältnisse  machen  es  verständlich,  daß  der  erste  Versuch 
einer  systematischen  Ausbildung  der  Gebärdensprache  für  die  Zwecke 
des  Taubstummenunterrichts  das  Fingeralphabet  war.  In  Spanien, 
der  Heimat  dieses  Unterrichtszweiges,  erfunden,  ist  es  in  verschie- 
denen Formen,  bald  als  einhändiges,  bald  als  zweihändiges  Zeichen- 
system, durch  alle  zivilisierten  Länder  gewandert,  und  es  hat  sich 
später  namentlich  in  der  Gunst  solcher  Taubstummenlehrer  erhal- 
ten, die  in  der  natürlichen  Gebärde  ein  Hindernis  für  die  Er- 
reichung des  höchsten  Zieles  der  Taubstummenbildung,  der  Erwer- 
bung der  artikulierten  Lautsprache,  erblickten. 

Den  vollen  Gegensatz  zu  dieser  ganz  und  gar  künstlichen  Finger- 
schrift bildet  nun  jene  Gebärdensprache,  die  sich  von  selbst  aus- 
bildet, wenn  entweder  von  früh  an  mehrere  Taubstumme  zusammen- 
leben, oder  wenn,  was  bis  zu  einem  gewissen  Grade  diese  zwingendste 
Bedingung  ersetzen  kann,  die  hörende  Umgebung  sich  selbst  den 
Bedürfnissen  des  Stummen  anzupassen  und  in  seine  Vorstellungs- 
und Gefühlsweise  einzuleben  sucht.  Mit  Recht  kann  man  das  so 
sich  ausbildende  Zeichensystem  eine  natürliche  Gebärdensprache 
nennen,  weil  es  an  sich  gar  keine  schon  existierenden  Hilfsmittel 
der  Mitteilung,  weder  die  Lautsprache  noch  die  Schrift,  fordert 
und  darum  auch  nicht  notwendig  einer  fortlaufenden  längeren  Tra- 
dition bedarf,  sondern  nötigenfalls  in  einem  Kreise  von  Taubstummen 
oder  von  Taubstummen  und  Hörenden  völlig  selbständig  entstehen 
kann.  Freilich  kommt  das  nur  selten  wirklich  vor,  da  irgendeine 
Art  Überlieferung  nicht  leicht  fehlt  und  namentlich  in  den  Fällen, 
wo  Taubstumme  dauernd  zusammenbleiben,  also  in  den  Taubstummen- 
anstalten, eine  so  überwiegende  Rolle  spielt,  daß  das  in  einer  solchen 
Anstalt  herrschende  System  von  Gebärdezeichen  beinahe  ebensosehr 
als  ein  durch  Überlieferung  angeeignetes  und  konventionelles  ange- 
sehen werden  kann,  wie  ein  beliebiger  lokaler  Dialekt  einer  Laut- 
sprache. Immerhin  tritt  auch  dann  der  natürliche  Charakter  eines 
solchen  Systems  in  zwei  Erscheinungen  hervor,  die  der  Lautsprache 
fehlen  oder  höchstens  in  entfernten  Andeutungen  in  ihr  vorkommen. 


140  Die  Gebärdensprache. 


Die  eine  besteht  darin,  daß  innerhalb  eines  räumlich  beschränkten 
Gebietes  Neubildungen  außerordentlich  häufig  auftreten:  sie  sind 
durch  die  Natur  der  Gebärdenmitteilung  nahegelegt  und  verbinden 
sich  daher  fortwährend  und  oft  ohne  deutliches  Bewußtsein  der 
Neubildung  mit  dem  Gebrauch  der  überkommenen  Symbole.  Die 
zweite,  noch  augenfälligere  Erscheinung  ist  die,  daß  räumlich  weit 
voneinander  entfernte  und  zweifellos  ganz  unabhängig  entstandene 
Zeichensysteme  in  einem  großen  Teil  ihrer  Bestandteile  einander 
gleichen  oder  doch  nahe  verwandt  sind,  eine  Verständigung  also 
zwischen  denen,  die  sich  solcher  Gebärdeformen  bedienen,  meist 
ohne  Schwierigkeit  möglich  ist.  Hierin  besteht  eben  die  oft  ge- 
rühmte Universalität  der  Gebärdensprache.  Übrigens  versteht  es 
sich  von  selbst,  daß  diese  Universalität  nur  für  Vorstellungen  gilt, 
die  hinreichend  allgemeingültiger  Art  sind.  Demnach  bilden  das  ich 
und  du,  das  dieser  und  jener,  das  hier  und  dort,  oder  die  Erde, 
der  Himmel,  die  Wolken,  die  Sonne,  das  Haus,  der  Baum,  die 
Blume,  ferner  das  Gehen,  Stehen,  Liegen,  Schlagen  und  viele 
andere  Gegenstände  und  Tätigkeiten,  die  im  wesentlichen  überall 
nach  den  nämlichen  bevorzugten  Merkmalen  apperzipiert  werden, 
die  Substrate  eines  mit  wenigen  Variationen  übereinstimmend  wieder- 
kehrenden Vorrats  von  Gebärdezeichen.  Die  einzelnen  Personen, 
die  in  der  bestimmten  Gemeinschaft  leben,  die  besonderen,  an  den 
Wohnort  und  an  die  speziellen  Zeitbedingungen  gebundenen  Gegen- 
stände, Gewohnheiten  und  Erinnerungen  aber,  sie  variieren  natür- 
lich auch  in  den  Zeichen,  die  für  sie  gebraucht  werden,  von  Ort 
zu  Ort  und  in  vielen  ihrer  Bestandteile  sogar  von  einer  Generation 
zur  andern,  ja  von  Jahr  zu  Jahr  mit  den  wechselnden  Erlebnissen. 
In  dieser  Beziehung  gibt  die  Gebärdensprache  sogar  ein  leben- 
digeres Bild  von  dem  fortwährenden  Fluss  der  Lebensinhalte  einer 
jeden  beschränkteren  wie  weiteren  Gemeinschaft,  als  es  die  Laut- 
sprache zu  tun  vermag,  weil  diese  in  viel  höherem  Maß  an  einen 
festen  Bestand  von  Symbolen  gebunden  ist  und  daher  zumeist  auch 
das  Neue  enger  an  das  Bekannte  anschließt,  indem  sie  sich  durch 
Übertragungen  und  Verbindungen  der  schon  geläufigen  Wörter  zu 
helfen  sucht.  Da  auf  diese  Weise  innerhalb  der  Gebärdensprache 
fortan  weit  radikalere  Neubildungen  vorkommen,  als  in  der  ungleich 
stabileren  Lautsprache,  so  fordert  jene  aber  auch  in  höherem  Grade 


Gebärdensprache  der  Taubstummen.  I  _i  j 

ZU  willkürlichen  Neubildungen  heraus,  und  diese,  wenn  sie  nur 
irgendwie  den  auszudrückenden  Begriffen  adäquat  sind,  gehen  dann 
ohne  Schwierigkeit  in  den  allgemeinen  Besitz  über.  Von  der  Scheu, 
die  auf  dem  Gebiet  der  Lautsprache  den  überkommenen  Wortschatz 
im  ganzen  getreu  bewahrt  und  neue  Eindringlinge  nur  selten  zuläßt, 
ist  in  der  Gebärdensprache  nicht  die  Rede.  Sie  bemächtigt  sich  be- 
gierig neuer  Bildungen,  um  damit  ihrer  stets  empfundenen  Armut 
abzuhelfen.  Mehr  noch  als  den  Taubstummen  selbst  macht  sich 
dieses  Bedürfnis  oft  ihrer  hörenden  Umgebung  fühlbar,  die  immer 
mit  der  Schwierigkeit  kämpfen  muß,  das  in  der  Lautsprache  Gedachte 
durch  Gebärden  auszudrücken.  Sobald  dieser  Einfluß  der  Umgebung 
überwiegend  wird,  so  streben  in  die  Gebärdensprache  auch  solche 
Elemente  überzugehen,  die  eigentlich  nur  in  der  Lautsprache  mög- 
lich, also,  wenn  sie  in  Gebärden  umgesetzt  werden,  künstlich  er- 
fundene Symbole  sind.  Immerhin  können  diese  im  Sinne  der  Ge- 
bärdensprache erfunden  werden,  und  dies  geschieht  um  so  mehr, 
wenn  schon  der  ganze  Bewußtseinszustand  auf  das  Denken  in  Ge- 
bärden angelegt  ist.  Hierdurch  unterscheiden  sich  immerhin  auch 
diese  künstlichen  Bestandteile  der  Gebärdensprache  sehr  wesentlich 
von  der  Fingerschrift. 

Die  Frage,  ob  und  in  welchem  Umfang  eine  solche  Bereiche- 
rung der  natürlichen  Gebärden  durch  willkürliche,  aber  soviel  als 
möglich  in  ihrem  Geist  erfundene  Zeichen  zulässig  sei,  hat  von 
der  Mitte  des  i8.  Jahrhunderts  an  bis  auf  unsere  Tage  herab  in 
dem  Streite  zwischen  der  französischen  und  der  deutschen  Methode 
des  Taubstummenunterrichts  eine  wichtige  Rolle  gespielt.  Dieser 
Streit  selbst  hat  aber  eine  psychologische  und  eine  ethische  Seite. 
Die  französische  Schule  fordert  das  psychologisch  Angemessene, 
die  deutsche  das  ethisch  Erstrebenswerte.  Nun  ist  die  den  Fähig-- 
keiten  des  Taubstummen  angemessene  Sprache  selbstverständlich 
die  Gebärdensprache.  Vermöge  seiner  natürlichen  Anlagen  würde 
er  nie  zu  einer  andern  Art  der  Mitteilung  gelangen.  Die  fran- 
zösische Schule,  nach  den  vom  Abbe  de  l'Epee  gemachten  An- 
fängen hauptsächlich  von  Abbe  Sicard  begründet,  sucht  daher  die 
natürliche  Gebärdenmitteilung  fortzubilden,  indem  sie  im  Sinne 
derselben  weitere  Zeichen  und  solche  logische  und  grammatische 
Hilfsmittel  erfindet,  durch  die  ihr  die  Erwerbungen  der  Lautsprache 


lj^2  Die  Gebärdensprache. 


möglichst  zugänglich  gemacht  werden  sollen'].  »Nicht  wir  sind  die 
Erfinder  der  Zeichen«,  sagt  Sicard,  »sondern  die  Taubstummen 
selbst,  und  wir  haben  nur  ihren  wahren  Erfindern  nachzuschreiben, 
wenn  wir  die  Theorie  dieser  Zeichen  zu  geben  suchen.«  Ist  diese 
Methode  zweifellos  diejenige,  die  das  zu  erreichende  Ziel  am  meisten 
den  psychischen  Eigenschaften  des  Taubstummen  anpaßt,  so  ist 
aber  dieses  Ziel  selbst  ein  ethisch  unbefriedigendes:  es  verurteilt 
den  Gehörlosen  zu  einer  Sonderexistenz  unter  seinesgleichen  oder 
in  der  Gesellschaft  der  Vollsinnigen,  in  der  er  nur  in  kümmerlich- 
ster Weise  an  den  Gütern  des  gemeinsamen  Lebens  teilnimmt. 
Auch  ist  es,  wenn  man,  wie  es  die  französische  Methode  prinzipiell 
tut,  die  natürliche  Gebärdensprache  des  Taubstummen  soviel  als 
möglich  der  Stufe  der  Lautsprache  zu  nähern  sucht,  sehr  schwer, 
die  Grenze  einzuhalten,  bei  der  das  erfundene  Zeichen  nicht  den- 
noch zu  einem  gekünstelten  wird,  das  den  natürlichen  Bedingungen 
der  Gebärdensprache  selbst  widerspricht.  Wenn  z.  B.  in  dem  System 
Sicards  die  Auf-  und  Abwärtsbewegung  der  geschlossenen  Hände 
auf  der  Brust  bei  auswärts  gekehrten  Daumen  das  Verbum  sub- 
stantivum  sein ,  das  Vorwärtsstoßen  der  geballten  Fäuste  mit  auf- 
wärts gerichteten  Daumen  das  Adverbium  noch^  die  Bewegung  der 
Finger  von  den  Schläfen  nach  außen  die  Konjunktion  ivarm  be- 
deuten soll  usw.,  so  können  diese  Zeichen  schon  deshalb  keine 
naturgemäßen  Weiterbildungen  der  ursprünglichen  Gebärdensprache 
sein,  weil  in  dieser  solche  abstrakte  Verba  und  Partikeln  nicht 
existieren  und  ihrem  ganzen  Charakter  nach  nicht  existieren  können. 
Die  Interpretation,  die  diese  künstlichen  mit  den  natürlichen  Zei- 
chen verknüpfen  soll,  läuft  darum,  falls  sie  überhaupt  versucht 
wird,  auf  irgendeine  fernliegende  Assoziation  hinaus,  die  von  dem 
Taubstummen  mühselig  erlernt  werden  muß,  wenn  er  sie  verstehen 
soll,  und  die  er  samt  dem  Zeichen,  das  durch  sie  begreiflich  ge- 
macht wird,  in  der  Regel  vergißt,  sobald  er  sich  von  dem  Zwange 
der  Schule  befreit  weiß. 


')  Sicard,  Theorie  des  signes  pour  l'instruction  des  sourdsrauets,  Paris  1808, 
2  vols.  Über  die  Geschichte  des  Taubstummenunterrichtes  überhaupt  vgl.  Ed.  Schmalz, 
Über  die  Taubstummen  und  ihre  Bildung,  1838,  2  1848,  S.  120  ff.  A.  Hartmann, 
Taubstummheit  und  Taubstumraenbildung.  1880,  S.  125  ff.  W.  R.  Scott,  The  Deaf 
and  Dumb,2   1870,  p.  95  ff. 


Gebärdensprache  der  Tavibstummen.  ^4^ 

Die  deutsche  Schule  stellt  nun  im  Gegensatze  zu  der  französi- 
schen den  ethischen  Zweck,  die  Taubstummen  soviel  als  mög- 
lich zu  vollwertigen  Mitgliedern  der  Gesellschaft  zu  machen,  in 
den  Vordergrund.  Nach  dem  Vorbild  ihres  Begründers  Samuel 
Heinicke  benützt  sie  daher  die  Gebärden  nur  als  vorübergehende 
Hilfsmittel,  durch  die  jenen  allmählich  die  Lautsprache  selbst  zugäng- 
lich werden  solP).  Bei  dieser  Aneignung  der  artikulierten  Laut- 
sprache fallen  aber  für  den  Gehörlosen  naturgemäß  die  beiden  Fähig- 
keiten, die  Sprache  zu  verstehen  und  sie  zu  gebrauchen,  ungleich 
mehr  auseinander  als  für  das  hörende  Kind,  bei  dem  der  Laut 
alsbald  das  Streben  erweckt,  ihn  nachzuahmen,  so  daß  sich  hier 
Sprachlaute  und  Artikulationsempfindungen  von  frühe  an  fest  asso- 
ziieren. Für  den  Gehörlosen  sind,  weil  ihm  gerade  diejenige  Sinnes- 
empfindung fehlt,  die  das  natürliche  Mittelglied  dieser  Assoziationen 
ist,  Verstehen  und  Gebrauch  der  Sprache  von  Anfang  an  getrennte 
Tätigkeiten,  die  allmählich  erst  durch  eine  völlig  neue,  künstlich 
eingeübte  Assoziation  aneinander  gekettet  werden.  Verstehen  lernt 
er  die  Sprache  dadurch,  daß  er  sie  vom  Munde  abliest,  also  in  der 
Form  einer  Folge  von  Gesichtsbildern.  Gebrauchen  lernt  er  sie, 
indem  er  die  Artikulationsbewegungen  des  Hörenden  und  Sprechen- 
den nachbildet.  Die  französische  Schule  sucht  also  den  Gehörlosen 
innerhalb  der  ihm  gebliebenen  Sinnessphären  zu  entwickeln,  indem 
sie  dabei  jeden  Sinn  nur  in  den  ihm  auch  beim  Hörenden  zukom- 
menden Funktionen  weiterzubilden  bemüht  ist.  Die  deutsche  Schule 
will  für  den  fehlenden  Gehörssinn  dadurch  Ersatz  schaffen,  daß  sie 
ihm  andere  Sinne  substituiert.  Diese  Stellvertretung  übernimmt 
dann  für  das  Verstehen  der  Sprache  der  Gesichtssinn,  für  den  Ge- 
brauch der  Sprache  der  Tastsinn  mit  den  die  Artikulationsbewe- 
gungen   begleitenden     inneren    und     äußeren    Tastempfindungen^). 


i)  Samuel  Heinicke,  Beobachtungen  über  Stumme  und  über  die  menschliche 
Sprache,  Hamburg  1878,  S.  54  fF. 

2)  W.  Gude,  Die  Gesetze  der  Physiologie  und  Psychologie  über  Entstehung  der 
Bewegungen  und  der  Artikulationsunterricht  der  Taubstummen,  1880,  S.  40  ff.  Als 
weiteres  assoziatives  Hilfsmittel  wird  in  neuerer  Zeit  bei  dem  sogenannten  >imita- 
tiven  Sprachunterricht<  auch  noch  die  Assoziation  der  Schriftzeichen  mit  den  ent- 
sprechenden Laut-  und  Schreibbewegungen  verwendet.  Demnach  handelt  es  sich 
hierbei  wesentlich  nur  um  eine  Vermehrung  der  im  Gebiet  des  Tast-  und  Gesichts- 
sinns zu  Gebote  stehenden  Assoziationshilfen.     Vgl.  G.  Forchhammer,  Der  imitative 


144  ^'^  Gebärdensprache. 


Hierdurch  verliert  aber  jener  Vorzug  der  Natürlichkeit,  den  man 
der  einseitigen  Pflege  der  Gebärdensprache  zuschreibt,  einiger- 
maßen seine  Bedeutung.  Die  artikulierte  Sprache  des  Taubstummen 
beruht  so  gut  wie  die  des  Hörenden  auf  der  Einübung  bestimmter 
Assoziationen  zwischen  Empfindungen  verschiedener  Sinnesgebiete. 
Mögen  nun  auch  die  Assoziationen  zwischen  Sprachlauten  und  Ar- 
tikulationsempfindungen, die  bei  der  Lautsprache  wirken,  durch  die 
generelle  Entwicklung  vorbereitet,  also  durch  angeborene  Anlagen 
begünstigt  und  durch  die  genauere  Kontrolle,  die  der  Gehörssinn 
zuläßt,  erleichtert  sein,  so  ist  doch  die  Ausbildung  der  weit  schwie- 
rigeren Assoziationen  zwischen  den  Gesichtsbildern  der  Sprach- 
bewegungen und  den  Artikulationsempfindungen  keineswegs  eine 
unmögliche,  und  sie  ist  das  Ersatzmittel,  auf  das  die  bei  mangeln- 
dem Gehör  von  selbst  sich  einstellende  regere  Tätigkeit  des  Ge- 
sichtssinns gewissermaßen  als  auf  ein  natürliches  hinweist.  Freilich 
bringt  aber  die  größere  Schwierigkeit  der  Bildung  jener  eigen- 
artigen Assoziationen  für  die  Lautsprache  des  Gehörlosen  die  Ein- 
schränkung mit  sich,  daß  das  Niveau  geistiger  Anlagen,  das  zur 
xA.neignung  der  Sprache  erfordert  wird,  hier  ein  höheres  ist  als  beim 
vollsinnigen  Menschen,  daß  also  die  Aneignung  in  eine  spätere 
Lebenszeit  fallen  muß ,  und  daß  sie  manchen  Individuen ,  nament- 
lich w^enn  zu  minderwertiger  Anlage  ungünstige  äußere  Lebens- 
verhältnisse hinzukommen,  ganz  versagt  bleibt,  eine  Einschränkung, 
die  natürlich  für  die  Gebärdensprache  bei  weitem  nicht  in  ähnlichem 
Maß  existiert.  Dieser  Umstand  ist  es  denn  auch  hauptsächlich,  der 
heute  noch  dem  französischen  System  in  den  Ländern  romanischer 
Zunge  den  Vorzug  verschafft  hat.     Insoweit  es   grundsätzlich  eine 


Sprachunterricht  in  der  Taubstumraenschule  usw.  Aus  dem  Dänischen  von  E.  Göpfert, 
1899.  Schon  Samuel  Heinicke  hatte  übrigens  eine  klare  Vorstellung  davon,  daß 
beim  Sprechenlernen  der  Taubstummen  neben  dem  Gesichtssinn  noch  ein  zweiter, 
stellvertretender  Sinn  erforderlich  sei.  Aber  da  ihm  die  Bedeutung  und,  wie  es 
scheint,  sogar  die  Existenz  der  die  Artikulationsbewegungen  begleitenden  inneren 
Tastempfindungen  noch  verborgen  war,  so  geriet  er  merkwürdigerweise  auf  den 
Gedanken,  den  Geschmackssinn  dem  Gehör  zu  substituieren.  (Heinicke,  Be- 
obachtungen über  Stumme,  S.  61  ff.)  Näheres  über  diese  längere  Zeit  in  Heinickes 
Anstalt  geübte  Methode  hat  Reich  mitgeteilt.  (Blicke  auf  die  Taubstummenbildung,^ 
1828,  S.  27  ff.)  Sie  ist  bald  wieder  verlassen  worden,  und  natürlich  sind  es  auch 
bei  Heinickes  eigenem  Artikulationsunterricht  die  Tastempfindungen  gewesen,  die 
bei  der  Erzeugung  der  Sprachlaute  die  gesuchte  Substitution  übernahmen. 


Gebärdensprache  bei  den  Naturvölkern.  j^c- 

künstliche,  von  grammatischen  Begriffen  beherrschte  Weiterbildung 
der  natürlichen  Gebärdensprache  erstrebt,  wird  dadurch  allerdings 
seine  psychologische  Bedeutung  beeinträchtigt.  Auf  der  andern 
Seite  wird  aber  von  manchen  Seiten  geklagt,  daß  der  deutsche 
Unterricht  allzusehr  darauf  ausgehe,  den  natürlichen  Ausdruck  der 
Gebärde  zu  unterdrücken,  wodurch  dann,  abgesehen  von  den  päda- 
gogischen Bedenken  gegen  dieses  gewaltsame  Verfahren,  das  Mate- 
rial für  die  psychologische  Beobachtung  im  entgegengesetzten  Sinn 
eingeschränkt  wird^).  Am  meisten  scheint  man  in  England  auf  die 
Konservierung  der  natürlichen  Gebärdezeichen  Bedacht  zu  nehmen, 
ohne  allerdings  künstliche  Nachhilfen  im  Sinne  des  französischen 
Systems  ganz  zu  verschmähen"). 


3.    Gebärdensprache  bei  den  Naturvölkern. 

Ist  infolge  der  Einflüsse,  die  Umgebung,  Erziehung  und  Unter- 
richtsweise auf  den  Taubstummen  ausüben,  dessen  Gebärdensprache 
kein  durchaus  einheitliches  und  zuweilen  nur  noch  teilweise  ein  ur- 
sprüngliches Erzeugnis  seines  Bewußtseins,  so  verhält  sich  das  einiger- 
maßen ähnlich  bei  der  Gebärdensprache  der  Naturvölker,  wie  sie 
namentlich  bei  den  Stämmen  der  nordamerikanischen  Indianer  be- 
obachtet worden  ist^). 


I)  Heidsiek,  Der  Taubstumme  und  seine  Sprache,   1889,  S.  127  ff. 

-)  W.  R.  Scott,  The  Deaf  and  Dumb,^  1870,  p.  108.  Vgl.  übrigens  zu  dieser 
ganzen  Frage  den  Bericht  von  H.  Gutzmann,  Archiv  für  die  ges.  Psychol.  Bd.  i 
1903,  S.  67  ff. 

3)  Der  folgenden  Analyse  sind  hauptsächlich  die  eingehenden  Mitteilungen  zu- 
grunde gelegt,  die  wir  über  die  Gebärden  der  nordamerikanischen  Indianer  von 
Garrick  Mallery  besitzen,  in  seiner  von  zahlreichen  Abbildungen  begleiteten  Arbeit: 
Signe  Language  among  North  American  Indians,  First  annual  Report  of  the  Bureau 
of  Ethnology,  Smithsonian  Institution,  1879 — 80,  p.  269 — 552.  Ein  anderes  Ver- 
zeichnis indianischer  Gebärdezeichen,  das  besonders  bei  den  Indianern  der  Rocky 
raountains  imd  der  angrenzenden  Territorien  gesammelt  ist,  hat  der  Prinz  von  Wied 
mitgeteilt  (Reise  in  das  Innere  von  Nordamerika,  1832 — 1834,  Coblenz  1841,  II, 
S.  645 — 653).  Wied  bemerkt,  man  versichere  ihm,  die  Stämme  der  Rocky  mountains 
wüßten  sich  sämtlich  untereinander,  nicht  aber  mit  den  Dakotas  und  andern  Nationen 
in  der  Gebärdensprache  zu  verständigen.  In  der  Tat  finden  sich  zwischen  den  von 
ihm  und  den  von  Mallery  gesammelten  Zeichen  viele  Unterschiede,  jedoch  auch 
manche  Übereinstimmungen.  Ähnlich  ist  das  Verhältnis  zwischen  den  Indianern 
Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  lO 


146  Die  Gebärdensprache. 


Zwei  Bedingungen  können  im  allgemeinen  der  Entstehung  einer 
solchen  Gebärdensprache  bei  wild  lebenden  Völkern  zugrunde  liegen, 
und  es  ist  anzunehmen,  daß  sie  stets  ineinander  eingreifen.  Erstens 
pflegen  schon  bei  den  Genossen  einer  und  derselben  Horde  Wort 
und  Affektäußerung  bei  lebhafter  Mitteilung  zusammenzuwirken.  So 
kommt  es,  daß  in  vielen  Fällen  auf  das  begleitende  Wort  ver- 
zichtet wird,  sei  es  weil  die  Gebärde  zur  Verständigung  genügt,  sei 
es  weil  man  die  lautlose  Mitteilung  aus  irgendwelchen  Gründen  vor- 
zieht. Ist  diese  Entstehung  eines  Verkehrs  in  lautlosen  Zeichen 
zwischen  den  Genossen  einer  einzelnen  Horde  wahrscheinlich  der 
allgemeine  Anfang  jeder  Mitteilung  durch  Gebärden,  so  beruht  nun 
aber  ihre  weitere  Ausbildung  hauptsächlich  auf  dem  Hinzutritt  der 
zweiten  Bedingung.  Diese  besteht  darin,  daß  sich  die  Sprachen 
der  Naturvölker  bei  dem  Mangel  erhaltender  Kräfte,  wie  Literatur 
und  dauernder  Verkehr  sie  ausüben,  stark  dialektisch  zersplittern, 
so  daß  selbst  zwischen  nahe  verwandten  Stämmen,  ja  manchmal 
zwischen  verschiedenen  Horden  desselben  Stammes  die  Verstän- 
digung durch  die  Lautsprache  erschwert  ist.  Die  so  gepflegte 
Gewohnheit,  mit  Mitgliedern  fremder  Herkunft  durch  Gebärden 
zu  verkehren,  muß  dann  aber  wieder  auf  den  Gebrauch  derselben 
zwischen  den  näheren  Genossen  fördernd  zurückwirken.  So  er- 
klärt es  sich  wohl,  daß  namentlich  bei  den  Indianerstämmen  Nord- 
amerikas, wo  alle  jene  Bedingungen  durch  ein  unstetes  Jäger-  und 
Kriegerleben  gefördert  wurden,  die  Gebärdensprache  einen  hohen 
Grad  der  Ausbildung  erreicht  hat.  Sichtlich  haben  an  ihr  viele 
Generationen  gearbeitet,  und  wenn  sie  auch  weit  mehr  als  die 
Lautsprache  eine  fortwährende  Neubildung  von  Symbolen  gestattet, 
so  hat  sich  doch  in  ihr  eine  vielleicht  schon  Jahrhunderte  be- 
stehende Tradition  ausgebildet,  durch  die  sie  in  gewissem  Grad, 
ähnlich  der  Lautsprache,  dem  Einzelnen  als  ein  fertiges  System 
von  Zeichen  überliefert  wird.  Zeugnis  hierfür  ist  die  Tatsache, 
daß  der  Indianer  manche  Gebärden  konventionell  anwendet,  bei 
denen    er    über    die    Beziehung    zwischen    Symbol    und   Bedeutung 


und  den  Rassen  anderer  Erdteile,  wie  Australiern,  Afrikanern,  asiatischen  Vollmern 
(Arabern,  Japanern),  von  denen  wir  freilich  meist  nur  unvollständigere  Nachrichten 
besitzen. 


überlieferte  Gebärdezeichen  bei  europäischen  Kulturvölkern.  X47 

keine  Rechenschaft  mehr  geben  kann').  Teils  diese  lange  dauernde 
Tradition,  teils  andere  damit  zusammenhängende  Bedingungen  unter- 
scheiden die  Zeichensprache  der  Indianer  sehr  wesentlich  von  der- 
jenigen der  Taubstummen.  Wenn  man  von  den  willkürlich  er- 
fundenen Symbolen  des  französischen  Systems  oder  des  Finger- 
alphabets, die  hier  nicht  in  Vergleich  gezogen  werden  können, 
absieht,  so  ist  daher  die  Gebärdensprache  der  Wilden  nicht  nur 
überhaupt  reicher  an  Symbolen,  sondern  namentlich  auch  reicher 
an  solchen,  die  nur  dem  Eingeweihten  verständlich,  und  die  in  ein- 
zelnen Fällen  auch  für  diesen  zu  bloß  konventionellen  Zeichen 
sreworden  sind. 


4.    Überlieferte  Gebärdezeichen  bei  europäischen  Kulturvölkern. 

In  dieser  Beziehung  schließt  sich  eine  dritte  Entwicklungsform 
der  Gebärdensprache  auf  das  engste  an  die  Zeichensysteme  der 
Wilden  an,  wenn  sie  auch  infolge  der  sehr  verschiedenen  Kultur- 
bedingungen in  der  Beschaffenheit  der  gebrauchten  Symbole  er- 
heblich abweicht.  Das  ist  die  bei  den  südlichen  Völkern  Europas, 
namentlich  bei  den  Süditalienern,  übliche  Form  der  Gebärdenmit- 
teilung. Sie  ist  vorzugsweise  in  den  niederen  Volkskreisen  verbreitet, 
wird  aber  auch  vom  Gebildeten  zum  Teil  verstanden  und  im  Ver- 
kehre mit  dem  Volk  angewandt.  Am  eingehendsten  ist  unter  diesen 
Formen  der  Gebärdensprache  die  neapolitanische  studiert  worden^). 
Sie  ist  überdies  durch  ihren  Reichtum  und  durch  die  Beharrlichkeit 
ausgezeichnet,  mit  der  sie  sich  seit  Jahrhunderten  erhalten  hat. 
Denn   zahlreiche    der    noch    heute    beim    süditalienischen  Volk    ge- 


^)  >It  could  not  be  explained«  ist  eine  Bemerkung,  die  zu  den  dem  Munde  der 
Eingeborenen  entnommenen  Wortbezeichnungen  gewisser  Gebärden  nicht  selten 
wiederkehrt.  (Mallery  a.  a.  O.  pag.  409  ff.)  In  andern  Fällen  ist  die  gegebene  Deu- 
tung offenbar  nur  eine  Vermutung  der  Eingeborenen  selbst. 

2)  Andrea  de  Jorio,  La  mimica  degli  antichi  investigata  nel  gestire  napoletano, 
Napoli  1832.  In  seinem  antiquarischen  Teil  genügt  dieses  Werk  natürlich  heutigen 
Ansprüchen  nicht  mehr.  Die  Sammlung  der  beim  neapolitanischen  Volk  verbreiteten 
Gebärdezeichen  bleibt  aber  wertvoll.  Sie  dürfte,  obgleich  mehr  als  ein  halbes  Jahr- 
hundert alt,  dem  heutigen  Zustande  noch  durchaus  entsprechen,  und  auch  in  seiner 
Annahme,  daß  die  meisten  der  heute  gebrauchten  Gebärden  bis  in  das  Altert 
zurückreichen,  hat  der  Verfasser  ohne  Zweifel  das  Richtige  getroffen. 

10* 


148  Di^  Gebärdensprache. 


brauchten  Zeichen  finden  sich  in  analoger  Bedeutung  auf  antiken 
Kunstdenkmälern  oder  werden  von  älteren  Schriftstellern  erwähnt^). 
Dadurch  erweist  sich  auch  diese  Form  der  Gebärdensprache  als 
das  Produkt  einer  langen,  viele  Jahrhunderte  dauernden  Tradition. 
Wie  die  Formen  uralten  heidnischen  Aberglaubens  noch  heute,  zum 
Teil  in  christlichen  Verkleidungen,  im  süditalienischen  Volke  fortleben, 
so  sind  die  Gebärdezeichen,  die  uns  gegenwärtig  auf  den  Straßen 
Neapels  begegnen,  mit  wenig  Ausnahmen  dieselben,  wie  sie  in  den 
Tagen  des  Augustus  und  wahrscheinlich  in  einer  noch  viel  weiter 
zurückliegenden  Zeit  im  Gebrauch  waren.  Diese  lange  Überlieferung 
bedingt  es,  daß,  ähnlich  wie  bei  den  Indianern  Nordamerikas,  viele 
jener  Zeichen  völlig  konventionell  geworden  und  in  ihrer  ursprüng- 
lichen Bedeutung  verblaßt  sind.  Da  jedoch  in  diesem  Fall  die  Ge- 
bärde zwar  nicht  selten  das  gesprochene  Wort  verdrängt  hat,  aber 
es  nicht,  wie  bei  dem  Verkehr  zwischen  stammesfremden  Wilden, 
völlig  ersetzt,  so  hat  der  Besitz  der  fortwährend  ergänzend  und  er- 
läuternd eingreifenden  Lautsprache  hier  zugleich  auf  die  Erhaltung 
und  Entwicklung  der  Gebärden  fördernd  eingewirkt.  Die  heute  bei 
den  südlichen  Völkern  Europas  vorkommende  Zeichensprache  er- 
scheint so  als  ein  Überlebnis  der  in  der  antiken  Welt  überhaupt 
lebendigeren  Begleitung  der  Sprache  durch  die  Gebärde,  einer  Er- 
scheinung, die  in  der  Pflege  der  Pantomime  und  in  dem  großen 
Wert  sich  ausspricht,  den  die  Alten  bei  der  Rede  auf  den  Gestus 
legten.  Darum  ist  es  nun  aber  auch  eine  falsche  Auffassung,  wenn 
man  dieses  starke  Hervortreten  der  Gebärde  und  ihre  gelegentliche 
Funktion  an  Stelle  der  Sprache  als  Zeichen  eines  niedrigen  Standes 
der  Kultur,  und  demnach  das  Vorkommen  der  Gebärdensprache  bei 
Menschen,  die  zugleich  der  Lautsprache  mächtig  sind,  allgemein  als 
eine  Eigentümlichkeit  unzivilisierter  Völker  betrachtet  hat.    Der  Süd- 


i)  Viele  hierher  gehörige  Züge  hat  schon  Jorio  beigebracht.  Das  archäologische 
und  literarhistorische  Material  ist  in  neuerer  Zeit  von  Sittl  gesammelt  worden  in 
seinem  Werk  über  die  Gebärden  der  Griechen  und  Römer,  1890,  in  welchem  jedoch 
die  Beziehung  zu  den  heute  gebrauchten  Zeichen  nicht  näher  verfolgt  wird,  und 
auch  der  Natur  der  Sache  nach  die  besonderen,  mehr  auf  lokaler  Tradition  beruhen- 
den und  meist  speziellere  Begriffe  ausdrückenden  Gebärden,  gegenüber  den  all- 
gemeineren und  weiter  verbreiteten,  zurücktreten.  Unter  den  Berichten  älterer  Schrift- 
steller ist  die  schon  oben  erwähnte  Abhandlung  Quintilians  über  den  Gestus  in 
Lib.  XI  seiner  Institut,  orator.  das  vollständigste  und  wertvollste  Dokument. 


überlieferte  Gebärdezeichen  bei  europäischen  Kulturvölkern.  i^_q 

franzose  und  der  Italiener  zeigen  noch  heute  ein  weit  lebhafteres 
Gebärdenspiel  als  der  Engländer  und  der  Deutsche,  und  dieser 
Unterschied  erstreckt  sich  auf  alle  Kreise  der  Gesellschaft  ziemlich 
gleichförmig.  Nicht  die  Bildung,  sondern  der  Grad  des  Affekts  oder 
die  dauernde  Affektanlage,  das  Temperament,  ist  vor  allen  Dingen 
für  die  Entstehung  der  Gebärde  entscheidend.  Besteht  einmal  ver- 
möge dieser  Anlage  die  Neigung  zu  einem  lebhaften  Mienenspiel, 
so  begleitet  dieses  nicht  bloß  von  selbst  die  gesprochene  Rede, 
sondern  es  tritt  auch  leicht  an  deren  Stelle,  wenn  die  laute  Ge- 
dankenäußerung unterdrückt  wird;  und  aus  dieser  freieren  Übung 
entspringt  naturgemäß  eine  ästhetische  Freude  an  der  bedeutsamen 
Gebärde  als  solcher.  Die  Alten  haben  diese  Freude  auch  im  ge- 
wöhnlichen Verkehr  der  Menschen  offenbar  mehr  gekannt,  als  wir 
sie  heute  kennen,  und  die  Regeln  der  Sitte  geboten  bei  ihnen  zwar 
das  Übermaß  der  Afifektäußerung,  nicht  aber,  wie  bei  uns,  die 
Affektäußerung  selbst  zu  unterdrücken.  Die  Alten  besaßen  also  ein 
lebendigeres  Gefühl  für  die  Bedeutung  der  Gebärde,  nicht  weil  ihre 
Kultur  eine  niedrigere,  sondern  weil  sie  eine  andere  war  als  die 
unsere,  und  weil  insbesondere  der  Sinn  für  die  äußere  Erscheinungs- 
weise des  Menschen  feiner  ausgebildet,  in  dieser  Beziehung  also  die 
Kultur  eine  ästhetisch  höhere  war.  Wenn  sich  diese  lebendigere 
Ausdrucksweise  bei  den  von  ihnen  abstammenden  Völkern  mehr  in 
den  niedrigeren  als  in  den  höheren  Kreisen  der  Gesellschaft  erhalten 
hat,  so  ist  dieser  besondere  Zug  dann  allerdings  ein  Symptom  der 
Kulturstufe.  Denn  diese  Erscheinung  fällt  unter  die  allgemeine 
Regel,  daß  die  Reste  alter  Anschauungen  und  Sitten  am  längsten 
in  den  Massen  des  Volks  zurückbleiben,  während  die  höheren 
Schichten,  die  sich  die  Ideen  einer  neuen  Kultur  früher  aneignen, 
auch  die  der  alten  leichter  und  früher  aufgeben. 

Ahnliche  Überlieferungen  eines  hoch  ausgebildeten  Zeichensystems, 
wie  sie  sich  bei  dem  süditalienischen  Volk  erhalten  haben,  bestehen 
noch  mannigfach  sonst  auf  unserer  Erde,  wo  immer  die  Bedingungen 
eines  weit  zurückreichenden  Kulturzusammenhangs  gegeben  sind. 
Besonders  der  Orient  bietet  hier  ein  überaus  reiches,  leider  bis 
jetzt  nur  wenig  nach  dieser  Richtung  bearbeitetes  Gebiet.  Bei  den 
islamitischen  Arabern  scheint  der  Gebärdenausdruck  ein  viel  ge- 
brauchtes,   von    den   arabischen   Philosophen    als    eine    eigene    Art 


ICQ  Die  Gebärdensprache. 


der  Sprache  anerkanntes  Hilfsmittel  nicht  nur  der  Verständigung, 
sondern  auch  der  sinnlichen  Interpretation  des  gesprochenen  Wortes 
gewesen  zu  sein,  dessen  sich  der  Prophet  selbst  mit  Vorliebe  be- 
diente"). Andere,  wahrscheinlich  ebenfalls  auf  sehr  alter  Tradition 
beruhende  und  zumeist  wieder  unabhängig  entstandene  Entwicklungs- 
formen der  Gebärdensprache  sind  bei  den  Chinesen,  Japanern  und 
andern  orientalischen  Völkern  zu  finden^).  Es  würde  ein  kultur- 
historisch wie  völkerpsychologisch  sehr  dankenswertes  Unternehmen 
sein,  diese  mannigfach  abweichenden  Gestaltungen  in  weiterem  Um- 
fang unserer  Kenntnis  zugänglich  zu  machen.  Eine  solche  Samm- 
lung würde  nicht  bloß  im  Hinblick  auf  den  geistigen  Charakter 
und  die  eigenartige  Kultur  der  Völker  von  Interesse  sein;  sie 
würde  uns  auch  mehr,  als  es  gegenwärtig  möglich  ist,  über  die 
Breite  der  Übereinstimmungen  und  Unterschiede  zwischen  den  un- 
abhängig entstandenen  Entwicklungsformen  Rechenschaft  geben. 
Bis  jetzt  bietet  in  dieser  Beziehung  die  Gebärdensprache  des  süd- 
italienischen Volkes  das  einzige  zureichend  vollständige  Material. 
Was  wir  von  den  Gebärden  anderer,  namentlich  orientalischer  Kul- 
turvölker wissen,  läßt  jedoch  immerhin  schon  den  Schluß  zu,  daß 
sich  diese  nicht  wesentlich  anders  zueinander  verhalten  als  etwa  die 
Gesten  des  Neapolitaners  zu  denen  des  nordamerikanischen  Indianers. 
Dies  ist  schon  deshalb  nicht  unwichtig,  weil  sich  hieraus  entnehmen 
läßt,  daß  der  verschiedene  Zustand  der  Kultur,  wenn  er  auch  aui 
gewisse  spezifisch  gebrauchte  Zeichen  von  Einfluß  ist,  doch  den  all- 
gemeinen Charakter  der  Gebärdensprache  nicht  berührt.  Nicht  bloß 
gewisse  Gebärden,  die  allgemeingültige  Vorstellungen  bezeichnen, 
wie  das  ich,  du  und  er,  das  hier  und  dort,  groß  und  klein,  den 
Himmel,  die  Erde,  die  Wolke,  den  Regen,  das  Gehen,  Stehen, 
Sitzen,  Schlagen,  den  Tod  und  den  Schlaf  und  viele  andere,  son- 
dern   auch    die   Ausbildung   des  Zeichensystems,   die  Fähigkeit   der 


^)  Goldziher,  Über  Gebärden-  und  Zeichensprache  bei  den  Arabern,  Zeitschr. 
für  Völkerpsychologie  und  Sprachwissenschaft,  XVI,  S.  369  ff. 

2)  Der  Freundlichkeit  des  Herrn  J.  Jrie  in  Sendai,  Japan,  verdanke  ich  die  Mit- 
teilung einer  Anzahl  in  Japan  üblicher  Gebärden,  die  in  gewissen  allgemeinen  Sym- 
bolen der  Höflichkeit,  Ehrfurcht,  der  Liebe,  der  Verachtung,  des  Spottes  usw.  den 
im  Abendland  gebrauchten  ähnlich  oder  ganz  gleich  sind,  daneben  aber  auch  ver- 
einzelt Formen  darbieten,  die  den  abendländischen  Systemen  fehlen. 


Gebärdezeichen  der  Zisterziensermönche. 


151 


Übertragung  sinnlicher  Zeichen  auf  nicht  sinnliche  Gegenstände,  die 
Art,  wie  sich  in  der  Zusammenfügung  der  Gebärden  die  Gedanken- 
folge spiegelt,  alles  das  charakterisiert  schließlich  die  verschiedenen 
Entwicklungsformen  als  Erscheinungen,  die  weder  wesentliche  Unter- 
schiede der  Vollkommenheit,  noch  solche  der  qualitativen  Be- 
schaffenheit und  der  allgemeinen  Struktur  erkennen  lassen.  Da- 
durch nähern  sie  sich  allerdings  in  einem  gewissen  Grad  einer 
Universalsprache,  wenn  auch  nicht  ganz  in  dem  Sinne,  in  dem  man 
dieses  Wort  in  der  Regel  anwendet.  Nicht  so  nämlich,  als  ob  die 
in  einem  bestimmten  Volkskreise  gebrauchten  Zeichen  für  jeden, 
oder  auch  nur  für  denjenigen,  der  eine  auf  anderer  Grundlage  er- 
wachsene Art  der  Gebärdensprache  gebraucht,  ohne  weiteres  ver- 
ständlich wären.  Das  ist  in  Wirklichkeit  nur  sehr  teilweise  der  Fall. 
Der  Dakotaindianer,  den  man  in  die  Straßen  Neapels  versetzte,  würde 
zunächst  wahrscheinlich  von  den  Gebärden  seiner  Umgebung  nicht 
viel  verstehen.  Er  würde  aber  freilich  dieses  Verständnis  unvergleich- 
lich  schneller   gewinnen,    als    es   bei    der  Lautsprache  möglich   ist. 

5.    Gebärdezeichen  der  Zisterziensermönche. 

Eine  vierte  und  letzte  Entwicklungsform  der  ßrebärdensprache, 
bei  der  man  von  vornherein  mehr  als  bei  irgendeiner  der  voran- 
gegangenen einen  willkürlichen  und  rein  konventionellen  Ursprung 
vermuten  muß,  entsteht  in  solchen  Fällen,  wo  eine  Gesellschaft 
Hörender  absichtlich  auf  den  Gebrauch  der  Lautsprache  verzichtet 
und  sich  so  gewissermaßen  künstlich  in  die  Lage  der  Taub- 
stummen versetzt.  Seit  alter  Zeit  aber  bildet  das  Gelübde  des 
Schweigens  einen  Bestandteil  religiöser  Askese,  ob  es  nun,  wie  im 
Altertum  in  der  Sekte  der  jüngeren  Pythagoreer,  nur  vorübergehend 
dem  Novizen  als  Prüfung  auferlegt  wird  oder  ihn,  wie  in  dem 
Mönchsorden  der  Zisterzienser,  für  immer  bindet.  Über  die  Ge- 
bärdensprache der  Zisterzienser  besitzen  wir  zwei  interessante  Ver- 
zeichnisse von  Leibniz,  ein  lateinisches  ohne  nähere  Angabe  seiner 
Herkunft  und  ein  niederdeutsches  aus  dem  vormaligen  Kloster 
Lockum.     Das   eine  zählt    143,   das  andere    145   Nummern').      Ein 

')  Leibnitü  opera  omnia  ed.  Dutens,  Tom.  VI,  Pars  II,  Collect,  etymologica, 
pag.  207. 


1'2  I^i^  Gebärdensprache. 


älteres  (aus  dem  1 1 .  Jahrhundert)  aus  einem  englischen  Kloster,  in 
angelsächsischer  Sprache,  das  die  Beschreibung  von  127  Zeichen 
enthält,  hat  F.  Kluge  mitgeteilt').  Alle  diese  Verzeichnisse  sind 
wenig  umfangreich,  vermutlich  weil  sich  die  Gebärdenmitteilung  der 
Mönche  auf  das  Nötigste  beschränkte.  Aber  sie  sind  hinreichend, 
um  eine  Vergleichung  mit  andern  Formen  der  Gebärdensprache 
möglich  zu  machen.  Diese  ergibt  nun  in  vielen  Punkten  eine  große 
Übereinstimmung.  Doch  ist  das  System  der  Zisterzienser  ziemlich 
reich  an  Zeichen,  die  offenbar  willkürlich  erfunden  und  verabredet 
sind.  Auf  der  andern  Seite  zeigt  es,  wo  Beziehungen  zu  den 
sonstigen  Formen  vorliegen,  mehr  Übereinstimmung  mit  den  ein- 
facheren und  leichter  verständlichen  Gebärden  der  Taubstummen 
als  mit  den  auf  längerer  Tradition  beruhenden  der  Indianer  und 
Neapolitaner.  Das  System  macht  so  den  Eindruck  einer  Mischung 
aus  Fragmenten  einer  natürlichen  Gebärdensprache  einfachster  Be- 
schaffenheit und  eines  völlig  künstlichen  Zeichensystems.  Da  die 
Zeichen  der  letzteren  Art  die  Entstehung  dieser  Form  der  Mittei- 
lung aus  einer  willkürlichen  Übereinkunft  unzweifelhaft  machen,  so 
ist  sie  für  die  sprachpsychologischen  Fragen  von  geringerer  Be- 
deutung. Immerhin  ist  sie  insofern  lehrreich,  als  sie  zeigt,  daß  eine 
solche  Übereinkunft  da,  wo  es  sich  um  geläufige  sinnliche  Vor- 
stellungen handelt,  zu  ähnlichen  leicht  verständlichen  Zeichen  greift 
wie  der  natürliche  Gebärdenausdruck.  Dies  beweist  aber,  daß  eben 
das,  was  man  die  »Natürlichkeit«  der  Gebärdensprache  zu  nennen 
pflegt,  über  die  Frage  der  Entstehung  derselben  an  und  für  sich 
noch  nichts  aussagt.  Eine  Gebärde,  die  weder  unmittelbar  noch  in 
der  Zurückverfolgung  auf  ihren  Ursprung  irgendeine  anschauliche 
Beziehung  zu  ihrer  Bedeutung  erkennen  läßt,  ist  ganz  gewiß  will- 
kürlich erfunden.  Eine  Gebärde  dagegen,  bei  der  eine  solche  Be- 
ziehung nachweisbar  ist,  kann  ebensowohl  natürlich  entstanden  wie 
erfunden  sein.  Die  tatsächlichen  Eigenschaften  können  also  niemals 
die  Kenntnis  der  wirklichen  Entstehungsbedingungen  ersetzen^). 

^)  F.  Kluge,  Zur  Geschichte  der  Zeichensprache.  (Angelsächsische  indicia  mona- 
sterialia.)  Techmers  Zeitschr.  f.  allgem.  Sprachwissenschaft.  U,  1885,  S.  116  ff.  Im 
Eingang  der  Klugeschen  Arbeit  sind  noch  einige  andere  ähnliche  Verzeichnisse  er- 
wähnt. Ebenso  findet  sich  ein  solches  in  Ducanges  Glossarium  nov.  ed  script.  med. 
aet.  V.  Signum  n.  9. 

2)  Zu    den    großenteils    künstlich    erfundenen,     aber     doch    durch    die    überall 


Gebärdezeichen  der  Zisterziensermönche.  15^ 

Wenn  wir  uns  nun  bei  den  verschiedenen  oben  erörterten  Ent- 
wicklungsformen der  Gebärdensprache  diese  Entstehungsbedingungen 
vergegenwärtigen,  so  spricht  alles  dafür,  daß  sie  überall  von  zu- 
sammengesetzter Art  sind,  daß  also  keine  der  vorhandenen  Formen 
psychologisch  auf  einen  einheitlichen  Ursprung  zurückgeführt  werden 
kann.  Alle  diese  Systeme  sind,  wenn  wir  die  populären  Begriffe 
des  Natürlichen  und  Künstlichen  auf  sie  anwenden  wollen,  natürlich 
und  künstlich  zugleich.  Und  zwar  erscheinen  nicht  nur  einzelne 
Zeichen  als  natürliche,  ohne  Wahl  und  Überlegung  hervorgebrachte 
Reaktionen,  andere  als  Produkte  einer  erfinderischen  Tätigkeit;  son- 
dern diese  verschiedenen  psychischen  Funktionen  verbinden  sich  auch 
nicht  selten  bei  der  Entwicklung  einer  und  derselben  Gebärde.  Da- 
durch werden  sich  aber  die  verschiedenen  Entwicklungsformen  der 
Gebärdensprache  näher  gerückt,  als  die  äußeren  Umstände,  unter 
denen  sie  vorkommen,  vermuten  lassen.  Als  diejenige  Bedingung, 
die  für  die  Differenzierung  der  Erscheinungen  die  wichtigste  ist,  er- 
weist sich  der  Einfluß  der  Zeit.  Denn  mehr  als  die  Kulturstufe, 
mehr  als  das  vermutliche  Maß  von  Zwang  oder  Freiheit  ist  offenbar 
der  Umstand  maßgebend,  ob  eine  bestimmte  Form  der  Gebärden- 
sprache eine  lange  Tradition  hinter  sich  hat,  wie  die  der  nord- 
amerikanischen Indianer  und  der  Neapolitaner,  oder  ob  sie  im  Ver- 
gleich damit  eine  Neubildung  ist,  die  sich  in  der  Regel  nur  durch 
wenige  Generationen  hindurch  verfolgen  läßt,  wie  die  Zeichen  der 
Taubstummen. 

Da  es  diese  Unterschiede  der  Zeit  und  der  Tradition  sind,  mit 
denen,  wie  wir  sogleich  sehen  werden,  auch  bemerkenswerte  Eigen- 
tümlichkeiten der  einzelnen  Gebärden  zusammenhängen,  so  wollen 
wir  diese  beiden  Fälle  im  folgenden  kurz  als  die  der  neugebil- 
deten und  der  überlieferten  Gebärdensprache  auseinanderhalten. 
Natürlich  sind  diese  Ausdrücke  nur  im  relativen  Sinne  zu  verstehen. 
Denn  es  gibt  wohl  keine  neugebildete  Gebärdensprache,  die  nicht 
in  einem  gewissen  Maß    unter    dem  Einflüsse    von  Überlieferungen 


wirksamen  Assoziationen  vielfach  mit  den  natürlichen  Gebärdeformen  zusammen- 
hängenden Zeichen  gehören  auch  die  sogenannten  >Kennzinken«  der  Gauner. 
(Zinken  ist  wahrscheinlich  volksetymologische  Umbildung  von  lat.  sigimvi.)  Wir 
werden  auf  dieselben  unten  (V,  3)  bei  der  Erörtemng  des  Zusammenhangs  von  Ge- 
bärdensprache und  Bilderschrift  noch  zurückkommen. 


ie.A  Die  Gebärdensprache. 


steht,  noch  weniger  aber  eine  überlieferte,  in  der  nicht  fortwährend 
sporadische  Neubildungen  vorkommen. 


II.   Grundformen  der  Gebärden. 

I.   Psychologische  Klassifikation  der  Gebärden. 

Wenn  man  die  verschiedenen  Entwicklungsformen  der  Gebärden- 
sprache mit  einem  der  Lautsprache  entnommenen  Bild  ihre  Dialekte 
nennen  kann,  so  läßt  sich  wohl  eine  Klassifikation  der  Gebärden, 
die  von  genetischen  Gesichtspunkten  aus  unternommen  wird,  als  eine 
Art  Etymologie  derselben  bezeichnen.  Freilich  verschiebt  sich  aber 
die  Bedeutung  der  Ausdrücke  erheblich  bei  dieser  Übertragung,  und 
diese  Verschiebung  wirft  wiederum  ein  gewisses  Licht  auf  die  Natur 
der  Gebärdensprache  selbst.  Man  kann  nämlich  bei  ihr,  wenn  wir 
von  den  ganz  und  gar  künstlichen  Zeichensystemen  absehen,  zwar 
von  verschiedenen  Dialekten,  aber  niemals  von  verschiedenen  Sprach- 
stämmen reden ;  und  außerdem  sind  die  vorkommenden  dialektischen 
Unterschiede  mehr  von  den  äußeren  Lebensverhältnissen  und  von 
der  Existenz  einer  längeren  Überlieferung  als  von  der  ursprünglichen 
Verwandtschaft  oder  der  gemeinsamen  Abstammung  der  Menschen 
abhängig.  Hieraus  ergibt  sich  die  Folgerung,  daß  eine  Etymologie 
der  Gebärden  nur  zum  geringsten  Teil  darin  bestehen  kann,  die 
Herkunft  eines  gegebenen  Zeichens  aus  andern  ursprünglicheren  Ge- 
bärden nachzuweisen.  Eine  derartige  Nachweisung  ist  nur  in  solchen 
Fällen  möglich,  wo  eine  Gebärde  im  Laufe  der  Tradition  entweder 
selbst  Änderungen  erfahren  oder  ihre  Bedeutung  gewechselt  hat. 
Daß  das  letztere  vorkommt,  davon  werden  wir  uns  in  der  Tat  bei  der 
Betrachtung  des  Bedeutungswandels  gewisser  Symbole  überzeugen. 
Aber  das  Maß  dieser  Entwicklung  ist  doch  hier  ein  sehr  beschränktes. 
Da  selbst  bei  jenen  Entwicklungsformen  der  Gebärdensprache,  die 
auf  einer  lange  dauernden  Überlieferung  beruhen,  die  Zahl  der  in 
ihrer  Beschaffenheit  oder  Bedeutung  erheblich  veränderten  Symbole 
relativ  klein  ist,  so  kann  demnach  die  Frage  der  Herkunft  bei  der 
Mehrzahl  der  Gebärden  überhaupt  nur  im  psychologischen  Sinne 
verstanden  werden.  Muß  sich  die  Etymologie  der  Lautsprache  mit 
der   Ermittelung   von  Anfangsbildungen  begnügen,   die  sie  als  ge- 


Psychologische  Klassifikation  der  Gebärden.  j  c  c 

schichtlich  gegebene  und  nicht  weiter  abzuleitende,  eben  deshalb 
aber  auch  in  der  Regel  als  unerklärbare  anzusehen  hat,  so  ist  das 
»Etymon«  einer  Gebärde  dann  nachgewiesen,  wenn  ihre  psycho- 
logische Bedeutung  und  ihr  Zusammenhang  mit  den  allgemeinen 
Prinzipien  der  Ausdrucksbewegungen  erkannt  ist.  Hier  beginnt  also 
das  Problem  gerade  bei  dem  Punkte,  wo  es  für  die  Etymologie  der 
Lautsprache  aufzuhören  pflegt.  Die  Bedeutung  der  Gebärdensprache 
für  die  sprachpsychologischen  Probleme  überhaupt  erhellt  ohne 
weiteres  aus  diesem  Verhältnis.  In  gewissem  Grade  bleibt  eben  die 
Gebärdensprache  immer  auf  der  Stufe  eines  Urzustandes,  und  was 
wir  in  ihr  von  Spuren  historischer  Veränderungen  beobachten,  reicht 
nur  hin,  ihren  allgemeinen  Charakter  als  Sprache  auch  in  dieser 
Beziehung  erkennbar  zu  machen.  Man  könnte  sagen:  der  Begriff 
einer  Ursprache,  im  Gebiet  der  Lautsprache  ein  hypothetischer 
Grenzbegriff,  wird  bei  der  Gebärdensprache  zur  unmittelbar  beobach- 
teten Wirklichkeit.  Dieser  Tatsache  kann  aber,  wenn  sie  keinen  andern 
Nutzen  hätte,  mindestens  der  nicht  bestritten  werden,  daß  sie  die 
Notwendigkeit  der  Annahme  einer  Ursprache  in  diesem  psycho- 
logischen Sinne  beweist:  die  Notwendigkeit  nämlich,  daß  es  für  jede 
Art  natürlich  entstandener  Sprache  einmal  eine  Zeit  gegeben  haben 
muß,  in  der  die  Beziehung  zwischen  dem  Zeichen  und  dem,  was  es 
bezeichnet,  eine  unmittelbar  anschauliche  war.  Daß  freilich  diese 
Zeit  nicht  für  den  ganzen  Inhalt  einer  Sprache  die  gleiche  zu  sein 
braucht,  dies  lehrt  wiederum  die  Gebärdensprache,  in  der  es  neben 
den  unverändert  gebliebenen  Bestandteilen  und  Neubildungen  auch 
an  Wandlungen  nicht  fehlt,  die  das  ursprünglich  Bedeutsame  in  ein 
anscheinend  konventionelles  Symbol  überführen. 

Eine  Etymologie  der  Gebärdensprache,  die  der  psychologischen 
Herkunft  der  einzelnen  Gebärden  nachgeht,  muß  nun  naturgemäß 
die  Ausdrucksbewegungen  zum  Anfangspunkt  ihrer  Betrachtungen 
nehmen,  da  ja  die  Gebärdensprache  selbst  nichts  anderes  ist  als  ein 
System  von  Ausdrucksbewegungen,  dem  der  Trieb  nach  Mitteilung 
und  Verständigung  seine  besonderen  Eigenschaften  verliehen  hat. 
In  der  Tat  sind  es  die  beiden  Grundformen  der  Vorstellungsäußerung 
der  Affekte,  die  hinweisenden  und  die  nachahmenden  Gebärden, 
die  uns  überall  als  die  ursprünglichen  Bestandteile  des  Inhalts  der 
Gebärdensprache  wieder  begegnen.    Von  diesen  beiden  Grundformen 


ie5  Die  Gebärdensprache. 


bewahren  die  hinweisenden  bei  der  Entwicklung  der  natürlichen 
Affektäußerung  zur  Gebärdensprache  im  wesentlichen  ihren  ursprüng- 
lichen Charakter  unverändert.  Wie  ihre  äußere  Erscheinungsweise 
keiner  erheblichen  Weiterbildung  fähig  ist,  so  bleibt  nicht  minder 
ihre  Bedeutung  eine  beschränkte.  Dies  verhält  sich  anders  bei  den 
nachahmenden  Gebärden.  Sie  hängen  zwar  sämtlich  genetisch  mit 
der  nachahmenden  Bewegung  zusammen,  wie  denn  auch  psycho- 
logisch der  Trieb  zur  Nachahmung  des  den  Affekt  erregenden  Gegen- 
standes in  gewissem  Maße  bei  ihnen  allen  noch  fortwirkt.  Aber 
dabei  haben  sich  doch  diese  aus  der  gleichen  Wurzel  entsprossenen 
Gebärdeformen  derart  differenziert,  daß  das  Wort  ■^ Nachahmung« 
sie  ebensowenig  mehr  zureichend  bezeichnet,  wie  etwa  für  die  Ge- 
samtheit der  bildenden  Künste  der  Ausdruck  »nachahmende  Künste < 
zutreffend  sein  würde.  Wir  wollen  deshalb  diese  zweite  Klasse  mit 
einem  alle  ihre  einzelnen  Anwendungen  umfassenden  Ausdruck  als 
die  der  darstellenden  Gebärden  bezeichnen,  und  sie  wiederum 
in  die  beiden  Unterklassen  der  nachbildenden  und  der  mit- 
bezeichnenden einteilen.  Unter  ihnen  stehen  die  nachbildenden, 
wie  ihr  Name  schon  andeutet,  der  bloßen  Nachahmung  am  nächsten, 
und  sie  fallen  in  den  einfachsten  Fällen  ohne  weiteres  mit  ihr  zu- 
sammen. Aber  im  ganzen  treffen  wir  doch  schon  bei  ihnen  die 
Nachbildung  gewissermaßen  auf  einer  höheren  Stufe,  da  die  Um- 
bildungen, die  der  Gegenstand  in  der  Phantasie  des  Beschauers  er- 
fahrt, ehe  er  nachgebildet  wird,  hierbei  eine  Rolle  spielen.  Die 
Nachbildung  gestaltet  also  das  Bild  eines  Gegenstandes  in  einem 
ähnlichen  Sinne  freier,  wie  es  die  bildende  Kunst  gegenüber  der 
bloß  nachahmenden  Technik  tut.  In  diesem  Verhältnis  liegt  denn 
auch  der  Grund,  daß  sich  aus  der  nachbildenden  die  mitbezeich- 
nende Gebärde  aussondert,  bei  der  die  Beziehung  zwischen  dem 
Zeichen  und  seinem  Gegenstand  erst  durch  die  mithelfende  und 
ergänzende  Funktion  der  Phantasie  zustande  kommt.  Als  eine  dritte 
Hauptklasse  unterscheiden  wir  endlich  die  symbolischen  Gebärden. 
Sie  sind  insofern  sekundärer  Art,  als  ihre  Formen  stets  auf  hinweisende 
oder  darstellende  Gebärden  oder  auf  eine  Vereinigung  beider  zurück- 
geführt werden  können.  Auch  nimmt  zweifellos  ihre  Anzahl  mit  der 
Entwicklung  der  Gebärdensprache  zu.  Doch  reichen  die  einfachsten 
symbolischen  Zeichen  jedenfalls   in  eine  sehr   frühe  Zeit,  wenn  nicht 


Hinweisende  Gebärden. 


157 


in  die  Anfänge  der  Gebärdensprache  zurück.  Der  allgemeine  Cha- 
rakter der  symbolischen  Gebärde  besteht  aber  darin,  daß  sie  die 
auszudrückenden  Vorstellungen  aus  einem  Anschauungsgebiet  in  ein 
anderes  überträgt,  also  z.  B.  zeitliche  Vorstellungen  räumlich  an- 
deutet, oder  daß  sie  abstrakte  Begriffe  sinnlich  veranschaulicht'). 


2.    Hinweisende  Gebärden. 

Daß  die  hinweisende  Gebärde  unter  den  genannten  Formen  nicht 
bloß  die  einfachste,  sondern  auch  die  ursprünglichste  ist,  läßt  sich 
aus  verschiedenen  Tatsachen  erschließen.  Unter  den  Ausdrucks- 
bewegungen des  Kindes  kommt  das  Hindeuten  auf  die  Gegenstände 
am  frühesten  und  am  selbständigsten  zum  Zweck  der  Mitteilung, 
also  in  der  allgemeinen  Bedeutung  der  Sprachgebärde  vor.  Ebenso 
überwiegen  die  einfach  hinweisenden  Bewegungen  bei  den  neu- 
gebildeten Formen  der  Gebärdensprache,  während  bei  den  über- 
lieferten die  nachbildenden  die  Mehrzahl  bilden  und  die  hinweisenden 
meist  nur  in  Verbindung  mit  ihnen  in  zusammengesetztere  Gebärde- 
formen eingehen.  Diese  größere  Ursprünglichkeit  erklärt  sich  ohne 
weiteres  aus  den  psychologischen  Bedingungen  ihrer  Entstehung. 
Wo  der  Gegenstand,  auf  den  sich  irgendeine  Gebärdenmitteilung 
bezieht,  im  Sehbereich  Hegt,  da  ist  die  unmittelbare  Richtung  des 
Zeigefingers  gegen  ihn  das  einfachste,  weil  das  sicherste  und  ein- 
deutigste Mittel,  die  Aufmerksamkeit  auf  ihn  zu  lenken,  ein  Mittel, 
das  in  der  Regel  ohne  Überlegung,  aus  dem  unmittelbaren  Trieb 
nach  Mitteilung  heraus  angewandt  wird.  Wo  eine  individuelle  Ge- 
bärdensprache vollkommen  neu  sich  ausbildet,  wo  etwa  ein  Taub- 
stummer isoliert  in  hörender  Umgebung  aufwächst,  da  ist  daher  an- 
fänglich die  Hinweisung  auf  die  Objekte  fast  die  einzige  überhaupt 
vorkommende  Gebärde,  und  sie  genügt  für  diesen  Anfang  um  so 
mehr,  weil  sich  bei  dieser  ersten  Entwicklung  das  Interesse,  das  zur 
Mitteilung  führt,  nur  solchen  Gegenständen  zuwendet,  die  der  un- 
mittelbaren Wahrnehmung  zugänglich   sind.      Das   wird   anders,   wo 


^)  Vgl.  zu  dieser  Klassifikation  und  zu  dem  Folgenden  zugleich  mit  Rücksicht 
auf  die  Bemerkungen  Delbrücks  (Gnmdfragen  der  Sprachforschung,  S.  48  ff.)  und 
Sütterlins  (Das  Wesen  der  sprachlichen  Gebilde,  S.  14  ff.)  meine  Schrift:  Sprach- 
geschichte und  Sprachpsychologie,  S.  35  ff. 


icg  Die  Gebärdensprache. 


die  Erinnerung  eine  größere  Rolle  zu  spielen  beginnt,  und  wo  nun 
bei  der  Verwendung  der  Gebärde  zur  Erzählung  vergangener  Erleb- 
nisse oder  zum  Ausdruck  von  Befehlen  und  Wünschen  natürlich  die 
Objekte  der  Vorstellungen  nicht  immer  gegenwärtig  sein  können. 
In  diesem  Falle  führt  dann  der  Trieb  nach  Mitteilung  des  Gedachten 
von  selbst  dazu,  das  vorgestellte  Objekt  durch  Andeutung  seiner 
Eigenschaften  kenntlich  zu  machen.  Aber  auch  hier  greift  der 
Taubstumme  noch  gern,  falls  sich  nur  ähnliche  Objekte  im  Seh- 
bereich vorfinden,  zur  hinweisenden  Gebärde,  oder  er  zieht  sie 
wenigstens  neben  der  nachbildenden  zu  Hilfe.  Beide  zusammen 
verraten  nun  durch  den  nachahmenden  Bestandteil  die  Abwesenheit 
des  Gegenstandes,  durch  die  Hinweisung  auf  ein  ähnliches  Objekt 
beseitigen  sie  die  Unsicherheit  der  bloß  nachahmenden  Bewegung. 
Das  ist  einigermaßen  anders  bei  den  Formen  der  überlieferten  Ge- 
bärdensprache, wo  die  verschiedenen  Arten  nachbildender  Zeichen 
durch  eine  lange  eingelebte  Gewöhnung  festere  Bedeutungen  ge- 
wonnen haben.  Zuweilen  mag  übrigens  hier  das  Zurückdrängen 
jener  einfachsten  Gebärdeform  auch  dadurch  bedingt  sein,  daß  die 
Gebärdensprache  den  Charakter  einer  Geheimsprache  haben  kann, 
bei  der  die  Hinweisung  auf  den  Gegenstand  gerade  um  ihrer  leich- 
ten Verständlichkeit  willen  vermieden  wird. 

In  ihrer  ursprünglichen  Bedeutung  bezeichnet  demnach  die  hin- 
weisende Gebärde  schlechthin  den  anwesenden  Gegenstand,  auf 
den  sie  die  Aufmerksamkeit  lenkt.  Da  aber  alle  zur  umgebenden 
Welt  gehörenden  Objekte  gelegentlich  auch  abwesend  sein  können, 
so  entstehen,  namentlich  nachdem  sich  eine  gewisse  Tradition  aus- 
gebildet hat,  bald  für  die  meisten  Außendinge  selbständige,  sie 
nachbildende  oder  unabhängig  von  ihrer  Anwesenheit  andeutende 
Zeichen.  Hierdurch  wird  die  hinweisende  Gebärde  aus  ihrer  ersten 
allgemeinen  Anwendung  allmählich  verdrängt.  Nur  zwei  Vor- 
stellungsgebiete bleiben  zurück,  für  die  fortan  der  unmittelbare  Hin- 
weis die  angemessene  Bezeichnung  bleibt,  weil  ihre  Objekte  fort- 
während anwesend  sind.  Das  erste  dieser  Gebiete  ist  das  der 
Personen  der  Unterredung,  ^,das  zweite  das  der  räumlichen 
Verhältnisse.  Das  ich  und  du  sind  immer  wiederkehrende  Attri- 
bute der  Gedankenmitteilung.  Mögen  auch  die  Personen  der  Unter- 
redung wechseln,  dieses  ihr  Verhältnis  zueinander  mit  der  Bedingung 


Hinweisende  Gebärden. 


159 


unmittelbarer  Gegenwart  bleibt  bestehen.  Bis  zu  einem  gewissen 
Grade,  wenngleich  minder  konstant,  kann  aber  auch  eine  dritte 
Person  oder  eine  Mehrzahl  dritter  Personen  eine  analoge  Rolle 
spielen.  Ähnlich  verhält  es  sich  mit  den  räumlichen  Richtungen. 
Oben  und  unten ,  rechts  und  links ,  vorn  und  hinten  können  gar 
nicht  anders  ausgedrückt  werden  als  durch  hinweisende  Gebärden, 
die  von  dem  eigenen  Körper,  als  dem  Mittelpunkt  aller  Orientie- 
rungen im  Raum,  ausgehen. 

An  diese  räumlichen  Hinweisungen  schließen  sich  dann  weitere 
an,  die  in  ihrer  Form  nicht  wesentlich  abweichen,  nach  ihrer 
Bedeutung  jedoch  nicht  mehr  als  rein  hinweisende  Zeichen  betrach- 
tet werden  können.  Hierher  gehören  erstens  diejenigen  Gebärde- 
formen, die  Größe  und  Kleinheit,  namentlich  in  der  Höhendimension, 
zuweilen  aber  auch  in  andern  räumlichen  Richtungen  ausdrücken; 
sodann  solche  hinweisende  Bewegungen,  die  gegen  Teile  des 
eigenen  Leibes  gekehrt  sind,  um  entweder  diese  Teile  selbst  oder 
gewisse  ihrer  Eigenschaften  oder  ihre  Funktion  auszudrücken;  end- 
lich Gebärden,  welche  die  drei  räumlichen  Beziehungen  des  un- 
mittelbar gegenwärtigen  Ortes,  der  zurückgelegten  und  der  zurück- 
zulegenden Strecke  in  die  zeitlichen  Bedeutungen  der  Gegenwart, 
Vergangenheit  und  Zukunft  übertragen.  Diese  drei  Entwicklungs- 
formen gehören,  ebenso  wie  die  ursprüngliche  Bedeutung  des  ein- 
fachen Hinweises,  zu  den  verbreitetsten  Gebärden:  sie  sind  in  ganz 
übereinstimmender  Weise  unter  den  Zeichen  der  Taubstummen, 
der  Zisterzienser  und  in  den  verschiedenen  Formen  überlieferter 
Gebärdensprache  zu  finden.  Wir  haben  also  allen  Grund,  diese 
demonstrativen  Zeichen  sämtlich  für  in  hohem  Grade  natürliche 
Ausdrucksmittel  zu  halten.  Nach  ihrer  Bedeutung  besitzen  sie 
aber  den  Charakter  von  Übergangsstufen  zwischen  der  primären 
Form  des  Hinweises  und  verschiedenen  Arten  nachbildender  Ge- 
bärden. Obgleich  den  hinweisenden  Zeichen  gleichend  und  mit 
den  nämlichen  Hilfsmitteln  ausgeführt,  liegt  in  ihnen  stets  noch 
ein  weiterer  Vorstellungsinhalt,  der  über  den  durch  die  Bewegung 
selbst  ausgedrückten  hinausgeht.  So  ist  bei  den  Gebärden  der 
Größe  und  Kleinheit  die  hinweisende  offenbar  ganz  in  der  nach- 
bildenden Bedeutung  aufgegangen.  Denn  groß  und  klein  werden 
zwar  durch  dieselben  Bewegungen  ausgedrückt  wie  oben  und  unten, 


1 6o  I^ic  Gebärdensprache. 


aber   diese   Bewegungen  beziehen   sich    nicht    bloß    auf  die   räum- 
lichen Richtungen,   sondern  mehr  noch  auf  das,   was  sich  in  ihnen 
ausdehnt.     Näher   scheint  die    zweite   Form,    die    Bezeichnung    die 
Organe,    ihrer  Eigenschaften  und   Funktionen,    durch   Hinweis    auf 
Teile  des  eigenen  Leibes  der  primären  Bedeutung  zu  stehen.     Läßt 
sie  sich  doch    als    eine  besondere    Gestaltung  des    einfachen   Hin- 
weises   auf  sich    selbst  ansehen.      So    werden   Kopf,    Brust,    Bein, 
Auge,    Ohr,    Nase,    Zunge  usw.    durch  derartige  Bewegungen   an- 
gedeutet;   und   ähnliche    bezeichnen    dann    auch    die   Funktion    der 
Organe:    das    Sehen,    Hören,    Riechen,    Schmecken  usw.    In    allen 
diesen    Fällen   ist    demnach    gegenüber    der    einfach    hinweisenden 
Gebärde  eine  Erweiterung  der  Bedeutung  eingetreten,   die  sich  mit 
dem   Übergange    von    der   Person  auf  ihre    Teile    von    selbst    ver- 
bindet.    Auch   bezieht  sich   ein   solcher   Hinweis   auf  ein  einzelnes 
Organ  in  der  Regel  nicht   mehr    bloß    auf   den  Redenden    selbst, 
sondern  dieser  benützt  jenes  nur  als  das  nächste  Beispiel,    um  den 
Begriff  überhaupt    auszudrücken.      Darum    verbinden    sich    hiermit 
leicht    noch    andere    Bedeutungsentwicklungen:    so    der    Übergang 
vom  Organ  auf  seine  Funktion,  wie  bei   den   Sinnesorganen;    oder 
es    treten    zu    den    hinweisenden    andere,     näher    determinierende 
Bewegungen,  die  bereits  direkt   den  Charakter   darstellender  Gebär- 
den besitzen.     So,   wenn   eine   weitverbreitete   Gebärde    das   Sehen 
zuerst    durch    den    Hinweis    auf   das    Auge    und    dann    durch    eine 
von    diesem    ausgehende,    in    den   Raum   gerichtete  Bewegung   des 
Zeigefingers  anzeigt,  wodurch  die  Funktion  von  dem  Organ  selbst 
unterschieden    wird.      Oder    wenn   'Fleisch'  bei   den   Taubstummen 
und  den  Zisterziensermönchen  übereinstimmend  durch  Emporheben 
einer  Hautfalte    am    Arm    angedeutet   wird,   eine    Modifikation,    die 
zur  Unterscheidung    von    dem    Arm    als    solchem    dient,    wo    aber 
eben   deshalb   die   Gebärde   schon   in    ihrer  äußeren   Erscheinungs- 
weise   den   Charakter  einer    bloß   hinweisenden  verloren  hat.     Wie 
auf  die  Funktionen,    so  können    endlich    auch    auf  die  Eigenschaf- 
ten   der   Organe    oder,    in    einer  sich  weiter   anschließenden  Über- 
tragung,   auf  irgendwelche    andere    Vorstellungen,    die    mit    diesen 
Eigenschaften   in  Beziehung  stehen,   die  nämlichen  Gebärden  über- 
gehen.     So,    wenn   die    Farbe    ''rot''    durch    Hinweisung    auf    den 
roten  Lippenrand   oder  auf  die  Wange,    oder    wenn    gar    bei   den 


Nachbildende  Gebärden.  j5j 


Zisterziensern  der  'Wein  durch  eine  Berührung  der  Nase,  gleich- 
sam als  Mer,  der  die  Nase  rötet',  angedeutet  wird  —  eine  Ge- 
bärde, die  durch  die  Gleichförmigkeit,  mit  der  sie  sich  in  der 
Klostersprache  der  verschiedenen  Jahrhunderte  wiederholt,  ein  merk- 
würdiges Licht  auf  die  Verbreitung  wirft,  in  der  dieses  Symptom 
bei  den  frommen  Brüdern  vorgekommen  sein  muß.  Alles  dies 
sind  natürlich  sekundäre  Übertragungen,  die  schon  in  das  Gebiet 
des  Bedeutungswandels  der  Gebärden  hineinreichen,  die  aber  nicht 
möglich  sein  würden,  wenn  nicht  hier  von  Anfang  an  die  hin- 
weisende Bewegung  selbst  ihr  ursprüngliches  Gebiet  überschritte,  in- 
dem sie  in  gewissem  Sinn  als  abgekürzte  Form  einer  darstellenden 
Gebärde  gebraucht  wird. 

Eine  etwas  andere  Stellung  nehmen  nach  ihrem  psychologischen 
Inhalt  die  sekundären  demonstrativen  Gebärden  der  dritten  Form 
ein,  bei  denen  der  ursprünglich  räumlichen  eine  zeitliche  Bedeu- 
tung untergeschoben  ist.  Die  Regelmäßigkeit,  mit  der  diese  Dar- 
stellung der  Zeit  durch  hinweisende  Zeichen  in  den  neugebildeten 
wie  in  den  überlieferten  Gebärdensprachen  angewandt  wird,  bildet 
vielleicht  einen  der  sprechendsten  Belege  für  die  Ursprünglichkeit 
der  Verbindung  beider  Anschauungsformen.  Trotzdem  wird  man 
auch  hier  die  Bedeutung  der  Gebärde  eine  sekundäre  nennen 
müssen,  weil  unter  den  räumlichen  Orten  und  Richtungen  Zeit- 
punkte und  Zeitrichtungen  gedacht  werden.  Da  aber  bei  dieser 
Substitution  der  Raum  ein  Symbol  der  Zeit,  wenn  auch  ein  noch 
so  natürliches  und  ursprüngliches  ist,  so  ist  diese  dritte  Form  zu- 
gleich zu  den  symbolischen  Gebärden  zu  rechnen. 

3.    Nachbildende  Gebärden. 

Ungleich  größer  an  Zahl  und  mannigfaltiger  ist  die  Klasse  der 
darstellenden  Gebärden.  Sie  zerfallen,  wie  schon  oben  bemerkt, 
in  mehrere  Formen,  die  man  am  zweckmäßigsten  wieder  nach 
ihren  genetischen  Beziehungen  ordnet.  Während  bei  den  hinweisen- 
den die  sekundären  Formen  immer  zugleich  in  darstellende  über- 
gingen, worin  sich  die  natürliche  Armut  der  bloßen  Demonstrativ- 
zeichen verriet,  bleibt  bei  den  verschiedenen  Entwicklungsstufen 
der    darstellenden    Gebärden    selbst    der    enge    Zusammenhang    mit 

Wundt,  Völkerpsychologie  I,   i.     2.  Aufl.  II 


j52  Die  Gebärdensprache. 


der  primären  Form,  aus  der  sie  sich  differenziert  haben,  dauernd 
erhalten.  Diese  primäre  Form  ist  aber  die  der  nachbildenden 
Gebärden. 

Sie  sind  unmittelbare  Weiterentwicklungen  der  nachahmenden 
Ausdrucksbewegungen,  mit  denen  sie  in  ihrer  ursprünglichen  Er- 
scheinungsweise vollständig  zusammenfallen.  Die  ausgebildeten  Ge- 
bärden dieser  Klasse  lassen  sich  dann  in  zwei  verschiedene  Arten 
unterscheiden.  Entweder  werden  nämlich  die  Umrißlinien  des  vor- 
gestellten Gegenstandes  mit  dem  bewegten  Zeigefinger  in  die  Luft 
gezeichnet;  oder  die  Gestalt  des  Gegenstandes  wird  durch  die 
Hände  in  einer  bleibenderen  Form  nachgebildet.  Hiernach  können 
wir  jene  die  zeichnende,  diese  die  plastische  Form  der  nach- 
bildenden Gebärden  nennen.  Beide,  die  vergänglichere  und  die 
bleibendere  Form,  können  sich  übrigens  miteinander  verbinden,  und 
wo  sich  die  Gebärdenmitteilung  weiter  ausgebildet  hat,  da  ge- 
schieht dies  in  der  Tat  fortwährend.  Im  allgemeinen  läßt  sich 
aber  die  vergängliche  Form,  das  flüchtig  vom  Finger  in  die  Luft 
gezeichnete  Bild,  als  die  primitivere  betrachten.  Sie  herrscht  in 
der  natürlichen  Gebärdensprache  unserer  Taubstummen  vor,  wäh- 
rend sich  die  entwickelteren,  auf  einer  langen  Tradition  beruhenden 
Zeichensprachen  mehr  der  in  solchen  Fällen  mit  großer  Fertigkeit 
geübten  Plastik  der  Hände,  wenn  nötig  unter  Hinzunahme  bewegter 
Umrißzeichnungen  und  hinweisender  Bewegungen,  bedienen^).  So 
bezeichnet  der  Taubstumme  das  'Haus*,  indem  er  Giebeldach  und 
Seitenwände  mit  dem  Zeigefinger  in  der  Luft  andeutet.  Ebenso 
der  Zisterzienser,  der  die  'Kirche'  vom  gewöhnlichen  Hause  noch 
dadurch  unterscheidet,  daß  er  nachträglich  über  dem  Dach  ein 
Kreuz  beschreibt.  Ein  'Zimmer'  wird  durch  Beschreibung  eines 
Vierecks,  ein  'Hof,  ein  'Platz',  ein  'Garten'  entweder  ebenso 
oder  häufiger  durch  Beschreiben  eines  Kreises  angedeutet.    Der  Zu- 


'■)  Deutlich  erhellt  dieses  Übergewicht  zeichnender  Gebärden  bei  den  Taub- 
stummen, wenn  man  das  von  Ed.  Schmalz  (Über  die  Taubstummen  und  ihre  Bildung, 
S.  314  ff.)  gesammelte  ausführliche  Verzeichnis  durchgeht  und  mit  den  Verzeichnissen 
von  Mallery  und  A.  de  Jorio  (a.  a.  O.),  die  sich  auf  überlieferte  Gebärdensprachen 
beziehen,  vergleicht.  Schmalz  ist  übrigens  der  einzige  unter  diesen  Autoren,  der 
die  Gebärden  in  gewisse  Klassen  geordnet  hat  —  freilich  in  solche,  die  der  Gram- 
matik der  Lautsprache  entlehnt  sind  und  also,  da  deren  Kategorien  in  der  Gebärden- 
sprache nicht  existieren,  für  diese  keine  Bedeutung  haben  (vgl.  oben  S.  127  f.). 


Nachbildende  Gebärden. 


163 


sammenhang  der  Rede  oder  hinzutretende  demonstrative  und  mit- 
bezeichnende   Gebärden   sondern   wieder    diese    verschiedenen    Be- 
griffe :    so    den    Garten   vom   Platze    die    der    Umrißzeichnung   des 
Kreises  angehängte  Gebärde  des  Riechens  an  einer  Blume,  das  durch 
mehrmalige  Bewegung   des  Daumens    und  Zeigefingers    gegen    die 
Nase  angedeutet  wird.     Der  'Rauch'  wird  durch  eine  die  Bewegung 
der  Rauchwolken  annähernd  wiedergebende  spiralige  Drehung   des 
Zeigefingers  von  unten  nach  oben  ausgedrückt.    Soll  gesagt  werden, 
daß   der  Rauch   aus  einem   Gebäude  aufsteige,   so  wird  diese   Ge- 
bärde dem   obenerwähnten   Zeichen   des  Daches  beigefügt.     Ist  ein 
von  einer   brennenden    Flamme   aufsteigender  Rauch   gemeint,    so 
wird    durch    Blasen    gegen    den    emporgehaltenen    Zeigefinger    die 
Flamme   angedeutet:    diese  beiden  Gebärden  der  Flamme  und  des 
Rauches    zusammen    werden    daher    auch    benützt,    um    überhaupt 
*^Feuer'  auszudrücken.    Ahnliche  Verbindungen  der  zeichnenden  mit 
mitbezeichnenden   Bewegungen,   die   zur   Erläuterung  jener   dienen, 
kommen  noch  in  der  mannigfaltigsten  Weise  vor.    Für  'Brot'  zeichnet 
der  Taubstumme  einen  Kreis  in  die  Luft,  die  Form  des  Brotlaibes 
wiedergebend,  und  macht    dann    die   Gebärde    des  Brotschneidens. 
'Buch'  drücken  der  Taubstumme    und   der  Zisterzienser  in  gleicher 
Weise  dadurch  aus,   daß  sie  die  beiden  Hände  in  der  Form  eines 
aufgeschlagenen  Buchs,  in  dem  man  liest,  vor  das  Angesicht  halten 
und  mit  dem  Munde  Bewegungen  ausführen,    die  das  Lesen  nach- 
ahmen.   Den  'Hut'  als  männliche  Kopfbedeckung  drückt  der  Taub- 
stumme  aus,    indem    er  die   Umrisse  eines  Zylinderhutes  über  dem 
Kopfe    zeichnet.      Dasselbe  Zeichen  teilt  der  Prinz  von  Wied  von 
den  Indianern  der  Rocky  mountains  mit;   es  war  aber  zugleich  auf 
den  weißen  Mann  selbst,    als    den  huttragenden,    im   Unterschiede 
vom  Eingeborenen,    übergegangen.      Der   Neger  wurde,    da    er  in 
Amerika  meist  in  europäischer  Kleidung  geht,    in  derselben  Weise 
angedeutet,    aber   als   Unterscheidungsmerkmal   eine  Bewegung  mit 
der  flachen  Hand  über  das   Haar  beigefügt,    die  auf  das  Wollhaar 
hinwies.      Die  verschiedenen   Tiere   werden  bei  Taubstummen    wie 
Indianern  in  der  Regel  durch  Umrißzeichnungen  nicht  des  ganzen 
Tieres,   sondern  einzelner   charakteristischer   Teile    ausgedrückt:    so 
der  'Hirsch'  durch  Zeichnung  des  Geweihes  über  der  eigenen  Stirne, 
der  'Ochse'  durch   ähnliche  Beschreibung  der  Hörner,    die   'Ziege' 


164 


Die  Gebärdenspraclie. 


durch  Zeichnung  ihres  Bartes,  der  'Voger  durch  Nachbildung  seines 
Schnabels  mit  Zeigefinger  und  Daumen,  die  gegeneinander  bewegt 
werden.  Ähnliche  flüchtige  Umriß  Zeichnungen  bieten  sich  endlich 
überall  von  selbst  dar,  wo  es  sich  um  den  Ausdruck  von  Vorgängen 
und  Tätigkeiten  handelt,  die  in  der  Zeit  verlaufende  Erscheinungen 
sind,  also  für  die  meisten  der  in  der  Lautsprache  durch  Verbal- 
formen ausgedrückten  Begriffe.  So  gibt  der  Taubstumme  den  Be- 
griff "^gehen"*  durch  die  Nachahmung  von  Gehbewegungen  mit  dem 
rechten  Zeige-  und  Mittelfinger  auf  dem  emporgehaltenen  linken 
Vorderarm  wieder;  so  Veiten',  indem  er  mit  den  nämlichen  Fingern 
die  Beine  eines  Reiters  und  mit  ihnen  gleichfalls  auf  dem  Vorder- 
arm der  andern  Seite   die  Bewegungen  des  Reitens  nachbildet.     So 


h  c 

Fig.  26.     Neapolitanische  Handgebärden. 


""sprechen'  durch  nachahmende  Bewegungen  der  Lippen.  Diese  Be- 
wegungen nehmen  die  Bedeutung  'nennen'  an,  wenn  zugleich  der 
Zeigefinger  vom  Mund  aus  gegen  die  benannte  Person  oder  Sache 
hingeführt  wird;  die  Bedeutung  'singen',  wenn  der  Arm  und  Zeige- 
finger die  Bewegungen  des  Taktschiagens  machen.  'Schlagen'  wird 
unmittelbar  durch  schlagende  Bewegungen  mit  dem  rechten  Arm, 
Verbergen'  durch  Verstecken  der  rechten  Hand  unter  dem  Kleide 
der  linken  Seite,  'Handel  treiben',  'kaufen'  durch  abwechselndes 
Hinlegen  eines  fingierten  Gegenstandes  und  Aufnehmen  eines  andern 
mit  der  Hand,  also  eigentlich  durch  abwechselndes  Geben  und  Neh- 
men ausgedrückt  usw. 

Neben  diesen  in  der  Ausführung  von  Umrißzeichnungen  in  der 
Luft  bestehenden  Zeichen  haben  sich  nun  namentlich  in  den  über- 
lieferten, auf  eine  längere  Tradition  zurückgehenden  Gebärden- 
sprachen dauerndere,  plastische  Gebärden  entwickelt.  Sie  kommen 
dadurch  zustande,   daß    die  Hände   als  plastische  Organe  die  Nach- 


Nachbildende  Gebärden.  16  = 


bildung  der  verschiedensten  Natur-  oder  Kunstformen  gestatten  und 
sich  in  dieser  Fähigkeit  noch  in  hohem  Grade  durch  Übung  ver- 
vollkommnen. Unter  den  Ausdrucksmitteln  der  Taubstummen  fehlen 
diese  plastischen  Gebärden  fast  gänzlich,  wogegen  sie  in  der  Sprache 
der  Indianer  und  des  neapolitanischen  Volkes  eine  große  Rolle  spielen. 
Eine  kleine  Sammlung  solcher  Zeichen  geben  die  Figuren  26 — 28. 
In  Fig.  26  sind  Gebärden  neapolitanischen,  in  Fig.  27  und  28  solche 
amerikanischen  Ursprungs  dargestellt'). 

So  ist  die  Gebärde  a  (Fig.  26)  das  in  Neapel  viel  und  in  man- 
cherlei Bedeutungen  gebrauchte  Zeichen  eines  "^gehörnten  Kopfes^: 
Zeige-  und  kleiner  Finger  ausgestreckt  bezeichnen  die  beiden  Hörner, 
die  übrige  Hand  den  Kopf.  Die  Urbedeutung  ist  natürlich  die  eines 
gehörnten  Tierkopfes  oder  Tieres.  Ebenso  ist  d  die  Nachbildung 
eines  'Eselskopfes':  die  nach  oben  gehaltenen  Daumen  beider 
Hände  sind  die  Ohren,  durch  den  Zwischenraum  zwischen  den 
kleinen  Fingern  und  der  übrigen  Hand  wird  die  Mundspalte  an- 
gedeutet. Werden  die  beiden  Hände  in  derselben  Stellung  zuein- 
ander mit  den  Fingerspitzen  nach  abwärts  gerichtet,  während  die 
Daumen  fester  aneinander  gedrückt  werden,  wie  in  c,  so  stellt  diese 
Form  abermals  den  Kopf  des  Esels  dar,  aber  nicht  wie  vorhin  im  Profil, 
sondern  in  der  Vorderansicht.  Eine  oft  gebrauchte  Gebärde  der 
Neapolitaner  ist  endlich  das  in  d  wiedergegebene  Bild  der  Tlasche"*: 
der  nach  oben  gekehrte  Daumen  bedeutet  deren  Hals,  die  übrige 
Hand  mit  den  gebogenen  Fingern  den  Bauch. 

Noch  mannigfaltiger  sind  die  plastischen  Handgebärden  der  In- 
dianer, e  (Fig.  27)  ist  das  gewöhnliche  Zeichen  für  'Geld'.  Es  ist 
die  Nachbildung  der  Form  des  Geldstücks  und  als  solche  auch 
an  andern  Orten  der  Erde  verbreitet:  so  z.  B.  mit  der  gleichen 
Bedeutung  in  Japan.  /  ist  das  indianische  Zeichen  für  'Sonne'. 
Es  besteht  ebenfalls  nur  in  der  Nachbildung  eines  runden  Gegen- 
standes, wie  das  vorige.  Aber  der  größere  Umfang  des  mit  bei- 
den Händen  gebildeten  Kreises  deutet  die  erheblichere  Große  an. 
Zur  näheren  Begrenzung  der  Bedeutung  werden  zuweilen  noch  die 
so    zusammengefügten    Hände    von    Osten    nach    Westen   bewegt: 


^)  Die  Zeichnungen  in  Fig.  26   sind   dem  Werke   A.  de  Jorios   (a.  a.  O.  Taf.  19 
und  20',  die  in  Fig.  27  und  28  der  Arbeit  G.  Mallerys  entnommen. 


i66 


Die  Gebärdensprache. 


gleichsam  Mer  große  runde  Gegenstand,  der  von  Osten  nach 
Westen  geht'.  Die  Unbestimmtheit  dieses  Kreiszeichens  macht  es 
übrigens  auch  in  anderem  Sinne  verwendbar.  So  dient  es  nach 
Prinz  Wied  zur  Bezeichnung  eines  indianischen  ^Dorfes"*,  wo  zur  be- 
stimmteren Hervorhebung  dieser  Vorstellung  die  Zeigefinger  und 
Daumen  etwas  voneinander  entfernt  werden,  um  die  beiden  Ein- 
gänge, die  durch  die  Umzäunung  des  Dorfes  führen,  anzudeuten. 
Ein  Zelt  kann,    wie  in  g^    durch  eine    einzige  Hand    nachgebildet 


Fig.  27.     Nordamerikanische  Handgebärden, 


werden,  deren  Hohlfläche  nach  vorn  sieht,  und  deren  Fingerspitzen 
so  nach  oben  gekehrt  sind,  daß  sich  einige  Fingerglieder  kreuzen, 
ähnlich  den  Zeltstangen.  Wird  die  Hand  ohne  diese  Kreuzung  der 
Finger  noch  stärker  gehöhlt  und  nach  unten  gekehrt,  wie  in  //,  so 
bedeutet  dies  ein  ^Trinkgefäß'  oder  in  übertragener  Bedeutung  auch 
den  Trank',  das  *Wasser^  Eine  etwas  vollständigere  Weise  für  die 
Bezeichnung  des  Zeltes  ist  die  in  i  dargestellte  zweihändige  Gebärde, 
bei  der  durch  die  Kreuzung  der  Finger  beider  Hände  die  Kreuzung 
der  Zeltpfähle  wiedergegeben  ist.  Werden  die  Finger  der  Hände 
gekreuzt  und  mit  dem  Rücken  nach  vorn  gekehrt,  wie  in  k^  so  be- 
deutet dies  ein  "^Blockhaus',  wobei  wiederum  die  Kreuzung  der  Finger 


Nachbildende  Gebärden. 


167 


die  Anordnung  der  Blöcke  nachbildet.  Die  mit  der  Hohlhand  und 
den  ausgestreckten  Fingern  nach  oben  gekehrte  Hand  in  /  bezeichnet 
endlich,  wenn  sie  bei  aufwärts  gekehrtem  Arm  ausgeführt  wird, 
einen  'Baum^,  mit  abwärts  gegen  den  Boden  gekehrtem  einen  'Strauch^ 
oder  das  'Gras'. 

Eine  weitere  Reihe  plastischer  Handgebärden  zeigt  die  Fig.  28. 
Wird  die  nämliche  Handstellung  gewählt  wie  in  /  der  vorigen  Figur, 


Fig.  28.     Nordamerikanische  Handgebärden. 


während  die  Finger  mehr  horizontal  gelagert  sind  und  sich  die  Hand 
gleichzeitig  aufwärts  bewegt  [m)^  so  bedeutet  dies  "^Rauch'.  Beide 
Hände  in  umgekehrter,  abwärts  gerichteter  Haltung  und  mit  gleich- 
zeitiger Bewegung  im  selben  Sinne  [ji]  bezeichnen  *^Regen\  Tiere 
drückt  der  Indianer  wie  der  Neapolitaner  durch  die  Umrißkonturen 
des  Kopfes  oder  anderer  charakteristischer  Körperteile  aus.  So  be- 
zeichnet die  in  /  dargestellte  Handform  die  Tatze  des  ""Bären',  die 
in  q  den  Kopf  des  'Pferdes',  die  in  r  den  der  'Antilope'.  Diese  an 
sich  vieldeutigen  Gestalten  können  aber  natürlich  erst  durch  den 
Zusammenhang  der  Rede  oder  durch   hinzugefügte  andere  Zeichen 


l68  Die  Gebärdensprache. 


verständlich  gemacht  werden:  so  das  Pferd,  indem  man  dem  Zeichen 
desselben  das  in  o  wiedergegebene  für  'reiten''  beifügt. 

In  vielen  andern  Fällen  wird  der  Sinn  einer  bestimmten  plastischen 
Gebärde  dadurch  näher  determiniert^  daß  mit  ihr  eine  den  Umriß- 
linien des  Gegenstandes  folgende  zeichnende  Bewegung  verbunden 
wird.  So  kann,  wie  schon  erwähnt,  das  Zeichen  für  ""Sonne'  (Fig.  27/") 
verdeutlicht  werden,  indem  man  gleichzeitig  eine  rasche  Bewegung 
von  Osten  nach  Westen  ausführt.  Die  nämliche  Gebärde  nimmt 
aber  die  Bedeutung  ""Tag'  an,  wenn  die  zum  Kreise  verbundenen 
Hände,  oder  wenn  bei  einfacherer  Ausführung  die  einzelne  den 
Kreis  darstellende  Hand  [e  Fig.  27)  von  Osten  nach  Westen  und 
dann  wieder  zurückbewegt  wird.  Das  Zeichen  für  'Wolke'  besteht 
gewöhnlich  darin,  daß  beide  Hände  in  der  Höhe  des  Kopfes  die 
Form  eines  herabhängenden  Wolkenbauches  nachbilden,  ein  Zeichen, 
welches  dann,  um  den  bewölkten  Himmel  auszudrücken,  mit  der 
Bewegung  des  Zeigefingers  gegen  den  Himmel  verbunden  wird. 
Mallery  hat  schon  darauf  hingewiesen,  daß  diese  und  andere  Ge- 
bärden auffallend  an  die  Symbole  erinnern,  mit  denen  die  gleichen 
Gegenstände  in  der  Bilderschrift  der  Indianer  ausgedrückt  werden, 
während  zugleich  zwischen  den  offenbar  unabhängig  entstandenen 
Formen  der  Bilderschrift  verschiedener  Völker  eine  ähnliche  univer- 
selle Verwandtschaft  besteht  wie  zwischen  den  entsprechenden  Ge- 
bärdezeichen ^). 

Abgesehen  von  den  Händen,  die  durch  die  Beweglichkeit  der 
Finger  zur  Darstellung  plastischer  Formen  in  bevorzugter  Weise  ge- 
eignet sind,  ist  es  noch  die  mimische  Muskulatur  des  Angesichts, 
die  bei  der  Erzeugung  plastischer  Gebärden  mitwirkt.  Aber  während 
die  Hand  alle  möglichen  äußeren  Gegenstände  nachzubilden  vermag, 
ist  das  Angesicht  immer  nur  imstande ,  sich  selbst  in  den  verschie- 
denen Zuständen  wiederzugeben,  in  die  es  durch  den  Ausdruck  der 
Affekte  versetzt  wird.  Wie  die  Hand  die  auf  Objekte  bezogenen 
Vorstellungen,  so  deutet  daher  die  Plastik  der  mimischen  Muskeln 
alle  jene  subjektiven  Zustände  an,  die  durch  die  Mimik  des  An- 
gesichts ausgedrückt  werden  können:  demnach  in  erster  Linie  die 
Gefühle  und  Affekte,  dann  aber  auch  andere  Zustände  des  Bewußt- 


^)  Mallery  a.  a.  O.  S.  349  ff.    Vgl.  auch  Tylor  a.  a.  O.  S.  105  ff.,  sowie  unten  V,  3. 


Mitbezeichnende  Gebärden.  i6g 


seins,  die,  wie  Schlaf  und  Tod  oder  gespannte  Aufmerksamkeit,  vor- 
zugsweise an  mimischen  Merkmalen  zu  erkennen  sind.  Die  Plastik 
des  Angesichts  besteht  also  in  einer  Verwertung  des  natürlichen 
Mienenspiels  für  die  Gebärdensprache,  wobei  nun  eine  bestimmte  Ge- 
bärde nicht  mehr  direkt  den  ihr  entsprechenden  Seelenzustand  selbst, 
sondern  nur  noch  die  Vorstellung  dieses  Zustandes  ausdrückt.  Diese 
Übertragung  ist  eine  so  naheliegende,  daß  die  hierher  gehörenden 
plastischen  Gebärden,  im  Unterschied  von  der  nur  in  den  entwickel- 
teren Zeichensprachen  ausgebildeten  Plastik  der  Hände,  ein  sehr 
frühes  und  allgemein  verbreitetes,  zugleich  aber  auch  ein  überaus 
beharrliches  Besitztum  der  Gebärdensprache  sind.  So  werden  ganz 
allgemein  Treude',  '^Schmerz'',  ''Trauer  ,  ""Kummer",  'Zorn''  und  andere 
Affekte  lediglich  durch  den  natürlichen  mimischen  Ausdruck  derselben 
angedeutet,  während  meist  noch  hinweisende  oder  zeichnende  Ge- 
bärden zu  Hilfe  kommen.  Ahnlich  wird  der  Begriff  der  *" Aufmerk- 
samkeit' bei  Taubstummen  und  Wilden  durch  den  gespannten 
Gesichtsausdruck,  unterstützt  durch  die  Erhebung  des  Zeigefingers, 
ausgedrückt.  Zur  Bezeichnung  von  'Schlaf  und  'Tod'  wird  der  Kopf 
mit  geschlossenen  Augen  auf  die  rechte  Hand  gelegt.  Wird  die  hin- 
weisende Bewegung  des  Zeigefingers  auf  den  Boden  beigefügt, 
so  sagt  dies,  daß  der  Tod,  gleichsam  der  'Schlaf  dort  unten",  ge- 
meint sei. 


4.   Mitbezeichnende  Gebärden. 

Als  eine  zweite  Unterform  darstellender  Gebärden  wurden  oben 
(S.  156)  die  mitbezeichnenden  unterschieden.  Ihre  charakteri- 
stische Eigenschaft  besteht  darin,  daß  sie  nicht  den  Gegenstand  selbst 
in  seinen  gesamten  Umrissen  oder  in  denen  eines  besonders  in  die 
Augen  fallenden  Teiles  wiedergeben,  sondern  daß  sie  irgendeine 
einzelne  Eigenschaft  oder  ein  willkürlich  herausgegriffenes  Merkmal 
zu  seiner  Bezeichnung  wählen.  Aus  dieser  Begriffsbestimmung  geht 
schon  hervor,  daß  diese  Gebärdeform  in  engem  Zusammenhang  mit 
jenen  Zeichen  nachbildender  Art  steht,  bei  denen  nicht  das  Ganze 
des  Gegenstandes,  sondern  nur  ein  besonders  augenfälliger  Teil 
angedeutet  wird.  Man  kann  daher  solche  Gebärden  als  Über- 
gangsformen zwischen  den  nachbildenden  und  den  mitbezeichnen- 


I  yo  Die  Gebärdensprache. 


den  betrachten,  die  bald  der  einen,  bald  der  andern  Klasse  näher 
liegen.  So  wird  man  z.  B.  die  in  der  unteren  Reihe  der  Fig.  28 
mitgeteilten  Beispiele  (/,  q^  r]  noch  zur  vorigen  Gattung,  die  An- 
deutung der  Ziege  durch  die  in  die  Luft  gezeichneten  Konturen  ihres 
Bartes,  oder  die  des  Esels  durch  die  seiner  Ohren  schon  zu  den 
mitbezeichnenden  Gebärden  stellen  können.  Die  Allmählichkeit  des 
Übergangs  liegt  hier,  wie  in  andern  ähnlichen  Fällen  dieses  Gebietes, 
in  der  Natur  der  Sache.  Alle  Arten  darstellender  Gebärden  sind 
eben  auf  gemeinsamem  Stamm  erwachsene  Entwicklungsformen.  Wo 
statt  der  Umrißzeichnung  oder  der  plastischen  Wiedergabe  des  Gegen- 
standes ein  nebensächliches  Merkmal  zu  seiner  Bezeichnung  zureicht, 
da  begnügt  sich  die  Gebärde  mit  der  Andeutung  eines  solchen,  das 
dann  durch  Assoziation  das  Erinnerungsbild  wachruft. 

Wie  nun  die  nachbildenden  Gebärden  in  doppelter  Gestalt  vor- 
kommen, als  in  die  Luft  geschriebene  flüchtige  Bilder  oder  Umriß- 
zeichnungen, und  als  dauerndere  plastische  Nachbildungen,  so  sind 
auch  bei  den  mitbezeichnenden  eine  solche  vergängliche  und  eine 
bleibendere  Form  zu  unterscheiden;  nur  daß  beide  noch  häufiger 
als  im  vorigen  Fall  ineinander  übergehen  und  sich  verbinden  können. 
Übrigens  trifft  es  auch  hier  zu,  daß  die  vergängliche,  zeichnende 
Form  mehr  der  ursprünglichen,  neugebildeten  Gebärdensprache,  die 
dauerndere,  plastische  der  traditionell  überlieferten  eigen  ist.  So  be- 
zeichnet der  Taubstumme  den  Begriff  'Mann',  indem  er  die  Gebärde 
des  Hutabnehmens  ausführt.  Die  Gebärde  ist  natürlich  ein  spezifisch 
abendländisches  Zeichen,  da  es  von  der  im  Orient  im  allgemeinen 
unbekannten  Sitte  des  Hutabnehmens  beim  Gruße  herrührt.  Da 
aber  diese  Sitte  bei  uns  nur  für  den  Mann,  nicht  für  die  Frau  gilt, 
so  ist  das  in  der  Gebärde  ausgedrückte  Merkmal  vollkommen  zu- 
reichend. Eine  ""Frau"*  wird  bei  den  Taubstummen  in  der  Regel 
durch  die  auf  die  Brust  gelegte  Hand  ausgedrückt.  Die  Zisterzienser 
bedienten  sich  zum  gleichen  Zweck  einer  mit  dem  Zeigefinger  hori- 
zontal über  die  Stirn  ausgeführten  Bewegung,  um  damit  die  geringere 
Körpergröße  anzudeuten.  Daß  das  Zeichen  kein  zufälliges  und  ver- 
einzeltes ist,  dafür  spricht  übrigens  die  Tatsache,  daß  Prinz  Wied 
bei  den  nordamerikanischen  Indianern  das  nämliche  Zeichen  beob- 
achtete. Der  'Mann"*  wurde  bei  ihnen  im  Gegensatz  dazu  durch 
Erheben  des  Zeigefingers  über  das  Haupt  bezeichnet.    Doch  könnte 


Mitbezeichnende  Gebärden.  171 


darin  auch  schon  eine  mitwirkende  symbolische  Bedeutung,  die  der 
beherrschenden  Stellung  des  Mannes,  gesehen  werden.  Das  'Kind* 
bezeichnet  der  deutsche  Taubstumme  meist  durch  Schaukeln  des 
rechten  EUogens  auf  der  linken  Hand,  gleichsam  als  das,  was  auf 
dem  Arm  getragen  und  geschaukelt  wird.  Die  Zisterzienser  drückten 
denselben  Begriff  durch  den  an  den  Mund  geführten  Zeigefinger 
aus,  eine  Gebärde,  die  nach  Mallerys  Nachweisungen  auch  bei  den 
Indianern  weitverbreitet  ist,  und  die  genau  ebenso  in  der  hiero- 
glyphischen Bilderschrift  und  in  den  Darstellungen  des  "^Harpokrates"*, 
des  'Gottes  des  Schweigens^  wiederkehrt.  In  der  Tat  soll  mit  der 
Gebärde  offenbar  die  Sprachlosigkeit  des  Kindes  angedeutet  werden. 
Eine  verwandte  Gebärde  ist  in  Japan  für  ein  'altes  Weib*  in  Ge- 
brauch; der  Zeigefinger  weist  aber  dabei  auf  die  Zähne  oder  auf 
Zahnlücken  hin,  die  Gebärde  hat  also  wohl  die  Bedeutung  der  'Zahn- 
losen*. Weitere  mitbezeichnende  Gebärden  aus  der  Taubstummen- 
sprache, die  zugleich  den  Charakter  einer  in  die  Luft  gezeichneten 
Bilderschrift  besitzen,  sind  die  folgenden:  'Feuer*  Blasen  gegen  den 
aufgehobenen  Zeigefinger,  'Butter*  Bewegung  des  Butterstreichens, 
'Salz*  die  des  Salzstreuens,  'Stein*  die  des  Aufhebens  vom  Boden 
und  Klopfen  an  die  Zähne,  um  die  Härte  anzudeuten.  Die  letztere 
Gebärde  allein  kann  auch  für  die  Eigenschaft  'hart*  oder  in  anderem 
Zusammenhang  für  'weiß*  gebraucht  werden.  Einige  fernere  Ge- 
bärden von  ähnlicher  Art  sind  als  begleitende  und  die  Bedeutung 
determinierende  Bewegungen  zu  nachbildenden,  namentlich  plastischen 
Gebärden  schon  erwähnt  worden :  so  die  Bewegung  von  Osten  nach 
Westen  zum  Ausdruck  der  Sonne  oder  des  Tages,  die  Bewegung 
der  das  Bild  eines  Baumes  wiedergebenden  Hand  nach  oben,  um 
das  Wachstum  anzudeuten,  usw. 

Gegenüber  allen  diesen  in  veränderlichen  Bewegungen  bestehenden 
Zeichen,  an  denen  meist  ausschließlich  die  Hände  beteiligt  sind,  ver- 
halten sich  die  plastischen  Gebärden  von  mitbezeichnendem  Cha- 
rakter insofern  eigenartig,  als  sie  in  der  Regel  durch  ein  eigentüm- 
liches Zusammenwirken  der  Hände  und  des  Angesichts  zustande 
kommen.  Dabei  gibt  dann  der  Ausdruck  des  Angesichts  gewisser- 
maßen den  Grundton  der  für  das  Verständnis  der  Gebärde  unerläß- 
lichen Gefühlsrichtung  an,  während  die  eigentliche  Funktion  der 
Mitbezeichnung  der  mit  dem  Gesicht   in   irgendwelche  Verbindung 


172 


Die  Gebärdensprache. 


gebrachten  Hand  zufällt.  Diese  plastische  Unterform  läßt  sich  dem- 
nach auch  als  eine  Modifikation  jener  Gebärden  betrachten,  bei 
denen  die  Vorstellung  einer  Gemütsbewegung  durch  ihren  mimischen 
Gesichtsausdruck  wiedergegeben  wird  (S.  i68  f.).  Die  Fig.  29  zeigt 
einige  Beispiele,  die  zunächst  der  neapolitanischen  Gebärdensprache 
entnommen  sind,  aber  in  denselben  oder  ähnlichen  Formen  auch  sonst 
vorkommen^).  So  ist  die  in  a  dargestellte  Gebärde  der  ebenso  alte 
wie  allgemeine  Ausdruck  der  "^Stille',  zunächst  als  Warnung  oder 
Aufforderung  gegenüber  einem  andern,  dann  aber  auch  als  allge- 
gemeines  Zeichen  für  den  Begriff  überhaupt.  Die  Gebärde  zerfällt, 
wie  man  sieht,  in  einen  mimischen  und  in  einen  pantomimischen 
Bestandteil.     Jener  deutet  durch  die  fest  geschlossenen  Lippen   das 


Fig.  29.     Mimische  Zeichen  der  Neapolitaner 


Schweigen,  durch  den  fixierenden  Blick  die  erhöhte  Aufmerksam 
keit  und,  wenn  der  Blick  auf  eine  bestimmte  Person  gerichtet 
ist,  die  an  diese  gerichtete  Aufforderung  an.  Der  pantomimische 
Teil,  der  erhobene  Zeigefinger,  verleiht  der  letzteren  den  Charakter 
des  Befehls.  Beide  Bestandteile  unterstützen  und  interpretieren 
sich  demnach  wechselseitig.  Nicht  in  gleicher  Weise  eindeutig  ist 
die  in  d  dargestellte  Gebärde.  Das  Erfassen  der  beiden  Wangen 
hat  zunächst  die  Bedeutung  des  Hinweises:  es  will  den  Blick 
auf  das  Angesicht,  vor  allem  auf  denjenigen  Teil  desselben  lenken, 
der    hauptsächlich    für    dessen    Form    bestimmend    ist.      Was    mit 


^)  A.  de  Jorio  a.  a.  O.  Taf.  21. 


Mitbezeichnende  Gebärden. 


173 


der  Hinvveisung  gemeint  sei,  darüber  entscheidet  aber,  ähnlich 
wie  bei  der  vorigen  Figur,  der  mimische  Ausdruck.  Ist  dieser, 
wie  in  b^  ein  frqundlich  lächelnder,  so  bezeichnet  die  Gebärde 
ein  angenehmes,  schönes  Gesicht  oder  allgemein  'Schönheit'.  Wird 
das  Angesicht  zur  Fratze  verzerrt,  so  nimmt  sie  im  Gegenteil 
den  Begriff  der  'Häßlichkeit'  an.  Wird  es  in  die  Länge  ge- 
zogen, während  der  Druck  der  Finger  den  so  entstehenden  Ein- 
druck der  Hohlwangigkeit  unterstützt,  so  gewinnt  sie  die  Bedeutung 
der  'Magerkeit',  'Dürftigkeit'.  Werden  umgekehrt  die  Wangen  auf- 
geblasen, so  wird  dadurch  ein  Vollmondsgesicht  oder  allgemein 
'Wohlbeleibtheit'  ausgedrückt.  Bei  der  in  c  dargestellten  Gebärde 
wirken  der  mimische  und  der  pantomimische  Teil  zusammen,  um 
'Hunger'  oder,  in  etwas  übertragenem  Sinne,  'Bedürftigkeit'  wieder- 
zugeben. Der  Mund  ist  begehrlich  geöffnet,  während  der  übrige 
mimische  Ausdruck  die  Unlust  des  Hungernden  andeutet.  Dazu 
macht  die  rechte  Hand  eine  auf  den  Mund  hinweisende  Gebärde, 
die  durch  die  eigentümliche,  das  Ergreifen  eines  Bissens  andeutende 
Krümmung  der  Finger  unterstützt  wird.  Eine  in  Japan  übliche 
Gebärde,  der  in  den  Mund  und  zwischen  die  Zähne  gesteckte  Zeige- 
finger, unterstützt  von  dem  begehrlichen  Ausdruck  des  Angesichts, 
drückt  ursprünglich  wohl  das  nämliche  aus;  sie  hat  aber  den  allge- 
meinen Begriff  des  'Wunsches'  angenommen  und  ist  damit  in  eine 
symbolische  Gebärde  übergegangen.  Eine  ähnliche  Zwischenstufe 
zwischen  Mitbezeichnung  und  Symbol  hat  die  im  Neapolitanischen 
gebrauchte  Bewegung  des  Streichens  mit  der  flachen  Hand  über 
die  Stirn,  während  das  Gesicht  den  Ausdruck  der  Anstrengung 
zeigt.  Die  Gebärde  veranschaulicht  das  Abwischen  des  Schweißes 
bei  anstrengender  Arbeit.  Sic  bedeutet  daher  zunächst  physische 
Anstrengung,  dann  aber  'Mühe'  und  'Ermüdung'  überhaupt.  Wie 
in  diesen,  so  geht  noch  in  vielen  andern  Fällen  auch  die  mit- 
bezeichnende Form  in  die  dritte  und  für  die  innere  Entwicklung 
der  Gebärdensprache  wichtigste  Gattung  darstellender  Gebärden,  in 
die  der  symbolischen,  über. 


IjA  Die  Gebärdensprache. 


5.   Symbolische  Gebärden. 

Wenn  wir  die  Gebärdensprache  dem  Begriff  der  Sprache  über- 
haupt unterordnen,  so  kann  bei  ihr  von  Symbolen  zunächst  in 
jenem  allgemeinsten  Sinne  geredet  werden,  in  welchem  wir  auch 
bei  der  Lautsprache  das  Wort  ein  Symbol  des  Begriffs  nennen. 
Symbol  bedeutet  hier  lediglich  ein  Zeichen  irgendwelcher  Art,  das 
uns  an  den  zu  denkenden  Begriff  erinnert,  gleichgültig,  ob  die 
zwischen  beiden  bestehende  Verbindung  auf  irgendeiner  inneren 
Beziehung  beruht,  oder  ob  sie  bloß  eine  äußere  und  konventionelle 
ist.  Für  unser  heutiges  Denken  ist,  von  wenigen  Fällen  abgesehen, 
das  Wort  in  der  Tat  nur  solch  ein  äußeres  Zeichen.  Von  der 
Vorstellung,  die  es  ausdrückt,  ist  es  an  sich  ebenso  verschieden 
wie  ein  algebraisches  Symbol  von  dem  Größenbegriff,  dem  es  sub- 
stituiert wird.  Höchstens  hat  es  den  Vorzug  der  konstanteren  Asso- 
ziation mit  seiner  Bedeutung.  Dies  ist  nun  zugleich  der  Punkt, 
wo  sich  die  Gebärdensprache  von  der  Lautsprache  scheidet.  Die 
Gebärden  erscheinen  uns  nicht  als  bloß  äußere  und  zufällige,  son- 
dern als  adäquate  Symbole  der  Vorstellungen.  Dadurch  kommt 
es  aber,  daß  hier  aus  dem  allgemeinen  Begriff  der  »Gebärden- 
symbole«, der  auf  jede  irgendeine  Vorstellung  ausdrückende  Ge- 
bärde anwendbar  ist,  der  engere  Begriff  der  symbolischen  Ge- 
bärden sich  aussondert.  Ihn  werden  wir  nämlich  dann  anwenden 
können,  wenn  die  Gebärde  nicht,  wie  in  den  bisherigen  Fällen,  eine 
unmittelbare  Andeutung  der  Vorstellung  enthält,  sondern  wenn 
sie  mittelbar,  infolge  irgendwelcher  durch  Assoziation  bewirkter 
Begriffsübertragungen,  auf  sie  hinweist.  Da  man  unter  einem 
»Symbol«  ein  sinnliches  Bild  versteht,  das  einen  von  ihm  selbst 
verschiedenen,  aber  zu  ihm  in  assoziativer  Beziehung  stehenden 
Begriff  darstellen  soll,  so  wird  im  Sinne  dieser  allgemeinen  Be- 
deutung eine  »symbolische  Gebärde«  eine  solche  sein,  die  zu- 
nächst eine  bestimmte  sinnliche  Vorstellung  erweckt,  um  mit  die- 
ser einen  andern,  von  ihr  abweichenden,  jedoch  irgendwie  durch 
innere  Eigenschaften  assoziierten  Gedankeninhalt  zu  verbinden. 
Demnach  können  wir  die  symbolischen  Gebärden  kurz  als  die 
mittelbar    andeutenden    von    allen    andern    als    den    unmit- 


Symbolische  Gebärden.  jys 


telbar  andeutenden  unterscheiden.  Wenn  ich  auf  einen  Ge- 
genstand hinweise,  so  ist  das  eine  unmittelbare  Andeutung  des- 
selben. Ebenso,  wenn  ich  sein  Bild  in  die  Luft  zeichne  oder  seine 
plastische  Form  mit  der  Hand  nachbilde.  Und  auch  dann  noch, 
wenn  ich  irgendeine  Eigenschaft  oder  eine  äußere  Beziehung  des 
Gegenstandes  hervorhebe,  die  ihm  nur  unter  gewissen  Bedingungen 
zukommt,  wird  dies  dem  Gebiet  unmittelbar  andeutender  Zeichen 
zuzurechnen  sein.  Anders  bei  der  mittelbaren  Andeutung.  Hier 
wird  durch  die  Gebärde  eine  Vorstellung  ausgedrückt,  die  nicht 
selbst  der  mitzuteilende  Begriff  ist,  auch  sich  nicht  als  begleitendes 
Merkmal  mit  ihm  verbindet,  sondern  die  ihn  erst  mittels  entfernterer 
psychologischer  Zwischenglieder  im  Bewußtsein  wachruft.  Der 
Unterschied  von  der  nächstverwandten  mitbezeichnenden  Gebärde 
besteht  daher  darin,  daß  die  symbolische  nicht  eine  zum  auszu- 
drückenden Begriff  selbst  gehörende,  sondern  eine  von  ihm  ganz 
verschiedene  Vorstellung  erweckt,  die  aber  vermöge  der  ihr  bei- 
gelegten Eigenschaften  stellvertretend  für  jenen  Begriff  werden 
kann.  Man  darf  somit  hier  bei  dem  Begriff  des  Symbols  nicht  an 
die  Weiterbildungen  denken,  die  er  im  Gebiet  der  symbolisierenden 
Kunst  findet.  Weder  braucht  die  symbolische  Gebärde  Gedanken- 
inhalte, die  der  sinnlichen  Anschauung  fern  liegen,  noch  überhaupt 
abstrakte  Begriffe  auszudrücken.  Vielmehr  besteht  das  Wesen  des 
Symbols  zunächst  nur  darin,  daß  es  irgendeinen  geistigen  Inhalt 
in  einer  Form  darstellt,  die  von  ihm  selbst  völlig  verschieden,  aber 
durch  irgendwelche  Mittelglieder  mit  ihm  verbunden  ist. 

Nun  besteht  bei  jeder  Gebärde  die  Beziehung  zwischen  ihr  und 
der  Vorstellung,  die  sie  bedeutet,  in  einer  Assoziation,  die  sich 
außerdem  nicht  selten  durch  häufigen  Gebrauch  befestigt.  Bei  den 
bisher  behandelten  Zeichen  führt  diese  Assoziation  unmittelbar  von 
der  Vorstellung  zu  der  Gebärde  und  von  dieser  wieder  direkt  zu 
der  Vorstellung  zurück.  So  assoziiert  sich  die  hinweisende  Be- 
wegung ohne  weiteres  mit  dem  Gegenstand,  gegen  den  sie  ge- 
richtet ist.  Nicht  minder  envecken  nachbildende  und  mitbezeich- 
nende Gebärden  unmittelbar  die  entsprechenden  Vorstellungen,  weil 
ihre  eigenen  Merkmale  oder  diejenigen,  auf  die  es  ankommt,  mit 
wesentlichen  Merkmalen  des  Gegenstandes  übereinstimmen  oder  als 
denselben  hinreichend  ähnlich  aufgefaßt  werden.      Dies  ändert  sich 


in()  Die  Gebärdensprache. 


bei  den  symbolischen  Gebärden,  indem  hier  mindestens  eine  Zwi- 
schenvorstellung, die  ebensowohl  mit  der  Gebärde  selbst  wie  mit 
der  auszudrückenden  Vorstellung  assoziativ  verbunden  ist,  zwischen 
beide  tritt.  Der  Unterschied  zwischen  diesen  Fällen  entspricht  dem- 
nach durchaus  dem  zwischen  unmittelbarer  und  mittelbarer 
Assoziation.  So  ist  die  gleich  einem  Schöpfgefäß  gehöhlte  Hand 
eine  auf  unmittelbarer  Assoziation  beruhende  Gebärde  für  ein 
""Trinkgefäß'  (Fig.  27  //).  Die  nämliche  braucht  aber  der  Indianer, 
um  'Wasser'  auszudrücken;  hier  ist  es  dann  offenbar  eine  mittelbare 
Assoziation,  durch  welche  Gebärde  und  Gegenstand  miteinander  ver- 
bunden werden:  die  Gebärde  enveckt  die  Vorstellung  eines  Trink- 
gefäßes, das  Trinkgefäß  die  seines  Inhaltes.  In  dieser  neuen  An- 
wendung ist  daher  die  Gebärde  bereits  im  allgemeinsten  Sinn  eine 
symbolische:  sie  benützt  eine  Vorstellung,  nicht  um  diese  selbst, 
sondern  um  einen  von  ihr  verschiedenen  Begriff  zu  bezeichnen. 
Die  Bedeutung  bleibt  dabei  eine  sinnliche,  und  es  könnte  daher 
leicht  in  diesem  Fall  die  symbolische  durch  eine  direkt  andeutende 
Gebärde  ersetzt  werden,  z.  B.  durch  Hinweisung  auf  zufällig  vor- 
handenes Wasser  oder  durch  die  mitbezeichnende  Handlung  des 
Trinkens.  Gerade  die  symbolischen  Gebärden  sind  nun  insofern 
für  die  psychologische  Entwicklung  des  Symbolischen  überhaupt 
lehrreich,  als  sie  uns  alle  möglichen  Übergangsstufen  von  dieser 
primitiven  Form  zu  der  ausgebildeteren  darbieten,  wo  das  Symbol 
sinnlicher  Ausdruck  für  einen  an  sich  sinnlich  nicht  darzustellen- 
den Begriff  wird.  Doch  schiebt  sich  dann  in  der  Regel  zugleich 
eine  größere  Anzahl  von  Assoziationsgliedern  zwischen  die  in  der 
Gebärde  direkt  ausgedrückte  und  die  von  ihr  angedeutete  Vor- 
stellung. So  wird  die  plastische  Nachbildung  des  Eselskopfes  mit 
der  Hand  (Fig.  26 d  und  c),  ebenso  wie  das  bekannte  das  Ohr  des 
Esels  am  eigenen  Ohr  durch  die  ausgestreckte  Hand  andeutende 
Zeichen,  wohl  selten  in  der  ursprünglichen  Bedeutung,  sehr  häufig 
aber  als  symbolischer  Ausdruck  der  'Dummheit'  gebraucht.  Auch 
hier  ist  die  Symbolik  noch  eine  einfache,  weil  nur  eine  einzige  Vor- 
stellung als  assoziatives  Zwischenglied  existiert,  nämlich  die  dem 
Esel  sprichwörtlich  zugeschriebene  Dummheit.  Schon  tritt  aber  in 
diesem  Fall  das  Symbol  für  einen  Begriff  ein,  der  anders  als  sym- 
bolisch überhaupt  nicht  ausgedrückt  werden  kann,   weil  er  sich  auf 


Symbolische  Gebärden.  j  .^  - 


keine  sinnliche  Eigenschaft  bezieht.  Aus  solchen  einfachsten  sym- 
bolischen Gebärden,  bei  denen  eine  einzige  einfache  Assoziation 
von  der  direkten  zur  symbolischen  Bedeutung  überführt,  können 
nun  leicht  durch  die  Dazwischenkunft  weiterer  Assoziationsglieder 
symbolische  Gebärden  von  verwickelterem  Ursprung  hervorgehen. 
Sie  sind  dann  aber  auch  meist  vieldeutiger  Art  und  erst  durch  den 
Zusammenhang  der  Gedanken  verständlich.  So  kann  die  plastische 
Nachbildung  des  gehörnten  Stierkopfes  {a  Fig.  26)  bei  dem  Neapo- 
litaner, neben  ihrer  unmittelbaren  Bedeutung,  symbolisch  die  'Stärke' 
als  die  Haupteigenschaft  des  Stieres,  dann  die  'Gefahr\  zunächst  die 
vom  Anstürmen  eines  wütenden  Stieres  drohende,  hierauf  die  Ge- 
fahr überhaupt,  und  endlich  infolge  einer  dritten  Übertragung  den 
'Wunsch  vor  Gefahr  behütet  zu  werden^  ausdrücken.  Hier  springt 
alsbald  in  die  Augen,  wie  die  fortschreitende  Zunahme  assoziativer 
Zwischenglieder  die  symbolische  von  der  nachbildenden  Bedeutuno- 
immer  weiter  entfernt. 

Geht  man  bei  der  Betrachtung  der  symbolischen  Gebärden  von 
dem  in  diesen  Beispielen  hervortretenden  Verhältnis  zu  den  nach- 
bildenden und  mitbezeichnenden  aus,  so  scheiden  sich  jene  in  zwei 
große  Gruppen,  je  nachdem  sie  in  einem  leicht  nachzuweisenden 
Übergang  aus  andern  Gebärdeformen,  oder  aber  von  Anfang  an  in 
symbolischer  Bedeutung  entstanden  sind.  Wir  können  demnach 
diese  beiden  Gruppen  als  die  der  sekundären  und  der  primären 
symbolischen  Gebärden  unterscheiden.  Von  ihnen  sind  aber  die 
sekundären  die  ursprünglicheren.  Erst  nachdem  überhaupt  auf  dem 
Wege  jener  allmählichen  assoziativen  Verschiebung  der  Bedeutung, 
die  oben  geschildert  wurde,  andere  Formen  darstellender  Gebärden 
symbolische  Bedeutungen  angenommen  haben,  wird  wahrscheinlich 
überhaupt  eine  primäre  Symbolik  möglich,  bei  der  ein  bestimmtes 
Zeichen  von  Anfang  an  nur  symbolisch  gemeint  ist.  Natürlich 
schließt  dies  nicht  aus,  daß  nicht  auch  dann  der  Gebärde  irgend- 
ein nicht  symbolischer  Sinn  untergeschoben  werden  kann;  ja  es 
liegt  in  der  Natur  der  Sache,  daß  dies  immer  möglich  ist,  da  eben 
das  Symbol  in  der  Übertragung  irgendeines  geistigen  Inhaltes  in 
eine  andere,  sinnliche  Form  besteht.  Diese  sinnliche  Form  selbst 
kann  darum  stets  als  die  unmittelbare  Bedeutung  des  Symbols  an 
gesehen  werden.    Nur  ist  bei  den  primären  Symbolen  der  sinnliche 

Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  12 


lyg  Die  Gebärdensprache. 


Ausdruck  so  weit  von  der  geistigen  Bedeutung  entfernt,    daß  ohne 
die  Kenntnis  des  wirklichen  Zusammenhangs  ein  Schluß  von  jenem 
auf  diese  niemals  möglich  sein  würde.   Dies  ist  dadurch  bedingt,  daß 
hier  der  Begriff  in  seiner  allgemeinen  Gestaltung  der  in  der  Gebärde 
für  ihn  gewählten  sinnlichen  Verkörperung  vorausging.    Darum  sind 
die  primären  Gebärden  durchweg  solche,  die  abstrakten  Begriffen 
entsprechen,    woraus    sich    ohne    weiteres   ihre   spätere   Entstehung 
erklärt.     Übrigens    ist    in   vielen   Fällen  kaum   festzustellen,    ob   ein 
gegebenes,   seit  langer  Zeit   ausschließlich    in    symbolischem   Sinne 
gebrauchtes  Zeichen  von   Anfang  an   diesen  Charakter  hatte.     Nur 
in  gewissen  Grenzfällen  kann  man  mit  zureichender  Wahrscheinlich- 
keit hierüber  entscheiden.    So  ist  es  wohl  als  ein  sekundäres  Symbol 
anzusehen,    wenn    der    Indianer,    um    den  Begriff  "^Häuptling'   aus- 
zudrücken.   Arm  und   Hand   über  sein  Haupt    erhebt:    die   einfach 
sinnliche  Bedeutung  der  überragenden  Körpergröße   liegt  hier  noch 
nahe  genug.     Wenn  dagegen  Indianer  wie  Taubstumme   die  "^Lüge' 
durch   eine  mit  dem  Zeigefinger   der  linken   Hand  vom   Mund  aus 
nach  links   und  abwärts  gerichtete  Bewegung   andeuten,    gleichsam 
als  eine  'schiefe,   links  gerichtete  Rede',   so  haben  wir  allen  Grund, 
hierin  ein  primäres  Symbol   zu  sehen.     Denn   es  läßt  sich  denken, 
daß    für    den    Begriff   Lüge,    nachdem    er    vorhanden    war,    dieses 
sinnliche    Zeichen    gewählt    wurde;    aber    dem    Zeichen    selbst    läßt 
sich    abgesehen    von   jenem    Begriff  keine    der    unmittelbaren    An- 
schauung entsprechende   Bedeutung  zuschreiben.     Anderseits   ist  es 
natürlich  unmöglich,  festzustellen,   ob   etwa  die  Gebärde  des  Esels- 
kopfes   früher    für    das  wirkliche  Tier    oder    zur  Verspottung   eines 
Dummkopfes   gebraucht  wurde.     In    noch    andern  Fällen    mag   ein 
Teil  der  Gebärde  eine  sekundäre,  ein  anderer  eine  primäre  Symbolik 
enthalten:    so  z.  B.   die  Gebärde   der  Indianer   für  'Frieden',   die   in 
der  Andeutung   einer    Pfeife   und    in    der   Hinzufügung   irgendeiner 
Gruß-  oder  Freundschaftsgebärde,  wie  der  ineinander  verschlungenen 
Hände   oder  der  umeinander   geschlungenen  Zeigefinger  (Fig.  32  /), 
besteht.    Hier  ist  die  Pfeife  ein  der  Sitte  entstammendes  sekundäres, 
das  Freundschaftszeichen    dagegen    offenbar    ein    primäres    Symbol. 
Wegen  dieses  mannigfachen  Ineinandergreifens  von    Gebärden    ver- 
schiedenen   Ursprungs    und    der    oft    zweifelhaften  Stellung   anderer 
würde    eine    Klassifikation    der    symbolischen    Gebärden    auf    dieser 


Symbolische  Gebärden.  lyn 


Grundlage  kaum  durchzuführen  sein.  Die  Unterscheidung  bleibt 
aber  deshalb  wichtig,  weil  uns  die  Existenz  der  sekundären  Symbole 
den  Weg  andeutet,  auf  dem  urspri.inglich  überhaupt  eine  Symbolik 
entstehen  konnte,  ob  diese  nun  der  Gebärden-  oder  der  Lautsprache 
oder,  wie  in  der  Bilderschrift,  den  Anfängen  bildender  Kunst  an- 
gehören mag. 

Der  genetische  Zusammenhang  der  symbolischen  mit  den  un- 
mittelbar nachbildenden  Gebärden  ist  schließlich  auch  daraus  zu  er- 
kennen, daß  die  hier  unterschiedenen  beiden  Klassen  zeichnender, 
rasch  vorübergehender  und  plastischer,  dauernder  Zeichen  bei  den 
symbolischen  Gebärden  ebenfalls  wiederkehren.  So  ist  die  oben 
erw^ähnte  Bewegung  des  Zeigefingers  vom  Mund  aus  in  schräger 
Richtung  für  ""Lüge',  in  geradliniger  für  ^Wahrheit'  eine  zeichnende 
Gebärde;  ebenso,  wenn  bei  den  Indianern  die  Erhebung  der  Hand 
über  das  Haupt  den  "^Häuptling"*,  die  Umrißzeichnung  der  Pfeife  den 
'Frieden''  bedeutet.  Nicht  minder  gehört  hierher  die  weitere  india- 
nische Gebärde  der  Bewegung  des  Zeigefingers  vom  Auge  des  Re- 
denden zu  dem  eines  andern  oder  vom  Herzen  zum  Herzen,  um 
Übereinstimmung  der  Anschauungen  und  der  Gesinnungen  aus- 
zudrücken, sowie  die  auch  bei  den  Zisterziensern  vorkommende 
Gebärde  für  ""Zorn':  die  Bewegung  beider  Hände  von  der  Herzgrube 
aus,  das  Überwallen  oder  Ausströmen  des  Herzens  andeutend.  Die 
weit  verbreiteten  Gebärden  der  Bejahung,  der  Verneinung,  des  Zwei- 
fels, der  Zustimmung,  der  Unterwürfigkeit,  der  Zuneigung,  die  aus 
den  die  Rede  begleitenden  Ausdrucksbewegungen  der  Affekte  zum 
Teil  auch  in  die  selbständige  Gebärdensprache  übergegangen  sind, 
können  ebenfalls  dahin  gerechnet  werden.  Die  Modifikationen,  die 
bei  ihnen  beobachtet  werden,  bieten  zugleich  gute  Beispiele  für 
die  Veränderungen,  deren  eine  bestimmte  Gebärde  fähig  ist.  Ge- 
rade die  symbolischen  Gebärden  bieten  solchen  Variationen  einen 
weiten  Spielraum,  weil  die  Beziehung  zwischen  einem  sinnlichen 
Gegenstand  und  seinem  Abbild  eine  viel  begrenztere  ist  als  die 
zwischen  einem  Begriff  und  seinem  Symbol.  In  Anbetracht  dieses 
Spielraums  der  Versinnlichungen  eines  und  desselben  Begriffs  ist 
sogar  die  vorhandene  Übereinstimmung  in  vielen  symbolischen  Ge- 
bärden und  so  vor  allem  auch  in  diesen  allgemeinen  eine  über- 
raschend große.     Bei  der  Bejahung  und  Verneinung  ist  das  allerdings 


j  80  Die  Gebärdensprache. 


bestritten  worden,  und  man  hat  es  als  einen  Beweis  für  den  Mangel 
jedes  inneren  Zusammenhangs  zwischen  dem  Gestus  und  seiner  Be- 
deutung bezeichnet,  daß  die  bejahende  und  verneinende  Gebärde 
im  Orient  fast  im  geraden  Gegenteil  derjenigen  Kopfbewegungen 
bestehe,  die  wir  im  Abendland  anwenden').  Will  der  moderne 
Araber  etwas  bejahen,  so  schüttelt  er  den  Kopf;  zum  Zeichen  der 
Verneinung  wirft  er  den  Kopf  nach  rückwärts  und  schnalzt  zugleich 
mit  der  Zunge.  Schon  dies  ist  nun  freilich  kein  voller  Gegensatz. 
Was  hier  als  Zeichen  der  Verneinung  geschildert  wird,  ist  eine 
Gebärde,  die  mit  einer  in  Süditalien  im  Sinne  der  Abweisung  oder 
Geringschätzung  gebrauchten  die  größte  Verwandtschaft  hat.  Diese 
besteht  darin,  daß  zuerst  die  Hand  unter  das  Kinn  gelegt  und 
dann  gegen  den  Angeredeten  bewegt  wird,  während  der  Kopf 
sich  etwas  rückwärts  wendet^).  Mit  ihr  ist  dann  wieder  die  weit 
verbreitete  des  'Schnippchenschlagens^  bei  der  Mittelfinger  und  Dau- 
men zuerst  gegeneinander  gestemmt  und  hierauf  gegen  den  An- 
geredeten losgeschnellt  werden,  nahe  ver\vandt.  In  diesen  drei 
Fällen  ist  die  nämliche  abweisende  und  durch  die  Art  der  Aus- 
führung zugleich  die  Geringfügigkeit  des  Gegenstandes  andeutende 
Bewegung  nur  verschiedenen  Organen  zugewiesen.  Denn  das  Schla- 
gen des  "^Schnippchens'  besteht  eigentlich  in  einer  Übertragung  der 
von  dem  Orientalen  geübten  Bewegung  der  Zunge  auf  die  beiden 
Finger;  und  noch  unmittelbarer  wiederholt  sich  weithin  sichtbar  die 
nämliche  Bewegung  in  der  neapolitanischen  Gebärde,  bei  der  auch 
die  begleitende  Rückwärtsbewegung  des  Kopfes  beibehalten  ist. 
Befremdlicher  ist  allerdings  das  Schütteln  des  Hauptes  als  Zeichen 
der  Bejahung.  Wie  es  scheint,  ist  dies  aber  eine  moderne  Gebärde, 
die  aus  irgendwelchen  unbekannten  Ursachen  aus  einer  älteren,  mit 
der  unserigen  übereinstimmenden  hervorging,  da  die  mohammeda- 
nische Tradition  aus  der  Zeit  des  Propheten  Vorwärts-  und  Rück- 
wärtsbeugung des  Kopfes  als  die  allgemeingültigen  Zeichen  der 
Bejahung  und  Verneinung  anführt^).  Daneben  wird  auch  Schütteln 
des  Gewandes  mit  der  Hand  oder  eine  andere  ähnliche,  das  Ab- 
schütteln von  Staub  andeutende  Gebärde   als  orientalisches  Zeichen 


1)  Goldziher,  Zeitschr.  für  Völkerpsych.    Bd.  16,  S.  377. 

2)  A.  de  Jorio  a.  a.  O.  Taf.  21,  Fig.  2. 

3)  Goldziher  a.  a.  O.  S.  378. 


Symbolische  Gebärden.  i8l 


der  Verneinung  erwähnt ;  und  ebenso  sind  noch  sonst,  z.  B.  bei  den 
Eingebornen  Amerikas,  analoge  Zeichen  der  Zustimmung  und  der 
Ablehnung,  wie  sie  der  Europäer  mit  dem  Kopf  ausführt,  der  Hand 
zugeteilt.  Die  Bejahung  wird  dann  durch  eine  Bewegung  der  rechten 
Hand  von  der  Brust  nach  vorn  angedeutet,  bei  der  zuletzt  die  Hand 
mit  der  Volarseite  nach  oben  geöffnet  ist,  die  Verneinung  durch 
eine  in  ihrem  Anfang  übereinstimmende  Bewegung,  die  aber  in  eine 
rasche  Seitwärts-  und  Abwärtswendung  übergeht^).  Alles  dies  be- 
stätigt, daß  es  sich  hier  überall  um  Symbole  handelt,  die  unabhängig 
entstanden  und  darum  verschiedener  äußerer  Gestaltungen  fähig,  je- 
doch in  ihrem  Grundcharakter  verwandt  sind. 

Ähnlich  verhält  es  sich  mit  den  mannigfachen  Gebärden  des 
Grußes,  der  Freundschaft,  der  Zuneigung.  Hier  ist  z.  B.  das  Ver- 
hältnis der  orientalischen  Grußgebärden  zu  den  abendländischen  ein 
solches,  daß  jene  als  gesteigerte,  diese  als  abgeschwächte  Gestal- 
tungen einer  und  derselben  Grundform  betrachtet  werden  können. 
Dabei  haben  sich  jedoch  begleitende  Gebärden  hinzugesellt,  die  ge- 
legentlich jene  hauptsächlich  in  der  Neigung  des  Körpers,  besonders 
des  Hauptes  bestehende  Grundform  zum  Teil  verdrängen  konnten: 
so  die  mohammedanische  Kreuzung  der  Arme  über  der  Brust,  die 
mit  den  begleitenden  Gebetsworten  zusammenhängt,  oder  die  spezi- 
fisch abendländische  Entblößung  des  Hauptes,  die  wohl  darauf  zurück- 
zuführen ist,  daß  bei  Römern  wie  Germanen  der  Helm  oder  Hut 
als  Symbol  der  Freiheit  galt,  wodurch  dann  die  Abnahme  desselben 
zum  Symbol  der  Unterwerfung  wurde  ^).  Ähnlich  ist  der  Kuß  eine, 
wie  es  scheint,  auf  die  Kulturvölker  der  alten  Welt  beschränkte  Sitte. 
Doch  überall,  wo  er  fehlt,  finden  sich  andere  ursprüngliche  Ausdrucks- 
formen von  gleicher  Bedeutung,  wie  das  Reiben  der  Nasenspitzen 
aneinander,  das  Reiben  oder  Klopfen  der  Arme,  der  Brust  oder 
anderer  Körperteile,  in  denen  sich  der  Trieb  nach  engster  Verbin- 
dung mit  dem  Gegenstand  der  Liebe  ausspricht^).    Auch  der  Hand- 


J)  Reise  des  Prinzen  Wied  II,  S.  648,  Nr.  34,  35.     Mallery  a.  a.  O.  S.  454  fF. 

2)  Grimm,  Deutsche  Rechtsaltertümer,3  S.  152. 

3)  Darwin,  Ausdruck  der  Gemütsbewegungen,  S.  218.  R.  Andree,  Ethnographische 
Parallelen  und  Vergleiche,  TL,  1889,  S.  223  ff.  Der  Nasengruß,  für  den  Andree  ganz 
bestimmte  Verbreitungsbezirke  nachweist,  könnte,  wie  dieser  Autor  vermutet,  aus 
dem    Beriechen    hervorgegangen    sein,    das,    mit    der    feineren    Ausbildung    des 


l32  üie  Gebärdensprache. 


schlag  ist  als  Zeichen  der  freundschaftlichen  Begrüßung  außerhalb 
der  Grenzen  abendländischer  Zivilisation  unbekannt.  Bei  den  nord- 
amerikanischen Indianern  war  er  einst  nur  als  Symbol  des  Friedens 
heimisch  —  eine  Bedeutung,  die  wohl  überall  die  ursprüngliche  ist. 
Als  solches  der  Freundschaft  wird  er  von  ihnen  noch  jetzt  fast  nur 
im  Verkehr  mit  Weißen  gebraucht.  Unter  ihnen  selbst  ersetzen  ihn 
in  dieser  Beziehung  die  sonstigen  Symbole  der  Liebe  und  Zunei- 
gung, die  Umarmung  oder  das  Reiben  der  Brust  und  der  Arme  an- 
einander^). 

Die  angeführten  Beispiele  bieten  so  in  ihren  verschiedenen  Formen 
deutliche   Belege    für   die   abweichende    psychologische   Entstehung 
symbolischer  Gebärden.    Die  Zeichen  für  Wahrheit  und  Lüge,  oder 
die  für  Übereinstimmung  der  Ansichten  und  Gesinnungen  durch  Hin- 
weisung auf  Auge  und  Herz  sind  nur  im  Zusammenhang  der  eigent- 
lichen  Gebärdensprache   möglich.      Es   ist   nicht   denkbar,    daß    sie 
anders   als  aus  dem  Trieb  der  Mitteilung  heraus  entstanden   seien. 
Dagegen  sind  die  einfache  Bejahung  und  Verneinung  sowie  die  ver- 
schiedenen Gebärden,  die  Zuneigung,  Freundschaft,  Hochachtung  und 
ähnliche    Gefühle   ausdrücken,    zum    Teil  jedenfalls   aus   natürlichen 
Ausdrucksbewegungen   hervorgegangen,    die  ursprünglich   nur  dem 
subjektiven    psychischen    Zustand    Befriedigung    schafften    und    erst 
sekundär    die    Kundgebung    der    Affekte    selbst    und    dann    endlich 
auch  die  Mitteilung  von  Vorstellungen  bezweckten.    Hierbei  wurden 
sie    allmählich    zu   bloßen    Andeutungen    der    einstigen    Ausdrucks- 
bewegungen  abgeschwächt.      Außerdem   erfuhren  sie   in  der  Regel 
Bedeutungsänderungen:    so  z.  B.   beim  Übergang    des  Handschlags 
als  Friedens-  in  ein  Freundschaftssymbol,  oder  der  Entblößung  des 
Hauptes  als  Zeichen  der  Unterwerfung   in  eine  bloße  Achtungsbe- 
zeigung.    Wie  die  erste  Entstehung  solcher  symbolischer  Gebärden 
aus  Ausdrucksbewegungen,  so  sind  aber  auch   die  Metamorphosen 
ihrer  Bedeutung  Prozesse,    die   sich   aus   dem  stetigen  Wandel  der 
psychischen  Zustände  von  selbst  ergeben.     Dagegen  besitzen  jene 
Symbole,   die,   wie   die   Zeichen   für  Wahrheit  und   Lüge,  von  An- 


Genichssinns    beim  Naturmensclien   zusammenhängend,   in    einem   primitiven  Zustand 
die   Unterscbeidung    von    Stammesgenossen    und    Stammesfremden    vermittelt    haben 
mag.     Dann  würde  er  übrigens   zugleich  eine  sekundäre   symbolische  Gebärde    sein. 
^)  Mallery  a.  a.  O.  p.  385. 


Symbolische  Gebärden.  ig^ 


fang  an  in  der  Absicht  der  Mitteilung  entstanden  sind,  in  höherem 
Grade  den  Charakter  willkürlicher  Schöpfungen  und  gelegentlich 
sogar  absichtlicher  Erfindungen.  Dies  schließt  natürlich  nicht  aus, 
daß  die  Bedingungen  ihrer  Entstehung  trotzdem  in  allgemeingültigen 
psychischen  Eigenschaften  und  Anlagen  begründet  sein  können.  In 
der  Tat  ist  es  nur  aus  solchen  zu  erklären,  daß  uns  auch  die  Ge- 
bärden dieser  Art  trotz  ihrer  scheinbaren  Willkürlichkeit  vielfach  in 
gleichen  oder  mindestens  in  analogen  Gestaltungen  unabhängig 
voneinander  begegnen. 

Trifft  auf  diese  Weise  für  die  der  zeichnenden  Gebärde  sich  an- 
schließenden Symbole  das  Merkmal  einer  gewissen  Allgemeingültig- 
keit zu,  die  allerdings  mannigfache  Variationen  nicht  ausschließt,  so 
nehmen  auch  hier  wieder  die  plastischen  Gebärden  eine  etwas 
abweichende  Stellung  ein.  Sie  finden  sich  abermals  vorzugsweise 
in  solchen  Entwicklungsformen  der  Gebärdensprache,  die  eine  längere 
Vergangenheit  hinter  sich  haben.  Viele  von  ihnen  sind  daher  inner- 
halb bestimmter  Gebiete  konventionell  geworden.  Da  sich  zu  diesen 
Bedingungen  lokaler  Beschränkung  auch  noch  die  Unbestimmtheit 
und  Vieldeutigkeit  aller  Symbolik  hinzugesellt,  so  fehlt  vor  allem 
den  plastischen  Gebärden  von  symbolischer  Bedeutung  in  vielen 
Fällen  jene  unmittelbare  Verständlichkeit,  die  sonst  der  Gebärden- 
sprache eigen  ist.  Nach  den  bei  ihnen  zur  Verwendung  kommenden 
äußeren  Hilfsmitteln  lassen  sie  sich  übrigens  in  zwei  Gruppen  ord- 
nen :  in  solche,  bei  denen  Angesicht  und  Hand  zusammenwirken,  und 
in  andere,  bei  denen  die  Hände  ausschließlich  die  plastische  Form  dar- 
bieten. Die  erste  dieser  Gruppen  schließt  sich  jenen  plastisch-mimi- 
schen Gebärden  an,  die  durch  den  mimischen  Ausdruck  einer  Gemüts- 
bewegung die  Vorstellung  derselben  erwecken,  indes  die  Hand  zur 
näheren  Bestimmung  der  Vorstellung  mithilft  (Fig.  29).  Auch  bei 
den  symbolischen  Gebärden,  die  hierher  gehören,  ist  der  mimische 
Ausdruck  für  das  Verständnis  der  Gebärde  entscheidend.  Er  gibt 
den  allgemeinen  Gefühlston  an,  unter  dem  die  begleitende  Hand- 
gebärde aufgefaßt  werden  soll.  Diese  bringt  dann  die  entsprechenden 
Vorstellungen  hinzu.  So  ist  in  Fig.  30  das  erste  Bild  [d]  die  in 
Neapel  übliche  Gebärde  des  Mißtrauens.  Zunächst  dient  sie  der 
Warnung,  in  welcher  Bedeutung  sie  sofort  leicht  verständlich  ist. 
Die  linke  Hand  zieht  das   untere  Augenlid  herab,   um   der  Person, 


i84 


Die  Gebärdensprache. 


auf  die  der  Blick  gerichtet  ist,  zu  sagen,  sie  solle  das  Auge  offen 
halten.  Der  Ausdruck  aufmerksamer  Spannung  im  Gesicht,  der 
durch  den  emporgehobenen  Zeigefinger  der  rechten  Hand  unter- 
stützt werden  kann,  verstärkt  diesen  Eindruck,  während  ein  leiser 
lächelnder  Zug  den  der  Schlauheit  hinzufügt^).  Eine  sehr  merk- 
würdige Gebärde  zeigt  das  zweite  Bild  {e).  Es  ist  der  in  Neapel 
geläufige  Ausdruck  für  'Lüge'  oder  'Betrug',  zunächst  ebenfalls  im 
Sinne  der  Warnung  gebraucht.  Der  Blick  ist  mit  einem  ähnlichen, 
noch  etwas  gesteigerten  Grade  der  Aufmerksamkeit  und  Schlauheit 
wie  vorhin  auf  den  Gewarnten  gerichtet.  Die  linke  Hand,  zwischen 
Krawatte  und  Hals  gesteckt,  scheint  einem  allzu  starken  Bissen,  der 


Fig.  30.     Mimische  Zeichen  der  Neapolitaner. 

verschluckt  werden  muß,  den  erforderlichen  Platz  schaffen  zu  sollen. 
Ausdrücke  wie  'eine  Lüge  verschlucken'  oder  'ein  starker  Bissen  für 
die  Zumutung,  eine  unwahrscheinliche  Sache  zu  glauben,  verdeutlichen 
die  sinnliche  Grundlage  dieses  Symbols.  Die  in  /  dargestellte  Ge- 
bärde endlich  wird  für  'Schlauheit',  'Falschheit'  gebraucht.  In  Sprich- 
wort wie  Gebärde  ist  ja  die  Nase  das  Sinnesorgan,  das  als  spezifische 
Verkörperung  feiner  Empfindlichkeit,  scharfen  Spürsinns,  dann  aber 
auch  der  Schlauheit,  die  sich  nach  außen  betätigt,  gebraucht  wird. 
Das  deuten  hier  Daumen  und  Zeigefinger  an,  indem  sie  die  Nase 
umfassen,  während  die  geöffneten  Augen  Wachsamkeit  ausdrücken. 


I)  Genau    dieselbe   Gebärde   wird   mir,    aber   in    einer   etwas    andern  Bedeutung, 
aus  Japan  mitgeteilt:  sie  soll  hier  Abneigung  und  Widerwillen  ausdrücken. 


Symbolische  Gebärden.  185 


Noch  bei  einer  andern,  als  Verspottung  sehr  verbreiteten  Gebärde, 
bei  der  die  Hand  mit  dem  Daumen  an  die  Nase  angesetzt  und  der 
kleine  Finger  gegen  die  verspottete  Person  ausgestreckt  wird,  spielt 
die  Nase  die  Hauptrolle.  Diese  Gebärde  ist  aber  sicherlich  nur  die 
Übersetzung  der  Redensart  *^einem  eine  Nase  drehen'  aus  dem  Bild 
in  die  Gebärde.  Da  dieser  Redensart  wahrscheinlich  die  wächserne 
Nase  zugrunde  liegt,  die  man  sich  bald  als  Maskenscherz  selbst  auf- 
setzte, bald  als  verunstaltende  Verspottung  von  andern  aufgesetzt 
bekam  ^),  so  kann  die  gedrehte  Nase  als  Gebärde  ebensogut  eine 
ursprünglich  mimisch  gemeinte  Verunstaltung  des  Gesichts  wie  eine 
mimische  Nachahmung  des  Gegenstandes  sein.  Dieser  ähnlich  nach 
Form  und  Bedeutung  ist  die  Gebärde  des  'Eselbohrens',  nur  daß 
hier  der  Daumen  an  das  Ohr  angesetzt,  und  wieder  der  kleine 
Finger  gegen  den  Verspotteten  ausgestreckt  wird.  Beide  Gebärden 
scheinen  bloß  bei  den  europäischen  Völkern  vorzukommen.  In  Japan 
findet  sich  als  Ausdruck  der  Verspottung  teils  das  Ausstrecken  der 
Zunge,  das,  als  natürliche,  aber  verstärkte  Ausdrucksbewegung  des 
Widerwillens,  über  alle  Teile  der  Erde  verbreitet  zu  sein  scheint. 
Außerdem  besitzen  die  Japaner  als  Zeichen  verspottender  Gering- 
schätzung das  auch  im  Abendlande  gelegentlich  vorkommende 
Klatschen  mit  der  flachen  Hand  auf  den  etwas  vorgeneigten  Hinter- 
teil des  Körpers,  eine  Gebärde,  die  wohl  mit  der  bekannten  Auf- 
forderung, diesen  Teil  mit  dem  Angesicht  zu  verwechseln,  zusammen- 
hängt. Der  Spott  über  den  Hochmut  oder  das  Selbstlob  eines 
andern  wird  endlich  in  Japan  ausgedrückt,  indem  man  die  Nase 
durch  die  angesetzte  Faust  verlängert  und  nach  oben  kehrt,  was  in 
seiner  Bedeutung  einigermaßen  mit  unserer  Redensart  'seine  Nase 
hoch  tragen'  zusammenfällt^). 

Sehr  viel  mannigfaltiger  noch  als  diese  halb  mimischen  Gebärden 
von  symbolischer  Bedeutung  sind  diejenigen,  die  durch  die  plasti- 
schen Formungen    der  Hände   zustande   kommen.     Hier   stellt   die 


^)  Grimm,  Deutsches  Wörterbuch  VII  (Lexer),  S.  407. 

2)  Nach  Mitteilungen  des  Herrn  J.  Jrie  in  Sendai.  Die  oben  angeführten  sym- 
bolischen Gebärden  der  Neapolitaner  sind  A.  de  Jorio  entnommen,  a.  a.  O.  Taf.  21. 
Die  Gebärden  d  und  e  (Fig.  30)  erwähnt  übrigens  schon  J.  J.  Engel  in  seinen  >Ideen 
zu  einer  Mimik«  als  in  Italien  vorkommend.  Er  meint,  beide,  und  namentlich  die 
zweite,  seien  unerklärlich.  (Engel,  Fig.  I  und  2,  I,  S.  92  ff.) 


i86 


Die  Gebärdensprache. 


Fig.  31  eine  Reihe  neapolitanischer  Beispiele,  die  Fig.  32  einige 
von  nordamerikanischen  Indianern  dar.  Viele  dieser  Formen,  die  mit 
natürlichen  Ausdrucksbewegungen  oder  mit  zeichnenden  Gebärden 
zusammenhängen,  sind  übrigens  weiter  verbreitet.  Dahin  gehört  vor 
allem  die  Gebärde  «  (Fig.  31),  als  Ausdruck  der  *Ruhe'  und  nament- 
lich der  Aufforderung  zur  Ruhe  auch  bei  uns  viel  gebraucht.  Sie 
versinnlicht  das  abnehmende  Geräusch  räumlich  durch  die  gesenkte, 
mit  der  Hohlfläche  nach  abwärts  gekehrte  Hand.  Verbunden  mit 
einer  leisen  Auswärtswendung,   wie  in   h  (Fig.  32)^   geht  sie   in   die 


Fig.  31.     Symbolische  Handgebärden  der  Neapolitaner. 


ablehnende  Gebärde  über,  die  irgendeinen  Vorschlag,  eine  gehörte 
Meinung  u.  dgl.  zurückweist,  und  daher  bei  den  Indianern  auch 
allgemein  als  Zeichen  der  Verneinung  vorkommt.  Den  Gegensatz 
zu  diesen  Symbolen  der  Ruhe  und  der  Ablehnung  bildet  die  in 
Fig.  32  2  wiedergegebene  Indianergebärde,  bei  der  die  Handfläche 
nach  oben  gekehrt  ist.  Ähnlich  wie  die  vorige  ist  auch  sie  allge- 
meiner verbreitet  und  kann  je  nach  leisen  Modifikationen  und  be- 
gleitenden Mienen  die  "^ Aufforderung  zu  reden',  also  eine  'Frage*, 
dann  bei  energischerer  Ausführung  'Zustimmung"*,  'Gewährung  einer 
Bitte*  ausdrücken.     Eine  andere  weitverbreitete  Gebärde  ist  der  auf- 


Symbolische  Gebärden. 


187 


gehobene  Zeigefinger  (Fig.  3 1  b)^  der  zunächst  den  Befehl,  aufmerk- 
sam zu  sein,  und  dann  allgemein  den  Begriff  ^Aufmerksamkeit'  be- 
zeichnet. Daran  schließen  sich  je  nach  der  begleitenden  Mimik 
und  sonstigen  Modifikationen  der  Bewegung  mehrere  abgeleitete  Be- 
deutungen. So  ist  uns  diese  Gebärde  in  Verbindung  mit  dem  fest 
geschlossenen  Munde  bereits  oben  als  Aufforderung  zur  Stille  be- 
gegnet (Fig.  29«).  Verbunden  mit  dem  drohenden  Blick  bedeutet 
sie  eine  "Warnung'.  Losgelöst  von  allen  Affektäußerungen  kann  sie 
die  'Einheit'  bezeichnen.  Daran  schließt  sich  als  eine  Verallgemeine- 
rung   dieser    Bedeutung    die    des    'Zählens',     in    der     das    Zeichen 


Fig.  32.     Symbolische  Handgebärden  der  Nordamerikaner. 

konventionell  in  der  Gebärdensprache  der  Neapolitaner  stehen  ge- 
blieben ist.  Es  läßt  sich  hier  aber  auch  als  eine  generalisierende 
Form  zu  allen  den  weiteren  Zahlgebärden  betrachten,  die  durch 
Hinzunahme  der  übrigen  Finger  entstehen.  In  diesem  letzteren 
Fall  ist  die  Gebärde  gleichzeitig  Ausdruck  und  Hilfsmittel  für  die 
Operation  des  Zählens.  Die  Finger  sind,  vom  Zeigefinger  als  der 
Eins  anfangend,  zunächst  bis  zum  kleinen  Finger  fortschreitend  und 
dann  den  Daumen  zu  Hilfe  nehmend,  Symbole  der  Einheiten.  Die 
ganze  Hand  wird  so  zum  Symbol  der  'Fünf,  die  beiden  Hände  zu- 
sammen versinnlichen  die  'Zehn'.  Aus  diesen  primitiven  und  all- 
verbreiteten Gebärden  des  Zählens  und  der  Zahlbezeichnung  ist  mit 


Die  Gebärdensprache. 


dem  Dezimalsystem  die  ursprüngliche  Form  der  Zahlschrift  entstanden, 
die  uns  heute  noch  in  der  Eins  das  Bild  des  einzelnen  Fingers,  in 
der  römischen  Fünf  und  Zehn  (V,  X)  das  der  Hand  und  der  beiden 
mit  den  Handwurzeln  aneinander  gelegten  Hände  erkennen  läßt. 
Diesen  Zahlgebärden  kann  man  eine  andere,  für  den  unbestimmten 
Quantitätsbegriff  Svenig'  gebrauchte  Ausdrucksform  anschließen: 
Daumen  und  Zeigefinger  werden  aufwärts  gekehrt  und  gegeneinander 
gepreßt,  als  wollten  sie  eine  kleine  Menge  eines  winzigen  Gegen- 
standes festhalten  (Fig.  3 1  c).  Auch  dieses  Zeichen  ist  sehr  verbreitet. 
Es  ist  eine  plastische  Umbildung  der  zeichnenden  Gebärde  für  ^streuen', 
Tulver',  'Salz'  und  ähnliches,  aus  der  es  unmittelbar  hervorgeht,  wenn 
die  beiden  genannten  Finger  nach  oben  statt  nach  unten  gekehrt 
und  in  ihrer  Stellung  fixiert  werden.  Für  Viel'  gibt  es  keine  plastische 
Gebärde,  sondern  dieser  Begriff"  wird  überall,  wie  es  scheint,  durch 
Bewegungen  ausgedrückt,  die  der  Vorstellung  einer  Aufsammlung 
vieler  Dinge  oder  einer  Anhäufung  von  Gegenständen  entsprechen. 
So  werden  bei  mehreren  Indianerstämmen  beide  Hände  mit  ausge- 
streckten Fingern  in  der  Höhe  der  Hüften  nach  außen  gehalten  und 
dann  gegeneinander  und  zugleich  in  die  Höhe  bewegt,  eine  Anhäufung 
übereinander  getürmter  Massen  darstellend.  Taubstumme  pflegen 
mit  beiden  Händen  geschäftig  und  oft  nacheinander  dahin  und  dort- 
hin zu  greifen.  Alle  diese  Zeichen  für  Quantitätsbegriffe  stehen 
eigentlich  auf  der  Grenze  zwischen  nachbildenden  und  symbolischen 
Gebärden.  Sie  fallen  einerseits  noch  in  den  Bereich  jener  konkreten 
Versinnlichung  der  Vorstellungen  durch  einzelne  Beispiele,  welche 
die  unmittelbar  nachbildenden  Gebärden  kennzeichnet;  anderseits  ist 
die  Vorstellung,  die  auf  solche  Weise  dargestellt  wird,  schon  so  all- 
gemeiner Art,  daß  die  Versinnlichung  den  Charakter  eines  Beispiels 
verliert  und  als  eine  Umwandlung  des  allgemeinen  Begriffs  in  eine 
repräsentative  Vorstellung,  also  eben  als  ein  Symbol  gedacht  wird. 
Gerade  diese  Grenzfälle  zeigen  das  Symbolische  gewissermaßen  in 
seinem  Entstehungsmoment. 

Weit  mehr  als  eigentliche  Symbole  sind  einige  andere  plastische 
Ausdrucksformen  anzusehen,  die  verschiedene  Weiterentwicklungen 
der  Gebärde  des  emporgehaltenen  Zeigefingers  (Fig.  31  <^)  zu  sein 
scheinen.  So  haben  die  Zeigefinger  beider  Hände  dicht  nebenein- 
ander gehalten  bei  den  Indianern  wie  bei   unsern  Taubstummen  zu- 


Symbolische  Gebärden.  i8g 


nächst  die  allgemeine  Bedeutung  ""zweier  Gefährten .  Von  da  aus 
geht  die  Gebärde  in  ""Geschwister'  und  'Gatten'  über.  In  den  beiden 
letzteren  Fällen  werden  aber  auch  zuweilen  Zeige-  und  Mittelfinger 
oder  auch  Zeigefinger  und  Daumen  gebraucht.  Hier  steht  dann  mit 
diesen  Gebärden  ein  in  Neapel  viel  gebrauchtes  Zeichen  (Fig.  31/) 
in  naher  Beziehung,  welches,  der  *"Kuß  des  Daumens  und  des 
Zeigefingers'  genannt,  die  ""Liebe',  die  'Ehe'  oder  die  'Ehegatten' 
bedeutet.  Tritt  bei  der  vorangegangenen  Gebärde  zu  der  in  der 
Vereinigung  der  beiden  Finger  gelegenen  Symbolik  der  engen 
Gemeinschaft  noch  durch  den  Gebrauch  verschiedener  Finger  die 
Andeutung  eines  Wertimterschiedes ,  so  gewinnt  nun  dieser  letztere 
seinen  besonderen  Einfluß  in  den  mannigfachen  Verwendungen, 
welche  die  Gebärdensymbolik  von  dem  .Gegensatze  des  Daumens 
und  des  kleinen  Fingers  macht.  'Stark'  und  'schwach',  'gut'  und 
'böse',  und  dann  in  einer  weiteren  Übertragung  das  starke  und  das 
schwache  Geschlecht,  also  'Mann'  und  'Frau'  oder  'Bruder'  und 
'Schwester',  werden  so  durch  den  stärksten  und  den  schwächsten 
Finger  ausgedrückt. 

Neben  diesen  Gebärdensymbolen,  die,  weil  sie  auf  allgemein- 
gültigen Assoziations-  und  Apperzeptionsbedingungen  beruhen,  in 
ähnlichen  oder  verwandten  Gestaltungen  weitverbreitet  vorkommen, 
gibt  es  nun  noch  andere,  beschränktere,  die  aus  besonderen  An- 
schauungen hervorgegangen  sind.  Ein  charakteristisches  Beispiel  hier- 
für ist  das  neapolitanische  Zeichen  für 'Gerechtigkeit'  (Fig.  31  e),  das 
in  der  Fingerstellung  besteht,  mit  der  man,  um  die  freie  Bewegung 
der  Wagebalken  nicht  zu  hindern,  eine  Wage  zu  halten  pflegt.  Man 
hat  in  dieser  Gebärde  offenbar  nichts  anderes  als  eine  pantomimische 
Nachahmung  der  symbolischen  Darstellungen  der  Justitia  in  der 
bildenden  Kunst  zu  sehen.  Eine  andere  neapolitanische  Gebärde 
(Fig.  3 1  £■)  erinnert  an  die  obenerwähnte  symbolische  Bedeutung 
des  kleinen  Fingers:  so  verbreitet  diese,  so  singulär  ist  aber  wohl 
jene  besondere  Anwendung,  bei  der  die  beiden  kleinen  Finger  um- 
einander geschlungen  werden,  als  konventionelles  Zeichen  für  'Falsch- 
heit'. Wahrscheinlich  liegt  hier,  abgesehen  von  der  allgemeinen 
Symbolik  der  kleinen  Finger,  noch  in  der  Verschlingung  derselben 
eine  weitere,  das  Anschmiegen  des  falschen  Freundes  versinnlichende 
Gebärde.     In  dieser  Beziehung  bildet  ein   indianisches  Zeichen    für 


jQQ  Die  Gebärdensprache. 


'Freundschaft',  das  in  der  analogen  VerschlingTang  der  beiden  Zeige- 
finger besteht  (Fig.  32  /),  das  genaue  Gegenbild:    wie  die  enge  Ver- 
bindung der  Zeigefinger  hier  die  -wahre,    so    symbolisiert    dort    die 
der  kleinen  Finger  die  falsche  Freundschaft.     Diese  Freundschafts- 
o-ebärde  in  /  ist  übrigens  nur   eine  Verstärkung  des  obenenvähnten 
Symbols  der  nebeneinander    gehaltenen  Zeigefinger,    von    der    eine 
andere  Modifikation  eine   in  k  mitgeteilte  australische   Gebärde   für 
Freundschaft  ist.    Als  Seitenstück  zur  Justitia  mag  endlich  noch  der 
'Diebstahl'  envähnt  werden.    Als  plastische  Gebärde,  gleichzeitig  das 
Ergreifen  und  das  Verbergen  eines  Gegenstandes  unnachahmlich  an- 
deutend,   kommt   das  in  d  (Fig.  31)  wiedergegebene   Zeichen,    ähn- 
lich wie  das  obige  Falschheitssymbol,  wohl  nur  in  der  Heimat  des 
plastischen  Gebärdenspiels,    im  Neapolitanischen,    vor.     Anderwärts 
wird  der  gleiche  Begriff,  wie  die  meisten,  die  sich  auf  sinnlich  wahr- 
nehmbare Handlungen  beziehen,  durch  zeichnende  Bewegungen  aus- 
gedrückt: so  bei  den  Taubstummen  durch  die  Bewegung  des  Weg- 
nehmens und  Einsteckens,  bei  den  Indianern  durch  eine  Greifbewegung 
mit  darauf  folgendem  Verschlusse  der  rückwärts  bewegten  Hand,  ein 
Symbol,  das  die  beiden  Vorstellungen  des  Ergreifens  und  Aneignens 
wiederum  anschaulich  verbindet,   eben  darum  aber  auch,   gleich  der 
erwähnten  Gebärde  der  Taubstummen,   noch  mehr  den  unmittelbar 
nachbildenden  als  den  symbolischen  Gebärden  zugehört^).    Erst  die 
Einschränkung  auf  die  Plastik  der  Hand  gibt  der  Gebärde  d  Fig.  3 1 , 
da  sie  nur  einen  einzehien,  an  und  für  sich  mannigfacher  Deutiuigen 
fähigen  Zug  herausgreift,    einen  symbolischen  und  gleichzeitig  einen 
konventionellen  Charakter.    Das  nämliche  gilt  in  noch  höherem  Maße 
von  einigen  Indianerzeichen,  die  in  ;//  und  n  der  Fig.  32  wiederge- 
geben sind :  in  ist  das  bei  den  Eingeborenen  Nordamerikas  weit  ver- 
breitete Zeichen  für  'Tausch  und  Handel'.   Man  könnte  geneigt  sein, 
es,   etwa  ähnlich   wie  das  mit  den  beiden  Zeigefingern  ausgeführte 
Freundschaftssymbol  /,   fiir  einen  ursprünglichen  s}-mbolischen  Be- 
standteil der  Gebärdensprache  zu   halten.     Aber   eine  andere  Inter- 
pretation liegt  hier  näher.     Zwei  sich  kreuzende  Striche  sind  in  der 
Bilderschrift  der  Indianer  das  übliche  Zeichen  für  'Tausch'.     Da  die 
Gebärde  vi  wahrscheinlich  späten  Ursprungs  ist,  so  darf  man  daher 


Malleiy  a.  a.  O.  S.  293,  Flg.  75. 


Unbestimmtheit  der  Begriffskategorien.  igi 

vermuten,   daß  sie  in  einer  Übertragung  dieses  Zeichens  in  die  Ge- 
bärdensprache besteht'). 

Haben  sich  einmal  auf  solche  Weise,  sei  es  durch  die  direkte 
Entwicklung  aus  nachbildenden  Gebärden,  sei  es,  wie  im  letzten 
Beispiel,  durch  die  Herübernahme  aus  der  Bilderschrift,  Symbole  von 
relativ  abstrakter  Bedeutung  entwickelt,  so  können  sich  nun  aber 
weiterhin  an  sie  andere  anschließen,  die  von  vornherein  symbolisch 
gemeint  sind.  Die  so  entstehenden  Zeichen  tragen  dann  freilich 
auch  stets  das  Gepräge  einer  willkürlichen  Erfindung,  nicht  einer 
natürlichen  Entwicklung,  oder  diese  greift  doch  höchstens  insofern 
ein,  als  solche  künstliche  Gebärden  von  natürlich  entstandenen  aus- 
zugehen pflegen.  In  diesem  Sinn  ist  z,  B.  das  Zeichen  n  (Fig.  32) 
aufzufassen,  das  bei  den  Indianern  in  der  Bedeutung  von  'Kauf' 
gebraucht  wird,  und  das  offenbar  eine  erfundene  Abänderung  der 
Gebärde  m  ist. 


III.  Vieldeutigkeit  und  Bedeutungswandel  der  Gebärden. 

I.    Unbestimmtheit  der  Begriffskategorien. 

Nach  einer  oft  gemachten  Bemerkung  soll  die  Gebärdensprache 
aller  und  jeder  grammatischen  Kategorien  entbehren.  Sie  habe 
weder  Wortbiegungen  noch  irgendwelche  Merkmale,  die  uns  er- 
kennen lassen ,  ob  ein  bestimmtes  Zeichen  als  Substantivum ,  Ad- 
jektivum  oder  Verbum  gebraucht  werde;  von  einer  Unterscheidung 
der  Partikeln  könne  schon  deshalb  nicht  die  Rede  sein,  weil  die  in 
diesen  Wortformen  ausgedrückten  abstrakteren  Begrififsbeziehungen 
der  natürlichen  Gebärdensprache  überhaupt  mangelten"^). 

An  dieser  Behauptung  ist  jedenfalls  richtig,  daß  es  besondere 
formale  Kennzeichen  nicht  gibt,  durch  die  irgendeine  Gebärde  einer 
der  Wortkategorien  zugeordnet  würde,  die  uns  aus  den  entwickel- 
teren Lautsprachen  geläufig  sind.      Aber  Steinthal  selbst  hat  schon 


i)  Über  den  mutmaßlichen  Ursprung  des  Zeichens  in  der  Bilderschrift  vgl. 
unten  V,  2. 

2)  Steinthal,  Über  die  Sprache  der  Taubstummen,  in  Prutz'  und  Wolfsohns 
Deutschem  Museum,  I,  1851,  S.  919  ff.  Tylor,  Forschungen  über  die  Urgeschichte 
der  Menschheit,  S.  20  ff. 


102  Die  Gebärdensprache. 


bemerkt,  daß  jene  formale  Unterscheidung  auch  nicht  für  alle 
Lautsprachen  zutrifft,  ohne  daß  darum  die  Unterscheidung  der 
Begriffe  selbst  fehlt.  Vielmehr  ergibt  sich  in  solchen  Fällen  die 
Stellung  dieser  im  allgemeinen  unzweideutig  aus  dem  Zusammenhang 
der  Rede.  Eben  weil  sie  dies  tut,  konnte  sie  auch  bekanntlich  ge- 
wissen Sprachen,  die  sie  einst  besaßen,  wieder  verloren  gehen.  Hier 
sind  also  die  logischen  Kategorien  vorhanden;  dem  Worte  selbst 
fehlen  aber  die  Merkmale,  an  denen  seine  Zugehörigkeit  zu  einer 
solchen  zu  erkennen  ist. 

Wenden  wir  nun  diese  Gesichtspunkte  auf  die  Gebärdensprache 
an,  so  kann  es  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  auch  in  ihr  ge- 
wisse logische  Kategorien  zur  Entwicklung  gelangen,  daß  aber 
diese  nur  teilweise  durch  Hilfsmittel,  die  den  grammatischen  Unter- 
scheidungen analog  sind,  nämlich  durch  besondere  Modifikationen 
der  Gebärden  selbst  ausgedrückt  werden.  Dagegen  ergeben  sie 
sich  durchweg  auch  hier  aus  dem  Zusammenhang  und  der  Aufein- 
anderfolge der  einzelnen  Zeichen.  Sodann  erleidet  in  diesem  Falle 
die  kategoriale  Unterscheidung  dadurch  noch  eine  wesentliche  Ein- 
schränkimg.  daß  sich  die  natürliche  Gebärdensprache  erstens  vor- 
zugsweise auf  Begriffe  mit  sinnlich  anschaulichem  Inhalt,  und 
daß  sie  sich  zweitens  ausschließlich  auf  solche  Begriffe  erstreckt, 
die  in  den  drei  logischen  Grundkategorien  der  Gegenstands-, 
Eigenschafts-  und  Zustandsbegriffe  enthalten  sind.  Hierbei  sind 
übrigens  unter  dem  letzteren  Ausdruck  nicht  bloß  dauernde,  son- 
dern auch  veränderliche  und  wechselnde  Zustände,  also  \^orgänge 
und  Handlungen,  zu  verstehen.  Alle  Merkmale  der  Gebärdensprache 
beweisen,  daß  diese  drei  Begriffsformen  stets  und  in  jedem  einzelnen 
Gedankenausdruck  auseinandergehalten  werden,  daß  aber  außer  ihnen 
keinerlei  logische  Unterscheidungen  vorkommen.  Wo  man  Begriffe 
der  grammatischen  Hilfskategorien  nach  den  in  der  Lautsprache 
ausgebildeten  Wortformen,  also  Präpositionen.  Konjunktionen,  ab- 
strakte Adverbien,  erwarten  müßte,  da  fehlen  diese  vollständig,  oder 
vielmehr:  statt  ihrer  finden  sich  konkrete  Vorstellungen,  die  wieder- 
um auf  jene  drei  Hauptkategorien  zurückgeführt  werden  können. 

Auch  die  drei  Begriffsformen  der  Gegenstände.  Eigenschaften 
und  Zustände  werden  freilich  im  allgemeinen  nicht  durch  die  Ge- 
bärde als  solche  unterschieden.    Sie  werden  aber  srleichwohl  ebenso 


Unbestimmtheit  der  Begriffskategorien.  jq2 

bestimmt  wie  in  der  Lautsprache  in  ihrer  logischen  Kategorie  ge- 
dacht. In  manchen  Fällen  ist  schon  aus  der  Art,  wie  die  Gebärde 
selbst  ausgeführt  wird,  hr  allgemeiner  Begrififscharakter  zu  erkennen. 
Deutlicher  geschieht  dies  jedoch  durch  besondere  Hilfs gebärden, 
die  den  Hauptgebärden  beigefügt  werden,  und  die  man,  da  sie  nur 
die  logische  Form  des  Begriffs,  zu  dem  sie  hinzutreten,  andeuten, 
immerhin  den  reinen  Formelementen  der  Lautsprachen  vergleichen 
kann.  Sie  unterscheiden  sich  von  ihnen  allerdings  dadurch,  daß 
sie,  außer  in  dieser  bloß  formgebenden  Bedeutung,  noch  als  selb- 
ständige Zeichen  vorkommen.  Auch  können  solche  Hilfsgebärden 
die  verschiedensten  Grade  der  Selbständigkeit  darbieten,  von  einer 
bloß  leisen  Nuancierung  der  Hauptgebärde  an  bis  zur  Verbindung 
zweier  ursprünglich  selbständiger  Ausdrucksformen,  die  nur  durch 
ihre  momentane  Verbindung  zu  Zeichen  eines  einzigen  Begriffs 
werden.  So  kann  in  der  Gebärdensprache  des  Taubstummen  die 
Berührung  eines  Zahns  mit  dem  Zeigefinger  in  einer  vierfachen  Be- 
deutung vorkommen :  erstens  für  den  '^Zahn''  selbst,  sodann  für  einen 
der  beiden  Eigenschaftsbegriffe  Veiß'  oder  ''hart',  und  endlich  für 
einen  harten  Gegenstand,  z.  B.  einen  'Stein'.  Die  Art,  wie  die  Ge- 
bärde ausgeführt  oder  mit  determinierenden  Hilfsgebärden  verknüpft 
wird,  unterscheidet  aber  alle  diese  Bedeutungen  leicht  voneinander. 
Ist  der  'Zahn'  gemeint,  so  genügt  eine  leise  Berührung  desselben. 
Soll  die  gleiche  Bewegung  den  Begriff  'weiß'  ausdrücken,  so  wird 
möglichst  die  ganze  Reihe  der  Zähne  gezeigt  und  zugleich  das 
Auge  mit  strahlendem  Ausdruck  geöffnet,  um  den  hellen  Licht- 
eindruck anzudeuten.  Für  'hart'  besteht  die  Gebärde  in  einem  deut- 
lichen Klopfen  des  Zeigefingers  gegen  einen  der  Schneidezähne. 
Ist  endlich  der  'Stein'  gemeint,  so  wird  der  Bewegung  für  hart  die 
des  Werfens  als  nähere  Bestimmung  beigefügt.  Ähnlich  kann  die 
Berührung  der  Lippe  sowohl  die  'Lippe'  wie  die  Eigenschaft  'rot' 
bedeuten.  Im  ersten  Fall  wird,  w^enn  erforderlich,  nach  der  Aus- 
führung der  hinweisenden  Gebärde  die  Lippe  selbst  noch  zwischen 
Daumen  und  Zeigefinger  gefaßt.  Wird  die  Hand  mit  aufwärts 
gekehrter  Hohlhand  vom  Boden  her  nach  oben  bewegt,  so  kann  dies 
die  Tätigkeit  des  'hebens'  oder  einen  gehobenen  Gegenstand,  ein 
'Gewicht',  oder  auch  die  Eigenschaften  'leicht'  oder  'schwer'  be- 
deuten.   Wird  die  Tätigkeit  des  'hebens'  in  der  Regel  durch  mehrere 

Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  I3 


ig^  Die  Gebärdensprache, 

aufeinander  folgende  Bewegungen  angezeigt,  so  genügt  die  einmalige 
Gebärde,  um  "^Gewicht'  auszudrücken;  "^leicht*  bedeutet  die  Hebe- 
bewegung, wenn  sie  rasch  und  mit  einem  heiteren  Ausdruck,  "^schwer', 
wenn  sie  langsam  und  mit  dem  mimischen  Zug  der  Anstrengung 
ausgeführt  wird.  Eine  hinweisende  Bewegung  gegen  den  Himmel 
kann  den  "^Himmel'  selbst  im  physischen,  oder  sie  kann  ihn  im 
übertragenen  religiösen  Sinne,  das  "^Jenseits',  ausdrücken,  oder  sie 
kann,  als  eine  weitere  Variation  dieser  Bedeutung,  auf  'Gott'  be- 
zogen werden,  oder  sie  kann  endlich  auch  die  Farbe  'blau'  be- 
zeichnen. Im  ersten  dieser  Fälle  wird  die  Gebärde  im  allgemeinen 
mit  einer  gleichgültigen  Miene  ausgeführt,  im  zweiten  mit  dem 
Ausdruck  der  Andacht,  im  dritten  unter  Hinzufügung  der  Gebets- 
gebärde, im  vierten  mit  dem  begleitenden  mimischen  Ausdruck  der 
Heiterkeit.  Verfolgt  man  in  dieser  Weise  die  eine  gegebene  Ge- 
bärde näher  determinierenden  Ausdrucksbewegungen,  so  dürften 
vielleicht  nur  wenige  Fälle  zurückbleiben,  wo  trotz  verschiedener 
Bedeutungen  der  Ausdruck  ein  ganz  übereinstimmender  ist. 

Am  häufigsten  bestehen  solche  Fälle  von  wirklicher  Vieldeutig- 
keit darin,  daß  Tätigkeiten  und  die  durch  sie  hervorgebrachten  Er- 
zeugnisse, Gegenstände  und  die  mit  ihnen  vorgenommenen  Hand- 
lungen nicht  unterschieden  werden.  So  bedeutet  die  Gebärde  des 
Ausstreuens  mit  Daumen  und  Zeigefinger  ebensowohl  diese  Hand- 
lung selbst  wie  ein  auszustreuendes  Pulver,  in  der  Regel  das  aus 
dem  täglichen  Gebrauch  bekannteste,  das  'Salz'.  Die  Gebärde  des 
Trinkens  mit  der  ähnlich  einem  Becher  geschlossenen  Hand  be- 
zeichnet nicht  nur  die  Handlung  'trinken',  sondern  auch  das  'Ge- 
tränk', namentlich  das  häufigste  der  Getränke,  das  'Wasser'.  Werden 
Gebärden  aus  mehreren  zusammengesetzt,  dadurch,  daß  zu  einer 
Hauptgebärde  weitere,  näher  determinierende  hinzutreten,  so  steigert 
sich  meist  noch  ihre  Vieldeutigkeit.  Denn  ein  solcher  Zusammen- 
hang läßt  unbestimmt,  welche  Gebärde  der  eigentliche  Träger  der 
logischen  Kategorie  sei.  Führt  z.  B.  der  Taubstumme  zuerst  die 
Bewegung  des  Mahlens  an  einer  fingierten,  auf  dem  Schöße  ge- 
haltenen Kaffeemühle,  und  dann  die  des  Trinkens  aus,  so  kann 
entweder  das  'Mahlen  des  Kaffees'  oder  das  'Trinken  von  Kaffee' 
oder  auch  der  'Kaffee'  selbst  gemeint  sein.  Im  ersten  dieser 
Fälle  ruht  demnach  auf  der  ersten   Gebärde   der   Hauptbegriff,   im 


Unbestimmtheit  der  Begriffskategorien.  jqe 

zweiten  auf  der  zweiten,  im  dritten  haben  beide  Gebärden  eigentlich 
einen  bloß  determinierenden  Charakter,  während  der  Gegenstand 
zu  den  Handlungen,  die  ihn  andeuten,  hinzugedacht  wird.  Eine 
ähnliche  vieldeutige  Zusammensetzung  ist  die  folgende.  Wenn  der 
Indianer  Eßbewegungen  und  gleichzeitig  mit  dem  Zeigefinger  die 
schneidende  Bewegung  eines  Messers  vor  dem  Munde  nachahmt,  so 
hängt  diese  Gebärde  mit  der  Sitte  der  Indianer  zusammen,  den  zu 
verschluckenden  Bissen  erst,  wenn  ihn  die  Zähne  erfaßt  haben,  von 
einem  größeren  Fleischstück  abzuschneiden.  Sie  kann  demnach 
entweder  die  durch  die  Bewegung  ausgedrückte  Handlung,  das  'Ab- 
schneiden des  Fleisches^,  oder  sie  kann  "^essen^,  sie  kann  aber  auch 
"^Fleisch^  und  eventuell  sogar  'Messer'  bedeuten.  Diese  Beispiele 
zeigen,  daß  es  im  allgemeinen  zwei  Momente  gibt,  die  bei  solchen 
Kombinationen  die  Mehrdeutigkeit  befördern.  Das  erste  besteht 
darin,  daß  eine  und  dieselbe  Gebärde  in  der  nämlichen  Verbindung 
einen  verschiedenen  logischen  Sinn  haben  kann,  indem  sie  bald 
Hauptbegriff,  bald  bloß  determinierendes  Begriffselement  ist.  Das 
andere  ist  dies,  daß  jede  Gebärde,  die  eine  Handlung  andeutet,  in 
fast  unbegrenzter  Weise  als  Stellvertreterin  für  Gegenstandsbegriffe 
gebraucht  wird,  die  mit  jener  Handlung  in  Beziehung  stehen.  Denn 
es  kommen  nicht  bloß  solche  Übergänge  vor,  bei  denen  zwar  die 
logische  Kategorie  wechselt,  die  Grundbedeutung  der  Vorstellung 
aber  dieselbe  bleibt;  sondern,  wo  dies  irgend  durch  häufig  geübte 
Assoziationen  nahegelegt  ist.  da  kann  der  Übergang  möglicher- 
weise auf  ganz  verschiedene  Gegenstandsbegriffe  erfolgen.  In  allen 
solchen  Fällen  ist  es  natürlich  nur  noch  der  Zusammenhang  der 
Vorstellungen,  der  die  wirklich  gemeinte  Bedeutung  feststellt. 

Bietet  diese  Übertragung  von  Gebärden,  die  an  sich  Handlungen 
oder  Zustände  ausdrücken,  auf  Gegenstandsbegriffe  eine  nicht  zu 
verkennende  Analogie  mit  dem  uns  aus  der  Lautsprache  geläufigen 
Übergang  von  Verbalformen  in  substantivische  Bildungen,  nur  mit 
dem  Unterschied,  daß  die  Gebärdensprache  schrankenloser  und  nach 
beliebig  wechselnden  Assoziationen  solche  Übertragungen  ausführt, 
so  fehlt  es  nun  auch,  ähnlich  wie  in  der  Lautsprache,  an  dem  um- 
gekehrten Übergang  nicht;  nur  daß  er  hier  wie  dort  seltener  vor- 
kommt. Auch  er  ist  aber  wieder  in  der  Gebärdensprache  durch 
die  Freiheit  ausgezeichnet,    mit  der   er  sich,    nur    bestimmt   durch 


ig6  Die  Gebärdensprache. 


eingeübte  Assoziationen,  vollzieht.  Während  die  zeichnenden  Ge- 
bärden ausschließlich  das  Gebiet  bilden,  auf  dem  sich  Übergänge 
der  ersten  Art  abspielen,  sind  es  durchgängig  die  plastischen, 
die  eine  umgekehrt  gerichtete  Verschiebung  der  Begriffe  vermitteln. 
Dies  liegt,  wie  kaum  bemerkt  zu  werden  braucht,  in  der  ursprüng- 
lichen Natur  dieser  beiden  Formen  begründet.  Die  natürlichste 
Nachbildung  einer  Handlung  ist  selbst  eine  Handlung.  Sie  kann 
also  in  adäquater  Weise  nur  durch  eine  zeichnende  Gebärde  aus- 
geführt werden,  die  eben  eine  vor  dem  Auge  sich  vollziehende 
Handlung  ist.  Der  Gegenstand  dagegen  läßt  an  sich  eine  doppelte 
Art  der  Nachbildung  zu  :  einmal  eine  solche  durch  die  Handlung, 
die  ihn  hervorbringt,  also  wiederum  durch  die  zeichnende  Gebärde; 
dann  aber  durch  das  plastische  Bild,  das  seine  ruhende  Form  zeigt. 
Hierin  ist  unmittelbar  der  psychologische  Grund  aufgedeckt,  der  den 
Übergang  der  zuständlichen  in  die  gegenständliche  Bedeutung  einer 
Gebärde  zum  allgemeineren  macht.  Immerhin  läßt  die  fast  unbe- 
grenzte Assoziierbarkeit  der  Vorstellungen  auch  die  umgekehrte 
Übertragung  von  der  plastischen  Gebärde  aus  in  der  mannigfaltigsten 
Weise  zu.  Dabei  kann  unterstützend  mitwirken,  daß  gerade  hier 
überkommene  Tradition  und  konventionelle  Symbolik  eine  größere 
Rolle  spielen,  wobei  dann  zugleich  die  einzelne  Gebärde  unter  Um.- 
ständen  einen  ganzen  Satz  andeuten  kann.  So  gebraucht  der  Nea- 
politaner die  mit  der  Hand  gebildete  plastische  Gebärde  der  Flasche 
[d  Fig.  26)  häufiger,  um  'trinken',  als  um  ''Wein'*  oder 'Flasche'  aus- 
zudrücken. Zumeist  aber  steht  sie  an  Stelle  des  Satzes  'ich  will 
jetzt  trinken'  oder  der  Aufforderung  'laß  uns  trinken'.  Das  Zeichen 
für  Diebstahl  [d  Fig.  31)  kann  ebensogut  wie  den  'Dieb'  oder  den 
'Diebstahl'  auch  die  Mitteilung  bedeuten,  daß  gestohlen  worden  sei, 
oder  daß  jemand  zu  stehlen  beabsichtige.  Ähnlich  verhält  es  sich 
mit  vielen  Indianergebärden.  Namentlich  die  symbolischen  Gebärden 
sind  auf  diese  Weise  in  der  Regel  vieldeutig  und  vielsagend  zugleich, 
da  sie  oft  nur  den  Hauptbegriff  eines  Gedankens  enthalten,  dessen 
Nebenbestandteile  unausgesprochen  bleiben  und  dabei  mannigfach 
variieren  können.  Hierin  kommt  übrigens  nur  in  gesteigertem  Maß 
eine  allgemeine  Eigenschaft  der  Gebärdensprache  zum  Ausdruck. 
Diese  ist  stets  eine  Art  Abbreviatursprache:  sie  eilt  über  alle  die 
Teile  des  Gedankens  hinweg,  die  sich  aus  dem  Zusammenhang  von 


Unbestimmtheit  der  Begriffskategorien.  ig-^ 

selbst  ergeben,  während  sie  auf  der  andern  Seite  nicht  minder  durch 
Wiederholung  des  gleichen  Begriffs  in  verschiedener  Form  etwa 
möglichen  Mißverständnissen  zu  begegnen  sucht.  So  ist  sie  gleich- 
zeitig kürzer  und  weitläufiger  als  die  Lautsprache. 

Mit  diesen  Eigenschaften  hängt  noch  eine  andere  zusammen,  durch 
die  sich  die  natürliche  Gebärdensprache  von  den  meisten  Versuchen 
ihrer  künstlichen  Weiterbildung  scheidet.  Sie  liegt  in  der  Beschrän- 
kung auf  die  drei  logischen  Hauptkategorien.  Alle  näheren  Be- 
stimmungen der  Gegenstands-,  Eigenschafts-  und  Zustandsbegriffe 
bleiben  dahingestellt.  Die  Gebärden  als  solche  bezeichnen  in  ihrer 
Aufeinanderfolge  lediglich  eine  Reihe  von  Vorstellungen,  deren  jede, 
wie  sie  durch  ein  anschauliches  Zeichen  ausgedrückt  wird,  so  auch 
für  sich  allein  anschaulich  gedacht  werden  kann.  In  welchen  logi- 
schen, räumlichen  oder  zeitlichen  Beziehungen  die  Vorstellungen 
zueinander  stehen,  das  lassen  jene  Zeichen  nicht  erkennen.  Solche 
Beziehungen  können  nur  dem  Zusammenhang  entnommen  werden, 
in  den  sie  durch  ihre  Aufeinanderfolge  treten.  So  ist  die  Erzählung 
eines  vergangenen  Ereignisses  von  der  eines  gegenwärtigen  Ge- 
schehens oder  von  der  Mitteilung  einer  bevorstehenden  Handlung 
im  allgemeinen  nicht  zu  unterscheiden.  Nur  wenn  derartige  Zeit- 
begriffe selbständige  Gedankeninhalte  bilden,  können  sie  durch 
symbolische  Zeichen  ausgedrückt  werden,  indem  dann  die  früher 
erwähnten  räumlichen  Versinnlichungen  durch  hinweisende  Gebärden 
für  sie  eintreten  (S.  i6i).  Davon  abgesehen  verwandelt  aber  die 
Gebärdensprache  jedes  Ereignis  in  ein  unmittelbar  gegenwärtiges. 
Hierauf  beruht  zum  Teil  ihre  eigentümliche  Lebendigkeit.  Sie  macht 
den  Redenden  ebenso  Avie  jeden  andern  gewissermaßen  zum  Mit- 
erlebenden alles  dessen,  was  sie  ausdrückt.  Selbst  da,  wo  die  drei 
Zeitstufen  räumlich  symbolisiert  werden,  pflegt  sie  daher  den  Be- 
griff, so  weit  es  nur  immer  geschehen  kann,  konkret  zu  gestalten, 
indem  sie  durch  die  besondere  Art  der  Bewegungen  andeutet,  ob 
ein  Ereignis  in  naher  oder  ferner  Vergangenheit  liege,  ob  es  in 
naher  oder  ferner  Zukunft  geschehen  werde.  Der  Indianer  liebt  es 
in  solchen  Fällen  sogar,  die  Zahl  der  Tage,  Monate  oder  Jahre, 
die  verflossen  sind  oder  verfließen  sollen,  durch  besondere  Ge- 
bärden anzugeben.  Auf  diese  Weise  nähern  sich  diese  Ausdrucks- 
formen der  Zeitstufen  selbst  schon   der  Darstellung  der  Arten  des 


igS  Die  Gebärdensprache. 


Zeit  Verlaufs,  die  eine  überaus  charakteristische  Seite  der  Gebärden- 
mitteilung ausmacht.  Will  der  Taubstumme  eine  Handlung  er- 
zählen, so  begnügt  er  sich  nicht  zu  berichten,  daß  sie  geschehen 
sei,  sondern  er  schildert  in  der  Regel,  wie  sie  geschehen  ist.  Die 
mit  Zeigefinger  und  Mittelfinger  der  rechten  Hand  auf  dem  linken 
Vorderarm  nachgeahmten  Gehbewegungen,  die  den  Begriff  des  Gehens 
wiedergeben,  werden  also  entweder  schnell  oder  langsam,  bald  mit 
dem  mimischen  Ausdruck  der  Hast,  bald  mit  dem  der  Bedächtig- 
keit ausgeführt.  Oder  die  gleiche  Bewegung  wird  mehrmals  wieder- 
holt, in  hin-  und  rückwärts  gekehrter  Richtung.  Ebenso  verbinden 
sich  mit  den  Gebärden  für  tragen,  fahren,  arbeiten,  einsammeln, 
tauschen,  kaufen  und  andern  sehr  häufig  Modifikationen  der  zeich- 
nenden Bewegung  selbst  oder  des  begleitenden  mimischen  Ausdrucks, 
die  ein  Bild  der  Art  des  geschilderten  Tuns  zu  geben  suchen. 

Ahnlicher  sinnlicher  Ausdrucksmittel  bedient  sich  die  Gebärden- 
sprache für  diejenigen  Gedankenelemente,  die  unsern  abstrakten 
Partikeln  entsprechen.  So  wird  der  in  der  Präposition  liegende 
Begriff,  wenn  er  ein  räumliches  Verhältnis  einschließt,  durch  eine 
hinweisende  Bewegung  bezeichnet.  Ist  der  Gegenstand  selbst,  der 
in  eine  räumliche  Beziehung  zu  einem  andern  gebracht  werden  soll, 
im  Sehbereich  anwesend,  so  drückt  dann  eine  und  dieselbe  Ge- 
bärde beides  zugleich,  den  Gegenstand  und  seine  Beziehung  aus. 
So  kann  der  Taubstumme  *^die  Katze  auf  dem  Dache'  möglicher- 
weise in  vierfacher  Form  wiedergeben,  je  nachdem  der  ganze  Inhalt 
dieser  Verbindung  oder  nur  ein  Teil  oder  gar  nichts  von  ihr  in  der 
unmittelbaren  Anschauung  vorhanden  ist.  Im  ersten  Fall  bezeich- 
net die  hinweisende  Gebärde  den  ganzen  Zusammenhang  mit  einem 
Male.  Im  letzten  wird  zuerst  die  Katze  durch  irgendeine  mit- 
bezeichnende Gebärde  angedeutet,  z.  B.  durch  Nachahmung  ihres 
Schnauzbartes  am  eigenen  Munde  und  des  Kratzens  mit  den  zu 
Krallen  gekrümmten  Fingern,  dann  werden  die  Umrisse  eines  Giebel- 
daches in  der  Luft  beschrieben,  und  endlich  wird  mit  dem  Zeige- 
finger nach  oben  gezeigt,  gleichsam  'Katze  Dach  oben'.  Ebenso 
können  die  andern  räumlichen  Beziehungen,  wie  sie  den  Präposi- 
tionen zw,  aus,  durch,  von  usw.  innewohnen,  durch  hinweisende  Be- 
wegungen ausgedrückt  werden.  Aber  jene  wichtigen  Begriffsmeta- 
morphosen,   durch    die    unsere   Präpositionen    Ausdrucksmittel    der 


Begriffsübertragungen  und  Bedeutungswandel  der  Gebärden.  i  gg 

mannigfaltigsten  logischen  Beziehungen  geworden  sind,  macht  die 
Gebärdensprache  nicht  mit.  Wo  logische  oder  kausale  Beziehungen 
überhaupt  vorkommen,  da  überläßt  sie  es  entweder  dem  Zusammen- 
hang der  Vorstellungen,  sie  angemessen  zu  interpolieren,  oder  sie 
ersetzt  sie  durch  konkrete  Versinnlichungen.  In  der  Gebärdensprache 
berichtet  man  nicht,  irgendeine  Person  sei  wegen  Diebstahls'  ge- 
henkt worden,  sondern  man  fügt  der  Bezeichnung  der  Person  die 
Gebärde  für  Dieb  oder  Stehlen  (z.  B.  Fig.  31  ä]  und  die  der  Stran- 
gulation, die  Andeutung  eines  um  den  Hals  gelegten  Strickes,  bei. 
Dieses  Beispiel  könnte  in  der  Lautsprache  ebensogut  durch  eine 
Satzverbindung  ausgedrückt  werden:  'er  wurde  gehenkt,  weil  er 
stahl'.  In  der  Tat  ist  das  gleiche  Verfahren  auch  da  maßgebend, 
wo  wir  die  sinnverwandten  Konjunktionen  anwenden  würden.  In 
der  Gebärdensprache  heißt  es  nicht:  *^er  starb,  weil  er  dem  Trunk 
ergeben  war',  sondern:  *^er  trank,  er  trank,  er  starb',  oder  eigentlich, 
da  es  in  ihr  keine  Flexionsformen  des  Verbums  gibt:  'trinken,  trin- 
ken, sterben'.  Die  Gebärde  des  Trinkens  wird  mehrmals  nachein- 
ander ausgeführt,  dann  als  Zeichen  für  Tod  der  Kopf  mit  geschlos- 
senen Augen  auf  die  rechte  Hand  gelegt  und  eine  hinweisende  Ge- 
bärde nach  dem  Boden  hinzugefügt :  'schlafen  da  unten'.  Wo  endlich 
in  der  Lautsprache  abstrakte  Adverbien  zu  Verbalformen  hinzutreten, 
um  in  denkbar  kürzester  Weise  bestimmte  Veränderungen  des  Verbal- 
begriffs hervorzubringen,  da  löst,  ganz  im  Sinne  dieser  Ausdrucks- 
mittel für  die  Beziehungsformen  der  Begriffe,  die  Gebärdensprache 
entweder  die  Verdichtung  des  Gedankens  in  die  konkreten  Einzel- 
vorstellungen auf,  oder  sie  überläßt  wiederum  dem  Zusammenhang 
die  stillschweigende  logische  Ergänzung. 


2.  Begriffsübertragungen  und  Bedeutungswandel  der  Gebärden. 

Die  Bewunderer  der  natürlichen  Gebärdensprache,  wie  sie  vor 
allem  unter  den  Taubstummenlehrern  gefunden  werden,  pflegen  von 
ihr  zu  rühmen,  sie  sei  nicht  nur  eine  Universalsprache,  sondern  sie 
zeichne  sich  auch  ganz  besonders  durch  eine  jedes  Mißverständnis 
ausschließende  Eindeutigkeit  der  Begriffssymbole  aus.  Synonyma 
sollen  in  ihr  weeen  der  unmittelbaren  sinnlichen  Anschaulichkeit  und 


200  ^^^  Gebärdensprache. 


Verständlichkeit  der  Gebärden  völlig  ausg-eschlossen  sein').  Daß 
diese  Meinung  bei  der  Beobachtung  der  Taubstummen  überhaupt 
entstehen  konnte,  das  ist  für  den  eigentümlichen  Charakter  dieses 
Zweiges  der  Gebärdensprache  immerhin  bezeichnend.  Bei  solchen 
Formen  derselben,  die  sich,  wie  die  der  Neapolitaner  oder  der  nord- 
amerikanischen Indianer,  durch  viele  Generationen  hindurch  entAvickelt 
haben,  würde  sie  jedenfalls  unmöglich  gewesen  sein.  Hier  fällt  die 
ungeheure  Vieldeutigkeit  vieler  Zeichen  sofort  in  die  Augen.  Beson- 
ders von  den  plastischen  Gebärden,  die  durchweg  meist  älteren  Ur- 
sprungs sind  und  zu  einer  konventionellen  Am\endung  hinneigen,  läßt 
sich  wohl  sagen,  daß  sie.  im  Gegensatz  zu  jener  Behauptung,  im 
allgemeinen  vieldeutiger  sind,  als  Worte  zu  sein  pflegen. 

IVIan  erkennt  leicht,  daß  diese  Unterschiede  mit  der  v-erschiedenen 
psychologischen  Natur  der  Gebärden  zusammenhängen.  Am  wenigsten 
vieldeutig  sind  die  unmittelbar  nachbildenden,  vor  allem  die  zeich- 
nenden. Hier  ist  eine  IMehrdeutigkeit  nur  innerhalb  der  Grenzen  der 
oben  besprochenen  kategorialen  Verschiebungen  möglich.  Daß  für 
die  Gebärde  als  solche  BegTift'e  wie  'geben^  und  "^Gabe"  oder  wie 
*Dieb\  "^Diebstahl'  und  'stehlen  und  ähnliche  zusammenfallen,  das  ist 
aber  in  Wahrheit  keine  Vieldeutigkeit  der  begrifflichen  Grundbedeu- 
tung, sondern  eine  formale  Eigenschaft  der  Gebärdensprache,  da  diese 
alle  Modifikationen  eines  Begritis.  die  durch  seine  Verbindung  mit 
andern  Begriffen  zustande  kommen,  überhaupt  nicht  unterscheidet. 
Daß  dagegen  die  Grundbedeutung  einer  nachbildenden  Gebärde 
völlig  eindeutig  sein  muß.  wenn  das  Bild  die  Vorstellung,  die  es  zu 
erzeugen  strebt,  wirklich  her\'orbringen  soll,  ist  einleuchtend.  Mit  der 
Umrißzeichnung  eines  Hauses  kann  immer  nur  ein  Haus,  mit  dem 
mimischen  Ausdrucke  des  Zorns  nur  die  Gemütsbewegimg  des  Zorns, 
mit  der  nachahmenden  Bewegung  des  Gehens  nur  die  Handlung  des 
Gehens  gemeint  sein.  Da  die  Gebärden  der  Taubstummen  ganz  vor- 
zugsweise zu  den  zeichnenden  Gebärden  gehören,  so  erklärt  es  sich 
also  hieraus,  daß  gerade  bei  ihnen  die  angebliche  Eindeutigkeit  der 
Gebärden  gerühmt  \\-ird.  Aber  schon  bei  der  plastischen  Unterform 
der  nachbildenden  Zeichen  o-üt  das  nicht  mehr  in   gleichem    Grade, 


^)  Einige    Äußerungen    dieser   Art    hat   Steinthal    zusammengestellt,    Prutz     und 
Wolfsohns  Deutsches  Museum.  I.  S.  906. 


Begriffsübertragungen  und  Bedeutungswandel  der  Gebärden.  201 

weil  hier  die  Vorstellung  und  ihre  Bedeutung  viel  weiter  voneinander 
entfernt  liegen,  daher  denn  auch  in  diesem  Fall  eine  plastische  Hand- 
gebärde von  gleicher  Beschafifenheit  sehr  verschiedene  Bedeutungen 
haben  kann,  wie  ein  Blick  auf  die  Figg.  27  und  28  lehrt.  Eine  noch 
größere  Variation  der  Bedeutungen  ist  bei  den  mitbezeichnenden 
Gebärden  möglich.  Während  die  unmittelbar  nachbildenden  in  der 
Regel  nur  die  logische  und  grammatische  Kategorie  unbestimmt  lassen, 
in  der  ein  gewisses  Zeichen  gedacht  wird,  erstreckt  sich  bei  den  mit- 
bezeichnenden die  Möglichkeit  des  Wechsels  schon  über  den  ganzen 
Umkreis  der  Vorstellungen,  die  in  irgendeiner  leicht  assoziierbaren 
psychologischen  Beziehung  zu  der  ausgedrückten  Eigenschaft  oder 
Handlung  stehen.  So  kann  die  Gebärde  des  Hutabnehmens  einen 
*Mann',  sie  kann  aber  auch  eine  'Begrüßung""  oder  in  einem  etwas 
abstrakteren  Sinne  die  'Höflichkeit'  bedeuten.  Die  Gebärde  des 
Riechens  an  einem  Gegenstande,  durch  die  Bewegung  von  Daumen 
und  Zeigefinger  in  der  Stellung,  in  der  man  einen  Blumenstengel  zu 
halten  pflegt,  gegen  die  Nase  hin  ausgeführt,  kann  'Blume',  'Geruch', 
oder  in  anderem  Zusammenhange  'Schnupftabak',  sie  kann  aber  auch 
als  unmittelbar  zeichnende  Bewegungen  'riechen'  ausdrücken  usw. 

Am  weitesten  reicht  endlich  der  Kreis  möglicher  Bedeutungen 
bei  den  symbolischen  Gebärden.  Hier  liegt  in  vielen  Fällen  eine 
Mehrdeutigkeit  schon  darin  begründet,  daß  die  nämliche  Gebärde 
auch  in  ihrem  ursprünglichen,  nicht  symbolischen  Sinne  gebraucht 
werden  kann.  Freilich  ist  das  nur  bei  den  sekundären  Formen 
der  Fall  (S.  177),  und  selbst  hier  ist  ein  solches  Schwanken  zwi- 
schen unmittelbarer  Nachbildung  und  Symbol  im  ganzen  selten, 
weil  meistens  die  symbolische  Bedeutung  die  ursprüngliche  völlig 
verdrängt  hat,  wenn  auch  die  letztere  in  der  Form  einer  leisen 
Assoziation  immer  noch  nachklingt.  Man  denke  z.  B.  an  plastische 
Gebärden  wie  die  des  gehörnten  Kopfes  (Fig.  26  ß),  des  Eselskopfes 
(ebenda  b  und  c\  an  die  pantomimische  Andeutung  der  Eselsohren 
u.  dgl.  Weit  vielgestaltiger  ist  diejenige  Verzweigung  der  Bedeu- 
tungen, die  entsteht,  wenn  entweder  eine  und  dieselbe  Gebärde 
von  Anfang  an  verschiedene  symbolische  Anwendungen  neben- 
einander hat,  oder  wenn  sich  aus  einer  bestimmten  symbolischen 
Beziehung  eine  andere  entwickelt.  Das  erstere  kommt  häufiger  bei 
primären,  das  letztere  bei  sekundären  Symbolen  vor.     Wenn  z.  B. 


202  Die  Gebärdensprache. 


das  offenbar  primäre  Symbol  der  beiden  aneinander  gelegten 
Zeigefinger  'zwei  Gatten',  'zwei  Gefährten',  'zw^ei  Geschwister'  oder 
endlich  *^zwei  Gegenstände'  bedeuten  kann,  so  läßt  sich  kaum  sagen, 
ob  eine  dieser  Anwendungen  früher  gewesen  sei  als  die  andere.  Wir 
werden  höchstens  voraussetzen  dürfen,  da  im  allgemeinen  die  kon- 
kreten Begriffe  früher  sind  als  die  abstrakten,  daß  die  Gebärde  als 
Symbol  der  reinen  arithmetischen  'Zwei'  später  ist  als  ihre  An- 
wendung auf  irgend  zwei  einzelne,  zusammen  gedachte  Objekte.  Da- 
gegen kann  man  in  vielen  andern  Fällen  nicht  zweifeln,  daß  sich 
eine  bestimmte  symbolische  Bedeutung  erst  aus  einer  früheren,  eben- 
falls schon  symbolischen  entwickelt  hat.  Dies  trifft  am  häufigsten 
bei  sekundären  Symbolen  zu.  Denn  bei  ihnen  kann  in  der  Regel 
auch  dann,  nachdem  die  nachbildende  Bedeutung  ganz  verschwunden 
ist,  noch  eine  gewisse  Entwicklungsfolge  bemerkt  werden.  Ein  Kri- 
terium späterer  Entstehung  pflegt  in  solchem  Falle  dies  zu  sein,  daß 
eine  Bedeutung  aus  einer  bestimmten  andern  abgeleitet  werden  muß, 
die  selbst  nachweislich  sekundär  entstanden  ist.  So  kann  es  keinem 
Zweifel  unterliegen,  daß  die  Gebärde  e  Fig.  3 1  früher  symbolisch  für 
'Gerechtigkeit'  als  für  'Strafe'  gebraucht  wurde,  weil  das  sinnliche 
Bild  der  Wage  direkt  zur  Gerechtigkeit,  deren  symbolisches  Attribut 
jene  ist,  aber  erst  indirekt,  nämlich  eben  durch  die  Gerechtigkeit  als 
Mittelglied,  zum  Begriff  der  Strafe  führt.  Das  von  den  Indianern  als 
Zeichen  der  Frage  gebrauchte  Symbol  (Fig.  32  z)  ist  offenbar  von  der 
Bedeutung  des  Gebens  als  der  unmittelbareren  ausgegangen:  denn 
jene  Bedeutung  wird  nur  durch  ihren  Ursprung  aus  der  an  einen 
andern  gerichteten  Aufforderung  zu  geben,  mitzuteilen,  also  auch, 
von  Gegenständen  auf  Gedanken  übertragen,  seine  Gedanken  mit- 
zuteilen, verständlich.  Noch  augenfälliger  ist  der  spätere  Ursprung, 
falls  die  eine  Bedeutung  die  andere  unbedingt  voraussetzt.  So  wenn 
die  Gebärde  des  gehörnten  Kopfes  einerseits  eine  drohende  Gefahr, 
anderseits  aber  auch  Beschwörung  sresren  eine  solche  oder  Schutz 
vor  ihr  bezeichnet.  Hier  bilden  die  Begriffe :  Stärke,  Gefahr  (die  von 
einer  Gewalt  droht),  Schutz  gegen  Gefahr,  Bitte  um  solchen  Schutz 
eine  Begriffsreihe,  in  der  im  allgemeinen  jedes  folgende  Glied  das 
vorangegangene  fordert,  und  die  sich  daher  nicht  wohl  anders  als  in 
der  angegebenen  Folge  entwickelt  haben  kann.  In  manchen  Fällen, 
namentlich   bei   sekundären   Symbolen,    kann    es    freilich    auch   un- 


Begriffsiibertragungen  und  Bedeutungswandel  der  Gebärden.  203 

sicher  bleiben,  welche  von  zwei  Bedeutungen  früher  sei,  oder  ob 
sie  sich  unabhängig  aus  einer  und  derselben  Grundbedeutung  ent- 
wickelt haben.  So  mag  man  bei  jener  in  Neapel  in  so  mannigfaltigem 
Sinn  gebrauchten  Gebärde  des  gehörnten  Kopfes  wohl  zweifeln,  ob 
von  den  Bedeutungen  der  physischen  Stärke,  der  Drohung,  der 
Gefahr  eine  früher  sei  als  die  andere,  da  sie  alle  möglicherweise  un- 
abhängig voneinander  aus  der  ursprünglichen  sinnlichen  Vorstellung 
des  Stierkopfes  entstanden  sein  können.  Wenn  endlich  dasselbe 
Zeichen  als  Symbol  'ehelicher  Untreue'  gebraucht  wird,  so  darf  man 
diese  Bedeutung  wohl  als  eine  Übertragung  der  sprichwörtlichen 
Redensart  'einem  Hörner  aufsetzen'  in  die  Gebärde  oder  auch  als 
die  pantomimische  Nachahmung  einer  in  dieser  Weise  die  Untreue 
symbolisierenden  Zeichnung  ansehen.  Die  Redensart  selbst  soll  aber 
aus  einem  Volksglauben  hervorgegangen  sein,  nach  dem  die  Untreue 
der  Frau  durch  ein  Hörn  angezeigt  werde,  das  ihrem  Mann  aus  der 
Stirn  w^achse.  Da  der  Ursprung  dieses  Volksglaubens  unsicher  ist 
und  den  sonstigen  Anwendungen  der  gleichen  Gebärde  wahrschein- 
lich ganz  ferne  liegt,  so  läßt  sich  natürlich  nicht  entscheiden,  welche 
Bedeutung  die  ältere  sei'). 

Auf  diese  Weise  eröffnet  vor  allem  der  Übergang  nachbildender 
in  symbolische  Gebärden  und  die  daran  sich  schließende  weitere 
Entwicklung  die  Möglichkeit  zu  einer  wachsenden  Vieldeutigkeit. 
Natürlich  muß  aber  diese  Zunahme  der  Bedeutungen  wesentlich 
durch  die  Veränderung  der  Bedingungen  unterstützt  werden,  die  bei 
der  Tradition  bestimmter  Zeichen  durch  viele  Generationen  hindurch 
eintreten.  Darum  ist  die  Mannigfaltigkeit  der  Bedeutungen  sehr  viel 
größer  bei  den  überlieferten,  als  bei  den  neugebildeten  Formen 
der  Gebärdensprache.  So  zählt  A.  de  Jorio  von  der  obenerwähnten 
Gebärde  der  'Mano  cornuta'  ungefähr  zwanzig  Bedeutungen  auf, 
die  zum  größten  Teil   symbolischer  Art   sind,    und   von  denen   die 


I)  M.  Heyne  (Grimm,  Deutsches  Wörterbuch,  IV,  2,  Sp.  1815)  führt  die  erwähnte 
Redensart  auf  eine  mittelalterliche  Legende  zurück.  Doch  hat  die  Gebärde,  ebenso 
wie  das  Sprichwort,  schon  im  Altertum  existiert.  Sittl  (Die  Gebärden  der  Griechen 
und  Römer,  S.  104)  deutet  jene  auf  die  Zweiheit  der  Männer.  Eine  Nebenbeziehung 
hierauf  mag  immerhin  vorhanden  sein,  wie  auch  die  von  Sittl  zitierten  neapolitani- 
schen Sprichwörter  zu  zeigen  scheinen.  Aber  diese  Beziehung  auf  die  Zweiheit  ist 
vielleicht  selbst  eine  sekundäre,  die  erst  aus  der  Gebärde  entstand. 


204  ^^^  Gebärdensprache. 


meisten  wahrscheinlich  bis  in  das  Altertum  zurückreichen^].  Indem 
aber  hierbei  bestimmte  Bedeutungen  zwar  nur  in  seltenen  Fällen  direkt, 
um  so  häufiger  jedoch  indirekt,  nach  den  vorhandenen  Abhängig- 
keitsverhältnissen der  Begriffe,  als  hervorgegangen  aus  gewissen 
andern  Bedeutungen  nachgewiesen  werden  können,  zeigt  sich  die 
Gebärde  gerade  so  gut  wie  das  Wort  einem  Bedeutungswandel 
unterworfen.  Und  auch  hier  pflegt  der  Übergang  auf  ferner  liegende 
Begriffe  durch  Zwischenstufen  vermittelt  zu  werden,  so  daß  der 
ganze  Vorgang  als  eine  kontinuierliche  Entwicklung  erscheint,  bei 
der  die  Assoziationen,  durch  die  neue  Vorstellungen  mit  früheren 
verbunden  werden,  den  Übergang  bewirken.  Dabei  können  diese 
Assoziationen  die  Vorstellungen  bald  durch  die  ihnen  eigentümlichen 
Inhalte,  bald  infolge  rein  äußerer,  zum  Teil  zufälliger  Beziehungen 
verbinden.  So  ist  es  sichtlich  eine  innere  Beziehung  der  Vor- 
stellungen, wenn  die  Gebärde  der  gehörnten  Hand  zunächst  durch 
die  Assoziation  mit  der  Stärke  des  gehörnten  Tieres,  des  Stiers,  die 
physische  Stärke,  dann  durch  weitere  daran  geknüpfte  Assoziationen 
die  Gewalt  überhaupt,  die  Gefahr,  die  Bedrohung  durch  Gefahr,  die 
Beleidigung,  endlich  den  Schutz  vor  Gefahr  bedeutet.  Dagegen  be- 
ruht es  auf  einem  äußeren  und  darum  in  seinen  besonderen  Wirkungen 
kaum  zu  berechnenden  Spiel  von  Assoziationen,  wenn  die  nämliche 
Gebärde  durch  die  Anlehnung  an  den  Aberglauben  von  der  Zeich- 
nung des  betrogenen  Ehegatten  durch  das  Hörn  in  das  Symbol  der 
ehelichen  Untreue  überging.  Darum  steht  nun  aber  auch  diese  Be- 
deutung wahrscheinlich  außerhalb  der  Reihe  der  sonstigen  Begriffs- 
entwicklungen der  gleichen  Gebärde ,  falls  sie  nicht  etwa  doch  ein 
Seitensproß  aus  dem  Begriffe  der  Bedrohung  sein  sollte,  der  zuerst 
in  Beschimpfung  überhaupt,  dann  in  diese  spezielle  Form  der  Be- 
schimpfung übergegangen  sein  könnte.  Aber  der  Zusammenhang 
mit  der  erwähnten  sprichwörtlichen  Redensart  macht  diese  Annahme 
wenig  wahrscheinlich.  Übrigens  zeigt  das  Beispiel,  wie  leicht  uns 
selbst  bei  der  Gebärdensprache  die  Spuren  verloren  gehen  können, 
die  den  Weg  einer  bestimmten  Bedeutungsentwicklung  sicher  er- 
kennen lassen. 

Hiernach  entspricht  die  Gebärdensprache  auch  darin  dem   allge- 


^y  A.  de  Jorio  a.  a.  O.  S.  90  ff. 


Begriffsübertragungen  und  Bedeutungswandel  der  Gebärden.  205 

meinen  Begriff  einer  Sprache,  daß  sie  keineswegs,  wie  die  von  ihr 
gerühmte  »Pasilalie«  vermuten  ließe,  überall  und  unverändert  immer 
dieselbe  bleibt.  Vielmehr  sind  Gebärden  wie  Worte  einer  Bedeutungs- 
entwicklung unterworfen,  vermöge  deren  sie  sich  den  wechselnden 
Bedürfnissen  des  Denkens  anpassen.  Es  muß  allerdings  zugestanden 
werden,  daß  auf  diesen  Bedeutungswandel  der  Gebärden  der  Besitz 
der  Lautsprache  nicht  ohne  Einfluß  ist.  Der  oben  berührte  Zu- 
sammenhang gewisser  Gebärden  mit  sprichwörtlichen  Redeweisen 
bietet  dafür  einen  augenfälligen  Beleg.  Auch  ist  ja  die  Veränderung 
der  Begriffe  der  Natur  der  Sache  nach  bei  den  aus  einer  längeren 
Überlieferung  hervorgegangenen  Formen  viel  eingreifender  als  bei 
den  relativ  neu  entstandenen.  Jene  sind  aber  infolge  ihrer  allge- 
meinen Entwicklungsbedingungen  immer  zugleich  mit  dem  Gebrauch 
der  Lautsprache  verbunden.  Die  Annahme,  daß  in  solchen  Fällen 
der  Bedeutungswandel  nicht  bloß  durch  die  länger  dauernde  Tra- 
dition, sondern  nicht  minder  durch  die  Koexistenz  mit  der  Laut- 
sprache gefördert  werde,  läßt  sich  also  nicht  abweisen.  Aber  in 
beschränkterem  Umfang  vollziehen  sich  solche  Wandlungen  doch 
auch  in  den  neuentwickelten,  dieses  Einflusses  fast  ganz  entbehrenden 
Formen  der  Gebärdenmitteilung.  Wenn  z.B.,  wie  Tylor')  berichtet, 
in  einer  Berliner  Taubstummenanstalt  einer  der  Lehrer  durch  die 
Gebärde  des  Armabhauens  bezeichnet  wurde,  weil  er  aus  Spandau 
war,  und  eines  der  Kinder  dort  einmal  einen  einarmigen  Menschen 
gesehen  hatte,  so  beruhte  das  offenbar  auf  einem  Bedeutungswandel, 
der  zwei  Assoziationsglieder  umfaßte:  erstens  war  die  nachbildende 
Gebärde  für  den  'Mann  mit  dem  abgehauenen  Arm'  zur  sekundären 
symbolischen  Gebärde  für  den  'Mann  aus  Spandau"*  geworden,  und 
dann  war  die  Bedeutung  in  die  eines  'einzelnen  Mannes  aus  Spandau', 
des  Lehrers,  übergegangen.  Ahnlich,  wenn  in  der  gleichen  Anstalt 
'Frankreich'  durch  die  Gebärde  des  Kopfabschlagens  bezeichnet 
wurde.  Hier  war  —  eine  Reminiszenz  aus  der  französischen  Revo- 
lutionsgeschichte —  der  Begriff  des  Köpfens  zuerst  auf  den  geköpften 
König  Ludwig  XVI. ,  und  dann  von  diesem  auf  das  Land  überge- 
gangen. Ähnliche  Entwicklungen  kommen  überall  in  der  Gebärden- 
sprache vor,   und  wo  etwa  ein  und   dasselbe  Zeichen   in   mehreren 

^)  Tylor.  Forschungen  über  die  Urgeschichte,  S.  29  ff. 


2o6  Die  Gebärdensprache. 


Bedeutungen  auftritt,  da  läßt  sich  meist  auch  bei  den  Zeichen  der 
Taubstummen  diese  Divergenz  als  die  Folge  eines  Bedeutungs- 
wandels erkennen.  So  kann  sich  die  Gebärde  der  über  das  Haupt 
erhobenen  Hand  im  Sinne  eines  in  geistiger  Beziehung  großen, 
über  andere  hervorragenden  Mannes  natürlich  nur  aus  der  sinn- 
lichen Bedeutung  des  körperlich  großen  Mannes  entwickelt  haben. 
Die  Gebärde  des  Taktschiagens  in  der  Bedeutung  von  Musik  oder 
Gesang  kann  nur  aus  der  ursprünglicheren  des  Taktschiagens  selbst 
oder  des  den  Takt  angebenden  Dirigenten  hervorgegangen  sein. 
Ebenso  in  vielen  andern  Fällen.  Nur  umfaßt  bei  den  neugebil- 
deten Gebärdensprachen  der  Bedeutungswandel  begreiflicherweise 
immer  bloß  wenige  Glieder,  während  sich  die  Erscheinungen  bei 
den  überlieferten  Formen  weit  mehr  den  entsprechenden  der  Laut- 
sprache nähern. 

Neben  der  allgemeinen  Übereinstimmung,  die  Gebärden-  und 
Lautsprache  in  diesen  Vorgängen  darbieten,  dürfen  nun  aber  auch 
die  wesentlichen  Unterschiede  nicht  übersehen  werden.  Zunächst 
ist  der  Bedeutungswandel  der  Gebärden,  sobald  er  nicht,  wie  in  den 
zuletzt  erwähnten  Beispielen,  neuesten  Ursprungs  und  einfachster  Art 
ist,  selten  direkt  in  der  Beobachtung  zu  verfolgen.  Eine  Geschichte 
der  Gebärden,  analog  der  Geschichte  der  Wörter,  besitzen  wir  nicht, 
da  es  auf  ihrem  Gebiet,  abgesehen  von  zufälligen  Überlieferungen 
auf  Kunstdenkmälern  und  bei  früheren  Schriftstellern,  nichts  gibt, 
was  der  literarischen  Überlieferung  entspräche.  Wo  sich  etwa,  wie 
bei  der  'Mano  cornuta',  mehrere  Begriffe  nebeneinander  erhalten 
haben,  da  ist  im  allgemeinen  nicht  mittels  geschichtlicher  Über- 
lieferung, sondern  nur  nach  psychologischen  Wahrscheinlichkeits- 
gründen zu  entscheiden,  welcher  der  primäre,  und  welcher  der 
sekundäre  sei.  Sodann  ist  der  Bedeutungswandel,  so  mannigfache 
Übertragungen  er  auch  in  einzelnen  Fällen  hervorgebracht  hat. 
doch  im  ganzen  genommen  von  beschränktem  Umfang,  und  gerade 
die  wichtigsten  und  ursprünglichsten  Gebärdeformen,  die  hinweisen- 
den und  nachbildenden,  bleiben  ihm  fast  ganz  entzogen.  Ersteres 
erklärt  sich  aus  der  meist  kurzen  Lebensdauer  der  Gebärdensprache, 
letzteres  aus  dem  treuen  Festhalten  der  unmittelbaren  sinnlichen  Be- 
deutung gerade  dieser  ursprünglicheren  Zeichen.  Aber  selbst  bei  den 
symbolischen  Gebärden,    die  dem  Bedeutungswandel  einen  weiteren 


Begriffsübertragungen  und  Bedeutungswandel  der  Gebärden.  207 

Spielraum  eröffnen,  bedarf  es  offenbar  besonderer  Anlässe,  um  nach- 
einander und  nebeneinander  zahlreiche  Anwendungen  des  nämlichen 
Symbols  hervorzubringen.  So  hat  innerhalb  der  neapolitanischen 
Zeichensprache  die  gehörnte  Hand  (Fig.  26  «)  eine  sehr  viel  reichere 
Bedeutungsentwicklung  erfahren  als  die  plastische  Gebärde  des  Esels- 
kopfes [b  und  c  ebenda).  Dieser  Unterschied  ist  aber  sichtlich  davon 
abhängig,  daß  jene  schon  in  ihrer  ursprünglichen  Form,  als  der  ge- 
hörnte Kopf  überhaupt,  eine  umfassendere  Bedeutung  hat,  wozu  dann 
spezielle  kulturhistorische  Einflüsse  hinzutreten  mochten,  die  ihre 
Wahl  als  Droh-,  Spott-  und  Beschwörungsgebärde  begünstigten. 

Zu  diesen  Eigentümlichkeiten  des  Bedeutungswandels  der  Ge- 
bärden kommt  endlich  als  eine  letzte,  wohl  am  meisten  bezeich- 
nende die,  daß  er  fast  überall  nicht  als  ein  bloßer  Wechsel, 
sondern  als  eine  Verzweigung  der  Bedeutungen  erscheint,  als 
ein  Ansetzen  neuer  Begriffe  an  einen  vorhandenen,  der  daneben 
erhalten  bleibt.  So  ist  von  den  zwanzig  und  mehr  Bedeutungen 
der  süditalienischen  "^Mano  cornuta^  keine  einzige  erloschen.  Am 
ehesten  noch  findet  sich  die  Verdunklung  bestimmter,  dereinst 
lebendig  gewesener  Vorstellungen  beim  Übergang  nachbildender  in 
symbolische  Gebärden,  indem  hier  die  sinnliche  Bedeutung  zur  sel- 
teneren, manchmal  kaum  mehr  gebrauchten  werden  kann.  Doch 
pflegt  auch  in  diesen  Fällen  die  erloschene  Bedeutung  aus  dem 
Gebrauch,  aber  nicht  ganz  aus  dem  Bewußtsein  zu  verschwinden. 
So  kommt  die  Handgebärde  des  Eselskopfes  (Fig.  2t  b  und  c]  und 
die  des  Eselsohres  kaum  noch  in  anderem  als  in  symbolischem 
Sinne  vor;  aber  schwerlich  wird  sie  jemals  ausgeführt,  ohne  daß 
die  Vorstellung  an  den  wirklichen  Esel  im  Bewußtsein  anklingt. 
Ja  selbst  in  den  Fällen,  wo  Beziehungen  auf  entschwundene  Ge- 
bräuche oder  unverständlich  gewordene  sprichwörtliche  Redeweisen 
zugrunde  liegen,  wie  bei  der  Gebärde  des  Nasendrehens,  des  Ver- 
schluckens  einer  Lüge  (Fig.  30  ^),  erhält  sich  immer  noch  die  Nei- 
gung, dem  konventionell  gewordenen  Zeichen  irgendeine  anschauliche 
Bedeutung  unterzulegen,  wenn  diese  auch  von  der  ursprünglichen 
abweichen  mag^). 


^)  Die  bei  dem  Bedeutungswandel  der  Gebärden  wirksamen  psychischen  Ele- 
mentarprozesse sind  oben  nur  andeutend  berührt  worden.  Da  sie  vollständig  mit 
den   beim  Bedeutungswandel   der  Wörter  nachzuweisenden   übereinstimmen,   so   wird 


2o8  I^i^  Gebärdensprache. 


V.  Syntax  der  Gebärdensprache. 

I.    Gebärdenfolge  der  Taubstummen. 

Man  hat  von  der  Gebärdensprache  gesagt,  daß  sie  »ohne  Satz, 
also  ohne  Grammatik«  sei.  Wenn  der  Taubstumme,  um  zu  sagen 
'der  Vater  gab  mir  einen  Apfel',  zuerst  das  Zeichen  für  'Apfel^ 
dann  das  für  'Vater'  und  endlich  das  für  'ich'  mache,  ohne  ein  Zei- 
chen für  'geben'  hinzuzufügen,  also:  'Apfel  Vater  ich',  so  sei  das 
nichts  weniger  als  ein  Satz;  denn  es  fehle  diesem  Ausdruck  eben 
das,  was  das  Wesen  des  Satzes  ausmache,  die  eigentliche  x^ussage^). 
Nach  dieser  Auffassung  würde,  da  die  einzelne  Gebärde  einem  Wort 
äquivalent  ist,  eine  Gebärdenmitteilung  lediglich  in  einer  Summe 
einzelner  Wörter  bestehen;  es  würde  ihr  aber  das  fehlen,  was  die 
Sprache  eigentlich  erst  zur  Sprache  macht :  die  Verbindung  zu 
einem  Ganzen,  in  welchem  jeder  Begriff  in  einem  bestimmten 
logischen  Verhältnisse  zu  andern  Begriffen  steht. 

Diese  Auffassung  von  der  ungrammatischen  Natur  der  Gebärden- 
sprache stützt  sich  teils  darauf,  daß  eine  dem  Verbalausdruck  ent- 
sprechende Gebärde  in  manchen  Fällen  hinwegbleiben  kann,  teils 
darauf,  daß  jene  formalen  Elemente,  welche  die  Subsumtion  unter 
grammatische  Kategorien  vermitteln,  hier  gänzlich  fehlen.  Der  erste 
dieser  Mängel  ist  jedoch  keineswegs  ein  allgemeiner;  er  hängt  mit 
der  allgemeinen  Eigenschaft  der  Gebärdensprache  zusammen,  das 
Selbstverständliche  zu  übergehen ;  und  vielleicht  fällt  der  Verbalbegriff 
nicht  einmal  häufiger  als  irgendein  anderer  Bestandteil  der  Rede 
dieser  Lex  parsimoniae  zum  Opfer.  Auch  in  dem  obigen  Beispiel 
'Apfel  Vater  ich'  wird  ein  dem  Verbum  entsprechender  Gebärden- 
ausdruck nicht  immer  fehlen.  Wenn  es  eine  Bitte  enthält,  so  kann 
diese  in  dem  mimischen  Ausdruck  enthalten  sein,  der  die  Hinweisung 
auf  das  Ich  begleitet,  und  der  von  dem  die  Erzählung  begleitenden 
Ausdruck  wesentlich  abweicht.  Die  Sätze  'Vater  gib  mir  einen 
Apfel'  und  'der  Vater  gab  mir  einen  Apfel'  werden  also  in  diesem 


erst  bei  diesem,  der  uns  die  gleichen  Phänomene  in  viel  weiterem  Umfang  erkennen 
läßt,  hierauf  einzugehen  sein.  (Vgl.  Kap.  VIII.) 

I)  Steinthal  in  Prutz'  und  Wolfsohns  Deutschem  Museum,  I,  S.  923. 


Gebärdenfolge  der  Taubstummen.  20g 

Sinn  auch  bei  der  Gebärdenmitteilung  deutlich  unterschieden.  Wo 
aber  je  einmal  Zweifel  über  den  hinzuzudenkenden  Verbalb egrifif 
entstehen  sollten,  da  würde  der  Taubstumme  schwerlich  versäumen, 
die  Handlung  des  Gebens  selbst  durch  eine  bezeichnende  Gebärde, 
etwa  dadurch,  daß  er  mit  der  einen  Hand  einen  imaginären,  zwischen 
den  Fingern  gehaltenen  Gegenstand  in  die  andere  legt,  auszudrücken. 
Dementsprechend  hat  denn  auch  die  Gebärdensprache  für  alle  die 
Begriffe,  die  bestimmte,  die  verbalen  Prädikate  der  Sätze  bildende 
Handlungen  oder  Zustände  enthalten,  wie  gehen,  tragen,  schlagen, 
arbeiten,  lesen,  hören,  sehen  usw.,  durchweg  ihre  besondern  Aus- 
drucksmittel. Die  zweite  angeblich  die  Bildung  eigentlicher  Sätze 
verhindernde  Eigenschaft,  das  Fehlen  grammatischer  Kategorien,  ist, 
wie  wir  bereits  oben  (S.  igi  f.)  gesehen  haben,  nur  partiell  und  in 
bedingter  Weise  anzuerkennen.  Partiell,  weil  ein  absoluter  Mangel 
nur  für  gewisse  abstrakte  Redeteile  zutrifft,  die  entweder  ganz  hin- 
wegfallen oder  durch  konkrete  Versinnlichungen  der  Begriffe  ersetzt 
werden.  Das  mag  immerhin  eine  niedrige  Entwicklungsstufe  be- 
zeichnen; eine  Eigenschaft,  durch  welche  die  Gebärdensprache  der 
Fähigkeit  zur  Satzbildung  beraubt  würde,  ist  es  nicht.  Noch  weniger 
gilt  dies  von  jenem  relativen  Mangel  grammatischer  Unterscheidung, 
wonach  die  einzelne  Gebärde  als  solche  nicht  erkennen  läßt,  welche 
Stellung  sie  in  der  ganzen  Mitteilung  einnimmt.  Denn  eben  hier 
läßt  sich  die  logische  Kategorie,  der  das  einzelne  Zeichen  zuzu- 
rechnen ist,  aus  dem  Zusammenhang  unzweideutig  erkennen.  Da- 
bei stellt  es  sich  aber  heraus,  daß  gerade  das,  was  der  Gebärden- 
sprache angeblich  fehlen  soll,  die  Verbindung  der  einzelnen  Vor- 
stellungen zu  einem  Satzganzen,  für  sie  das  Hilfsmittel  ist,  durch  das 
der  grammatische  Wert  der  einzelnen  Gebärden  bestimmt  wird. 

Hieraus  ergibt  sich  ohne  weiteres,  daß  von  einer  Syntax  der 
Gebärdensprache  mit  vollem  Recht  geredet  werden  kann,  insofern 
eben  syntaktische  Stellung  der  Wörter  und  Satz  zusammengehörige 
Wechselbegriffe  sind.  Wo  ein  Satz  existiert,  da  muß  es  auch  be- 
stimmte Gesetze  der  Wortfügung  geben,  und  umgekehrt:  wo  diese 
nachzuweisen  sind,  da  ist  auch  der  Satz  vorhanden.  Man  muß  da- 
her, statt  aus  der  indifferenten  Beschaffenheit  der  einzelnen  Gebärden 
auf  das  Fehlen  des  Satzes  zu  schließen,  vielmehr  aus  dem  Dasein 
bestimmter  syntaktischer  Gesetze  schließen,  daß  auch  die  Gebärden- 

Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  I4 


2  10  Die  Gebärdensprache. 


spräche  nicht  bloß  aus  einzelnen  Zeichen,  sondern  aus  Sätzen  be- 
steht. Ja  der  Satz  spielt  in  ihr  sogar  eine  größere  Rolle,  insofern 
er  es  ist,  der  erst  dem  einzelnen  Zeichen  seine  grammatische  Be- 
deutung verleiht.  Natürlich  lassen  uns  aber  aus  dem  gleichen  Grunde 
die  zumeist  in  der  Lautsprache  dem  Wort  anhaftenden  Merkmale 
seiner  syntaktischen  Stellung  im  Stich,  und  wir  müssen  diese  viel- 
mehr aus  dem  ganzen  Zusammenhang  des  Gedankenausdruckes  er- 
schließen. Darum  kann  wohl  gelegentlich  die  syntaktische  Stellung 
zweifelhaft  werden,  ähnlich  wie  dies  ja  übrigens  auch  häufig  in 
der  Lautsprache  vorkommt,  namentlich  wenn  diese  der  charakteri- 
sierenden Flexionselemente  entbehrt.  Es  kann  z.  B.  ungewiß  sein, 
ob  ein  Gegenstandsbegriff  als  Subjekt  oder  als  Objekt  des  Satzes, 
ob  ein  verbaler  Prädikatbegriff  aktiv  oder  passiv  gedacht  sei  u.  dgl. 
Mag  nun  auch  diese  Mehrdeutigkeit  wegen  des  Mangels  aller  Hilfs- 
mittel syntaktischer  Wortunterscheidung  hier  selbstverständlich  etwas 
größer  sein  als  in  der  Lautsprache,  so  werden  wir  doch  die  syn- 
taktischen Begriffe  der  letzteren  schon  deshalb  mit  vollem  Recht 
auch  auf  die  Gebärdensprache  übertragen  dürfen,  weil  jene  Mehr- 
deutigkeit höchstens  für  den,  an  den  sich  die  Mitteilung  richtet,  nie 
aber  für  den  Sprechenden  selbst  existiert.  Für  diesen  hat  jede  Ge- 
bärde ihre  bestimmte  Stellung  im  logischen  Gedankenausdruck.  Es 
ist  ihm  niemals  zweifelhaft,  was  Subjekt  und  was  Prädikat  seiner 
Aussage,  was  Gegenstand  und  Attribut  sei,  usw.'). 

Über  die  Aufeinanderfolge  der  Gebärden  in  der  natürlichen  Ge- 
bärdensprache   der  Taubstummen   besitzen    wir   nun   mehrere  Auf- 


i)  Abgesehen  von  der  hier  angedeuteten  Verwechslung  des  Redenden  und  des 
Zuschauers  wird  dieses  Verhältnis  zuweilen  auch  noch  durch  die  Annahme  eines  von 
dem  logischen  spezifisch  verschiedenen  psychologischen  Subjektbegriffes  verdunkelt. 
So  von  Sütterlin,  Das  Wesen  der  sprachlichen  Gebilde,  1902,  S.  16  f.  (Vgl.  dazu  die 
Ausführungen  über  das  »psychologische  Subjekt«  unten  Bd.  2,  Kap.  7,  III.)  Schwer 
begreiflich  ist  auch  die  Behauptung  Delbrücks,  eine  Syntax  der  Gebärdensprache  sei, 
wo  sie  überhaupt  existiere,  von  der  Lautsprache  aus  eingedrungen  (Grundfragen  der 
Sprachforschung,  S.  69).  Die  Tatsachen  beweisen  genau  das  Gegenteil;  und  wenn 
Delbrück  selbst  einmal  versucht  hätte ,  sich  in  der  Gebärdensprache  zu  üben  — 
was  nicht  allzu  schwer  ist  — ,  so  würde  ihm  kaum  entgangen  sein,  daß  die  unter 
(3)  zu  erörternden  psychologischen  Bedingungen  der  Aneinanderreihung  der  Ge- 
bärden mit  unwiderstehlicher  Gewalt  ihre  eignen,  von  der  Lautsprache  unabhängigen 
Wege  anweisen.  Vgl.  hierzu  meine  Schrift:  Sprachgeschichte  und  Sprachpsycho- 
lo^e,  S.  41  ff. 


Gebärdenfolge  der  Taubstummen.  2  l  l 

Zeichnungen  von  Taubstummenlehrern  ^).  Sie  stimmen  darin  überein, 
daß  in  der  Regel  das  Subjekt  des  Satzes  zuerst  kommt,  entsprechend 
der  gewöhnlichen  Ordnung  in  der  Grammatik  der  Lautsprachen. 
Dagegen  trennt  sich  die  Gebärde  von  der  im  Deutschen,  Eng- 
lischen, Französischen  und  andern  modernen  Sprachen  bevorzug- 
ten BegrifFsfolge ,  indem  sie  das  Attribut,  sobald  es  ein  einfacher, 
in  der  Sprache  durch  ein  Adjektivum  auszudrückender  Eigenschafts- 
begriff ist,  hinter  den  Gegenstandsbegriff  stellt,  zu  dem  es  gehört, 
das  Objekt  dagegen  vor  die  Handlung,  auf  die  sie  sich  bezieht. 
Von  diesen  syntaktischen  Regeln  wird  bekanntlich  die  zweite  auch 
im  Griechischen  und  Lateinischen  befolgt,  wogegen  die  erste  hier 
nicht  in  gleicher  Weise  gilt,  da  in  diesen  Sprachen  sowohl  das 
Substantivum  wie  das  Adjektivum  vorangehen  kann,  je  nachdem 
dieses  oder  jenes  stärker  betont  werden  soll.  Der  Taubstumme 
sagt  also  nicht  'ein  gewaltiger  Berg',  sondern  ""ein  Berg  ein  gewal- 
tiger', wo  im  Lateinischen  sowohl  mons  ingeris  wie  ingens  maus 
stehen  könnte.  Und  er  sagt  nicht  'der  Lehrer  lobt  den  Knaben', 
sondern  'der  Lehrer  den  Knaben  lobt',  analog  dem  lateinischen  ma- 
gistcr  puermn  laudat.  Einen  Satz  wie  diesen :  'der  zornige  Mann 
schlug  das  Kind',  würde  der  Taubstumme  folgendermaßen  ausdrücken : 
er  würde  zuerst  auf  die  Person,  die  geschlagen  hat,  hinweisen,  oder 
sie  auf  andere  Weise  andeuten,  dann  den  mimischen  Ausdruck  des 
Zorns  annehmen,  hierauf  die  Gebärde  für  Kind  durch  Wiegen  des 
einen  Arms  auf  dem  andern  ausführen,  oder,  wenn  das  Kind  an- 
wesend ist,  wiederum  auf  dasselbe  hinweisen,  und  endlich  mit  der 
Gebärde  des  Schiagens  den  Satz  beschließen,  also,  da  Tempora  und 
Kasus  durch  die  Gebärde  nicht  angegeben  werden:  'Mann  zornig 
Kind  schlagen'.  Bezeichnen  wir  die  grammatischen  Kategorien  des 
Subjekts,  des  Objekts,  des  Adjektivums  und  Verbums  durch  ihre 
Anfangsbuchstaben,  und  deuten  wir  die  Verbindungen  der  Begriffe 
durch  verbindende  Bogenlinien  an,  so  ist  demnach  die  Struktur 
des  Satzes  in  der  Gebärdensprache  die  nachstehende: 

s^A  (f~y 


I)  Schmalz,    Über   die   Taubstummen   und    ihre    Bildung,  2  S.  266  ff.     Scott,  The 
Deaf  and  Dumb,^  p.  134  ff. 

14* 


2  12  Die  Gebärdensprache. 


Sie  ist  in  der  Stellung  von  Subjekt  und  Prädikat  übereinstimmend, 
sonst  aber  in  jeder  Beziehung  entgegengesetzt  der  in  der  allgemeinen 
Grammatik  der  modernen  Sprachen  stabil  gewordenen  Ordnung: 

Treten  zu  dem  Verbum  noch  adverbiale  Bestimmungen,  so  folgt 
die  Gebärdensprache  der  nämlichen  Regel  wie  bei  dem  Substantiv; 
der  adverbiale  Begriff  steht  hinter  dem  Verbum,  zu  dem  er  gehört, 
wenn  er  nicht,  was  gerade  bei  den  abstrakteren  Adverbien  nicht 
selten  vorkommt,  unmittelbar  durch  die  den  Verbalausdruck  ver- 
tretende Gebärde  selbst  angedeutet  wird,  indem  die  Art  der  Aus- 
führung dieser  ein  anschauliches  Ersatzmittel  des  Adverbs  ist.  So 
wird  der  Ausdruck:  "^er  schlug  heftig'  durch  die  energische  Be- 
wegung, oder  der  andere:  "er  schlug  oft*  durch  die  mehrmalige 
Wiederholung  des  Schiagens  wiedergegeben.  In  manchen  Fällen, 
wenn  die  Handlung  pantomimisch  durch  Arm  und  Hand,  die 
nähere  Bestimmung  durch  den  mimischen  Gesichtsausdruck  an- 
gedeutet wird,  wie  in  den  Verbindungen:  *^er  schlug  ihn  zornig', 
'er  winkte  ihm  freundlich',  können  sich  verbaler  und  adverbialer 
Begriff  vollkommen  simultan  begleiten;  und  das  ähnliche  kann  dann 
natürlich  auch  bei  dem  Substantivum  und  seinen  attributiven  Be- 
stimmungen stattfinden.  Einen  Satz  vvie  diesen:  'er  redete  laut' 
oder  'seine  Stimme  verbreitete  sich  weit'  würde  der  Taubstumme 
so  ausdmcken,  daß  er  zuerst  die  Gebärde  des  Sprechens,  dann  eine 
Bewegung  vom  Munde  aus  nach  auswärts  machte  und  hierauf 
mit  beiden  Händen  einen  weiten  Kreis  beschriebe.  Ein  vollstän- 
diger Satz  der  Gebärdensprache  würde  also,  wenn  wir  außer  den 
oben  angewandten  Symbolen  noch  das  Zeichen  A'  für  adverbiale 
Bestimmungen  einführen,  folgendermaßen  gebaut  sein: 

S^     0     V~A' 

Das  Adverbium  gleicht  in  seinen  syntaktischen  Beziehungen  voll- 
ständig dem  Adjektivum. 

Dieses  Schema  der  Hauptbestandteile  des  Satzes  verkürzt  sich 
natürlich,  wenn  einzelne  der  Unterglieder  hinwegfallen.  Es  kann 
sich  aber  auch  erweitern,    wenn  etwa  mehrere  attributive  Bestim- 


Gebärdenfolge  der  Taubstummen.  2  I  3 

mungen  oder  mehrere  Objektbegriffe  die  Zusammensetzung  steigern. 
Von  besonderem  Interesse  ist  unter  diesen  Komplikationen  diejenige 
Verbindung  zweier  Gegenstandsbegriffe,  die  ein  Besitz-  oder  sonstiges 
Zugehörigkeitsverhältnis  bezeichnet,  wie  es  in  der  Lautsprache  durch 
den  Genitiv  ausgedrückt  wird.  Wo  eine  solche  Verbindung  vor- 
kommt, da  folgt  zumeist  der  attributive  Gegenstandsbegriff  nicht,  wie 
die  Eigenschaft,  dem  Hauptbegriff  nach,  sondern  er  geht  ihm  voran. 
Der  Taubstumme  sagt  also  "^Mann  zorniger',  aber  Mer  Kirche  Turm', 
entsprechend  der  in  unserer  deutschen  Wortzusammensetzung  ein- 
getretenen Folge  '^Kirchturm':  er  drückt  etwa  zuerst  durch  die  Zeich- 
nung eines  Daches  mit  darauf  gesetztem  Kreuz  die  Kirche,  und 
dann  durch  die  Erhebung  beider  Arme  mit  abermals  darüber  ge- 
zeichnetem Dache  den  Turm  aus.  Dabei  sind  alle  diese  Regeln 
offenbar  natürliche  Ergebnisse  der  Eigenart  der  Gebärdensprache, 
nicht  im  geringsten  konventionelle  Normen.  Sie  treten  überall  in 
derselben  Weise  auf,  wo  Taubstumme  untereinander  oder  mit  Hören- 
den verkehren.  Sie  befestigen  sich  aber  dann  allerdings  auch  durch 
den  Gebrauch,  so  daß  sie  der  Taubstumme,  der  in  der  Lautsprache 
unterrichtet  wird,  nicht  selten  auf  diese  überträgt,  ebenso  wie  er 
noch  längere  Zeit  die  Neigung  bewahrt,  auf  Flexionsformen  zu  ver- 
zichten und  die  Umschreibungen,  deren  die  Gebärdensprache  bedarf, 
in  der  Lautsprache,  wo  sie  überflüssig  sind,  anzuwenden.  So  sagt  er 
etwa  im  Anfang  des  Unterrichts:  Xehrer  Garten  gehen'  statt:  'der 
Lehrer  ist  in  den  Garten  gegangen',  oder:  "Lehrer  klug,  schreiben, 
lesen,  arbeiten'  statt  einfach:  "^der  Lehrer  ist  klug  und  fleißig'.  Statt 
'der  Regen  macht  das  Land  fruchtbar'  schrieb  ein  Taubstummer:  'der 
Regen  fällt,  die  Pflanzen  wachsen',  statt  'ich  muß  meinen  Lehrer 
lieben  und  achten'  ein  anderer  'ich  schlage,  betrüge,  schimpfe  nicht 
Lehrer,  ich  liebe  und  ehre'.  Neben  diesen  verdeutlichenden  Um- 
schreibungen ist  noch  lange  Zeit  der  Mangel  der  Konjunktionen 
und  des  Relativpronomens  bezeichnend.  Die  blinde  und  taub- 
stumme Laura  Bridgman  schrieb,  als  sie  sich  schon  des  Verbum 
substantivum  bedienen  gelernt  hatte,  noch  die  Definitionen  nieder: 
'Witwe  ist  Frau,  Mann  tot  und  kalt'.  'Junggesell  nicht  haben  Weib'. 
Alle  diese  Erscheinungen  zeigen,  daß  sich  in  dieser  Beziehung  die 
Gebärdensprache  nicht  anders  verhält  wie  jede  andere  Sprache. 
Die  eingeübte   Sprachform  ist  nicht   bloß  ein  äußeres  Gewand  des 


2  14  Die  Gebärdensprache. 


Gedankens,  sondern  sie  beeinflußt  diesen  selbst,  so  daß  sie  sich  zu- 
nächst jede  neu  angeeignete  Sprachform  Untertan  macht'.) 

Übrigens  können  in  der  Gebärdensprache  der  Taubstummen 
von  der  regelmäßigen  syntaktischen  Folge  auch  mannigfache  Ab- 
weichungen stattfinden.  Dies  gilt  schon  für  die  Stellung  der  Haupt- 
glieder des  Satzes,  Subjekt  und  Prädikat,  indem  die  Prädikatvor- 
stellung da,  wo  sie  sich  mit  besonderer  Intensität  dem  Bewoißt- 
sein  aufdrängt,  auch  im  Ausdrucke  dem  Subjekt  vorangehen  kann. 
Wünscht  z.  B.  der  Stumme  Wasser  zu  trinken,  so  wird  er,  wenn 
die  Begierde  nach  dem  Trünke  sehr  lebendig  ist,  zuerst  das  Wasser 
andeuten,  indem  er  etwa  das  Pumpen  am  Brunnen  und  das  Vor- 
halten eines  Gefäßes  nachahmt,  dann  die  Gebärde  des  Trinkens 
machen  und  zuletzt  auf  sich  selbst  hinweisen:  'Wasser  trinken 
ich',  also  in  Zeichen  ausgedrückt:  0  J^S,  nicht  S  0  V.  Augen- 
scheinlich hat  demnach  die  gewöhnliche  Folge  nicht  die  Bedeutung 
eines  unabänderlich  wirkenden  Gesetzes,  sondern  sie  ordnet  sich 
selbst  einem  allgemeineren  psychologischen  Prinzip  unter,  nach 
welchem  die  Vorstellung,  die  sich  zuerst  zur  Apperzeption  drängt, 
immer  auch  zuerst  durch  die  Gebärde  ausgedrückt  wird.  Die  Folge 
S  A  0  V  ist  aber  offenbar  diejenige,  die  diesem  Prinzipe  der  bevor- 
zugten Apperzeption  am  häufigsten  entspricht. 

2.    Gebärdenfolge  der  Indianer. 

Diese  Folgerung  wird  durch  die  Tatsache  bestätigt,  daß  jene 
Form  der  Gebärdensprache,  die  allein  noch  in  bezug  auf  ihre  Syn- 
tax durch  die  Bemühungen  der  amerikanischen  Ethnologen  ge- 
nauer bekannt  geworden  ist,  die  der  nordamerikanischen  Indianer, 
der  Gebärdensprache  der  Taubstummen  in  jenen  Eigenschaften  im 
wesentlichen  gleicht.  Diese  Übereinstimmung  fällt  um  so  mehr  ins 
Gewicht,  da  die  Lautsprachen,  die  den  Verbreitungsgebieten  dieser 
verschiedenen  Entwicklungsformen  der  Gebärdensprache  angehören, 
eine  völlig  abweichende  Struktur  besitzen. 

')  Über  die  allmähliche  Aneignung  der  Formen  der  Lautsprache  durch  Taub- 
stumme während  des  Unterrichts  hat  namentlich  der  selbst  taubstumme  Kruse  eine 
große  Zahl  von  Beobachtungen  gesammelt.  (Kruse,  Über  die  Taubstummen,  1853, 
S.  56  ff.  Vgl.  auch  Steinthal  a.  a.  O  S.  923  ff.)  Über  die  Sprache  der  blinden  Taub- 
stummen Laura  Bridgman  vgl.  W.  Jerusalem,  Laura  Bridgman,   1890,  S.  41  ff. 


Gebärdenfolge  der  Indianer.  2  I  5 

Für  das  Studium  der  Syntax  der  indianischen  Gebärdensprache 
bietet  die  von  G.  Mallery  mitgeteilte  Sammlung  von  Redensarten, 
Unterredungen  und  Erzählungen  ein  reiches  Material,  aus  dem  hier 
nur  einige  kurze  Beispiele  angeführt  werden  sollen").  Um  zu  fragen 
\vo  ist  deine  Mutter?'  macht  der  Indianer  zuerst  die  Gebärde  für 
'Mutter^*,  indem  er  den  Zeigefinger  der  linken  Hand  in  den  Mund 
steckt,  ein  Zeichen,  das  in  anderer  Verbindung  auch  'Kind'  bedeuten 
könnte,  dann  durch  Hinweisung  mit  dem  rechten  Zeigefinger  auf 
den  Angeredeten  das  Zeichen  für  Mu'.  Hierauf  hält  er  Zeige-  und 
Mittelfinger  ausgespreizt  vor  das  Auge  und  bewegt  sie  in  den  Raum 
hinaus,  für  "^sehen'.  Dann  macht  er  durch  eine  hinwegweisende 
Bewegung  mit  der  rechten  Hand  bei  abwärts  gekehrter  Hand- 
fläche das  Zeichen  für  ""nicht',  und  endlich  blickt  er  fragend  den 
Angeredeten  an,  indem  er  sich  rings  umsieht:  'Mutter  deine  sehen 
nicht  wo?'  Der  Begriff  'Mutter'  ist  offenbar  Subjekt  dieses  Satzes. 
Daß  wir  das  Wort  bei  der  gewählten  Konstruktion  in  das  Objekt 
verwandeln,  ist  unwesentlich,  wir  könnten  dem  Satz  auch  die 
Form  geben:  'deine  Mutter  wird  nicht  von  mir  gesehen,  wo  ist 
sie?'  Demnach  ist  SA  VA'  die  Ordnung  der  Begriffe.  Zugleich 
zeigt  dieses  Beispiel  deutlich,  wie  bei  der  Gebärdensprache  wegen 
der  größeren  Unbestimmtheit  der  einzelnen  Zeichen  und  der  daraus 
entstehenden  Gewohnheit,  eine  Gebärde  wenn  nötig  durch  eine  andere 
zu  erläutern,  das  einzelne  Zeichen  zumeist  erst  durch  den  Zusammen- 
hang der  Rede  seinen  Begriffsinhalt  gewinnt.  So  erhält  die  erste 
der  angeführten  Gebärden  die  Bedeutung  'Mutter'  erst  durch  die 
folgende  Hinweisung  auf  den  Angeredeten;  in  anderm  Zusammen- 
hange könnte  sie  ebensogut  heißen:  'als  du  ein  Kind  (eigentlich 
ein  Säugling)  warst'.  Die  Schlußgebärde  würde  in  anderm  Zusammen- 
hang auch  'überall'  bedeuten  können:  durch  das  Vorangegangene 
und  den  begleitenden  Gesichtsausdruck  verwandelt  sie  sich  in  die 
Frage  'wo'.  Den  Satz  'ich  will  in  zwei  Tagen  nach  Hause  gehen' 
drückte  ein  Indianer  folgendermaßen  aus.  Zuerst  wurden  beide 
Hände  mit  der  Handfläche  nach  abwärts  in  der  Höhe  der  Ell- 
bogen horizontal  hin  und  her  bewegt  und  dann  die  rechte  über 
die  linke  gelegt :  Zeichen  für  'Nacht'  (eigentlich  eine  Verbindung  der 


')  Mallery  a.  a.  O.  S.  479  ff. 


2  I  6  Die  Gebärdensprache. 


Zeichen  für  'Himmel'  und  'Decke').  Hierauf  wurden  Zeige-  und 
Mittelfinger  in  die  Höhe  gehoben:  Zeichen  für  'zwei';  mit  dem  Zeige- 
finger der  Rechten  gegen  die  eigene  Brust  gezeigt:  'ich';  nun  wies 
derselbe  Finger  ausgestreckt  auf  den  Weg  hin:  'gehen'.  Endlich 
wurde  die  geballte  rechte  Faust  gegen  den  Boden  herabbewegt,  auf 
dem  der  Redende  stand :  'Heimat'.  Also  wörtlich :  'Nacht  zwei  ich 
gehen  Heimat'.  Seinem  Sinne  nach  läßt  sich  dieser  Satz  in  zwei 
Sätze  zerlegen,  in  deren  erstem  das  Prädikat  unterdrückt  worden 
st:  'zwei  Nächte  (werden  vergehen)'  '(dann  werde)  ich  (in  meine) 
Heimat  gehen',  mit  der  Begriffsfolge  S  A{T/),  S  VA'. 

Schließlich  mag  hier  als  ein  etwas  verwickelteres  Beispiel  noch 
ein  Satz  aus  einer  Erzählung  eines  Mescaleroindianers,  zum  Volke 
der  Apachen  gehörend,  angeführt  werden.  Der  Satz  lautet  in  der 
Übersetzung:  'Weiße  Soldaten,  die  von  einem  Offizier  von  hohem 
Rang,  aber  geringer  Intelligenz  geführt  wurden,  nahmen  die  Mes- 
caleroindianer  gefangen'.  Die  Aufeinanderfolge  der  Zeichen  ist  die 
folgende:  i.  'Soldaten':  die  Daumen  werden  an  die  beiden  Schläfen 
gesetzt,  die  Zeigefinger  vorwärts  gerichtet,  auf  der  Stirn  aneinander 
stoßend,  die  übrigen  Finger  geschlossen  (Nachahmung  eines  solda- 
tischen Mützenschildes),  2.  'Haar':  Berührung  des  eigenen  Haares, 
3.  'weiß':  Berührung  der  Zähne  (die  Soldaten  werden  als  Männer 
mit  hellem  Haare  gekennzeichnet),  4.  'Offizier':  Berührung  der  Spitze 
der  Schulter  (Andeutung  der  Achselstücke),  5.  'hochgestellt':  Er- 
hebung beider  Hände  über  den  Kopf  (dieselbe  Gebärde  wie  für 
Häuptling),  6.  'töricht':  der  Zeigefinger  berührt  die  Stirn  und  wird 
dann  um  Gesicht  und  Kopf  herumgeführt  (das  übliche  Zeichen  für 
närrisch  oder  dumm),  7.  'Mescaleroindianer':  die  Hände  werden  von 
den  Schenkeln  zum  Körper  hinaufgezogen,  dann  auf  die  eigene 
Brust  gedeutet  (die  erste  Gebärde  Andeutung  der  Mokassins,  der 
eigentümlichen  Fußbekleidung  der  Indianer,  die  zweite  auf  den 
Stamm  des  Redenden  hinweisend),  8.  'gefangen':  die  beiden  Hände 
werden  einander  genähert,  mit  den  Handflächen  einander  zugekehrt, 
dann  beide  Daumen  und  Zeigefinger  zu  einem  Kreise  geschlossen 
(zeichnende  Gebärde  für  gefaßt  und  eingeschlossen).  Also :  'Soldaten 
(deren)  Haar  weiß  (unter  einem)  Offizier  hochgestellt  (aber)  töricht 
die  Mescaleroindianer  (nahmen)  gefangen'.  Dies  entspricht  genau 
der  Folge:   S  A  0  V,  nur  zerfällt  das  hier  mit  bloß   einem  Symbol 


Psychologische  Ursachen  der  Gebärdensyntax.  217 

A  bezeichnete  Attribut  des  Subjektbegriffs  5  in  mehrere  attributive 
Bestimmungen  von  verschiedener  Ordnung,  für  deren  Verbindung 
wieder  im  wesentlichen  die  nämlichen  Regeln  gelten  wie  für  die 
syntaktische  Verbindung  der  Hauptbegriffe.  Das  nähere  Attribut 
zu  5  (den  Soldaten)  ist  der  Begriff  weißhaarig,  der  selbst  nach  der 
Regel  S  J.4.  (Haar  weiß)  zusammengesetzt  ist;  das  fernere  und  daher 
nachfolgende  ist  der  Offizier,  zu  dem  eine  entsprechende  Präpo- 
sition hinzuzudenken  ist  (unter  einem  Offizier),  und  dem  wieder  zwei 
Attribute  (hochgestellt,  töricht)  nach  der  Regel  SA  beigefügt  sind. 
Aus  allem  diesem  erhellt,  daß  die  Gebärdensprache  der  Indianer, 
so  sehr  auch  der  Vorstellungskreis,  aus  dem  sie  hervorging,  und 
demnach  der  Charakter  der  Gebärden  Eigentümlichkeiten  bietet, 
dennoch  in  der  Aufeinanderfolge  der  einzelnen  Zeichen  durchaus  mit 
der  Taubstummensprache  übereinstimmt. 


3.   Psychologische  Ursachen  der  Gebärdensyntax. 

Daß  eine  Regelmäßigkeit,  die  unter  so  abweichenden  Verhält- 
nissen in  übereinstimmender  Weise  wiederkehrt,  allgemeingültige 
Ursachen  habe,  läßt  sich  nicht  wohl  bezweifeln.  Auch  wird  man 
von  vornherein  zugestehen,  daß  diese  Ursachen  psychologische  sein 
müssen,  mögen  sie  nun  als  solche  mit  den  allgemeinen  Gesetzen  des 
Vorstellungsverlaufes  zusammenhängen,  wie  man  das  bei  der  von 
der  Laut-  wie  Gebärdensprache  bevorzugten  Voranstelhmg  des  Sub- 
jektes vor  dem  Prädikat  wohl  vermuten  wird,  oder  mögen  sie  aus 
den  besonderen  Verhältnissen  der  Gebärdenmitteilung  ihren  Ur- 
sprung nehmen. 

Die  Syntax  der  Gebärden  läßt  sich  nun  zunächst,  wie  jede  Syntax, 
auf  drei  Prinzipien  zurückführen,  die  wir  kurz  als  die  Prinzipien  der 
logischen,  der  zeitlichen  und  der  räumlichen  Abhängigkeit 
bezeichnen  können.  Wirken  diese  drei  in  gleichem  Sinne,  so  ist 
damit  auch  die  Stellung  der  Begrififszeichen  unweigerlich  bestimmt. 
Wirken  sie  aber,  wie  es  häufig  vorkommt,  in  verschiedenem  Sinne, 
so  kann  bald  der  eine,  bald  der  andere  Einfluß  das  Übergewicht 
gewinnen.  Hierbei  ist  es  nun  eine  charakteristische  Eigenschaft  der 
Gebärdensprache,  daß  bei  ihr  die  zeitliche  und  die  räumliche  Ab- 
hängigkeit, die  wir  beide  zusammen  auch  die  anschauliche  nennen 


2  1 8  Die  Gebärdensprache. 


können,  von  überwiegender  Wirkung  sind.  Diese  Eigenschaft  läßt 
sich  wieder  aus  zwei  andern  unschwer  begreifen.  Die  erste  besteht 
in  der  sinnlichen  Anschaulichkeit  und  unmittelbaren  Verständlichkeit 
der  einzelnen  Zeichen,  was  notwendig  auch  auf  ihre  Anordnung 
herüberwirken  muß,  die  zweite  in  der  im  Verhältnis  zur  Schnellig- 
keit der  Lautsprache  sehr  viel  langsameren  Aufeinanderfolge  der 
Zeichen,  welche  relative  Schwerfälligkeit  der  Bewegung  noch  durch 
die  oft  sich  einstellende  Notwendigkeit  erläuternder  Hilfsgebärden 
vergrößert  wird. 

Diese  Bedingungen  bewirken  es,  daß  gerade  diejenige  syntak- 
tische Regel,  die  am  meisten  die  logische  Abhängigkeit  der  Bestand- 
teile des  Satzes  zur  Geltung  bringt,  die  Regel  des  voranstehenden 
Subjektes,  in  der  Gebärdensprache  zwar  im  allgemeinen  befolgt,  aber 
auch  am  leichtesten  verletzt  wird.  Dabei  kommt  zugleich  in  Betracht, 
daß  überall  da,  wo  das  Prädikat  ein  Objekt  enthält,  dieses  durch 
eine  nur  unerhebliche  Verschiebung  der  Vorstellungen  auch  als 
Subjekt  gedacht  werden  kann,  und  daß  eine  Gebärdenfolge,  die 
einem  einzigen  Satze  der  gesprochenen  Rede  äquivalent  ist,  nicht 
selten  nach  dem  Sinn  des  Gedankens  angemessener  als  eine  Anein- 
anderreihung von  zwei  oder  mehr  Sätzen  betrachtet  werden  muß. 
Gerade  in  solchen  Fällen,  wo  die  Stellung  des  Subjektes  zum  Prä- 
dikat sich  umkehrt,  wird  aber  meist  eine  solche  Zerlegung  gefordert. 
So  kann  wohl  der  Taubstumme  statt  der  Folge  Mer  Mann  der  zornige 
das  Kind  er  schlug'  auch  die  andere  wählen:  Mas  Kind  er  schlug 
der  Mann  der  zornige  .  Aber  wir  können  hier  ebensogut  und  wahr- 
scheinlich im  Geiste  der  Gebärdensprache  zutreffender  interpretieren: 
""das  Kind  wurde  geschlagen,  der  Mann  war  zornig'.  Dem  entspricht 
es  in  der  Tat,  daß  solche  scheinbare  Umkehrungen  der  Stellung 
von  Subjekt  und  Prädikat  vorzugsweise  in  lebhafter,  affekterregter 
Rede  vorkommen,  unter  Bedingungen  also,  die  ebensowohl  zur  be- 
sonderen Betonung  und  darum  Voranstellung  der  Handlungen,  von 
denen  berichtet  wird,  herausfordern,  wie  zur  Zerlegung  der  Rede  in 
kleinere  Teile,  deren  jeder  ein  abgeschlossenes,  aber  rasch  vorüber- 
gehendes Bild  vor  die  Seele  ruft,  —  ganz  wie  die  einzelnen  Mo- 
mente des  Affektes  selbst  rasch  einander  ablösen.  Daher  diese 
beiden  Eigenschaften,  die  Voranstellung  des  Prädikates  und  der 
Abfluß  der  Rede  in  kleinen,   den  Zusammenhang  der  Gedanken  in 


Psychologische  Ursachen  der  Gebärdensyntax.  2 IQ 

seine  einzelnen  Momente  zerlegenden  Sätzen,  auch  in  der  Laut- 
sprache der  afifektvollen  Diktion  eigen  zu  sein  pflegen.  In  der 
Gebärdensprache  führt  aber,  da  ihr  eine  von  der  syntaktischen 
Stellung  unabhängige  grammatische  Charakteristik  der  einzelnen 
Vorstellungszeichen  fehlt,  die  Koexistenz  dieser  beiden  Eigenschaften 
der  affektvollen  Rede  notwendig  dazu,  daß  ein  Satz,  in  welchem 
das  Objekt  mit  dem  zugehörigen  verbalen  Prädikat  voransteht, 
immer  zugleich  als  eine  Aufeinanderfolge  zweier  Sätze  mit  zwei 
verschiedenen  Subjekten  gedeutet  werden  kann.  Dazu  tritt  noch 
eine  weitere  Tatsache  für  diese  letztere  Deutung  entscheidend  ein: 
die  Gebärdensprache  kennt  die  Voranstellung  des  Prädikats  nur  in 
dem  Fall,  wo  dieses  neben  dem  Verbal-  zugleich  einen  Objektbe- 
griff enthält,  der  eben  zugleich  als  das  Subjekt  zu  jenem  gedacht 
werden  kann.  Sie  kennt  jene  Voranstellung  nicht  bei  rein  verbalen 
Prädikaten.  So  würde  es  nicht  oder  doch  nur  unter  besonderen, 
durch  das  Vorangegangene  gerechtfertigten  Bedingungen  möglich 
sein,  zu  sagen  "^es  schoß  der  Jäger^  statt  'der  Jäger  schoß"*,  "^es  weinte 
das  Kind'  statt  'das  Kind  weinte^  Auch  erkennt  man  leicht,  sobald 
man  sich  nur  den  Ausdruck  eines  solchen  Satzes  in  Gebärden  ver- 
gegenwärtigt, den  Grund,  aus  dem  jene  in  der  Lautsprache  immer- 
hin nicht  seltenen  Begriffsfolgen  in  der  Gebärdensprache  unmöglich 
sind.  Hier  ist  es  eben  das  Gebot  der  Anschaulichkeit,  das  ihnen 
um  so  mehr  widerstreitet,  je  mehr  jede  einzelne  Gebärde  durch  die 
Langsamkeit  der  Aufeinanderfolge  in  gewissem  Grad  als  eine  selb- 
ständige Vorstellung  aufgefaßt  werden  muß.  Die  Bewegungen  des 
Schießens,  des  Weinens  für  sich  ausgeführt,  noch  bevor  klar  ist, 
auf  wen  sie  bezogen  werden  sollen,  würden  gewissermaßen  in  der 
Luft  schweben.  Um  überhaupt  in  ihrem  Verhältnis  zum  Ganzen  des 
Gedankens  begriffen  zu  werden,  bedürfen  sie  der  Gegenstandsvor- 
stellung, auf  die  sie  sofort  bezogen  werden  können,  und  die  ihnen 
daher  auch  in  der  äußeren  Folge  der  Gebärdezeichen  vorangeht. 

Wie  auf  solche  Weise  die  mit  der  logischen  Verbindung  der 
Begriffe  übereinstimmende  Stellung  der  beiden  Hauptteile  des  Satzes 
im  allgemeinen  zugleich  den  Bedingungen  der  Anschaulichkeit  ent- 
spricht, so  ist  es  nun  auch  vor  allem  diese  letztere,  die  alle  andern 
syntaktischen  Erscheinungen  in  der  Gebärdensprache  beherrscht. 
Dabei  ist  zunächst  das  Prinzip   der  zeitlichen  Anschaulichkeit  für 


2  20  Die  Gebärdensprache. 


die  Aufeinanderfolge  der  größeren  Zusammenhänge,  das  der  räum- 
lichen für  die  engeren  Verbindungen  innerhalb  eines  einzelnen 
Satzes  vorzugsweise  bestimmend.  Die  Gebärdensprache  berichtet 
Ereignisse  genau  in  der  Folge,  in  der  sie  erlebt  wurden.  Sie  be- 
schreibt Gegenstände  genau  in  der  Ordnung,  in  der  sich  ihre  Teile 
der  Beobachtung  aufdrängen.  Darum  weiß  sie  in  der  Regel  nichts 
von  jenen  Umstellungen,  welche  die  ausgebildete  Lautsprache  um 
bestimmter  logischer  Zwecke  willen  vornimmt.  Schon  der  Umstand, 
daß  ihr  die  abstrakten  Wortformen,  besonders  die  Konjunktionen 
fehlen,  macht  es  für  sie  notwendig,  die  Zeitbestimmungen  durch 
das  einfachste  und  zugleich  anschaulichste  Hilfsmittel  auszudrücken: 
dadurch,  daß  die  Zeitfolge  der  Gebärden  eine  Nachbildung  der  Zeit- 
folge der  Ereignisse  ist.  Zu  dieser  Folge  wird  sie  aber  schon  des- 
halb gedrängt,  v/eil  die  einzelnen  Gebärden  in  ihren  wichtigsten 
Formen  selbst  Nachbildungen  aufeinander  folgender  Handlungen  sind. 
So  überträgt  das  Prinzip  der  zeitlichen  Anschaulichkeit  nur  eine 
Eigenschaft  der  einzelnen  Gebärden  auf  deren  Zusammenhang. 

In  anderer  Weise  ist  dieses  Prinzip  für  die  Verbindung  der  at- 
tributiven Bestimmungen  mit  dem  Substantivbegriff  sowie  für  die 
analoge  Verbindung  der  Verbalvorstellung  mit  ihrem  Objekt  maß- 
gebend. Hier  sind  die  zwei  zusammengehörigen  Begriffe  so  eng 
aneinander  gebunden,  daß  sie  in  der  wirklichen  Anschauung  über- 
haupt niemals  in  zeitlicher  Folge  apperzipiert  werden  können.  Das 
Attribut  ist  im  allgemeinen  gleichzeitig  mit  dem  Gegenstand;  denn 
es  gehört  selbst  zu  den  Merkmalen,  an  denen  dieser  erkannt  wird. 
Das  Objekt  ist  gleichzeitig  mit  der  Handlung,  von  der  es  leidet, 
und  diese  ist  in  dem  gegebenen  Zusammenhang  gar  nicht  ohne 
das  Objekt  zu  denken.  Nun  kann  aber  die  Gebärdensprache  noch 
weniger  als  die  Lautsprache  die  simultanen  Verbindungen  der  Be- 
griffe durch  einen  simultanen  Ausdruck  darstellen.  Vielmehr  bleiben 
gerade  bei  ihr  wegen  der  Langsamkeit  ihrer  Zeichenfolge  auch  die 
zusammengehörigen  Begriffe  zeitlich  weiter  getrennt.  Um  so  mehr 
ist  es  daher  Bedingung  der  Anschaulichkeit,  daß  diejenige  Vorstel- 
lung vorangeht,  die  nötigenfalls  ohne  die  andere  gedacht  werden 
kann,  und  daß  diejenige  nachfolgt,  die  in  der  gegebenen  Gedanken- 
verbindung der  andern  bedarf.  Alle  diese  Beziehungen,  die  attribu- 
tiven wie  die  objektiven,   lassen  sich  aber  in  eine  konstantere  selb- 


Psychologische  Ursachen  der  Gebärdensyntax.  2  2  1 

ständige  und  in  eine  variablere  abhängige  Vorstellung  zerlegen.  So 
ist  in  der  Verbindung  "^ein  großes  Haus^  das  Haus  die  festere  und 
selbständige,  die  Größe  die  variablere  und  abhängige  Vorstellung: 
das  Haus  läßt  sich  noch  mit  vielen  andern  Eigenschaften  denken, 
die  Größe  ist  stets  an  einen  Gegenstand,  in  diesem  Fall  an  das 
Haus  gebunden.  Ebenso  ist  in  dem  Prädikat  des  Satzes  Mer  Bau- 
meister baut  das  Haus'  wiederum  das  Haus  eine  selbständig  zu 
denkende  Vorstellung,  doch  die  Handlung  des  Bauens  kann  nicht 
vorgestellt  werden  ohne  den  Gegenstand,  der  gebaut  wird.  Auf 
diese  Weise  sind  die  beiden  Regeln  der  Stellung  des  Adjektivs  hinter 
dem  Substantiv  und  des  Verbums  hinter  dem  Objekt  einerseits  ein- 
fache Folgen  der  realen  Koexistenz  des  Gegenstandes  und  seiner 
Eigenschaften,  der  Handlung  und  ihres  Objektes.  Anderseits  ent- 
springen sie  aus  der  relativen  Langsamkeit  der  Gebärdenfolge, 
welche  die  Forderung  mit  sich  führt,  jede  einzelne  Gebärde  sei 
derart  in  den  Zusammenhang  der  Rede  einzufügen,  daß  sie  für  sich 
allein  oder  in  ihrer  Beziehung  auf  vorangegangene  Gebärden  un- 
mittelbar verständlich  ist.  Dies  verhält  sich  in  der  Lautsprache,  in 
der  ein  Substantiv  und  sein  Attribut,  ein  Verbum  und  sein  Objekt 
im  Fluß  der  Rede  vollständig  zu  einer  Worteinheit  verbunden  sein 
können,  wesentlich  anders.  Verbindungen  wie  vwns  ingens  und 
ingens  mons,  puerum  laudat  und  laudat  pueruin  sind  beide  für  unser 
Denken  simultanen  Verbindungen  äquivalent.  Bei  der  Gebärden- 
sprache, wo  sich  jeder  Begriff  selbständiger  vom  andern  abhebt, 
würde  eine  Gebärde,  die  erst  durch  eine  folgende  ihre  Stellung  im 
Satz  erhielte,  leicht  eine  unerträgliche  Hemmung  im  Flusse  der 
Vorstellungen  erzeugen. 

Hiernach  lassen  sich  die  syntaktischen  Eigenschaften  der  Ge- 
bärdensprache auf  zwei  allgemeine  Bedingungen  zurückführen: 
erstens  auf  das  in  ihr  streng  festgehaltene  Prinzip,  daß  die  einzelnen 
Zeichen  in  der  Ordnung  einander  folgen,  in  der  sie  in  der  An- 
schauung voneinander  abhängig  sind;  und  zweitens  auf  die  ver- 
hältnismäßig langsame  Aufeinanderfolge  der  einzelnen  Zeichen, 
welche  die  Forderung  mit  sich  führt,  daß  ein  gegebenes  Symbol, 
soweit  es  nicht  an  sich  selbst  deutlich  ist,  durch  vorangehende, 
nicht  erst  durch  nachfolgende  Symbole  seine  Bedeutung  erhält. 
Sobald  dann  diese  beiden  Postulate  erfüllt  sind,  kann  sich  auch  noch 


222  Die  Gebärdensprache. 


ein  drittes  Moment  geltend  machen:  das  Bedürfnis,  diejenigen  Vor- 
stellungen zuerst  auszudrücken,  die  mehr  als  andere  affektbetont 
sind.  Eine  wichtige  Hilfe,  diesem  Bedürfnis  zu  genügen,  ohne 
die  Bedingungen  der  Anschaulichkeit  und  der  Verständlichkeit  zu 
verletzen,  besteht  aber  für  die  Gebärdensprache  darin,  daß  sie  einen 
zusammenhängenden  Gedanken  in  mehrere  einzelne  Sätze  gliedert. 
Besonders  erreicht  sie  hierbei  einen  der  Voranstellung  des  Prädikats 
äquivalenten  Erfolg  dadurch,  daß  sie  aus  dem  verbalen  Prädikat 
und  seinem  Objekt  einen  selbständigen  Satz  bildet,  zu  dessen  Sub- 
jekt nun  jenes  Objekt  wird.  Damit  hängt  zusammen,  daß  über- 
haupt in  der  Gebärdensprache  alle  solche  Unterscheidungen,  die 
auf  der  feineren  Gliederung  und  Periodisierung  der  Rede  beruhen, 
hinfällig  werden.  Ein  zusammengesetzter  Satz  wird  darum  in  ihr 
stets  zu  einer  Aufeinanderfolge  mehrerer  einfacher  Sätze. 


V.  Psychologische  Entwicklung  der  Gebärdensprache. 

I.   Ursprung  der  Gebärdensprache  aus  den  Ausdrucks- 
bewegungen. 

Die  Gebärdensprache  ist  ein  natürliches  Entwicklungsprodukt 
der  Ausdrucksbewegungen;  und  sie  ist,  mindestens  in  dem  Umfang 
und  in  der  Ausbildung,  in  der  sie  den  Entwicklungsformen  der 
Lautsprache  an  die  Seite  gestellt  werden  kann,  ein  spezifisch  mensch- 
liches Erzeugnis.  Die  höheren  Tiere  zeigen  zwar  eine  Fülle  cha- 
rakteristischer Ausdrucksbewegungen,  die  denen  des  Menschen  in 
ihren  allgemeinsten  Eigenschaften  verwandt  sind.  Doch  von  allem 
dem,  was  die  menschliche  Gebärdensprache  erst  zu  einer  eigent- 
lichen Sprache  macht,  von  der  Entwicklung  verschiedener  Grund- 
formen der  Gebärde,  von  den  Übertragungen  der  Bedeutung  und 
dem  Bedeutungswandel,  endlich  von  einer  nach  bestimmten  Ge- 
setzen geregelten  syntaktischen  Ordnung  kann  dort  nirgends  die 
Rede  sein. 

Ein  Zeugnis  für  diese  niedrigere  Stufe  der  Gebärdenentwicklung 
bei  den  Tieren  liegt  schon  darin,  daß  diejenige  Gebärdeform,  die 
beim  Menschen  überall  als  die  ursprünglichste  erscheint,  und  die 
daher  noch  beim  Kinde  am  frühesten  in  spontaner  Entstehung  be- 


Ursprang  der  Gebärdensprache  aus  den  Ausdrucksbewegitngen.  223 

obachtet  wird,  die  hinweisende,  beim  Tiere  kaum  vorkommt  oder 
höchstens  auf  einer  Art  Zwischenstufe  zwischen  der  ursprünglichen 
Greifbewegung  und  der  hinweisenden  Bewegung  stehen  geblieben 
ist.  So  namentlich  auch  bei  dem  durch  den  Bau  seiner  Hände  zu 
Greif bewegungen  ganz  besonders  veranlagten  Affen  ^). 

Ähnlich  verhält  es  sich  mit  der  Klasse  der  darstellenden  Ge- 
bärden. Sie  haben  in  den  nachahmenden  Ausdrucksbewegungen 
ihre  natürliche  Grundlage.  Aber  der  große  Schritt,  durch  den  jene 
allgemein  im  Tierreich  verbreiteten  imitativen  Bewegungen,  bei  denen 
ein  Wesen  die  Handlungen  eines  andern  ihm  ähnlichen  nachahmt, 
in  Nachahmungen  beliebiger  objektiver  Handlungen  übergehen, 
ist  erst  innerhalb  der  menschlichen  Entwicklung  getan  worden;  und 
erst  aus  dieser  letzteren  Form  können  naturgemäß  die  in  der 
Gebärdensprache  vorkommenden  verschiedenen  Arten  darstellender 
Gebärden  entspringen.  Unter  diesen  stehen  die  nachbildenden 
den  gewöhnlichen  nachahmenden  Affektäußerungen  am  nächsten. 
Was  sie  von  diesen  scheidet,  ist  nur  die  Entwicklung,  die  sie  unter 
dem  Einfluß  der  Wechselwirkung  der  Individuen  erfahren.  In- 
dem die  Affektäußerung  von  dem,  an  den  sich  der  x'\ffekt  richtet, 
auf  seinen  Urheber  zurückgeht,  verändert  sie  zugleich  ihren  Inhalt, 
und  indem  diese  Veränderung  auch  die  Vorstellungsinhalte  des 
Affekts,  ja  diese  wegen  der  größeren  Mannigfaltigkeit,  die  sie  inner- 
halb einer  und  derselben  Grundstimmung  zulassen,  ganz  besonders 
trifft,  wird  allmählich  jene  hin  und  her  gehende  Bewegung  des  Ge- 
bärdenspiels zu  einem  Austausch  der  im  Bewußtsein  der  Einzelnen 
hervortretenden  Vorstellungen.  Zunächst  erheben  sich  noch  diese 
Vorstellungen  innerhalb  einer  und  derselben  Grundstimmung.  Dann 
tragen  sie  durch  die  Rückwirkung  des  Vorstellungswechsels  auf  die 
Gefühle  die  Macht  in  sich,  auch  den  Gefühlsinhalten  der  Affekte 
eine  veränderte  Richtung  zu  geben.  Der  »Mitteilungstrieb«  ist  daher 
ebensowenig  eine  einheitliche  psychische  Kraft  wie  der  »Nach- 
ahmungstrieb«, sondern  ein  notwendiges  Produkt  des  Wechselver- 
kehrs der  Individuen.  Assoziieren  sich  bei  dem  Nachahmungs- 
trieb mit  den  Ausdrucksbewegungen  des  Einen  in  einem  Andern 
die  zugehörigen  Gefühle,   aus   denen  nun   die   gleichen   Ausdrucks- 


I)  Vgl.  oben  Kap.  I,   S.  129  f. 


2  24  ^^^  Gebärdenspraclie. 


bewegungen  entstehen,  so  geht  der  »Mitteilungstrieb«  unmittelbar 
aus  der  Gefühlswirkung  hervor,  welche  die  Wahrnehmung  dieser 
sympathischen  Afifektwirkung  begleitet.  Denn  die  Gefühlswirkung 
wird  nun  zum  impulsiven  Motiv,  gleiche  Afifektäußerungen  des  An- 
dern hervorzurufen;  und  damit  verbindet  sich  dann'  von  selbst  auch 
die  Mitteilung  der  den  Affekt  begleitenden  Vorstellungen.  Bei  der 
Wiederholung  des  Vorganges  kann  diese  Mitteilung  allmählich  selbst 
zum  Motiv  werden.  Je  mehr  das  geschieht,  um  so  mehr  gesellen 
sich  aber,  wie  wir  vermuten  dürfen,  zu  den  hinweisenden  nach- 
ahmende Bewegungen.  Auf  solche  Weise  sind  die  letzteren  wahr- 
scheinlich ebensosehr  Produkte  der  entstehenden  Gebärdenmittei- 
lung, wie  sie  anderseits  selbst  diese  erst  in  ihrer  vollkommeneren 
Ausbildung  möglich  machen.  So  geht  aus  der  absichtslos  dem 
Affekt  entströmenden  Vorstellungsäußerung  im  Wechselverkehr  der 
Einzelnen  die  triebartige  Mitteilung  und  dann  aus  dieser,  indem  der 
Handelnde  die  Erfolge  seines  Tuns  auf  sich  wirken  läßt,  schließlich 
die  willkürliche  Mitteilung  durch  Gebärden  hervor.  Dabei  bleibt 
aber  die  Grenze  zwischen  der  ursprünglichen,  sich  selbst  genügen- 
den Äußerung  und  der  später  entstandenen,  von  dem  Willen  zur 
Wirkung  auf  Andere  getragenen  fortan  eine  fließende.  Selbst  in 
der  voll  entwickelten  Gebärdensprache  ist  daher  die  willkürlich  nur 
zum  Zweck  der  Mitteilung  ausgeführte  Bewegung  auf  einzelne  Mo- 
mente beschränkt,  zwischen  denen  sich  ganz  in  der  ursprünglichen 
Weise  der  Affektäußerung  die  Gebärden  nach  rein  gefühlsmäßigen 
Impulsen  aneinander  schließen. 

Mit  dem  Übergang  der  nachahmenden  Ausdrucksbewegungen  in 
Bestandteile  einer  zusammenhängenden  Gebärdenäußerung  ist  nun 
aber  auch  der  Anlaß  zur  Entwicklung  verschiedener  Formen  von 
Gebärden  gegeben,  die  in  der  allgemeinen  Eigenschaft,  durch  irgend- 
ein dem  Gesichtssinn  wahrnehmbares  Bild  die  entsprechende  Vor- 
stellung zu  erwecken,  den  ursprünglichen  nachahmenden  Bewegungen 
gleichen,  während  sie  doch  dem  wachsenden  Reichtum  der  Vorstel- 
lungen und  ihrer  Verbindungen  sich  anpassen.  Unter  den  so  ent- 
standenen Gebärdeformen  stellt  die  zeichnende  die  direkte,  im 
wesentlichen  unverändert  gebliebene  Fortsetzung  der  reinen  Nach- 
ahmungsbewegung dar:  sie  hat  ganz  den  dieser  Ursprungsform 
eigenen  Charakter  rasch  vorübergehender  Bewegungen  beibehalten, 


Urspinng  der  Gebärdensprache  aus  den  Ausdrucksbewegungen.  2  2'^ 

wie  sie  der  Natur  des  Affekts  entspricht;  und  zugleich  deutet  sie 
unmittelbar  das  Objekt  oder  die  Handlung  selbst  an.  Von  dieser 
Ursprungsform  aus  divergiert  nun  die  Entwicklung  nach  zwei  Rich- 
tungen. Auf  der  einen  Seite  regt  sich,  indem  der  begleitende 
Affekt  schwächer  wird,  der  Trieb  nach  dauernderer  Festhaltung 
einer  dem  Auge  einzuprägenden  Form.  Aus  diesem  Motiv  ent- 
springt die  plastische  Gebärde.  Sie  setzt  unbedingt  voraus,  daß 
sich  die  ursprüngliche  Affektgrundlage  der  Bewegungen  ermäßigt 
habe.  Denn  der  Affekt  treibt  um  so  mehr,  je  intensiver  er  ist,  zu 
rasch  vorübergehenden  Bewegungen.  Plastische  Gebärden  fordern 
überdies  zumeist  eine  gewisse  Überlegung,  und  sie  beruhen  darum 
auch  viel  häufiger  als  die  zeichnenden  in  ihren  eigentümlichen  Be- 
deutungen auf  konventioneller  Geltung.  Auf  der  andern  Seite  ent- 
wickelt sich  aus  der  zeichnenden  die  mitbezeichnende  Gebärde. 
Sie  entsteht,  sobald  das  Bedürfnis  erwacht,  Gegenstände  oder  Hand- 
lungen auszudrücken,  die  durch  eine  Umrißzeichnung  nicht  oder  nur 
unsicher  festgehalten  werden  können,  während  sich  bei  ihnen  cha- 
rakteristische Nebenmerkmale  der  zeichnenden  Nachbildung  darbieten. 
Die  mitbezeichnende  Gebärde  liegt  daher  genetisch  der  nachahmen- 
den in  ihrer  ursprünglichen  Gestalt  wahrscheinlich  näher  als  die 
plastische  Nachbildung.  Aber  in  der  isolierenden  Aufmerksamkeit 
auf  einzelne  Eigenschaften,  die  sie  fordert,  in  dem  Streben,  ein  zur 
Verständigung  dienliches  Merkmal  herauszugreifen,  verrät  doch  auch 
sie  eine  wachsende  Ermäßigung  des  Affekts  und  einen  zunehmenden 
Einfluß  der  Reflexion, 

Die  letzte  Stufe  dieser  Entwicklung  bezeichnen  endlich  die  sym- 
bolischen Gebärden.  Hierher  gehören  zunächst  die  früher  (S.  194  f.) 
erwähnten  ursprünglichsten  Fälle  assoziativer  Übertragung  von  einer 
sinnlichen  Vorstellung  auf  eine  andere.  Bei  ihrer  weiteren  Entwick- 
lung werden  dann  aber  die  symbolischen  Gebärden  für  Begriffe 
angewandt,  die  überhaupt  nicht  durch  ein  bestimmtes  Bild  darstell- 
bar sind,  für  die  also  eine  zeichnende  oder  plastische  Bewegung  nur 
noch  die  Bedeutung  einer  stellvertretenden  Vorstellung  hat. 
Eine  solche  Stellvertretung  ist  im  Gebiet  der  natürlichen  Gebärden- 
sprache nur  dadurch  möglich,  daß  eine  psychologische  Verwandt- 
schaft zwischen  dem  Begriff  und  der  stellvertretenden  Vorstellung 
besteht.   Dadurch  unterscheiden  sich  zugleich  die  natürlichen  Symbole 

Wundt,  Völkerpsychologie  I,   i.     2.  Aufl.  IC 


220  Die  Gebärdensprache. 


von  den  künstlich  erfundenen,  bei  denen  jene  Beziehung  rein  auf 
willkürlicher  Übereinkunft  beruht.  Indem  nun  die  symbolischen 
Gebärden  auch  in  ihrer  natürlichen  Form  bereits  auf  verwickei- 
teren psychologischen  Bedingungen  beruhen,  ist  es  begreiflich, 
daß  sich  in  vielen  Fällen  die  Grenzen  zwischen  natürlicher  Ent- 
stehung und  willkürlicher  Erfindung  verwischen.  Im  allgemeinen 
wird  es  aber  als  nächstes  Kriterium  natürlicher  Entstehung  eines 
Symbols  gelten  können,  wenn  sich  ein  bestimmtes  sinnliches  Bild 
so  unmittelbar  für  einen  Begriff  bildet,  daß  zunächst  überhaupt  kein 
deutliches  Bewußtsein  der  Verschiedenheit  von  Bild  und  Bedeutung 
besteht.  In  zweiter  Linie  werden  dann  noch  diejenigen  Symbole 
als  natürlich  entstandene  zu  betrachten  sein,  die  aus  solchen  pri- 
mären auf  dem  Weg  einer  einfachen  Bedeutungsentwicklung  her- 
vorgehen. Hiernach  sind  primäre  symbolische  Gebärden  vor  allem 
jene,  die  aus  hinweisenden  entstanden  sind,  wie  die  Andeutung  der 
Zeitformen  der  Vergangenheit,  Gegenwart  und  Zukunft  durch  räum- 
liche Richtungen  (S.  i6i).  Die  Assoziation  ist  hier  um  so  inniger, 
da  eigentlich  auch  das  Räumliche  ohne  begleitende  zeitliche  Eigen- 
schaften nicht  vorgestellt  werden  kann.  Die  hinweisende  Bewegung 
bezeichnet  daher  in  ihrer  ursprünglichsten  Bedeutung  immer  zugleich 
ein  Gehen  in  der  angegebenen  Richtung,  demnach  einen  zeitlich- 
räumlichen Vorgang. 

Unter  den  aus  nachbildenden  Gebärden  entstandenen  Symbolen 
stehen  diesen  einfachsten  Assoziationen  jene  am  nächsten,  bei 
denen  geistige  Eigenschaften,  wie  Herrschaft,  Mut,  durch  ent- 
sprechende physische,  wie  Körpergröße,  Muskelkraft  u.  dgl.,  aus- 
gedrückt werden.  Den  Häuptling  oder  Herrscher  als  den  großen 
Mann,  den  Mutigen  als  den  Starken  zu  bezeichnen,  liegt  dem  Natur- 
menschen darum  nahe,  weil  der  Anführer  im  Kriege  wirklich  durch 
Körpergröße  hervorzuragen  pflegt,  und  weil  er  den  Mut  nur  ver- 
bunden mit  physischer  Kraft  kennt.  Von  diesen  Assoziationen  aus 
bilden  sich  dann  andere,  bei  denen  zwischen  das  sinnliche  Zeichen 
und  seine  Bedeutung  mannigfache  Zwischenglieder  treten.  Wird 
die  Wahrheit  durch  eine  geradlinige,  die  Lüge  durch  eine  schräge 
Bewegung  vom  Mund  aus  bezeichnet,  so  scheint  die  Vorstellung 
der  direkten  Bewegung  auf  das  Ziel  und  der  Abbiegung  von  dem- 
selben von  der  Handlung  des  Gehens    auf  die   des  Redens  über- 


Ursprung  der  Gebärdensprache  aus  den  Ausdrucksbewegungen.  2  27 

tragen  zu  werden.  Aber  auch  hier  entspringt  diese  Übertragung 
wohl  aus  einer  direkten  Assoziation  der  Vorstellungen,  und  sie  wird 
darum  von  dem  naiven  Denken  zugleich  als  Wirklichkeit  empfunden. 
Der  Lügner,  wie  er  den  Blick  scheu  an  dem  Getäuschten  vorüber- 
gehen läßt,  wagt  auch  seine  Worte  diesem  nicht  direkt  ins  An- 
gesicht zu  sprechen,  sondern  er  redet  an  ihm  vorbei.  Wenn  ferner 
die  Umfangsverhältnisse  der  Finger  auf  moralische  Qualitäten  über- 
tragen werden,  der  Daumen  also  'gut',  der  kleine  Finger  "schlecht' 
bedeutet,  so  muß  man  sich  erinnern,  daß  für  den  Naturmenschen 
überhaupt  physische  Stärke  und  moralische  Tüchtigkeit,  physische 
Schwäche  und  niedrige  Gesinnung  zusammenfallen.  Ursprünglich 
liegt  also  hier  wiederum  die  Symbolik  nicht  sowohl  darin,  daß  die 
moralischen  durch  physische  Eigenschaften,  als  darin,  daß  über- 
haupt Personen  durch  emporgestreckte  Finger  versinnlicht  werden. 
Aber  auch  diese  weitverbreitete  Symbolik  führt  auf  eine  einfachere, 
noch  nicht  symbolisch  empfundene  Assoziation  zurück.  Wie  der 
Zeigefinger  die  Person,  auf  die  er  hinweist,  unmittelbar  dadurch  an- 
deutet, daß  er  den  Blick  auf  sie  lenkt,  also  ein  Hilfsmittel  ist,  um 
den  Gegenstand  durch  sich  selbst  vertreten  zu  lassen,  so  kann,  wenn 
begünstigende  Bedingungen  hinzukommen,  auch  die  abwesende  Per- 
son noch  durch  den  ausgestreckten  Finger  bezeichnet  werden,  so- 
bald die  Umstände  eine  ähnliche  Ergänzung  durch  die  Assoziation 
mit  dem  Erinnerungsbilde  bedingen.  Eine  häufige  Ursache  zur  Ent- 
stehung einer  solchen  Erinnerungsassoziation  liegt  in  der  Vorstellung 
einer  bestimmten  Anzahl  von  Personen,  wo  die  in  entsprechender 
Anzahl  emporgereckten  Finger  nun  die  erforderlichen  Assoziationen 
erwecken  und  zunächst  jeder  Finger  auf  eine  bestimmte  einzelne 
Person  bezogen  wird.  Indem  diese  hinzugedachten  Vorstellungen 
allmählich  verblassen,  werden  dann  die  Finger  zu  eigentlichen  Zahl- 
symbolen: sie  repräsentieren  jetzt  irgendwelche  zählbaren  Gegenstände, 
während  sie  vorher  nur  regelmäßig  assoziierte  Hilfsvorstellungen  ge- 
wesen waren,  neben  denen  die  hinzugedachten  Gegenstände  selbst 
ins  Bewußtsein  traten.  Aus  dieser  Zeit,  wo  das  stellvertretende 
Zeichen  noch  nicht  von  seinem  Gegenstande  gesondert  war,  haben 
sich  ohne  Zweifel  die  besonderen  Beziehungen  erhalten,  die  den 
verschiedenen  Fingern  und  ihren  Kombinationen  in  der  ausgebildeten 
Symbolik    der    Gebärden  beigelegt  werden.     So   war  es,   nachdem 


228  I^is  Gebärdensprache. 


einmal  der  Zeigefinger  durch  Assoziation  mit  einer  abwesenden 
Person  für  diese  eine  repräsentative  Bedeutung  erlangt  hatte,  nur 
noch  ein  kleiner  Schritt  zur  Bezeichnimg  z^veier  regelmäßig  v^er- 
bundener  Genossen,  Brüder,  Ehegatten  oder  Kriegsgefährten  durch 
emporgereckten  Zeige-  und  Mittelfinger.  Und  nachdem  dies  voll- 
bracht war,  konnte  dann  leicht  noch  der  weitere  Schritt  geschehen, 
die  Innigkeit  der  Verbindung  selbst  durch  die  Verschlingung  der 
zwei  Finger  auszudrücken  (/  Fig.  32,  S.  187).  Auch  hier  darf  man 
annehmen,  daß  für  die  ursprüngliche  Anschauung  Symbol  und 
Wirklichkeit  ineinander  flössen,  indem  zu  der  Gebärde  die  sinnliche 
Bedeutung,  die  sie  ausdrückte,  urmiittelbar  assoziiert  ^\■u^de.  \\"ar 
nun  aber  einmal,  wie  es  im  Laufe  der  Zeit  geschehen  mußte,  jene 
assoziierte  Vorstellung,  die  in  allen  diesen  Fällen  das  in  der  Gebärde 
sich  darstellende  Bild  zur  Wirklichkeit  erhob,  bis  zur  Unbestimmt- 
heit verdunkelt,  dann  konnte  zwar  noch  unter  günstigen  Umständen 


der  einstige  Sinn  der  Gebärde  erfaßt  werden,  um  so  mehr  mußte 
sich  jedoch,  eben  weil  die  Assoziation  zurücktrat,  der  Unterschied 
zwischen  der  ursprünglichen  und  der  neuen  Bedeutung  hervor- 
drängfen.  Damit  war  dann  der  Weg  von  der  unter  Mithilfe  von 
Assoziationen  indirekt  nachbildenden  zu  der  im  engeren  Sinne  sym- 
bolischen Gebärde  vollständig  zurückgelegt. 

Eine  weitere  Komplikation,  die  den  Übergang  der  vorbereitenden 
Zwischenstufen  in  symbolische  Gebärden  wesentlich  begünstigt,  be- 
steht darin,  daß  verschiedene  Symbole  aufeinander  einwirken  und 
auf  diese  Weise  gemischte  symbolische  Gebärden  erzeugen,  bei  denen 
infolge  der  Verbindung  der  Motive  die  Assoziation  mit  der  einstigen 
sinnlichen  Bedeutung  v^oUständig  verschwinden  kann.  Ein  charak- 
teristisches Beispiel  dieser  Art  ist  die  Gebärde  für  'Falschheit^*  S.  186, 
Fig.  31^),  die  sich  einerseits  aus  der  für  Freundschaft,  Vertrauen" 
und  ähnliche  Begrifife  vorkommenden  iPig.  32  /)  und  anderseits 
aus  der  Symbolisierung  entgegengesetzter  Wertbegrifte  durch  die 
Größenunterschiede  der  Finger  erklärt,  eine  Verbindung,  die  als 
solche  von  vornherein  nur  eine  symbolische  Bedeutung  haben  kann. 
Ebenso  fehlt  natürlich  die  unmittelbare  sinnliche  Anlehnung  in  solchen 
Fällen,  wo  die  Gebärde  selbst  nur  ein  anderwärts,  aus  der  bildlichen 
Darstellung  oder  aus  der  Sitte  entlehntes  Symbol  ist,  wie  bei  der 
Drehung  einer  Nase  zum  Zweck  der  Verhöhnung  (S.  185),  bei  dem 


Ursprung  der  Gebärdensprache  aus  den  Ausdrucksbewegungen.  2  2Q 

Symbol  der  "^Gerechtigkeit'  (Fig.  3 1  ^),  bei  dem  Zeichen  der  Indianer 
für  "Tausch'  oder  *^Hander  (Fig.  32  7n)  und  in  vielen  andern  Fällen. 
Der  Vorgang  der  Entwicklung  symbolischer  Gebärden  stellt  sich 
hiernach,  solang  er  sich  rein  im  Gebiet  der  Gebärdenmitteilung 
selber  vollzieht,  als  eine  durch  Assoziationen  vermittelte 
Verschiebung  der  Vorstellungen  dar,  die  durch  allmähliche 
Ausschaltung  einzelner  Assoziationsglieder  infolge  ihrer 
Verdunklung  im  Bewußtsein  eintritt.  Solange  hierbei  alle 
wirksamen  Assoziationsglieder  einigermaßen  lebendig  sind,  bleibt  die 
Symbolik  eine  latente,  da  das  Symbol  und  seine  Bedeutung  noch 
vollständig  zusammenfallen  oder  so  eng  verbunden  sind,  daß  das 
symbolische  Zeichen  als  ein  Teil  der  Vorstellung  des  Gegenstandes 
selbst  betrachtet  wird.  Dagegen  wird  dasselbe  als  Symbol,  dabei 
aber  als  ein  natürliches,  dem  Gegenstand  durchaus  adäquates  auf- 
gefaßt, wenn  einzelne  Assoziationsglieder  aus  dem  Bewußtsein  ver- 
schwunden sind,  während  das  Gefühl  der  Verbindung  und  die 
entsprechende  Analogie  der  Vorstellungen  noch  erhalten  blieben. 
Der  Übergang  in  rein  konventionelle  Gebärdensymbole  kann  dann 
von  hier  aus  entweder  durch  weitere  Verdunklung  der  Assoziations- 
glieder oder  durch  die  Verbindung  verschiedener  Zeichen,  oder 
endlich  durch  Aufnahme  von  außen  in  der  Form  der  Nachbildung 
symbolischer  Gebräuche  oder  gewisser  Zeichen  der  Bilderschrift 
erfolgen. 


2.    Die  Gebärde  und  die  Anfänge  der  bildenden  Kunst. 

Wie  die  Hände  als  Greiforgane  durch  die  infolge  der  psychischen 
Entwicklung  eintretende  Abschwächung  einzelner  Greifbewegungen 
zu  natürlichen  Hilfsmitteln  hinweisender  Gebärden  geworden  sind, 
so  dürfen  wir  wohl  ihre  Beteiligung  an  den  verschiedenen  Formen 
darstellender  Gebärden  zu  jener  vollkommeneren  Betätigung  der- 
selben als  Greiforgane  in  Beziehung  bringen,  die  zur  Verfertigung 
künstlicher  Gegenstände  aus  Materialien  der  Umgebung  fort- 
geschritten ist.  Nachdem  durch  die  Schaffung  von  Werkzeugen 
und  durch  andere  den  Lebensbedürfnissen  dienende  Leistunsren  die 
Hand  ihre  feinere  Ausbildung  erlangt  hat,  gewinnt  auch  die  Nach- 
bildung   der    erzeugten   Kunstprodukte    eine   wachsende  Bedeutung. 


2  20  Die  Gebärdensprnche. 


Das  einmal  geschaffene  Werk  nicht  nur,  sondern  vor  allem  die  Tätig- 
keit, die  es  hervorgebracht  hat,  wird  zum  Vorbild,  das  zum  Nach- 
schaffen anregt.  Diese  nachbildende  Tätigkeit,  einmal  erwacht,  be- 
schränkt sich  aber  endlich  nicht  mehr  auf  die  Gegenstände  und 
Verrichtungen,  die  den  Lebensbedürfnissen  dienen,  sondern  sie  geht 
allmählich  zur  Nachbildung  der  Gegenstände  der  Natur  selbst  über. 
Nachdem  dieser  Trieb  der  Nachahmung  aus  den  angegebenen  Mo- 
menten äußeren  Zwanges  und  freier  Reproduktion  der  Vorstellungen 
heraus  erwachsen  ist,  muß  er  nun  auch  da  sich  zu  äußern  streben, 
wo  der  langsam  fortschreitenden  Arbeit  die  unendlich  leichter  beweg- 
liche Vorstellungsbildung"  geschäftig  vorauseilt.  Noch  bevor  das  im 
Geiste  vorausgeschaute  Objekt  unter  der  bildenden  Hand  in  dauern- 
dem Material  entsteht,  zeichnet  dieselbe  Hand  ein  rasch  vergäng- 
liches Bild  in  der  Form  einer  Gebärde,  welche  die  Umrisse  des 
Gegenstandes  dem  Auge  vorführt.  So  ist  hier  für  ein  primitives 
Schaffen  die  nachbildende  Gebärde,  die  sich  beliebig  wiederholen 
und  verbessern  läßt,  gleichzeitig  Vorübung  und  Ent^\alrf  für  das 
auszuführende  W^rk,  analog  wie  auf  einer  späteren  Stufe  der  Kunst- 
entwicklung die  Skizze.  Die  Leichtigkeit,  mit  der  jene  einfachste 
Art  der  Nachbildung  eines  Gegenstandes  auszuführen  ist,  muß  nun 
von  Anfang  an  ihre  Anwendung  und  weitere  Übertragung  begün- 
stigen. Die  nachbildende  Bewegung  wird  so  zur  Andeutung  von 
Gegenständen  oder  Handlungen  verwendet,  wo  immer  der  Drang 
des  Affekts  dazu  antreibt,  namentlich  aber  wenn  die  Äußerung 
der  erregenden  Vorstellungen  durch  den  Verkehr  mit  andern  ge- 
weckt wird.  So  läßt  sich  schon  bei  jener  der  primitiven  Kunst- 
leistung vorausgehenden  andeutenden  Nachbildung  wohl  annehmen, 
daß  sie  vor  allem  da  hervortrat,  wo  ein  Werk  durch  gemeinsame 
Arbeit  entstehen  sollte.  Das  von  dem  Einzelnen  für  sich  in  unge- 
fähren Umrißbewegungen  beschriebene  Bild  machte  zugleich  den 
Genossen  das  Geplante  anschaulich,  und  es  konnte  von  diesen 
bald  bestätigend,  bald  verändernd  in  gleicher  Absicht  wiederholt 
werden.  Damit  war  diese  nachahmende  Form  der  pantomimischen 
Bewegungen  zu  einer  weit  über  ihre  ursprüngliche  Entstehung 
hinausreichenden  Ausdrucksform  geworden,  die  sich  überall  ein- 
stellen mußte,  wo  der  Trieb  nach  Äußerung  gewisser  Vorstellungs- 
bestandteile   des   Affektes   unbesiesfbar    wurde,    und    wo    doch    der 


Die  Gebärde  und  die  Anfänge  der  bildenden  Kunst.  23 1 

Gegenstand  selbst  nicht  erreichbar,    dem  Ausdruck  durch  unmittel- 
bare hinweisende  Bewegungen  also  unzugänglich  war. 

Auf  diese  Weise  treten  die  verschiedenen  Formen  nachbildender 
Gebärden  in  enge  Beziehungen  zu  den  Anfängen  der  bildenden 
Kunst.  In  der  Tat  ist  die  zeichnende  Gebärde  eigentlich  nichts 
anderes  als  eine  Ausübung  zeichnender  Kunst,  nicht  an  einem 
dauernden  Material,  sondern  ausschließlich  in  zeichnenden  Bewe- 
gungen, die  an  den  Gegenstand  erinnern,  indem  sie  ein  flüchtiges 
Bild  desselben  in  dem  Zuschauer  hervorrufen.  Auch  die  Entwicklung 
der  Gebärde  bietet  eine  gewisse  Analogie  mit  der  Entwicklung  der 
Kunst.  Diese  entsteht  zuerst  als  zeichnende  Kunst.  Auf  Felswände 
und  Baumrinden  zeichnet  der  Mensch  einer  primitiven  Kultur  die 
Gegenstände  seiner  Umgebung,  menschliche  Gestalten,  Tiere  und 
Bäume,  und  mit  ihnen  die  ältesten  Formen  menschlicher  Tätigkeit, 
den  Kampf  feindlicher  Horden,  das  Töten  der  Tiere,  das  Fällen  der 
Bäume  usw.  Schon  diese  primitiven  Kunstleistungen  des  Natur- 
menschen sind  zwar  den  frühesten  Übungen  unserer  Kinder  im 
Zeichnen  durch  die  schärfere  Auffassung  der  Formen  weit  überlegen; 
doch  gleichen  sie  ihnen  meist  noch  darin,  daß  sie,  ähnlich  der  zeich- 
nenden Gebärde,  nur  die  Grenzlinien  der  Gegenstände  und  die  vor- 
zugsweise der  Aufmerksamkeit  sich  aufdrängenden  Teile  beachten"). 
Dem  gegenüber  gehören  die  ersten  plastischen  Versuche  im  allge- 
gemeinen  schon  einem  vorgerückteren  Stadium  an.  Zugleich  ent- 
fernen sich  die  Erzeugnisse  der  primitiven  plastischen  Kunst  nicht 
selten  weiter  als  die  der  zeichnenden  von  der  Wirklichkeit,  ähnlich 
wie  dies  auch  von  der  plastischen  gegenüber  der  zeichnenden  Ge- 
bärde gilt.  Diese  entwirft  freilich  nur  ein  sehr  flüchtiges  und  im- 
vollkommenes  Bild :  aber  sie  bemüht  sich  doch,  die  Wirklichkeit  so 
treu  wie  möglich  wiederzugeben.     Die   plastische  Gebärde  dagegen 


'y  Charakteristische  Beispiele  primitiver  Kunst  vgl.  bei  Andree,  Ethnographische 
Parallelen  und  Vergleiche,  I,  S.  258,  II,  S.  56  ff.  und  die  zugehörigen  Tafeln.  1878 — 89. 
Grosse,  Die  Anfänge  der  Kunst,  1894.  S.  156  ff.  Als  Parallelen  vergleiche  man  die  in 
den  Höhlen  und  Kehrichthaufen  gefundenen  Zeichnungen  der  Urbewohner  Europas, 
z.  B.  bei  W.  B.  Dawkins,  Die  Höhlen  und  die  Ureinwohner  Europas,  deutsch  von 
J.W.  Spengel,  1876,  S.  272  ff.,  281,  und  dagegen  die  von  verschiedenen  Autoren  mit- 
geteilten Zeichnungen  von  Kindern  in  verschiedenen  Lebensaltem :  Sully,  Untersuch- 
ungen über  die  Kindheit,  1897,  S.  310  ff.  Baldwin,  Die  Entwicklung  des  Geistes 
beim  Kinde  und  bei  der  Rasse,  1898,  S.  78  ff. 


23  2  Die  Gebärdensprache. 


ist,  wenn  sie  eine  mimische  ist,  nicht  selten  ein  absichtlich  über- 
treibender Gesichtsausdruck;  und  wenn  sie  in  der  plastischen  For- 
mung- der  Hände  besteht,  so  rechnet  sie  auf  die  Phantasie  des  Be- 
schauers, woraus  sich  denn  auch  wohl  erklärt,  daß  die  Mehrzahl 
der  symbolischen  Gebärden  dieser  plastischen  Form  angehört. 
Ebenso  beschränkt  sich  die  ursprüngliche  Zeichnung  auf  den  Ver- 
such unmittelbarer  Nachahmung.  Die  Abweichung  von  der  Wirk- 
lichkeit entspringt  zunächst  nur  aus  der  Unvollkommenheit  der 
Kunstübung,  nicht  aus  der  Absicht  etwas  zu  erzeugen,  was  wirklich 
von  der  Natur  verschieden  ist.  Das  plastische  Nachbilden  dagegen 
scheint  von  frühe  an  zu  einer  Veränderung  der  Natur,  namentlich 
zur  Bildung  von  Formen,  die  übertreibende  Umgestaltungen  oder 
Kombinationen  von  Naturformen  sind,  anzuregen,  indem  das  ver= 
wendete  Material,  der  Baumstumpf  oder  Felsblock,  aus  dem  die  Form 
gebildet  wird,  nicht  selten  selbst  schon  gewisse  Ähnlichkeiten  mit 
Menschen-  oder  Tierformen  bietet,  die  zugleich  als  groteske  Um- 
gestaltungen erscheinen  und  so  die  Phantasie  zu  weiteren  Über- 
treibungen oder  Umbildungen  herausfordern.  So  weisen  die  Knochen- 
schnitzereien der  Eskimos  mit  ihren  gelegentlichen  Versuchen,  ver- 
schiedene Tiergestalten  zu  kombinieren,  und  die  furchterregenden 
Gesichtsmasken,  deren  sich  besonders  die  Schamanen  bei  einzelnen 
dieser  Stämme  bedienen,  auf  eine  regere  Phantasietätigkeit  hin']. 
Noch  augenfälliger  tritt  uns  freilich  dieser  Unterschied  entgegen, 
wenn  wir  etwa  die  Rindenzeichnungen  der  Australier  oder  Busch- 
männer mit  den  plastischen  Werken  der  alten  Mexikaner  und  Peru- 
aner vergleichen^).  Naturgemäß  wird  dann  aber  diese  phantastische 
Übertreibung  und  Umformung  auch  wiederum  von  der  Plastik  auf 
die  Zeichnung  übertragen.  Auf  einer  gewissen  Mittelstufe  primitiver 
Kultur,  wie  sie  etwa  in  der  Kunstübung  der  nordamerikanischen  In- 
dianer vertreten  ist,  finden  wir  daher  in  den  Zeichnungen  und  Ma- 
lereien eine  eigentümliche  Mischung  beider  Motive,  kindlich  unbe- 
holfene Nachahmungen  der  wirklichen  Gegenstände  und  symbolische 
Übertreibungen  und  Neubildungen  nebeneinander.  Zu  den  frühesten 
Triebkräften  einer  solchen  freien  Umbildung  der  Wirklichkeit  in  ihrer 


^)  Grosse,  a.  a.  O.  S.  i8o  ff. 

2)  Man    vergleiche    z.  B.   in    Ratzeis    Völkerkunde,^    1894,    I,    die    Abbildungen 
S.  686  und  608  ff. 


Gebärdensprache  und  Bilderschrift.  2'\X 

Nachahmung  gehört  aber  das  mythologische  Denken;  und  das 
allen  solchen  Gestaltungen  positiver  wie  negativer  Idealformen  zu- 
grunde liegende  Hauptmotiv  besteht  schließlich  darin,  daß  die  von 
der  Wirklichkeit  abweichende  Gestalt  irgendeine  über  der  Wirklich- 
keit stehende  Macht  verkörpere  oder,  wenn  sich  diese  Vorstellung 
ermäßigt  hat,  daß  sie  ein  Symbol,  ein  sinnliches  Zeichen  einer 
solchen  Macht  sei.  So  eröffnet  sich  in  diesen  phantastischen  Über- 
treibungen der  Natur,  welche  die  Entwicklung  der  Kunst  mit  sich 
führt,  ein  besonderer  Weg  zur  Bildung  von  Symbolen.  Denn  hier 
geht  nicht  ein  sinnlicher  Gegenstand  oder  seine  Nachbildung  aus 
der  unmittelbaren  Bedeutung  allmählich  durch  eine  Reihe  von  Asso- 
ziationen in  eine  symbolische  über,  sondern  mit  der  Entwicklung 
zum  Symbol  verändert  sich  vollkommen  gleichzeitig  das  Bild  des 
Gegenstandes  selbst.  Dies  kann  aber  nur  daraus  erklärt  werden, 
daß  eben  jene  Assoziationen,  die  von  der  unmittelbaren  Vorstellung 
ausgehend  diese  allmählich  zu  einer  symbolischen  machen,  auf  die 
Vorstellung  zurückwirken,  um  sie  in  ein  ihrer  symbolischen  Bedeutung 
adäquateres  Bild  umzuwandeln.  Natürlich  kann  diese  Symbolik  immer 
nur  mit  Mitteln  geschehen,  die  im  einzelnen  wieder  Nachbildungen 
der  Wirklichkeit  sind.  Doch  in  der  Verbindung  der  Teile,  in  der 
Steigerung  einzelner  Eigenschaften  liegt  eben  hier  der  Übergang 
zum  Un-  oder  Übernatürlichen.  Verbindungen  menschlicher  und 
tierischer  Gestalten,  Steigerung  gewisser  Schreck  oder  Drohung  aus- 
drückender mimischer  Züge,  das  starrende  Auge,  der  aufgerissene 
Rachen,  dazu  die  ins  Maßlose  gesteigerte  Größe  der  Formen  sind 
so  die  Mittel,  mit  denen  eine  primitive  mythologische  Phantasie 
allerorten  die  sie  erfüllenden  Gefühle  und  Vorstellungen  einer  den 
Menschen  bedrohenden  und  erschreckenden  Göttergewalt  zum  Aus- 
druck bringt. 


3.    Gebärdensprache  und  Bilderschrift. 

Aus  der  zeichnenden  Kunst  geht  die  Bilderschrift  als  eine  be- 
sondere Anwendung  hervor.  So  nahe  liegt  aber  diese  Anwendung, 
daß  man  wohl  zweifeln  darf,  ob  hier  überhaupt  von  einer  zeitlichen 
Aufeinanderfolge  die  Rede  sein  kann.  Denn  sicherlich  wird  der 
Mensch   eine   zeichnende   Kunst   auf  Steinen   oder   auf  Baumrinden 


2-iA  Die  Gebärdensprache. 


nicht  früher  geübt  haben,  als  er  auch  schon  in  Horden  lebte,  die 
gelegentlich  in  Wechselverkehr  mit  andern  Horden  stehen  mochten, 
so  daß  daraus  das  Bedürfnis  nach  Mitteilung  an  Abwesende  erwuchs ; 
und  für  diese  bot  sich  das  die  Vorstellung  fixierende  Bild  als  das 
nächste,  überall  bereit  stehende  Hilfsmittel.  Diese  Verwendung  der 
bildlichen  Darstellung  zur  Mitteilung  an  Abwesende  führte  dann  un- 
vermeidlich zugleich  über  die  Grenzen  der  reinen  Nachahmung 
hinaus,  mit  der  sich  das  Bild  als  Werk  der  bloßen  Kunstbetätigung 
begnügen  konnte.  Die  bildliche  Mitteilung  bedurfte  besonderer 
Andeutungen,  welche  die  Beziehungen  der  in  dem  Bilde  wiederge- 
gebenen Vorstellungen  ausdrückten.  So  wurden  symbolische  Zeichen, 
zwischen  die  Nachbildungen  der  berichteten  Ereignisse  eingeschoben, 
zuerst  Bindeglieder  der  Vorstellungen,  um  dann  allmählich  das  Bild 
ganz  zu  verdrängen  oder  von  ihm  nur  so  dürftige  Reste  zurück- 
zulassen, daß  diese  selbst  zur  Rolle  bloßer  Begriffssymbole  herab- 
sanken. 

Hier  liegt  nun  zugleich  der  Punkt,  wo  Gebärdensprache  und 
Bilderschrift  in  ihrer  Entwicklung  ineinander  greifen,  so  daß  es  in 
vielen  Fällen  wohl  nicht  mehr  zu  bestimmen  ist,  ob  ein  gegebenes 
Zeichen  der  Bilderschrift  als  eine  fixierte  Gebärde,  oder  ob  umge- 
kehrt eine  Gebärde  als  flüchtige  Nachahmung  eines  Bilderzeichens 
zu  deuten  sei.  Maßgebend  für  die  Beurteilung  dieser  Wechselbe- 
ziehungen ist  vor  allem  der  Gesichtspunkt,  daß,  wie  die  Bilderschrift 
nicht  als  Schrift,  sondern  als  Bild  ursprünglich  entstand,  so  auch 
die  Gebärdensprache  nicht  als  Sprache,  sondern  zunächst  bloß 
als  Gebärde,  ohne  Rücksicht  auf  eine  Mitteilung  an  andere  sich  ent- 
wickelt hat.  Wird  doch  die  nachahmende  Gebärde  schon  als  Aus- 
drucksbewegung von  Affekten  in  der  spezifischen  Ausbildung,  die 
sie  beim  Menschen  erlangt,  erst  verständlich,  wenn  wir  sie  zu  der 
bildnerischen  Tätigkeit  in  eine  nähere  Beziehung  bringen,  indem 
wir  sie  bald  als  einen  Entwurf,  den  die  der  gewollten  Handlung 
vorauseilende  Phantasie  gestaltet,  bald  als  eine  Nachbildung  des 
Geschauten  auffassen  können  (vgl.  Kap.  I,  S.  130  ff.).  Hier  liegt  es 
nun  aber  auch  nahe  genug,  daß  die  unmittelbar  nur  von  der 
eignen  Phantasie  hervorgebrachten  und  diese  in  natürlicher  Rück- 
wirkung wiederum  belebenden  Ausdrucksbewegungen  ohne  weiteres, 
und   ohne   daß    dazu    ein  besonderer   Entschluß   oder  gar  eine   be- 


Gebärdensprache  und  Bilderschrift. 


235 


sondere  Erfindung  erforderlich  wäre,  der  Mitteilung  und  Verstän- 
digung dienen,  sobald  nur  die  künstlerische  Tätigkeit  nicht  mehr 
von  einem  Einzelnen  allein,  sondern  von  mehreren  gemeinsam  aus- 
geführt wird.  Darum  hat  auch  in  die  Entwicklung  der  Gebärde  zur 
eigentlichen  Gebärdensprache  jedenfalls  die  gleichzeitige  Entstehung 
der  primitiven  Kunst  und  der  aus  dieser  hervorgegangenen  Bilder- 
schrift so  sehr  eingegriffen,  daß  im  einzelnen  Fall  oft  kaum  mehr 
zu  entscheiden  ist,  in  welcher  Richtung  der  Einfluß  stattgefunden 
habe.  Ganz  besonders  gilt  dies  von  den  symbolischen  Gebärden 
und  den  ihnen  entsprechenden  Symbolen  der  Bilderschrift.  Da  uns 
hier  eine  historische  Tradition  nicht  zu  Gebote  steht,  so  kann 
höchstens  aus  der  Beschaffenheit  der  Symbole  selbst  eine  gewisse 
Wahrscheinlichkeit    für    die    eine    oder    die    andere  Möglichkeit  ge- 


Fig-  33-     Brief  eines  Indianerhäuptlings  in  Bilderschrift. 

Wonnen  werden.  In  der  Tat  gibt  es  in  der  Bilderschrift  Zeichen, 
denen  man  auf  den  ersten  Blick  ansieht,  daß  sie  eigentlich  nur  An- 
deutungen von  Gebärden  sind;  nicht  minder  aber  auch  andere,  die 
auf  ein  nachträglich  erst  durch  eine  Gebärde  nachgeahmtes  sym- 
bolisches Bild  hinzuweisen  scheinen. 

Einen  Fall  der  ersten  Art  und  zugleich  ein  Beispiel  ursprüng- 
licher, mit  der  Gebärdenmitteilung  nahe  verwandter  Bilderschrift 
bietet  die  Fig.  33.  Sie  ist  die  verkleinerte  Kopie  eines  aus  der 
Gegend  des  oberen  Sees  in  Michigan  stammenden,  farbig  auf  Per- 
gament ausgeführten  Dokumentes  in  Bilderschrift,  welches  die  Bot- 
schaft eines  Häuptlings  aus  dem  Adlertotem  (i)  an  den  Präsidenten 
der  Vereinigten  Staaten  (8)  enthält.  Die  Andeutung  des  letzteren 
tritt  in  dem  farbigen  Original  durch  die  weiße  Farbe  des  Hauses 
und  des  Gesichts  der  Figur  noch  deutlicher  hervor  fder  weiße  Mann 


236  Die  Gebärdensprache. 


im  weißen  Hause"*].  Der  Inhalt  der  in  dem  Bilde  ausgedrückten 
Botschaft  ist  etwa  der  folgende'):  "Ich  (i)  und  einige  meiner  Krieger 
(2 — 5)  nebst  einigen  anderen  mächtigeren  Häuptlingen  anderer  To- 
tems  (6,  9)  sind  versammelt  und  bieten  dir  durch  mich  Freundschaft. 
Wir  sind  alle  gleicher  Ansicht  mit  dir.  Drei  Krieger  meines  Stam- 
mes (3,  4,  5)  wollen  von  nun  an  in  Häusern  leben  (7)'.  Der  Totem, 
dem  die  Versammelten  angehören,  ist  durch  die  Tiergestalten  (i — 5 
Adlertotem,  6  Fischtotem,  9  bleibt  unbestimmt)  angedeutet.  Die 
Häuptlingswürde  wird  durch  vom  Kopf  aufsteigende  Linien  aus- 
gedrückt: nach  der  Zahl  dieser  Linien  ist  zugleich  die  Macht  des 
Häuptlings  zu  bemessen.  Der  Briefsteller  ( i )  stellt  also  seine  eigene 
Macht  —  sei  es  wahrheitsgemäß,  sei  es  aus  Höflichkeit  gegen  seine 
Gäste  —  weit  niedriger  als  die  von  6  und  9.  Das  Anerbieten  von 
Friede  und  Freundschaft  wird  durch  die  ausgestreckte  Hand,  die 
Übereinstimmung  der  Ansichten  durch  die  Linien  symbolisiert, 
welche  die  Augen  aller  an  der  Botschaft  Beteiligten  mit  dem  rech- 
ten Auge  des  Präsidenten  verbinden.  Der  Wille  der  drei  Stammes- 
genossen (3,  4,  5),  sich  häuslich  niederzulassen,  also  das  Jägerleben 
aufzugeben,  wird  durch  drei  unter  ihnen  gezeichnete  Häuser  ange- 
deutet (7).  Dabei  dürfte  das  größere  Haus  unter  dem  größeren 
Vogel  wieder  die  bedeutendere  Macht  dieses  Kriegers  im  Vergleiche 
mit  den  beiden  andern  versinnlichen.  Man  muß  gestehen,  daß  ein 
Brief  in  gewöhnlicher  Schrift  und  Sprache  eine  derartige  Botschaft 
kaum  kürzer  auszudrücken  vermöchte,  und  daß  er  dieselbe  jeden- 
falls nicht  in  so  anschaulicher,  ohne  weiteres  mit  einem  einzigen 
Blick  zu  übersehender  Weise  wiedergeben  würde.  Die  einzelnen 
Zeichen,  die  das  Schriftstück  zusammensetzen,  sind  teils  nachbil- 
dende, wie  der  Präsident  in  seinem  Hause  (8)  und  die  drei  Häuser 
unter  den  Kriegern  (7),  teils  halbsymbolische:  so  die  Totemfiguren ; 
teils  aber  sind  sie  ganz  symbolische:  so  die  Bezeichnungen  der 
Häuptlingswürde,  die  Freundschaftsversicherung  und  der  Ausdruck 
der  Übereinstimmung.  Die  Bilder  der  ersten  Art  sind  möglicher- 
weise der  Bilderschrift  ursprünglich  eigen.  Wo  sie  gleichzeitig  als 
Gebärden  vorkommen,  wie  die  Andeutung  eines  Hauses  durch  seine 


^)  Die  farbige  Kopie  nebst  Erklärang  siehe  bei  Schoolcraft,  Ethnological  Re- 
searches  resp.  the  Red  Man  of  America,  1851,  I,  PI.  62,  p.  418  f.  Die  bei  School- 
craft dem  Original   nahekommende  Größe   ist   in  Fig.  33  auf  die  Hälfte  verkleinert. 


Gebärdensprache  und  Bilderschrift.  237 

in  die  Luft  gezeichneten  Begrenzungslinien,  da  kann  dies  ebensogut 
Nachahmung  eines  wirklichen  Hauses  wie  die  eines  Bildes  sein: 
jedenfalls  liegt  daher  in  solchen  Fällen  kein  Grund  vor,  der  flüch- 
tigen Bilderschrift  der  Gebärden  eine  Priorität  vor  der  eigentlichen 
Bilderschrift  einzuräumen.  Insofern  sich  Gebärde  und  Bild  in  ge- 
wissem Sinne  wie  Skizze  und  Ausführung  verhalten,  mögen  sie 
wie  diese  in  Wechselbeziehung  zueinander  entstanden  sein.  Anders 
ist  das  mit  den  ganz  symbolischen  Gebärden,  die  eigentlich  den 
Hauptinhalt  der  Mitteilung  in  dem  obigen  Beispiel  ausmachen. 
Hier  kann  zunächst  nicht  zweifelhaft  sein,  daß  die  ausgestreckte 
Hand  die  unmittelbare  Nachahmung  der  entsprechenden  Gebärde 
ist.  Viel  bemerkenswerter  noch  ist  aber  die  Übertragung  der  Ge- 
bärde in  die  Bilderschrift,  da  wo  die  letztere  nicht  unmittelbar 
eine  bestimmte  symbolische  Bewegung  nachbildet,  sondern  wo  die 
Übertragung  zugleich  Veränderungen  mit  sich  bringt,  die  in  der 
abweichenden  Ausführung  ihren  begreiflichen  Grund  haben.  Dahin 
gehören  in  erster  Linie  in  Fig.  33  die  an  den  Köpfen  der  Figu- 
ren 1 ,  6  und  9  nach  oben  gerichteten  Striche,  welche  die  Häuptlings- 
würde andeuten.  Wie  gerade  dieses  Symbol  in  der  bildlichen  Dar- 
stellung entstanden  sein  sollte,  würde  schwer  zu  verstehen  sein.  Ihr 
würde  es  offenbar  viel  näher  liegen,  auf  irgendeine  andere  Weise,  z.  B. 
durch  die  bedeutendere  Größe  und  durch  den  vermehrten  Schmuck 
der  Figuren  oder  ihnen  beigegebene  Waffen,  die  höhere  Stellung 
auszudrücken.  Aber  die  symbolischen  Striche,  wie  sie  in  der  ein- 
fachsten Form  die  Figur  i  zeigt,  werden  uns  sofort  verständlich, 
wenn  wir  uns  des  Zeichens  erinnern,  das  in  der  Gebärdensprache 
der  Indianer  einen  Häuptling  andeutet,  und  das  in  der  Bewegung 
beider  Hände  vom  Kopfe  an  aufwärts  besteht  (S.  178).  Die  bei- 
den Linien,  die  wir  über  dem  Kopf  der  Figur  i  bemerken,  sind 
augenscheinlich  nichts  anderes  als  Andeutungen  dieser  Gebärde.  Es 
mag  dann  aber  allerdings  eine  selbständige  Weiterbildung  sein,  die 
dieses  Zeichen  in  der  Bilderschrift  erfahren  hat,  wenn  wir,  um  die 
noch  höhere  Würde  oder  Macht  anzudeuten,  die  Zahl  der  Linien 
über  dem  Haupt  in  der  Figur  6  auf  fünf,  und  in  der  Figur  9 
gar  auf  sieben  gesteigert  sehen.  Übrigens  zeigt  diese  Steigerung, 
wie  sehr  die  noch  in  unserer  heutigen  Kultur  lebendig  gebliebenen 
Symbole  adeligen  Geschlechts  und  königlicher  Würde  bis  zu  dieser 


238  1-^ie  Gebärdensprache. 


einfachen  Symbolik  ursprünglicher  Bilderschrift  und  durch  sie  sogar 
bis  zur  Gebärdensprache  zurückreichen.  Denn  in  dem  Augenblick, 
wo  sich  die  zwei  Linien  zu  5  oder  gar  7  vermehren,  wird  die 
Reminiszenz  an  die  Gebärde  zum  primitiven  Bild  einer  Krone;  und 
das  heraldische  Merkmal,  an  dem  sich  heute  noch  die  verschie- 
denen Stufen  adeliger  Geburt  unterscheiden,  scheint  so  in  direkter 
Deszendenz  von  der  einfachen  Methode  herzukommen,  mittels  deren 
bereits  die  Bilderschrift  der  Wilden  das  primitive  Zeichen  der 
Macht  zu  steigern  sucht.  Ein  ebenfalls  der  Gebärdensprache  ent- 
nommenes, aber  nach  den  Forderungen  der  Bilderschrift  umge- 
modeltes Symbol  tritt  uns  endlich  in  den  Linien  entgegen,  welche 
die  Augen  der  sämtlichen  symbolischen  Repräsentanten  der  in 
Fig-  33  angedeuteten  Personen  verbinden.  Übereinstimmung  der 
Ansichten  drückt  die  Gebärdensprache  anschaulich  durch  hinwei- 
sende Bewegungen  aus,  die  von  Auge  zu  Auge  gehen,  ähnlich  wie 
Übereinstimmung  der  Gefühle  durch  Hinweisung  zuerst  auf  das  eigene 
Herz,  dann  auf  das  des  Angeredeten,  oder  Austausch  der  Meinungen 
in  Rede  und  Gegenrede  durch  eine  den  eigenen  Mund  mit  dem 
Munde  des  andern  verbindende  Gebärde.  Die  Bilderschrift  der 
Indianer  hat  nun  alle  diese  Zeichen  aufgenommen,  indem  sie  die 
Bewegung  der  Hand  oder  des  Zeigefingers  in  einer  bestimmten  Rich- 
tung jedesmal  durch  eine  Linie  ersetzt,  die  sich  zwischen  den  Punk- 
ten erstreckt,  auf  die  der  Finger  hinweist.  Ähnlich  der  in  Fig.  33 
dargestellten  Vereinigung  der  Augen  finden  sich  namentlich  Ver- 
bindungslinien zwischen  den  in  den  Körperumriß  eingezeichneten 
Herzen  sehr  häufig.  Diese  Herzen  sieht  man  ohne  solche  Linien 
auch  an  den  beiden  Figuren  6  und  8  der  Fig.  33.  Auf  einzelnen 
Dokumenten  indianischer  Bilderschrift  erstrecken  sich,  um  die  Über- 
einstimmung der  Ansichten  und  Gefühle  mit  besonderer  Emphase 
hervorzuheben,  die  Verbindungslinien  gleichzeitig  zwischen  den  Augen 
und  den  Herzen^).  Auf  andern  wird  eine  Unterredung  dadurch 
symbolisiert,  daß  die  die  Lippen  verbindenden  Linien  unterbrochen, 
oder  daß  statt  ihrer  einzelne  fingerähnliche  Körperchen,  die  von 
Mund  zu  Munde  zu  fliegen  scheinen,  gezeichnet  sind^),  ähnlich  jenen 


i)  Schoolcraft  a.  a.  O.  PI.  60,  p.  416. 

2)  Maller)',  Sign  Language,  Fig.  192 — 194,  p.  374  fi". 


Gebärdensprache  und  Bilderschrift.  239 

naiven  Madonnen-  und  Heiligenbildern  der  älteren  deutschen  Mei- 
ster, aus  deren  Munde  auf  langen  Streifen  die  Worte  hervorquellen. 
Es  mag  dahingestellt  bleiben,  ob  hierdurch  nur  die  Gliederung  der 
Rede  in  Worte  angedeutet  werden  soll,  oder  ob  darin  noch  eine 
unmittelbare  Beziehung  auf  die  Hin-  und  Herbewegung  des  Zeige- 
fingers enthalten  ist.  Wie  es  sich  damit  aber  auch  verhalten  möge, 
jedenfalls  führen  alle  diese  symbolischen  Bezeichnungen  der  Bilder- 
schrift auf  die  Gebärde  zurück:  sie  lassen  sich  nur  als  Entlehnungen 
aus  der  Gebärdensprache  verstehen,  wenn  sie  auch  von  dieser  los- 
gelöst eine  Art  selbständigen  Daseins  führen  können.  Doch  bringt 
es  die  Fixierung  der  Gebärde  in  Sand  oder  einem  andern  festeren 
Material  von  selbst  mit  sich,  daß  die  in  jener  nur  flüchtig  ange- 
deuteten Umrisse  nun  genauer  ausgeführt  und  durch  manches  Detail 
nachträglich  ergänzt  werden,  und  daß  anderseits  manches  hinweg- 
bleibt, was  dem  Gebärdenspiel  sein  eigentümliches  Leben  verleiht: 
so  vor  allem  die  begleitende  Mimik,  in  der  die  gleichzeitigen  Ge- 
fühle in  allen  ihren  Färbungen  und  Übergängen  anklingen.  So 
wird  es  begreiflich,  daß  die  Zeichnung  in  der  Bilderschrift,  wie  in 
der  primitiven  Kunst  überhaupt,  der  Hauptsache  nach  auf  das 
Gegenständliche  beschränkt  bleibt.  Unter  den  Gegenständen  der 
Nachbildung  nehmen  aber  naturgemäß  wieder  diejenigen,  die  das 
Interesse  des  Menschen  vor  andern  fesseln,  die  Tiere  und  der  Mensch 
selbst,  die  erste  Stelle  ein^). 

Solchen  Fällen,  in  denen  die  Bilderschrift  gewisse  Zeichen  ur- 
sprünglich der  Gebärdensprache  entnommen  hat,  stehen  jedoch 
andere  gegenüber,  wo  die  umgekehrte  Wanderung  anzunehmen  ist. 
Namentlich  die  Klasse  der  symbolischen  Gebärden  bietet  hier  Bei- 
spiele. So  kann,  wie  früher  bemerkt  wurde,  das  Gebärdensymbol 
der  Gerechtigkeit  (Fig.  31  ^,  S.  186)  nur  als  Nachbildung  der  be- 
kannten plastischen  Darstellungen  der  Justitia  verstanden  werden. 
Aber  selbst  unter  den  Symbolen  der  primitiven  Bilderschrift  fehlen 
solche  nicht,  die,  wahrscheinlich  dieser  ursprünglich  angehörend, 
dann  aus  ihr  in  Zeichen  der  Gebärdensprache  übergegangen  sind. 
Ein  Beispiel  dieser  Art  enthält  ein  vom  Prinzen  Wied  mitgeteilter, 


^)  Ernst  Grosse,  Die   Anfänge  der  Kunst,  1894,  S.  156  ff.     K.  von  den  Steinen, 
Unter  den  Naturvölkern  Zentralbrasiliens 2,  1897,  S.  230  ff. 


240  Die  Gebärdensprache. 


in  Fig.  34  wiedergegebener  Brief  eines  Mandan-Indianers  an  einen 
Pelzhändler').  Rechts  ist  ein  Bison,  eine  Fischotter  und  ein  Fischer 
(Mustela  canadensis)  abgebildet,  links  eine  Flinte,  ein  Biber  und 
hinter  diesem  30  Striche.  Zwischen  beiden  Gruppen  findet  sich 
ein  Kreuz.  Da  das  letztere  überall  in  der  Bilderschrift  der  Indianer 
als  Zeichen  des  Tausches  vorkommt,  so  ist  der  Sinn  des  Briefes 
dieser:  'ich  biete  dir  die  Felle  eines  Bisons,  einer  Fischotter  und 
eines  Fischers  gegen  eine  Flinte  und  dreißig  Biberfelle  an^  Nun 
haben  wir  gesehen,  daß  das  Kreuz  in  der  Form  zweier  gekreuzter 
Zeigefinger  auch  als  symbolische  Gebärde  für  Tausch  vorkommt 
(Fig.  32  m).  Man  könnte  also  vermuten,  es  sei  hier,  ähnlich  wie  in 
den  obenerwähnten  Fällen,  die  Gebärde  in  die  Bilderschrift  über- 
gegangen.    Dem  gegenüber  ist   aber  zu  erwägen,   daß  unter  dieser 


<^ 


Fig.  34.     Handelsbrief  eines  Indianers  in  Bilderschrift. 

Voraussetzung  die  Entstehung  der  Gebärde  selbst  dunkel  bleibt. 
Verkehr  und  Tausch  durch  Kreuzung  der  Finger  zu  bezeichnen, 
würde  mindestens  eine  etwas  weit  hergeholte  Symbolik  sein,  die 
sich  mit  der  sonstigen  Entstehungsweise  ursprünglicher  Symbole 
nicht  recht  in  Einklang  bringen  läßt.  Dagegen  liegt  der  Gebrauch 
des  Kreuzes  als  Bild  in  diesem  Fall  ziemlich  nahe,  sobald  man  sich 
der  ursprünglichen  Bedingungen  erinnert,  unter  denen  der  Tausch- 
verkehr bei  Völkern  primitiver  Kultur  entsteht.  Überall,  wo  sich 
das  Bedürfnis  eines  solchen  mit  einer  gewissen  Regelmäßigkeit  ein- 
stellt, da  pflegt  dieser  naturgemäß    Orte   zu   wählen,   an  denen  sich 


^)  Reise  in  das  innere  Nordamerika,  11,  S.  657,  Beilage  B. 


Gebärdensprache  und  Bilderschrift.  24 1 

die  von  verschiedenen  Siedelungen  und  Jagdgebieten  kommenden 
Wege  kreuzen.  Noch  auf  einer  erheblich  höheren  Verkehrsstufe, 
in  der  Wirtschaftsentwicklung  des  deutschen  Mittelalters,  hat  sich 
an  den  Kreuzweg  der  Markt  und  an  den  Ort  des  Marktes  mit  den 
ihm  erteilten  öffentlichen  Gerechtsamen  der  Anfang  eines  städtischen 
Gemeinwesens  angeschlossen').  Auch  wenn  keine  festen  Pfade 
durch  das  Gefilde  gelegt  sind,  bilden  sich  durch  den  Zug  der  Ge- 
birge, der  Täler  und  Flußläufe  und  infolge  der  Verbreitung  ver- 
schiedener Horden  über  bestimmte  Territorien  solche  Kreuzungs- 
punkte des  Verkehrs  aus,  die  zu  natürlichen  Tauschplätzen  werden, 
sei  es,  daß  die  Tauschenden  persönlich  zusammentreffen,  sei  es, 
daß  sie  an  diesen  Orten  die  Gegenstände,  die  sie  auszutauschen 
wünschen,  niederlegen.  Demnach  ist  jenes  Symbol  der  Bilderschrift 
ohne  weiteres  erklärlich,  wenn  man  es  als  die  Andeutung  eines  sol- 
chen dem  primitiven  Tausch  verkehre  dienenden  Ortes  auffaßt. 

Ähnliche  Wechselwirkungen  zwischen  Gebärde  und  Schrift  be- 
gegnen uns  schließlich  bei  jener  eigenartigen  Bilderschrift,  die,  in- 
mitten unserer  Kulturwelt  entstanden,  trotzdem  eine  natürliche  Ähn- 
lichkeit mit  den  primitiven  Bilderschriften  der  Naturvölker  bewahrt: 
in  den  schon  oben  (S.  152,  Anm.  2)  erwähnten  »Zinken«  der  Gauner. 
So  wird  hier,  wie  bei  den  Indianern,  die  Nacht  durch  eine  gewölbte 
Decke,  die  Freude  oder  ein  freudiges  Ereignis  durch  ein  Herz  be- 
zeichnet. Zwei  dachähnlich  sich  aneinander  lehnende  schräge  Linien, 
die  dem  Indianer  ein  Zelt  oder  Haus  bedeuten,  sind  Zeichen  des 
Gefängnisses.  Wird  damit  noch  das  gleiche  Zeichen  in  umgekehrter 
Stellung  kombiniert,  so  ist  dies  das  Symbol  der  ''Enthaftung\  Eine 
große  Rolle  spielen  überhaupt  die  symbolischen  Zeichen:  so  be- 
zeichnet eine  aufrecht  stehende  gerade  Linie  ""standhaftes  Leugnen', 
eine  horizontale  Linie  dagegen  "Eingeständnis'  usw.  ^).  Hier  sind  die 
Übereinstimmungen  mit  der  primitiven  Bilderschrift  der  Naturvölker 
augenfällig,  wenngleich  im  Hinblick  auf  den  spezifischen  Interessen- 
kreis und  auf  den  Umstand,  daß  die  Zeichen  der  Gauner  zugleich 
den    Charakter    einer    Geheimschrift    besitzen,    Unterschiede    nicht 


^)  Vgl.  Lamprecht,  Deutsche  Geschichte,  in,  S.  32  ff. 

2)  Hanns  Gross,  Handbuch  für  Untersuchungsrichters,  1899,  S.  261,  275  ff. 
Archiv  für  Kriminalanthropologie  und  Kriminalistik,  11,  1899,  S.  i,  33  ff.  (Dazu 
Taf.  20  ff.) 

Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  16 


242  Die  Gebärdensprache. 


fehlen.  Außerdem  wird  aber  hier  wieder  die  Gebärde  vor  allem  da- 
durch zu  einem  leicht  verständlichen  Symbol,  daß  sie  als  die  An- 
deutung eines  Bildzeichens,  also  als  eine  Entlehnung  aus  der  Bilder- 
schrift der  Gauner  erscheint. 

Nach  allem  dem  ist  es  klar,  daß  sich  ebensowenig  die  Bilder- 
schrift ausschließlich  aus  der  Gebärdensprache  wie  diese  aus  jener 
ableiten  läßt.  Dagegen  sind  zweifellos  einzelne  Zeichen  der  Bilder- 
schrift aus  Gebärden,  und  ebenso  umgekehrt  gewisse  Gebärden  aus 
Zeichen  der  Bilderschrift  hervorgegangen.  Hieraus  läßt  sich  als 
allgemeines  Ergebnis  entnehmen,  daß  Gebärdensprache  und  Bilder- 
schrift Erzeugnisse  des  menschlichen  Verkehrs  sind,  die  sich  von 
früher  Zeit  an  neben  und  in  Wechselwirkung  miteinander  entwickelt 
haben. 


4.    Psychologischer  Charakter  der  Gebärdensprache. 

Die  im  Eingange  dieses  Kapitels  berührte  Frage,  ob  die  Ge- 
bärdensprache erfunden  sei,  oder  ob  sie  sich  aus  allgemeingültigen 
Bedingungen  der  psychophysischen  Organisation  des  Menschen  nach 
bestimmten,  überall  wiederkehrenden  psychologischen  Gesetzen  ent- 
wickelt habe,  kann  wohl  nach  den  vorangegangenen  Ergebnissen 
für  erledigt  gelten.  Die  natürliche  Gebärdensprache,  die  sich  unter 
ähnlichen  Bedingungen  immer  wieder  spontan  in  ähnlichen  Formen 
entwickelt,  trägt  eben  in  dieser  Übereinstimmung  der  Bedingungen 
und  ihrer  Wirkungen  die  zuverlässigste  Bürgschaft  ihrer  von  äußerem 
Zwang  und  willkürlicher  Erfindung  gleich  unabhängigen  psycholo- 
gischen Gesetzmäßigkeit  in  sich.  Aber  diese  Gesetzmäßigkeit  schließt 
doch  anderseits  willkürliche  Einflüsse  Einzelner  und  künstliche  Er- 
findungen, die  an  der  Vervollkommnung  der  Gebärdenmitteilung  im 
Interesse  besonderer  durch  sie  zu  erreichender  Zwecke  arbeiten, 
keineswegs  aus.  Solche  Einflüsse  springen  in  einzelnen  Fällen  deut- 
lich genug  in  die  Augen.  Sie  sind  an  den  Umdeutungen  der  Zei- 
chen zu  erkennen,  die  der  Absicht,  die  Gebärdensprache  zu  einer 
Geheimsprache  zu  machen,  entstammen,  wie  bei  manchen  der  nea- 
politanischen Symbole.  Ebenso  weisen  die  sichtbaren  Entlehnungen 
aus  der  Bilderschrift  und  deren  weitere  symbolische  Umgestaltungen, 
wie  sie  uns  in  den  oben  angeführten  Beispielen  entgegentraten,  auf 


Psychologischer  Charakter  der  Gebärdensprache.  24^ 

ähnliche  Einflüsse  hin.  Man  erinnere  sich  z.  B.  der  verschiedenen 
Umdeutungen  des  Symbols  der  Gerechtigkeit  (Fig.  31  ^,  S.  186)  und 
an  das  Tauschsymbol  mit  seinen  Weiterbildungen  (Fig.  32  ?^  und  n^ 
S.  187).  Motive,  die  solche  künstliche  Übertragungen  hervorbringen, 
und  die  doch  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  nur  auf  willkürliche 
Einfälle  Einzelner  ursprünglich  zurückgeführt  werden  können,  be- 
gleiten von  Anfang  an  die  Entwicklung  der  Gebärdensprache,  und 
es  erhebt  sich  daher  unabweislich  die  Frage  nach  dem  Verhältnis 
dieser  Momente  natürlicher  Entstehung  und  künstlicher  Umbildung 
überhaupt.  Diese  Frage  hängt  aber  wieder  auf  das  engste  mit  der 
andern  zusammen,  welches  in  beiden  Fällen  die  psychischen  Vor- 
gänge seien,  aus  denen  die  äußeren  Wirkungen  entspringen,  und 
in  welchen  Beziehungen  hier  die  generellen,  auf  allgemeingültigen 
psychischen  Gesetzen  beruhenden  Prozesse  zu  den  individuellen,  ur- 
sprünglich auf  ein  einzelnes  Bewußtsein  beschränkten  Motiven  stehen. 
Für  die  Beantwortung  beider  Fragen  bildet  der  Ursprung  aller 
in  den  Zusammenhang  der  natürlichen  Gebärdensprache  eingehen- 
den Zeichen  aus  den  Ausdrucksbewegungen  die  feste  Grund- 
lage, von  der  die  psychologische  Analyse  ausgehen  muß.  Dieses 
Ursprungsgesetz  führt  mit  Notwendigkeit  zu  der  Voraussetzung,  daß 
die  primäre  Ursache  einer  natürlichen  Gebärde  nicht  in  dem  Motiv 
der  Mitteilung  einer  Vorstellung,  sondern  in  dem  des  Aus- 
drucks einer  Gemütsbewegung  liegt.  Die  Gebärde  ist  zunächst 
und  ursprünglich  Affektäußerung.  So  wesentlich  es  für  die  Ge- 
bärdensprache ist,  daß  sie  sich  über  diese  Stufe  allmählich  erhebt, 
so  würde  sie  selbst  doch  ohne  ursprüngliche  Affektmotive  niemals 
entstehen  können.  Nur  sekundär,  insofern  jeder  Affekt  gefühlsstarke 
Vorstellungen  enthält,  wird  die  Gebärde  zugleich  Vorstellungsäuße- 
rung. In  den  weiteren  psychischen  Wirkungen,  die  sich  an  diesen 
Nebenbestandteil  der  Afifektäußerung  knüpfen,  liegt  aber  die  Ur- 
sache für  die  ganze  Weiterentwicklung  zur  eigentlichen  Gebärden- 
sprache. Als  Vorstellungsäußerung  vor  allem  vermag  die  Aus- 
drucksbewegung des  Einen  in  dem  Andern  die  gleichen  Affekte 
wachzurufen,  weil  erst  durch  den  Übergang  übereinstimmender 
Vorstellungen  von  jenem  auf  diesen  auch  eine  Übereinstimmung 
ihrer  Affekte  entstehen  kann.  Die  Gefühlsäußerungen  vermögen 
immer    nur    die    gleichen    Grundrichtungen    der    Gemütsbewegung 

16* 


244  ^^^  Gebärdensprache. 


anzugeben  und  wiederzuerzeugen.  Einen  sichern  Inhalt  gewinnt,  wie 
der  Affekt  selbst,  so  auch  seine  Wiederentstehung  im  Andern  erst 
durch  die  Vorstellungsinhalte  und  durch  die  Bewegungen,  in  denen 
sich  diese  nach  außen  kundgeben.  Mit  der  treueren  VViedererzeu- 
gung  des  Affekts  geht  aber  noch  ein  anderer  Einfluß  der  Vorstel- 
lungsäußerung Hand  in  Hand.  Indem  diese  der  in  dem  Genossen 
entstandenen  Widerspiegelung  der  Gemütsbewegung  ein  festeres 
Substrat  gibt,  regt  sie  weitere  Vorstellungen  an,  die  mit  den  durch 
die  Gebärden  mitgeteilten  in  Beziehung  stehen,  sie  weiterführen 
oder  auch,  wenn  sich  widerstrebende  Affekte  regen,  zu  ihnen  in 
einen  Gegensatz  treten.  Jetzt  ist  daher  die  Gebärde  des  Zweiten 
nicht  mehr  ein  bloßer  Reflex  der  Bewegung  des  Ersten,  sondern 
aus  der  Mitbewegung  ist  eine  Antwortbewegung  geworden. 
Mögen  zunächst  die  Grenzen  zwischen  dieser  und  jener  noch  in- 
einander fließen,  allmählich  müssen  sie  sich,  je  reger  die  Vorstel- 
lungsbewegungen im  individuellen  Be\\aißtsein  werden,  weiter  und 
weiter  entfernen.  War  die  Antwort  zuerst  wenig  mehr  als  eine 
Nacherzeugung  desselben  Vorstellungsinhaltes,  so  tritt  im  weiteren 
Verlaufe  die  Wiederholung  des  Wahrgenommenen  hinter  den  neu 
angesponnenen  Vorstellungsinhalten  zurück.  Auf  diese  Weise  ist 
schließlich  der  individuelle  in  einen  gemeinsamen,  unter  der  fort- 
wirkenden Hin-  und  Herbewegung  der  Gebärden  sich  fortan  ver- 
ändernden Affekt  übergegangen.  Indem  sich  dann  noch  durch  die 
überwiegende  Betonung  der  Vorstellungsinhalte  die  Gefühlselemente 
der  Affekte  und  dadurch  die  Affekte  selbst  ermäßigen,  wird  all- 
mählich der  gemeinsam  erlebte,  mit  der  Gebärdenäußerung  hin-  und 
herwogende  Affekt  zum  gemeinsamen,  im  Wechselverkehre 
der  Gebärdenäußerung  sich  betätigenden  Denken. 

Ihrem  psychologischen  Charakter  nach  sind  somit  die  Bewegun- 
gen, aus  denen  sich  die  ursprünglichen  Gebärden  und  ihre  Über- 
gänge in  eine  mehr  und  mehr  sich  regelnde  Gebärdenmitteilung 
zusammensetzen,  Triebhandlungen,  also  Willenshandlungen,  die 
auf  ein  einziges  Motiv  erfolgen  und  diesem  Motiv  angepaßt  sind, 
aber  ohne  einen  irgend  merklichen  Zusammenstoß  desselben  mit 
weiteren  Motiven  zu  verraten  (vgl.  S.  38  ff).  Insofern  nun  ein  Motiv 
stets  in  einem  Gefühl  mit  entsprechendem  Vorstellungsinhalt  oder,  wie 
wir  es  bei  etwaigem  Übergewicht  des  letzteren  ausdrücken  können, 


Psychologischer  Charakter  der  Gebärdensprache.  245 

in  einer  gefühlsstarken  Vorstellung-  besteht,  wird  auch  bei  der 
Triebhandlung  der  Effekt  in  dem  Vorstellungsinhalt  des  Motivs 
antizipiert.  Die  Hinweisung  auf  die  Objekte  oder  bei  stärkerer 
Affekterregung  deren  Nachbildung  durch  die  eigene  Bewegung  ist 
daher  Affektsymptom  und  Motivsymptom  zugleich:  die  Gebärde 
ist  unmittelbarer  Ausdruck  derjenigen  Vorstellung,  die  den  Affekt 
im  Augenblicke  beherrscht.  Bei  der  ursprünglichen  Ausbreitung 
von  Affektäußerungen  ist  es  dasselbe  Motiv,  das  in  einem  Ersten 
die  Gebärde  erzeugt,  und  das  dann  in  einem  Zweiten  wieder  an- 
klingt, um  den  nämlichen  äußeren  Erfolg  herbeizuführen.  Indem 
aber  jenes  Motiv  in  dem  Zweiten  allmählich  noch  weitere  Motive 
hervorruft,  ändert  sich  entsprechend  die  Gebärdenäußerung.  Auf 
diese  Weise  vollzieht  sich,  immer  noch  in  den  Grenzen  bloßer 
Triebhandlungen,  jener  Übergang  der  Mitbewegung  in  die  Ant- 
wortbewegung, der  der  eigentliche  Geburtsmoment  der  Gebärden- 
sprache ist.  Doch  liegen  allerdings  in  eben  jenen  Veränderungen, 
aus  denen  der  Wechsel  der  Motive  und  ihrer  äußeren  Wirkun- 
gen bei  der  Hin-  und  Herbewegung  der  Gebärden  entsteht,  zu- 
gleich die  Bedingimgen  für  ein  allmählich  hervortretendes  will- 
kürliches Handeln,  das  nun  an  entscheidenden  Stellen  in  den  Ver- 
lauf der  Triebbewegungen  einzugreifen  und  seine  weitere  Richtung 
zu  bestimmen  pflegt.  Denn  sobald  die  von  außen  aufgenommene 
Vorstellung  andere  Vorstellungen  wachruft,  müssen  diese  nach  den 
besonderen  Vorbedingungen  des  individuellen  Bewußtseins  variieren. 
Zudem  können  sich  jetzt  mehrere  Assoziationswirkungen  gleich- 
zeitig geltend  machen,  indem  der  Eindruck  nach  verschiedenen 
Richtungen  hin  assoziative  Beziehungen  darbietet.  So  wiederholen 
sich  hier  die  nämlichen  Momente,  welche  die  Willensentwicklung 
überall  zeigt.  Zuerst  entsteht  ein  passiv  erlebter  Kampf  der  Motive, 
der  mit  dem  Übergewicht  eines  bestimmten  Motivs  endigt.  Dieser 
Kampf  gestaltet  sich  dann,  indem  in  wachsendem  Maße  die  Vor- 
erlebnisse auf  den  gerade  ablaufenden  Prozeß  einwirken,  zu  einem 
Vorgang  der  Wahl  oder  der  aktiven  Bevorzugung  des  herrschend 
gewordenen  Motivs,  der  sich  von  jenem  passiv  erlebten  Kampf  der 
Motive  subjektiv  nur  durch  die  stärkere  Beteiligung  von  Aufmerk- 
samkeitsvorgängen und  Tätigkeitsgefühlen  unterscheidet.  In  glei- 
chem   Maße    beginnen  sich    dann  die   Assoziationen  zu   deutlichen 


246  I^ic  Gebärdensprache. 


intellektuellen  Prozessen  zu  ordnen:  bewußte  Beziehungen  und  Ver- 
gleichungen  treten  hervor.  Es  gestaltet  sich  so  allmählich  aus  jener 
triebartigen  Aufnahme,  Wiederholung  und  Umänderung  der  Ge- 
bärden eine  reflektierende  und  in  entscheidenden  Momenten  er- 
finderische Verwendung  und  Umwandlung  derselben. 

So  kann  man  denn  schon  von  der  Gebärdensprache,  dieser  un- 
vollkommensten,  aber  eben  wegen  ihrer  UnvoUkommenheit  für  die 
allgemeinsten  Probleme  vielleicht  lehrreichsten  Form  der  Sprache, 
sagen,  sie  repräsentiere  in  ihrer  Bildung  alle  Entwicklungsstufen,  die 
das  geistige  Leben  des  Menschen  überhaupt  zurücklegt.  Darum 
ist  es  aber  auch  nicht  möglich,  sie  auf  eine  einfache  psychologische 
Formel  zurückzuführen.  Die  Sprache,  und  so  auch  bereits  die 
Gebärdensprache,  ist  ein  treuer  Abdruck  des  Menschen  in  der  Ge- 
samtheit seiner  psychischen  Leistungen.  Ihre  Entwicklung  fällt  mit 
der  Entwicklung  dieser  Leistungen  zusammen.  Das  Grundgesetz 
aller  geistigen  Entwicklung,  wonach  das  Folgende  ganz  und  gar  aus 
dem  Vorangegangenen  entsteht  und  dennoch  ihm  gegenüber  als 
eine  neue  Schöpfung  erscheint,  dieses  Gesetz  der  »psychischen  Re- 
sultanten« oder  der  »schöpferischen  Synthese«  bewährt  sich  auch 
Schritt  für  Schritt  in  der  Aufeinanderfolge  der  seelischen  Vor- 
gänge, aus  denen  sich  die  Entwicklung  der  Gebärdensprache  zu- 
sammensetzt. Jede  Stufe  dieser  Entwicklung  ist  im  Keime  schon 
in  der  vorangegangenen  enthalten  und  ist  doch  ihr  gegenüber  ein 
Neues.  So  ist  die  Antwortgebärde  ein  gewaltiger  Schritt  nach  vor- 
wärts gegenüber  der  bloßen  Nachahmung,  und  doch  ist  sie,  wie 
wir  annehmen  dürfen,  aus  dieser  ohne  irgendein  Hereinragen 
fremdartiger  Kräfte,  rein  durch  die  Steigerung  der  dort  schon  wirk- 
samen elementaren  psychischen  Bedingungen  entstanden.  Nicht 
anders  leitet  die  triebartige  Reaktion  auf  äußere  Eindrücke  in  ein 
willkürliches,  besonnenes  Handeln,  und  dieses  endlich  in  das  Gebiet 
erfinderischer  Leistungen  über.  Hierbei  greifen  nur  mehr  und  mehr 
wegen  der  sich  steigernden  Mannigfaltigkeit  singulärer  Bedingungen 
auch  die  Handlungen  Einzelner  maßgebend  in  das  Getriebe  der 
allgemeinen  psychischen  Wirkungen  ein.  In  dieser  ganzen  Ent- 
wicklung erblicken  wir  überall  nur  ein  den  Ereignissen  selbst  im- 
manentes Fortschreiten  über  die  erreichten  Grenzen,  nirgends  ein 
Hereingreifen  äußerer,  fremdartiger  Kräfte,  nirgends  ein  Hervortreten 


Psychologischer  Charakter  der  Gebärdensprache.  247 

neuer  spezifischer  »Seelenvermögen«.  Was  wir  besonnene  Wahl 
zwischen  verschiedenen  Motiven  und  erfinderische  Tätigkeit  nennen, 
das  ist  eben  selbst  nur  die  höchste  Steigerung  und  zugleich  der  not- 
wendige Enderfolg  der  Wirkung  ursprünglichster  einfacher  Triebe 
und  der  zu  diesen  hinzukommenden,  vor  allem  durch  das  gemein- 
same Leben  gebotenen  Bedingungen.  In  diesem  naturnotwendigen 
und  doch  durch  und  durch  zwecktätigen,  von  den  vorhandenen 
zu  neuen  und  voUkommneren  Zwecken  aufsteigenden  Fortschritt 
liefert  die  Gebärdensprache  ein  Beispiel  der  Sprachentwicklung  über- 
haupt, ausgezeichnet  durch  die  Einfachheit  und  Durchsichtigkeit  der 
Erscheinungen. 


Drittes  Kapitel. 
Die  Sprachlaute. 

I.  stimmlaute  im  Tierreich. 

I.   Stimmlaute  als  Ausdrucksbewegungen. 

Der  Sprachlaut  ist  physiologisch  betrachtet  eine  Ausdrucks- 
bewegung, vor  andern  ausgezeichnet  durch  die  Beteiligung  der 
muskulösen  Tonapparate  des  Kehlkopfes  und  der  Mundhöhle  so- 
wie der  respiratorischen  Muskeln,  die  das  Anblasen  dieser  Ton- 
apparate vermitteln.  Die  besonderen  Muskelwirkungen,  die  dem  so 
erzeugten  Schall  jene  mannigfaltigen  Klang-  und  Geräuschquali- 
täten verleihen,  durch  die  er  seine  Eigentümlichkeit  als  Sprachlaut 
gewinnt,  gehören  im  weiteren  Sinne  dem  Gebiet  der  mimischen 
Bewegungen  an.  Vor  den  stummen  Gefühlssymptomen,  deren 
Hauptsitz  die  Mimik  des  Angesichts  ist,  zeichnen  sich  diese  die 
Sprachlaute  begleitenden  mimischen  Bewegungen  nur  dadurch  aus, 
daß  an  ihnen  neben  den  äußeren  innere  Bewegungen  der  in 
Mundhöhle  und  Rachen  gelegenen  Muskeln  beteiligt  sind,  allen 
voran  das  durch  feinste  Beweglichkeit  und  Tastempfindlichkeit  aus- 
gezeichnete muskulöse  Organ:  die  Zunge.  Die  Beziehung  ihrer 
mannigfaltigen  Stellungen  und  Bewegungen  zu  den  verschiedenen 
Sprachlauten  hat  sich  der  Beobachtung  so  frühe  schon  aufgedrängt, 
daß  in  vielen  Sprachen  die  Bezeichnung  der  Zunge  ohne  weiteres 
auf  die  Sprache  selbst  übergegangen  ist  {lingna,  yXtoGaa,  hebr. 
laschon  usw.). 

Als  die  Vorstufen  der  Sprachlaute  sind  hiernach  alle  jene  tie- 
rischen Lautäußerungen  anzusehen,  die  durch  ähnliche  respiratorisch 
erregte  Tonwerkzeuge  hervorgebracht  werden  und  ebenfalls  die 
psychophysische  Bedeutung  von  Ausdrucksbewegungen  besitzen.    So 


Stimmlaute  als  Ausdrucksbewegungen.  240 

die  Schreie  und  Lockrufe  vieler  Tiere  aus  der  Klasse  der  Amphibien, 
wie  der  Frösche,  Kröten,  Krokodile,  Schildkröten,  namentlich  aber 
der  Vögel  und  Säugetiere,  während  andere  Geräuschbildungen  im 
Tierreich,  wie  das  Geräusch  der  Klapperschlangen,  die  Laute 
mancher  Fische,  die  das  Ausströmen  der  Luft  aus  der  Schwimm- 
blase begleiten,  endlich  die  Geräusche  vieler  Insekten,  die  durch 
die  schwingenden  Bewegungen  der  Flügel  oder  durch  das  An- 
einanderreihen horniger  Teile  des  Hautskeletts  entstehen,  weder 
nach  ihren  physiologischen  Bedingungen  noch  wahrscheinlich  nach 
ihrer  psychologischen  Funktion  hierher  gehören.  Mindestens  ist  es 
zweifelhaft,  oh  sie  direkte  Symptome  von  Gefühlen  sind  und  nicht 
bloß  zufallig,  infolge  der  durch  Affekte  erregten  Körper-  und  Flug- 
bewegungen, solche  begleiten  können.  Dies  aber  kennzeichnet  gerade 
alle  mit  respiratorischen  Tonapparaten  erzeugten  Schreie  und  Rufe 
der  Tiere  und  läßt  sie  zugleich  als  Vorstufen  der  Sprachlaute  er- 
scheinen, daß  sie  unmittelbare  Ausdrucksmittel  psychischer 
Zustände  sind,  vor  andern  durch  die  doppelte  Eigenschaft  aus- 
gezeichnet, daß  die  erzeugten  Laute  durch  den  Eindruck  auf  das 
Gehör  des  rufenden  Tieres  eine  energischere  Entladung  der  Gefühle 
bewirken,  und  daß  sie  in  andern  Tieren  der  gleichen  Art  ähnliche 
Gefühle  erwecken  können.  Dabei  gilt  für  sie  dasselbe,  was  für 
die  Ausdrucksbewegungen  überhaupt  gilt:  nicht  die  objektive  Be- 
deutung ist  die  primäre,  sondern  die  subjektive.  Da  die  respirato- 
rischen Symptome  bei  den  heftigeren  Affekten  an  und  für  sich 
schon  stärker  hervortreten,  so  ist  die  Lautäußerung  zunächst  nur 
eine  weitere  Steigerung  der  allgemeinen  Affektwirkung;  und  da  in 
allen  Fällen  die  Empfindungen,  welche  die  Ausdrucksbewegungen 
begleiten,  durch  ihren  unmittelbaren  sinnlichen  Gefühlston  die  Affekte 
selbst  steigern,  so  liegt  auch  die  Lautwirkung  auf  das  eigene  Ohr 
noch  innerhalb  der  Grenzen  der  allgemeingültigen  Affektvorgänge. 
Nur  gewinnt  dieser  sonst  zurücktretende  Bestandteil  hier  sofort  eine 
vorherrschende  Bedeutung. 

Jene  subjektiven  Motive  der  Affekte  und  ihrer  Ausdrucksformen 
finden  nun  aber  in  dem  Zusammenleben  der  Tiere  weitere  Be- 
dingungen vor,  die  auf  die  ursprünglichen  Gefühlsmotive  verändernd 
und  erweiternd  zurückwirken.  Wie  die  Ausdrucksbewegung  über- 
haupt   zuerst    ein    triebartig,    dann    aber    in    einzelnen    Momenten 


250  Die  Sprachlaute. 


willkürlich  gebrauchtes  Ausdrucksmittel  ist,  so  ent^^•ickelt  sich  der 
ursprüngliche  Gefühlslaut  zum  Ruflaut  und  Locklaut.  Auch  diese 
bleiben  fortan  vorherrschend  Gefühlsäußerungen.  Die  Hilfe-  und 
Lockrufe  der  Tiere  entstehen  nicht  bloß  ursprünglich  ohne  Bewußt- 
sein der  Zwecke,  denen  sie  künftig  dienen  können,  sondern  sie 
werden  auch,  nachdem  sie  zu  Hilfsmitteln  der  Mitteilung  geworden 
sind,  immer  noch  in  vielen  Fällen,  ganz  wie  andere  Ausdrucks- 
bewegungen, ohne  einen  solchen  Zweck  hervorgebracht.  Die  ur- 
sprünglichsten Gefühlsäußerungen  durch  die  Stimme  sind  daher  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  rein  subjektive  Gefühlslaute,  die  nur  auf  die 
stärksten,  schmerzerregenden  Sinnesreize  eintreten.  Unter  diesen 
sind  im  wilden  Zustand  der  Tiere  die  mit  heftigstem  Unlustgefühl 
verbundenen  Hungerempfindungen  die  häufigsten;  und  an  das  den 
Hunger  ausdrückende  Wehgeheul  schließen  sich  dann  in  natürlicher 
Assoziation  Lautäußerungen  an,  die  die  Verfolgung  und  Bewältigung 
der  Beutetiere,  endlich  solche,  die  den  Kampf  um  die  Beute  be- 
gleiten, —  Übertragungen,  bei  denen  sich  zugleich  die  Art  der  Laute 
nach  den  veränderten  Bedingungen,  die  fLir  die  Gefühle  und  ihre 
Äußerungen  entstehen,  von  selbst  modifiziert.  Der  Schmerzens- 
schrei  und  der  Wutschrei  werden  aber  auch  um  deswillen  als  die 
ursprünglichsten  Stimmäußerungen  gelten  müssen,  weil  sie  noch  jetzt 
die  allgemeinsten  sind.  Viele  Nagetiere,  wie  der  Hase,  der  Maul- 
wurf, das  Eichhörnchen,  verhalten  sich  in  der  Regel  stumm,  nur 
heftige  Sinnesreize  oder  die  äußerste  Angst  entlocken  ihnen  einen 
durchdringenden  Schmerzenschrei.  Dazu  gesellt  sich  dann,  nament- 
lich bei  den  wild  lebenden  Karnivoren,  als  eine  eigentümliche  Dauer- 
form des  Schmerzensschreis  das  Wehgeheul  des  Hungers,  und  end- 
lich, wahrscheinlich  aus  diesem  entstanden,  der  Wutschrei.  Mit  der 
Ermäßigung  der  Affekte  mildern  sich  auch  hier  die  Affektäußerungen, 
und  es  gewinnen  so  die  Stimmlaute  zugleich  feinere  Nuancen, 
durch  die  sie  mannigfaltigere  Lust-  wie  Unlustgefühle  verraten. 
Unter  ihnen  werden  jene  Gefühlslaute,  die  die  Liebeswerbung  be- 
gleiten, sichtlich  in  vielen  Fällen  für  die  reichere  Entwicklung  der 
Lautäußerungen  von  hervorragender  Bedeutung.  Dies  zeigen  vor 
allem  die  Bedingungen,  unter  denen  die  Singvögel  ihre  Lockrufe 
ertönen  lassen,  wie  denn  auch  die  Tatsache,  daß  vorzugsweise  die 
männlichen  Vögel   mit  Gesangsmitteln  ausgestattet  sind,    deutlich 


Stimmlaute  als  Ausdrucksbewegungen.  2  =)  I 

auf  diesen  Zusammenhang  hinweist").  Doch  ist  der  Vogelgesang 
schon  eine  verhältnismäßig  hochstehende,  auf  eine  kleine  Gruppe 
von  Tieren  beschränkte  Gefühlsäußerung,  und  die  Bedingungen  seines 
Vorkommens  machen  es  wahrscheinlich,  daß  er  sich  aus  roheren 
Formen  der  Lautäußerung,  vielleicht  aus  dem  Wutgeschrei  der  in 
der  Paarungszeit  miteinander  kämpfenden  männlichen  Tiere,  ent- 
wickelt hat.  Nachdem  jene  Form  der  Ausdruckslaute  entstanden 
war,  mußte  sie  sich  aber,  gemäß  dem  allgemeinen  Prinzip  der  Über- 
tragung der  Ausdrucksbewegungen,  alsbald  auf  andere  Affekte  von 
verwandtem  Gefühlston  ausbreiten.  Mag  darum  der  Gesang  des 
männlichen  Singvogels  in  vielen  Fällen  Lockruf  bleiben,  seine  all- 
gemeine Bedeutung  ist  dies  jedenfalls  nicht  mehr,  sondern  er  ist, 
ähnlich  den  fortwährenden  zwecklosen  Flug-  und  sonstigen  Körper- 
bewegungen der  meisten  kleineren  Vögel,  zu  einem  allgemeinen  Aus- 
drucksmittel heiterer  Gefühle  geworden.  Bei  dieser  ganzen  Ent- 
wicklung spielen  objektive  Zweckmotive,  wie  sie  von  Anfang  an 
fehlen,  so  auch  im  weiteren  Fortgang  keine  wesentliche  Rolle.  Viel- 
mehr sind  die  subjektiven,  ohne  Willen  und  Absicht  hervorgebrach- 
ten Gefühlslaute,  wie  die  verbreitetsten,  so  überall  die  ursprünglichsten, 
und  sie  behalten  fortwährend  das  Übergewicht,  wenn  sie  auch  all- 
mählich in  einzelnen  Fällen  von  willkürlichen  Handlungen  abgelöst 
werden,  die  sich  der  vorhandenen  Ausdrucksmittel  bemächtigen. 
Vor  allem  mußten  diese  bereits  vorhanden  sein,  ehe  sie  in  den  Dienst 
der  geselligen  Triebe  treten  konnten.  Noch  jetzt  sind  in  der  Tier- 
reihe das  heftige  Schmerzgefühl  und  der  Affekt  der  Wut  die  beiden 
Seelenzustände,  die  sich  allgemein  und  mit  unwiderstehlicher  Gewalt 
in  Lauten  äußern.  Infolge  der  Differenzierung  der  Gefühle,  die  mit 
zunehmender  psychischer  Entwicklung  eintrat,  sind  aber  diese  Laut- 
äußerungen allmählich  auf  andere  Gemütszustände  übergegangen. 
Dabei  wurden  sie  dann  teils  abgeschwächt,  teils  abgeändert,  teils 
verbanden  sie  sich  mit  mannigfachen  Vorstellungsinhalten  und  Willens- 
richtungen, so  daß  schließlich  die  vollkommneren  dieser  Ausdrucks- 
laute, die  Hilfe-  und  Lockrufe,  bereits  als  eine  Art  Vorstufe  der 
Sprache  betrachtet  werden  können.  Doch  sollte  man  hier  unter 
Hilfe-  und  Lockrufen  nur  solche  Laute  verstehen,   die  unmittelbare 


^)  Darwin,  Abstammung  des  Menschen.   Deutsch  von  J.  V.  Carus,  1871,  II,  S.  43ff. 


»52  Die  Sprachlaute. 


Äußerungen  sozialer  Triebe  sind,  und  mit  denen  sich  daher  direkt 
das  Begehren  nach  Hilfe  oder  nach  Herbeilockung  anderer,  nament- 
lich der  weiblichen  Tiere  verbindet.  Diese  Grenzen  pflegt  man,  wie 
überall  bei  der  Beurteilung  tierischer  Lebensäußerungen,  nicht  immer 
einzuhalten,  sondern  man  ist  geneigt,  jeder  Handlung,  die  geeignet 
ist,  einen  bestimmten  Erfolg  herbeizuführen,  auch  sofort  die  Vor- 
stellung dieses  Erfolges  unterzuschieben. 

2.   Allgemeine  Entwicklung  der  Ausdruckslaute. 

Der  Ausgangspunkt  aller  Äußerung  tierischer  Stimmlaute  ist 
demnach  der  Schrei,  der  in  seiner  Qualität  wie  Intensität  nur  un- 
erhebliche Modifikationen  darbietet.  Denn  Schmerz  und  Wut,  die 
beiden  einzigen  Affekte,  die  sich  auf  dieser  ersten  Stufe  mit  Laut- 
äußerungen verbinden,  sind  beide  heftige  Unlustregungen.  Der  so 
unter  stärkstem  Exspirationsdruck  in  den  gespannten  Stimmbändern 
erzeugte,  dem  weit  geöffneten  Rachen  entweichende  Schrei  ist  nach 
seinem  musikalischen  Charakter  ein  von  starken  dissonanten  Neben- 
tönen begleiteter,  also  geräuschähnlicher  Klang.  Er  ist  je  nach 
den  Dimensionen  des  Stimmorgans  von  verschiedener,  aber  bei 
einem  und  demselben  Tiere  nahezu  gleichbleibender  Tonlage.  Diese 
variiert  nur  etwas  nach  der  Intensität  des  Affekts,  da  der  stärkere 
Affekt  eine  Steigerung  des  Atemdrucks  und  der  Stimmbänder- 
spannung und  dadurch  eine  Erhöhung  der  Tonlage  bewirkt.  Gemäß 
den  allgemeinen  Gesetzen  des  Verlaufs  der  Affekte  steigt  dabei  die 
Tonhöhe  zuerst  mehr  oder  weniger  rasch  an,  um  dann  wieder  ab- 
zufallen. Außerdem  zeigt  sie  zuweilen,  namentlich  bei  der  Form  der 
Zorn-  und  Wutafifekte,  einen  intermittierenden,  mehrmals  auf  und 
absteigenden  Rhythmus.  So  spiegelt  sich  der  Verlauf  des  Affekts 
genau  in  den  Veränderungen  der  Tonhöhe  und  Tonstärke  oder  in 
dem  abwechselnden  crescendo  und  decrescendo  der  Lautäußerungen. 
Der  Stimmlaut  selbst  bleibt  aber  lediglich  ein  Symptom  der  Ent- 
ladung starker  Gefühle. 

Dies  wird  anders  auf  der  zweiten  dieser  Stufen.  Zu  dem 
Schmerz-  und  Wutschrei  treten  nun  Lautäußerungen  mäßiger 
Affekte.  Der  Übergang  zu  diesen  hängt  nicht  oder  wenigstens 
nicht  in  erster  Linie  von   der   zunehmenden  psychischen  Entwick- 


Allgemeine  Entwicklung  der  Ausdruckslaute.  253 

lung,  sondern  hauptsächlich,  wie  es  scheint,  von  der  Lebensweise 
der  Tiere  ab,  da  bei  den  in  Schwärmen  oder  Familien  lebenden 
diese  Weiterbildung  eher  als  bei  den  solitär  lebenden  beobachtet 
wird.  Schon  dies  spricht  dafür,  daß  es  die  unter  dem  Einfluß 
des  Zusammenlebens  erfolgende  Ermäßigung  der  Schmerz-  und 
Wutlaute  zu  Hilfe-  und  Lockrufen  ist,  die  den  Übergang  vermittelt. 
Dabei  zeigt  sich  aber  zugleich,  daß  diese  Ermäßigung,  einmal  ein- 
getreten, nicht  auf  die  sie  zuerst  hervorbringenden  Triebäußerungen 
beschränkt  bleibt,  sondern  daß  nun  teils  schwächere  Unlust- 
affekte, die  auf  der  ersten  Stufe  noch  keine  Stimmreaktionen  zur 
Folge  haben,  teils  Lustaffekte  mannigfachen  Inhalts  zu  Grund- 
lagen der  ermäßigten  Lautäußerungen  werden  können.  Hier  hängt 
es  dann  ganz  von  dem  Temperament  der  Tiere  ab,  ob  die  eine 
oder  andere  Affektrichtung  mehr  hervortritt.  In  vielen  Fällen  be- 
stehen die  Lautreaktionen  schwacher  Affekte  in  einer  einfachen 
Abnahme  der  ursprünglichen  Schreilaute.  Bei  schwächerem  Respi- 
rationsdruck und  geringerer  Spannung  der  Stimmbänder  werden 
Laute  erzeugt,  die  sich  im  wesentlichen  nur  durch  ihre  verminderte 
Intensität  und  durch  ihre  tiefere  Tonlage  unterscheiden.  Unterstützt 
wird  diese  Veränderung  des  Klangcharakters  außerdem  dadurch, 
daß  die  Mundhöhle  weniger  geöffnet  wird,  weshalb  die  in  dem 
Stimmton  enthaltenen  hohen,  scharf  dissonierenden  Obertöne  ge- 
schwächt werden,  zugleich  jedoch  gewisse  Verschlußgeräusche  im 
Ansatzrohr  des  Stimmorgans  entstehen  können,  die  den  Laut  eben- 
falls qualitativ  abändern.  Charakteristische  und  bekannte  Beispiele 
dieser  Klangmodifikationen  sind  das  Blöken  der  Schafe,  das  Grunzen 
der  Schweine,  das  Schnattern  der  Gänse,  das  Gackern  der  Hühner  usw. 
Zugleich  bemerkt  man  in  den  meisten  dieser  Fälle  eine  Verände- 
rung des  zeitlichen  Verlaufs  der  Lautäußerungen.  Da  schwache 
Affekte,  namentlich  Lustaffekte,  durchweg  mehr  den  Charakter  dau- 
ernder Stimmungen  als  momentaner  Affektanfälle  haben,  so  ver- 
teilen sich  auch  die  Lautäußerungen  über  eine  längere  Zeit:  sie 
bestehen  in  der  Regel  in  mehreren  rhythmisch  sich  wiederholenden 
Tonstößen,  in  deren  Tempo  sich  zumeist  das  stationäre  Tempera- 
ment der  Tiere,  zuweilen  aber  auch  in  einem  gewissen  Grade  die 
momentane  Temperamentslage  spiegelt.  Vergleicht  man  z.  B.  das 
unruhig    hastige    Gackern    der    Hühner    mit    dem    phlegmatischen 


2  54  ^^^  Sprachlaute. 


Blöken  der  Schafe  oder  dem  lang  gezogenen,  in  großen  Pausen 
sich  wiederholenden  Brüllen  einer  Kuhherde,  so  fallen  diese  Unter- 
schiede sofort  auf.  Auch  zeigt  sich  hierbei,  daß  es  besonders  die 
temperamentvolleren  Tiere  sind,  bei  denen  nun  innerhalb  der  Laut- 
äußerungen der  Lustaffekte  mannigfachere  Abstufungen  vorkommen. 
Die  ruhig  zufriedene  Stimmung  äußert  sich  in  einem  langsameren 
Rhythmus  und  in  gedämpfteren  Lauten,  als  die  aufgeregte  Freude 
oder  das  heftige  Verlangen.  So  entwickeln  sich  in  einzelnen  Fällen 
besondere  intensive  Freudelaute,  die  entweder  bloß  durch  eigen- 
tümliche Nuancen  des  Ausdrucks  von  den  Schmerz-  und  Wutaus- 
brüchen der  gleichen  Tiere  verschieden  sind,  wie  das  vergnügte 
Bellen  des  Hundes,  das  freudige  Geschnatter  einer  auf  ihr  Futter 
losstürzenden  Entenschar,  oder  die  sich  zu  besonderen  lauten  Ruf- 
formen ausbilden,  wie  das  Krähen  des  Hahns. 

Diese  Erscheinungen  stehen  bereits  auf  der  Schwelle  zu  den 
Lautäußerungen  der  dritten  Stufe.  Sie  ist  dadurch  gekennzeichnet, 
daß  sich  zwei  völlig  verschiedene  Arten  von  Stimmlauten 
ausbilden,  von  denen  die  eine  den  Schreilauten  der  ersten  Stufe 
entspricht  und  gleich  diesen  als  Ausdrucksmittel  stärkster  Affekte 
erhalten  bleibt,  während  die  zweite,  höhere  Form  zum  feiner  nuan- 
cierten Ausdruck  schwächerer  Gefühle  wird.  Dabei  überwiegen  zu- 
gleich unter  diesen  die  Lustgefühle,  daher  mäßige  Unluststimmungen 
sogar  in  der  Regel  nur  daran  kenntlich  sind,  daß  die  gewohnheits- 
mäßige Lustäußerung  auf  einen  gedämpfteren  Ton  und  auf  ein 
langsameres  Tempo  herabgestimmt  ist.  Bezeichnen  wir  um  der 
Unterscheidung  willen  sowie  mit  Rücksicht  darauf,  daß  diese  feiner 
nuancierten  Lautäußerungen  im  allgemeinen  in  höherem  Grade  den 
Toncharakter  an  sich  tragen,  die  Ausdruckslaute  der  ersten  und 
zweiten  Stufe  als  Schreilaute,  die  der  dritten  als  Tonlaute,  so 
sind  demnach  die  Schreilaute  das  Ursprüngliche  und  zugleich  das 
Bleibende,  das  bei  sehr  verschiedenen  Tierarten  nur  geringe  Unter- 
schiede zeigt;  die  Tonlaute  sind  das  hoher  Entwickelte  und  VoU- 
kommnere,  das  nicht  nur  von  einer  Spezies  zur  andern,  sondern 
selbst  von  einem  Individuum  zum  andern  und  von  einem  Affekt 
zum  andern  variiert.  Dieser  höheren  Stufe  entspricht  es  zugleich, 
daß  die  Tonlaute  wieder  in  zwei  verschiedenen  Formen  vorkommen: 
als  Tonmodulation   und  als  Lautartikulation.     Beide   weichen 


Tonmodulationen  als  Ausdrucksformen  bei  Tieren. 


255 


sowohl  in  den  physiologischen  Hilfsmitteln  ihrer  Bildung  wie  in 
ihrer  subjektiven  und  objektiven  psychophysischen  Wirkung  wesent- 
lich voneinander  ab.  Dennoch  sind  sie  keineswegs  Ausdrucksmittel, 
die  einander  ausschließen.  Vielmehr  besteht  in  vielen  Fällen  neben 
der  Tonmodulation  auch  eine  gewisse  Fähigkeit  der  Lautartikulation ; 
namentlich  aber  ist,  wo  die  Ausbildung  der  feineren  Gefühlssprache 
in  der  Richtung  der  Lautartikulation  erfolgt  ist,  mit  dieser  stets 
auch  eine  Tonmodulation  verbunden.  Darin  dokumentiert  sich  unter 
diesen  beiden  Formen  wieder  die  der  Lautartikulation  als  die  höhere 
Stufe. 


3.   Tonmodulationen  als  Ausdrucksformen  bei  Tieren. 

Die  Tonmodulation  der  Stimmlaute  ist,  wenn  man  die  unvoU- 
kommneren  Anfänge  und  die  Übergänge  zwischen  Schrei  und  Ton- 
laut hinzunimmt,  weit  verbreitet  im  Tierreich.  Beschränkt  man  sich 
aber  auf  die  deutlicheren  Tonbildungen,  so  lassen  sich  namendich 
manche  Ausdruckslaute  unserer  intelligenteren  Haustiere  hierher 
zählen.  Man  denke  z.  B.  an  die  mannigfachen  Modulationen  im 
Bellen  und  Heulen  des  Hundes,  an  das  zornige  und  das  fröhliche 
Bellen  oder,  bei  mäßigeren  Affekten,  an  das  unmutige  und  das 
heitere,  von  einzelnen  jauchzenden  Gefühlsausbrüchen  unterbrochene 
Knurren,  ferner  an  das  laute  Schmerzgeheul  und  das  manchmal 
ganz  in  melodischen  Tongefällen  sich  bewegende  wehmutsvolle 
Heulen  beim  Anhören  von  Musik.  Noch  mehr  scheinen  manche 
Affenarten,  besonders  der  Gibbon  und  der  amerikanische  Brüllaffe 
(Mycetes),  über  eine  verhältnismäßig  reiche  Tonmodulation  zu  ver- 
fügen; doch  scheint  es  nicht,  daß  sich  gerade  bei  diesen  menschen- 
ähnlichen Tieren  eine  solche  Tonmodulation  jemals  in  regelmäßigen 
musikalischen  Intervallen  bewegt').  Weit  in  den  Schatten  gestellt 
werden  aber  diese  Erscheinungen  durch  die  Stimmlaute  der  Sing- 
vögel.    Bei  ihnen  sitzt   der  im  übrigen  dem  Kehlkopf  der  Säuge- 


^)  Letzteres  ist  allerdings  speziell  vom  Gibbon  behauptet  worden.  Die  nicht 
auf  eigene  Beobachtung  gegründete  Nachricht  Darwins  (Abstammung  des  Menschen, 
n,  S.  291)  über  den  Gesang  dieses  Affen  erweist  sich  jedoch  bei  näherer  Nach- 
forschung als  unzuverlässig.  (Vgl.  darüber:  Sprachgeschichte  und  Sprachpsychologie, 
S.  96  i.) 


256  Die  Sprachlaute. 


tiere  analog  gebaute  Tonapparat  an  der  Stelle,  wo  sich  die  Luft- 
röhre in  die  beiden  Bronchien  gabelt  (im  unteren  Kehlkopf),  eine 
Einrichtung,  die  wahrscheinlich  mit  dem  spezifisch  musikalischen 
Charakter  des  Singtons  der  Vögel  zusammenhängt.  Indem  nämlich 
hier  die  Luftröhre  ein  Ansatzrohr  von  regelmäßigen  und  unveränder- 
lichen Dimensionen  bildet,  analog  wie  bei  unseren  Blasinstrumenten 
mit  konstantem  Ansatzrohr,  hat  der  Stimmapparat  eine  vorwaltend 
musikalische,  zur  Erzeugung  von  Tonmodulationen  geeignete  Be- 
schaffenheit, während  bei  dem  Stimmorgan  des  Menschen  und  der 
Säugetiere  die  Rachen-  und  Mundhöhle  ein  Ansatzrohr  von  sehr 
veränderlichen  Dimensionen  darstellt,  das  eben  deshalb  in  hohem 
Grade  der  Bildung  von  Lautartikulationen  fähig  ist.  Dieser  Aus- 
bildung der  äußeren  Tonapparate  in  der  Klasse  der  Vögel  geht 
offenbar  die  der  zentralen  Gebiete  des  Gehörssinnes  und  der  mit 
ihnen  zusammenhängenden  Innervationsherde  der  Stimmbewegungen 
parallel.  Sie  äußert  sich  in  der  Neigung  vieler  Vögel,  gehörte  Laute 
nachzuahmen,  besonders  aber  in  der  Eigenschaft  mancher  Sing- 
vögel, die  Singtöne  in  harmonischen  Intervallen  aneinanderzureihen. 
Die  erste  dieser  Erscheinungen,  die  Nachahmung  von  Lauten, 
kommt  wieder  in  doppelter  Form  vor:  in  der  Nachahmung  der 
Tonmodulationen  anderer  Vögel,  und  in  der  Nachahmung  von 
Lautartikulationen,  besonders  auch  menschlicher  Sprachlaute,  bei 
den  Papageien,  Staren,  Krähen,  Drosseln  u.  a.  Bei  einzelnen  dieser 
Tiere,  wie  der  Drossel,  sind  beide  Nachahmungstalente  in  einem 
gewissen  Grade  vereinigt.  Im  allgemeinen  sind  es  jedoch  vorzugs- 
weise Schreivögel  mit  sehr  geringer  Fähigkeit  der  Tonmodulation, 
die  es  zu  einer  deutlich  artikulierten  Sprache  bringen.  Dies  hängt 
wohl  damit  zusammen,  daß  jene  Beweglichkeit  der  Zunge,  die  der 
Lautartikulation  ihre  Dienste  leistet,  besonders  bei  den  Schreivögeln 
vorkommt. 

Die  musikalische  Anlage  der  Singvögel  ist  hauptsächlich  in  der 
zweiten  der  obenerwähnten  Eigenschaften,  in  der  Verbindung  der 
Töne  zu  harmonischen  Tonfolgen  zu  erkennen.  Da  Tonmodulation 
und  Lautartikulation  immer  verbunden  sind,  so  lassen  sie  sich  auch 
bei  dem  Anhören  der  Singweise  irgendeines  Vogels  stets  neben- 
einander wahrnehmen.  Zwischen  dem  menschlichen  Kunstgesang 
und  dem  natürlichen  Vogelgesang  besteht  in  dieser  Beziehung,  wenn 


Tonmodulationen  als  Ausdrucksformen  bei  Tieren. 


257 


man  von  der  sprachlichen  Bedeutung  der  menschlichen  Laute  ab- 
sieht, der  Unterschied  bloß  darin,  daß  der  Vogel  über  eine  gerin- 
gere Zahl  von  Lauten  verfügt,  und  daß  sich  diese  in  einer  höchst 
einförmigen  Weise  wiederholen.  Auch  ist  die  Lautartikulation  meist 
sehr  viel  undeutlicher,  ein  Umstand,  der  es  schwierig  macht,  sie  in 
unseren  Lautzeichen  wiederzugeben;  nicht  bloß  deshalb,  weil  die 
gehörten  Laute  nur  selten  genau  mit  den  Lautbedeutungen  unserer 
Zeichen  übereinstimmen,  sondern  mehr  noch,  weil  wir  überall  ge- 
neigt sind,  in  das  undeutlich  Gehörte  irgendwelche  ähnliche  Laute 
hineinzuhören.  Gerade  die  Auffassung  des  Vogelgesangs  bietet 
daher  einen  auffallenden  Beleg  für  jenes  Spiel  psychischer  Assimila- 
tionen, das  wir  auch  bei  den  Lautassimilationen  der  Sprache  kennen 
lernen  werden^).  Man  kann  sich  davon  leicht  überzeugen,  wenn 
man  sich  vornimmt,  in  den  Schlag  eines  und  desselben  Singvogels 
verschiedene  Laute  hineinzuhören,  ein  Versuch,  der  in  ziemlich 
weitem  Umfange  zu  gelingen  pflegt.  Wo  eigentliche  Singvögel,  wie 
die  Drossel  oder  gar  der  Kanarienvogel,  sprechen  lernen,  da  beruht 
darum  auch  die  Nachahmung  weniger  auf  einer  wirklichen  Ähnlich- 
keit der  Lautartikulationen,  als  auf  einer  solchen  der  Tonmodula- 
tionen der  menschlichen  Stimme,  und  selbst  bei  dem  eigentlichen 
Sprechvogel,  dem  Papagei,  spielt  dieses  Moment  eine  erhebliche 
Rolle.  Hauptsächlich  hierauf  und  weniger  auf  Verschiedenheiten 
der  individuellen  Lautbildungen  ist  es  wohl  zurückzuführen,  wenn 
die  Angaben  der  Beobachter  über  den  Schlag  verschiedener  Sing- 
vögel nicht  wenig  voneinander  abweichen.  Demnach  ist  es  nur  als 
eine  sehr  ungefähre  Andeutung  solcher  Laute  anzusehen,  wenn 
man  etwa   den   Schlag  der  Nachtigall   durch   tiu   tiu   tiu   tio  tio  tio 

qutio   qiitio   qiitio  tsü  tzü  tzü ,  den  der  Lerche  durch  tiri  tiri 

tiri  tiri  —  — ,  des  Sperlings  durch  schilp  schilp  schilp  ti  ti  ti  ti 
ti  —  —  usw.  wiedergibt  "^j. 


^j  Vgl.  unten  Xr.  II,  5  und  Kap.  IV. 

2)  Versuche,  die  Lautbildungen  der  Vögel,  namentlich  der  Singvögel,  aufzu- 
zeichnen, sind  von  Beobachtern  des  Lebens  der  Vögel  mehrfach  gemacht  worden. 
Besonders  in  dem  umfangreichen  Werke  von  J.  A.  Naumann,  Naturgeschichte  der 
Vögel  Deutschlands,  herausgeg.  von  seinem  Sohne  J.F.Naumann,  6  Bde.  1822 — 33, 
ist  diesem  Punkte  große  Sorgfalt  gewidmet,  wogegen  von  den  Verfassern  dieses 
Werkes  leider  kein  Versuch  gemacht  wurde,  auch  die  Tonmodulationen  in  Noten 
aufzuzeichnen.     Ich  beschränke  mich  auf  einige  Beispiele: 

Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl. 

17 


2c8  Die  Sprachlaute. 


Weit  deutlicher  ausgeprägt  ist  derjenige  Bestandteil  des  Vogel- 
gesangs, zu  dem  jene  Lautartikulationen  nur  den  unentbehrlichen 
Text  bilden:  die  Tonmodulation.  Das  Merkmal,  das  sie  von  den 
unvollkommneren  Tonmodulationen  tierischer  Schreie  wesentlich 
unterscheidet,  ist  der  nicht  bloß  den  einzelnen  Tönen,  sondern  bei 
den  besseren  Sängern  auch  den  Tonfolgen  eigene  musikalische  Cha- 


Star  (Stumiis  vulgaris.  Naumann  11,  S.  196):  squär  squärr  spett  spett  hooid  zieh. 

Singdrossel  (Turdus  musicus,  ebenda  II,  268):  tik  tik  tik  tik  ticki  dack  dack. 

Rotkehlchen  (Sylvia  rubecula,  ebenda  II,  404):  schnick  schnick  schnick 
schnickerikikikik. 

Feldlerche  (Alauda  arvensis,  IV,   167):    gerr  gerl  tried  trih  gier  tie. 

Sperling  (Fringilla  domestica,  IV,  463):  schilp  schilp  schilp  tie  tie  tie  tie  tie 
tie.     Im  Zorn:   terre  teil  terell  teil  teil  teil. 

Außerordentlich  variiert  der  Gesang  der  Nachtigall  (Sylvia  luscinia).  Nament- 
lich scheinen  in  manchen  Gegenden  gute,  in  andern  schlechtere  Sänger  heimisch 
zu  sein.  Naumann  teilt  zwei  Beispiele  mit  (II,  S.  382  f.),  das  eine  nach  Bechstein 
(Naturgeschichte  der  Stubenvögel!  von  einem  guten,  das  andere,  von  ihm  selbst  auf- 
gezeichnet, von  einem  schlechteren  Sänger;  ich  beschränke  mich  auf  die  Wieder- 
gabe der  Anfänge: 

Guter  Sänger:  tiö  tiü  tiü  tiü  spe  tiü  squa  tiö  tiö  tiö  tiö  tio  tiö  tix  qutio  qutio 
qutio  zquo  zquo  zquo  zquo  tzii  tzü  tzü  tzü  tzü  usv?. 

Schlechter  Sänger:  Ih  ih  ih  ih  wati  wati  wati  vrati  dwati  quoi  quoi  quoi 
quoi  quoi  qui  ita  lü  lii  lü  lü  lü  lü  lü  lii  wati  wati  wati  usw. 

Alle  diese  Aufzeichnungen  sind  natürlich  nicht  als  absolut  getreue  Nachbildungen 
des  Schlags  der  Vögel  anzusehen.  Vollkommen  treu  lassen  sich  diese  Artikulationen 
überhaupt  nicht  in  unseren  Buchstabensymbolen  wiedergeben,  und  gegen  die  oben 
bemerkte  Gefahr  des  Hineinhörens  von  Lauten  ist  man  nirgends  sicher.  Ein  schla- 
gendes Beispiel  für  den  Einfluß  des  letzteren  Momentes  gibt  die  von  Bechstein  mit- 
geteilte Zusammenstellung  der  Laute  eines  ungarischen  oder  Wiener  und  eines  pol- 
nischen Sprossers  (Sylvia  philomela;  Naumann,  IT,  S.  368): 

Wiener  Sprosser.  Polnischer  Sprosser. 

Qvepicktiaz  zerrrrrrrrrrrrtez  Tzerrrrrrrrrrrrrrrrtzeck 

Jakob  Jakob  Jakob  David  David  David  David 

Qvoarck  qvoarck  qvoarck  Zorror  zorror  zorror 

Tott  tott  tott  tott  tott  Zicka  zicka  zicka 

Philipp  Philipp  Philipp  Dobriluck  Dobriluck  Dobriluck  usw. 

Schwerlich  wird  man  annnehmen  können,  daß  der  Vogel  in  seinen  natürlichen  Ge- 
sang (denn  es  handelt  sich  hier  ja  durchaus  nicht  um  nachgeahmte  Laute)  die  Namen 
'Jakob',  'Philipp'  und  'David'  wirklich  eingemengt  habe:  diese  Namen  sind  eben  in 
die  ihnen  wahrscheinlich  nur  entfernt  ähnlichen  Laute  des  Vogels  hineingehört 
worden.  Daneben  ist  bei  der  Vergleichung  des  Wiener  und  des  polnischen  Sprossers 
der  Einfluß  der  deutschen  und  der  polnischen  Sprache  unverkennbar,  ein  Einfluß, 
der  natürlich  wiederum  nicht  auf  Rechnung  des  Vogels,  sondern  auf  die  der  Be- 
obachter kommt. 


Tonmodulationen  als  Ausdrucksformen  bei  Tieren.  25g 

rakter.  Terzen  und  Quinten,  daneben  zuweilen  Oktaven  und  ganze 
Töne  bilden  hier  die  regelmäßigen  Aufeinanderfolgen,  neben  denen 
es  freilich  auch  an  unharmonischen  Abweichungen  nicht  fehlt. 
Weniger  ist  der  Rhythmus  ausgebildet.  Er  fehlt  zwar  nicht  völlig, 
ist  aber  doch  nur  in  den  allem  Vogelgesang  eigenen  Wiederholun- 
gen des  gleichen  Tons  sowie  in  der  gleichförmigen  Aufeinander- 
folge der  Triller  oder  gewisser,  immer  wiederkehrender  Tonläufe  zu 
finden,  nicht  in  wirklichen  rhythmischen  Melodien.  Im  ganzen  läßt 
hiernach  die  musikalische  Anlage  der  Singvögel  zwei  Stufen  unter- 
scheiden, die  durch  Übergänge  verbunden  sind.  Die  niedrigere 
Form  besteht  in  einer  nur  wenig  durch  melodische  Kadenzen  unter- 
brochenen einfachen  oder  trillernden  Wiederholung  des  gleichen 
Tones.  Diesen  Typus  einfacher  Tonwiederholungen  zeigt  z.  B.  die 
ganze  Familie  der  Finken,  wie  Buchfink,  Stieglitz,  Sperling  usw. 
Ein  Beispiel  gibt  das  folgende,  dem  Sperling  nachgeschriebene 
Motiv'): 


Sperling 

Die  zweite  voUkommnere  Form  der  Tonmodulation  besteht 
darin,  daß,  meist  rasch  nacheinander  und  nicht  selten  durch  Ton- 
wiederholungen unterbrochen,  Tonläufe  zwischen  zwei  oder  drei  zu- 
einander harmonischen  Tönen  eintreten.  Indem  diese  ebenfalls  in 
der  Regel  mehrmals  sich  wiederholen,  geben  sie  sich  als  eine 
höhere  Entwicklung  der  einfachen  Tonwiederholung  zu  erkennen. 
Denn  man   darf  vielleicht  annehmen,    daß   diese   durch   den  Triller 


^)  Ich  entnehme  dies  und  die  folgenden  Notenbeispiele  der  Arbeit  von  Xenos 
Clark,  Animal  Musik,  in  The  American  Naturalist,  Vol.  XIII,  Nr.  4,  1879.  Die  Ge- 
nauigkeit des  musikalischen  Gehörs  vieler  Singvögel  ergibt  sich  übrigens  auch  aus 
der  Fähigkeit  derselben,  andere  Vogelstimmen  und  Vogelmelodien  oft  täuschend 
nachzuahmen.  Über  einige  auffallende  Beispiele  solcher  Art  berichtet  B.  Placzek, 
Der  Vogelgesang  nach  seiner  Tendenz  und  Entwicklung  (Verhandl.  des  naturforsch. 
Vereins  in  Brunn  XVII,  S.  19,  34  f.]. 

2)  Die  Bezeichnung  »guttural«  soll  einen  Kehllaut  anzeigen,  der  musikalisch  aus 
einem  raschen  Triller  zwischen  dem  tiefen  Ton  und  seinen  höheren  Oktaven  zu 
bestehen  schien.  Auf  die  Exaktheit  der  Taktgliederung,  die  wohl  in  der  Nieder- 
schrift nur  im  Anschluß  an  die  musikalische  Übung  gewählt  ist,  darf  man  sich  natür- 
lich bei  allen  diesen  Beispielen  nicht  verlassen,  wie  aus  dem,  was  oben  über  den 
Rhythmus  der  Vogelmelodien  gesagt  wurde,  hervorgeht. 

17* 


2  00  Die  Sprachlaute. 


allmählich  in  den  Tonlauf  übergegangen  ist.  Ein  Beispiel  dieses 
zweiten  Typus  zeigt  das  folgende,  dem  Schlag  der  Nachtigall  nach- 
geschriebene Motiv: 


Nachtisall 


Die  ersten  zweigliedrigen  Tonläufe  springen  in  der  Oktave  von 
d  ZM  d^  und  die  folgenden  dreigliedrigen  Kadenzen  bilden  einen 
^-Durakkord,  von  dem  aus  die  Melodie  wieder  in  die  Tonika  d 
übergeht.  Eine  so  große  musikalische  Regelmäßigkeit  mag  immer- 
hin zufällig  und  selten  sein.  Im  ganzen  ist  aber  nicht  zu  bezweifeln, 
daß  besonders  bei  diesem  zweiten  Typus  regelmäßige  Wiederholun- 
gen harmonischer  Tonfolgen  vorkommen. 

Je  abwechselungsreicher  die  Tonmodulation  wird,  um  so  mehr 
kann  sie  natürlich  variieren.  Unter  diesen  Variationen  sind  diejenigen 
von  besonderem  Interesse,  die  bei  einem  und  demselben  Individuum 
je  nach  der  Gemütslage  stattfinden.  Wir  können  sie  namentlich 
bei  unseren  Zimmer\'ögeln  häufig  beobachten,  wenn  es  auch  als 
Regel  gilt,  daß,  sobald  die  Gemütsstimmung  unter  ein  gewisses 
Niveau  sinkt,  der  Vogel  überhaupt  zu  singen  aufhört.  Die  in  dieser 
Beziehung  beobachteten  Schwankungen  betreft'en  daher  meist  bloß 
die  Gefühlsrichtungen  der  größeren  oder  geringeren  Erregung  und 
Spannung,  letzteres  z.  B.  bei  der  Neugier,  zu  der  manche  Vögel 
in  hohem  Grade  geneigt  sind.  In  der  Dimension  der  Lust-  und 
Unlustgefühle  begegnen  uns  dagegen  in  den  Gesangsweisen  der 
Vögel  im  allgemeinen  nur  solche  Schwankungen,  die  noch  inner- 
halb der  Lustrichtung  liegen;  die  Annäherung  an  Unluststimmun- 
gen kündet  sich  bloß  durch  verlangsamtes  Tempo,  abnehmende 
Tonstärke  und  Tonhöhe  an.  Bei  Schreck,  Furcht,  Zorn  und  andern 
wirklichen  Unlustaffekten  gehen  aber  die  Tonmodulationen  regel- 
mäßig in  Schreilaute  über,  die  dann  mit  entsprechenden  Verände- 
rungen der  Artikulationslaute  verbunden  sind").  Die  drei  folgenden 
Beispiele,  Modifikationen  der  in  der  ersten  der  obigen  Notierungen 
nachgebildeten   Sperlingsmelodie,    geben    ein  Bild    dieser,   im  Ver- 


')  Man   vergleiche   die    oben  S.  258  Anm.   versuchte  Wiedergabe  der  Zornlaute 
des  Sperlings. 


Tonmodulationen  als  Ausdrucksfomien  bei  Tieren. 


261 


hältnis  zu  den  uns  geläufigen  musikalischen  Ausdrucksmitteln  frei- 
lich sehr  dürftigen,  aber  in  den  elementaren  Grundlagen  doch  über- 
einstimmenden Veränderungen : 


Freude 


Niedergeschlagenheit 


Darwin  meint,  es  bleibe  ein  Rätsel,  warum  beim  Menschen  und 
bei  den  Tieren  in  gewissen  Gemütsbewegungen  hohe  und  in  andern 
tiefe  Töne  verwendet  werden,  und  keine  der  über  den  Ursprung 
des  musikalischen  Ausdrucks  aufgestellten  Theorien  sei  imstande, 
dieses  Rätsel  zu  lösen').  Nach  den  in  Kap.  I  erörterten  Tatsachen 
wird  man  diesem  Ausspruch  kaum  beipflichten  können.  Zunächst 
ordnen  sich  hier  die  Stimmbewegungen  dem  allgemeinen  Prinzip 
der  Afifektäußerungen  unter,  wonach  die  größere  oder  geringere 
Schnellki'aft  und  Energie  der  Bewegungen  mit  den  Gefühlsrichtungen 
der  Affekte,  und  zwar  zunächst  und  direkt  mit  den  Erregungs-  und 
Spannungsgefühlen,  dann  infolge  der  Verbindungen  derselben  auch 
mit  den  Lust-  und  Unlustgefühlen  eng  zusammenhängt.  Die  Aus- 
drucksbewegungen sind  nun  nicht  bloß  eine  natürliche  Wirkung  der 
diese  Gefühle  begleitenden  Innervationszustände,  sondern  sie  ent- 
sprechen auch  in  ihren  eigenen  sinnlichen  Gefühlswirkungen  wie- 
derum den  primären  Gefühlen,  mit  denen  sie  daher  verschmelzen, 
und  die  sie  verstärken.  Das  nämliche  gilt  aber  auch  von  den 
Spannungs-  und  Bewegungsempfindungen  der  Stimmorgane  und 
den  an  sie  gebundenen  Gefühlen.  Nur  kommt  bei  ihnen  noch 
eine  Folgewirkung  hinzu,  die  bei  den  andern  Ausdrucksformen 
fehlt:  der  Stim.m laut,  der  ebenfalls  Veränderungen  erfährt,  die  sich 
mit  der  wechselnden  Energie  und  Schnelligkeit  der  Bewegungen 
von  selbst  einstellen.  Er  hat  zugleich  in  noch  ganz  anderem  Maß 
als  die  an  sonstige  Bewegungen  gebundene  innere  Tastempfindung 


i)  Darwin,  Abstammung  des  Menschen,  II,  S.  295,  Anm. 


2()2  Die  Sprachlaute. 


die  Eigenschaft,  selbst  Aviederum  Gefühle  zu  erregen,  die  nach 
Qualität  und  Stärke  den  ursprünglichen,  zu  deren  Ausdruck  die 
Laute  dienen,  verwandt  sind.  Durch  diese  stärkere  Eindrucks- 
fähigkeit eignen  sich  daher  die  Stimmlaute  in  besonderem  Grade 
dazu,  diejenigen  Wirkungen  herbeizuführen,  die  bei  allen  Aus- 
drucksformen als  erhaltende  und  modifizierende  Bedingungen  mit- 
spielen: die  Entladung  des  Affektes,  und  die  durch  sie  nach 
der  ersten  konsensuellen  Verstärkung  allmählich  eintretende  Lö- 
sung desselben.  Gleichwohl  würde  es  noch  nicht  gerechtfertigt 
sein,  deshalb  die  Wirkung  hoher  und  tiefer,  starker  und  schwacher 
Töne  oder  selbst  die  der  schnellen  und  langsamen  Rhythmen  bloß 
aus  den  äußeren  Körperbewegungen  und  den  sie  begleitenden 
Empfindungen  ableiten  zu  wollen.  Die  Tatsache,  daß  die  Ge- 
fühlsfärbungen  verschiedener  Empfindungen  einander  verwandt  sind 
und  sich  daher  bei  ihrer  Verbindung  steigern,  müssen  wir  viel- 
mehr als  eine  ursprüngliche,  nicht  weiter  abzuleitende  anerkennen. 
Denn  diese  Beziehung  begegnet  uns  auch  da,  wo  zu  einer  Verbin- 
dung des  Sinneseindrucks  mit  bestimmt  modifizierten  Ausdrucks- 
bewegungen kein  Anlaß  gegeben  ist,  z.  B.  bei  den  Gefühlseigen- 
schaften der  verschiedenen  Farben.  Die  urspmngliche  psycho- 
logische Verwandtschaft  bestimmter  Gefühle  und  die  Verbindung, 
in  die  sie  außerdem  infolge  der  Bedingungen  ihrer  subjektiven 
Enstehung  zueinander  treten  können,  schließen  sich  aber  nicht  im 
geringsten  aus.  Das  Zusammentreffen  dieser  Motive  zu  überein- 
stimmender Wirkung  entspricht  vielmehr  ganz  dem  allgemeinen 
Zusammenhang  und  der  wechselseitigen  Anpassung  der  Funktionen. 
Die  Rückwirkimg  der  Funktion  auf  ihre  Entstehungsbedingungen, 
im  vorliegenden  Fall  also  der  Stimmlaute  auf  die  Gefühle,  deren 
Ausdruck  sie  sind,  bildet  nun  zugleich  den  Hauptantrieb  in  der 
Entwicklung  der  Gefühlsäußerungen  durch  Stimmlaute.  Zwischen 
dem  unmelodischen  und  unartikulierten  Schmerzensschrei  und  den 
schon  eine  reiche  Skala  von  Gefühlen  umfassenden  Tonmodulationen 
des  Singvogels  liegt  sicherlich  eine  weite  Kluft.  Dennoch  bleibt 
die  Mannigfaltigkeit  der  Äußerungsformen  auch  hier  noch  eine  be- 
schränkte. Denn  eine  Schranke  des  Ausdrucksmittels  der  Ton- 
modulation bleibt  es  immer,  daß  diese  sich  niemals  über  eine  reine 
Gefühlssprache  erheben    kann.      Die  Gefühle   selbst  bedürfen   aber 


Tonmodulation  und  Lautartikulation  beim  Menschen.  263 

ZU  ihrer  reicheren  Entwicklung  einer  reicheren  Vorstellungswelt. 
Da  eine  solche  nur  mit  Hilfe  der  artikulierten  Sprache  möglich  ist, 
so  wird  daraus  auch  der  ungeheure  Abstand  begreiflich,  der  den 
menschlichen  Kunstgesang  und  die  aus  ihm  hervorgegangene  Kunst 
der  Musik  von  dem  natürlichen  Gesane  des  Voerels  scheidet. 


4.   Tonmodulation  und  Lautartikulation  beim  Menschen. 

Der  menschliche  Gesang  bildet  den  einzigen  sicher  bezeugten 
Fall,  wo  sich  die  beiden  in  der  Entwicklung  der  Stimmlaute  neben- 
einander hergehenden  Momente,  Lautartikulation  und  Tonmodu- 
lation, gleichzeitig  in  vollkommnerer  Ausbildung  vereinigt  haben. 
Im  allgemeinen  sind  darum  wohl  beide  als  zwei  ursprünglich  aus 
dem  intensivsten  Gefühlslaut,  dem  Schrei,  hervorgegangene  diver- 
gierende Entwicklungen  anzusehen,  während  doch  jede  dieser 
Ausdrucksformen  immer  auch  bis  zu  einem  gewissen  Grade  die  Mit- 
wirkung der  andern  voraussetzt.  Denn  es  gibt  naturgemäß  ebenso- 
wenig eine  Lautartikulation  ohne  einen  gewissen  Grad  von  Ton- 
modulation, wie  diese  ohne  jene  möglich  ist.  Nur  in  der  Abteilung 
der  Singvögel  hat  sich  aber,  wie  es  scheint,  die  natürliche  Tonmodu- 
lation zur  Hervorbringung  nicht  nur  musikalischer  Töne,  sondern 
harmonischer  Tonabstufungen  erhoben.  Dem  gegenüber  bleiben 
überall  sonst  im  Tierreich  Lautartikulation  wie  Tonmodulation  auf 
einer  niedrigeren  Stufe.  Die  erste  verfügt  durchweg  nur  über  eine 
kleine  Anzahl  von  Lauten,  und  die  letztere  läßt  zwar  je  nach  Stärke 
und  Höhe  des  Tones,  manchmal  auch  nach  dem  wechselnden  Ton- 
fall den  allgemeinen  Charakter  der  Affekte  erkennen,  sie  entbehrt 
aber  der  Abstufung  in  harmonischen  Intervallen.  In  letzterer  Be- 
ziehung scheint  nun  die  menschliche  Sprache  ursprünglich  mit 
den  Stimmlauten  anderer,  vorwiegend  mit  Lautartikulationen  begab- 
ter Wesen  auf  gleicher  Stufe  zu  stehen.  So  ungewöhnlich  mannig- 
faltig die  artikulierten  Laute  der  menschlichen  Stimme  sind,  ihrer 
Tonmodulation  fehlt  der  musikalische  Charakter.  Schon  in  einer 
sehr  frühen  Lebenszeit  bringt  zwar  das  menschliche  Kind  bedeu- 
tungslose artikulierte  Laute  selbständig  hervor.  Aber  der  Tonfall 
dieser  Laute  ist  durchweg  unmusikalisch.  Sie  unterscheiden  sich 
nach  Höhe  und  Tiefe,  innerhalb  dieser  Unterschiede  fehlt  es  jedoch 


264  Die  Sprachlaute. 


an  jeder  Regelmäßigkeit  der  Tonstufen.  Die  melodische  Tonfolge 
erlernt  das  Kind  erst  sehr  \^el  später  durch  Nachahmung  vorgesun- 
gener Melodien,  ungefähr  in  derselben  Zeit,  in  der  es  zuerst  auch 
seine  artikulierten  Laute  verbindet,  um  bestimmte  Worte  nachzu- 
ahmen. 

Diese  Tatsachen  deuten  bereits  die  Richtung  an,  in  der  die 
Antwort  auf  die  alte  Frage  nach  dem  \'erhältnis  von  Gesang  und 
Sprache  gesucht  werden  muß.  Sicherlich  kann  das  nicht  in  der 
Weise  geschehen,  daß  man  sich  mit  Lucrez  den  Gesang  des  IMen- 
schen  in  analoger  Weise  aus  dem  der  Singvögel  durch  Nachah- 
mung entstanden  denkt,  wie  die  sprechenden  Vögel  ihrerseits  ihre 
Sprachlaute  vom  Menschen  erlernt  haben".  Auch  die  ^Meinung 
Darwins,  daß  Mensch  und  Vogel  zwar  unabhängig  voneinander, 
jedoch  aus  den  gleichen  ursprünglichen  ^Motiven  ihre  ersten  Ge- 
sangslaute her\-orgebracht  hätten,  nämlich  als  sexuelle  Lockrufe, 
durch  die  einstmals  der  Mann  um  das  Weib  nicht  anders  geworben 
habe,  als  wie  es  noch  heute  in  der  Paarungszeit  die  m.ännlichen 
\'ögel  um  ihre  Weibchen  tun,  —  auch  diese  Annahme  dürfte  an 
psychologischer  \\'ahrscheinlichkeit  kaum  die  vorige  übertreffen^. 
Abgesehen  von  den  unzulänglichen  Analogien  aus  dem  Tierreich 
fehlt  die  Hauptsache,  die  beim  Sing\-ogel  wenigstens  für  die  reichere 
Ausbildung  der  Gesangsfahigkeit  den  sexuellen  Wettkampf  zu  einem 
nicht  unwahrscheinlichen  jNIotiv  macht:  ein  L'nterschied  der  Ge- 
schlechter in  der  Anlage  zum  Gesang  läßt  sich  beim  Menschen 
nicht   nachweisen'").     Ist   der   Gesang   beim   ^Menschen,  wie    es    die 


"  >At  liquidas  avitiin  voces  imitarier  ore 

ante  fixit  multo  quam  le\"ia  carmina  cantu 
concelebrare  liommes  possent  aurisque  juvare.« 

T.  Lucretii  Cari  De  rerum  natura.  V.   1366. 
Über   eine    an   diese   Vorstellungen    zum   Teil    wieder   anknüpfende,    auch   von 
B.  Delbrück  gebilligte  Theorie  von  O.  Jespersen  vgl.  Sprachgeschichte  und  Sprach- 
psychologie. S.  92  ff.,  und  unten  Tl.  2.  Kap.  Dv. 

=.   Darwin,  Abstammung  des  Menschen.  11.  S.  290  ff. 

3  Darwin  beruft  sich  hier  allerdings  auf  zwei  Zeugnisse.  Diese  widersprechen 
sich  aber  eigentlich  wechselseitig.  Erstens  soUen  die  Männchen  einiger  Quadru- 
manen  entwickeltere  Stimmorgane  besitzen  als  die  Weibchen.  Zweitens  werde  all- 
gemein angenommen,  daß  die  Frauen  angenehmere  Stimmen  besäßen  als  die  Männer. 
was  als  Fingerzeig  dienen  könne,  >daß  sie  zuerst  musikalische  Kräfte  erlangten,  um 
das  andere  Geschlecht   anzuziehen«    S.  295  f .  .     Die  Schwäche  dieser  Argumente  ist 


Tonmodulation  und  Lautartikulation  beim  Menschen.  265 

Tatsachen  der  generellen  wie  der  individuellen  Entwicklung  im 
höchsten  Grade  wahrscheinlich  machen,  eine  vermutlich  selbst  erst 
durch  die  Einflüsse  der  frühesten  Kultur  vermittelte  Erwerbung, 
so  sind  solche  auf  einen  tierischen  Urzustand  zurückgreifende  Er- 
klärungen von  vornherein  hinfällig.  Mögen  auch  der  Entwicklung 
des  musikalischen  Sinnes  natürliche  i\.nlagen  begünstigend  ent- 
gegenkommen, menschlicher  Gesang  ist  —  das  scheidet  ihn 
von  dem,  was  wir  bei  den  Tonmodulationen  des  Vogels  Gesang 
nennen  —  von  Anfang  an  nur  das  Erzeugnis  einer,  wenn  auch 
noch  so  primitiven,  Kunst.  Darum  kann  man  wohl  von  natürlichen 
Tonmodulationen  der  menschlichen  Stimmlaute,  aber  man  kann 
nicht  von  einer  »natürlichen  Musik«  der  Sprache  im  eigentlichen 
Sinne  des  Wortes  reden,  um  dann  etwa  mit  Herbert  Spencer  aus 
der  Weiterentwicklung  derselben,  wie  sie  besonders  durch  die 
Beobachtung  der  leidenschaftlich  erregten  Rede  nahegelegt  werde, 
die  Entstehung  harmonischer  Kadenzen  abzuleiten").  Auch  diese 
Hypothese  trägt  den  Stempel  willkürlicher  Erfindung.  Rhythmus 
und  Tonbewegung  in  harmonischen  Intervallen  bilden  die  unver- 
äußerlichen Merkmale  des  Gesanges.  Es  kann  vorkommen,  daß 
der  Rhythmus  wenig  ausgebildet  ist,  wie  bei  den  Tonmodulationen 
der  Singvögel,  oder  daß  umgekehrt  ein  bestimmter  Rhythmus  be- 
steht, aber  die  Tonintervalle  nur  annähernd  einen  musikalischen 
Charakter  besitzen,  wie  bei  den  Liedern  mancher  primitiver  Kultur- 
völker"^). In  beiden  Fällen  wird  man  von  einem,  wenn  auch  mangel- 
haften, »Gesang«  reden  können.  Niemals  aber  kann  die  Tonmodu- 
lation als  solche,  ohne  Rhythm.us  und  ohne  harmonische  Tonver- 
hältnisse, Gesang  genannt  werden.  Vollends  im  gesteigerten  Affekt 
besitzt  die  Sprache  am  wenigsten  musikalische  Eigenschaften:  denn 
hier  besonders  fallen  die  Laute  leicht  in  die  primitive  Form  dishar- 
monischer Schreilaute  zurück,  und  es  bewegt  sich  die  Rede  unter 
dem  Einfluß   des  starken  und  irregulären  Wechsels   der  Gefühle  in 


einleuchtend.  Daß  ein  so  ausgezeichneter  Naturforscher  ihnen  ein  gewisses  Gewicht 
beimessen  konnte,  bleibt  immerhin  ein  lehrreiches  Beispiel  für  den  Einfluß  vor- 
gefaßter Meinungen. 

^)  Herbert  Spencer,  The  Origin  and  Function  of  Music,  in  Essays  political  and 
speculative.     1858. 

2)  E.  Grosse,  Die  Anfänge  der  Kunst,   1894,  S.  270  ff. 


2  06  I^ie  Sprachlaute. 


völlig  unrhythmischen  Formen.  Eher  noch  zeigt  die  gewöhnliche, 
nicht  leidenschaftlich  bewegte  Sprache  eine  rhythmische  Gliederung 
und,  freilich  nur  in  geringerem  Maße,  sogar  einen  gewissen  Tonfall. 
Aber  auch  ihr  fehlt  der  musikalische  Charakter:  der  Rhythmus  be- 
wegt sich  nicht  in  regelmäßig  wiederholten  Takten  und  Perioden, 
und  noch  weniger  der  Tonfall  in  harmonischen  Intervallen.  So 
wichtig  daher  diese  Verhältnisse  für  die  Gliederung  des  Satzes 
sind,  so  kann  bei  ihnen  doch  höchstens  von  einer  natürlichen 
musikalischen  Anlage,  namentlich  nach  der  Seite  des  Rhythmus, 
nimmermehr  von  einer  »natürlichen  Musik«  der  Sprache  geredet 
werden^). 

Mehr  trifft  mit  diesen  Bedingungen  eine  andere  Ansicht  zu- 
sammen, die,  im  Gegensatze  zu  allen  diesen  Versuchen  einer  Ab- 
leitung aus  ursprünglichen  Naturbedingungen,  in  der  Kunst  selbst, 
und  zwar  in  der  bereits  entwickelten  Dichtkunst,  die  Quelle  des 
musikalischen  Ausdrucks  sieht.  »Aus  betonter,  gemessener  Rezita- 
tion der  Worte  entsprang«,  wie  Jacob  Grimm  sich  ausdrückt,  »Ge- 
sang und  Lied,  aus  dem  Lied  die  andere  Dichtkunst,  aus  dem  Ge- 
sang durch  gesteigerte  Abstraktion  alle  übrige  Musik«  ^).  Diese 
Erklärung  hat  nur  den  einen  Fehler,  daß  sie  gegenüber  der  voran- 
gegangenen Theorie  in  das  entgegengesetzte  Extrem  verfällt.  Der 
Rezitator,  der  die  Taten  der  Helden  preist,  oder  der  Priester,  der 
den  Opferkultus  mit  Gebeten  begleitet,  sie  sind  Erscheinungen  einer 
bereits  fortgeschrittenen  Kultur.  Daß  das  Epos  und  das  Kultusgebet 
nicht  von  Anfang  an  Lied  und  Gesang,  also  von  Rhythmus  und 
melodischer  Tonfolge  begleitet  gewesen  seien,  erscheint  mindestens 
unwahrscheinlich.  Die  Kunst  des  wandernden  Sängers  und  der 
religiöse  Kulteesanef  mösfen  daher  immerhin  für  die  Weiterentwick- 


^)  Über  die  Bedeutung  von  Rhythmus  und  Tonmodulation  für  die  Gliederung 
der  Rede  vgl.  unten  Kap.  VII,  Nr.  VIT. 

2)  Jacob  Grimm,  Über  den  Ursprung  der  Sprache,^  185^)  S.  54.  Eine  ähn- 
liche Ansicht  hat  auch  Herbert  Spencer  in  seiner  Soziologie  vorgetragen,  indem  er 
teils  aus  den  lobpreisenden  Triumph-  und  Siegesgesängen,  die  einem  sieghaften 
Häuptling  dargebracht  werden,  teils  aus  religiösen  Zeremonial-  und  Opfergesängen 
die  Kunstformen  der  Poesie  und  Musik  hervorgehen  läßt.  Daneben  nimmt  er  aber 
auch  hier  noch  im  Sinne  seiner  obenerwähnten  älteren  Theorie  an,  daß  schon  in 
den  gewöhnlichen,  namentlich  leidenschaftlichen  Äußerungen  eine  Hinneigung  zum 
musikalischen  Ausdruck  liege.  (Soziologie,  deutsche  Ausg.  IV,  Kap.  III,  S.  241  ff.,  255.) 


Tonmodulation  und  Lautartikulation  beim  Menschen.  2  07 

lung  des  musikalischen  Ausdrucks  eine  nicht  zu  unterschätzende  Be- 
deutung haben,  als  Beginn  desselben  können  sie  ebensowenig  gelten, 
wie  das  Homerische  Epos  ein  Urzustand  der  Poesie  oder  die  Home- 
rische Götterwelt  eine  primitive  Mythologie  ist. 

Nun  gibt  es  ein  Gebiet  menschlicher  Lebensäußerungen,  das 
vielleicht  ursprünglicher  ist  als  Rezitation  und  religiöse  Zeremonie, 
und  bei  dem  es  an  der  Mitwirkung  äußerer  Bedingungen  zur  rhyth- 
misch-musikalischen Gliederung  der  begleitenden  Stimm-  und  Sprach- 
laute nicht  fehlt:  das  ist  die  menschliche  Arbeit,  die  in  ihren 
primitiven  Formen  jedenfalls  einer  der  ersten  Schritte  von  der  Natur 
zur  Kultur  ist.  Arbeitsgesänge  sind  daher  in  der  Tat,  wie 
K.  Bücher  gezeigt  hat,  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  eine  sehr  frühe 
Gattung  der  Poesie  und  des  musikalischen  Ausdrucks  zugleich^).  Bis- 
weilen enthalten  sie  nichts  als  sinnlose  artikulierte  Laute,  die  dem 
Rhythmus  der  geleisteten  Arbeit  angepaßt  sind.  Reste  solcher  Laut- 
bildungen mögen  sich  noch  in  den  Refrainzeilen  mancher  Volks- 
lieder finden^).  Dann  füllen  sich  allmählich  die  Takte  mit  sprach- 
lichem Inhalt,  der  sich  bald  auf  die  Arbeit  selbst,  bald  auf  andere 
Begegnisse  des  täglichen  Lebens  bezieht,  und  der  zunächst  durch 
Improvisation  entsteht,  ehe  er  sich  zu  bestimmten,  bei  der  gleichen 
Arbeit  regelmäßig  wiederholten  Liedern  fixiert^).  Bei  ruhigeren 
Arbeiten  tut  sich  dann  auch  wohl  ein  besonders  begabter  Sänger 
vor  andern  hervor,  dem  nun  der  Gesang  des  Textes  obliegt,  den 
die  andern  wiederholen,  oder  in  dessen  Refrain  sie  einstimmen. 
Was  hier  die  Begleitung  durch  rhythmische  Laute  herausfordert,  ist 
die  Natur  der  Arbeit  selbst,  die  bei  den  meisten  einfacheren  Arbeits- 
weisen in  vielfacher  Wiederholung  der  gleichen  Bewegungen  besteht, 
wobei  diese  dann  leicht  durch  Vv'echselnde  Stärke  wirkliche  Takt- 
formen annehmen  können. 

Hiermit  weist  aber  diese  Bedingung  zugleich  auf  eine  noch  ur- 
sprünglichere zurück:  auf  die  Organisation  der  menschlichen 
Bewegungsorgane  und  auf  die  Beeinflussung  ihrer  Funktion  durch 
die  natürlichen  Gefühle  und  Affekte.  In  dieser  Beziehung  ist  gerade 
der    Mensch    durch    die    Veranlagung     seiner    Gehwerkzeuge    zum 


')  Karl  Bücher,  Arbeit  und  Rhythmus,  ^    1902. 

2)  Ein  Beispiel  bei  Bücher  a.  a.  O.  S.  251. 

3)  Ebenda  S.  233  ff. 


2  08  Die  Sprachlaute. 


aufrechten  Gang  gegenüber  den  ihm  nächstverwandten  Tieren  be- 
vorzugt. Die  Ortsbewegungen  des  anthropoiden  Affen,  wenn  er  sich 
mittelst  seiner  langen  Arme  von  Ast  zu  Ast  schwingt  oder,  kurze 
Strecken  durchlaufend,  abwechselnd  bald  bloß  die  Beine,  bald  alle 
vier  Gliedmaßen  zur  Fortbewegung  verwendet,  sind  im  allgemeinen 
arrhythmisch,  oder  sie  bestehen  höchstens  in  abgebrochenen  Frag- 
menten rhythmischer  Bewegungen.  Ein  dauernder  Rhythmus  der 
Gehbewegungen  ist  nur  dem  Menschen  eigen;  und  sichtlich  haben 
hier  die  mechanischen  Eigenschaften  seiner  Gehwerkzeuge  auf  die 
gesamte  psychophysische  Organisation  des  Menschen  in  dem  Sinne 
zurückgewirkt,  daß  die  Gehbewegungen  und  die  aus  ihnen  hervor- 
gegangenen Modifikationen,  das  Laufen,  Springen,  Hüpfen,  Tanzen, 
zu  denjenigen  rhythmischen  Bewegungen  geworden  sind,  in  denen 
sich  naturgemäß  der  Verlauf  seiner  Affekte  entlädt.  Hierzu  eignen  sie 
sich  ja  vor  andern  rhythmischen  Bewegungsfunktionen,  wie  den  Herz- 
und  Atmungsbewegungen,  teils  dadurch,  daß  sie  mit  viel  intensiveren 
Empfindungen  verbunden  sind,  die  verstärkend  auf  die  Gefühle  zurück- 
v/irken,  teils  aber  auch  dadurch,  daß  sie  zu  äußeren,  von  den  Aftek- 
ten  erregten  und  wieder  auf  sie  zurückwirkenden  Handlungen  in  un- 
mittelbarer Beziehung  stehen.  So  spiegelt  sich  von  früh  an  die 
Gemütslage,  Aufregung  und  Niedergeschlagenheit,  Freude  und  Trauer, 
in  allen  ihren  Abstufungen  in  der  Energie  und  Geschwindigkeit  der 
Bewegungen,  und  der  Wechsel  der  Affekte  drängt  nun  auch  da  zu 
ausdrucksvollen  Bewegungen,  wo  ein  bestimmter  äußerer  Zweck  der- 
selben nicht  besteht.  Indem  dieser  hinwegfällt,  paßt  sich  aber  um 
so  mehr  der  Rhythmus  der  Bewegungen  dem  Affekt  selbst  an :  er 
gewinnt  Wechsel  vollere  Formen,  v/ird  reicher  gegliedert;  die  übrigen 
Körperorgane,  namentlich  die  Arme,  beteiligen  sich  an  den  Orts- 
bewegungen, während  sich  diese  zugleich,  da  das  äußere  Ziel  hin- 
wegfällt, im  Raum  beschränken.  So  entsteht  der  Tanz,  als  der 
natürliche  Ausdruck  der  erhöhten  Stimmungen  und  Affekte  in  kör- 
perlichen Bewegungen,  und  eben  darum  zugleich  als  die  primitivste 
aller  Künste.  Sein  Gebiet  reicht  ohne  Zweifel  weiter  und  in  eine 
frühere  Vergangenheit  zurück  als  der  religiöse  Kultus,  aber  auch 
weiter  als  die  resrelmäßip-e  Arbeit.  An  Tänzen  erfreut  sich  schon 
der  Wilde,  der  von  den  Gaben  lebt,  die  ihm  ohne  eigne  Arbeit 
die  Natur  spendet,   und  bei  dem  ein   religiöser  Kultus  noch  kaum 


Tonmodulation  und  Lautartikulation  beim  Menschen.  2  6q 

entwickelt  ist').  Mit  der  rhythmischen  Tanzbewegung  verbinden 
sich  dann,  ganz  wie  wir  das  bei  dem  Arbeitslied  auf  einer  fort- 
geschritteneren Stufe  beobachten  können,  rhythmische  Artikulations- 
bewegungen, die  nun  zugleich  in  der  Tonmodulation  der  Stimme 
die  Gefühlslage  des  Affekts  wiedergeben.  Auf  diese  Weise  entsteht 
das  Tanzlied  als  die  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  ursprünglichste 
Form  des  Gesangs.  Zunächst  wohl  ganz  aus  sinnlosen,  aber  durch 
musikalischen  Klangcharakter  ausgezeichneten  Lauten  bestehend,  ist 
es  in  seinen  Anfängen  eigentlich  mehr  musikalische  Begleitung  als 
Lied,  geht  dann  aber,  indem  die  Stimmung  mehr  und  mehr  auch 
einen  sprachlichen  Ausdruck  findet,  in  dieses  über. 

Aus  dem  Tanzlied  sind  nun,  wie  wir  annehmen  dürfen,  als  die 
zwei  nächsten  Formen  menschlicher  Gesangsrhythmik  in  diver- 
gierender Entwicklung  die  Arbeits-  und  die  Kultgesänge  hervor- 
gegangen. Hier  bilden  aber  vor  allem  die  Arbeitsrhythmen,  indem 
sie  meist  kompliziertere  Bedingungen  für  die  Gliederbewegungen  mit 
sich  führen,  wahrscheinlich  ein  wichtiges  Motiv  fiir  die  weitere  Aus- 
bildung der  rhythmischen  Formen  selbst  und  des  mit  ihnen  sich 
reicher  ausbildenden  rhythmischen  Gefühls.  Die  Arbeiten  des  Schmie- 
dens, des  Holzfällens,  des  Säens,  dann  dieTret-  und  Schlagbewegungen, 
die  dem  Enthülsen  des  Getreides  dienen,  das  Spinnen,  das  Weben, 
das  Flechten  usw.  —  schon  wo  der  Einzelne  diese  Arbeiten  für  sich 
allein  vornimmt,  überträgt  sich  auf  sie  unwillkürlich  jene  bei  den 
Gehbewegungen  erworbene  rhythmische  Folge.  Die  erleichternde 
Wirlomg,  die  der  Rhythmus  auf  den  Vollzug  der  Bewegungen  aus- 
übt, findet  aber  ihren  psychologischen  Ausdruck  in  den  wechselnden 
Spannungs-,  Lösungs-  und  Lustgefühlen,  die  die  Arbeit  begleiten. 
Hier  liegt  daher  eine  wichtige  Quelle  des  ästhetischen  Gefallens 
am  Rhythmus.  Darum  regt  sich  nun  auch  hier  besonders  leicht 
der  Trieb,  den  lusterregenden  Wechsel  der  Gefühle  mit  Lauten  zu 
begleiten,  die  durch  die  hinzukommenden  Artikulations-  und  Gehörs- 
empfindungen das  rhythmische  Gefühl  verstärken,  um  dann  durch 
diese  Verstärkung  wieder  regulierend  und  fördernd  auf  die  Arbeits- 
bewegungen zurückzuwirken.    Die  so  die  rhythmischen  Bewegungen 


^l  H.  Schurtz,  UrgescWchte  der  Kultur,   1900,  S.  217,  497  f.    Vgl.  dazu  Physiol. 
Psychol.  5  m,  S.  5  ff. 


2  7  0  r^i^  SpracUaute. 


begleitenden  Laute  bedingen  es  dann  aber  von  selbst,  daß,  wo 
sich  zu  der  gleichen  Arbeit  mehrere  vereinigen,  diese  nun  im 
gleichen  Rhythmus  die  Bewegungen  ausführen,  während  zugleich 
die  so  entstehende  Vemelfältigung  der  rhythmischen  Laute  die  Lust- 
erregung steigert. 

Eine  zweite,  wahrscheinlich  mit  dem  primitiven  Arbeitslied  gleich 
ursprüngliche  Form  des  Gesangs  ist  der  Kultgesang.  Für  seine 
unabhängige  Entstehung  spricht  vor  allem  sein  unmittelbarer  Zu- 
sammenhang mit  der  Ursprungsform  aller  rhythmischen  Kunstformen, 
mit  dem  Tanze.  Aus  dem  primitiven,  als  reine  Affektäußerung  sich 
betätigenden  Tanze  sind  offenbar  jene  Kulttänze  hervorgegangen, 
die  sich  durch  eine  lange  Zeit  der  Kulturentwicklung  hindurch  er- 
halten haben,  und  von  denen  noch  jetzt  teils  in  gewissen  verwelt- 
lichten Kunstformen  des  Tanzes,  teils  in  den  feierlichen  Umzügen, 
welche  religiöse  und  andere  Feste  begleiten,  spärliche  Reste  übrig 
geblieben  sind.  Auch  hier  ist  dann  zu  der  feierlichen  Tanzweise 
die  melodische  Stimm-  und  Liedbegleitung  hinzugetreten,  die  sich 
besonders  in  diesem  Fall,  wo  die  der  Arbeit  selbst  eigentüm- 
lichen Schallquellen  fehlten,  mit  äußerer  Klangerzeugung  durch  be- 
sondere Geräusch-  und  Musikinstrumente  verband.  Erst  in  ihren 
weiteren  Rückwirkungen  überträgt  sich  endlich  wohl  die  rhythmische 
Bewegung  auf  den  Anmarsch  zum  Kampfe  und  auf  die  Wiederholung 
des  Kampfes  in  Spiel  und  Waffentanz.  So  entsteht  der  Kampfgesang 
und,  auf  ihn  zurückgehend,  das  Lied  des  Sängers,  der  die  Taten 
der  Helden  feiert.  Vermutlich  sind  aber  diese  Anfänge  des  epischen 
Gesanges  verhältnismäßig  späte  Erzeugnisse,  bei  denen  nun,  wie 
bei  allen  derartigen  Entwicklungen,  eine  fortwährende  Vervielfälti- 
gung der  Motive  eingetreten  ist.  Ihnen  gegenüber  besitzen  daher 
jene  primitiven  Arbeitsrhythmen  nur  die  Bedeutung  ursprünglich 
auslösender  Kräfte,  die  im  weiteren  Verlauf  selbst  ganz  und  gar  hinter 
den  neuen  Bedingungen  zurücktreten,  die  der  Fortschritt  der  Kultur 
und  die  selbständig  werdende  Ausbildung  des  rhythmischen  und 
musikalischen  Gefühls  mit  sich  führen. 

Was  den  Gesang  des  Menschen  schon  in  seinen  frühesten  For- 
men auszeichnet  und  ihn  noch  in  jene  Übungen  des  Kunstgesangs 
lange  begleitet,  das  ist  aber  das  Vorvvalten  des  rhythmischen 
Elementes,   dem  gegenüber  der  musikalische  Tonfall  anfänglich  nur 


Stadien  der  Lautbildung  beim  Kinde.  2  7  I 

wenig  ausgebildet  ist.  Während  das  Lied  auch  der  vollkommneren 
Singvögel  zwar  harmonische  Kadenzen,  aber  kaum  Spuren  eines 
Rhythmus  erkennen  läßt,  bewegt  sich  schon  das  Tanz-  und  Ar- 
beitslied des  Wilden  in  regelmäßigen  Takten  und  Perioden,  die  je- 
doch meist  bloß  in  eintönigen  Wiederholungen  mit  geringem  Wechsel 
der  meist  unsicheren  Intervalle  bestehen.  Die  musikalische  Klang- 
folge ist  hier  sichtlich  erst  aus  dem  Rhythmus  heraus  entstanden, 
und  es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  daß  dabei  vielfach  erst  der 
Klang  der  begleitenden  Lärminstrumente  oder  Arbeitswerkzeuge  zur 
Sicherung  der  Stimmführung  mitgeholfen  hat.  Hierauf  mag  auch 
die  Tatsache  hinweisen,  daß  das  primitivste  der  musikalischen  In- 
strumente die  Pauke  ist,  der  sich  dann  in  mehr  wechselnder  Weise 
Rohrpfeifen,  Muschelhörner  und  ähnliche  aus  vorgefundenen  Gegen- 
ständen gestaltete  Tonwerkzeuge  beigesellten ').  Die  Rhythmik 
der  Bewegungen  ist  eben  in  der  ursprünglichen  Organisation  des 
Menschen  begründet.  Er  ist  durch  die  Regelmäßigkeit  seiner  Geh- 
bewegungen zu  ihnen  mehr  als  die  ihm  nächstverwandten  Tiere 
veranlagt.  Schon  die  primitivste  Kultur  mußte  aber  durch  die 
Übertragung  des  gleichen  Bewegungsprinzips  auf  die  verschiedensten 
Bewegungen  fördernd  auf  diese  natürliche  Anlage  einwirken,  wäh- 
rend die  Tonmodulation  nur  langsam  den  von  der  rhythmischen 
Folge  der  Laute  ausgehenden  Antrieben  folgte. 


II.  Sprachlaute  des  Kindes. 

I.    Stadien  der  Lautbildung   beim  Kinde. 

Die  Entwicklung  der  kindlichen  Stimmlaute  läßt  sich  deutlich 
in  drei  Stadien  unterscheiden.  Das  erste,  das  in  der  Regel  bis  in 
die  sechste  Lebenswoche  herabreicht,  ist  das  der  Schreilaute. 
Das  zweite,  von  der  siebenten  Woche  bis  zum  Ende  des  ersten, 
manchmal  aber  auch  bei  noch  normalen  Kindern  bis  gegen  Ende 
des  zweiten  Lebensjahres  sich  erstreckend,  ist  das  der  artikulierten 
sinnlosen    Laute.     Das    dritte    beginnt    mit    der    Hervorbringung 


')  Vgl.  die  Nachweisungen    über   die  Musikinstrumente    der  Wilden    bei  Ratzel, 
Völkerkunde,  2  I,  S.  180,  467,  688,  II,  S.  18  usw. 


272  Die  Sprachlaute. 


artikulierter  Laute,  denen  die  bestimmte  Absicht  der  Benennung 
beiwohnt:  das  Stadium  der  eigentlichen  Sprachbildung,  es 
umfaßt  die  folgenden  Lebensjahre.  Man  kann,  freilich  etwas  will- 
kürlich, seine  obere  Grenze  da  annehmen,  wo  das  Kind  seine  Vor- 
stellungen und  Willensakte  durchweg  in  regelmäßig  geordneten 
Sätzen  ausdrückt.  Zur  Sprachentwicklung  im  weiteren  Sinne  ge- 
hören natürlich  alle  drei  Stadien;  denn  jede  vorausgehende  Stufe 
bildet  die  psychophysische  Vorbedingung  der  folgenden.  Den  An- 
fang der  eigentlichen  Sprachbildung  wird  man  aber  erst  ansetzen 
können,  wo  das  Kind  wirklich,  wenn  auch  noch  so  unvollkommen, 
willkürlich  Gegenstände  und  Vorgänge  seiner  Umgebung  mit  arti- 
kulierten Lauten  zu  bezeichnen  beginnt.  In  diesen  Verlauf  schieben 
sich  dann  außerdem  noch  Zwischenstufen  ein,  die  den  Übergang 
vermitteln,  und  die  namentlich  zwischen  den  beiden  letzten  Stadien 
von  psychologischem  Interesse  sind'). 

Die  erste  Lautreaktion  des  neugeborenen  Kindes  ist  bekanntlich 
der  Schmerzensschrei,  Kälte  und  Hunger  scheinen  die  Reize 
zu  sein,  die  diese  Reaktion  auslösen.  Sie  besteht  in  unartikulierten, 
meist  bei  weit  geöffnetem  Munde  vorgebrachten  Lauten  von  voka- 
lischem Klangcharakter,  wie  ä^  «,  z/,  iiä.  Schon  in  der  ersten  Lebens- 
woche pflegt  sich  der  Gebrauch  dieser  Schreilaute  zu  erweitern,  in- 
dem sich  nicht  bloß  Schmerz,  sondern  auch  sonstige,  z.  B.  durch 
eine  ungewohnte  Lage  oder  durch  die  plötzliche  Entziehung  der 
Nahrung  hervorgerufene  Unluststimmungen  durch  ein  ähnliches  Ge- 
schrei kundgeben,  das  nun  in  seinem  äußersten  Grade  den  Charakter 
des  Wutschreies  annimmt.  Wie  der  Schmerz-  und  der  Wutschrei 
die  allgemeinen  Ausgangspunkte  des  Ausdrucks  der  Gemütsbewe- 
gungen durch  Stimmlaute  im  Tierreich  sind,  so  ordnet  sich  demnach 
auch  die  individuelle  Entstehung  der  Ausdruckslaute  beim  Kinde 
dieser  generellen  Entwicklung  unter.  Der  Hauptfortschritt,  der  sich 
dann  um  das  Ende  des  ersten  und  den  Anfang  des  zweiten  Lebens- 
monats vollzieht,   besteht  darin,    daß   allmählich   auch  schwächere 


')  Die  folgenden  Angaben  stützen  sich  zumeist  auf  Beobachtungen,  die  ich 
selbst  an  zweien  meiner  Kinder  ausgeführt  habe,  außerdem  hauptsächlich  auf  die 
sorgfältigen  Aufzeichnungen  W.  Preyers  (Die  Seele  des  Kindes, "*  S.  364  ff.),  der  in 
seinem  Werke  auch  eine  größere  Anzahl  von  Beobachtungen  anderer  aus  der  Lite- 
ratur und  aus  privaten  Mitteilungen  gesammelt  hat. 


Stadien  der  Lautbildunsr  beim  Kinde. 


273 


Gefühle  von  Lautäußerungen  begleitet  werden:  so  die  geringeren 
Grade  des  Unbehagens,  der  Ungeduld,  des  Verdrusses,  und  in 
leisen  Anfängen  schon  gewisse  Lustgefühle,  die  letzteren  freilich  zu- 
nächst in  der  mehr  negativen  als  positiven  Form  des  nachlassenden 
Mißvergnügens,  denen  aber  bald  Laute  der  Befriedigung,  des  Be- 
hagens nachfolgen.  In  gleichem  Maße  nehmen  die  Lustäußerungen 
ermäßigte  Formen  an,  und  neben  den  eigentlichen  Schreilauten 
treten  moderierte  Ausdruckslaute  auf  Infolge  der  hierbei  vorhan- 
denen geringeren  und  wechselnderen  Spannung  der  Stimmbänder 
wird  die  Tonmodulation  der  Laute  eine  mannigfaltigere;  und  durch 
die  gleichzeitig  sich  einstellenden  wechselnderen  Formungen  der 
Teile  der  Mundhöhle  wächst,  wenn  auch  noch  in  beschränktem 
Maße,  die  Anzahl  der  Lautartikulationen.  Die  Vokalklänge  ver- 
mehren sich  daher,  und  teilweise  verbinden  sie  sich  bereits  mit 
Verschluß-  und  Resonanzlauten:  Lautbildungen  wie  or^  r'ö^  r«,  ta, 
am^  Jm^  treten  zu  den  früheren  hinzu.  Sowohl  nach  dem  Charakter 
dieser  halbartikulierten  Laute  wie  nach  den  Anlässen,  bei  denen  sie 
hervorgebracht  werden,  bildet  so  diese  Zeit  schon  eine  Zwischen- 
stufe zu  dem  folgenden  Stadium. 

Dieses  zweite  Stadium  selbst  ist  zunächst  durch  die  rasch  wach- 
sende Anzahl  der  Lautartikulationen  gekennzeichnet.  Sie  kommt, 
abgesehen  von  der  zunehmenden  Beweglichkeit  der  Mund-  und 
Rachenteile,  hauptsächlich  auf  Rechnung  der  in  der  Regel  im 
7.  bis  8.  Monate  hervorbrechenden  Schneidezähne.  Gleichzeitig 
wächst  aber  sichtlich  auch  der  Reichtum  der  Gemütsstimmungen, 
namentlich  der  Lustaffekte  und  der  an  sie  sich  anschließenden 
Affekte  der  Neugier,  Erwartung,  Verwunderung,  indes  sich  die  Un- 
lustaffekte noch  auf  lange  hinaus  weder  nach  ihren  psychologischen 
Anlässen  noch  in  ihren  physischen  Symptomen  wesentlich  zu  ändern 
pflegen.  Während  sich  daher  Schmerz  und  Zorn  ganz  wie  früher 
durch  lautes  unartikuliertes  Geschrei  kundgeben,  nehmen  mehr  und 
mehr  die  Perioden  zu,  wo  das  Kind,  offenbar  in  zufriedener  Stim- 
mung, fast  ununterbrochen  artikulierte  Laute  ausstößt.  Gerade  die 
deutlicheren  Artikulationen,  wie  ant^  ab^  ovi^  ra^  da^  an,  na,  bu,  Jiii, 
Verbindungen  also  von  Resonanz-  und  Lippenverschlußlauten  mit 
Vokalen,  unter  welchen  letzteren  nur  das  i  zunächst  noch  zurück- 
tritt,  sind   augenscheinlich   Äußerungen   dauernder,   aber   schwacher 

Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  18 


2  74  ^^^  Sprachlaute. 


Lusterregungen.  Stärkere  Lustaffekte  künden  sich  in  derselben  Zeit 
gewöhnlich  durch  ein  lautes  krähendes  Geschrei  an,  das  sich  von 
dem  Wehgeschrei  durch  seine  kürzere  Dauer  und  seine  hohe  Ton- 
lage unterscheidet.  Dabei  muß  freilich  ein  für  allemal  bemerkt 
werden,  daß  es  sich  bei  Angaben  über  die  artikulierten  Laute  des 
Kindes  in  dieser  Lebenszeit  stets  nur  um  eine  annähernde  Wieder- 
gabe der  häufiger  vorkommenden  Laute  handeln  kann.  Eine  den 
Ansprüchen  der  Lautphysiologie  genügende  Charakterisierung  ist 
unmöglich,  weil  man  fast  ganz  auf  die  Beurteilung  des  akustischen 
Eindrucks  angewiesen  bleibt.  Die  wirklich  hervorgebrachten  Laute 
sind  zudem,  wenn  man  die  Übergänge  und  die  in  unseren  konventio- 
nellen Symbolen  kaum  darstellbaren  Laute  hinzunimmt,  geradezu 
unübersehbar  in  ihrer  Mannigfaltigkeit. 

In  dem  geschilderten  Verhalten  ändert  sich  im  Laufe  der  folgen- 
den Monate  nur  wenig,  abgesehen  davon,  daß  die  Lautartikulationen 
zahlreicher  werden,  indem  sich  zunächst  die  Vokale,  dann  auch  die 
Konsonanten  durch  mannigfaltigere  Abstufung  der  Lippenverschluß- 
laute und  durch  den  Hinzutritt  der  Zungenlippenlaute,  überhaupt 
aber  durch  die  immer  größer  werdende  Beweglichkeit  der  Zunge 
vervollständigen.  So  beobachtet  man  als  häufiger  auftretende  neue 
Artikulationen  Laute  wie  <?/,  eg-^  ge^  ai,  ja^  ek^  br^  ta^  ga,  ka  und 
ähnliche.  Damit  ist  schon  ungefähr  zu  Ende  des  ersten  Lebens- 
jahres ein  zureichendes  Material  für  die  Lautgebilde  der  Sprache 
vorhanden.  Nichtsdestoweniger  haben  diese  Laute  zunächst  noch 
nicht  im  mindesten  den  Charakter  wirklicher  Sprachlaute,  sondern 
ihr  einziger  psychologischer  Unterschied  von  den  primitiven  Schrei- 
lauten liegt  darin,  daß  sie  Ausdrucksmittel  einer  ganz  andern  Kate- 
gorie von  Gefühlen  sind,  nämlich  eben  jener  mäßigen  Lust-,  Span- 
nungs-  und  Erregungsgefühle,  die  allmählich  durch  die  eingetretene 
psychische  Entwicklung  entstanden.  Ganz  diesem  Stadium  reiner 
Gefühlsäußerungen  gehört  auch  noch  die  Bildung  der  Lautwieder- 
holungen an,  die  in  der  Regel  in  die  zweite  Hälfte  des  ersten 
Lebensjahres  fällt,  also  dem  Auftreten  der  ersten  artikulierten  Laute 
erst  nach  geraumer  Zeit  folgt.  Lautlich  scheint  sie  an  den  zuneh- 
menden Gebrauch  der  Dental-  und  Lippenverschlußlaute  gebunden 
zu  sein.  Zunächst  bilden  sich  meist  mehrfache  Wiederholungen, 
wie   da-da-da-da^    ba-ba-ba-ba^    ma-ma-ma-ma.     Das   Kind   scheint 


Stadien  der  Lautbilduiig  beim  Kinde.  275 

sich  bei  ihrer  Hervorbringung  besonders  behaglich  zu  fühlen.  Auch 
kommen  bei  ihnen  gelegentlich  Tonmodulationen  von  freilich  durch- 
aus unharmonischer  Art  vor.  Doch  bedingen  diese  Wiederholungs- 
formen zum  erstenmal  eine  gewisse  zeitliche  Regelmäßigkeit  der 
aufeinander  folgenden  Laute,  in  der  sich  Spuren  eines  rhythmischen 
Gefühls  und  eines  Wohlgefallens  an  rhythmischen  Eindrücken  ver- 
raten. Allerdings  ist  dieses  Gefühl  noch  von  einfachster  Art,  da 
sich  der  Rhythmus  auch  hier,  analog  wie  bei  den  offenbar  psycho- 
logisch verwandten  einfachsten  Formen  der  Tonmodulation  bei  den 
Vögeln  (S.  259),  auf  die  Einhaltung  einer  annähernden  Zeitgleichheit 
der  einzelnen  Laute  beschränkt. 

Bald  nach  dem  Hervortreten  der  Wiederholungslaute,  in  der 
Regel  gegen  das  Ende  des  ersten  Lebensjahres,  bietet  sich  nun 
noch  eine  andere  Erscheinung  dar,  in  der  zum  erstenmal  die  selb- 
ständige Lautbildung  des  Kindes  mit  den  Einflüssen  der  Umgebung 
in  Beziehung  tritt.  Das  Kind  beginnt  nämlich  äußere  Laute,  manch- 
mal beliebige  zufällige  Geräusche,  namentlich  aber  Sprachlaute,  die 
ihm  vorgesagt  werden,  nachzuahmen.  Die  Neigung  zu  dieser  »Echo- 
sprache« ist  bei  verschiedenen  Kindern  in  ungleichem  Maße  vor- 
handen. Die  Erscheinung  selbst  besteht  aber  in  einem  völlig  ver- 
ständnislosen Nachahmen  der  Laute,  ähnlich  der  bei  geistigen 
Schwächezuständen  vorkommenden  Echosprache,  die  in  den  Fällen 
von  angeborenem  Idiotismus  eine  auf  dieser  Stufe  stehen  gebliebene 
Kindersprache  zu  sein  scheint.  Sie  ist  Teilerscheinung  anderer  Nach- 
ahmungsbewegungen, besonders  der  Nachahmung  von  Gebärden, 
welche  letztere  zuerst  als  unwillkürliche  Nachbildung  mimischer  Aus- 
drucksformen und  dann,  auf  einer  etwas  fortgeschritteneren  Stufe, 
als  solche  von  hinweisenden  und  nachahmenden  Handbewegungen 
vorzukommen  pflegt.  In  etwa  derselben  Zeit  beginnt  sich  dann 
auch  ein  Verständnis  gesehener  Gebärden  und  gehörter  Wörter  zu 
regen.  Allem  andern  geht  in  dieser  Beziehung  ein  instinktives 
Verstehen  mimischer  Ausdrucksbewegungen  voran,  das  schon  in 
den  ersten  Lebensmonaten  deutlich  an  der  Rückwirkung  auf  die 
eigenen  Gemütsbewegungen  des  Kindes  zu  bemerken  ist.  Darauf 
folgt  einige  Monate  später  das  Verstehen  hinweisender  Gebärden, 
und  diesem  wieder,  meist  erst  gegen  Ende  des  ersten  Lebens- 
jahres,  das  Verstehen   einzelner  Wörter,    das  sich  darin  verrät,    daß 

18* 


2  70  Die  Sprachlaute. 


das  Kind  nach  dem  Gegenstand  oder  der  Person,  die  genannt  wer- 
den, blickt.  Doch  ist  es  bemerkenswert,  daß  zwischen  diesem  Ver- 
stehen gehörter  Worte  und  der  eigenen  Anwendung  derselben  zum 
Zweck  der  Benennung  immer  noch  eine  geraume  Zeit  liegt;  daher 
es  in  dieser  Entwicklung  eine  kurze  Periode  geben  kann,  in  der 
das  Kind  einerseits  verständnislos  Wörter  nachspricht,  anderseits 
solche  versteht,  gleichwohl  aber  selbst  noch  nicht  im  eigentlichen 
Sinne  spricht,  das  heißt  Worte  in  der  Absicht  der  Benennung  ge- 
braucht. 

Der  Eintritt  in  dieses  letzte  Stadium,  in  das  der  eigentlichen 
Sprachbildung,  ist  demnach  durch  das  Zusammentreffen  zweier 
Momente  bestimmt:  der  Lautnachahmung,  wie  sie  in  der  Echo- 
sprache ihren  Ausdruck  findet,  und  des  Verstehens  gehörter 
artikulierter  Laute,  das  sich  an  das  Verstehen  mimischer  und  panto- 
mimischer Ausdrucksbewegungen  als  ein  letzter  Vorgang  anschließt. 
Mit  diesem  fällt  jedoch  der  verständnisvolle  Gebrauch  der  Worte 
zeitlich  noch  nicht  zusammen;  sondern  erst,  nachdem  Nachahmung 
und  Verständnis,  beide  unabhängig  voneinander,  eine  Zeitlang  ge- 
übt worden  sind,  treten  die  ersten  mit  der  Absicht  der  Mitteilung 
gebrauchten  sprachlichen  Benennungen  auf.  Zunächst  sind  es  Per- 
sonen und  Vorkommnisse  der  täglichen  Umgebung,  die  das  Kind 
zur  Benennung  anregen  oder  es  veranlassen,  ihm  vorgesprochene 
Wörter  in  gleicher  Bedeutung  nachzusprechen:  so  in  den  bekannten 
Lallwörtern  Mama^  Papa^  ferner  atta  für  das  Fortgehen  einer  Per- 
son, viimi  für  die  Milchfiache  und  dergleichen  mehr.  Diesen  Er- 
eignissen, die  in  der  Regel  in  die  Wende  des  ersten  und  zweiten 
oder  in  die  ersten  Monate  des  zweiten  Lebensjahres  fallen,  folgen 
dann  die  weiteren  Wortbildungen  der  Kindersprache  meist  so  rasch, 
daß  schon  in  der  zweiten  Hälfte  des  zweiten  Lebensjahres  für  die 
das  Interesse  erregenden  Gegenstände  der  Umgebung  zureichende 
Bezeichnungen  vorhanden  sind.  Bei  einem  Mädchen,  dessen  erste 
mit  dem  Zweck  der  Benennung  gebrauchte  Sprachlaute  genau  in 
den  12.  Monat  fielen,  zählte  ich  im  19.  Monat  bereits  66  Wörter, 
die  sich  einen  Monat  später  abermals  um  12  vermehrt  hatten.  Bei- 
spiele dieser  Wortbildungen  sind:  Oggo  Onkel,  Dada  Tante,  Opapa^ 
Omama  Großpapa,  Großmama,  Eje  Marie,  Wida  Friedrich,  Mann 
Mann,   Mnc  Junge,  Pipi  Vogel,     Wauwan  Hund,   Hotto  Pferd,   Mi 


Ansrebliche  Worterfindung  des  Kindes. 


277 


Katze,  Mh  Kuh,  Wa  Wagen,  Agga  Auge,  Mon  Mond,  Muni  guten 
Morgen ,  Nan  gute  Nacht ,  Ü  Hütchen ,  Gag  Kleid ,  Jüja  Schleier, 
Aga  Jacke,  Ua  Schuh,  Bo  Boden,  Bat  Band,  Bit  Buch,  Mia  Finger, 
Miawiit  Fingerhut,  Giiga  Kuchen,  Dida  (Tiktak)  Uhr,  Aga  Kaffee, 
Joj  Schoß,  adda  spazieren  gehen,  teaii  aufstehen  usw.  Erst  nach 
dieser  Zeit  der  ersten  Wortbildungen  vermehren  sich  auch  die  häu- 
figer gebrauchten  artikulierten  Gefühlslaute.  So  sind  von  der  zwei- 
ten Hälfte  des  zweiten  Lebensjahres  an  Laute  wie  chi^  np  ^  id^  ol^ 
tscJii^  pu^  kch^  mp,  scJii^  klii  u.  a.  öfter  zu  hören.  Gegen  die  Mitte 
des  dritten  Lebensjahres  pflegen  die  sämtlichen  in  der  Sprache  der 
Umgebung  vorkommenden  Laute  auch  in  der  Sprache  des  Kindes 
und  in  den  bloßen  Gefühlsartikulationen,  die  längere  Zeit  neben  der 
eigentlichen  Sprache  fortbestehen,  eine  Rolle  zu  spielen.  Dabei 
werden  freilich  noch  verschiedene  Laute  miteinander  verwechselt, 
eine  Erscheinung,  die  aber  nur  zum  allergeringsten  Teil  in  einer 
wirklichen  Unfähigkeit  der  Artikulation,  sondern  zumeist  in  ganz 
andern  Bedingungen  ihren  Grund  hat,  auf  die  wir,  da  sie  die  Eigen- 
tümlichkeiten der  Kindersprache  überhaupt  bestimmen,  unten  noch 
zurückkommen  werden. 


2.    Angebliche  ^A^orte^findung  des  Kindes. 

Bei  Müttern  und  Ammen  herrscht  weitverbreitet  die  Ansicht, 
das  Kind  erfinde  sich  seine  Sprache  selber,  und  von  frühe  an  wende 
es  diesem  Zwecke  seine  Aufmerksamkeit  und  Überlegung  zu.  Die 
Entstehung  dieser  Ansicht  ist  begreiflich  genug.  Das  Kind  bringt 
seine  ersten,  noch  bedeutungslosen  artikulierten  Laute  spontan  her- 
vor; und  wenn  es  dann  später  diese  Laute  zu  wirklichen  Wörtern 
verbindet,  so  läßt  sich  zwar  der  Einfluß  des  Vorsprechens  nicht 
ganz  übersehen,  aber  in  vielen  Fällen  liegt  er  doch  nicht  ohne  wei- 
teres zutage.  Dazu  kommt  der  eigenartige  Charakter  der  Kinder- 
sprache, der  zugleich  dem  Wesen  des  Kindes  durchaus  angemessen 
zu  sein  scheint.  Auffallend  ist  es  aber  doch,  daß  die  nämliche 
Ansicht  fast  ausnahmslos  auch  noch  von  den  pädagogischen  Beob- 
achtern der  Kindersprache  und  von  vielen  Psychologen  geteilt  wird. 
Dies  läßt  sich  wohl  nur  daraus  erklären,  daß  in  der  Psychologie 
jener  Mütter   und  Ammen,    die   von  der  wunderbaren   Erfindungs- 


2^8  I^is  Sprachlaute. 


kraft  des  Kindes  erfüllt  sind,  ein  Vorurteil  vorkommt,  das  sich  mit 
merkwürdiger  Beharrlichkeit  auch  in  der  Psychologie  der  Gelehrten 
behauptet  hat:  das  Vorurteil,  daß  der  Mensch  von  Haus  aus  ein 
Wesen  sei,  das  in  seinen  Handlungen  von  logischen  Reflexionen 
bestimmt  werde.  Diese  Psychologen  zweifeln  z.  B.  nicht  daran, 
daß  jede  Empfindung,  etwa  die  Empfindung  blau,  die  uns  der  blaue 
Himmel  verschafft,  ein  »Urteil«  sei,  oder  sich  mit  einem  solchen 
verbinde,  weil  diese  Empfindung  irgendeinen,  wenn  auch  noch  so 
primitiven,  »Denkakt«  ausmache^).  Ebenso  wird  in  dem  Gefühl  der 
Lust  oder  Unlust  nicht  selten  eine  Beziehung  zur  Güte  oder 
Schlechtigkeit,  Nützlichkeit  oder  Schädlichkeit  der  Reize  gesehen. 
Und  daß  vollends  jede  Willenshandlung  aus  einer  Vergleichung  und 
Bevorzugung  der  gewollten  Handlung  hervorgehe,  ist  noch  heute 
eine  weitverbreitete  Überzeugung.  Ich  glaube  nicht,  daß  in  allen 
diesen  Fällen,  wenn  man  sich  auf  die  unbefangene  Auffassung  der 
Tatsachen  selbst  beschränkt,  ohne  ihnen  nachträgliche  Reflexionen 
über  sie  unterzuschieben,  im  Ernst  von  einer  Nachweisung  solcher 
logischer  Vorgänge  die  Rede  sein  kann.  Dennoch  ist  es  wohl  be- 
greiflich, daß  das  aus  der  Vulgärpsychologie  übernommene  Vor- 
urteil bis  zu  einem  gewissen  Grad  auch  noch  der  wissenschaftlichen 
Analyse  standhält,  weil  ja  die  logische  Reflexion  selbst  die  Atmo- 
sphäre ist,  in  der  sich  diese  Analyse  bewegt.  So  kommt  es  denn 
leicht,  daß  namentlich  der  von  der  Philosophie  herüberkommende 
Psychologe  geneigt  ist,  die  Reflexionen,  die  er  über  die  Objekte 
seiner  Beobachtung  anstellt,  in  die  Objekte  selbst  zu  verlegen,  so 
daß  die  Kunst,  die  Dinge  objektiv  zu  beurteilen,  die  sonst  in  der 
Regel  durch  die  wissenschaftliche  Reflexion  gefördert  wird,  gerade 
hier,  wo  es  sich  um  die  unbefangene  Auffassung  des  Menschen 
handelt,  mehr  als  anderswo  durch  die  nämliche  Reflexion  von  Grund 
aus  verdorben  werden  kann^). 

In  der  Anwendung  auf  die  Psychologie  des  Kindes  äußert  sich 
nun  jener  Standpunkt  der  Vulgärpsychologie  vor  allem  darin,  daß 
er  auf  jede  Frage ,    die   das   Verhalten   des   Kindes  dem   objektiven 


i)  Vgl.  z.B.  Franz  Brentano,  Psychologie  vom  empirischen  Standpunkte,  I,   1874, 
S.  182. 

2)  Vgl.  hierzu  die  Bemerkungen  der  Einleitung,  S.  1 1  ff. 


Angebliche  Worterfindmig  des  Kindes.  2  70 

Beobachter  stellen  mag,  von  vornherein  die  Antwort  bereit  hat. 
Denn  da  alle  psychischen  Vorgänge  ihrem  eigentlichen  Wesen  nach 
logische  Denkakte  sein  sollen ,  so  erscheinen  hier  die  Handlungen 
des  Kindes  im  allgemeinen  als  vollkommen  eindeutige  Symptome. 
Wenn  z.  B.  das  neugeborene  Kind  auf  süße  und  bittere  Geschmacks- 
reize in  verschiedener  Weise  den  Mund  verzieht,  gerade  so  wie 
dies  der  Erwachsene  tut,  so  wird  das  als  ein  Zeugnis  dafür  be- 
trachtet, daß  jenes  ebenso  wie  dieser  Abscheu  oder  Wohlgefallen 
empfinde.  Wenn  das  Kind  sein  Auge  einem  äußeren  Lichte  zu- 
wendet, so  soll  es  dadurch  seine  Aufmerksamkeit  kundgeben ;  starrt 
es  das  Licht  lange  und  auffallend  an,  so  wird  dies  als  ein  Zeichen 
der  Verwunderung  oder  vielleicht  gar  des  Nachdenkens  betrachtet. 
Daß  es  alles  dies  möglicherweise  sein  könnte,  sofern  man  die 
Symptome  für  sich ,  ohne  alle  Rücksicht  auf  die  sie  begleitenden 
Bedingungen  ins  Auge  faßt,  ist  natürlich  nicht  zu  bestreiten.  Gewiß 
ist  aber,  daß  die  genannten  Erscheinungen  eine  solche  Deutung 
noch  nicht  rechtfertigen,  sondern  daß  andere,  unzweideutige  Merk- 
male gegeben  sein  müssen,  ehe  wir  über  den  Charakter  der  zu- 
grunde liegenden  psychischen  Vorgänge  oder  auch  nur  darüber 
entscheiden  können,  ob  es  sich  wirklich  um  psychische  Vorgänge 
handelt.  Denn  in  Wahrheit  sind  alle  jene  Erscheinungen  viel- 
deutiger Art,  und  bei  dem  Ungeheuern  Einfluß,  den  vererbte  Orga- 
nisationsbedingungen, wie  sie  in  besonders  venvickelter  Form  in 
den  Nervenzentren  vorauszusetzen  sind,  auf  die  Lebensäußerungen 
ausüben,  ist  die  bloße  Analogie  gewisser  Bewegungen  mit  unseren 
eigenen  willkürlichen  Handlungen  für  die  psychologische  Natur  der 
Prozesse  selbst  durchaus  nicht  entscheidend.  Hier  bietet  nun  aber 
gerade  die  Sprache  den  großen  Vorzug,  daß  sie  uns  eine  genauere 
Einsicht  in  die  Bedingungen  ihrer  Entstehung  und  eine  voUkomm- 
nere  Beherrschung  dieser  Bedingungen  gestattet  als  die  meisten 
andern  Vorgänge  der  psychischen  Entwicklung.  Indem  nämlich 
die  Sprache  von  Anfang  an  im  Verkehr  mit  der  Umgebung 
sich  bildet,  wird  ihre  Entwicklung  in  viel  höherem  Grad  als 
die  der  sonstigen  psychischen  oder  psychophysischen  Funktionen 
der  Kontrolle  durch  die  objektive  Beobachtung  zugänglich.  Denn 
jener  Verkehr  ist  ein  äußerer  Vorgang,  den  wir  bei  zureichender 
Sorgfalt    wenigstens    in    dem    Sinne    vollkommen    zu    beherrschen 


280 


Die  Sprachlante. 


vermögen,  daß  sich  nichts  in  ihm  ereignet,  was  wir  nicht  sofort  in 
seiner  äußeren  Entstehungsweise  und  seinen  objektiven  Rückwir- 
kungen verfolgen  können.  Freilich  bedarf  es  dazu  einer  täglichen, 
ja  stündlichen  Beobachtung  des  Kindes  und  womöglich  einer  ver- 
ständnisvollen Mit\virkung  aller  Personen,  die  mit  dem  Kinde  ver- 
kehren, damit  jede  neu  auftretende  Erscheinung  in  ihrem  Ent- 
stehungsmoment registriert  und  auf  ihre  Bedingungen  zurückgeführt 
werden  könne.  Wenn  daher  manche  zweifellos  sonst  sorgfältige 
Beobachter  zu  Schlüssen  gelangt  sjnd,  die  sich  bei  Einhaltung 
der  angedeuteten  Vorsichtsmaßregeln  nicht  bestätigen,  so  trägt 
daran,  wie  ich  glaube,  lediglich  jene  logische  Interpretation  der 
Vulgärpsychologie  die  Schuld,  die  sie  von  vornherein  geneigt 
machte,  die  Sprache  im  wesentlichen  als  eine  »Erfindung«  des  Kindes 
anzusehen,  und  von  der  beherrscht  sie  begreiflicherweise  vor  allem 
bemüht  sein  mußten,  den  Spuren  dieser  erfinderischen  Tätigkeit 
nachzugehen.  Auf  die  Nachweisung  der  äußeren  Einflüsse,  die 
hierbei  mitwirken  mochten,  wurde  dann  natürlich  nicht  die  gleiche 
Sorgfalt  verwendet. 

Schon  die  Auffassung  des  allerersten  Stadiums  der  Sprachent- 
wickluno-,  iener  meist  von  der  siebenten  Lebenswoche  an  allmählich 
auftretenden  artikulierten  Laute,  die  noch  keine  Sprache  sind,  aber 
sie  vorbereiten,  leidet  unter  der  Geltendmachung  dieses  logischen 
Gesichtspunktes.  Die  populäre  Meinung  sieht  in  ihnen  »Vorübun- 
gen«, in  denen  sich  das  Kind  nicht  ganz  ohne  eigene  Absicht  auf 
das  künftige  Geschäft  des  Sprechenlernens  vorbereite;  und  dieser 
Meinung  nähern  sich  auch  die  Schilderungen  wissenschaftlicher 
Beobachter  ^elesrendich  in  bedenklichem  Grade.  Mindestens  erachtet 
man  es  für  eine  »zweckmäßige  Einrichtung  der  Natur«,  daß  das  Kind 
alle  die  Laute,  deren  es  später  bedürfe,  selbsttätig  erzeuge  und  sich 
durch  ihre  Wiederholung  in  deren  Bildung  vervollkommne.  Nun  kann 
man  es  gewiß  in  retrospektiver  Betrachtung  für  zweckmäßig  halten, 
daß  das  Kind  in  dem  Augenblick,  wo  es  zu  sprechen  anfängt,  be- 
reits über  das  Lautmaterial  verfügt,  dessen  es  bedarf.  Aber  ob- 
jektiv betrachtet  ist  das  nicht  bloß  zweckmäßig,  sondern  notwendig ; 
denn  es  würde  gar  nicht  einzusehen  sein,  wie  eine  Nachahmung  von 
Sprachlauten  möglich  sein  sollte,  ehe  die  dabei  vorkommenden  Laut- 
artikulationen   schon    vorhanden    sind.      Subjektiv    betrachtet    kann 


Angebliche  Worterfindung  des  Kindes.  28 1 

aber  von  Zweckmäßigkeit  nicht  geredet  werden,  weil  das  Kind  mit 
seinen  der  Sprache  vorausgehenden  Lauten  überhaupt  keinerlei  Ab- 
sicht, am  allerwenigsten  die,  künftig  sprechen  zu  wollen,  verbindet. 
Diese  Laute  sind  reine  Gefühlslaute,  gerade  so  gut  wie  die  in  einem 
noch  früheren  Stadium  auftretenden  Schreilaute.  Sie  unterscheiden 
sich  von  letzteren  nur  dadurch,  daß  sie  an  mildere  Gefühle,  nament- 
lich an  mäßige  Lustgefühle,  gebunden  sind.  Psychologisch  sind  sie 
also  jedenfalls  nur  als  Gefühlssymptome  zu  deuten,  und  wenn  sie 
späterhin  außerdem  das  Material  abgeben,  aus  dem  eigentliche 
Sprachlaute  gebildet  werden,  so  ist  das  kein  anderer  Zusammen- 
hang zwischen  dem  Vorausgehenden  und  Nachfolgenden,  als  wie  er 
uns  auch  sonst  überall  in  der  Entwicklung  psychischer  Funktionen 
begegnet. 

Mehr  als  diese  der  Sprache  vorausgehenden  Lautartikulationen 
haben  nun  aber  die  den  Eintritt  in  die  eigentliche  Sprachentwick- 
lung bezeichnenden  Wortbildungen  des  Kindes  die  Aufmerksam- 
keit psychologischer  Beobachter  gefesselt.  Dabei  konnte  freilich 
nicht  verborgen  bleiben,  daß  das  Kind  viele  Worte  von  seiner 
Umgebung  aufnimmt  und  nachspricht.  Doch  ist  es  bezeichnend, 
wie  sehr  selbst  diese  bekannte  Tatsache  nicht  selten  durch  den 
Begriff  der  »Erfindung«  in  ein  Licht  gerückt  wird,  das  auch  diese 
nachgebildeten  Sprachlaute  zur  Hälfte  als  eigene  Erfindungen  er- 
scheinen läßt.  Das  Nachsprechen  des  Kindes  wird  nämlich  un- 
mittelbar mit  seiner  Neigung  zu  onomatopoetischen  Wortbildungen 
in  Verbindung  gebracht.  Echosprache  und  onomatopoetische  Wort- 
erfindung sollen  daher  im  wesentlichen  Vorgänge  gleicher  Art  sein. 
Von  den  onomatopoetischen  Bildungen  bezeichnet  z.  B.  Taine  die 
Laute  koko  für  das  Huhn,  oiia-oiia  für  den  Hund  entschieden  als 
selbsterfundene,  durch  welche  das  Kind  diese  Tiere  absichtlich 
nachgeahmt  habe.  Als  weitere  Worterfindungen,  die  mehr  in  das 
Gebiet  der  interjektionsartigen  Ausdruckslaute  fallen  würden,  führt 
er  Jiam  für  'ich  will  essen^,  tein  im  Sinn  eines  Demonstrativs  für 
gib,  nimm,  sieh''  an').  In  Darwins  Beobachtungen  beschränkte 
sich    die    angeblich    »selbständige«    Erfindung  auf  den   Laut  mum^ 


^)  Taine,  Revue  philos.  I,   1876,  p.  5.    Über  den  Verstand,  deutsch  von  L.  Sieg- 
fried,  1880,  I,  S.  287  ff. 


282  Die  Sprachlaute. 


den  das  Kind  in  ähnlichem  Sinne  wie  das  von  Taine  bemerkte  ham 
anwandte,  für  den  Wunsch  zu  essen  oder  auch  für  das  Substan- 
tivum  "^Essen",  daher  es  später  diesen  Laut  sogar  in  Zusammen- 
setzungen gebrauchte,  z.  B.  shii-minn  für  Zucker,  black-sliu-imnn 
für  Lakritzen').  Sully  beobachtete  bei  einem  8  Monate  alten  Knaben, 
also  in  einer  Zeit,  die  früher  liegt  als  die  eigentliche  Sprachbildung, 
die  Laute  ma-nia  als  Zeichen  der  Trauer,  da-da  als  Zeichen  der 
Freude.  Ferner  hält  er  da  für  einen  bei  englischen  und  deutschen 
Kindern  instinktiv  gebrauchten  Demonstrativlaut,  und  ata  oder 
tata  für  ein  Lautzeichen,  welches  den  Abgang  einer  Person  be- 
deute^). Ziemlich  reich  ist  endlich  das  Vokabularium  selbsterfun- 
dener Lautzeichen  bei  K.  C.  Moore.  Sie  beobachtete  um  die 
82.  Woche  folgende  »erfundene  und  in  Gebrauch  behaltene  Namen«: 
lum  für  Katze ,  bizz  für  den  eigenen  Schatten ,  baJidiz  für  eine  an 
der  Decke  des  Schlafzimmers  befindliche  Figur,  alah  für  ein  oft 
gesehenes  kleines  Mädchen;  ferner  »erfundene  Wörter,  die  nur  ein- 
mal gebraucht  und  wieder  vergessen  wurden«:  babax  für  einen 
Türhaken  (hinge) ,  blcbs  für  eine  Leiste  (ledge)  am  Piano ,  piecc  it 
für  "^in  Stücke  brechen"  (to  break  into  pieces)^). 

Natürlich  ist  es  völlig  unmöglich,  bei  diesen  Berichten  nach- 
träglich festzustellen,  was  wirklich  eigene  Tat  des  Kindes,  und  was 
ihm  etwa  aus  seiner  Umgebung  unbemerkt  überliefert  worden  sei_ 
Aber  so  viel  ist  ohne  weiteres  ersichtlich,  daß  zahlreiche  der  an- 
gegebenen »Erfindungen«  entweder  gewissen  Wörtern  aus  der  Sprache 
der  Erwachsenen  so  ähnlich  oder  in  der  traditionellen  Kindersprache 
seit  alter  Zeit  so  heimisch  sind,  daß  sie  von  vornherein  als  der 
Entlehnung  dringend  verdächtig  angesehen  werden  müssen.  Dahin 
gehören  das  koko  des  französischen  Kindes  für  das  Huhn,  das  mit 
cocque^  tein  für  nimm,  das  mit  ticns  zusammenhängt,  blebs^  das  wahr- 
scheinlich direkt  durch  unvollkommenes  Nachstammeln  aus  ledge 
entstanden  ist,  piece  it^  das  aus  break  into  pieces  verkürzt  wurde. 
Die  von  Sully  schon  im  8.  Monat  beobachteten  Laute  ma-ma  und 
da-da  fallen   noch  in  die  Zeit  der  reinen   artikulierten  Gefühlslaute, 


i)  Darwin,  Mind,  Vol.  II,   1876,  p.  293. 

2)  Sully,  Untersuchungen  über  die  Kindheit,  deutsche  Ausg.   1892,  S.  130  f. 

3)  Moore,  Mental  Development  of  a  Child,   1896,  p.  125.    Psychological  Review, 
Suppl.  Nr.  3. 


Angebliche  Worterfindung  des  Kindes.  283 

WO  der  erste  Laut  der  gewöhnliche  Begleiter  der  natürlichen  Wein- 
bewegungen ist,  während  der  zweite  zu  denen  gehört,  die  das  Kind 
neben  andern  bei  behaglicher  Gemütsstimmung  hervorbringt.  Das 
demonstrative  da  des  deutschen  und  englischen  steht  aber  ebenso 
wie  das  tem  des  französischen  Kindes  unter  dem  Verdacht  der  Ent- 
stehung aus  den  bekannten  Demonstrativwörtern  da,  das^  engl,  that, 
und  ata  oder  tata  für  die  Entfernung  einer  Person  gehört  ebenso- 
gut wie  die  onomatopoetischen  Tierlaute  zu  dem  alten  Inventar  der 
Kindersprache.  Zweifelhafter  verhält  es  sich  mit  den  offenbar  nahe 
übereinstimmenden  Wörtern  kam  und  mum^  die  Taine  und  Darwin 
für  den  Begriff  des  Essens  beobachteten.  Ob,  wie  Preyer")  annimmt, 
harn  als  eine  Nachbildung  von  faim  zu  deuten  sei,  scheint  mir  eben 
wegen  dieser  Übereinstimmung  zweifelhaft,  um  so  mehr,  da  ähnliche 
Laute  mehrfach  in  der  gleichen  Bedeutung  beobachtet  worden  sind. 
So  berichtet  schon  Samuel  Heinicke,  ein  igjähriger  Taubstummer 
habe  neben  andern  gewohnheitsmäßig  für  gewisse  Gegenstände  ge- 
brauchten Ausdruckslauten  auch  das  Wort  inuni  in  der  Bedeutung 
'essen'  gebraucht^).  Auch  kann  wohl  die  später  zu  erwähnende 
Tatsache,  daß  in  zahlreichen  Sprachen  zur  Bezeichnung  der  Funk- 
tionen der  Artikulationsorgane  Laute  Verwendung  finden,  bei  denen 
diese  Funktionen  selbst  mitwirken,  in  diesem  Fall  als  ein  Zeugnis 
für  eine  natürliche  Entstehung  der  Laute  angeführt  werden^).  Eine 
andere  Frage  aber  ist  es,  ob  diese  Laute  nicht,  ebenso  wie  die 
mancherlei  onomatopoetischen  Tiernamen,  dem  Kinde  von  seiner 
Umgebung  mitgeteilt  wurden.  Ist  es  doch  eine  beliebte  Gebärde 
der  Mütter  und  Wärterinnen,  ehe  sie  dem  Kind  et^vas  zu  essen 
geben,  die  Eßbewegungen  nachzuahmen.  Dem  entspricht,  daß  imiin 
in  der  Bedeutung  "^still'  ein  englisches  Wort  ist,  das  offenbar  aus  der 
gleichen  Ausdrucksbewegung  entstand.  Es  bleiben  so  schließlich 
noch  einige  der  von  K.  C.  Moore  verzeichneten  Wörter  übrig,   die 


1)  Preyer  a.  a.  O.  S.  428. 

2)  Heinicke,  Beobachtungen  über  Stumme,  S.  137.  Die  andern  von  Heinicke 
angeführten  Wörter  des  Taubstummen  sind  zum  Teil  dunkel ;  einige  dürften  eben- 
falls mit  Nachahmungsgebärden  des  Mundes  zusammenhängen.  So  nannte  er  den 
Hund  Beyer,  vielleicht  in  Nachahmung  der  Bellbewegungen,  das  Kind  Ttitteit,  mög- 
licherweise nach  den  Saugbewegungen;  'Gott  bewahre'  übersetzte  er  in  Iieschbefah, 
eine  offenbare  Nachahmung  der  wahrgenommenen  Mundartikulationen. 

3)  Vgl.  unten  III,  2. 


284  ^'s  Sprachlaute. 


sich  wie  vollkommen  willkürliche,  ohne  alle  Beziehung  zu  ihrer  Be- 
deutung entstandene  Worterfindungen  ausnehmen.  Über  ihre  Herkunft 
läßt  sich  natürlich  nichts  vermuten.  Gleichwohl  lehren  Beobach- 
tungen über  die  Entstehung  ähnlicher  scheinbar  ganz  willkürlicher 
Bezeichnungen,  daß  man  in  solchen  Fällen  noch  nicht  berechtigt 
ist,  von  einer  freien  Erfindung  des  Kindes  zu  reden.  So  erinnere 
ich  mich,  daß  ich  bei  der  Beobachtung  eines  meiner  Kinder  mehrere 
Tage  von  der  Frage  beunruhigt  wurde,  wie  das  Kind  dazu  kam, 
einen  Stuhl  giik  zu  nennen,  bis  ich  ermittelte,  daß  das  Kinder- 
mädchen mehrmals  eine  künstliche  Katze  auf  den  Stuhl  gesetzt  hatte 
und  mit  einer  hinweisenden  Gebärde  auf  diese  dem  Kinde  zurief 
"guck]  giick^^  (von  gucken  provinziell  =  sehen)  —  die  gewohnte  Art, 
in  der  sie  das  Kind  aufforderte,  nach  einem  Gegenstand  hinzusehen. 
Das  Kind  hatte  aber  diese  Aufforderung  nicht  auf  das  Sehen  be- 
zogen, sondern  zunächst  als  eine  Benennung  des  Stuhles,  und  dann 
in  zweiter  Linie  auch  als  eine  solche  der  Katze  aufgefaßt.  Aus 
dieser  Erfahrung  läßt  sich  die  Lehre  entnehmen,  daß  ein  neues  und 
nicht  ohne  weiteres  erklärbares  Wort  im  Mund  eines  Kindes  darum 
noch  lange  keine  eigene  Erfindung  desselben  sein  muß,  da  bei  der 
ersten  Assoziation  eines  Lautes  mit  einem  Gegenstand  oft  der  selt- 
samste Zufall  mitspielen  kann.  Höchstens  durch  eine  fortwährende 
sorgfältige  Kontrolle  aller  Einflüsse,  wie  sie  außerordentlich  schwer 
auszuführen  ist,  kann  man  hier  hoffen,  in  jedem  einzelnen  Falle  dem 
Ursprung  eines  neu  beobachteten  Wortes  auf  die  Spur  zu  kommen. 
Unter  diesen  Umständen  ist  es  nun  um  so  bemerkenswerter, 
daß  in  einer  Anzahl  streng  unter  Anwendung  der  gebotenen  Vor- 
sichtsmaßregeln ausgeführter  Beobachtungen  nicht  ein  einziges 
Wort  als  von  dem  Kinde  selbständig  erfunden  nachge- 
wiesen werden  konnte.  Hierher  gehört  in  erster  Linie  die 
Beobachtungsreihe  Preyers  »über  die  Urlaute  und  Sprachanfänge 
eines  während  der  ersten  drei  Jahre  täglich  beobachteten  Kindes«, 
jedenfalls  die  eingehendste  und  sorgfältigste,  die  wir  besitzen.  Sie 
führte  in  der  Frage  der  Worterfindung  zu  dem  Ergebnis,  daß  das 
einzige  Wort,  das  möglicherweise  das  Kind  selbständig  erfunden 
haben  konnte,  ein  schon  zu  Ende  des  1 1 .  Monats  beobachtetes 
atta  oder  Jiatta^  Jiötta  war,  das  vorkam,  wenn  jemand  das  Zimmer 
verließ,  oder  wenn  das  Licht  ausgelöscht  wurde.    Aber  Preyer  selbst 


Angebliche  Wortertindung  des  Kindes.  285 

läßt  dahingestellt,  ob  nicht  auch  dieses  Wort  ein  nachgesprochenes 
sei ;  und  da  atta  in  dem  Sinne,  in  dem  es  hier  gebraucht  wurde,  ein 
bekanntes  Wort  der  konventionellen  Kindersprache  ist,  so  hat  diese 
Vermutung  offenbar  die  größte  Wahrscheinlichkeit  für  sich").  Dies 
Ergebnis  Preyers  ist  übrigens  um  so  bemerkenswerter,  weil  dieser 
Beobachter  selbst  sich  jener  Art  logischer  Interpretation  psychischer 
Vorgänge,  aus  der  die  Annahme  der  ;>  Erfindung«  der  Sprache  durch 
das  Kind  hervorgegangen  ist,  durchweg  zuneigt.  Er  würde  also  von 
vornherein  schwerlich  abgeneigt  gewesen  sein,  eine  solche  Erfindung 
zu  konstatieren,  wenn  sie  sich  nur  hätte  nachweisen  lassen. 

Ich  selbst  habe  in  zwei  Fällen  die  Entwicklung  der  Sprache  in 
der  Weise  verfolgt,  daß  ich  über  jedes  neu  auftretende  Wort  und 
seine  Bedeutung  sorgfältig  Buch  führte  und  sofort  seinen  Ursprung 
zu  ermitteln  suchte,  während  zugleich  alle  Personen  der  Umgebung 
angewiesen  waren,  auf  die  in  Betracht  kommenden  Erscheinungen 
zu  achten.  Als  Resultat  ergab  sich,  daß  bei  dem  einen  dieser 
Kinder  kein  einziges  Wort,  das  in  der  Zeit  der  eigentlichen  Sprach- 
bildung mit  dem  ersichtlichen  Zweck  der  Benennung  entstand,  ur- 
sprüngliches Eigentum  des  Kindes  war.  Die  Beobachtungen  bei 
dem  andern  Kinde  führten  zu  dem  gleichen  Ergebnis,  mit  der  Aus- 
nahme, daß  für  eine  einzige  Benennung  die  selbständige  Lautbildung 
nicht  als  absolut  ausgeschlossen  gelten  konnte.  Dieser  Ausnahme- 
fall betraf  aber  nicht  eigentlich  ein  Wort,  sondern  ein  Geräusch,  das 
von  dem  Kinde,  wie  es  schien,  nachgeahmt  wurde.  Wenn  man 
nämlich  einen  Schlüsselbund  vor  ihm  schüttelte,  so  brachte  es  mit 
der  Zunge  den  vibrierenden  Laut  l-l-l-l-l  hervor,  und  es  gebrauchte 
dann  diesen  Laut  auch  beim  Anblick  eines  einzelnen  Schlüssels. 
Aber  in  diesem  Fall  ist  es  wieder  sehr  wohl  möglich,  daß  das  von 
dem  Kinde  gehörte  Wort  "^Schlüssel'  auf  jenen  Laut  eingewirkt  hatte. 
Der  Fall  erinnert  zugleich  an  eine  Beobachtung  Steinthals,  der  ein 
Kind  beim  Anblick  rollender  Fässer  in  die  Laute  lii-lu-lu  ausbrechen 
sah.  Steinthal  betrachtete  diese  Laute  als  eine  spontane  onomato- 
poetische Nachbildung  der  gesehenen  RoUbevvegung.  Auch  hier 
dürfte  es  sich  aber  um  den  Versuch  einer  Nachbildung  des  Wortes 
rollen  handeln^]. 


ij  Preyer  a.  a.  O.  S.  372. 

-)  Steinthal,  Einleitung  in  die  Psychologie  und  Sprachwissenschaft,   1871,  S.  382. 


2S(')  Die  Sprachlaute. 


Nach  allen  diesen  Beobachtungen  nehmen  die  Wortbildungen 
der  Kindersprache  jedenfalls  zum  größten  Teil,  aller  Wahrschein- 
lichkeit nach  aber  ausnahmslos  nicht  in  dem  Kinde  selbst  ihren 
Ursprung,  sondern  sind  diesem  von  den  umgebenden  Personen  mit- 
geteilt. Dieses  Resultat  bestätigt  vollkommen  das,  was  sich  eigent- 
lich schon  aus  dem  S.  275  geschilderten  Verhältnis  der  ersten 
Sprachäußerungen  zu  gewissen  andern  in  die  gleiche  Periode  fallen- 
den Erscheinungen  erschließen  läßt.  Die  eine  dieser  Erscheinungen 
ist  die  Echosprache,  die  zweite  das  Auftreten  von  Gebärden, 
die  deutlich  ein  eingetretenes  Wortverständnis  verraten,  wie  das  Hin- 
blicken nach  Personen  oder  Gegenständen,  deren  Namen  genannt 
werden.  Für  die  Motive,  die  der  ursprünglichen  Benennung  zugrunde 
liegen,  ist  es  in  hohem  Grade  charakteristisch,  daß  diese  beiden 
Erscheinungen  dem  spontanen  Gebrauch  der  Sprache  vorauszugehen 
pflegen.  Das  Kind  spricht  verständnislos  Wörter  nach,  und  es  ver- 
steht einzelne  der  von  seiner  Umgebung  gebrauchten  Wörter,  ehe 
es  selbst  ein  Wort  zur  Bezeichnung  irgend  eines  Gegenstandes  an- 
wendet. Daraus  geht  unzweifelhaft  hervor,  daß  in  dem  Augenblick, 
wo  dies  geschieht,  die  Bedingungen  einer  nachahmenden  Wort- 
bezeichnung vollkommen  im  Kinde  bereit  liegen.  Es  braucht  nun 
nur  noch  die  beiden  bisher  getrennt  geübten  Funktionen,  Wortwahr- 
nehmung und  Wortverständnis,  miteinander  zu  verbinden,  um  sich 
die  Wortsprache  anzueignen.  Jede  unbefangene  Beobachtung  be- 
stätigt, daß  dies  der  wirkliche  Weg  der  individuellen  Sprachent- 
wicklung ist,  und  daß  die  entgegenstehende  Annahme  teils  auf 
unzulänglicher  Beobachtung,  teils  und  hauptsächlich  auf  der  Fälschung 
des  wirklich  Beobachteten  durch  die  Einmengung  vulgärpsycho- 
logischer Vorurteile  und  Reflexionen  beruht.  Dieser  letztere  Fehler ' 
wurzelt  um  so  tiefer,  als  er  noch  über  die  Periode  der  ersten  Wort- 
bildung hinaus  die  Beurteilung  über  das  Verhalten  des  Kindes  zu 
bestimmen  pflegt.  So  bemerkt  Preyer,  die  » Begriff bildung«  sei  von 
den  ersten  Anfängen  der  Wortbildung  an  da  und  gestatte  dem 
Kinde,   Wörter,    die   man  ihm   mitgeteilt,   beliebig   in  ihrer  begriff- 


Ähnlich.  werden  wohl  mehrere  andere  angeblich  »erfundene«  Wörter  zu  deuten  sein, 
die  Ament  (Die  Entwicklung  von  Sprechen  und  Denken,  1899,  S.  63)  von  verschie- 
denen Beobachtern  anführt,  z.  B.  tidu  für  Vogel  (Piepvogel?),  adt  für  Kuchen 
(essen?)  u.  a. 


Angebliche  Worterfindung  des  Kindes.  287 

liehen  Bedeutung  zu  erweitern  oder  auf  neue  Begriffe  zu  über- 
tragen^); und  Taine  meint,  in  vielen  Fällen,  wo  dem  Kind  ein 
Wort  mitgeteilt  werde,  sei  es  erst  das  Kind  selbst,  das  seine  Be- 
deutung bestimme:  »wir  haben  ihm  den  Ton  gegeben,  es  hat  den 
Sinn  dazu  erfunden«.  Im  großen  ganzen  »erlerne  es  daher  die 
fertige  Sprache  wie  ein  wahrer  Musiker  den  Kontrapunkt,  ein  wahrer 
Dichter  die  Prosodie«.  Worterfindung  und  Aneignung  mit  will- 
kürlicher Umformung  der  Begriffe  sollen  auf  diese  Weise  fort\vährend 
ineinander  greifen.  Das  von  Taine  beobachtete  Kind  gebrauchte 
z.  B.  das  Wort  bebe  anfänglich  nur  für  das  kleine  Jesuskind,  das  man 
ihm  auf  einem  bestimmten  Gemälde  gezeigt  hatte.  Dann  zeigte 
man  ihm  andere  Kinder  und  endlich  sein  eigenes  Bild  im  Spiegel, 
indem  man  dasselbe  Wort  "^bebe'  sagte.  »Hiervon  ausgehend  hat 
das  Kind  den  Sinn  des  Wortes  erweitert;  'bebe'  nennt  es  nun 
alle  kleinen  Figuren,  z.  B.  die  halbgroßen  Gipsfiguren  auf  der 
Treppe«  usw.*). 

Es  scheint  mir,  der  Fehler,  den  die  vulgäre  Reflexionspsycho- 
logie bei  der  Beurteilung  der  von  dem  Kinde  herbeigeführten  Wort- 
übertragungen begeht,  läßt  sich  nicht  deutlicher  kenntlich  machen, 
als  es  durch  dieses  Beispiel  geschieht.  Wenn  wir  nachträglich  die 
verschiedenen  Bedeutungen,  die  das  Kind  einem  und  demselben 
Wort  im  Verlauf  der  Zeit  gibt,  auf  ihr  logisches  Verhältnis  prüfen, 
so  ergeben  sich  natürlich  Verallgemeinerungen,  Verengerungen  und 
sonstige  Umwandlungen  der  Begrift'"e.  Diese  Begriffsoperationen 
verlegt  man  nun  in  das  Kind  selber.  Man  nimmt  an,  dieses 
ändere  den  Sinn  eines  Wortes   willkürlich  nach  seinen  Bedürfnissen 


^)  Preyer,  Seele  des  Kindes, 4  S.  380,  und  an  andern  Stellen. 

2)  Taine  a.  a.  O.  S.  286  ff.  Wenn  auch  nicht  alle  psychologischen  und  päda- 
gogischen Beobachter  des  Kindes  so  weit  gehen,  wie  hier  von  Taine  und  andern 
Vertretern  der  »Erfindungstheorie«  geschieht,  so  huldigen  doch  die  meisten  insofern 
einer  ähnlichen  Interpretationsweise,  als  sie  in  reinen  Assoziationswirkungen,  wie  den 
oben  geschilderten,  bald  Umfangserweiterungen  der  Begriffe,  bald  Urteile  oder  Schlüsse 
erblicken.  Vgl.  z.  B.  Ament,  Die  Entwicklung  von  Sprechen  und  Denken  beim 
Kinde,  18S9,  S.  148  ff.,  Begriff  und  Begriffe  in  der  Kindersprache,  1902,  S.  142  ff. 
Compayre,  Die  Entwicklung  der  Kindesseele,  übers,  von  Ufer,  1900,  S.  310  ff., 
Bd.  I  u.  a.  Vgl.  dazu  auch  die  kritischen  Bemerkungen  von  E.  Meumann,  Die 
Sprache  des  Kindes,  1903,  S.  43  f.  Über  die  ziemlich  ausgedehnte  neuere  Literatur 
zur  Sprache  des  Kindes  vgl.  Meumann,  ebenda  S.  82,  und  das  Referat  von  H.  Gutz- 
mann,  Archiv  für  die  ges.  Psychol.,  Bd.  I,   1903,  S.  7  ff. 


288  ^i^  Sprachlaute. 


und  womöglich  infolge  einer  Überlegung.  Aber  nicht  nur  erklären 
sich  alle  jene  Erfolge  vollkommen  zureichend  aus  naheliegenden 
Assoziationswirkungen,  sondern  sie  sind  auch  gelegentlich  von  Er- 
scheinungen begleitet,  die  direkt  auf  bestimmte  Wahrnehmungs- 
assoziationen hinweisen,  während  sie  jeder  Art  logischer  Reflexion 
widersprechen.  Wenn  das  Kind  Taines  das  Wort  bebe  von  dem 
Jesuskind  des  einzelnen  Gemäldes  allmählich  auf  alle  möglichen 
kleinen  Menschengestalten  übertrug,  so  ist  das  um  so  weniger  zu 
verwundern,  weil  man  es  schon  gelehrt  hatte,  das  Wort  auf  sehr 
verschiedene  analoge  Fälle  anzuwenden.  Die  Assoziation  ähnlicher 
Vorstellungen  hätte  also  bei  ihm  eine  merkwürdig  unentwickelte 
sein  müssen,  wenn  es  nicht  zu  den  vielen  Fällen  der  ihm  gezeigten 
Anwendung  auch  noch  einige  andere  von  ähnlicher  Beschaffenheit 
hinzugefügt  hätte.  Das  letztere  wird  dem  Kind  um  so  leichter,  je 
unbestimmter  vielfach  die  Vorstellungen  sind,  die  es  sich  bildet, 
weshalb  man  auch  bei  ihm  Ähnlichkeitsassoziationen  zwischen  Gegen- 
ständen beobachten  kann,  zwischen  denen  wir  selbst  nimmermehr 
solche  bilden  würden.  Besonders  spielen  dabei  die  unvollkommenen 
Tiefenvorstellungen  des  Kindes,  mit  denen  wieder  seine  höchst 
schwankenden  Größenvorstellungen  zusammenhängen,  eine  Rolle. 
So  kann  man  leicht  sogar  in  einem  schon  vorgerückteren  Stadium 
beobachten,  daß  ein  Kind  etwa  eine  kleine  Wasserpfütze  und  einen 
See  für  gleiche  oder  sehr  ähnliche  Dinge  hält,  oder  daß  es  für  den 
Unterschied  des  von  ihm  aus  dem  Material  seines  Baukastens  ge- 
bauten und  eines  wirklichen  Hauses  kein  rechtes  Maß  hat.  Helm.- 
holtz  erzählt,  als  kleiner  Knabe  habe  er,  auf  dem  Arm  seiner  Mutter 
sitzend,  von  dieser  verlangt,  sie  solle  ihm  die  Dachdecker  vom 
nächsten  Turm,  die  er  für  kleine  Puppen  hielt,  herabholen').  Wenn 
demnach  das  Kind  meist  in  viel  weiterem  Umfang  Ähnlichkeits- 
assoziationen ausführt  als  der  Erwachsene,  so  beruht  das  nicht  auf 
einer  umfassenderen  Tätigkeit  der  »Vergleichung«,  sondern  umge- 
kehrt darauf,  daß  es  leichter  Gegenstände  verwechselt,  die  nur  eine 
entfernte  Ähnlichkeit  haben,  und  daß  bei  ihm  namentlich  Größen- 
und  Entfernungsunterschiede  noch  fast  gar  keine  Rolle  spielen. 
Dagegen  kann  man  nicht   minder  beobachten,   daß    es   zu  solchen 


Helmholtz,  Physiologisclie  Optik,^  S.  770. 


Angebliche  Worterfindung  des  Kindes.  280 

Assoziationen,  bei  denen  Reflexionsmomente  zu  assoziativen  Wir- 
kungen verdichtet  sind,  und  die  sich  bei  uns  ohne  weiteres  voll- 
ziehen, nicht  oder  erst  dann  gelangt,  wenn  es  durch  den  über- 
einstimmenden Namen  zu  einer  Assoziation  veranlaßt  wird.  Diese 
bleibt  aber  dann  zunächst  eine  reine  Wortassoziation.  So  wurde 
es  einem  Kinde,  nachdem  es  einen  Stuhl  von  einer  bestimmten 
Form  tili  genannt  hatte,  zuerst  schwer,  dasselbe  Wort  auf  Stühle 
von  ganz  anderer  Form  zu  übertragen.  Es  zeigte  also  in  dieser 
Beziehung  immer  noch  eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  dem  Hunde, 
dem  man  durch  assoziative  Übung  das  Kunststück  beigebracht  hat, 
eine  bestimmte  Tür  zuzuschlagen,  der  aber  nicht  sofort  veranlaßt 
werden  kann,  die  nämliche  Leistung  auch  an  einer  andern  zu 
wiederholen '].  Ein  anderes  Kind  übertrug  dagegen  das  Wort  dül 
sofort  von  einem  Stuhl  auf  ein  Sofa^).  Sicherlich  wird  man  diesen 
Unterschied  nicht  darauf  zurückführen  können,  daß  das  erste  dieser 
Kinder  nur  Begriffe  von  beschränktem,  das  andere  solche  von 
weitestem  Umfang  gebildet  habe,  sondern  eben  nur  darauf,  daß 
dort  die  Assoziation  zufallig  an  einem  Merkmal  haften  blieb,  das 
bloß  dem  einen  Stuhl  zukam,  et^va  an  seiner  Stellung  im  Zimmer, 
während  sie  hier  offenbar  von  der  sich  häufiger  wiederholenden 
Vorstellung  des  Sitzens  gelenkt  wurde.  In  der  Tat  lassen  sich  in 
der  Periode  der  Sprachentwicklung,  um  die  es  sich  hier  handelt, 
durchaus  keine  Merkmale  nachweisen,  die  über  die  Absicht,  jedes- 
mal nur  den  einzelnen  konkreten  Gegenstand  zu  benennen, 
hinausgehen.  Auch  das  Kind,  das  ein  Sofa  als  Stuhl  bezeichnet, 
will  damit  keinen  alle  Sitzgelegenheiten  umfassenden  Allgemein- 
begrifif  ausdrücken,  sondern  eben  nur  das  eine  Objekt,  auf  das  es 
den  Namen  durch  Assoziation  übertragen  hat.  Eine  solche  Asso- 
ziation tritt  aber  ein,  sobald  irgendeine  Ähnlichkeit  oder  eine 
äußere  Beziehung  gegeben  ist,  welche  zureicht,  um  bei  dem  An- 
blick des  neuen  Gegenstandes  das  nämliche  Wort  zu  reproduzieren, 
das  sich  mit  dem  Anblick  des  früheren  kompliziert  hatte.  Nun 
setzen  natürlich  alle  Begriffe  Assoziationen  voraus;  aber  von  einer 
wirklich   eingetretenen  Begriffsbildung   können  wir  erst   dann  reden. 


^)  Vgl.  meine  Vorlesungen  über  die  Menschen-  und  Tierseele, ^  S.  412. 
2)  Nach  einer  Beobachtung  von  Prof.  K.  Brugmann. 
Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  ig 


2QO  Die  Sprachlaute. 


wenn  zwischen  den  Vorstellungen  Beziehungen  entstehen,  die  in 
Urteilen  ihren  Ausdruck  finden.  Eine  Subsumtion  der  mit  dem 
gleichen  Wort  benannten  Gegenstände  unter  eine  und  dieselbe 
Gattung  kann  vollends  erst  stattfinden,  wenn  Vergleichungen  zwi- 
schen den  Gegenständen  ausgeführt  werden,  auf  Grund  deren  ein 
allgemeinerer,  ihnen  übergeordneter  Begriß"  entsteht.  Gewiß  kom- 
men Anfänge  solcher  Begriffsbildung  auch  beim  Kinde  vor.  Aber 
sie  gehören  einer  weit  späteren  Periode  an,  in  der  ihm  die  Sprache 
schon  ein  verhältnismäßig  geläufiges  Werkzeug  geworden  ist. 

Deutliche  Belege  für  diesen  rein  assoziativen  Charakter  der  ur- 
sprünglichen Namenübertragungen  bieten  sich  insbesondere  auch 
bei  solchen  Benennungen,  die  aus  mehr  oder  minder  zufälligen 
äußeren  Berührungsassoziationen  entstanden  sind.  Hierher  gehört 
der  oben  berichtete  Fall,  wo  ein  Kind  das  Wort  giick^  durch  das 
es  auf  eine  künstliche  Katze,  die  auf  einem  Stuhl  stand,  aufmerk- 
sam gemacht  werden  sollte,  zunächst  auf  den  Stuhl  bezog,  dann 
aber  auch  auf  die  Katze  selbst,  so  daß  nun  das  gleiche  Wort  zwei 
gänzlich  verschiedene  Bedeutungen  angenommen  hatte.  Einen  ähn- 
lichen Fall  erzählt  Romanes  nach  einer  Beobachtung  Dar\vins  an 
dessen  Enkelkinde.  Das  Kind  gebrauchte  das  Wort  quak  nicht 
bloß  zur  Bezeichnung  der  Enten,  in  welcher  Bedeutung  es  ihm  mit- 
geteilt worden  war,  sondern  auch  zu  der  des  Wassers,  und  von  da 
aus  übertrug  es  dann  das  gleiche  Wort  einerseits  auf  alle  Vögel 
und  fliegenden  Insekten,  und  anderseits  auf  alle  möglichen  fließen- 
den Substanzen').  Man  wird  schwerlich  fehlgehen,  wenn  man  nach 
Analogie  mit  dem  vorigen  Fall  annimmt,  daß  hier  der  Laut,  der 
mit  der  hinweisenden  Gebärde  auf  eine  im  Wasser  schwimmende 
Ente  verbunden  war,  gelegentlich  einmal  mit  der  Ente  und  bei 
einer  andern  Gelegenheit  mit  dem  Wasser  assoziiert  wurde,  worauf 
sich  dann  alles  Weitere  vermöge  der  oben  erörterten  Ahnlichkeits- 
assoziationen  von  selbst  ent^vickelte.  Oft  bildet  gerade  die  Verschie- 
denheit der  mit  dem  gleichen  Wort  bezeichneten  Gegenstände  einen 
sprechenden  Beleg  für  die  bloß  nach  irgendeiner  zufälligen  Ähnlich- 
keit gebildete  Assoziation.  So  übertrug  ein  17  Monate  altes  Kind  das 
Wort  eijebapp  für  die  Eisenbahn,    die  es  als  Spielzeug  besaß,   ohne 


^)  Romanes,  Die  geistige   Entwicklung  des  Menschen.     Deutsche  Ausg.  S.  283 


Angebliche  Worterfindung  des  Kindes.  201 

weiteres  auf  das  Bild  mehrerer  in  gleichen  Abständen  hintereinander 
gehender  Hunde  ^). 

Darf  man  nun  aber  aus  allen  diesen  Beobachtungen  noch  nicht 
schließen,  daß  das  Kind  auch  späterhin  auf  bloße  Assoziationsbil- 
dungen beschränkt  bleibe,  sondern  eben  nur  dies,  daß  die  eigent- 
liche Begrififsbildung  einem  späteren  Stadium  angehört  und  mit  der 
ersten  Aneignung  der  Sprache  nichts  zu  tun  hat,  so  gilt  dies  auch 
für  den  Ursprung  der  Sprache  selbst.  Daß  das  Kind  unter  den 
normalen  Verhältnissen  seiner  Entwicklung  die  Sprache  nicht  selbst- 
tätig erzeugt,  sondern  daß  sie  ihm  von  seiner  Umgebung  mit- 
geteilt wird,  ist  zweifellos.  Dies  schließt  aber  natürlich  nicht  aus, 
daß  es  irgendeine  Sprache,  irgendeine  Art  und  Weise,  seine  Vor- 
stellungen und  Gefühle  durch  Laute  kundzugeben  —  nicht  »erfinden« 
würde,  denn  dieser  Ausdruck  ist  kein  adäquater  Begriff  für  die 
hier  stattfindenden  Vorgänge  —  wohl  aber  selbständig  erzeugen 
und  ausbilden  würde,  wenn  nicht  die  ihm  von  außen  mitgeteilte 
Sprache  dem  zuvorkäme.  Wäre  es  möglich,  Kinder,  ohne  ein 
Wort  vor  ihnen  auszusprechen,  aufwachsen  zu  lassen,  so  würde  ver- 
mutlich neben  der  natürlichen  Gebärdensprache  auch  eine  natür- 
liche, wenngleich  vielleicht  sehr  unvollkommene  Lautsprache  bei 
ihnen  entstehen.  Aber  dies  würde  nach  allem,  was  wir  bei  der 
Sprachentwicklung  des  Kindes  beobachten,  in  einer  andern  Weise, 
und  es  würde  sicherlich  sehr  viel  später  geschehen"^).  Die  Sprach- 
bildung unserer  Kinder  ist,  weil  sie  unter  dem  Einflüsse  der  reden- 
den Umgebung  stattfindet,  eine  verfrühte  Entwicklung.  Sie 
wird  hervorgerufen,  lange  bevor  sie  spontan  erfolgen  würde.  Es 
verhält  sich  mit  ihr  nicht  anders  als  mit  allen  ihr  nachfolsfenden 
Formen  geistiger  Entwicklung.     Was  sich   die   Gattung  in   allmäh- 


')  Das  nämliche  Kind  hatte,  im  13.  Monat  stehend,  das  Wort  ein  bißchen  (für 
'behutsam'),  das  ihm  zugerufen  wurde,  als  es  nach  der  Brille  seines  Vaters  griff,  auf 
die  Brille  übertragen,  nach  der  es  jedesmal  griff,  wenn  das  Wort  in  ganz  anderem 
Zusammenhang  vorkam.  (Mitteilung  von  Prof.  Brugmann.' 

2)  Einige  namentlich  in  der  älteren  Literatur  vorkommende  Angaben  über  Kinder, 
die  sich,  zusammen  aufwachsend,  eine  eigene  Sprache  gebildet  haben  sollen,  sind 
wohl  ein  für  allemal  in  das  Gebiet  der  Fabel  zu  verweisen.  Da  genauere  Angaben 
über  jene  eigenartige  Sprache  fehlen,  so  liegt  möglicherweise  eine  Verwechselung 
mit  den  gewöhnlichen  artikulierten  Gefühlslauten  vor. 

19* 


20  2  Die  Sprachlaute. 


lichem  Fortschritt  durch  die  Arbeit  zahlloser  Generationen  erringen 
mußte,  das  ist  für  den  Einzelnen  von  früh  an  ein  überlieferter 
Besitz. 


3.   Psychophysische  Bedingungen  der  individuellen 
Sprachentwicklung. 

Unter  den  Ergebnissen,  die  wir  der  Beobachtung  der  Sprach- 
entwicklung des  Kindes  entnehmen  können,  steht  die  Tatsache 
obenan,  daß  die  ursprüngliche  Entstehung  artikulierter  Laute  und 
die  Anwendung  dieser  Laute  zur  Benennung  von  Gegenständen  zwei 
nach  ihren  inneren  und  äußeren  Bedingungen  völlig  auseinander- 
fallende Vorgänge  sind.  Die  ursprünglichen  artikulierten  Laute  sind 
reine  Gefühlsäußerungen.  Als  solche  sind  sie  psychische  Symptome, 
so  gut  wie  die  Wortbildungen.  Aber  sie  sind  im  Unterschied  von 
diesen  keiner  andern  Beschränkung  unterworfen  als  der,  daß  sie, 
im  Gegensatz  zu  den  Schreilauten,  mäßige  Gemütsbewegungen 
begleiten.  Irgendeine  speziellere  Beziehung  zwischen  der  Art  der 
Gefühlserregung  und  der  Beschaffenheit  der  Laute  läßt  sich  hier 
gerade  so  wenig  wie  bei  den  analogen  Gefühlsäußerungen  vieler 
Tiere  auffinden.  Demnach  müssen  sie  wohl,  gleich  diesen,  auf  eine 
physiologische  Anlage  zurückgeführt  werden,  vermöge  deren  das 
Kind  ebenso  auf  Gefühlserregungen  mit  artikulierten  Lauten  reagiert, 
wie  es  etwa  auf  süße,  saure  und  bittere  Geschmacksreize  mit  den 
entsprechenden  mimischen  Bewegungen  antwortet.  Der  Unterschied 
beider  Fälle  ist  nur  der,  daß  die  ursprünglichen  Geschmacksreak- 
tionen wahrscheinlich  rein  physiologische  Reflexe  in  niederen  Ner- 
venzentren sind,  da  sie  bereits  von  der  Geburt  an  beobachtet  wer- 
den, während  die  artikulierten  Lautreaktionen  Lustgefühle  voraus- 
setzen, die  in  der  frühesten  Lebenszeit  noch  nicht  vorkommen  und 
physiologisch  wahrscheinlich  erst  auf  Grund  einer  umfänglicheren 
Entwicklung  der  Leitungsbahnen  des  Großhirns  möglich  sind.  In 
der  Tat  lassen  sich  die  erwähnten  Lautartikulationen  nach  Ursprung 
wie  Wirkung  durchaus  den  mimischen  Ausdrucksbewegungen  an  die 
Seite  stellen,  mit  dem  einen  Unterschied,  daß  die  artikulierten  Laut- 
äußerungen bald  sehr  viel  mannigfaltiger  werden.  Daß  das  mensch- 
liche Kind   schon  in  sehr   früher  Zeit   über  ein  so   reiches  Resfister 


Psychopliysische  Bedingungen  der  individn eilen  Sprachentwicklung.         293 

von  Lautreaktionen  verfügt,  die  nach  ihrer  psychischen  Bedeutung 
schwerlich  in  gleichem  Grade  nuanciert  sind,  dies  kann  aber  nur  auf 
einer  vererbten  physiologischen  Anlage  beruhen.  Das  Kind  bringt 
—  so  werden  wir  annehmen  können  —  infolge  seiner  Abstammung 
von  einer  unzählbaren  Reihe  von  Ahnen,  die  alle  schon  im  Besitz 
der  Sprache  gewiesen  sind,  die  Anlage  zu  zahlreichen,  schon  in  den 
ersten  Lebenswochen  sich  ausbildenden  zentralen  Leitungen  zur 
Welt  mit,  so  daß  sich  seine  Gefühle,  sobald  diese  Entwicklung  voll- 
endet ist,  außer  in  mimischen  Bewegungen  auch  in  Lautartikulationen 
äußern.  Dabei  sind  die  zentralen  Verbindungen,  von  denen  die 
Innervation  der  Stimmorgane  abhängt,  von  vornherein  so  mannig- 
faltig, daß  der  einzelne  Laut  ohne  merkliche  Änderung  der  Gefühls- 
qualität in  weitem  Umfang  wechseln  kann.  Die  artikulierten  Laute 
des  Kindes  sind  somit  Ausdrucksbewegungen,  die  in  ihrer  Viel- 
gestaltigkeit weit  über  das  nächste  Bedürfnis,  dem  sie  dienen,  hin- 
ausgehen, weil  sie  eben  Produkte  vererbter  Anlagen  sind,  auf  welche 
die  verwickeitere  Funktion,  die  später  auch  im  individuellen  Leben 
aus  ihnen  hervorgeht,  in  der  generellen  Entwicklung  bereits  ein- 
gewirkt hat. 

Diese  nahe  Beziehung  der  Lautartikulationen  zu  den  sonstigen 
Ausdrucksbewegungen  läßt  sich  nun  auch  daraus  erkennen,  daß 
sich  bei  jenen,  ebenso  wie  bei  diesen,  sehr  früh  schon  gewisse  in- 
dividuelle Nuancen  ausprägen,  die  allmählich  zunehmen,  und  aus 
denen  sich  später  die  Sprechweise  des  einzelnen  Menschen  entwickelt. 
Noch  größere  Unterschiede  zeigen  in  dieser  Beziehung  die  verschie- 
denen Nationen.  Wie  sehr  Lautartikulation  und  Tonmodulation  bei 
dem  Deutschen,  Engländer,  Franzosen,  Italiener  abweichen,  ist  ja 
allbekannt.  Daß  aber  diese  Unterschiede  nicht  bloß  von  den  An- 
forderungen, die  der  Lautcharakter  der  Sprache  an  die  Sprachorgane 
stellt,  sondern  bis  zu  einem  gewissen  Grad  auch  von  Rassenver- 
schiedenheiten in  der  physischen  Bildung  der  Artikulationswerkzeuge 
abhängen,  lehren  die  bekannten  Erfahrungen  über  die  Aneignung 
fremder  Sprachen,  nach  denen  selbst  bei  vollkommener  Übung  in 
der  Regel  noch  die  Artikulationsweise  der  Muttersprache  ihren  Ein- 
fluß ausübt.  Natürlich  stehen  diese  beiden  Momente  in  Wechsel- 
wirkung: die  Eigenschaften  der  Lautorgane  wirken  auf  die  Sprache, 
und  diese  wirkt  wieder  auf  jene  zurück.    Durch  Umgewöhnung  und 


2QA.  Die  Sprachlante. 


Übung  können  daher  schließlich  auch  solche  Stellungen  und  Be- 
wegungen entstehen,  die  dem  individuellen  Sprachorgan  ursprüng- 
lich nicht  eigen  waren.  Deshalb  ist  es  nicht  leicht,  mit  Sicherheit 
festzustellen,  ob  diese  Anpassung  des  Organs  an  die  Sprache  die 
Wirkung  bloß  individueller  Einübung,  oder  ob  sie  in  irgendeinem 
Grade  in  der  angeborenen  Organisation  bereits  vorgebildet  sei.  Be- 
denkt man,  wie  sehr  der  Artikulationsmechanismus  mit  den  mimi- 
schen Bewegungen  und  durch  diese  mit  der  dauernden  Gesichts- 
bildung zusammenhängt,  so  ist  von  vornherein  ein  gewisser  Grad 
angeborener  Anlage  auch  hier  nicht  ausgeschlossen.  Sind  doch 
bekanntlich  einzelne  rassenphysiognomische  Merkmale  zuweilen  selbst 
bei  stammverwandten  Nationen,  z.  B.  Deutschen  und  Engländern, 
bereits  in  sehr  früher  Lebenszeit  zu  erkennen.  Auch  scheinen 
schon  in  den  Lallsilben  der  Säuglinge  Rassenunterschiede  vorzu- 
kommen, wenn  die  folgende  Zusammenstellung  der  von  Preyer  und 
von  K.  C.  Moore  mitgeteilten  Laute  einen  Schluß  zuläßt.  Als  Zeit- 
punkt ist  in  beiden  Fällen  die  12.  bis  14.  Lebenswoche  gewählt"). 

Deutsches  Kind.  Kind  englischer  Zunge, 

am,    ma,  ör,    rö,  ar,   ra,  hu,  ua,  om,  in,  eng,    gr-r-r-r,    bo-wo,    ang,    diddle,    ing, 

ab,    la,    ho,    mö,   nä,    na,    an,    mg,    mb,  bow-wow,    th,    udn,    pop-pä-pä-bä,  udu, 

gr,  ha,  bu,  me,  nt.  bob-bä,  um-go,  good,  momä. 

Nun  mag  man  dem  Spiele  des  Zufalls  einen  noch  so  großen 
Einfluß  einräumen  und  zugeben,  daß  große  Verschiedenheiten  in 
ähnlichem  Sinn  auch  bei  Kindern  gleicher  Rasse  nicht  fehlen;  den- 
noch erscheint  der  Unterschied  bedeutend  genug  und  auch  im  all- 
gemeinen  dem  Lautcharakter   der  beiden   Sprachen    angemessen^). 


^)  Ich  habe  aus  der  Tabelle  von  K.  C.  Moore  die  Schreilaute,  sowie  einige 
Laute,  die  annähernde  Wiederholungen  der  bereits  notierten  sind,  aus  der  Aufzeich- 
nung Preyers  die  reinen  Vokallaute,  weil  für  die  Artikulation  minder  charakteristisch, 
hinweggelassen.     Vgl.  die  OriginaltabeUen  bei  Preyer  a.  a.  O.  S.  344,  Moore  S.  116. 

2)  Natürlich  würde  diese  Frage  erst  durch  die  planmäßige  Sammlung  ähnlicher 
Beobachtungen  aus  einer  entsprechend  frühen,  der  eigentlichen  Sprachbildung  vor- 
ausgehenden Lebenszeit  bei  Kindern  verschiedener  Nationen  zu  entscheiden  sein. 
Eine  Zusammenstellung  von  Wörtern  der  japanischen  Kindersprache,  ebenso  einige 
Angaben  über  onomatopoetische  Verdoppelungslaute  der  chinesischen  Kindersprache, 
die  mir  zur  Verfügung  stehen,  gehören  einer  späteren  Zeit  an.  Wenn  in  diesen 
Fällen  die  Laute  den  eigentümlichen  Charakter  des  nationalen  Idioms  aufweisen,  so 
ist  dies  natürlich  nicht  beweisend,  da  sie  bereits  unter  dem  Einflüsse  der  Nach- 
ahmuns  stehen. 


Psychophysische  Bedingungen  der  individuellen  Sprachentwicklung.        2Q5 

Werden  dergestalt  wahrscheinlich  selbst  die  Anlagen  zu  der  beson- 
deren Nuancierung  der  Lautbildungen,  wie  sie  den  verschiedenen 
Sprachen  eigentümlich  sind,  in  gewissem  Grade  vererbt,  so  ist  aber 
um  so  mehr  anzunehmen,  daß  jene  Fülle  artikulierter  Gefühls- 
äußerungen, der  wir  vom  zweiten  Lebensmonat  an  beim  Kinde 
begegnen,  mit  der  allgemeinen  Erwerbung  der  Sprache  durch  die 
Gattung  zusammenhängt.  Da  in  den  vorsprachlichen  Artikulations- 
lauten des  Kindes  neben  den  häufiger  gebrauchten,  den  späteren 
Sprachlauten  einigermaßen  ähnlichen  immer  gelegentlich  auch 
andere,  ganz  abweichende  vorkommen,  so  liegt  übrigens  in  dieser 
großen  Mannigfaltigkeit  von  Bildungen  wohl  zugleich  die  Erklärung 
dafür,  daß  sich  das  Kind,  sobald  es  in  die  Periode  der  eigentlichen 
Sprache  eingetreten  ist,  leicht  ein  völlig  fremdes  Lautsystem  an- 
eignen kann,  dessen  Bewältigung  dem  Erwachsenen  weit  schwerer 
wird.  Die  kindlichen  Sprachorgane  können  sich  eben  in  dieser  Zeit 
noch,  unbeschadet  der  etwa  vorhandenen  vererbten  Anlage,  jedem 
möglichen  Lautsystem,  das  ihnen  durch  die  Umgebung  dargeboten 
wird,  anpassen^). 

Für  die  individuelle  Sprachentwicklung  ist  es  nun  offenbar  von 
größter  Bedeutung,  daß  die  Reize,  durch  die  jene  vererbten  An- 
lagen zur  Funktion  erregt  werden,  selber  nicht  dem  Vorgange  der 
Sprachbildung  angehören.  Nur  hierdurch  wird  es  möglich,  daß  die 
Aneignung  der  Sprache  in  eine  Periode  des  individuellen  Lebens 
fällt,  in  der  die  Fähigkeit  zur  spontanen  Erzeugung  derselben  noch 
lange  nicht  vorhanden  sein  würde.  Denn  diese  Aneignung  besteht 
eben  lediglich  darin,  daß  das  Kind  die  Laute,  die  es  bis  dahin  als 
bloße  Gefühlsäußerungen  hervorbrachte,  unter  dem  Einflüsse  des 
erwachenden  Nachahmungstriebes  nach  den  von  den  Personen  der 
Umgebung  vorgesprochenen  Lauten  umbildet.  Auch  die  ersten 
Lautnachahmungen  geschehen  daher  in  jener  behaglichen  Luststim- 
mung, die  das  Kind  überhaupt  zur  Lautbildung  anregt,  und  sie 
beruhen  offenbar   darauf,    daß   die  Art  der  Gefühlsäußerung  direkt 


^)  So  hat  man  mehrfach  beobachtet,  daß  Kinder  europäischer  Missionare  Sprach- 
laute, die  ihren  Eltern  unüberwindliche  Schwierigkeiten  bereiteten,  z.  B.  die  Schnalz- 
laute der  Hottentotten,  spielend  erlernten.  Auch  solche  Aneignungen  fallen  aber 
schon  in  die  spätere  Zeit  der  Sprachbildung. 


2q6  Die  Sprachlaute. 


durch  den  vorgesprochenen  Laut  bestimmt  wird.  So  entsteht  in 
der  Regel  zuerst  jene  verständnislose  »Echosprache«,  die  die  eigent- 
liche Sprache  vorbereitet.  In  diesem  Stadium  wird  demnach  zu 
dem  gehörten  Wort  und  der  gesehenen  Lautartikulation  eines  der 
bereits  eingeübten  Lautgebilde,  das  einen  ähnlichen  Schalleindruck 
hervorbringt,  assoziiert.  Dies  ist  eine  Gleichheitsassoziation,  die  sich 
im  Gebiete  des  Gehörssinnes  abspielt,  aber  teils  durch  die  objektive 
Komplikation  mit  dem  Gesichtsbilde,  teils  durch  die  subjektive  mit 
den  Bewegungsempfindungen  des  Sprachlautes  vervollständigt  wird. 
Der  Bildung  dieser  assoziativen  Nachahmung  liegt  daher  allerdings 
bereits  eine  Funktion  der  Aufmerksamkeit  zugrunde,  in  der  sich 
das  erste  Erwachen  intellektueller  Tätigkeit  ankündigt.  Aber  diese 
Funktion  besteht  doch  nicht  in  der  Nachahmung  selbst,  die  sich 
durch  reine  Assoziation  vollzieht,  sondern  vielmehr  in  der  erleich- 
terten Apperzeption  äußerer  Reize,  die  sich  in  solcher  Assoziation 
verrät.  Dem  geht  dann  unter  der  Wirkung  dieser  zunehmenden 
Aufmerksamkeit  auf  Sinnesreize  eine  zweite  Assoziation  zur  Seite : 
das  ist  die  durch  die  Gebärden  und  Blicke  der  Personen  der  Um- 
gebung vermittelte  Assoziation  bestimmter  Worte  mit  den  Gegen- 
ständen. Erst  wenn  beide  Assoziationen  gebildet  sind,  ist  der 
weitere  Schritt  ihrer  Verbindung  möglich.  Diese  ist  demnach  eine 
Verbindung  zweiter  Stufe.  Als  solche,  nicht  als  direkte  Beziehung 
des  selbsterzeugten  Wortes  auf  das  Objekt,  charakterisiert  sie  sich 
schon  dadurch,  daß  jene  beiden  Assoziationen  eine  Zeitlang  un- 
abhängig nebeneinander  bestehen,  ehe  sie  sich  zu  dieser  Resultante 
vereinigen.  Abgesehen  von  der  stärkeren  Spannung  der  Aufmerk- 
samkeit, welche  die  Vereinigung  der  zwei  unabhängig  entstandenen 
Assoziationen  erfordert,  erweist  sich  aber  auch  hier  der  Prozeß  als 
ein  rein  assoziativer.  Als  solcher  läßt  er  sich  seinen  Hauptbestand- 
teilen nach  in  die  Gleichheitsassoziation  des  gehörten  Wortes  mit 
dem  selbsterzeugten  Sprachlaut  und  in  die  Berührungsassoziation 
mit  der  hinweisenden  Gebärde  und  mit  dem  durch  sie  bezeichneten 
Gegenstande  zerlegen,  wozu  als  komplikatives  Mittelglied  noch  die 
Empfindung  der  eigenen  Artikulationsbewegungen  hinzukommt. 

Eine  wichtige  Rolle  bei  dieser  Entwicklung  spielt  endlich  die 
Gebärde.  Sie  ist  es,  die  am  frühesten  von  dem  Kinde  »verstanden«, 
das  heißt  als   eine  Andeutung  davon  aufgefaßt  wird,   daß   mit  dem 


Psych ophysische  Bedingungen  der  individuellen  Sprachentwicklung.        207 

Worte  der  gezeigte  Gegenstand  gemeint  sei.  Diese  Auffassung  ist 
aber  freilich  ebenfalls  nicht  ohne  weiteres  vorhanden,  sondern  sie 
entsteht  bei  den  ersten  Benennungen  infolge  wiederholter  hin- 
weisender Gebärden.  Auch  hier  wird  man  daher  annehmen  dürfen, 
daß  zunächst  die  Wahrnehmung  der  Gebärde  mit  der  des  Gegen- 
standes ein  Ganzes  bildet,  das  mit  dem  Wort  assoziiert  wird,  worauf 
dann  erst  die  Gebärde  durch  ihre  relativ  gleichförmige  Wiederholung 
hinter  dem  gezeigten  Objekt  zurücktritt.  Auf  diese  Weise  ist  es 
gewissermaßen  eine  Verbindung  von  Gebärdensprache  und  Laut- 
sprache, die'  dem  Kind  allmählich  die  freie  Verfügung  über  die 
mitgeteilten  Wörter  verschafft,  und  die  zugleich  den  Übergang  von 
den  vorwiegend  durch  äußere  Verbindungen  der  Eindrücke  er- 
weckten Assoziationen  zu  den  apperzeptiven  Verbindungen  ver- 
mittelt'). 

Die  allmähliche  Entwicklung  der  apperzeptiven  Funktionen  aus 
den  Assoziationen  tritt  in  diesem  Fall  augenfällig  darin  zutage,  daß 
die  nächste  Verbindung,  die  wegen  der  elektiven  Wirkung  der 
Aufmerksamkeit  als  eine  apperzeptive  betrachtet  werden  muß,  zu- 
gleich ein  unmittelbares  Ergebnis  der  vorausgehenden  Assoziationen 
ist.  Aus  der  Assoziation  zwischen  Sprachlaut,  Gebärde  und  Gegen- 
stand sondern  sich  für  die  Apperzeption  Sprachlaut  und  Gegenstand 
als  die  beiden  zusammengehörigen  Bestandteile.  Dies  kann  aber 
nur  geschehen,  weil  die  das  Mittelglied  bildende  Gebärde  durch 
die  Bedingungen  der  Assoziation  selbst  schon  zurückgedrängt  wird. 
Ist  einmal  erst  irgendein  Wort  durch  jene  assoziative  Auslese  ohne 
die  Gebärde  und  ohne  sonstige  ursprünglich  begleitende  Neben- 
vorstellungen als  Zeichen  eines  bestimmten  Gegenstandes  apperzi- 
piert  worden,  so  bedarf  es  nun  in  künftigen  Fällen  jener  assoziativen 
Eliminationsprozesse  nicht  mehr,  sondern  bei  jedem  andern  Gegen- 
stande wird  das  gleichzeitig  ausgesprochene  Wort  ohne  weiteres  als 
das  ihm  zugehörige  Zeichen  aufgefaßt.     Die  zuerst   nur  durch  den 


^  Die  große  Bedeutung  der  Gebärde  für  die  Sprachentwicklung  des  Kindes  ist 
sehr  deutlich  auch  daran  zu  beobachten,  daß  das  Kind  selbst  sehr  häufig  Gebärden 
früher  als  Sprachlaute  zur  Bezeichnung  von  Gegenständen  anwendet,  wobei  es  diese 
Gebärden  nur  mit  beliebigen  Gefühlslauten  begleitet.  Bei  der  Gebärde,  namentlich 
der  hinweisenden,  ist  eben  die  Beziehung  zu  dem  Gegenstand  eine  unmittelbare, 
während  sie  bei  dem  Wort  erst  durch  assoziative  Einübung  entstehen  muß. 


2g8  Die  Sprachlaute. 


Mechanismus  der  Assoziationen  entstandene  Auslese  ist  so  zu  einer 
gewollten  geworden.  Bestand  bei  der  ursprünglichen  Nachahmung 
der  Sprachlaute  der  Willensvorgang  nur  in  der  Richtung  der  Auf- 
merksamkeit auf  den  gehörten  Laut  und  auf  das  durch  die  Gebärde 
gezeigte  Objekt,  so  betätigt  er  sich  nun  auch  darin,  daß  er  unter 
allen  den  Eindrücken,  die  in  einem  Moment  zusammentreffen,  ge- 
rade diese  zwei,  den  Sprachlaut  und  den  zu  ihm  gehörigen  Gegen- 
stand, als  zusammengehörige  herausgreift.  Damit  ist  aber  die  Ap- 
perzeption des  einzelnen  Eindrucks  in  eine  apperzeptive  Ver- 
bindung übergegangen. 

4.   Psychologische  Eigenschaften  der  kindlichen  Sprache. 

Wenn  in  solcher  Weise  im  allgemeinen  jedes  Wort  der  kind- 
lichen Sprache  eine  bloße  Nachahmung  eines  vorgesprochenen 
Wortes  ist,  wie  erklären  sich  dann  aber  die  Eigenschaften  dieser 
Sprache?  Bekanntlich  haben  besonders  die  onomatopoetischen 
Wörter  derselben  die  Annahme  veranlaßt,  das  Wort  werde  min- 
destens in  vielen  Fällen  von  dem  Kinde  selbst  »erfunden«.  Denn 
diese  Lautnachahmungen  erscheinen  nicht  bloß  an  sich  als  natür- 
liche, der  Auffassungsstufe  des  Kindes  entsprechende  Bildungen, 
sondern  sie  sind  auch  in  gewissem  Grade,  analog  wie  die  Ge- 
bärden, eine  Art  Universalsprache.  Allerdings  fehlt  es  in  dieser 
nicht  an  dialektischen  Unterschieden,  in  denen  sich  die  Spuren  des 
Einflusses  der  allgemeinen  Sprache  der  Umgebung  verraten :  so 
wenn  das  deutsche  Kind  den  Hund  ivmi-ivau^  das  französische  oua- 
oua^  das  niederländische  luaf-waf,  oder  wenn  das  deutsche  das  Huhn 
ghik-gluk  oder  tuk-tuk^  das  französische  kok-kok  nennt  u.  dgl.  Der 
bemerkenswerteste  Unterschied  ist  aber  wohl  der,  daß  die  Neigung 
zu  onomatopoetischen  Wortbildungen  außerordentlich  variiert.  Wäh- 
rend sie  sich  bei  den  europäischen  Nationen  im  wesentlichen  auf 
einige  Tiernamen  und  wenige  Vorgänge  des  täglichen  Lebens,  wie 
das  Essen,  das  Klingeln  der  Hausglocke  u.  dgl.,  beschränkt,  sind 
z.  B.  die  japanische  und  die  chinesische  Kindersprache  überaus  reich 
an  solchen  Formen").     Viele   dieser  Formen    sind    in    die    tägliche 


')  Die  folgende  kleine  Tabelle  ist  ein  Auszug  aus  einer  im  ganzen  53  onomato- 


Psychologische  Eigenschaften  der  kindlichen  Sprache.  2QQ 

Umgangssprache  übergegangen,  wie  sich  denn  namentlich  das  Japa- 
nische, ähnlich  den  malaio - polynesischen  Sprachen,  durch  den 
reichen  Gebrauch  von  Verdoppelungsformen  auszeichnet,  von  denen 
manche  ursprünglich  der  Kindersprache  entlehnt  sein  mögen.  Ander- 
seits ist  es  aber  doch  wahrscheinlich,  daß  die  Motive,  die  allgemein 
als  psychologische  Ursachen  der  Lautwiederholung  vorkommen,  in 
jenen  Sprachen  überhaupt  sehr  viel  wirksamer  gewesen  sind,  so 
daß  nun  diese  Eigenschaft  auch  wieder  die  Kindersprache  beein- 
flußte '). 

Demnach  ist  der  internationale,  hierin  der  Gebärdenmitteilung 
verwandte  Charakter  der  Kindersprache  zwar  ein  Zeugnis  für  die 
unmittelbare  Verständlichkeit  ihrer  onomatopoetischen  Lautbildungen, 
ohne  daß  diese  darum  ein  ursprüngliches  Eigentum  des  Kindes 
selbst  zu  sein  brauchen.  Wohl  aber  werden  wir,  gemäß  der  all- 
gemeinen Entstehungsweise  der  kindlichen  Wortbildungen,  schließen 
dürfen,  daß  es  besondere,  von  denen  der  sonstigen  Sprache  im 
allgemeinen  abweichende  Motive  sind,  welche  die  Personen  der  Um- 
gebung im  Verkehr  mit  dem  Kinde  zu  jenen  eigentümlichen  Wort- 
bildungen veranlassen  —  oder  irgend  einmal  veranlaßt  haben,  denn 
eine  große  Anzahl  dieser  Wörter  ist  ja  ebenso  ein  überliefertes  Gut 
wie  die  sonstige  Sprache.  Doch  in  jedem  Falle  bleibt  es  die  Eigen- 
art solcher  Lautbildungen,  daß  sie  für  diesen  spezifischen  Zweck 
überliefert  sind,  und  daß  bei  ihnen  die  Affinität  zwischen  Laut  und 
Bedeutung,  wenn  nicht  dem  Kinde,  so  mindestens  dem  Erwachsenen 
gegenwärtig  ist,  daher  er  denn  auch  leicht  den  überkommenen 
Wortschatz  mit  analogen,  selbstgeschaffenen  Bildungen  vermehrt. 
Eben  deshalb  werden  wir  aber  annehmen  dürfen,  daß  die  nämlichen 


poetische  Wörter  umfassenden  Sammlung  der  japanischen  Kindersprache ,  die  ich 
der  Güte  des  Herrn  J.  Jrie  in  Sendai  verdanke:  dö-äö  Pferd,  mö-?nö  Kuh,  wan-wan 
Hund,  nya-nya  Katze,  ziu-ziu  Maus,  ka-ka  Krähe,  kokko  Huhn,  hokekio  Nachtigall, 
po-po  Taube,  zion-zion  Sperling,  gizzion  Heimchen,  biin-bun  Biene,  pi-pi  Flöte, 
sin-sian  oder  gon-gon  große  Glocke,  zirin-zirin  kleine  Glocke,  don-don  Trommel, 
gara-gara  Wagen,  goro-goro  Donner,  koji-kon  Husten,  mon-vion  Buchstabe  (Nach- 
ahmung der  Lippenbewegungen),  fti-fti  Feuer  (von  der  Mundbewegung  beim  An- 
blasen desselben),  uma-uma  Essen  (Eßbewegungen),  ita-ita  schmerzhaft,  auch  Messer 
'Ausruf  bei  der  Schmerzempfindung),  pappa  Tabak  (vom  »paffen«  des  Rauchers). 

^)  Über  die  psychologischen  Ursachen   der  Verdoppelungserscheinungen  im  all- 
gemeinen vgl.  unten  Kap.  V,  Nr.  V,  3. 


7  0O  Die  Sprachlaute. 


psychologischen  Bedingungen,  die  uns  bei  diesen  fortwährend  neu 
entstehenden  Bestandteilen  begegnen,  bei  der  ursprünglichen  Bildung 
jeder  Kindersprache  wirksam  waren.  Solcher  Motive  gibt  es  im  all- 
gemeinen zwei.  Das  erste  besteht  in  dem  Bestreben,  die  eigene 
Wortbildung  dem  leicht  verfügbaren  Lautvorrate  des  Kindes  und  den 
in  den  vorsprachlichen  artikulierten  Lautbildungen  am  häufigsten 
auftretenden  Verbindungen  anzupassen;  das  zweite  in  dem  Triebe, 
das  Wort  so  zu  bilden,  daß  es  durch  sich  selbst  verständlich  werde. 
Beide  Motive  entspringen  wieder  in  keiner  Weise  aus  irgendeiner 
Reflexion  über  Mittel  und  Zweck,  sondern  sie  bestehen  in  Trieben, 
das  heißt  in  einfachen,  durch  die  unmittelbare  Wahrnehmung  und 
die  an  sie  gebundenen  Gefühle  veranlaß ten  Willenserregungen  und 
Handlungen.  Der  erste  dieser  Triebe  stimmt  mit  dem  Nachahmungs- 
trieb des  Kindes,  wie  er  sich  in  der  Echosprache  äußert,  wesentlich 
überein,  und  er  wird  selbst  durch  die  Echosprache  stark  angeregt. 
Kann  man  doch,  wenn  erst  dieses  Stadium  eingetreten  ist,  nicht 
selten  beobachten,  daß  Mutter  und  Kind  einander  wiederholt  irgend- 
ein Wort  zurufen,  das  im  Grunde  für  beide  Teile  die  Bedeutung 
eines  Echowortes  hat,  weil  es  bloß  aus  der  Lust  an  der  Wieder- 
holung hervorgeht.  Bei  dem  gewöhnlichen  Vorsprechen  kommt  zu 
dieser  Äußerung  des  Nachahmungstriebes  als  zweites  Motiv  die 
Absicht,  einen  bestimmten  Gegenstand  durch  Laut  wie  Gebärde 
dem  Kinde  kenntlich  zu  machen.  Dies  ist  kein  einfacher  Gefühls- 
impuls mehr,  sondern  meist  schon  ein  komplizierter  Willensvorgang. 
Immerhin  folgt  auch  er  nicht  selten  triebartig  den  Motiven,  die  sich 
aus  der  Situation  ergeben.  Demnach  wird  die  Benennung  von  selbst 
halb  Nachahmung  der  kindlichen  Lalllaute,  halb  Nachbildung  irgend- 
eines am  Gegenstande  wahrgenommenen  Merkmals.  Das  Produkt 
dieser  Mischung  der  Motive  ist  notwendig  irgendeine  onomato- 
poetische Wortbildung.  Da  das  Kind  gerade  in  der  Periode,  die 
der  eigentlichen  Sprachbildung  vorausgeht,  ohnehin  stark  zu  Laut- 
wiederholungen neigt,  an  denen  sich  sein  erwachendes  rhythmisches 
Gefühl  erfreut,  so  erklärt  es  sich  schon  hieraus,  daß  sich  diese 
Neigung  auch  der  Kindersprache  mitteilt  oder  vielmehr  instinktiv 
von  der  Umgebung  des  Kindes  ihr  mitgeteilt  wird,  indem  sich 
dabei  nur  die  mehrfache  Wiederholung  in  der  Regel  auf  die  ein- 
fache Verdoppelung  einschränkt.    In  geringerem  Grade  wirken  dann 


Psychologische  Eigenschaften  der  kindlichen  Sprache.  -joi 

gelegentlich  auch  die  von  den  Objekten  selbst  hervorgebrachten 
Laute  mit,  wie  bei  'wau-wau'  für  den  Hund,  ''hot-hot'  für  das 
Pferd.  Aber  entscheidend  ist  dieses  Motiv  jedenfalls  nicht,  da  es  bei 
andern  Namen,  wie  z.  B.  bei  'Papa^  und  'Marna^  ganz  hinwegfällt. 
Nach  allem  dem  ist  die  kindliche  Sprache  ein  Erzeugnis  der 
Umgebung  des  Kindes,  an  dem  das  Kind  selbst  wesentlich  nur 
passiv  mitwirkt.  Diese  Mitwirkung  besteht  hauptsächlich  darin,  daß 
das  Kind  die  Laute  am  leichtesten  nachahmt,  die  am 
deutlichsten  von  ihm  gesehen  werden,  daher  diese  nun  auch 
für  den  Lautvorrat  der  Kindersprache  bestimmend  sind.  Dazu 
kommt  dann,  daß  der  Erwachsene,  der  mit  dem  Kinde  verkehrt, 
instinktiv  seine  Äußerungen  dem  wirklichen  oder  vermeintlichen 
Anschauungskreise  des  Kindes  anpaßt,  indes  die  dem  Kinde  ver- 
möge natürlicher  Gefühlsmotive  eigene  Neigung  zu  Lautwieder- 
holungen die  onomatopoetische  Gestaltung  der  Wörter  beeinflußt. 
Eine  wesentliche  Rolle  bei  der  Mitteilung  der  Bedeutungen  spielt 
endlich  die  meist  triebartig  mit  dem  Worte  verbundene  Gebärde, 
die  durch  ihre  unmittelbare  anschauliche  Beziehung  zu  dem  Gegen- 
stand dem  Kind  am  frühesten  verständlich  ist  und  am  frühesten 
und  selbständigsten  von  ihm  wiederholt  wird.  Für  das  Problem, 
wie  die  Sprache  ursprünglich  entstanden  ist,  bietet  somit  die  Analyse 
der  kindlichen  Sprachentwicklung  keine  unmittelbar  verwertbaren 
Ergebnisse,  immerhin  aber  einige  indirekte  Wegweiser  in  der  bei 
ihr  so  augenfällig  hervortretenden  instinktiven  Anpassung  des  Reden- 
den an  Anschauungen  und  Gefühle  des  Angeredeten,  sowie  in 
der  Bedeutung  der  Gebärde  für  die  erste  Verständigung  durch  die 
Lautsprache  ^). 


^)  Mit  dem  Ergebnis,  daß  die  kindliche  Sprache  nicht  von  dem  Kind  »erfunden«, 
sondern  ihm  unter  den  oben  erörterten  Bedingungen  des  wechselseitigen  Verkehrs 
von  der  Umgebung  mitgeteilt  ist,  erledigt  sich  von  selbst  die  in  verschiedenen 
Schriften  über  die  Sprache  des  Kindes  wiederkehrende  Behauptung,  die  Entwick- 
lung der  kindlichen  Sprache  sei  >eine  abgekürzte  Wiederholung  der  Sprachentwick- 
lung überhaupt«,  —  ein  Satz,  von  dem  man  sogar  behauptet  hat,  er  sei  ein  »ebenso 
sicher  begründetes  biogenetisches  Grundgesetz  der  Sprache  wie  jenes  der  Embryo- 
logie«. (Ament,  Die  Entwicklung  von  Sprechen  und  Denken,  S.  42.)  In  Wahrheit 
ist  die  Entwicklung  der  kindlichen  Stimmlaute  eine  annähernde  Wiederholung  der 
allgemeinen  Entwicklung  der  Stimmlaute  genau  bis  zu  dem  Zeitpunkt,  wo  die 
Sprache  anfängt,  also  im  Stadium  der  unartikulierten  Schreilaute  und  allenfalls 
auch  noch  der  unartikulierten  sinnlosen  Gefühlslaute;  darüber  hinaus  ist  sie  es  nicht 


'02  Die  Sprachlaute. 


5.    Lautvertauschungen  und  Lautverstümmelungen 
in  der  Kindersprache. 

Sind  die  bisher  betrachteten  Eigenschaften  der  Kindersprache 
Wirkungen  des  Verkehrs  mit  der  Umgebung,  an  denen  diese  im 
allgemeinen  mehr  beteiligt  ist  als  das  Kind,  so  verhält  sich  dies 
nun  wesentlich  anders  bei  einer  letzten  Reihe  von  Erscheinungen, 
die  so  gut  wie  ausschließlich  in  dem  sprechenden  Kinde  selbst 
ihre  Quelle  haben:  das  sind  die  Lautvertauschungen  und  die  so- 
genannten »Lautverstümmelungen«  der  Kindersprache.  Sie  sind  zu- 
gleich diejenigen  Erscheinungen,  die  am  längsten  andauern,  so  daß 
ihre  letzten  Spuren  in  der  Regel  noch  zu  beobachten  sind,  wenn 
im  übrigen  eine  vollständige  Aneignung  der  Sprache  eingetreten  ist. 

Die  herrschende  Meinung  geht  dahin,  alle  diese  Lautveränderun- 
gen seien  durch  das  Unvermögen  des  Kindes  bestimmte  Laute 
hervorzubringen  veranlaßt.  Das  Kind  substituiere  daher  regelmäßig 
dem  schwierigeren  Laut  einen  leichteren.  Fritz  Schultze  suchte 
das  Prinzip  dieser  Substitution  auf  die  Regel  zurückzuführen,  für  den 
unaussprechbaren  Laut  setze   das  Kind  den  ihm  nächstverwandten, 


mehr.  Ähnlichkeiten  mit  den  Lautsystemen  der  Naturvölker,  speziell  der  Polynesier, 
die  H.  Gutzmann  (Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie,  I,  1899,  S.  28  ff.)  als 
beweisend  ansieht,  sind  dies  um  so  weniger,  als  die  Eigenschaften  und  die  genea- 
logischen Zusammenhänge  der  polynesischen  Sprachen  annehmen  lassen,  daß  diese 
dereinst  ein  reicheres  Lautsystem  besaßen,  und  daß  sie  überhaupt  lautlich  sehr 
starke  Veränderungen  erfahren  haben.  (Fr.  Müller,  Expedition  der  Novara,  Lingui- 
stischer Teil,  1867,  S.  290.)  Auch  stehen  z.  B.  die  melanesischen  Sprachen  jeden- 
falls nicht  höher  in  ihrer  Entwicklung;  gleichwohl  sind  sie  verhältnismäßig  reich 
namentlich  auch  an  konsonantischen  Lauten.  (Vgl.  H.  C.  von  der  Gabelentz,  Die 
melanesischen  Sprachen,  I,  S.  253,  266.)  In  dem  lautgeschichtlich  am  zuverlässig- 
sten durchforschten  Gebiet  aber,  in  dem  der  indogermanischen  Sprachen,  scheint 
der  Lautbestand  der  uns  erreichbaren  Urzeit  nicht  ärmer,  sondern  reicher  zu  sein 
als  der  der  meisten  Sprachzweige,  die  aus  der  Ursprache  hervorgegangen  sind.  Wir 
werden  in  der  Tat  in  Kap.  IV  sehen,  daß  es  gewisse  allgemeine  psychophysische 
Bedingungen  gibt,  die  diese  allmähliche  Lautvereinfachung  und  -Verarmung  der 
Sprachen  im  Lauf  ihrer  fortschreitenden  Entwicklung  begreiflich  machen.  Wenn 
gewisse  Analogien  der  kindlichen  Sprache  mit  der  der  Naturvölker  trotzdem  exi- 
stieren, so  liegen  sie,  wie  sich  später  zeigen  wird,  auf  einem  ganz  anderen  Gebiet: 
auf  dem  der  Wort-  und  Satzfügung,  und  sie  lassen  sich  nicht  aus  einem  »biogene- 
tischen Grundgesetz«,  wohl  aber  aus  den  allgemeinen  Eigenschaften  eines  unent- 
wickelten Bewußtseins  ableiten.     (Vgl.  Kap.  VII.) 


Lautvertauschimgen  und  Lautverstümmelungen  in  der  Kindersprache.       30^ 

mit  geringerer  physiologischer  Schwierigkeit  sprechbaren  ein,  und 
wenn  es  auch  diesen  nicht  zu  beherrschen  vermöge,  so  lasse  es  den 
Laut  ganz  weg^).  Dieser  Regel  haben  andere  Beobachter  teils  zu- 
gestimmt, teils  widersprochen.  Im  ganzen  ist  aber  dabei  nicht  das 
Prinzip  als  solches,  sondern  nur  die  demselben  beigegebene  Regel, 
die  übrigens  Schultze  selbst  nur  als  eine  Anregung  zu  weiteren 
Forschungen  bezeichnete,  beanstandet  worden^).  Ich  bin  im  Gegen- 
teil geneigt,  dem  von  Schultze  aufgestellten  Satze,  daß  bei  den 
Lautumwandlungen  des  Kindes  die  Verschlußstelle  von  hinten  nach 
vorn  verlegt  wird,  von  den  gutturalen  und  palatalen  zu  den 
labialen  und  dentalen  Artikulationen,  eine  gewisse  Geltung  ein- 
zuräumen. Dagegen  glaube  ich,  daß  das  ziemlich  allgemein  an- 
genommene Prinzip,  das  Kind  substituiere  überall  da  andere  Laute, 
wo  ihm  die  geforderten  unmöglich  oder  schwierig  sind,  nicht  auf- 
rechterhalten werden  kann.  Diese  Annahme  wird,  wie  mir  scheint, 
einfach  dadurch  widerlegt,  daß  das  Kind  meistens  schon  in  den 
Anfängen  seiner  nachahmenden  Sprachbewegungen  im  vollen  Be- 
sitz aller  der  Artikulationen  ist,  die  zu  den  verschiedenen  Laut- 
bildungen erfordert  werden,  indem  es  dieselben  fortwährend  in  den 
der  eigentlichen  Sprache  vorausgehenden  Gefühlslauten  verwendet. 
Dazu  kommt,  daß  die  gleichen  Laute  in  gewissen  Wörtern  vermieden 
und  gleichzeitig  in  andern  gebraucht  werden.  Das  nämliche  Kind, 
welches  das  Kind  'Tind'  und  die  Pfeife  Teipe'  nennt,  spricht  etwa 
das  Wort  Gasse  ''Gack'  und  Vater  'Faata'  aus.  Nicht  in  dem  Un- 
vermögen, die  Laute  überhaupt  hervorzubringen ,  sondern  in  andern 
Bedingungen  müssen  also  diese  Umwandlungen  ihren  Grund  haben. 
In  der  Tat  ergibt  die  Beobachtung  des  Kindes  selbst  und  die 
nähere  Betrachtung  der  stattfindenden  Lautumwandlungen  zwei 
Bedingungen,  die  es  vollkommen  begreiflich  machen,  daß  trotz 
der  Fähigkeit,  die  geforderten  Laute  zu  erzeugen,  mehr  oder  minder 
eingreifende  Veränderungen  beim  Nachsprechen  derselben  entstehen 
müssen.  Die  erste  dieser  Bedingungen  besteht  in  der  unvollkom- 
menen akustischen  wie  optischen  Apperzeption  der  Laute 


^)  Fritz  Schultze,  Die  Sprache  des  Kindes,   1880,  S.  34  ff. 

*)  So   besonders  von  Preyer,   Seele   des  Kindes,^  S.  346,  434,   sowie  neuerlich 
von  W.  Ament,  Die  Entwicklung  von  Sprechen  und  Denken  usw.,  S.  65  ff. 


304  I^i^  Sprachlaute. 


und  Lautbewegungen,  die  zweite  in  den  innerhalb  der  zusammen- 
hängenden Rede  eintretenden,  beim  Kinde  wesentlich  gesteigerten 
Kontaktwirkungen  der  Laute. 

Zunächst  wird  die  erste  Entstehung  nachahmender  Artikulations- 
bewegungen nicht  bloß  dadurch  bestimmt,  daß  die  Laute  gehört, 
sondern  wesentlich  auch  dadurch,  daß  die  Lautbewegungen  ge- 
sehen werden.  Blindgeborene  Kinder  beginnen  daher  viel  später 
nachzusprechen  als  sehende,  und  in  den  meisten  Fällen  sogenann- 
ter »Hörstummheit«,  bei  der  die  Entwicklung  der  Sprache  trotz 
vorhandener  Hörfähigkeit  und  anscheinend  zureichender  Intelligenz 
ausbleibt,  erweisen  sich  Defekte  des  Sehens  mindestens  als  mit- 
beteiligt'). Solche  Sehdefekte  hemmen  freilich  noch  aus  einem 
andern  Grunde  die  Wortnachahmung:  sie  hindern  die  Assoziation 
zwischen  Wort,  Gebärde  und  Gegenstand.  Aber  eine  wesentliche 
Seite  dieses  hemmenden  Einflusses  wird  man  immerhin  auch  darin 
erblicken  m.üssen,  daß  der  von  den  gesehenen  Artikulationsbewe- 
gungen ausgehende  Antrieb  hinwegfällt.  Beobachtet  man  doch 
gerade  in  der  ersten  Zeit  der  Wortbildung,  besonders  auch  bei  der 
sogenannten  Echosprache,  daß  das  Kind  dem  Sprechenden  auf- 
merksam das  Wort  vom  Munde  abliest,  ehe  es  dasselbe  wiederholt. 
Es  ahmt  also  gleichzeitig  den  akustischen  und  den  optischen  Ein- 
druck des  Wortes,  und  zunächst  sogar  vorzugsweise  den  letzteren 
nach,  da  die  gesehene  Artikulationsbewegung  einen  weit  stärkeren 
Impuls  zur  Mitbewegung  hervorbringt  als  der  gehörte  Laut.  Hieraus 
erklärt  sich  ohne  weiteres  das  starke  Übergewicht  der  labialen 
und  dentalen  Laute  in  der  Kindersprache:  das  Kind  ahmt  eben 
vor  allem  diejenigen  Komponenten  der  Lautbewegungen  nach,  die 
es  sieht.  Erst  in  zweiter  Linie  steht  die  Ungenauigkeit  der  Gehörs- 
wahrnehmung, die  es  dann  freilich  wesentlich  mitbedingt,  daß  das 
Kind  so  lange  Zeit  bei  seinen  falschen  Artikulationen  verharrt.  In 
dieser  Beziehung  zeigt  sich  aber  beim  Kinde  nur  in  verstärktem 
Maße,  was  wir  fortwährend  auch  in  der  Rede  des  erwachsenen 
Menschen    beobachten    können,    wo    dieser  Laute    nachbildet,    die 


')  A.  Liebmann ,  Vorlesungen  über  Sprachstörungen .  Heft  3 :  Hörstummheit, 
1898,  S.  16.  Über  kindliche  Sprachstörungen  und  Sprachhemmungen  überhaupt  vgl. 
H.  Gutzmann,  Des  Kindes  Sprache  und  Sprachfehler,  1894.  Sprach entwicklung  des 
Kindes  und  ihre  Hemmungen,  1902. 


Lautvertauschungen  und  Lautverstümmelvingen  In  der  Kindersprache.        ■^05 

seinem  Sprachorgan  ungewohnt  sind.  Unsere  eingeübten  Wort- 
vorstellungen sind  Komplikationen  von  Lautempfindungen  und  Arti- 
kulationsempfindungen, und  die  VVorteindrücke  werden  erst  von 
dem  Augenblick  an  verhältnismäßig  treu  apperzipiert ,  wo  ihnen 
die  entsprechenden  Lautempfindungen  früherer  gleicher  Eindrücke 
assimilierend  entgegenkommen,  und  wo  sie  sich  zugleich  unmittelbar 
mit  den  zu  ihnen  gehörigen  Artikulationsempfindungen  assoziieren. 
Darum  vermögen  wir  nur  solche  Sprachlaute  vollkommen  richtig 
zu  hören,  die  wir  auch  selbst  richtig  erzeugen  können.  Wer  im 
eigenen  Sprechen  das  linguale  mit  dem  gutturalen  r  oder  die  Tenuis 
mit  der  Media  verwechselt,  dem  entgehen  die  Unterschiede  meist 
auch  beim  Hören  der  Laute.  Nicht  anders  verhält  es  sich  bei  der 
Aneignung  einer  fi-emden  Sprache,  die  darum  in  ihrem  Laut- 
charakter stets  nach  den  geläufigen  Lauten  der  eigenen  umgemodelt 
wird.  Nun  sind  beim  Kind  alle  diese  Assoziationen  von  Laut- 
und  Artikulationsempfindungen  noch  unausgebildet,  und  ebenso 
stehen  ihm  anfänglich  assimilierende  Wortgebilde  noch  nicht  oder 
nur  in  abgeänderter  Beschaffenheit  zu  Gebote.  Es  ist  daher  selbst- 
verständlich, daß  sich  die  Sprachlaute,  in  denen  es  die  unvollkom- 
men gehörten  und  gesehenen  Laute  nachbildet,  nur  sehr  allmählich 
mit  der  Sprache  seiner  Umgebung  in  Einklang  setzen  können. 

Zu  diesen  abändernden  Einflüssen,  denen  der  einzelne  Laut  als 
solcher  unterworfen  ist,  kommen  aber  als  ein  zweites  die  Lautform 
wesentlich  bestimmendes  Moment  die  Kontaktwirkungen  der 
Laute,  die  durch  ihre  Verbindung  zu  zusammengesetzten  Wort- 
gebilden eintreten,  und  die  wiederum  nach  denselben  allgemein- 
gültigen Gesetzen  erfolgen,  nach  denen  wir  sie  überall  in  der  Sprache 
wirksam  finden,  denen  aber  allerdings  die  kindliche  Sprache  nicht 
nur  in  stärkerem  Grade,  sondern  auch  überwiegend  in  anderer  Rich- 
tung unterworfen  ist,  als  die  seiner  Umgebung.  Alle  diese  unter 
den  Bezeichnungen  der  »progressiven  und  regressiven  Assimilatio- 
nen und  Dissimilationen«  bekannten  Wirkungen  werden  uns  als 
normale  sprachliche  Erscheinungen  im  folgenden  Kapitel  näher  be- 
schäftigen. Hier  sei  nur  so  viel  bemerkt,  daß  sie  als  psychophy- 
sische,  gleichzeitig  auf  Assoziationen  der  Lautvorstellungen  und 
auf  mechanischen  Bedingungen  der  Artikulationsbewegungen  be- 
ruhende   Vorgänge  zu  deuten  sind,    die  sich  mit  der  Geschwindig- 

Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  20 


2o6  Die  Sprachlaute. 


keit  des  Redeflusses  steigern,  mit  der  wachsenden  Übung  der 
Artikulations-  und  der  ihnen  parallel  gehenden  Vorstellungsbewegun- 
gen aber  abnehmen.  Nun  besitzt  natürlich  das  Kind  zunächst 
diese  Übung  in  sehr  geringem  Maße,  und  auch  die  Vorstellungs- 
bewegung ist  bei  ihm  eine  sehr  verlangsamte  gegenüber  dem 
normalen  Bewußtsein.  Daraus  erklärt  sich  zunächst,  daß  die 
Sprache  des  Kindes  geradezu  überfüllt  ist  mit  diesen  Kontakt- 
wirkungen, durch  welche  die  Laute  einander  angeglichen  oder  durch 
Dissimilation  gesondert  oder  ganz  unterdrückt  werden.  Es  erklärt 
sich  aber  aus  der  langsameren  Vorstellungsbewegung  des  Kindes 
insbesondere  auch  noch  die  andere  Tatsache,  daß  bei  ihm  die 
progressiven  Assimilationen  weitaus  überwiegen.  Aus  einer 
großen  Zahl  solcher  Kontakterscheinungen  vermag  ich  nur  sehr 
wenige  regressive  Assimilationen  anzuführen;  sie  sind  durchweg 
zugleich  solche,  bei  denen  ohnehin  die  Richtung  der  selbständigen 
Lautvertauschung  dieser  Veränderung  begünstigend  entgegenkommt. 
So  wott  für  fort,  DiitJie  für  Käthe,  Nanone  für  Kanone.  Diesen 
Beispielen  steht  eine  große  Menge  progressiver  Assimilationen  teils 
für  sich  teils  mit  Lautvertauschungen  und  Dissimilationen  vermischt 
gegenüber,  z.  B.  Nana  für  Nase,  Tata  für  Tante,  Munn  für  Mund, 
Nann  für  Nacht,  Gag  für  Kleid,  Giiga  für  Kuchen,  Dcdde  für  Decke, 
Bebe  für  Besen,  Bübü  für  Bücher,  Bibbe  für  Bitte,  Joj  iviX  Schoß, 
Äuau  für  Auge,  Mormor  für  Morgen,  Dodonana  für  Promenade  usw. 
Die  Assimilationen  sind,  wie  man  sieht,  bald  konsonantische,  bald 
vokalische,  am  häufigsten  aber  beides  zugleich,  während  nicht  selten 
außerdem  Dissimilationen  mitspielen.  Letztere  kommen  übrigens 
auch  gelegentlich,  namentlich  bei  dem  Zusammentreffen  von  Kon- 
sonanten, für  sich  allein  vor:  so  in  Faata  für  Vater,  Aam  für  Arm, 
Baat  für  Bart.  Jenes  Überwiegen  der  progressiven  Assimilation 
ist  besonders  deshalb  bemerkenswert,  weil  in  allen  Kultursprachen 
indogermanischer  und  semitischer  Herkunft  überwiegend  die  um- 
gekehrte, regressive  Form  der  Assimilation  vorkommt,  während  in 
andern  Sprachen,  z.  B.  in  den  ural-altaischen,  ähnlich  wie  beim  Kinde, 
die  progressive,  und  zwar  vorzugsweise  die  vokalische  Assimilation 
vorherrscht.  Die  Erklärung  dieser  Erscheinungen  wird  uns  später 
beschäftigen.  Hier  mußten  sie  nur  als  diejenigen  Momente  hervor- 
gehoben werden,   die   vor  allem   andern  die  Lautabweichungen  der 


Primäre  und  sekundäre  Interjektionen.  j07 

Kindersprache  bedingen.  Zugleich  sieht  man  unmittelbar  an  den 
obigen  Beispielen,  wie  sehr  diese  Erscheinungen  die  der  Kinder- 
sprache eigenen  Lautwiederholungen  begünstigen.  Indem  die  voran- 
gehende Silbe  auf  die  nachfolgende  assimilierend  einwirkt,  bringt  sie 
eben  ohne  weiteres  eine  Lautwiederholung  hervor. 


III.  Naturlaute  der  Sprache  und  ihre  Umbildungen. 

I.    Primäre  und  sekundäre  Interjektionen. 

»Naturlaute«  nennen  wir,  wenn  der  Begriff  im  Zusammenhange 
mit  dem  des  Sprachlautes  und  zugleich  im  Gegensatze  zu  diesem 
gebraucht  wird,  alle  Stimmlaute  der  Tiere  und  des  Menschen,  die 
der  Wortsprache  vorausgehen  oder  als  Überlebnisse  eines  vor- 
sprachlichen Zustandes  in  sie  hineinreichen.  In  diesem  Sinne  sind 
die  sämtlichen  natürlichen  Stimmlaute  der  Tiere  und  die  Laut- 
äußerungen des  Kindes,  bevor  es  zu  sprechen  anfängt,  Naturlaute. 
Diese  bilden  aber  nicht  bloß  bei  jedem  einzelnen  Menschen  und 
darum,  wie  wir  vermuten  können,  auch  bei  den  hypothetischen 
Urmenschen  eine  Vorstufe  der  Sprache,  sondern  sie  reichen  in  die 
Sprache  selber  hinein.  Das  Kind,  nachdem  es  sprechen  gelernt 
hat,  fährt  fort ,  seine  lebhafteren  Gefühle  in  Naturlauten  zu  äußern. 
Beim  entwickelten  Menschen  treten  diese  zurück:  sie  werden  mehr 
und  mehr  von  der  Sprache  verdrängt,  indem  auch  die  lebhafteren 
Gefühle  allmählich  in  sprachliche  Formen  eingekleidet  werden. 
Aber  ganz  verschwinden  sie  niemals.  Vielmehr  dauern  sie  in  den 
beiden  Gattungen  fort,  in  die  sie  sich  schon  bei  manchen  Tieren 
und  beim  Kind  in  den  ersten  Lebenswochen  geschieden  haben: 
als  unartikulierte  Schreilaute,  die  sich  allerdings  beim  erwachse- 
nen Menschen  durchgehends  auf  die  äußersten  Grade  des  Schmerzes 
oder  allenfalls  noch  der  Wut  oder  des  Jubels  einschränken,  und 
als  artikulierte  Gefühlslaute,  die  im  ganzen  mäßigere  Gefühle 
ausdrücken,  infolge  der  fortschreitenden  Ablösung  durch  die  Sprache 
aber  ebenfalls  seltener  und  auf  intensivere  Gefühle  zurückgedrängt 
werden. 

Die  in  der  Sprache  stehen  gebliebenen  Reste  dieser  reinen 
Naturlaute   sind  die  primären  Interjektionen.     »Primär«  wollen 


io8  Die  Sprachlaute. 


wir  sie  nennen,  weil  sie  die  ursprünglichsten  sind,  und  weil  sie  den 
Charakter  von  Naturlauten  vollständig  bewahrt  haben.  Mit  der 
eigentlichen  Sprache  in  gar  keiner  inneren  Verbindung  stehend, 
bilden  sie  gleichsam  vereinzelte  Trümmer  einer  vorsprachlichen  Stufe, 
die  den  Zusammenhang  der  Rede  unterbrechen.  Dahin  gehören 
Laute  wie  im  Deutschen  oh^  acJi^  ak,  au^  weJi^  lia^  Jie^  ei^  j^i-ii-^i  Rufe, 
die  in  den  Sprachen  der  modernen  Kulturvölker  nur  gering  an  Zahl 
sind,  im  Griechischen  und  Lateinischen  aber  in  mannigfaltigeren 
Abstufungen  vorkommen  und,  wie  es  scheint,  häufiger  gebraucht 
wurden.  So  hat  das  Lateinische  als  Rufe  der  Freude  io^  iii^  ha^ 
euoe^  des  Schmerzes  vae  ^  Jieu^  eJieu^  ohe^  au^  der  Verwunderung  o^ 
en,  ecce^  hiii^  hem^  vah,  des  Zurufs  hetis^  ö,  eho^  proh,  die  sämtlich 
in  die  Literatursprache,  namentlich  der  Komödiendichter,  über- 
gegangen sind,  und  wozu  gelegentlich  auch  noch  andere,  mehr  zu- 
fällige Gefühlslaute  kommen,  die  kein  festes  Bürgerrecht  in  der 
Sprache  erworben  haben.  Denn  gerade  dieses  Gebiet  ist  momenta- 
nen Neubildungen  besonders  leicht  zugänglich.  Auch  die  Sprachen 
primitiver  Kulturvölker  sind  reich  an  primären  Interjektionen^).  Da- 
bei tragen  alle  diese  Gefühlslaute  in  den  verschiedensten  Sprachen 
namentlich  insofern  einen  verwandten  Lautcharakter,  als  die  Natur- 
laute für  heftige  erregende  Affekte  die  hohen,  solche  für  deprimie- 
rende Gefühle  die  tieferen  Vokalklänge  enthalten.  Doch  ist  es 
sichtlich  nicht  sowohl  die  Kultur  an  sich,  die  diese  Zahl  allmählich 
beschränkt,  als  vielmehr  die  von  der  Sitte  gebotene  Mäßigung  der 
Affektäußerungen.  Der  antike  Mensch  gibt  seine  Freude  v/ie 
seinen  Schmerz  ungehemmter  in  Gebärden  wie  Lauten  kund.  So 
werden  bekanntlich  die  Helden  Homers  gelegentlich  schreiend  und 
laut  jammernd  geschildert,  wobei  es  freilich  der  epische  Dichter 
meist  dem  Hörer  überläßt,  sich  die  Laute  hinzuzudenken.     Auf  der 


i)  In  W.  von  Humboldts  Werk  über  die  Kawi-Sprache  (ergänzt  von  Buschniann 
in,  S.  982)  sind  aus  dem  Tongischen  10,  aus  dem  Tahitischen  8  primäre  Inter- 
jektionen aufgeführt.  Ungefähr  die  gleiche  Zahl  erreicht  Riggs  in  der  Dakota- 
Sprache  (Contributions  to  the  North  American  Ethnol.  Vol.  IX,  1893,  p.  54),  wobei 
es  freilich  im  letzteren  Falle  zweifelhaft  ist,  ob  nicht  einige  von  sekundärer  Natur 
darunter  sind.  Vgl.  auch  Steinthals  Verzeichnis  der  Interjektionen  in  den  Mande- 
Negersprachen,  S.  132,  184.  Leider  sind  in  den  meisten  neueren  Wörterverzeich- 
nissen und  Grammatiken  von  Sprachen  der  Naturvölker  die  Interjektionen  wenig 
oder  gar  nicht  berücksichtigt. 


Primäre  und  sekundäre  Interjektionen.  ^OQ 

Bühne,  wo  die  Handlung  nicht  bloß  erzählt,  sondern  unmittelbar 
vorgeführt  wird,  äußern  die  tragischen  Helden  ihren  Schmerz  in 
Lauten,  die  zu  einem  großen  Teil  dem  Gebiete  beliebig  wechselnder 
primärer  Interjektionen  angehören,  wie:  anaital^  TtartarcTcaTcaima- 
TtaTircaTtaital,  iiii,  axTaxal  usw.  (Sophokles,  Philoktet,  742 — 800). 
Der  heutige  Übersetzer  ist  nicht  mehr  imstande,  diese  Schmerzens- 
laute  treu  wiederzugeben;  er  sieht  sich  genötigt,  sie  teilv/eise  in 
Sätze  zu  übertragen,  wie:  'o  weh  mir  Armen',  *^o  Schmerz'  u.  dgl. 
Hierin  spiegelt  sich  aber  ein  Vorgang,  der  wahrscheinlich,  solange 
die  Sprache  besteht,  wirksam  gewesen  ist:  der  allmähliche  Ersatz 
der  primären  durch  sekundäre  Interjektionen,  wobei  wir  mit 
dem  letzteren  Namen  diejenigen  reinen  Gefühlsäußerungen  bezeichnen 
wollen,  die  in  andere  sprachliche  Formen  eingekleidet  werden.  Dahin 
gehören  also  Rufe  wie:  ""Ztt/',  'me  hercle',  ""apage',  ""mein  Gott',  ""mein 
Himmel',  ""Jesus  Maria',  'Donnerwetter',  ""Blitz  usw.,  sowie  die  aus 
solchen  Wörtern  und  aus  primären  Interjektionen  zusammengesetz- 
ten Gebilde  wie:  ""o  Himmel',  ""potztausend',  ""ach  Gott'.  Wenn 
wir  die  Sprache  der  griechischen  und  römischen  mit  der  unserer 
heutigen  Dramatiker,  selbst  solcher  vergleichen,  die  beflissen  sind, 
die  Redeweise  des  gewöhnlichen  Lebens  so  naturgetreu  wie  mög- 
lich abzuschildern,  so  gewinnt  man  den  Eindruck,  daß  sich  bei 
dem  modernen  Menschen  der  Naturlaut  des  Gefühls  durch  zu- 
nehmende assoziative  Übertragung  mehr  und  mehr  in  Worte  um- 
gesetzt habe.  So  erklärt  es  sich,  daß  in  den  modernen  Sprachen 
die  Zahl  der  primären  Interjektionen  eine  außerordentlich  spärliche 
geworden,  daß  aber  die  der  sekundären  um  so  mehr  gewachsen  ist. 
Dieser  Prozeß  ist  vermutlich  noch  nicht  abgeschlossen.  Denn 
sollten  auch  die  primären  Interjektionen  etwa  schon  auf  dem  für 
sie  erreichbaren  Minimalstand  angelangt  sein,  so  werden  doch 
sekundäre  immer  wieder  neu  geschaffen,  und  jedes  Zeitalter  gibt 
ihnen  sein  eigenes  Gepräge.  Das  Altertum  ruft  die  Götter  an,  das 
Mittelalter  setzt  die  Personen  der  heiligen  Familie  und  der  Heiligen 
an  deren  Stelle.  In  beiden  Fällen  sind  es  offenbare  Gebetsformeln, 
die  zuerst  zu  Flüchen  und  dann  zu  unbestimmteren  Interjektionen 
geworden  sind.  Bei  dem  modernen  Menschen  endlich  sind  es 
Wettererscheinungen  und  Zahlen  —  die  letzteren  natürlich  von 
Geldwerten  herstammend  —  die  für  sich  allein  oder  mit  Fragmen- 


5  I  o  Die  SprachlavTte. 


ten  der  früheren  Formeln  gemischt  die  Stelle  der  Götter  und 
Heiligen  einnehmen.  So  in  Ausdrücken  wie:  'Donnerwetter^  "^alle 
Hager,  'potztausend',  'Kreuzdonnerwetter'  und  ähnlichen. 

2.    Wortformen  mit  Affektbetonung:    Vokativ  und  Imperativ. 

An  die  sekundäre  Interjektion  schließt  sich  unmittelbar,  gewisser- 
maßen als  eine  auf  eine  bestimmte  Vorstellung  bezogene  Unterform 
derselben,  der  sprachliche  Ausdruck  des  Vokativs  an.  Mit  Recht 
haben  schon  die  alten  Grammatiker  ihn  für  keinen  echten  Kasus 
gehalten.  Er  ist  im  Grunde  nichts  anderes  als  der  interjektional 
verwendete,  entweder  mit  einem  interjektionalen  Zeichen  allge- 
meinerer Art  versehene  oder  auch  nur  von  der  entsprechenden  Be- 
tonung begleitete  Nominalstamm.  Wenn  ich  'Karl'  rufe,  um  ent- 
weder einer  Person  mit  Namen  Karl  meine  Verwunderung  oder 
meine  Mißbilligung  oder  meinen  Wunsch,  daß  sie  stillstehe,  aus- 
zudrücken, so  ist  die  Bedeutung  des  Wortes  keine  andere  als  die 
der  Interjektionen  oh  oder  eh  oder  he^  mit  dem  einen  Unterschiede, 
daß  dort  die  Interjektion  gleichzeitig  eindeutiger  und  vieldeutiger 
geworden  ist:  eindeutiger  hinsichtlich  der  Person,  auf  die  sie  sich 
bezieht,  vieldeutiger  hinsichtlich  der  Gefühle,  die  sie  ausdrückt.  So- 
lange wir  uns  der  allgemeinen  Interjektionen  bedienen,  wenden  wir 
für  Freude,  Verwunderung,  Schmerz  usw.  verschiedene  Laute  an. 
Hier  dagegen  drückt  das  eine  Wort  'Karl'  alle  diese  Gefühle  zu- 
gleich aus.  Freilich  mindert  sich  auch  dieser  Unterschied  dadurch, 
daß  die  Tonmodulation,  in  der  das  Wort  gesprochen  wird,  jene  An- 
lässe ziemlich  treu  widerspiegelt.  Wie  ein  Eigenname,  so  können 
dann  aber  natürlich  auch  andere  Wörter,  die  irgendeine  das  Gefühl 
erregende  Vorstellung  bezeichnen,  die  Stelle  einer  Interjektion  ein- 
nehmen. So  wenn  im  Kriege  der  Ruf  'der  Feind'  den  plötzlich 
wahrgenommenen  Anmarsch  feindlicher  Truppen  ankündigt,  oder 
wenn  jemand  bei  den  entsprechenden  Anlässen  'Feuer',  'Diebe', 
'Mörder  ruft.  Alle  solche  Ausrufe  haben  den  Charakter  sekundärer 
Interjektionen,  mit  der  besonderen,  durch  die  Verhältnisse,  unter 
denen  sie  entstehen,  nahegelegten  Bedingung,  daß  der  Name  des 
den  Affekt  erregenden  Gegenstandes  der  Interjektion  eine  spezielle 
sprachliche    Einkleidung    gibt.      So    trägt    denn    auch    der   Vokativ 


Wortformen  mit  Affektbetonung:   Vokativ  und  Imperativ.  jji 

Überall  da,  wo  er  in  der  Sprache  einen  besonderen  Ausdruck  ge- 
funden hat,  diesen  Charakter  einer  an  eine  konkrete  Vorstellung  ge- 
bundenen Interjektion  an  sich.  In  den  indogermanischen  Sprachen 
geschieht  dies  häufig  durch  das  Vorrücken  des  Akzents  auf  die  An- 
fangssilbe. So  wird  TtuTiqQ  zu  Ttäreq^  altind.  Diyäiis  {Zevg)  zu  Di- 
yäus,  usw.  Umgekehrt  kann  aber  auch  die  interjektionale  Betonung 
dadurch  bewirkt  werden,  daß  die  letzte  Silbe  verlängert  wird  oder 
der  Akzent  auf  sie  rückt,  oder  auch  indem  besondere  interjektionale 
Elemente  dem  Wort  angehängt  oder  vorangestellt  werden').  Manche 
Sprachen,  wie  z.  B.  das  Litauische,  besitzen  diese  letztere,  übrigens 
auch  anderwärts  der  Volkserzählung  zukommende  Eigenschaft  in  hohem 
Maße.  Dabei  wird  dann  stets  die  Interjektion  mit  einem  irgend- 
einen Vorgang  schildernden  Verbum,  als  eine  Gefühlsverstärkung 
desselben,  verbunden^).  Wenn  in  andern  Fällen  solche  spezifische 
Rufformen  keinen  besonderen  grammatischen  Ausdruck  gefunden 
haben,  so  ist  das  wahrscheinlich  nur  ein  scheinbarer  Mangel,  da 
unwillkürlich  bald  die  Anfangs-,  bald  die  Endsilbe  oder  auch,  bei 
einsilbigen  Wörtern,  das  ganze  Wort  stärker  betont  und  nicht  selten 
zugleich  verlängert  wird.  Wir  rufen  Finer^  Diebe,  Otto  oder  Otto, 
Marie  oder  Marie  usw. 

Man  hat  solche  Rufformen  auch  als  abgekürzte  Sätze  betrachtet, 
bei  denen  das  gerufene  Wort  Subjekt,  das  Prädikat  aber  aus  der 
gesamten  Situation  zu  ergänzen  sei.  Der  Ruf  'Karf  oder  'Feuer^ 
bedeute  etwa  *^Karl  komm  hierher'  oder  'es  ist  Feuer  ausgebrochen' 
usw.  ^).  Nun  mag  es  sein,  daß  jemand  mit  einem  solchen  Ruf  wirk- 

i)  So  wurden  nach  den  Angaben  der  indischen  Grammatiker  die  Endungen  -ä, 
-äi,  -all  im  Vokativ  auf  drei  Moren  gedehnt.  (Die  Pluti  der  Inder,  Jak.  Wacker- 
nagel, Altindische  Grammatik,  I,  1896.  S.  297  ff.)  Auch  die  besonders  in  Personen- 
namen häufig  vorkommende  Gemination  eines  Konsonanten  inmitten  des  Wortes 
ist  nach  Brugmanns  Vermutung  aus  einer  ursprünglich  nur  im  Vokativ  vorhandenen 
Lautverstärkung  zu  erklären,  die  dann  auf  die  übrigen  Kasus  übergegangen  ist,  wie 
in  griech.  (Z'tA/itof,  lat.   Gracchus,    Varro,  Mummius,  ahd.  Aggo,  Itta. 

2)  Leskien,  Indogermanische  Forschungen  herausg.  von  Brugmann  und  Streit- 
berg, Bd.  13,  S.  165  ff.  In  gewissem  Grad  ist  diese  Unterbrechung  durch  Inter- 
jektionen eine  allgemein  verbreitete,  den  Ausdruck  belebende  Erscheinung,  beson- 
ders innerhalb  der  Volkserzählung,  z.  B.  'bums,  da  lag  er',  —  'patsch,  da  war  er 
gefangen  u.  dgl.  Auch  darin  bewährt  sich  hierbei  die  Interjektion  als  ein  Ausdruck 
des  Affekts,  daß  sie  verschwindet,  sobald  die  Erzählung  einen  ruhigen,  epischen  Stil 
annimmt. 

3)  Paul,  Prinzipien  der  Sprachgeschichte,^  S.  116. 


212  Die  Sprachlaute. 


lieh  den  Wunsch  verbindet,  Karl  solle  herkommen,  oder  andere 
möchten  auf  das  ausgebrochene  Feuer,  auf  die  entsprungenen  Diebe 
aufmerksam  werden,  so  daß  die  diese  Rufe  begleitenden  Bewußt- 
seinszustände  durch  die  Sätze  'Karl  komm  hierher^  *^seht  das  Feuer^, 
"^haltet  die  Diebe'  logisch  interpretiert  werden  können.  Doch  selbst 
in  diesen  Fällen  oder  in  den  noch  eindeutigeren,  in  denen  etwa 
ein  Verkäufer  ausruft  *^Äpfel,  Äpfel',  in  denen  ein  Gast  dem  Kellner 
zuruft  *^ein  Glas  Bier'  u.  dgl. ,  dürfen  wir  doch  nicht  übersehen, 
daß  die  Übertragung  in  einen  Satz  immer  eine  logische  Interpreta- 
tion bleibt,  die  den  psychologischen  Zustand  des  Bewußtseins  des- 
halb nicht  getreu  wiedergibt,  weil  auch  dann,  wenn  die  Interpretation 
richtig  ist,  der  Satz  nicht  im  ent\vickelten,  sondern  im  unentwickel- 
ten Zustand  im  Bewußtsein  steht,  als  eine  Gesamtvorstellung,  die  sich 
nur  in  bezug  auf  die  im  Ruf  ausgedrückten  Bestandteile  gegliedert 
hat^).  Der  Ausdruck  dieser  Bestandteile  ist  aber  durch  den  hinzu- 
tretenden Affekt  bestimmt,  der  den  Ruf  zugleich  zu  einer  besonders 
gearteten  Interjektion  macht.  Als  solche  zeichnet  ihn  nur  der 
außerdem  vorhandene  Vorstellungsinhalt  aus,  durch  den  er  even- 
tuell in  einen  Satz  übergehen  kann,  ohne  darum  doch  selber  ein 
Satz  zu  sein. 

Eine  Strecke  näher  auf  dem  Wege  vom  Naturlaut  zum  Satze 
stehen  dem  letzteren  die  eigentlichen  Imperative,  zu  denen  unter 
den  obenerwähnten  Wortverbindungen  schon  diejenigen  gezählt  wer- 
den können,  die  irgendeiner  bestimmt  gerichteten  Aufforderung 
dienen.  Umgestaltungen  der  Lautform  von  interjektionalem  Cha- 
rakter zeigt  allerdings  der  Imperativ  im  ganzen  seltener  als  der 
Vokativ.  Bald  kommen  bei  ihm  Lautverkürzungen,  bald  inter- 
jektionale  Präfixe  oder  Suffixe  vor''].  Gleichwohl  nimmt  er  unter 
den  Verbalformen  eine  durchaus  analoge  Stellung  wie  der  Vokativ 
unter  den  Nominalbildungen  ein.  Auch  er  ist  der  Ausdruck  einer 
interjektional    betonten    konkreten    Vorstellung.      Doch    bringt    der 


1)  Vgl.  Kap.  Vn,  Nr.  I,  5. 

2)  So  noch  im  Deutschen,  z.  B.  bliiiwa  Jierre  bim  ('schlag  zu,  o  Herr,  schlag 
zu'),  wo  bliuwä  eine  Erweiterung  der  2.  Pers.  Sing,  durch  die  Interjektion  ä  ist. 
(Weinhold,  Mittelhochdeutsche  Grammatik,^  1883,  S.  345.)  In  den  Sprachen  der 
Naturvölker  finden  sich  vielfach  analoge  Erscheinungen.  (Vgl.  z.  B.  Humboldt,  Kawi- 
Sprache,  III,  S.  872  f.) 


Wortformen  mit  Affektbetonung:    Vokativ  und  Imperativ.  -31? 

Charakter  der  Verbalbegriffe  einen  gewissen  Unterschied  mit  sich. 
Eine  gegenständliche  Vorstellung  kann  im  allgemeinen  in  den  wech- 
selndsten Gedankenverbindungen  vorkommen.  Jene  nachträgliche 
grammatische  Interpretation,  die  zu  einem  interjektional  gebrauchten 
Gegenstandsbegriff  einen  Satz  ergänzt,  ist  daher  vieldeutig,  und  dem 
entspricht  in  den  meisten  Fällen  die  Bewußtseinslage  dessen,  der 
die  nominal  geformte  Interjektion  gebraucht.  Anders  bei  dem  Ver- 
balbegriff. Die  Handlung,  die  er  ausdrückt,  ist  in  dem  Augenblick 
der  Anwendung  des  Wortes  in  der  Regel  eindeutiger  Art;  und  wo 
die  Verbalvorstellung  ohne  alle  Zeitbeziehung,  aber  versehen  mit 
dem  interjektionalen  Akzent  auftritt,  da  ist  darum  auch  der  mit  ihr 
im  Bewußtsein  des  Redenden  verbundene  weitere  Vorstellungsinhalt 
in  diesem  weit  unmittelbarer  gegenwärtig  und  von  dem  Hörenden 
unzweideutiger  zu  ergänzen  als  im  vorigen  Falle.  Zurufe  wie  *^gib\ 
''komm'',  ""geh',  "^bring',  "^hilf  usw.  pflegen  uns  daher  schon  voll- 
ständig als  Äquivalente  von  Sätzen  zu  gelten.  Sie  sind  das  freilich 
genau  genommen  auch  nicht.  Doch  in  dem  allmählichen  Übergange 
von  der  reinen  Interjektion  zum  ausgebildeten  Satze  bezeichnen  sie 
immerhin  wegen  der  prädizierenden  Funktion,  die  dem  Verbum  an- 
haftet, eine  letzte  Stufe.  Den  verbalen  Imperativen  stehen  dann 
aber  gewisse  befehlend  gebrauchte  Adverbien  oder  adverbiale  No- 
minalverbindungen gleich,  denen  nach  ihrer  eigenen  Natur  oder 
vermöge  der  Situation,  in  der  sie  vorkommen,  der  ergänzende  Ver- 
balbegriff eindeutig  zugeordnet  ist,  wie  *^zu  Hilfe',  'herbei^*,  'fort', 
*^hinweg'  u.  a.  Ihrer  ursprünglichen  Bedeutung  nach  sind  alle  diese 
Redeformen  sekundäre  Interjektionen.  Als  solche  sind  sie  Glieder 
einer  Entwicklung,  die  in  dem  Moment  beginnt,  wo  der  in  der 
Interjektion  ursprünglich  ausgedrückte  Naturlaut  mit  der  Sprache  in 
Wechselwirkung  tritt,  indem  er  Wörter  der  Sprache  in  Interjektionen 
umwandelt  und  diese  dann  wiederum  allmählich  in  Sätze  einfügt. 
Der  Endpunkt  dieser  Entwicklung  ist  naturgemäß  da  gegeben,  wo 
die  Interjektion  auch  im  sprachlichen  Ausdruck  zu  einem  vollstän- 
digen Satze  geworden  ist. 


"ijA  Die  Sprachlaute. 


3.   Naturlaute  als  Grundbestandteile  von  Wortbildungen. 

Neben  dem  Übergange  der  Interjektion  aus  ihrer  primären  in 
diese  sekundären  Formen  gibt  es  nun  noch  einen  zweiten  Weg, 
auf  dem  der  Naturlaut  Eingang  in  die  Sprache  finden  kann.  Er 
besteht  darin,  daß  ein  solcher  unmittelbar  von  der  Sprache  aufge- 
nommen und  in  sprachliche  Formen  gekleidet  wird,  so  daß  er  wie 
eine  Wurzel  erscheint,  die  einer  Wortbildung  oder  einer  Reihe  von 
Wortbildungen  zugrunde  liegt.  Die  primäre  Interjektion  ist  dem- 
nach Ausgangspunkt  zweier  divergierender  Entwicklungen:  auf  der 
einen  Seite  assimiliert  der  natürliche  Gefühlslaut  vorhandene  Wörter 
der  Sprache,  mit  denen  er  sich  zuerst  verbindet,  um  dann  ganz  in 
ihnen  unterzugehen;  auf  der  andern  Seite  geht  er  selbst  in  die 
Sprache  über  und  wird  Anlaß  zu  Wortbildungen,  die  in  ihrer  Be- 
deutung den  an  die  Gefühlslaute  gebundenen  Vorstellungen  ent- 
sprechen. Im  ersten  Falle  wird  der  Naturlaut  durch  das  Wort 
verdrängt,  das  psychologisch  ihm  äquivalent  geworden  ist;  im 
zweiten  dringt  er  umgekehrt  in  das  Wort  ein  und  verliert  dadurch 
allmählich  seinen  ursprünglichen  Gefühlswert,  um,  gleich  andern 
Wortbildungen,  eine  objektive,  begriffliche  Bedeutung  anzunehmen. 
Die  Zahl  der  so  an  der  Wortbildung  teilnehmenden  Naturlaute  scheint 
in  den  einzelnen  Sprachen  eine  sehr  verschiedene  zu  sein.  Am 
allgemeinsten  ist  dieser  Übergang  bei  denjenigen  Interjektionen,  die 
lediglich  Ausdruckslaute  von  Gemütserregungen  sind,  wie  im  griech. 
ololvZto  (heule),  cdatw,  ay^o^iai  (ächze),  aXci)ML,(.o  (schreie,  hauptsäch- 
lich vom  Kampfgeschrei  gebraucht),  oder  im  lat.  jilidare  (heulen), 
jubüare  (jubeln),  ejidare  (jammern) ;  ebenso  im  Deutschen  die  Verba 
heulen^  ächzen^  das  Substantivum  WeJi  mit  seinen  Ableitungen  (weh- 
klagen, Wehgeschrei  u.  a).  Manche  dieser  Ableitungen  sind  alt,  wie 
das  deutsche  heulen  (ahd.  hiinvübn^  eigtl.  'jubeln'),  und  es  kann 
dann  natürlich  die  Entstehung  aus  einer  Interjektion  einigermaßen 
fraglich  sein;  in  andern  Fällen,  wie  bei  ächzen  und  Weh^  handelt 
es  sich  um  neue  Wortbildungen,  denen  die  entsprechenden  Ge- 
fühlslaute jedenfalls  lange  vorausgegangen  sind.  In  noch  andern 
kann  sich  die  Interjektion  auf  einen  objektiven  Vorgang  beziehen 
und  mit  einem   entsprechenden  onomatopoetischen  Verbum   in   Zu- 


Natnrlaute  als  Grundbestandteile  von  Wortbildungen.  ^  I  5 

sammenhang  stehen,  wie  paff  mit  paffen^  phimps  mit  phnnpsen  u.  ä. 
Auch  hier  ist,  da  es  sich  meist  um  neue  Wortbildungen  handelt, 
wohl  in  der  Regel  die  Interjektion  früher  als  das  Verbum,  wenn 
auch  zuweilen  schon  die  erstere  an  bereits  vorhandene,  sinnver- 
wandte Wörter  sich  anlehnen  kann^). 

Abgesehen  von  der  immerhin  im  allgemeinen  beschränkten  An- 
zahl von  W^örtern,  die  mit  primären  Interjektionen  zusammenhängen, 
kann  nun  aber  die  Frage  entstehen,  ob  nicht  auch  solche  Gefühls- 
aute, die,  ohne  der  Klasse  der  allgemein  verbreiteten  Interjek- 
tionen anzugehören,  unter  besonderen  Bedingungen,  wie  z.  B.  unter 
den  künstlichen  Ausdrucklauten,  als  Gefühlsäußerungen  vorkommen, 
auf  gewisse  Wortbildungen  eingewirkt  haben.  In  der  Tat  gibt  es 
ein  Wortpaar,  für  das  ein  solcher  Ursprung  mit  großer  Wahrschein- 
lichkeit angenommen  werden  kann:  das  ist  die  Benennung  von 
Vater  und  Mutter.  Hier  hat  schon  im  i8.  Jahrhundert  de  la 
Condamine^)  auf  die  weite  Verbreitung  von  Namen,  die  unsern 
Kinderlauten  Papa  und  Mama  ähnlich  sind,  hingewiesen.  Eine  um- 
fassende Zusammenstellung  solcher  Namen  hat  dann  Buschmann  in 
seiner  Schrift  »Über  den  Naturlaut« ^]  gegeben.  Sie  erstreckt  sich 
über  eine  große  Zahl  der  verschiedensten  Sprachen  von  Natur-  wie 
Kulturvölkern"*].     Buschmann  unterscheidet  für   die  Benennung  des 


i;  Einen  Beleg  für  diese  in  der  Regel  anzunehmende  Priorität  der  Interjektion 
bildet  wohl  auch  die  Tatsache,  daß  z.  B.  das  Litauische,  das,  wie  oben  (S.  311) 
bemerkt,  in  der  Erzählung  die  interjektionalen  Zwischenrufe  oft  im  Übermaß  zeigt, 
besonders  reich  an  entsprechenden  onomatopoetischen  Verben  ist.  Vgl.  das  Ver- 
zeichnis bei  Leskien,  a.  a.  O.  S.  183  ff.  Ein  Beispiel  aus  einem  weit  entfernten 
Sprachgebiet  ist  femer  das  Runa  simi  oder  Keshua  (Peru^ ,  das  eine  Fülle  von  pri- 
mären Interjektionen  besitzt,  aus  deren  jeder  mit  Hilfe  des  Verbums  iiiy  'sagen'  ein 
zusammengesetztes  Verbum  gebildet  werden  kann,  das  'jammern'',  'überrascht  sein'  usw. 
ausdrückt  (Middendorf,  Das  Runa  simi  oder  die  Keshua-Sprache,  1890,  S.  125  f.) 
eine  Erscheinung,  in  der  sich  offenbar  eine  analoge  Verbindung,  wie  wir  sie  in 
unserm  Verbum  'wehklagen'  besitzen,  in  weiterer  Ausdehnung  wiederholt. 

2)  Voyage  dans  l'Interieur  de  TAmerique  meridionale,   1745. 

3)  Über  den  Naturlaut.  Berlin  1853.  Über  die  Namen  für  Vater  und  Mutter 
in  den  indogermanischen  Sprachen  handelt  außerdem  Delbrück,  Abh.  der  sächs. 
Ges.  d.  Wiss.  Phil.-hist.  Kl.  Bd.  11,  S.  381  ff.  Eine  vergleichende  Zusammenstellung 
aus  verschiedenen  Sprachgebieten  folgt  unten  (4  a'. 

4  Eine  nach  Koelles  Polyglotta  Africana  und  andern  Quellen  verfaßte  Tabelle 
teilt    John    Lubbock    mit    (Die    Entstehung    der    Zivilisation,    deutsche   Ausg.    1875. 


Die  Sprachlaute. 


Vaters  die  vier  typischen  Laute:  pa,  ap,  ta^  at^  für  die  der  Mutter: 
ina^  ain^  na^  an  —  Laute,  die  sich  in  den  Einzelsprachen  in 
verschiedenen  Modifikationen  finden,  wie  z.  B.  pa  in  den  Formen 
ba^  bo^  fa^  bi^  bau  usw.  Außerdem  können  sie  entweder  in  dem 
Zustande  des  unveränderten  Naturlautes  vorkommen,  wie  in  dem 
Papa  und  Mama  unserer  Kindersprache,  oder  sie  können  von  der 
Sprache  assimiliert  sein,  wie  in  Vater  und  Mutter.  Sicherlich  würde 
sich  das  von  Buschmann  mitgeteilte,  mehr  als  zweihundert  Einzel- 
sprachen umfassende  Verzeichnis  heute  bedeutend  vervollständigen 
und  teilweise  berichtigen  lassen;  das  allgemeine  Ergebnis  würde 
dadurch  keine  nennenswerte  Veränderung  erfahren.  Daß  man  in 
einem  solchen  Zusammentreffen  ein  Werk  des  Zufalls  vor  sich  habe, 
ist  aber  ausgeschlossen.  Die  auf  Grund  der  Theorie  der  Ableitung 
aller  Wörter  aus  Begriffswurzeln  versuchte  Zurückführung  unseres 
Vater-  und  Mutternamens  auf  gewisse  allgemeinere  Begriffe,  wie 
die  des  'Beschützens'  und  des  'Ernährens',  müßte  daher,  auch  wenn 
sie  im  übrigen  psychologisch  haltbar  wäre,  gegenüber  diesem  offen- 
kundigen Zusammenhang  mit  bestimmten  Naturlauten  zurücktreten^) 
Die  Naturlaute,  um  die  es  sich  hier  handelt,  unterscheiden  sich 
aber  von  den  oben  betrachteten  primären  Interjektionen  wesentlich 
dadurch,  daß  sie  im  Vergleich  mit  diesen  in  ihrem  Gefühlscharakter 
indifferent  sind.  Als  Interjektionen  kommen  Laute  wie  pa^  ta^  ma 
usw.  wohl  nur  ausnahmsweise  vor.  Dagegen  gehören  sie  zu  den 
frühesten  Lalllauten  des  Kindes  in  dem  die  eigentliche  Sprachbil- 
dung vorbereitenden  Stadium  und  dabei  zugleich  zu  denjenigen 
Lauten,  die  das  Kind  aus  den  oben  (S.  303  f.)  angeführten  Gründen 
bei  der  Nachahmung  von  Lautartikulationen  am  frühesten  verwendet. 
Demnach  dürfen  wir  schließen,  daß,  wie  überall,  so  auch  hier  diesen 
Lauten  nicht  von  dem  Kinde  selbst,  sondern  von  seiner  Um- 
gebung ihre  Bedeutung  angewiesen  wurde.  Wie  die  ersten  Sprach- 
laute des  Kindes  überhaupt  früher  auf  Personen,  wegen  der  größeren 
Aufmerksamkeit,    die   diese   erregen,    als  auf  Gegenstände  bezogen 


S.  354  ff.).  Sie  ist  nicht  ganz  so  umfangreich  wie  die  Buschmanns  und  bezieht  sich 
zum  Teil  auf  andere  Einzelsprachen,  in  dem  Hauptergebnis  stimmt  sie  aber  mit  jener 
überein. 

^)  Über  diese  Ableitungen  aus  allgemeinen  Begriffswurzeln  sowie  über  die  Wurzel- 
theorie überhaupt  vgl.  unten  Kap.  V,  Nr.  III,  4. 


Schallnachahmungen  und  Lautbilder.  t  j  y 

werden,  so  stehen  naturgemäß  unter  diesen  Personen  die  nächsten, 
die  Eltern,  wieder  im  Vordergrunde.  Auf  sie  werden  daher  in  jenem 
ersten  wechselseitigen  Nachsprechen,  das  sich  aus  Anlaß  der  Echo- 
sprache zwischen  dem  Kind  und  seiner  Umgebung  entwickelt,  die 
frühesten  artikulierten  Laute  von  selbst  bezogen.  In  den  unent- 
wickelteren Sprachen  sind  dann  die  so  entstandenen  Namen  auf  der 
Stufe  einfacher  oder  durch  Verdoppelung  erweiterter  Naturlaute,  wie 
in  unserem  *^Papa'  und  ""Mama",  stehen  geblieben.  In  den  Kultur- 
sprachen hat  auch  hier,  ähnlich  wie  bei  den  aus  Interjektionen  her- 
vorgegangenen Wortbildungen,  der  Naturlaut  nur  die  Wurzel  abge- 
geben, aus  der  ein  Wort  hervorging,  das  sich  im  übrigen  an  die 
sonstigen  typischen  Formen  der  Wortbildung  anlehnte.  *^Vater'  und 
'Mutter'  unterscheiden  sich  daher  in  ihrer  formalen  Bildung  nicht 
mehr  von  andern  Wörtern,  wie  'Bruder'  und  'Schwester',  die  völlig 
unabhängig  von  irgendwelchen  Naturlauten  entstanden  sind,  und 
denen  sich  die  ersteren  offenbar  durch  eine  naheliegende  Assoziation 
in  ihrer  Form  angeglichen  haben.  Dadurch,  daß  sie  aus  Natur- 
lauten von  indifferentem  Gefühlswert  entsprungen  sind,  nehmen  nun 
aber  die  Namen  für  Vater  und  Mutter  eine  eigentümliche  Aus- 
nahmestellung ein.  Denn  weder  läßt  sich  in  andern  Fällen  ein 
analoger  Vorgang  tatsächlich  nachweisen,  noch  ist  es  überhaupt 
wahrscheinlich,  daß  die  besonderen  Bedingungen,  die  in  diesem 
Fall  die  Assimilation  des  Naturlautes  begleiteten,  irgendwo  in  ähn- 
licher Weise  wiederkehrten. 


IV.  Lautnachahinungen  in  der  Sprache. 

I.    Schallnachahmungen  und  Lautbilder. 

In  allen  Sprachen  begegnen  uns  Wörter,  die  in  ihrer  Lautbil- 
dung eine  so  unmittelbare  Beziehung  zu  den  Gegenständen  oder 
Merkmalen,  die  sie  bedeuten,  erkennen  lassen,  daß  sie  gewöhnlich 
als  »Lautnachahmungen«  bezeichnet  werden.  Leicht  lassen  sich 
diese  Wortbildungen  in  zwei  Klassen  ordnen.  Die  erste  umfaßt 
solche  Fälle,  wo  der  Sprachlaut  einem  objektiven  Lautvorgang  ähn- 
lich ist.  So  bei  den  Tiernamen  Rade,  Krähe,  Kuckuck,  Uhu,  bei 
denen,    analog    wie    bei    den    onomatopoetischen    Tiernamen    der 


2  1 8  Die  Sprachlaute. 


Kindersprache,  die  von  den  Tieren  hervorgebrachten  Laute  wahr- 
scheinlich auf  die  Wortbildung  eingewirkt  haben;  ferner  bei  Wörtern 
wie:  bellen^  donnern,  flüstern,  gackern,  glucksen,  kichern,  klatschen, 
klirren,  knistern,  knirschen,  krachen,  krähen,  krächzen,  kreischen, 
munkeln,  niiirren,  pajfcn,  pfeifen  (aus  lat.  pipare],  prusten,  puffen, 
rasseln,  räuspern,  stöhnen,  summevL,  ticken,  zirpen,  zischen,  zn'it- 
schern  u.  a. ')  Man  kann  sie,  weil  bei  ihnen  der  Sprachlaut  Nach- 
ahmung eines  äußeren  Schalles  ist,  speziell  als  Schallnach- 
ahmungen bezeichnen.  Außer  ihnen  umfaßt  aber  der  weitere 
Begriff  der  sogenannten  »Lautnachahmung«  noch  solche  Wörter,  in 
denen  irgendein  mit  keinerlei  Schallbildung  verbundener  Vorgang 
durch  einen  Laut  wiedergegeben  wird,  und  wo  demnach  mittels 
einer  Übertragung  des  auf  einen  andern  Sinn,  meist  den  Gesichts- 
sinn, stattfindenden  Eindrucks  in  eine  Lautform  diese  dem  äußeren 
Vorgange  nachgebildet  scheint.  Hierher  gehören  Wörter  wie: 
bummeln,  baumeln,  flimmern,  hätscheln,  krabbeln,  kribbehi,  pfuscJien, 
torkeln,  wimmeln  u.  a.,  wozu  noch  manche  kommen,  bei  denen  es 
zweifelhaft  ist,  ob  bei  ihnen  nicht  Schallnachahmungen  mindestens 
mitwirkten ,  \\\&  z.  B. :  JiuscJien,  lullen,  rempeln,  schlottern,  stolpern, 
tätscheln  und  viele  andere.  Wir  wollen  diese  Nachbildungen  äußerer 
Vorgänge,  bei  denen  eine  eigentliche  Schallnachahmung  entweder 
ausgeschlossen  oder  zweifelhaft  ist,  einstweilen  der  Kürze  wegen 
Lautbilder  nennen.  Natürlich  ist  die  Frage,  ob  eine  »Schallnach- 
ahmung« vorliegt,  im  allgemeinen  sicherer  zu  entscheiden  als  die, 
ob  man  in  einem  gegebenen  Wort  ein  »Lautbild«  des  Gegenstandes 
zu  sehen  habe.  In  der  Tat  hat  man  zuweilen  nicht  bloß  Wörter 
wie  die  oben  aufgeführten,  sondern  auch  solche  wie  'hart',  "^süß*, 
'bitter',  oder  'Schmerz',  'Liebe',  'Zorn',  'Haß'  und  andere  für  sinnliche 
Nachbildungen  der  Begriffe  gehalten,  und  in  ähnlichem  Sinn  ist 
schon  den  elementaren  Sprachlauten,  namentlich  den  Vokalen,  ein 
auf  ihrem  Klangcharakter  beruhender  Gefühls-  und  Bedeutungswert 
zugeschrieben   worden^).      Solche   Vermutungen    mögen    hier    ganz 


^)  Eine  größere  Zahl  solcher  verhältnismäßig  junger  » Onomatopoetica «  aus 
deutschem  Sprachgebiet  hat  H.Paul,  Prinzipien  ^  S.  i6o  f.  zusammengestellt.  Die 
oben  ausgewählten  sind  nur  die  häufiger  gebrauchten. 

2)  Vgl.  z.  B.  Jacob  Grimm,  Über  den  Ursprung  der  Sprache,^  1852,  S.  39  f. 
K.  W.  L.  Heyse,  System  der  Sprachwissenschaft,  1856,  S.  77  ff.  C.  L.  Merkel,  Phy- 
siologie der  menschlichen  Sprache,   1866,  S.  79  ff. 


Schallnachahmungen  und  Lautbilder.  3 IQ 

außer  Betracht  bleiben,  da  bei  ihnen  die  Gefahr  einer  nachträglichen 
und  umgekehrten  Assoziation  allzu  nahe  liegt:  der  Begriff  hat  in 
diesem  Falle  wahrscheinlich  dem  ihn  bezeichnenden  Wort  seine 
eigentümliche  Gefühlsfärbung  erst  mitgeteilt,  worauf  dann  diese  für 
eine  ursprüngliche  Eigenschaft  des  Wortes  selbst  oder  einzelner 
Lautelemente  desselben  gehalten  wird.  Mag  übrigens  der  Kreis  der 
unmittelbaren  Beziehungen  von  Laut  und  Bedeutung  etwas  weiter 
oder  enger  gezogen  werden,  sicher  ist  jedenfalls,  daß  solche  Be- 
ziehungen in  einer  Anzahl  von  Fällen  existieren,  und  daß  sie  sich, 
rein  symptomatisch  betrachtet,  in  die  beiden  Klassen  der  »Schall- 
nachahmungen« und  der  »Lautbilder«,  wenn  wir  diese  in  dem  obigen 
Sinne  verstehen,  unterscheiden  lassen.  Sicher  ist  aber  allerdings 
auch,  daß  alle  diese  Fälle,  selbst  wenn  man  die  zweifelhaften  mit- 
rechnen wollte,  gegenüber  der  Ungeheuern  Menge  anderer,  wo  gar 
keine  Beziehung  nachzuweisen  ist,  eine  verschwindende  Minderheit 
bilden. 

Trotzdem  ist  es  offenbar  nicht  gerechtfertigt,  wenn  man  wegen 
der  geringen  Anzahl  sogenannter  »Onomatopoetica«  auf  ihre  Existenz 
überhaupt  keinen  Wert  legt.  In  der  Sprache  ist  jede  Erscheinung, 
die  irgendeine  Affinität  zwischen  Laut  und  Bedeutung  erkennen 
läßt,  von  Interesse,  mag  sie  nun  oft  vorkommen  oder  nicht.  Ebenso 
bildet  der  Umstand,  daß  es  sich  in  solchen  Fällen  häufig  um  neue 
Wortbildungen  handelt,  keinen  Grund  gegen  den  Wert  der  Er- 
scheinung. Diese  Argumente  stehen  schon  unter  der  stillschweigen- 
den oder  ausdrücklichen  Voraussetzung,  alles,  was  sich  heute  im  Leben 
der  Sprache  ereignet,  lasse  auf  deren  frühere  Entwicklungszustände 
keine  Schlüsse  zu.  So  bemerkt  L.  Geiger,  die  Worte  besäßen  »erst 
in  ziemlich  späten  Schichten  eine  gewisse  Neigung,  den  Objekten 
schildernd  nahe  zutreten«.  Wörter  wie  Rabe^  Krähe ^  Kuckuck^  donnern^ 
schwirren  u.  a.  seien  zwar  im  Laufe  der  Zeit  zu  Lautnachahmuneen 

o 

geworden,  ihren  Wurzeln  liege  aber  eine  solche  Beziehung  fern'). 
Wird  hier  immerhin  noch  eine  sekundäre  Wirkung  der  Vorstellung 
auf  den  Laut  zugestanden,  so  sind  nun  manche  Sprachforscher  ge- 
neigt, selbst  innerhalb  dieser  Grenzen  eine  solche  Affinität  möglichst 


')  Lazarus  Geiger,  Ursprung  und  Entwicklung  der  menschlichen  Sprache  und 
Vernunft,  I,  1868,  S.  168.  Vgl.  a,  L.  Noire,  Logos,  Ursprung  und  Wesen  der  Be- 
griffe, 1885,  S.  105. 


T.20  Die  Sprachlaute. 


ZU  beschränken.  Sobald  diese  in  verwandten  Sprachen  oder  in 
älteren  Sprachformen  des  gleichen  Gebiets  nicht  existiert,  so  gilt  sie 
ihnen  als  eine  nichtssagende,  zufällige  Erscheinung^). 

In  diesen  Anschauungen  spiegelt  sich  deutlich  die  merkwürdige 
Mischung  von  Romantik  und  Skepsis,  die  in  der  heutigen  Sprach- 
wissenschaft als  das  natürliche  Produkt  ihres  Ursprungs  aus  der 
romantischen  Geistesströmung  und  des  allmählichen  Hineinwachsens 
dieser  in  das  Zeitalter  des  positivistischen  Kleinbetriebs  hervorgegangen 
ist.  Max  Müller,  dessen  linguistische  wie  mythologische  Theorien  im 
einzelnen  längst  obsolet  geworden  sind,  ist  hier  immer  noch  der 
typische  Repräsentant  der  geltenden  Meinungen  ^).  Sie  lassen  sich  in 
bezug  auf  die  vorliegende  Frage  in  die  zwei  Sätze  zusammenfassen : 
i)  Wo  eine  Beziehung  zwischen  Laut  und  Bedeutung  nicht  in  den 
Urbestandteilen  einer  Sprache,  den  Wurzeln,  aus  denen  die  Wörter 
abzuleiten  sind,  nachzuweisen  ist,  da  existiert  sie  überhaupt  nicht. 
2)  Jede  Lautänderung,  die  im  Laufe  der  geschichtlichen  Entwicklung 
der  Sprache  eingetreten  ist,  muß  auf  rein  lautgesetzliche  Vor- 
gänge zurückgeführt  werden,  die  als  solche  mit  der  Bedeutung  der 
Wörter  gar  nichts  zu  tun  haben. 

Daß  die  »Wurzeln«  selbst,  wie  wir  später  sehen  werden,  Produkte 
einer  grammatischen  Abstraktion  sind,  die  willkürlich  und  im  Wider- 
spruch mit  allen  Erscheinungen  der  Sprache  zu  wirklichen  Urwörtern 
gemacht  wurden,  charakterisiert  die  romantische  Grundlage  dieser 
Auffassung^).  Daß  dieses  Phantasiegebilde  einer  Ursprache,  nach- 
dem es  der  wirklichen  Sprache  substituiert  ist,  zu  einem  von  allen 
psychologischen  Einflüssen  unberührt  bleibenden  Objekt  einer  irgend- 
wo in  den  Wolken  schwebenden  historischen  Gesetzmäßigkeit  erhoben 
wird,  nach  deren  Bedingungen  man  nicht  zu  fragen  habe,  charak- 
terisiert aber  jenen  historischen  Skeptizismus,  wie  er  in  dieser  Form 
wiederum  eigentlich  nur  auf  dem  Boden  der  Romantik  möglich  war. 
Nun  ist  freilich  die  Unhaltbarkeit  eines  solchen  Standpunktes  bereits 
allerorten  zutage  getreten.  Den  mannigfachen  psychophysischen  Kon- 
takt- und  Assoziationswirkungen,  die  überall  die  sprachlichen  Gebilde 


^)  Vgl.  z.  B.  Sütterlin,  Das  Wesen  der  sprachlichen  Gebilde,  S.  34. 

2)  Max  Müller,   Vorlesungen   über  die  Wissenschaft   der   Sprache,    Bd.  i,  1863, 
S.  307  ff.,  6.  Aufl.  (1892),  S.  455  ff. 

3)  Vgl.  unten  Kap.  V,  Nr.  III. 


Schallnachahmungen  und  Lautbilder.  221 

nach  Laut  wie  Bedeutung  verändern,  hat  die  Sprachwissenschaft 
bereitwillig  ihre  Tore  öffnen  müssen.  Aber  man  fügte  sich  doch  nur 
notgedrungen,  wenn  ein  anderer  Ausweg  schlechterdings  nicht  zu 
finden  war,  der  Herbeiziehung  solcher  psychologischer  und  psycho- 
physischer  Einflüsse.  Diese  deckten  sich  nun  im  wesentlichen  mit 
dem  Gebiet  der  früheren  grammatischen  »Ausnahmen«.  Nur  hatte 
sich  das  Verhältnis  zwischen  Regeln  und  Ausnahmen  dadurch  in 
eigentümlicher  Weise  gestaltet,  daß  man  für  die  Ausnahmen  plau- 
sible psychologische  Gründe  geltend  machte,  während  die  Regeln 
in  dem  geheimnisvollen  Dunkel  einer  unerforschlichen  historischen 
Gesetzmäßigkeit  verblieben.  Für  die  regelmäßigen  sprachlichen  Bil- 
dungen stehen  so  im  wesentlichen  noch  heute  die  beiden  oben 
formulierten  Dogmen  in  unbeschränkter  Geltung,  obgleich  sie  nicht 
bloß  willkürliche,  sondern  im  Grunde  sehr  unwahrscheinliche  An- 
nahmen sind.  Denn  wenn  überhaupt  assoziative  Beziehungen  irgend- 
welcher Art  zwischen  dem  Lautcharakter  und  dem  Begriffsinhalt 
eines  Wortes  entstehen,  so  wird  dies  wohl  zu  jeder  Zeit  ge- 
schehen können.  Nur  werden  solche  da,  wo  sie  einer  jüngeren 
Zeit  angehören,  selbstverständlich  leichter  nachweisbar  sein.  Ver- 
mögen wir  doch  absolut  nicht  zu  übersehen,  welche  Neben- 
momente der  Tonlage,  des  Tonwechsels  und  der  sonstigen  nur 
mangelhaft  durch  die  Tradition  erhaltenen  Erscheinungen  in  einer 
frühen  Zeit  wirksam  gewesen  sein  mögen.  Die  Behauptung,  ono- 
matopoetische Beziehungen  seien  nur  von  Wert,  wenn  sie  einer 
ursprünglichen,  nicht  wenn  sie  einer  jüngeren  Sprachstufe  angehören, 
ist  daher  genau  in  ihr  Gegenteil  umzukehren.  Für  die  assoziativen 
Kräfte,  die  überhaupt  in  der  Sprache  wirken,  sind  die  uns  näher 
liegenden  Formen  die  wertvolleren,  weil  in  ihnen  jene  Wechsel- 
wirkungen am  wenigsten  durch  andere,  unserer  Nachweisung  sich 
entziehende  Einflüsse  getrübt  sind.  Wo  sich  dann  aber  auf  einer 
früheren  Sprachstufe  analoge  Beziehungen,  wie  sie  sich  gelegent- 
lich noch  heute  bilden,  auffinden  lassen,  da  ist  es  natürlich  vollends 
unzulässig,  diese  für  zufällig  oder  bedeutungslos  zu  erklären,  weil 
sie  in  sonst  verwandten  Sprachen  nicht  existieren.  Wörter  wie 
knirschen^  kichern^  glucksen^  klatschen^  prusten  und  viele  andere 
hören  doch  darum  nicht  auf  onomatopoetisch  zu  sein,  weil  sie  in 
dieser    Form    dem    neuhochdeutschen    Sprachgebiet    ausschließlich 

Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  n-t 


•  22  Die  Sprachlaute. 


eigen  sind.  Warum  sollten  nun  z.  B.  analoge  Wortgebilde  im 
Hebräischen  nicht  onomatopoetisch  sein,  weil  sie  es  in  andern  semi- 
tischen Sprachen  nicht  sind,  oder  weil  die  zweisilbigen  Wortstämme, 
mit  denen  hier  nicht  selten  der  onomatopoetische  Charakter  zu- 
sammenhängt, den  sonst  verwandten  hamitischen  Sprachen  nicht 
zukommen?  Es  ist  klar,  daß  hier  nicht  etwa  bloß  der  historische 
dem  psychologischen  Gesichtspunkt  substituiert,  sondern  daß  das 
wirkliche  geschichtliche  Werden  der  Sprache  auf  eine  noch  dazu 
großenteils  hypothetische  Urgeschichte  reduziert  wird.  Mit  der  Unter- 
schätzung der  lebendigen  Wirklichkeit  verbindet  sich  dann  zugleich 
eine  ins  Äußerste  getriebene  Skepsis  gegenüber  allen  Erscheinungen, 
in  denen  gewisse  tatsächliche,  aber  geschichtlich  nicht  näher  zu  ver- 
folgende Beziehungen  hervortreten.  Ein  Beispiel  mag  genügen, 
diesen  extremen  Historismus  zu  kennzeichnen.  Oben  ist  schon  der 
Tatsache  gedacht  worden,  daß  gewisse  Lalllaute  des  Kindes,  wie  /«, 
da^  nta^  na  u.  a.,  vielfach  in  den  Namen  für  Vater  und  Mutter  vor- 
kommen, wobei  zugleich  die  Explosivlaute  den  Vater-,  die  Resonanz- 
laute den  Mutternamen  kennzeichnen.  Da  diese  Beziehung  in  hunder- 
ten  von  Sprachen  wiederkehrt,  so  ist  für  jeden,  der  die  Prinzipien 
der  empirischen  Wahrscheinlichkeit  nicht  etwa  für  eine  leere  Er- 
findung der  Mathematiker  ansieht,  der  Zufall  ausgeschlossen.  Dem 
extremen  Sprachhistoriker  gilt  die  Frage  trotzdem  als  zweifelhaft. 
Denn  es  kommen  ja  einige  Fälle  vor,  in  denen  sich  das  gewöhn- 
liche Verhältnis  umkehrt,  indem  der  Vater  Mama  und  die  Mutter 
Papa  oder  ähnlich  genannt  wird").  Man  fordert  also  eine  absolute 
Ausnahmslosigkeit.  Daß  diese  in  solchem  Fall  einer  an  Unmög- 
lichkeit grenzenden  Unwahrscheinlichkeit  gleichkommen  würde,  be- 
denkt man  nicht. 

Wie  das  erste,  so  ist  nun  aber  auch  das  zweite  der  oben  formu- 
lierten Dogmen  unhaltbar.  Zunächst  sind  ja  die  lautgesetzlichen 
Vorgänge  an  sich  nicht  sowohl  letzte  Erklärungsgründe  als  vielmehr 
Probleme,  die  überall  der  physiologischen  oder  psychologischen 
Interpretation  bedürfen.  In  diesem  Sinne  gibt  es  daher  eine  rein 
historische  Erklärung  dieser  Vorgänge  überhaupt  nicht,  sondern  das 
historisch  Gewordene,  mag  es  so  umfassend  oder  so  beschränkt  sein 


I)  Sütterlin  a.  a.  O.  S.  31. 


Schallnachahmungen  und  Lautbilder.  '\2'l 

wie  es  wolle,  fordert  stets  eine  Zurückfuhrung  auf  seine  Ursachen 
und  Motive.  Nun  sind  aber  die  geschichtlichen  Tatsachen  überall, 
und  so  auch  im  Gebiet  der  Sprachgeschichte,  höchst  komplexer  Art. 
Selbst  da,  wo  eine  bestimmte  Lautbildung  auf  einen  lautgesetzlichen 
Vorgang  von  allgemeinerer  Verbreitung  zurückgeführt  werden  kann, 
bleibt  daher  erstens  die  Frage  nach  den  Bedingungen  jenes  Vor- 
ganges eine  offene,  und  ist  zweitens  die  Mitwirkung  besonderer 
Motive,  die  in  dem  speziellen  Fall  unterstützend  oder  modifizierend 
in  ihn  eingreifen,  nicht  ausgeschlossen.  Auch  das  mag  durch  ein 
Beispiel  belegt  werden,  bei  dem  sich,  weil  es  einer  neueren  Periode 
der  Sprachgeschichte  angehört,  die  Interferenz  der  Wirkungen  ver- 
hältnismäßig sicherer  nachweisen  läßt.  Wir  legen  heute  den  beiden 
Worten  Rade  und  Rappe  eine  onomatopoetische  Färbung  bei: 
in  dem  Raben  meinen  wir  das  krächzende  Geschrei  des  Vogels 
zu  hören,  bei  dem  Rappen  denken  wir  an  das  trapp  trapp  des 
Pferdes,  das  ja  gelegentlich  auch  als  eine  onomatopoetische  Um- 
bildung des  Verbums  traben  gebraucht  wird.  Nun  lehrt  aber  die 
Sprachgeschichte,  daß  die  Differenzierung  der  Wörter  Rabe  und 
Rappe  erst  in  neuhochdeutscher  Zeit  und  wohl  gleichzeitig  mit  der 
Übertragung  des  Namens  von  dem  schwarzen  Vogel  auf  ein  schwarzes 
Pferd  eingetreten  ist  Ursprünglich  war  das  Wort  nur  Vogelname  und 
wurde  in  der  Regel  in  Niederdeutschland  Rabe^  in  Oberdeutschland 
Rappe  ausgesprochen.  Das  Neuhochdeutsche  hat  also  die  Wörter  diffe- 
renziert, indem  es  die  Benennung  des  Vogels  dem  niederdeutschen, 
die  des  Pferdes  dem  oberdeutschen  Sprachgebiet  entnahm.  Folglich 
ist  —  so  schließt  man  vom  rein  historischen  Standpunkt  aus  — 
diese  Differenzierung  eine  »zufällige«,  und  eine  onomatopoetische 
Bedeutung  besitzen  die  Wörter  überhaupt  nicht').  Nun  würde  dieser 
Schluß  offenbar  selbst  dann  nicht  bindend  sein,  wenn  die  Differenzie- 
rung auf  die  hochdeutsche  Schriftsprache  und  Sprechweise  beschränkt 
geblieben  wäre.  Denn  da  der  Zufall  auch  für  die  Sprachgeschichte  kein 
Begriff  von  erklärendem  Wert  ist,  so  würde  immer  noch  die  Frage 
bleiben,  warum  das  Neuhochdeutsche  überhaupt  diese  Scheidung  vor- 
genommen hat,  und  warum  sie  nicht  »zufällig«  in  entgegengesetzter 


^)  Delbrück,    Gründfragen   der   Spracliforschung,    S.  155.     Vgl.  über   diese   und 
ähnliche  Erscheinungen  unten  Kap.  VIII,  Nr.  I,  2. 


324  ^i^  Sprachlaute. 


Richtung  erfolgt  ist.  Und  hier  bliebe  dann  die  wahrscheinlichste  Inter- 
pretation die,  daß  die  Assoziation  mit  dem  Ruf  des  Vogels  einerseits 
und  mit  dem  Pferdegetrappel  anderseits  diese  Richtung  veranlaßt  habe. 
Eine  solche  Deutung  wird  nun  aber  in  hohem  Grade  durch  den  Um- 
stand verstärkt,  daß,  wie  die  vorhandenen  Dialektwörterbücher  lehren, 
jene  Unterscheidung  auch  in  die  Dialekte  eingedrungen  ist,  so  daß 
heute  im  Niederdeutschen  das  schwarze  Pferd  ebenfalls  Rappe,  nicht 
Rabe,  und  im  Oberdeutschen  der  Vogel  sehr  häufig  Rabe,  das  Pferd 
aber  stets  Rappe  genannt  wird.  Offenbar  ist  in  diesem  Fall  die  histo- 
rische Verfolgung  des  Vorgangs  deshalb  besonders  belehrend,  weil 
sie  augenfällig  zeigt,  wie  sich  in  solchen  Entwicklungen  die  rein 
lautlichen  Differenzienmgen  mit  den  psychologischen  Assoziationen 
zwischen  Laut  und  Bedeutung  durchkreuzen  können,  und  wie  irrig 
daher  der  so  oft  stillschweigend  oder  ausdrücklich  befolgte  Grundsatz 
ist,  da,  wo  irgendein  Vorgang  auf  lautgeschichtliche  Bedingungen 
zurückgeführt  sei,  werde  damit  die  Mitwirkung  anderer  Momente  von 
selbst  hinfällig.  Das  Gegenteil  ist  richtig:  bei  einer  so  kom- 
plexen Funktion  wie  der  Sprache  ist  eine  komplexe  Be- 
schaffenheit der  Ursachen  von  vornherein  wahrscheinlich. 
Hiernach  werden  wir  im  Gegensatze  zu  den  oben  formulierten 
Grundsätzen  eines  einseitigen  Historismus  die  folgenden  drei  Gesichts- 
punkte als  diejenigen  festhalten  dürfen,  die  unter  den  obwaltenden 
Bedingungen  brauchbare,  wenn  auch  bei  der  Unsicherheit  und  der 
schwankenden  Natur  der  Erscheinungen  nicht  immer  entscheidende 
Kriterien  für  das  Vorhandensein  irgendwelcher  psychologischer  Be- 
ziehungen zwischen  Laut  und  Bedeutung  abgeben  können : 

1.  Wo  in  einer  Sprache  bestimmten  Variationen  der  Bedeutung 
solche  des  Lautes  in  einer  so  großen  Zahl  gleicher  oder  analoger 
Fälle  parallel  gehen,  daß  dadurch  die  Annahme  eines  Zufalls  aus- 
geschlossen ist,  und  wo  diese  Variationen  zugleich  einer  unmittelbar 
wahrzunehmenden  Empfindungs-  und  Gefühlswirkung  der  Laute  ent- 
sprechen, da  darf  mit  Wahrscheinlichkeit  eine  Beziehung  zwischen 
Laut  und  Bedeutung  vermutet  werden. 

2.  Lautgesetzliche  Änderungen  und  psychisch  bedingte  Modifi- 
kationen der  Laute  schließen  sich  nicht  notwendig  aus,  da  den 
komplexen  Vorgängen  hier  wie  überall  im  allgemeinen  auch  kom- 
plexe Ursachen    zugrunde    liegen.     Dabei   können  die  psychischen 


SchallnachahTtiUTicfen  und  Lnutbilder. 


325 


Bedingungen  bald  die  lautgesetzlichen  Wirkungen  unterstützen,  bald 
über  ihr  ursprüngliches  Gebiet  ausdehnen,  bald  sich  mit  ihnen  zu 
Differenzierungen  der  Bedeutung  verbinden.  Wo  die  Vermutung 
einer  solchen  Komplikation  der  Ursachen  vorliegt,  da  bildet  dann 
das  Vorkommen  analoger  Erscheinungen  unter  ähnlichen,  einfacheren 
Bedingungen  ein  Kriterium  ihrer  Wahrscheinlichkeit. 

3.  Beziehungen  zwischen  Laut  und  Bedeutung  werden  voraus- 
sichtlich vor  allem  da  unserem  psychologischen  Verständnis  näher 
zu  bringen  sein,  wo  ihre  Entstehung  einer  verhältnismäßig  neuen 
Stufe  der  Sprachentwicklung  zugehört,  weil  hier  die  unmittelbaren 
Wirkungen  der  Laute  unserer  Beobachtung  leichter  zugänglich,  und 
andere,  die  psychologischen  Beziehungen  der  Laute  komplizierende 
Erscheinungen,  wie  Sprechrhythmus  und  Tonfall,  den  uns  aus 
der  lebenden  Sprache  geläufigen  voraussichtlich  ähnlicher,  also 
unbekannte  Nebenwirkungen  relativ  ausgeschlossen  sind.  Wo  sich 
aber  auf  älteren  Sprachstufen  Beziehungen  zwischen  Laut  und  Bedeu- 
tung überhaupt  finden,  da  sind  dieselben  naturgemäß  nach  Analogie 
der  Fälle  zu  beurteilen,  die  in  der  lebenden  Sprache  vorkommen. 

Diese  Gesichtspunkte  stehen  in  vieler  Beziehung  im  Gegen- 
satz zu  verbreiteten  Anschauungen.  Denn  in  der  Regel  legt  man 
auf  jene  bekannte  Anwendung  der  empirischen  Wahrscheinlichkeit, 
welche  die  allgemeine  Methodenlehre  als  das  »Prinzip  der  sich  be- 
gleitenden Veränderungen«  bezeichnet,  in  der  Sprachwissenschaft 
nur  geringes  Gewicht.  Dem  methodologischen  Grundsatz  aber,  daß 
komplexe  Erscheinungen  meist  auch  komplexe  Ursachen  voraus- 
setzen, substituiert  man  zumeist  den  andern:  wo  irgendeine  einzelne 
Bedingung  einer  Erscheinung  nachgewiesen  oder  wahrscheinlich  ge- 
macht sei,  da  seien  mitwirkende  Ursachen  ausgeschlossen.  Endlich 
pflegt  man  selbst  da,  wo  es  sich  lediglich  um  Tatsachen  der  Er- 
fahrung handelt,  noch  immer  zuweilen  den  Erscheinungen,  die 
unserer  Beobachtung  näher  liegen,  solche  vorzuziehen,  die  einer 
entfernteren  Vergangenheit  angehören  oder  sich  gar  in  der  hypo- 
thetischen Vorgeschichte  der  Sprache  ereignet  haben. 


-2  20  I^ie  Spraciilaute. 


2.    Allgemeine  Bedeutung  der  Lautnachahmung. 

Das  Wort  »Lautnachahmung«  kann  von  vornherein  in  doppeltem 
Sinne  verstanden  werden.  Man  kann  es  entweder  als  eine  »Nach- 
ahmung des  Lautes«  oder  als  eine  »Nachahmung  durch  den  Laut« 
interpretieren.  Nicht  selten  ist  ihm  ausschließlich  die  erste  Bedeu- 
tung gegeben  worden.  Damit  wird  dann  der  Begriff  auf  die  Gruppe 
der  oben  als  »Schallnachahmungen«  bezeichneten  Erscheinungen 
eingeschränkt.  Während  die  Gegner  der  Onomatopöie  vorzugs- 
weise diesen  engeren  Begriff  bekämpften,  steckten  deren  Anhänger 
in  der  Regel  das  Gebiet  viel  weiter  ab:  überall  wo  der  Laut  auch 
nur  einen  Gefühlston  anklingen  läßt,  der  durch  das  Objekt  erregt 
zu  sein  scheint,  waren  sie  geneigt  eine  »Lautnachahmung«  anzu- 
nehmen^). Nun  ist,  wenn  wir  uns  streng  auf  die  Tatsachen  be- 
schränken, ohne  weiteres  ersichtlich,  daß  es  zahlreiche  Fälle  gibt, 
in  denen  schon  deshalb  von  einer  Nachahmung  eines  Schalleindrucks 
nicht  die  Rede  sein  kann,  weil  der  benannte  Vorgang  oder  Gegen- 
stand gar  keinen  Eindruck  auf  unsern  Gehörssinn  macht,  während 
gleichwohl  das  Wort  als  ein  »Lautbild«  gelten  muß.  Auch  handelt 
es  sich  gerade  hier  meist  um  sprachliche  Neuschöpfungen,  bei 
denen,  weil  irgendwelche  lautgeschichtliche  Bedingungen  gar  nicht 
mitgewirkt  haben,  ein  im  weiteren  Sinn  onomatopoetisches  Motiv 
nicht  bezweifelt  werden  kann.  Wenn  aber  Wörter  wie  bummeln^ 
baumeln^  krippeln^  torkeln^  pfuschen^  wimmeln  gerade  so  gut  wie 
donnern^  klirren^  knarren^  rasseln^  murren  als  Lautnachahmungen 
von  uns  empfunden  werden,  so  kann  die  allgemeine  Bedeutung 
solcher  offenbar  nur  darin  bestehen,  daß  sie  Nachahmungen  durch 
den  Laut,  nicht  oder  doch  nur  in  gewissen  Fällen  auch  Nach- 
ahmungen des  Lautes  sind.  Hierdurch  wird  jedoch  zugleich  der 
Zweifel  angeregt,  ob  selbst  da,  wo  für  unser  Ohr  das  Wort  eine 
Schallnachahmung  bedeutet,  der  Sprechende  selbst  damit  die  Ab- 


^)  »Allen  Sinnen  liegt  Gefühl  zum  Grunde«,  sagt  Herder  in  seiner  Schrift  über 
den  Ursprung  der  Sprache,  »und  dies  gibt  den  verschiedenartigsten  Sensationen 
schon  ein  so  inniges,  starkes,  unaussprechliches  Band,  daß  aus  dieser  Verbindung 
die  sonderbarsten  Erscheinungen  entstehen. . . .  Wir  sind  voll  solcher  Verknüpfungen 
der  verschiedensten  Sinne.«    (Herders  sämtl.  Werke,  Ausgabe  von  Suphan,  V,  S.  6i.) 


Allgemeine  Bedeutung  der  Lautnachahmung.  ^27 

sieht  verbunden  habe,   den  gehörten  Schall  durch  einen  Sprachlaut 
nachzuahmen. 

Wird  die  Frage  so  gestellt,  so  kann  nun  in  der  Tat  die  Ant- 
wort kaum  zweifelhaft  sein.  Eine  absichtliche  Nachbildung  der 
durch  einen  äußeren  Vorgang  erregten  Schallempfindung  würde 
nicht  bloß  mit  der  Existenz  von  Lautbildern ,  die  sich  auf  lautlose 
Eindrücke  beziehen,  schwer  zu  vereinigen  sein,  sondern  sie  würde 
auch  psychische  Vorgänge  voraussetzen,  die  im  gewöhnlichen  Ver- 
lauf der  Sprachäußerungen  nicht  oder  nur  unter  Bedingungen  vor- 
kommen, die  gerade  in  diesem  Fall  äußerst  unwahrscheinlich  sind. 
Zuvörderst  ist  es  nämlich  klar,  daß  der  Prozeß  der  Nachbildung 
irgendwelcher  unhörbarer  Vorgänge  durch  Laute,  wie  er  bei  den 
oben  so  genannten  »Lautbildern«  vorliegt,  an  und  für  sich  von 
weit  allgemeinerer  Art  ist  als  das  Gebiet  der  bloßen  »Schallnach- 
ahmung«. Denn  da  bei  dem  ersteren  Sinneseindrücke  von  jeder 
möglichen  Beschaffenheit  durch  Sprachlaute  wiedergegeben  werden, 
so  ist  nicht  einzusehen,  warum  dies  nicht  auch  bei  den  Schall- 
eindrücken in  analoger  Weise  sollte  geschehen  können.  Dann  ist 
aber  die  »Schallnachahmung«  nur  eine  besondere,  durch  nichts  als 
durch  den  Eindruck  auf  den  Gehörssinn  ausgezeichnete  Art  von 
Lautbildern.  Dazu  kommt  das  noch  entscheidendere  Bedenken, 
daß  eine  »Schallnachahmung«  im  eigentlichen  Sinne,  das  heißt  als 
absichtliche  Nachahmung  eines  äußeren  Schalls  durch  die  Sprach- 
organe, tatsächlich  nur  unter  Bedingungen  vorkommt,  die  im  all- 
gemeinen bei  der  Neubildung  von  Wörtern  nicht  vorauszusetzen 
sind.  Wenn  wir  z.  B.  Tierlaute  oder  Sprachlaute  anderer  Menschen 
oder  sonstige  zufällige  Naturlaute  willkürlich  nachahmen,  so  ist  die 
Lage,  in  der  sich  bei  solchen  Gelegenheiten  unser  Bewußtsein  be- 
findet, sicherlich  nicht  diejenige,  die  bei  der  Bildung  wirklicher 
Wörter  angenommen  werden  kann.  Bei  der  willkürlichen  Nach- 
ahmung wird,  wo  sie  auch  vorkommen  mag,  unmittelbar  immer 
nur  die  Wiedergabe  des  Lautes  selbst  bezweckt,  niemals  die  Be- 
zeichnung des  Gegenstandes.  Wo  sich  etwa  die  letztere  Absicht 
regt,  da  handelt  es  sich  um  einen  selbständigen,  erst  zu  der  Nach- 
ahmung hinzutretenden  Vorgang.  Wir  mögen  also  willkürlich  her- 
vorgebrachte Lautnachahmungen  unter  Umständen  nachträglich  be- 
nützen, um  sie  zur  Namengebung  zu  verwenden;  dagegen  läßt  sich 


2S  Die  Sprachlaute. 


eine  Umkehrung  dieses  Prozesses,  wie  sie  vorausgesetzt  wird,  wenn 
man  den  Vorgang  onomatopoetischer  Wortbildung  als  eine  Nach- 
ahmung des  Lautes  auffaßt,  nirgends  nachweisen.  So  ist  es  ja 
auch  bei  der  Entwicklung  der  kindlichen  Sprache  aus  der  »Echo- 
sprache« nicht  die  Absicht  der  Mitteilung,  aus  der  die  Nachahmung 
entspringt.  Vielmehr  ist  umgekehrt  die  Nachahmung  zunächst  da,  und 
dann  erst  bemächtigt  sich  der  Trieb  nach  Mitteilung  der  durch  die 
Nachahmung  zur  Verfügung  gestellten  Bezeichnungen  in  dem  an- 
gemessenen Sinne.  Auch  die  Nachahmung  ist  aber  hier  wiederum 
keine  willkürliche,  sondern  triebartig  folgt  dem  gehörten  Laute  die 
Artikulationsbewegung,  die  dann  von  selbst  einen  analogen  Laut 
hervorbringt.  Direkt  wirkt  also  der  gehörte  Laut  nur  auf  die  Arti- 
kulation der  Sprachwerkzeuge,  erst  indirekt  auf  den  Sprachlaut 
selbst.  Die  Unhaltbarkeit  des  Begriffs  der  Lautnachahmung  in  dem 
vulgären  Sinn  einer  absichtlichen  Wortschöpfung,  die  den  gehörten 
Schall  benützt,  um  sein  akustisches  Bild  vor  dem  Hörer  zu  wieder- 
holen, liegt  demnach  darin,  daß  sie  in  die  Auffassung  der  sprach- 
bildenden Vorgänge  den  Begriff  der  Erfindung  hinüberträgt.  Nun 
können  künstliche  Worterfindungen  und  sogar  ganze  künstliche 
Sprachen  bekanntlich  vorkommen;  auch  können  die  ersteren,  wie 
vor  allem  die  Geschichte  der  wissenschaftlichen  Terminologie  lehrt, 
in  die  allgemeine  Sprache  übergehen.  Doch  die  onomatopoetischen 
Wörter  sind  in  der  Regel  nicht  solche  Kunsterzeugnisse,  sondern 
Gebilde  der  natürlichen  Sprache,  deren  individuellen  Ursprung  wir 
meist  auch  da  nicht  mehr  nachweisen  können,  wo  es  sich  um  Wort- 
schöpfungen aus  nächster  Vergangenheit  handelt.  Sie  tragen  so  in 
jeder  Beziehung  die  Merkmale  einer  aus  der  fortwirkenden  Macht 
ursprünglicher  sprachbildender  Kräfte  entstandenen  Neuschöpfung 
an  sich.  Der  individuelle  Ursprung  entzieht  sich  aber  hier  nicht 
zum  wenigsten  um  deswillen  unserer  Nachweisung,  weil  das  ein- 
zelne Erzeugnis  absichtslos  aus  Motiven  hervorgeht,  die  so  all- 
gemeingültiger Art  sind,  daß  sie  sich  in  dem  Hörer  unmittelbar 
erneuern,  und  daß  demjenigen,  der  das  Wort  geschaffen  hat,  seine 
eigene  Urheberschaft  verborgen  bleiben  kann. 

Das  Ergebnis,  daß  eine  onomatopoetische  Wortbildung  von 
absichtlicher  Nachahmung  wie  von  direkter  Nachbildung  des  Schall- 
eindrucks  gleicherweise    verschieden    ist,    legt    nun    eine  Annahme 


Allgemeine  Bedeutung  der  Lautnachahmung.  ^29 

nahe,  die  besonders  von  Steinthal  näher  ausgeführt  wurde.  Ent- 
steht der  Laut  als  eine  absichtslose  Reaktion  auf  den  Eindruck,  so 
scheint  er  zunächst  dem  Gebiet  der  Reflexe  verwandt  zu  sein. 
Die  Beziehung  zum  Gegenstand  würde  sich  dann  dem  allgemeinen 
Prinzip  der  Reflexbewegungen  unterordnen,  nach  welchem  diese  ver- 
möge der  vererbten  und  erworbenen  Anlagen  des  zentralen  Nerven- 
systems den  Sinnesreizen  in  einer  dem  Ort  und  der  Art  des  Ein- 
drucks adäquaten  Weise  mechanisch  zugeordnet  sind  (S.  41).  Ist 
der  Laut  nur  bei  einer  beschränkten  Anzahl  onomatopoetischer  Wort- 
bildungen eine  direkte  Nachahmung  des  äußeren  Schalls,  so  scheint 
ferner  der  nächste  Ausweg,  um  über  jene  allgemeinere  Beziehung 
Rechenschaft  zu  geben,  der  zu  sein,  daß  man  das  Gefühl  zu  Hilfe 
nimmt,  das  durch  seine  mannigfachen  Assoziationen  und  Analogien 
bei  den  Empfindungen  der  verschiedenen  Sinne  überall  geeignet 
ist,  das  Mittelglied  zu  bilden,  das  den  Eindruck  mit  dem  durch 
ihn  ausgelösten  Laute  verbindet.  Das  onomatopoetische  Lautge- 
bilde, mag  es  eigentliche  Schallnachahmung  oder  bloßes  »Lautbild« 
im  Sinne  der  obigen  Unterscheidungen  sein,  wird  daher  von  Steinthal 
als  ein  »Reflex«  aufgefaßt,  der  in  seiner  Form  von  der  Beschaffen- 
heit des  Objektes  abhänge,  und  dessen  Verwandtschaft  mit  diesem 
durch  die  analogen  Gefühle  vermittelt  sei,  die  durch  den  Eindruck 
des  Objektes  und  durch  den  des  Lautes  erweckt  werden.  Dem- 
nach soll  jede  Lautnachahmung  einerseits  auf  einem  gänzlich  willen- 
losen Vorgang,  anderseits  aber  auf  einer  indirekten,  durch  das 
begleitende  Gefühl  erzeugten  Assoziation  mit  dem  Gegenstande 
beruhen^). 

Diese  Auffassung  begegnet  aber  schon  deshalb  Bedenken,  weil 
sie  den  Begriff  des  »Reflexes«  in  einem  seiner  physiologischen 
Anwendung  widersprechenden  Sinne  verwendet.  Denn  sie  J  dehnt 
dessen  Geltungsbereich  auf  psychophysische  Vorgänge  aus,  die  er 
nach  seinem  ursprünglichen  Inhalt  von  sich  ausschließt.  Auch  für 
die  Psychologie  besteht  nämlich  der  Wert  dieses  Begriffes  gerade 
darin,  daß  er  eine  wohl  definierbare  wichtige  Gruppe  rein  physio- 
logisch   bedingter,    ohne    begleitende    psychische  Vorgänge 


^)  Steinthal,  Einleitung  in  die  Psychologie  und  Sprachwissenschaft,  1871,  S.  376ff. 
Ursprang  der  Sprache,*  1888,  S.  368  ff. 


250  Die  Sprachlaute. 


verlaufender  Bewegungen  umfaßt.  Sind  solche  Vorgänge  in  der 
Form  von  Empfindungen  und  Gefühlen  vorhanden,  so  nennen  wir 
eben  die  eintretende  Handlung  nicht  mehr  eine  Reflexbewegung, 
sondern  eine  Trieb-  oder  einfache  Willenshandlung,  da  jener  gleich- 
zeitige Empfindungs-  und  Gefühlsinhalt  psychologisch  durchaus  die 
Rolle  eines  die  Handlung  bestimmenden  Motives  spielt,  dessen 
Wirksamkeit  sich  von  derjenigen  der  Motive  zusammengesetzter 
Willenshandlungen  nur  dadurch  unterscheidet,  daß  es  das  allein 
vorhandene  und  darum  auch  das  allein  wirksame  Motiv  ist^).  Liegt 
demnach  zwischen  Reflex-  und  Triebbewegung  das  unmittelbar 
unterscheidende  Merkmal  nur  in  dem  begleitenden  Bewußtseins- 
vorgang, so  hängt  nun  damit  auch  der  weitere  Unterschied  zu- 
sammen, daß  die  Bewegung,  wo  sie  rein  physisch  bedingt  ist, 
ohne  weitere  Folgewirkungen  abläuft,  während  Empfindung  und 
Gefühl  stets  Nachwirkungen  zurücklassen,  vermöge  deren  sich 
an  die  Triebhandlung  weitere  psychische  oder  psychophysische 
Vorgänge  anschließen  können.  In  der  Tat  trifft  dies  ganz  beson- 
ders da  zu,  wo  die  Triebbewegung  in  einer  durch  den  Eindruck 
eines  gesehenen  oder  betasteten  Objektes  ausgelösten  Lautäuße- 
rung besteht.  Denn  indem  die  Gehörsempfindungen  mit  den  Ein- 
drücken der  andern  Sinne  mannigfaltige  Komplikationen  bilden 
können,  die  sich  durch  Wiederholung  befestigen,  wird  hier  der 
Übergang  der  Lautäußerung  in  den  Sprachlaut  unmittelbar  nahe- 
gelegt. Tragen  auf  diese  Weise  die  onomatopoetischen  Lautbil- 
dungen gerade  in  dem,  was  ihnen  ihre  Bedeutung  in  der  Sprache 
verleiht,  Eigenschaften  an  sich,  die  sie  von  den  eigentlichen  Reflexen 
wesentlich  unterscheiden,  so  wird  demnach  der  Ausdruck  »Sprach- 
reflex« in  diesem  Zusammenhang  zu  vermeiden  und  durch  das  zu 
ersetzen  sein,  was  die  Bewegung  wirklich  ist:  durch  den  Begriff 
einer  Triebbewegung,  die,  weil  sie  die  Sprachorgane  ergreift, 
von  selbst  mit  Lautbildung  verbunden  ist. 

Hieran  schließt  sich  dann  sofort  die  weitere  Frage,  was  dem  auf 
solche  Weise  hervorgebrachten  Laute  die  Eigenschaften  verleiht, 
durch  die  er  auch  dem  Hörer  als  ein  dem  objektiven  Eindruck  ähn- 
licher   oder   sonst  irgendwie  angemessener  erscheint.      Erfolgt  die 


Vgl.  oben  Kap.  I,  S.  37  ff.,  und  Physiol.  Psychologie,^  m,  S.  258  ff. 


Allgemeine  Bedeutung  der  Lautnachahmung.  ^^l 

Lautäußerung  als  eine  einfache  Triebbewegung,  so  wird  damit  die 
naive  Annahme,  daß  sie  absichtliche  Nachahmung  eines  Schall- 
eindrucks oder  absichtliche  Übertragung  irgendeines  andern  Sinnes- 
reizes in  ein  Schallbild  sei,  von  selbst  hinfällig.  Denn  die  Beziehung 
zwischen  Laut  und  Bedeutung  kann  nun  keine  im  voraus  ge- 
wollte, sondern  nur  eine  nachträglich  entstandene  sein. 
Der  Laut  wurde  nicht  gebildet,  weil  er  eine  bestimmte  Ähnlich- 
keit mit  dem  objektiven  Eindruck  besaß,  sondern  er  wurde  umge- 
kehrt dem  Eindruck  ähnlich,  weil  die  Artikulationsbewegung,  aus 
der  er  hervorging,  dies  notwendig  so  mit  sich  führte.  Hierdurch 
werden  wir  auf  das  hingewiesen,  was  den  Laut  selber  erst  hervor- 
bringt: auf  die  Lautbewegung  der  Sprachorgane.  Unmittelbar 
sind  es  ja  nicht  die  Laute,  sondern  die  Lautbewegungen,  die  durch 
den  äußeren  Eindruck  triebartig  ausgelöst  werden.  Hier  bieten  aber 
offenbar  alle  Arten  sogenannter  »Lautnachahmung«  den  ausge- 
zeichneten Fall  dar,  daß  diese  Bewegungen  irgendeine  äußere  Be- 
wegung oder  die  unmittelbare  Wirkung  einer  solchen,  die  noch 
deutlich  den  Bewegungsmodus  erkennen  läßt,  nachbilden.  Daß 
dies  willkürlich  geschehe,  ist  wiederum  durch  die  Natur  der  ur- 
sprünglichen Triebbewegungen  ausgeschlossen.  Wie  vielmehr  jeder 
lebhaft  erregte  Beobachter  einen  Bewegungsvorgang,  den  er  sieht, 
mit  Mienen  und  Gebärden  begleitet,  so  und  nicht  anders  haben  wir 
uns  jene  Lautbewegungen  zu  denken:  als  Bewegungen,  die,  in- 
dem sie  die  durch  den  Eindruck  erregten  subjektiven  Gefühle  aus- 
drücken, unwillkürlich  auch  den  das  Gefühl  erregenden  Vorgang 
selbst  nachbilden.  Solche  Mitbewegungen,  an  die  sich  sofort  Über- 
tragungen sonstiger  Sinneseindrücke  in  Gebärdenbewegungen  an- 
schließen können,  sind  gerade  so  gut  wie  alle  andern  ursprünglichen 
Gebärden  unwillkürliche  Akte;  aber  sie  sind  nicht  bloße  Reflexe, 
sondern  Triebhandlungen,  in  denen  sich  die  vorhandene  psychische 
Erregung  äußert.  Nach  diesem  Zusammenhange  mit  den  sonstigen 
Gebärdenbewegungen  werden  wir  eine  solche  nachahmende  oder 
nachbildende  Bewegung  der  Artikulationsorgane  wohl  am  zutref- 
fendsten als  eine  Lautgebärde  bezeichnen.  Die  Beziehung  zwi- 
schen dem  objektiven  Eindruck  und  der  Lautnachahmung  wird  dann 
aber  näher  dahin  festzustellen  sein,  daß  diese  in  keiner  Weise  eine 
Nachahmung  des  Lautes,  sondern  eine  unwillkürliche  Nachahmung 


■1-12  Die  SpracUaute. 


des  äußeren  Vorganges  durch  den  Laut  ist,  die  in  der  Überein- 
stimmung der  triebartig  entstehenden  Lautgebärde  mit  dem  äußeren 
Eindruck  ihre  eigentliche  Quelle  hat.  Unter  »Lautgebärden«  können 
wir  hiernach  mimische  Bewegungen  der  Artikulationsorgane  ver- 
stehen, die  zumeist  der  Kategorie  der  nachbildenden  Gebärden  an- 
gehören, und  die  sich  von  andern  Gebärden  nur  dadurch  unter- 
scheiden, daß  sich  mit  ihnen  ein  zunächst  den  begleitenden  Affekt 
ausdrückender  Stimmlaut  verbindet,  der  durch  die  mimische  Be- 
wegung seine  eigentümliche  Artikulation  und  Modulation  erhält.  So 
ist  in  diesem  Falle  der  Sprachlaut  eine  Verbindung  von  Gebärde 
und  Laut,  in  der  dieser  durch  jene  bestimmt  wird"). 

Das  aufgestellte  Prinzip  macht  nun  vor  allem  die  zweite  Klasse 
onomatopoetischer  Bildungen,  die  der  Lautbilder,  leicht  verständ- 
lich. Um  hier,  wo  von  einer  wirklichen  Nachahmung  des  Lautes 
nicht  die  Rede  sein  kann,  über  die  nicht  zu  verkennende  Beziehung 
zwischen  Laut  und  Bedeutung  Rechenschaft  zu  geben,  bezeichnet 
man  in  der  Regel  diese  Erscheinungen  unterschiedslos  als  »Laut- 
metaphern« oder  »Lautsymbole«.  Der  irgendeinem  andern  Sinnes- 
gebiet angehörige  Eindruck  soll  in  einen  verwandt  erscheinenden 
Schalleindruck  übertragen  werden^).  Nach  der  oben  gegebenen 
Erläuterung  des  Vorganges  handelt  es  sich  jedoch  hier  offenbar 
überhaupt  um  keine  Übertragung.  Nicht  durch  den  Laut  selbst, 
sondern  durch  die  Artikulationsbewegung  wird  ja  zunächst  der 
äußere  Eindruck  nachgeahmt.  Bei  dieser  mimischen  Gebärde  be- 
darf es  aber  keines  Übergangs  auf  ein   anderes    Sinnesgebiet,  son- 


1)  Den  Ausdruck  »Lautgebärde«  hat  bereits  Heyse  (System  der  Sprachwissen- 
schaft, S.  73),  aber  in  einem  wesentlich  andern,  engeren  Sinn  angewandt.  Er  nennt 
so  die  meist  von  Gebärden  begleiteten  interjektionalen  Zurufe  wie  si,  he,  holla\ 
synonym  gebraucht  er  daher  auch  für  sie  den  Ausdruck  »Begehrungslaute«.  Nach 
den  oben  gewählten  Bezeichnungen  sind  diese  Interjektionen  nicht  Lautgebärden, 
sondern  unmittelbare  Gefühlslaute,  die  nur  als  Begleiter  anderer  Gebärden,  also  bloß 
mittelbar,  eine  Beziehung  zu  einem  äußeren  Objekt  gewinnen  können. 

2)  Heyse,  System  der  Sprachwissenschaft,  S.  93  ff.  Heyse  selbst  faßt  übrigens 
den  Begriff  der  »Lautmetapher«  ziemlich  weit,  da  er  Wörter  wie  'sanft',  'scharf, 
'weich',  'hell',  'lind'  und  viele  andere  hierher  rechnet,  die  jedenfalls  nicht  zu  den 
»Lautgebärden«  in  dem  oben  begrenzten  Sinne  gehören,  und  bei  denen  überhaupt 
zweifelhaft  ist,  ob  die  Lautnachahmung,  die  man  ihnen  zuschreibt,  nicht  erst  auf 
der  gewohnheitsmäßigen  Assoziation  des  Lautes  mit  dem  Begriff  beruht.  (Siehe 
oben  S.  318.) 


Lautgebärden  zur  Bezeichnung  der  Artikulationsorgane.  -i-y-i 

dern  die  äußere  Bewegung  oder  der  als  Bewegung  aufgefaßte  Ein- 
druck wird  unmittelbar  durch  die  Gebärde  wiedergegeben.  Diese 
nachahmende  Bewegung  der  Gebärde,  die  sich  dann  von  selbst 
auch  dem  Laute  mitteilt,  ist  es,  nicht  ein  als  Metapher  oder  Sym- 
bol aufzufassendes  Lautbild ,  das  bei  Wörtern  wie  bummeln ,  flim- 
mern^ kribbeln^  torkeln^  wimmeln  und  ähnlichen  den  Eindruck  einer 
Nachbildung  der  Wirklichkeit  hervorbringt.  Nicht  der  Laut  als 
solcher  ist  also  die  Quelle  dieses  Eindrucks,  sondern  die  Artikulations- 
bewegung, namentlich  die  fein  nuancierte  Bewegung  der  Zunge  und 
der  Lippen.  Die  Wirkung  dieser  mimischen  Gebärde  auf  den 
hervorgebrachten  Laut  muß  dann  allerdings  auch  bei  solchen 
durch  den  Laut  selbst  gar  nicht  nachzubildenden,  weil  selbst  laut- 
losen Eindrücken  die  Wirkung  der  Gebärde  verstärken.  Denn  der 
Laut  ist  wieder  innig  mit  der  Lautbewegung  assoziiert,  so  daß  er 
in  dem  Hörer  die  ähnliche  mimische  Bewegung  hervorzubringen 
strebt.  Aber  der  Satz,  daß  die  durch  einen  äußeren  Eindruck  er- 
weckten Lautgebärden  in  erster  Linie  mimische  Bewegungen  und 
dann  erst  sekundär  zugleich  Laute  sind,  gilt  selbstverständlich  auch 
für  die  Schallnachahmungen.  Bei  Wörtern  wie  klatschen , 
knistern,  kracken,  sföhnen,  summen  usw.,  bei  denen  der  wahr- 
genommene Eindruck  selbst  ein  Laut  und  das  Wort  ein  ihm  ähn- 
licher Laut  ist,  wird  gleichwohl  der  gehörte  Schall  entweder  un- 
mittelbar von  einer  Artikulationsbewegung  begleitet,  oder  diese 
assoziiert  sich  ohne  weiteres  mit  ihm.  Nur  die  Wirkung  des  mit 
der  Lautgebärde  verbundenen  Lautes  wird  in  diesem  Fall  voraus- 
sichtlich eine  stärkere  sein  als  vorhin,  weil  hier  der  Laut  als  solcher, 
nicht  bloß  durch  die  mimischen  Bewegungen,  die  er  anregt,  an  den 
ursprünglichen  Eindruck  gebunden  ist  und  so  nachträglich  als  eine 
unmittelbare  Wiedergabe  desselben  erscheint. 

3.   Lautgebärden  zur  Bezeichnung  der  Artikulationsorgane. 

Die  Zurückführung  der  Schallnachahmungen  wie  der  Lautbilder 
auf  Lautgebärden  macht  eine  Gruppe  von  Erscheinungen  sofort 
verständlich,  auf  die  der  Begriff  der  »Lautnachahmung«  unter  keinen 
Umständen  anwendbar  ist,  von  denen  man  aber  sagen  könnte,  sie 
seien  ihrer   Natur  nach    in   eigentlicherem    Sinne  Lautgebärden    als 


334  ^i^  Sprachlaute. 


alle  andern.  Diese  Erscheinungen  bestehen  darin,  daß  Organe 
und  Tätigkeiten,  die  zur  Bildung  der  Sprachlaute  in  Be- 
ziehung stehen,  sehr  häufig  mit  Wörtern  benannt  wer- 
den, bei  deren  Artikulation  die  gleichen  Organe  und 
Tätigkeiten  mitwirken.  Demnach  erinnern  diese  Wortbildungen 
an  gewisse  in  der  Kindersprache  vorkommende  Ausdruckslaute,  wie 
z.  B.  an  die  früher  erwähnten  Laute  für  "^essen":  mum^  ham^  am 
(S.  283).  In  der  Tat  mag  es  sein,  daß  hier,  ähnlich  wie  bei  den 
Namen  für  Vater  und  Mutter,  eine  gewisse  Nachwirkung  der  kind- 
lichen Lalllaute  nicht  ausgeschlossen  ist.  Von  dem  Lautwandel 
scheinen  ferner  auch  diese  Erscheinungen  nicht  wesentlich  berührt 
zu  werden,  da  bei  dem  durch  ihn  bewirkten  Wechsel  der  Laute 
diese  immerhin  in  derselben  Lautklasse  verbleiben,  so  daß  die  Be- 
ziehung zu  dem  Artikulationsorgan  nicht  verloren  gehen  kann. 
Übrigens  ist  es  charakteristisch,  daß  sich  die  hierher  gehörigen 
Lautbilder  ausschließlich  auf  solche  Organe  und  deren  Funktionen 
beziehen,  die  der  Sitz  deutlicher  Artikulationsempfindungen  sind:  so 
in  erster  Linie  auf  Zunge  und  Mund,  dann  aber  auch  auf  Nase  und 
Zähne. 

So  enthält  vor  allem  der  Name  für  das  Hauptorgan  der  Laut- 
artikulation, die  Zunge,  in  zahlreichen  Sprachen  einen  lingualen 
oder  dentalen  Konsonanten  als  den  Hauptträger  des  Wortes.  Da 
diese  beiden  Geräuschlaute  in  gleicher  Weise  unter  ausgeprägter 
Mitwirkung  der  Zungenbewegung  entstehen,  so  hat  der  Unterschied, 
ob  lingual  oder  dental,  sowie  der  Übergang  des  einen  Lautes  in 
den  andern  durch  eintretenden  Lautwandel  in  diesem  Fall  keine 
Bedeutung.  Ähnlich  kehrt  in  den  Bezeichnungen  des  Mundes  und 
gewisser  mit  ihm  zusammenhängender  Tätigkeiten,  wie  schließen 
(griech.  ^ivto)^  essen  (chines.  ««;«,  jav.  mangan),  still  sein  (hebr. 
alam^  latein.  mutus],  der  labiale  Resonanzlaut  wieder.  In  manchen 
Sprachen  scheint  der  vom  Ausatmungsstrom  begleitete  labiale  Ex- 
plosivlaut gleichzeitig  dem  Begriff  des  Blasens  und  dem  des  Mun- 
des zugrunde  zu  liegen:  so  im  hebr.  paah  blasen,  peh  Mund.  In 
noch  andern  Sprachen,  besonders  in  solchen  des  malaio-polyne- 
sischen  Gebiets,  ist  ein  Ausdruckslaut,  der  vielleicht  mit  der 
mimischen  Nachbildung  des  Vogelschnabels  zusammenhängt,  auf  die 
Bezeichnung  des  menschlichen  Mundes  übergegangen:    so   gibt  es 


Lautgebärden  zur  Bezeichnung  der  Artikulationsorgane.  ^35 

im  Malaiischen  neben  einem  älteren  Wort  muliit  für  Mund  auch 
ein  neueres  chotok^  welches  ursprünglich  Schnabel  bedeutet,  im 
Javanischen  wird  aber  nur  das  Wort  chochot  für  beide  Begriffe  ge- 
braucht^). Alle  diese  Beziehungen  sind  keineswegs  allgemeingültiger 
Art.  In  vielen  Fällen  sind  die  Benennungen  der  Sprachorgane 
offenbar  ganz  andern,  für  uns  nicht  mehr  erkennbaren  Ursprungs. 
Doch  der  Zusammenhang  mit  Gebärdebewegungen  der  Artikulations- 
organe ist  immerhin  häufig  genug,  um  einen  Zufall  auszuschließen. 
Übrigens  ist  derselbe  wieder  am  häufigsten  für  die  Zunge,  etwas 
seltener  für  die  übrigen  Organe  und  ihre  Tätigkeit  nachzuweisen^). 
Im  Unterschied  von  den  gewöhnlichen  »Lautnachahmungen«, 
die  sich  in  sehr  vielen  Fällen  als  sprachliche  Neubildungen  er- 
weisen, kommen  diese  unmittelbaren  Ausdruckslaute  der  Sprach- 
organe gleicherweise  in  älteren  wie  in  neueren  Sprachformen  vor; 
sie    scheinen    daher   ebenso    zu    den    ursprünglichsten    wie    zu    den 


i)  Vgl.  die  Worttafel  bei  W.  von  Humboldt,  Kawi-Sprache,  II,  S.  250. 

2)  Zur  Veranschaulichung  des  oben  Bemerkten  lasse  ich  hier  eine  Zusammen- 
stellung von  Wörtern  verschiedener  Sprachen  für  die  genannten  Organe  und  Tätig- 
keiten folgen,  die  ich  hauptsächlich  Humboldts  Kawi-Sprache,  Koelles  Polyglotta 
Africana  und  Adelung -Vaters  »Mithridates<  entnehme.  Dieses  Material  entspricht 
natürlich  in  vieler  Beziehung,  namentlich  was  die  Schreibung  der  Laute  betrifft, 
nicht  mehr  den  heutigen  Anforderungen.  Doch  darf  man  wohl  voraussetzen,  daß 
die  hier  allein  in  Betracht  kommenden  Hauptunterschiede  der  Laute  dabei  hinreichend 
zum  Ausdruck  kommen. 

Zunge:  Tiirk.  dil,  Ungar,  hyelo,  Javan.  hilat^  Madec.  kla^  Polyn.  ehlo^  Mal.  hda, 
Austral.  tiillmt,  Afrik.  (Bomu)  telam,  Südafr.  (Basdnde)  ludlmi,  Mozamb.  limi. 

Mund:  Mongol.  am,  Samoj.  namo,  Mal.  mulut,  Afrik.  (Fulbe)  bütom,  Südafr. 
(Ründa)  mülam,  Madec.  niuluh. 

Essen:  Chines.  nam,  Javan.  inangan,  Tahit.  ajnu,  Madec.  human,  Surinam. 
njam,  Austral.  nomang,  Südafr.  (Susu)  nimiu. 

Stille  sein:  Tahit.  natmi,  Fidschi  hamu,  Peruan.  amu,  Mpongwe-Indian.  imafnu, 
Hebr.  alam. 

Blasen:  Mal.  piiptit ,  Tongan.  btibu,  Neuseel.  ptipiti,  Austral.  bobtm,  Kafir. 
pupuza,  Galla  bufa,  Peruan.  pumöni,  Finn.  pukkia,  Hebr.  päah,  Nhd.  pusten. 

Für  die  relative  Häufigkeit  dieser  Ausdruckslaute  mag  es  ein  gewisses  Maß  ab- , 
geben,  daß  unter  den  200  von  Koelle  (Polyglotta  Africana,  1854)  aufgeführten  afri- 
kanischen Sprachen  nach  Ausscheidung  aller  irgend  zweifelhaften  Formen  für  die 
Zunge  etwa  100,  für  den  Mund  bloß  53  als  Lautgebärden  gedeutet  werden  können. 
Natürlich  kommt  dabei  in  Betracht,  daß  vielfach  Wörter  gleicher  Abstammung 
mehreren  Sprachen  gemeinsam  sind.  Da  dies  aber  auch  für  die  abweichenden  Wort- 
bildungen gilt,  so  wird  man  jenes  Maß  immerhin  als  ein  annäherndes  betrachten 
dürfen. 


236  Die  Sprachlaute. 


unvergänglichsten  Erscheinungen  der  Sprache  zu  gehören.  Dies  er- 
klärt sich  wohl  aus  den  Bedingungen  ihrer  Entstehung.  Können  wir 
nämlich  die  »Schallnachahmungen«  und  die  »Lautbilder«  als  nach- 
bildende Lautgebärden  von  ursprünglich  übereinstimmendem 
Charakter  auffassen,  die  sich  erst  sekundär,  durch  die  Wirkung,  die 
bei  der  ersteren  Form  der  gehörte  Laut  auf  den  Redenden  wie 
Hörenden  ausübte,  gesondert  haben,  so  scheinen  die  Ausdruckslaute 
für  die  Artikulationsorgane  und  ihre  Bewegungen  die  Bedeutung 
hinweisender  Lautgebärden  zu  besitzen.  Auf  diese  Weise  ergibt 
sich  eine  vollständige  Analogie  mit  den  beiden  allgemeineren  Klassen 
der  nachbildenden  und  der  hinweisenden  Gebärden.  Zugleich  ist 
aber  im  vorliegenden  Fall  der  Unterschied  beider  Gebärdeformen 
ein  relativ  geringerer  als  sonst.  Denn  die  nachbildende  Lautgebärde 
erscheint  lediglich  als  eine  Übertragung  der  demonstrativen  Be- 
wegungen der  Sprachorgane  auf  äußere,  ebenfalls  durch  charakte- 
ristische Bewegungen  sich  auszeichnende  Objekte,  so  daß  hier  die 
beiden  Arten  der  Lautgebärde  die  natürlichen  und  notwendigen 
Modifikationen  einer  und  derselben  Grundform  sind,  die  in  gewissem 
Sinne  nachbildend  und  hinweisend  zugleich  ist. 


4.    Natürliche  Lautmetaphern. 

Unter  einer  »Lautmetapher«  verstehen  wir  im  allgemeinen  eine 
Beziehung  des  Sprachlautes  zu  seiner  Bedeutung,  die  sich  dadurch 
dem  Bewußtsein  aufdrängt,  daß  der  Gefühlston  des  Lautes  dem  an 
die  bezeichnete  Vorstellung  gebundenen  Gefühl  verwandt  ist.  Solche 
Metaphern  sind  künstlich,  wenn  der  Dichter  oder  Redner  die 
Schallfärbung  und  den  Rhythmus  seiner  Worte  so  wählt,  daß  sie 
den  Gefühlston  des  Gedankeninhalts  wiedergeben.  Dabei  kann  zu- 
gleich die  Lautmetapher  ohne  scharfe  Grenze  in  die  Lautnachahmung 
übergehen.  So  bleibt  der  homerische  Vers  (Od.  XI,  598):  avTLg 
eTtetra  Ttedovde  yivlivöero  Iccag  avaid^g  noch  im  wesentlichen  in  den 
Grenzen  der  Lautmetapher,  die  Übersetzung  von  Voß :  *^Hurtig  mit 
Donnergepolter  entrollte  der  tückische  Marmor""  ist  aber  fast  voll- 
ständig zur  Schallnachahmung  geworden.  In  dem  Schillerschen  Lied 
von  der  Glocke  nähern  sich  die  Verse  'Von  dem  Dome  schwer  und 
bang  tönt  die  Glocke  Grabgesang"  der  Schallnachahmung,  die  Schluß- 


Natürliche  Lautmetaphern.  ■?  ■?  y 


verse  'Ziehet,  ziehet,  hebt,  sie  bewegt  sich,  schwebt"  enthalten  keine 
Spur  einer  solchen,  aber  sie  haben  den  allgemeinen  Charakter  der 
Lautmetapher.  Natürliche  Lautmetaphern  werden  wir  nun  nach 
Analogie  dieser  Beispiele  solche  Wortbildungen  nennen,  die  auf  dem 
Wege  der  natürlichen  Sprachentwicklung  entstanden  sind  und  zu- 
gleich eine  durch  den  Gefühlston  des  Lautes  vermittelte 
Beziehung  zwischen  diesem  und  seiner  Bedeutung  erkennen  lassen. 
Während  die  künstliche  Lautmetapher,  da  sie  ein  gegebenes  und 
an  sich  im  allgemeinen  nicht  metaphorisches  Lautmaterial  verwendet, 
erst  in  größeren  Wortverbänden  und  Satzfügungen  zur  Geltung 
kommt,  haftet  diese  natürliche  Lautmetapher  dem  einzelnen  Worte 
selbst  an.  Nun  braucht  auch  eine  dichterische  Lautmetapher  kein  Er- 
zeugnis planmäßiger  Absicht  zu  sein,  sondern  sie  kann  sich  ungesucht 
darbieten,  lediglich  unter  der  Wirkung  des  Triebes,  den  Ausdruck 
adäquat  der  Vorstellung  zu  gestalten.  Der  Gegensatz  des  »Künst- 
lichen« und  »Natürlichen«  bezieht  sich  also  hier  weniger  auf  die 
Entstehung  der  Lautmetapher  selbst  als  auf  die  der  Spracherzeug- 
nisse, in  denen  sie  vorkommt.  Dieser  Unterschied  kann  dann  aber 
freilich  zugleich  den  andern  mit  sich  führen,  daß  die  künstliche 
Lautmetapher  zu  einer  absichtlichen  wird,  vv^ie  das  bei  dem  an- 
geführten Hexameter  von  Voß  zweifellos  der  Fall  ist. 

Hat  schon  die  künstliche  Lautmetapher  infolge  der  Mannigfaltig- 
keit der  Gefühlsassoziationen  der  Klänge  eine  gewisse  Unbestimmt- 
heit und  Vieldeutigkeit,  so  gilt  dies  nun  in  noch  höherem  Grade  von 
den  natürlichen  Lautmetaphern,  da  diese  dem  Laut  des  ein- 
zelnen Wortes  anhaften,  so  daß  ihnen  alle  die  Mittel  der  Klang- 
verbindung und  des  Rhythmus,  deren  sich  poetische  Lautmetaphern 
bedienen,  abgehen.  Statt  dessen  kommt  bei  ihnen  durchweg  ein 
anderes  Moment  zur  Geltung,  das  im  allgemeinen  zugleich  das  einzig 
sichere  Kriterium  für  ihre  Unterscheidung  von  zufälligen  oder  auf 
eingeübter  Assoziation  beruhenden  Beziehungen  zwischen  Laut  und 
Bedeutung  bildet.  Es  besteht  darin,  daß  die  natürliche  Lautmetapher 
stets  ein  Glied  in  einer  Reihe  zusammengehöriger  Erscheinungen  ist, 
aus  deren  Vergleichung  erst  der  metaphorische  Charakter  des  einzel- 
nen Lautes  erschlossen  werden  kann.  »Natürliche  Lautmetaphern« 
setzen  also  stets  korrelative  Veränderungen  von  Laut  und  Bedeu- 
tung  voraus.     Die    Erscheinungen   sind  also  nur   dann    mit  einiger 

Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  22 


238  Die  Sprachlaute. 


Sicherheit  als  Lautmetaphern  aufzufassen,  wenn  das  einzelne  Wort 
nicht  für  sich  allein  dasteht,  sondern  Wörter  von  verwandtem,  aber 
etwas  abweichendem  Laut-  und  Bedeutungsinhalt  neben  sich  hat, 
während  zugleich  die  Lautvariation,  die  beim  Übergang  des  einen 
Wortes  zum  andern  stattfindet,  mit  einem  Wechsel  des  sinnlichen 
Gefühlstones  der  Laute  verbunden  ist,  dem  eine  analoge  Verände- 
rung im  Gefühlston  der  Bedeutungen  parallel  geht.  Hierdurch  wird 
sofort  eine  große  Zahl  von  Wörtern,  in  denen  man  oft  mit  Vorliebe 
Lautmetaphern  gesehen  hat,  von  diesem  Gebiet  ausgeschlossen,  weil 
bei  ihnen  jenes  Kriterium  korrelativer  Lautänderungen  fehlt.  Dahin 
gehören  Wörter  wie  Lieber,  Schmerz,  lind,  sanft,  hart  usw.  Von 
andern  wie  snß,  bitter,  spitz,  stumpf  muß  es  wenigstens  dahingestellt 
bleiben,  da  eine  umgekehrte  Assoziation,  bei  der  die  dem  Worte 
beigelegte  Bedeutung  erst  für  den  Gefühlston  bestimmend  geworden 
ist,  nicht  unbedingt  ausgeschlossen  werden  kann.  (Vgl.  oben  S.  318.) 
Auch  unter  diesen  zweifelhaften  Beispielen  sind  es  darum  wieder 
solche,  die,  wie  süfi  und  bitter,  Gegensätze  des  Gefühls  andeuten, 
bei  denen  eine  Lautmetapher  noch  am  wahrscheinlichsten  ist"). 

Beschränken  wir  uns  auf  Fälle,  in  denen  das  angegebene  Merk- 
mal zutriftt,  so  können  namentlich  folgende  Erscheinungen  mit 
Wahrscheinlichkeit  als  natürliche  Lautmetaphern  angesehen  werden: 
i)  die  Bezeichnungen  von  Vater  und  Mutter  mit  ihren  meist  den 
konsonantischen  Bestandteilen  dieser  Wörter  anhaftenden,  dem  Gegen- 
satz des  starken  und  des  schwachen  Geschlechts  entsprechenden  Laut- 
farbungen;  2)  die  Lautabstufungen  bei  Wörtern,  die  verschie- 
dene räumliche  Entfernungen  entweder  direkt  ausdrücken,  wie 
die  Ortsadverbien,  oder  stillschweigend  enthalten,  wie  die  Demon- 
strativ- und  Personalpronomina,  indem  hier  in  vielen  Fällen  der 
größeren  Entfernung  der  stärkere  Laut  entspricht;  3)  die  Laut- 
variationen bei  Wörtern,  die  verschiedene  Modifikationen  einer 
und  derselben  Tätigkeit  bezeichnen,  wobei  die  jedesmalige  Laut- 
färbung die  der  Bedeutungsmodifikation  entsprechende  Gefühlsfärbung 
wiedergibt. 


')  Über  die  Wörter  für  süß  und  bitter  in   verschiedenen  Sprachen  vgl.  übrigens 
unten  Kap.  Vm,  Nr.  IV. 


Natürliche  Lautmetaphern.  •25g 


a.    Lautmetaphern  in  den  Wörtern  für  Vater  und  Mutter. 

Der  großen  Analogie  zahlreicher  und  zum  Teil  weit  entlegener 
Sprachen  in  den  Namen  für  Vater  und  Mutter  ist  schon  oben  als 
eines  Zeugnisses  für  den  Übergang  gewisser  Naturlaute  in  die  Sprache 
gedacht  worden  (S.  315  f.).  In  den  dort  erwähnten  je  vier  Typen, 
pa^  ap^  ta^  at  für  den  Vater,  ma^  am^  na^  an  für  die  Mutter  ist  aber 
zugleich  ein  Lautunterschied  ausgeprägt,  nach  welchem  dem  stärkeren 
Geschlecht  der  stärkere,  dem  schwächeren  der  schwächere  Laut 
entspricht,  insofern  wir  diese  Unterscheidungen  des  stärker  und 
schwächer  für  den  Gegensatz  der  labialen  oder  dentalen  Explosiv- 
laute /  und  t  gegenüber  den  labialen  oder  nasalen  Resonanzlauten 
111  und  n  hier  der  Kürze  wegen  anwenden  dürfen.  Denn  gewiß 
sind  ja  diese  Bezeichnungen  auch  mit  Rücksicht  auf  den  Gefühlston 
der  Laute  nicht  erschöpfend,  da  namentlich  die  längere  Dauer  und 
der  klangartige  Charakter  der  Resonanzlaute  die  Gefühlswirkung  der- 
selben wesentlich  mitbedingt.  Daß  diese  Regelmäßigkeit  eine  zu- 
fallige sei,  ist  aber  wieder  durch  die  Zahl  der  Fälle  ausgeschlossen. 
Zwar  begegnen  uns  einigemal  die  Laute  pa  oder  ta  im  Namen  der 
Mutter,  ma  oder  na  in  dem  des  Vaters.  Doch  während  es  Dutzende 
von  Sprachen  gibt,  in  denen  jene  Laute  im  angegebenen  Sinn  ein- 
ander gegenüberstehen,  scheint  nicht  ein  einziges  Mal  die  umgekehrte 
Korrelation  vorzukommen,  also  z.  B.  gleichzeitig  mama  für  Vater 
und  papa  für  Mutter.  Dagegen  findet  sich  in  diesen  und  andern 
Fällen  gelegentlich  ein  vokalischer  Lautunterschied,  der  einen  ähn- 
lichen Gegensatz  auszudrücken  scheint,  indem  der  stärkere  Vokal, 
a  oder  ?/,  für  den  Vater,  der  schwächere  e  oder  /,  für  die  Mutter 
charakteristisch  istM. 


^)  Einige  Beispiele  aus  Buschmanns  Tabellen  (a.  a.  O.  S.  14  ff.)  mögen  diese 
Verhältnisse  veranschaulichen.  Ich  wähle  die  Beispiele  so,  daß  möglichst  die  ver- 
schiedenen obenerwähnten  Fälle  in  ihnen  repräsentiert  sind.  Das  Übergewicht  der 
Laute  /a,  ta  für  Vater,  ma,  na  für  Mutter  tritt  dadurch  numerisch  nicht  so  stark 
wie  in  den  Originaltabellen  her%'or. 

Asiatisch-europäische  Sprachen: 

Semitisch       Türkisch       Mongolisch       Tungusisch       Finnisch       Baskisch 
Vater:  ab  ata,  aba  aba  ami  oeta,  atya         aita 

Mutter:        am  ana  ege  aenni  ejine  ama 


340 


Die  Sprachlaute. 


Für  diese  Korrelation,  die  durch  ihre  große  Häufigkeit  den  Zu- 
fall ausschließt  und  durch  die  Beschaffenheit  der  Lautgebilde  den 
Gedanken  an  die  Lalllaute  des  Kindes  unmittelbar  nahelegt,  sind  im 
allgemeinen  drei  Erklärungen  gegeben  worden.  Erstens  meint  man, 
der  Laut  ina  sei  der  frühere  und  der  häufigere  unter  den  vorsprach- 
lichen Artikulationen  des  Kindes;  darum  sei  er  für  die  Mutter  ge- 
wählt worden,  worauf  der  andere  pa  allein  für  den  Vater  übrig- 
blieb'). Diese  Deutung  scheitert  jedoch  aus  mehreren  Gründen. 
Zunächst  ist  es  überhaupt  nicht  richtig,  daß  der  w^-Laut  der  ur- 
sprünglichere 'und  der  häufigere  sei.  Wenigstens  gilt  das  nicht, 
wenn  man  an  die  Lalllaute  des  Kindes  denkt,  unter  denen  ba  ba^ 
pa  pa^  da  da  usw..  Laute,  die  den  Vater  zu  charakterisieren  pfle- 
gen, weit  überwiegen^).  Sodann  aber  müßte  nach  dieser  Theorie 
notwendig  erwartet  werden,  daß  der  ;/z«-Laut  als  Muttername  der 
frequentere,  der  /«-Laut  als  Vatername  der  seltenere  sei.  Wiederum 
ist  aber,  wie  schon  eine  flüchtige  Durchmusterung  der  Vokabula- 
rien lehrt,  das  Gegenteil  richtig-^).     Nach  einer  zweiten  Hypothese 


Vater: 
Mutter : 


Vater : 
Mutter : 


Afrikanische  Sprachen: 
Kosah     Bechuana      Mozambique      Suaheli      Kongo 
vao  baato  tete,  titi  habe  tata 

mao         naacho        matna.  amao      amowo       mania 


Galla     Hottentottisch 


aba 
hada 


Amerikanische  Sprachen: 

Lummi-Ind.  Cataquina         Kuki         Khajin  Dakota 

man  payu  pah  aviay  atä 

tan  nayti  nah  hiey  innan 


tip 
mama 


Cherokee 
atoteh 
atsin? 


Malaio-polynesische  Sprachen: 
Malaisch     Javanisch     Bugi     Madecassisch      Tagalisch         Neuseeländisch 
Vater:      /a,  baba         hapa  ama         rai,  baba  awa  matua  tane 

Mutter:        avia  ma  ina  reni  ina  matiia  wahina 

(Elter  Mann,  Elter  Frau). 
^]  Sütterlin,  Das  Wesen  der  sprachlichen  Gebilde,  S.  31. 

2)  Dies  lehren  nicht  bloß  meine  eigenen  Aufzeichnungen,  sondern  auch  die  Mit- 
teilungen von  Preyer  u.  a.  Vgl.  z.  B.  Preyer,  Die  Seele  des  Kindes, 3  S.  370  ff. 
424  ff.     Moore,  The  Child,  p.  116. 

3)  In  Koelles  Vokubularien  afrikanischer  Sprachen,  die,  wenn  sie  auch  heutigen 
lautphysiologischen  Ansprüchen  nicht  mehr  völlig  genügen,  für  die  verhältnismäßig 
rohen  Artikulationsunterschiede,  um  die  es  sich  hier  handelt,  einen  vergleichenden 
Maßstab  abgeben  können,  finde  ich  in  einer  Gesamtzahl  von  200  Sprachen  158  Fälle 
des  Typus  pa  oder  ta  für  Vater,  und  nur  99  Fälle  des  Typus  7na  oder  na  für  Mutter. 
Im  Mutternamen   spielt   eben    die  vokaHsche  Dämpfung   eine  größere  Rolle,   und  sie 


Natürliche  Lautmetaphem.  341 


soll  ebenfalls  der  Muttername  der  Ausgangspunkt  der  Unterschei- 
dung gewesen  und  die  Bezeichnung  des  Vaters  daher  nur  als  eine 
zufällige  Ergänzung  desselben  entstanden  sein,  der  ma -'La.ut  für  die 
Mutter  soll  aber  an  die  Saugbewegungen  des  Kindes  erinnern"). 
Abgesehen  davon,  daß  die  vorhin  erwähnte  größere  Häufigkeit  des 
/«-Lautes  für  den  Vaternamen  auch  mit  dieser  Interpretation  un- 
vereinbar ist,  dürfte  jedoch  die  Behauptung,  das  bald  glucksende 
bald  schmatzende  Geräusch  des  trinkenden  Säuglings  erinnere  an 
den  Laut  ;;/«,  bei  jedem,  der  Säuglinge  beobachtet  hat,  erheblichen 
Bedenken  begegnen.  Eher  ließe  sich,  wenn  man  einmal  zufällige 
und  einseitige  Assoziationen  zu  Hilfe  nehmen  will,  an  die  Möglich- 
keit denken,  daß  zwar  nicht  unter  den  zur  Zeit  der  Wortbildung 
vornehmlich  in  Betracht  kommenden  Lallworten  des  Kindes,  wohl 
aber  von  frühe  an  unter  den  Schreilauten  der  Laut  ma  nicht  selten 
vorkommt.  Da  könnte  dann  allenfalls  auf  die  Mutter,  die  das 
schreiende  Kind  beruhigt,  dieser  Schreilaut  übertragen  worden  sein. 
Mag  man  das  nun  immerhin,  nach  dem  Prinzip  der  Komplikation 
der  Bedingungen,  als  eine  möglicherweise  mitwirkende  Ursache  gel- 
ten lassen,  für  die  Gesamtheit  der  Erscheinungen  würde  auch  diese 
Interpretation  unzulänglich  sein,  teils  wegen  des  schon  erwähnten 
Übergewichts  der  pa-  und  /«-Laute  für  den  Vater,  teils  weil  sie 
überhaupt  für  alle  die  Fälle  nicht  zutrifft,  in  denen  die  Unterschei- 
dung ganz  und  gar  dem  Gebiet  der  Vokalbildung  angehört,  hier 
dann  aber  nicht  minder  in  einer  den  Zufall  ausschließenden  Regel- 
mäßigkeit in  dem  oben  angegebenen  Sinne  zu  beobachten  ist,  wie 
vor  allem  im  Gebiet  der  amerikanischen  und  zum  Teil  auch  der 
ural-altaischen  Sprachen.  Dies  führt  zugleich  auf  die  dritte  der 
möglichen  Erklärungen,  die  jedenfalls  den  Vorzug  hat,  daß  sie  alle 
Erscheinungen  dieses  Gebietes  zusammenfaßt  und  für  beide  Eltern- 
namen zutrifft,  nicht  den  einen,  und  dazu  noch  den  konstanteren, 
als  bloßes  Produkt  des  Zufalls  ansieht.  Ein  solcher  Zufall  wird 
ohnehin  schon  dadurch  unwahrscheinlich,  daß  hier  die  Lautgebilde 
selbst    zumeist    in    einer    deutlich    erkennbaren    Korrelation    stehen. 


findet    sich    bei    sonst   abweichender  Lautbildung  auch  da,    wo  der  Vatername  jenen 
häufigsten  Typen  folgt. 

I)  Delbrück^  Grimdfragen  der  Sprachforschung,  S.  78. 


242  Die  Sprachlaute. 


Dabei  können  dann  diese  Lautbeziehungen  äußerlich  von  sehr  ver- 
schiedener Beschaffenheit  sein,  während  sie  doch  in  dem  psycho- 
logischen Charakter  der  Lautdifferenzierung  übereinstimmen.  Laut- 
gebilde wie  papa  und  inaina  auf  der  einen,  ama  und  ina  auf  der 
andern  Seite  sind  ja  an  sich  außerordentlich  verschieden.  Aber  in 
einer  dem  zweiten  Wort  eigenen  Schwächung  des  Lautes  stimmen 
sie  überein.  Und  da  nun  diese  Form  sich  begleitender  Verände- 
rungen nicht  auf  wenige  Fälle  beschränkt  ist,  sondern  in  einer 
großen  Zahl  der  lebenden  Sprachen  immer  und  immer  wieder- 
kehrt, so  haben  wir  allen  Anlaß,  einen  psychologischen  Grund  zu 
vermuten.  Hierbei  ist  jedoch  zu  bedenken,  daß  nicht  das  Kind, 
sondern  die  erwachsene  Umgebung  im  Verkehr  mit  dem  Kinde  auch 
diese  Lautdifferenzierung  geschaffen  hat,  da  gerade  die  Namen  für 
Vater  und  Mutter,  wie  schon  Preyer  bemerkte,  nachweislich  immer 
erst  von  außen  dem  Kinde  dargeboten  und  von  ihm  meist  nur  all- 
mählich richtig  angewandt  werden*).  Eben  darum  nehmen  nun 
diese  Namen  an  jenem  allgemeinen  Zug  zu  onomatopoetischen  Bil- 
dungen teil,  die  weder  das  Kind  noch  der  Erwachsene  für  sich 
zustande  bringen  würde,  die  sich  aber  mit  instinktivem  Zwang  als 
eine  natürliche  Ausdrucksform  einstellen,  wo  sich  die  Umgebung 
des  Kindes  diesem  unter  Benutzung  seines  Lautmaterials  verständ- 
lich machen  will.  Wo  eine  eigentliche  Lautnachahmung  nicht  zu 
Gebote  steht,  da  greift  dann  die  Mutter  oder  Amme  zur  Laut- 
metapher, das  heißt  zu  Lautbildern,  die  zu  den  Gegenständen  selbst 
keine  objektiven  Beziehungen  haben ,  denen  aber  eine  dem  Unter- 
schied der  Objekte  entsprechende  Verschiedenheit  des  Gefühlstones 
eigen  ist.  Somit  ist  die  Entstehung  der  Bezeichnungen  für  Vater 
und  Mutter  kein  spezifischer  Ausnahmefall,  sondern  sie  zeigt  nur  in 
einer  stabil  gewordenen  Form  eine  Erscheinung,  die  sich  in  einer 
vergänglicheren  Weise  in  den  fortwährend  entstehenden  und  ver- 
schwindenden Lautmetaphern  der  Kinderstube  unter  unsern  Augen 
ereignet.  In  dem  Verkehr  zwischen  Mutter  und  Kind  hat  jeder 
Sprachlaut  seinen  Gefühlston,  mag  er  nun  in  die  vorgefundenen 
Vv^örter  hineingelegt  werden,  oder  mag  er  in  neuen  Lautbildungen 
sich  Luft  machen. 


i)  Preyer,  Seele  des  Kindes,^  S.  353.     "Vgl.  oben  S.  276  ff. 


Natürliche  Lantmetaphern.  -543 


b.    Lautmetaphern  in  Ortsadverbien  und  Pronominalformen. 

Erscheint  die  vokalische  Lautabstufung  bei  der  Unterschei- 
dung von  Vater  und  Mutter  als  eine  seltenere  Lautmetapher,  so 
scheint  dieselbe  dagegen  bei  der  Unterscheidung  der  Orts- 
begriffe entschieden  vorzuwalten.  Sie  besteht  hier  in  einer  Kor- 
relation zwischen  Lautsteigerung  und  Zunahme  des 
Raumes.  In  manchen  Sprachen  ist  diese  Beziehung  eine  so 
regelmäßige,  daß  hier  ebenso  wie  oben  der  Zufall  nach  den 
Regeln  der  Wahrscheinlichkeit  ausgeschlossen  ist.  Besonders  die 
Sprachen  der  Natur-  und  primitiven  Kulturvölker  zeigen  diese  Er- 
scheinung in  augenfälliger  Weise,  während  sie  z.  B.  in  den  semi- 
tischen und  indogermanischen  Sprachen  entweder  ganz  fehlt  oder 
sich  jedenfalls  der  sicheren  Nachweisung  entzieht.  Ahnlich  den 
Ortsadverbien  ""hier'  und  Mort'  verhalten  sich  in  dieser  Beziehung 
die  Demonstrativpronomina  "^dieser'  und  'jener  .  Wie  der  entferntere 
Ort,  so  wird  die  entferntere  Person  gewöhnlich  durch  Steigerung 
des  Vokaltones  ausgedrückt,  wobei  durchweg  ß,  o  und  u  als  die 
stärkeren,  e  und  i  als  die  schwächeren  Vokale  erscheinen.  Daneben 
kommen  dann  auch  konsonantische  Lautverstärkungen  vor^). 

Augenfällige  Zeugnisse  für  das  Vorkommen  natürlicher  Laut- 
metaphern  in  diesen  Fällen   liefern    die  Sprachen  mancher   Natur- 


')  Das  folgende  Verzeichnis  mag  diese  Sätze  veranschaulichen. 

Ortsadverbien. 

Madecassisch       Tahitisch       Tagalisch       Japanisch  Dhimalisch  Ossetisch 
hier:                io                     io  nei               dito                 ko                      ita  am 

dort:  ao  ia  na  taon  ka  uta  um 

Suluanisch       Sahaptinisch       Mutsunisch       Tarahumaranisch       Vai 
hier:  apa  kina  ne  ibe  m 

dort:  apo  kuna  nu  abe  nu 

Demonstrativpronomina. 


Javanisch 

Neuseeländisch 

Tagalisch 

Tamulisch        Dhimalisch 

Sos 

dieser :         iki 

tinei 

dini 

i                       iti 

yo 

jener:          iku 

tera 

yari 

a                      uti 

na 

Mande 

Vai 

Jorubanisch 

Abchassisch 

Magyarisch 

dieser :     nyin 

me 

tia 

abri 

ez 

jener:       wo 

ke 

ni 

ubri 

az 

344  -^i^  Sprachlaute. 


Völker  namentlich  da,  wo  sich  in  ihnen  eine  mehrfache  Abstufung 
solcher  Unterschiede  ausgebildet  hat,  eine  Erscheinung,  die  nicht 
ganz  selten  vorkommt,  und  die  durchaus  der  konkreten  Form  des 
Denkens  in  diesen  Sprachen  gemäß  ist.  So  finden  sich  in  den 
polynesischen  Sprachen  im  allgemeinen  drei  Ortsabstufungen  mit 
den  Stammsilben  «z,  nei^  na  und  ra ;  nur  in  einzelnen  dieser  Spra- 
chen haben  sich  aber  alle  drei  Abstufungen  erhalten.  Ebenso  ver- 
hält es  sich  mit  den  Abstufungen  des  Demonstrativpronomens,  wo 
das  Neuseeländische  die  Steigerungsformen  tenei^  tena^  tera  (oder 
enei^  eiia,  era),  Mieser',  'jener  hier',  "^jener  dort',  besitzt,  die  wieder 
nichts  anderes  als  pronominale  Umwandlungsformen  der  drei  Orts- 
adverbien nei^  na,  ra  sind  (*^hier',  "dort',  Mort  in  der  Ferne'  oder,  von 
der  Zeit  gebraucht,  Mamals'j.  Das  Tahiti  hat  dafür  die  drei  Stufen  teie 
Mieser',  teienei '^ diQSQV  dor^  und  taua  ra  'jener' ^).  Der  Übergang  von 
der  ersten  zur  zweiten  Stufe  wird  also  meist  durch  Vokalsteigerung, 
der  von  der  zweiten  zur  dritten  durch  konsonantische  Verstärkung 
vermittelt.  Ebenso  besitzen  die  einander  verwandten  Mande-Neger- 
sprachen  für  die  Abstufungen  der  Orts-  und  der  Personenbezeich- 
nung zumeist  Vokalsteigerungen,  zuweilen  aber  auch  Konsonanten- 
verstärkungen :  z.  B.  für  'dieser'  und  'jener'  im  Soso  yi  und  na,  im 
Mande  7iyin  und  luo,  dagegen  im  Vai  inc  und  ke\  für  'hier'  und 
'dort'  hat  das  letztere  wieder  verschiedene  Abstufungen,  nämlich  nie 
und  nu,  oder  auch  nihne,  mime  \xnd  Ji?iro^).  Alle  diese  Erscheinun- 
gen zeigen  freilich  zugleich,  daß  die  Gefühlsbetonungen  der  Laute 
keine  konstanten,  in  allen  Sprachen  übereinstimmenden  Werte  sind. 
Auch  können  sie  ja  nicht  nur  von  Akzent  und  Dauer  der  Laute, 
sondern  vielleicht  sogar  von  wechselnden  Assoziationen  abhängen. 
Darum  kann  hier  immer  erst  eine  größere  Zahl  parallel  gehender 
Variationen  von  Laut  und  Bedeutung  eine  entsprechende  Lautmeta- 
pher wahrscheinlich  machen. 

Analoge  Lautabstufungen  scheinen  endlich  bei  dem  Personal- 
pronomen weitverbreitet  vorzukommen.  Dieser  Fall  ist  wohl 
ebenfalls  den  räumlichen  Entfernungsunterschieden  zuzuordnen.   Doch 


1)  Buschmann  in  Humboldts  Kawi-Sprache,  III,  S.  819.    Fr.  Müller,  Grundriß  der 
Sprachwissenschaft,  II,  2,  S.  29. 

2)  Steinthal,  Die  Mande-Negersprachen,  S.  81  ff. 


Natürliche  Lautmetaphern. 


345 


dürfte  in  manchen  Fällen  noch  ein  anderes  Moment  mitwirken, 
das  der  Lautmetapher  ihren  eigenartigen  Charakter  verleiht.  Auf- 
fallend häufig  kommen  nämlich  für  das  '^Ich'  die  Resonanzlaute, 
namentlich  der  labiale  Resonanzton  ?;/,  in  sonst  gänzlich  stammes- 
fremden Sprachen  vor.  Da  schon  der  Naturmensch  nach  weitver- 
breiteten animistischen  Vorstellungen  sein  Ich  in  das  Innere  seines 
Körpers  verlegt,  so  mag  die  Assoziation  des  bei  verschlossenen 
Lippen  vorgebrachten  Lautes  mit  dem  eigenen  Innern  hier  als  eine 
natürliche  Lautmetapher  für  das  Ich  empfunden  werden.  In  ein- 
zelnen Fällen,  wie  z.  B.  im  Lateinischen,  Griechischen,  Deutschen,  ist 
der  labiale  Resonanzlaut  aus  der  Nominativform  verschwunden,  wäh- 
rend er  im  Akkusativ  erhalten  blieb  {cj^v  —  ;;/^,  ü/i  —  mich).  Diese 
Lautanalogien  haben  bisweilen  einen  genealogischen  Zusammenhang 
der  Sprachen  oder  eine  äußere  Übertragung  vermuten  lassen.  Wenn 
aber  die  Lautabstufungen  ina^  ta^  sa^  mit  denen  das  Sanskrit  das 
Ich,  Du  und  Er  bezeichnete,  nicht  nur  mit  dem  Hebräischen  ani^ 
atta,  Im  und  dem  moji^  ton^  son  des  Lappen,  sondern  auch  mit  dem 
a;/,  ad^  u  [ai]  des  Somali,  und  selbst  dem  en^  z,  a  des  Mande- 
Negers  und  mit  den  gleichen  Formen  noch  vieler  andrer  Sprachen 
eine  nähere  oder  entferntere  Lautähnlichkeit  haben,  oder  wenigstens 
analoge  Lautvariationen  darbieten,  so  kann  namentlich  in  den  letz- 
teren Fällen  weder  an  ursprüngliche  Verwandtschaft  noch  selbst  an 
eine  frühe  Übertragung  gedacht  werden'].  Denn  das  Ich  und  das 
Du  (für  die  dritte  Person  tritt  zumeist  ein  Demonstrativpronomen  ein) 


^)  Die  folgende  Übersicht,  ein  kurzer  Auszug  aus  den  Paradigmen  in  Fr.  Müllers 
Grundriß  der  Sprachwissenschaft^  mag  das  oben  Gesagte  veranschaulichen. 

Sanskr.       Hebräisch       Somali       Lappisch       Türkisch       Mandschu     Mongolisch 
via  [aham]  ani  an  mon  ben  bi  ben 

ta  [tvavi]  atta  ad  ton  sen  si  tschi 


Im 


Ol 


tere 


tere 


Tumelisch 

Madecassisch     Hawaiisch 

Javanisch 

Südaustralisch 

Loango 

Kongo 

ngi 

alm 

au 

haku 

ngai 

i 

meno 

ngo 

ano 

koi 

kowe 

ninna 

u 

nge 

ngu 

iza 

ja 

hiya 

pa 

ka 

oyandi 

Amakosa 

Mande 

Lenni-Lennape 

Sahaptin 

mina 

en 

ni 

in 

wena 

i 

ki 

im 

Jena 

a 

neka 

ipi 

ja6  Die  Sprachlante. 


gehören  überall  zu  den  frühesten  Bestandteilen  der  Sprache.  Auch 
ist  hier  der  wirkliche  genealogische  Zusammenhang,  wie  er  z.  B.  die 
verschiedenen  indogermanischen  Sprachen  verbindet,  von  der  wahr- 
scheinlich nur  durch  übereinstimmende  Lautmetaphern  vermittelten 
Analogie,  wie  sie  zwischen  den  indogermanischen  und  semitischen 
oder  gar  den  oben  genannten  afrikanischen  Sprachgebieten  existiert, 
ohne  weiteres  zu  unterscheiden.  Dort  tritt  uns  eine  eigentliche 
Lautverwandtschaft,  hier  bloß  eine  analoge  Abstufung  der  Laute 
bei  im  übrigen  meist  völliger  Verschiedenheit  derselben  entgegen. 
So  finden  sich  denn  auch  in  der  Art  dieser  Abstufung  die  mannig- 
faltigsten Unterschiede.  Bald  wird  der  Übergang  von  der  ersten 
zur  zweiten  und  von  dieser  zur  dritten  Person  durch  Vokalände- 
rung, bald  durch  einen  Wechsel  konsonantischer  Laute,  bald  gleich- 
zeitig durch  beides  ausgedrückt.  Für  die  erste  Person  sind  die 
Resonanzlaute  mit  zurückgehaltenem  Luftstrom  nicht  nur  in  den 
indogermanischen,  semitischen,  finnischen,  sondern  auch  in  vielen 
amerikanischen  und  afrikanischen  Sprachen  charakteristisch.  Der 
zweiten  Person  entspricht  nicht  ganz  in  gleicher,  aber  doch  in 
ziemlich  weiter  Verbreitung  ein  explosiver  Zungenlaut  t  oder  d^  wie 
er  wohl  als  eine  hinweisende  Zungengebärde  gedeutet  werden  kann. 
Beim  Übergang  zur  dritten  Person  tritt  dann  meist  ein  Hauch-  oder 
Zischlaut  (//?/,  se^  son)  an  dessen  Stelle,  wobei  man  vielleicht  daran 
denken  darf,  daß  der  gleichzeitig  explosive,  aber  gedehntere  Laut 
die  größere  Entfernung  der  Person  ausdrückt.  In  den  Sprachen 
der  Naturvölker  überwiegen,  bei  manchen  vielleicht  unter  dem  Ein- 
fluß des  Schwindens  konsonantischer  Laute,  die  Vokalsteigerungen, 
und  nur  in  seltenen  Fällen  haben  sich ,  möglicherweise  unter  dem 
nämlichen  Einfluß,  die  Unterschiede  ganz  verwischt. 

c.    Korrespondierende   Laut-   und  Bedeutungsvariationen   bei 
Tätigkeitsbegriffen. 

Eine  dritte  Reihe  hierher  gehöriger  Erscheinungen  besteht  in 
jenen  Lautvariationen  stammverwandter  Wörter,  bei  denen  die  Ver- 
änderung der  Laute  eine  natürliche  Lautmetapher  für  die  gleichzeitige 
Veränderung  der  Bedeutung  ist.  Im  Unterschiede  von  den  vorigen 
Fällen,  wo  das  Wort  schon  in  seinem  ursprünglichen  Lautgehalt  als 
irgendwie  adäquat  seiner  Bedeutung  aufgefaßt  werden  konnte,    ist 


Natürliche  Lautraetaphern.  ^47 


demnach  hier  eine  solche  Beziehung  an  dem  ursprünglichen  Wort- 
stamm in  der  Regel  nicht  zu  erkennen.  Erst  die  von  dieser  an- 
scheinend indifferenten  Grundlage  ausgehenden  Lautvariationen  lassen 
sie  hervortreten.  Dahin  gehören  in  erster  Linie  die  von  Pott  nament- 
lich auf  dem  Gebiet  der  indogermanischen  Sprachen  näher  verfolgten 
Erscheinungen  der  von  ihm  so  genannten  »Wurzelvariation«  ^).  Man 
wird  diese  Bezeichnung  beibehalten  können,  auch  wenn  man  mit 
Pott  der  Ansicht  ist,  die  einzige  empirische  Bedeutung  der  »Wurzel« 
bestehe  darin,  daß  sie  ein  in  einer  Reihe  zusammengehöriger  Wörter 
vorkommender  übereinstimmender  Lautkomplex  sei  ^).  Die  »Wurzel- 
variation« besteht  darin,  daß  uns  Reihen  von  Wörtern  entgegen- 
treten, aus  denen  sich  zwar  kein  identischer,  aber  doch  ein  ähn- 
licher Lautkomplex  herauslösen  läßt.  Hier  kann  nun  zugleich  in 
vielen  Fällen  die  Variation  der  Laute  als  natürliche  Lautmetapher 
für  die  Verschiedenheit  der  Begriffe  gedeutet  werden.  Dabei  bleibt 
ganz  dahingestellt,  ob  eines  der  auf  solche  Weise  durch  Lautanalogie 
verbundenen  Wörter  früher  war  als  das  andere,  wo  sich  dann  dieses 
nach  jenem  gebildet  hätte,  oder  ob  etwa  die  einzelnen  Wörter  eine 
ursprünglich  verschiedene  Lautgestalt  besaßen  und  sich  erst  sekundär 
infolge  der  Beziehungen  ihrer  Bedeutung,  die  ja  ebenfalls  wieder 
eine  ursprüngliche  oder  eine  gewordene  sein  kann,  einander  ange- 
glichen haben.  Alle  diese  und  vielleicht  noch  andere  Möglichkeiten 
könnten  in  einzelnen  Fällen  zutreffen,  und  die  wirkliche  Entstehung 
der  Lautvariationen  mag  daher  ein  sehr  vielgestaltiger  Prozeß  sein. 
Für  die  vorliegende  Frage  ist  dies  gleichgültig.  Denn,  wie  sich 
auch  die  Erscheinungen  entwickelt  haben,  unter  allen  Umständen 
bezeugen  sie  eine  Affinität  zwischen  Laut  und  Bedeutung,  die  in  der 
Zeit  ihrer  Entstehung  wirksam  war. 

Die  in  Rede  stehenden  Korrelationen  beziehen  sich  demnach 
auf  lautverwandte  Wortreihen,  denen  sinnverwandte  Begriffsreihen 
gegenüberstehen,  so  daß  man  annehmen  kann,  der  einer  solchen 
Reihe  gemeinsame  Lautcharakter  drücke  das  in  allen  einzelnen 
Vorstellungen  Übereinstimmende  aus,  während  die  Lautmodifikationen 
den  Begriffsänderungen  parallel  gehen.   Manche  dieser  Erscheinungen 


')  Pott,  Etymologische  Forschungen,  1,-  S.  27,   167.     11,2  s.  272. 
2i  Vgl.  unten  Kap.  V,  Nr.  HI,  2. 


^  lg  Die  Sprachlaute. 


reichen  unmittelbar  in  das  Gebiet  der  eigentlichen  Lautgebärden 
hinüber.  Aber  auch  in  diesen  Fällen  können  in  der  nämlichen 
Wurzelreihe  Variationen  vorkommen,  bei  denen  wohl  nur  eine  natür- 
liche Lautmetapher  vorliegt.  So  gibt  es  eine  Reihe  indogermanischer 
Wurzeln,  die  mit  dem  Laute  kr  beginnen  und  die  sämtlich  den  Be- 
griff des  Geräusches  in  irgendeiner  Weise  modifiziert  ausdrücken. 
Kommt  noch  der  explosive  Auslaut  k  hinzu,  so  wird  daraus  der 
Begriff  des  lauten  Geräusches;  die  einzelnen  Modifikationen  dieses 
letzteren  werden  dann  durch  die  verschiedenen  vokalischen  Inlaute 
ausgedrückt:  krak  das  plötzliche,  laute  Geräusch  {(/.ociZto  krächzen), 
krank  den  dauernden,  dumpferen  lauten  Schall  [v.quvy)]  Lärm),  krik 
den  scharfen  eindringenden  Laut  {/.guto  kreischen,  schwirren).  Alle 
diese  Formen  lassen  sich  zugleich  als  »Lautnachahmungen«  deuten. 
Sie  verhalten  sich  ähnlich  etwa  unseren  deutschen  Wörtern  schnarren^ 
sc/murren,  sc/n^'irren  u.  a. 

Die  nämliche  Erscheinung  begegnet  uns,  zugleich  in  ihren  mannig- 
fachsten Übergängen  zwischen  direkter  Lautgebärde  und  Laut- 
metapher, in  den  semitischen  Sprachen.  Die  Laut\"ariation  besteht 
hier  in  einem  Wechsel  des  i\uslautes  der  in  diesen  Sprachen  in  der 
Regel  zweisilbigen  Wortstämme  \).  So  in  der  folgenden  Wortreihe : 
para  lösen,  parad  trennen,  parat  von  sich  werfen,  pat'avi  teilen, 
paras  zerstreuen,  paraz  ausbreiten,  parak  brechen,  parar  spalten. 
Die  Beziehung  zwischen  Laut-  und  Bedeutungsvariation  ist  augen- 
fällig; aber  von  einer  eigentlichen  Lautnachahmung  läßt  sich  nur 
selten  reden.  Höchstens  findet  sich  insofern  eine  direkte  Beziehung 
zwischen  Laut  und  Bedeutung,  als  die  dauerndere  Tätigkeit  durch 
einen  dauernderen,  die  intensivere  durch  einen  stärkeren  Laut  ver- 
sinnlicht  wird.  So  stehen  sich  z.  B.  parad  trennen  und  parak 
brechen,  sarah  ausbreiten  und  sarak  aussprengen,  parad  trennen 
und  parar   spalten,  garab   rauh    sein   und   garar   schnarren,  gaal 


^)  Eingehend  hat  auf  diese  Gruppen  zusammengehöriger  Wortstämme  Gesenius 
hingewiesen  in  seinem  > Ausführlichen  Lehrgebäude  der  hebräischen  Sprache«, 
S.  183  ff.,  vgl.  Hebr.  Grammatik,i4  S.  71.  In  jedem  hebräischen  Lexikon  fallen 
diese  zusammengehörigen  dreikonsonantigen  Wortstämme  sofort  in  die  Augen.  Es 
versteht  sich  übrigens  von  selbst,  daß  der  onomatopoetische  Charakter  derselben 
von  der  Frage  ihres  Ursprungs  ganz  unabhängig  ist;  wie  denn  ja  auch  im  Deut- 
schen Wörter  wie  klirren ,  knistern ,  klatschen ,  zwitschern  u.  a.  deshalb ,  weil  sie 
OToßenteils  Neubilduns:en  sind,  keineswess  aufhören  Lautnachahmimgen  zu  sein. 


Natürliche  Lautmetaphern.  ^^g 


wegwerfen  und  gaar  zurückstoßen  gegenüber.  Nun  läßt  sich  wohl 
sagen,  das  explosive  k  im  Auslaut  mache  im  Vergleich  mit  andern 
Lauten  den  Eindruck  des  Plötzlichen,  Gewaltsamen,  der  Zitter- 
laut r  den  einer  intensiven,  dauernden  oder  sich  wiederholenden 
Tätigkeit.  Dennoch  handelt  es  sich  dabei  offenbar  um  die  Über- 
tragung anderweitiger  Sinneseindrücke  in  die  Lautform  oder  vielmehr 
in  eine  Lautgebärde,  die  entsprechende  Modifikationen  der  Lautform 
hervorbringt.  Diese  Übertragung  beruht  aber  in  erster  Linie  auf 
der  Verwandtschaft  des  den  Eindruck  und  des  die  Lautgebärde  und 
den  Laut  begleitenden  Gefühlstones,  einer  Assoziation,  die  wir  oben 
als  die  wesentliche  Bedingung  der  natürlichen  Lautmetapher  kennen 
lernten  (S.  337). 

Neben  diesen,  der  »Wurzel Variation«  der  indogermanischen 
Sprachen  an  die  Seite  zu  stellenden  Variationen  des  Auslautes  der 
VVortstämme  besitzen  übrigens  die  semitischen  Sprachen  noch  eine 
zweite  mit  der  Wortflexion  verbundene  Form  von  Lautvariation, 
die  teils  zu  den  Präfixbildungen,  teils  zu  den  Umlauterscheinungen 
gehört,  während  sie  im  Hinblick  auf  die  Richtung  der  Lautänderun- 
gen wohl  zugleich  den  natürlichen  Lautmetaphern  zugezählt  werden 
kann:  es  sind  dies  jene  Konjugationsformen,  welche  die  verschie- 
denen Arten  einer  Handlung,  die  reflexive,  passive,  kausative,  itera- 
tive, bezeichnen.  Diese  Formen  des  sogenannten  Niphal^  Pi'cl^  Pual, 
Hipliilj  Hophal^  Hitpael  usw.  verraten  zum  großen  Teil  schon  in 
ihren  den  einzelnen  Flexionen  des  hebr.  Verbums  päal  entnommenen 
Benennungen  eine  metaphorische  Beziehung  zwischen  Laut  und  Be- 
deutung; und  wo  diese  bei  einzelnen  Formen  undeutlicher  ist,  wird 
sie  durch  deren  Einordnung  in  die  Reihe  wahrscheinlich.  Zwei 
direkt  auf  die  Veränderung  des  begleitenden  Gefühls  hinweisende 
Mittel  sind  es  nämlich,  die  hier  zur  Anwendung  kommen:  erstens 
die  Erhöhung  und  Vertiefung  des  Vokaltones,  von  denen  jene  einer 
erregenden,  diese  einer  herabstimmenden  Gefühlswirkung  entspricht; 
und  zweitens  Verstärkungen  des  Anlautes  durch  Präfixe.  Diese 
drücken  im  allgemeinen  eine  verstärkende,  dabei  aber  je  nach  der 
Beschafienheit  der  Verbindung  wechselnde  Modifikation  der  Be- 
deutung, namentlich  eine  reflexive  oder  kausative  oder  eine  Ver- 
einigung beider,  aus.  Am  klarsten  tritt  hier  die  natürliche  Laut- 
metapher in  der  Erhöhung  und  Vertiefung  des  vokalischen  Inlautes 


35©  Die  Sprachlaute. 


hervor,  während  sich  bei  den  mit  Präfixen  versehenen  Formen  dazu 
noch  eine  Art  hinweisender  Lautgebärde  zu  gesellen  scheint.  So 
enthält  das  Piel  den  reinen  Begriff  der  Verstärkung  und  Wiederholung 
der  Handlung,  z.  B.  schäal  bitten,  schiel  betteln;  im  Pual  ist  im 
Gegensatze  dazu  der  Begriff  des  Leidens  ausgeprägt:  kätal  schlagen, 
kiittal  geschlagen  werden.  Das  Niphal  steht  an  dem  andern  Ende 
dieser  Formenreihe:  es  enthält  bloß  die  als  Präfix  hinzugefügte  Laut- 
gebärde, ohne  Änderung  des  vokalischen  Inlautes:  satar  verhüllen, 
nistar  sich  verbergen.  Eine  Kombination  beider  Ausdrucksmittel 
findet  sich  im  Hiphil  und  Hitpael,  von  denen  das  erstere  im  allge- 
meinen rein  kausativ  ist:  kadasch  heilig  sein,  hikdisch  heiligen,  für 
heilig  erklären;  das  zweite  reflexiv  und  kausativ  zugleich:  hitkadesch 
sich  heiligen.  Daneben  steht  die  Form  des  Hophal,  die  wiederum 
die  passive  Bedeutung  durch  die  Vertiefung  des  Vokaltones  anzeigt : 
hokdasch  geheiligt  werden.  Außer  diesen  Formen,  in  denen  sich 
Lautmetapher  und  Lautgebärde  direkt  zu  verbinden  scheinen,  fehlt 
es  endlich  nicht  an  solchen,  in  denen  eine  reine  Lautnachahmung 
hervortritt.  So  bei  gewissen  seltneren  Konjugationen,  die  eigens  dem 
Ausdruck  rasch  sich  wiederholender  Bewegungen  dienen  und  daher 
auch  nur  bei  den  zu  einer  solchen  Bildung  herausfordernden  Verbal- 
stämmen vorkommen.  Hierher  gehören  z.  B.  die  Formen  des  semi- 
tischen Palpel:  von  zalal  klingen  zilzel  klingeln,  von  gara  ziehen  (den 
Atem)  gar  gar  gurgeln.  Diese  Erscheinungen  zeigen  deutlich,  daß 
die  Einordnung  einer  Verbalform  in  ein  allgemeingültiges  Flexions- 
schema die  Mitwirkung  onomatopoetischer  Motive  keineswegs  aus- 
schließt, sondern  daß  auch  hier  die  Geltung  des  Prinzips  des  Zu- 
sammenwirkens mehrfacher  Ursachen  bei  komplexen  Wirkungen 
wahrscheinlicher  ist  als  das  Gegenteil.  So  könnte  es  z,  B.  sehr  wohl 
sein,  daß  das  hebr.  Pual  zunächst  durch  eine  rein  äußere  Ursache 
den  tiefen  Inlaut  gewonnen  hat^j.  Aber  wenn  dann  dieser  auch 
auf  alle  anderen  passiven  Formen  übergegangen  ist  i Hophal,  Hotpael] 
für  die  sich  eine  solche  äußere  Ursache  nicht  nachweisen  läßt,  so 
würde   immer   noch  ein    an  die  passive  Bedeutung  als   solche   ge- 


^)  In  der  Tat  wird  im  Ägyptischen  das  Passiv  durch  Suffigierung  von  ut  oder 
tu  gebildet,  woraus  möglicherweise  durch  Eindringen  des  u  in  den  Wortkörper  die 
Form  des  Pnal  entstanden  sein  könnte.  (Fr.  Müller,  Grundriß,  III,^,  S.  271.  P.  W. 
Schmidt,  Mitteilungen  der  anthropol.  Ges.  in  Wien,  Bd.  33,   1903,  S.  371.) 


Natürliche  Lautmetaphern.  351 


bundener  Grund  dieser  Ausdehnung  wahrscheinlich  sein.  Ebenso 
kann  man  wohl  bezweifeln,  ob  garah  ziehen  an  und  für  sich  schon 
onomatopoetisch  sei;  daß  gargar  gurgeln  eine  wirkliche  Lautnach- 
ahmung ist,  wird  man  aber  schwerlich  bestreiten.  Man  wird  dem- 
nach auch  annehmen  dürfen,  daß  das  psychologische  Motiv  zur 
Entstehung  der  Palpel-Yoxm  in  diesem  Fall  eben  die  entstehende 
onomatopoetische  Wirkung  selbst  gewesen  sei. 

Die  zuletzt  angeführten  Beispiele  bilden  zugleich  treffende  Belege 
für  den  allgemeinen  Zusammenhang  zwischen  den  natürlichen  Laut- 
metaphern und  den  eigentlichen  Lautnachahmungen  oder,  wie  wir 
sie  nach  dem  früher  Gesagten  besser  nennen,  zu  den  nachahmen- 
den und  hinweisenden  Lautgebärden.  Bei  den  Palpelformen 
des  Semitischen  sind  die  Bewegungen  der  Artikulationsorgane  so 
treue  Nachbildungen  der  gesehenen  und  gehörten  Schallbewegungen, 
daß  der  Laut  von  selbst  zur  Lautnachahmung  werden  kann.  Aber 
nur  selten  fordern  die  äußeren  Eindrücke  so  unmittelbar  zu  ihrer  Nach- 
bildung heraus.  Dann  bleibt  gleichwohl  eine  hinweisende  Laut- 
gebärde möglich,  und  sie  tritt  naturgemäß  auf,  sobald  die  Handlung 
durch  ihre  Beschaffenheit  zu  einem  Hinweis  anregt.  Diese  Bedingung 
ist  nun  in  besonderem  Grade  bei  den  reflexiven  und  kausativen 
Formen,  bei  denen  vorzugsweise  hinweisende  Präfixe  vorkommen, 
erfüllt.  Daß  z.  B.  die  Handlungen  des  Sichverbergens ,  des  Heilig- 
sprechens in  ganz  anderem  Maß  einen  Hinweis  veranlassen,  als  die 
des  Verhüllens,  des  Heiligseins,  ist  augenfällig.  Dazu  kommen  end- 
lich noch  Modifikationen  der  Bedeutung,  zu  deren  Ausdruck  weder 
nachahmende  noch  hinweisende  Lautgebärden  zur  Verfügung  stehen, 
die  sich  aber  um  so  entschiedener  durch  ihren  eigentümlichen 
Gefühlston  auszeichnen.  Hierher  gehört  namentlich  einerseits  die 
Steigerung  einer  Handlung,  wie  sie  entweder  unmittelbar  durch 
intensivere  Aktion  oder  mittelbar  durch  Wiederholung  der  nämlichen 
Tätigkeit  hervorgebracht  werden  kann,  und  anderseits  die  Umkeh- 
rung dieses  Vorganges,  das  Leiden,  das  durch  das  Erdulden  einer 
Handlung  entsteht.  Hier  beginnt  das  Gebiet  der  reinen  natürlichen 
Lautmetaphern,  die  nun  wohl  durch  die  Gegensätze  der  Erhöhung 
und  der  Vertiefung  des  Vokaltones  ausgedrückt  werden  können. 
Als  bloße  Empfindungen,  ohne  Rücksicht  auf  das  begleitende  Ge- 
fühl betrachtet,    haben  diese  Veränderungen  gerade   so   wenig  eine 


ß  c  2  Die  Sprachlaute. 


Beziehung  zu  den  entsprechenden  Variationen  der  Bedeutung,  wie 
hohe  Töne  zu  hellen  Farben  und  tiefe  Töne  zu  dunkelm  Lichte.  Hier 
wie  dort  wird  diese  Beziehung  erst  durch  die  Gefühle  vermittelt, 
welche  die  Empfindungen  begleiten,  und  in  beiden  Fällen  handelt  es 
sich  in  der  Tat  um  die  gleichen  Gegensätze  der  erregenden  und 
deprimierenden  Gefühle.  Die  intensivere  oder  wiederholte  Tätig- 
keit wirkt  erregend,  der  Zustand  des  Leidens  niederdrückend.  Beide 
finden  so  in  Lautartikulationen  ihren  natürlichen  Ausdruck,  die  sich 
schon  im  Gebiet  der  ursprünglichen  Naturlaute,  bei  den  primären 
Interjektionen,  in  der  verschiedenen  Vokalfärbung  des  Ausrufs  kund- 
geben (S.  308).  Wie  der  Zuruf,  der  auf  einen  starken  Sinneseindruck 
reagiert  und  eventuell  die  Aufmerksamkeit  eines  Andern  auf  den 
nämlichen  Eindruck  lenken  soll,  in  hohen  und  hellen,  der  verhaltene 
Schmerz  in  tiefen  und  dumpfen  Vokaltönen  der  Interjektionen  sich 
äußert,  so  wird,  wenn  auch  in  abgedämpfterem  Maße,  infolge  der 
nämlichen  Assoziationen  der  Gefühle  der  hohe  Vokalton  zum  Aus- 
druck des  Intensiven  und  Iterativen,  der  tiefe  zu  dem  des  Passiven. 
Diese  reinen  Gefühlsänderungen  der  Laute  vermischen  sich  aber 
ohne  weiteres,  und  ohne  daß  sichtlich  irgendwie  ein  Unterschied 
zwischen  diesen  Ausdrucksmitteln  zum  Bewußtsein  kommt,  mit  den 
Lautgebärden,  wie  das  so  charakteristisch  die  gemischten  Formen 
des  Hiphil,  Hophal,  Hitpael  usw.  zeigen.  Kommt  doch  auch  bei 
ihnen  in  dem  Präfix,  das  als  Wirkung  einer  demonstrativen  Laut- 
gebärde aufgefaßt  werden  kann,  neben  dem  Hinweis  auch  noch 
die  Steigerung  und  Vertiefung  des  Vokaltones  in  der  Unterschei- 
dung der  aktiven  und  passiven  Form  zur  Geltung.  So  müssen  wir 
uns  denn  überhaupt  vorstellen,  daß  alle  diese  Mittel  des  Aus- 
drucks, Lautgebärden  verschiedener  Art  und  Lautmetaphern,  nicht 
in  der  Wirklichkeit,  sondern  nur  in  unserer  unterscheidenden  psycho- 
logischen Abstraktion  voneinander  zu  sondern  sind.  Wie  diese  Aus- 
drucksmittel ohne  Wahl  und  Überlegung,  rein  triebartig  zur  An- 
wendung kommen,  als  Reaktionen,  die  von  selbst  den  Eindrücken 
folgen,  weil  eine  natürliche  psychologische  Affinität  die  Ausdrucks- 
bewegungen mit  den  sie  erregenden  Reizen  verbindet,  so  kommt 
es  auch  in  dem  unmittelbaren  Bewußtsein  niemals  zu  einer  Unter- 
scheidung der  verschiedenen  psychologischen  Bedingungen,  unter 
denen   jene   Affinität    möglicherweise    stehen    kann.     Vielmehr    er- 


Natürliche  Lautmetaphern.  jeq 


scheinen  Lautgebärden  und  natürliche  Lautmetaphern  gleicherweise 
unmittelbar  als  adäquate  Reaktionen  auf  den  Eindruck.  Durch  dieses 
Verhältnis  rechtfertigt  sich  nun  auch  die  Bezeichnung  »natürliche 
Lautmetaphern«  für  die  zuletzt  erörterte  Gruppe  von  Erscheinungen. 
Dem  allgemeinen  Begriff  der  »Metapher«  fügen  sie  sich  deshalb, 
weil  sie  einerseits  durch  Gefühlsassoziationen  vermittelte  Über- 
tragungen des  Eindrucks  auf  ein  anderes  Sinnesgebiet,  nämlich 
direkt  auf  das  der  Artikulationsempfindungen,  und  dann  weiterhin 
indirekt  auf  das  der  Schallempfindungen  sind,  und  weil  anderseits 
durch  diese  Übertragung  die  Gefühlswirkung  des  Eindrucks  verstärkt 
wird  —  zwei  Merkmale,  die  der  Metapher  auch  in  ihren  »künst- 
lichen« Formen  eigen  sind^).  »Natürlich«  ist  aber  die  ursprüngliche 
Lautmetapher  deshalb,  weil  sie  unter  der  unmittelbaren  Wirkung 
der  natürlichen  Motive  der  Ausdrucksbewegungen  entsteht,  indem 
sie  die  Lautgebärde  je  nach  Umständen  ergänzt  oder  verstärkt,  ohne 
daß  ein  bestimmtes  Bewußtsein  ihres  Unterschiedes  von  dieser  und 
der  stattfindenden  Übertragung  auf  ein  anderes  Sinnesgebiet  über- 
haupt besteht.  Diese  Bedingungen  bringen  es  dann  freilich  auch 
mit  sich,  daß  die  natürliche  Lautmetapher  Wirkungen  entfaltet,  die 
von  denen  der  poetischen  Metapher  weit  abliegen,  und  auf  denen 
eben  ihre  die  nachahmenden  und  hinweisenden  Gebärden  ergänzende 
Bedeutung  beruht.  Indem  sie  nicht  bloß,  wie  die  poetische  Metapher, 
der  intensiveren  Gefühlsbetonung  einer  im  allgemeinen  schon  ohne 
sie  vorhandenen  Vorstellung  dient,  sondern  als  unmittelbare  Reak- 
tion auf  einen  Eindruckt  entsteht,  erweckt  sie  durch  ihre  Asso- 
ziation mit  dem  Eindruck  überhaupt  erst  die  Vorstellung.  So  wird 
sie  ein  natürliches  Ausdrucksmittel,  nicht  bloß,  wie  die 
poetische  Metapher,  ein  Verstärkungsmittel  des  Denkens.  Als  ein 
solches  Ausdrucksmittel  vermengt  sie  sich  aber  unterschiedslos  mit 
den  hinweisenden  und  nachahmenden  Gebärden  der  Sprachorgane, 
von  denen  sie  sich  eben  nur  dadurch  unterscheidet,  daß  bei  ihr  die 
Gefühlsassoziation  wegen  ihrer  fast  unbeschränkten  Beziehungen  auch 
für  solche  Vorstellungen  adäquate  Ausdrucksformen  liefert,  die  den 
eigentlichen  Lautgebärden,  den  hinweisenden  wie  den  nachahmenden, 
unzugänglich  sind. 


')  Vgl.  Kap.  VIII,  Nr.  V. 
Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  23 


^e^  Die  Sprachlaute. 


5.   Psychologische  Entstehung  der  Lautgebärden 
und  Lautmetaphern. 

Gegen  diese  Betrachtungsweise  bleiben,  wenn  man  von  der  offen- 
bar unwahrscheinlichen  Annahme  absieht,  daß  es  sich  hier  überall 
nur  um  Spiele  des  Zufalls  handle,  zwei  Einwände,  die  in  der  Tat 
in  den  Augen  vieler  gewichtig  genug  gewesen  sind,  um  dem  gan- 
zen Gebiet  der  Naturlaute,  der  Lautnachahmungen  und  der  Laut- 
metaphern zwar  ein  gewisses  Recht  einzuräumen,  dieses  aber  zu- 
gleich so  zu  beschränken,  daß  es  für  die  Probleme  der  Entstehung 
und  Entwicklung  der  Sprache  kaum  in  Betracht  kommt.  Der  erste 
Einwand  besteht  in  dem  verhältnismäßig  späten  und  darum  mög- 
licherweise sekundären  Ursprung  mancher  dieser  Erscheinungen. 
Der  zweite  beruft  sich  auf  die  weit  überwiegende  Zahl  sprachlicher 
Formen,  bei  denen  irgendeine  Beziehung  zwischen  Laut  und  Be- 
deutung überhaupt  nicht  nachzuweisen  ist.  Daß  der  erste  Einwand 
für  viele  Fälle  zutrifft,  für  andere  wenigstens  nicht  unbedingt  zurück- 
gewiesen werden  kann,  wurde  schon  hervorgehoben  (S.  319  f.)- 
VVortstämme,  die  jetzt  für  uns  in  deutlicher  Lautaffinität  zueinander 
stehen,  können  diese  erst  durch  sekundäre  Veränderungen  erlangt 
haben,  ursprünglich  also  einander  fremd  sein;  und  solche  Er- 
scheinungen wie  die  Lautmetaphern  in  den  Konjugationsformen 
der  semitischen  Sprachen  sind  zwar  alt,  aber  wiederum  nicht  ur- 
sprünglich, da  sie  verwandten  Sprachen  fehlen.  Offenbar  handelt 
es  sich  also  hier  überall  um  sekundäre  Bildungen.  Gleichwohl 
beruht  dieser  ganze  Einwand  teils  auf  einer  Verkennung  der  wirk- 
lichen Natur  der  psychogenetischen  Sprachprobleme,  teils  auf  einer 
irrigen  Abschätzung  der  Bedeutung,  die  den  heute  oder  in  näherer 
geschichtlicher  Vergangenheit  nachweisbaren  Tatsachen  für  die  Be- 
urteilung früherer,  unserer  Beobachtung  entzogener  Vorgänge  zu- 
kommt. Die  Bedingungen,  von  denen  die  Beziehungen  der  Laute 
zu  ihren  Bedeutungen  abhängen,  lassen  sich  der  Natur  der  Sache 
nach  mit  einiger  Sicherheit  nur  an  den  lebenden  oder  an  den  für 
uns  in  zureichenden  Überlieferungen  lebendig  gebliebenen  Sprachen 
beobachten.  Wollen  wir  aber  über  Zustände,  die  diesen  unserer 
Beobachtung  direkt  oder  indirekt  zugänglichen  vorausgegangen  sind, 


Psychologische  Entstehung  der  Lautgebärden  und  Lautmetaphern.         ^55 

begründete  Vermutungen  aufstellen,  so  wird  zu  solchen  in  erster 
Linie  die  gehören,  daß  sich  die  allgemeinsten  Eigenschaften  des 
Menschen  nicht  geändert  haben,  seit  es  eine  Sprache  gibt.  Es 
mag  darum  sein,  daß  von  allem  dem,  was  ursprünglich  an  Laut- 
gebärden und  natürlichen  Lautmetaphern  in  menschlichen  Sprachen 
vorhanden  war,  heute  überhaupt  nichts  mehr  existiert.  Daß  aber 
die  Sprache  zu  irgendeiner  Zeit  jener  sinnlichen  Ausdrucksmittel 
entbehrt  habe,  die  sie  uns  heute  in  manchen  ihrer  Bestandteile  un- 
mittelbar verständlich  machen,  dies  ist  gerade  so  unwahrscheinlich, 
wie  es  etwa  die  Annahme  sein  würde,  der  Unterschied  hoher  und 
tiefer  Töne,  heller  und  dunkler  Farben  sei  für  den  Urmenschen  von 
absolut  andersartigen  Gefühlswirkungen  begleitet  gewesen  als  für 
den  heutigen,  oder  jener  habe  etwa  seine  Freude  durch  stöhnende, 
seinen  Schmerz  durch  jubelnde  Laute  geäußert  u.  dgl. 

Schwerer  wiegt  auf  den  ersten  Blick  der  zweite  Einwand:  alle 
Läutgebärden  und  Lautmetaphern  seien  doch  immer  nur  ein  ver- 
hältnismäßig kleiner  Teil  des  Lautbestandes  einer  Sprache.  Gerade 
dann,  wenn  wir  die  psychologischen  Bedingungen  der  sprachlichen 
Vorgänge  der  wirklichen  Sprache  entnehmen  wollen,  liegt  hier  die 
Folgerung  nahe,  daß  den  angeführten  Momenten  nur  eine  unerheb- 
liche Rolle  neben  andern  uns  unbekannten  Bedingungen  zukomme. 
Anderseits  lassen  sich  aber  doch  zwei  Gesichtspunkte  gegen  eine 
auf  diese  Bemerkung  gestützte  Unterschätzung  der  Lautgebärden 
und  natürlichen  Lautmetaphern  geltend  machen.  Erstens  ist  zu 
bedenken,  daß  wir  andere  Motive  für  eine  Beziehung  zwischen 
Laut  und  Bedeutung,  die  uns  den  Laut  als  einen  unmittelbar  sich 
darbietenden  und  verständlichen  Ausdruck  der  Vorstellung  begreifen 
ließe,  überhaupt  nicht  kennen.  Eine  ganz  willkürliche  oder  zufällige 
Assoziation  zwischen  Laut  und  Bedeutung  könnte  daher  zwar  als 
eine  mögliche,  keinesfalls  jedoch  als  eine  natürliche,  dem  Ausdruck 
eines  bestimmten  seelischen  Vorgangs  adäquate  Beziehung  gelten. 
Zweitens  liegt  in  den  starken  Wandlungen,  denen  der  Lautbestand 
der  Wörter  im  Laufe  der  Zeit  unterworfen  ist,  ein  zureichender 
Grund  dafür,  daß  deutliche  Beziehungen  zwischen  Laut  und  Begriff 
zu  den  relativ  seltenen,  und  daß  sie  zumeist  zu  den  jüngeren  Er- 
scheinungen der  Sprache  gehören.  Denn  es  darf  hier  überall  nicht 
übersehen  werden,    daß,    so   wichtig  eine  solche  Affinität   bei  der 

23* 


'  :;  ^  Die  Sprachlante. 

ersten  Entstehung  eines  Wortes  sein  mag,  diese  für  die  weitere  Er- 
haltung desselben  in  der  Regel  nicht  von  Belang  ist,  falls  nicht,  wie 
bei  den  eigentlichen  Lautgebärden,  der  Trieb  zur  Nachbildung  be- 
sonders geweckt  wird.  Im  allgemeinen  erhält  sich  daher  die  Be- 
deutung des  Wortes  in  der  Tat  nur  durch  die  äußere  gewohnheits- 
mäßige Assoziation  oder,  wenn  die  Bedingungen  dazu  günstig  sind, 
durch  neu  hinzutretende  Assoziationen,  ohne  daß  dabei  der  Laut- 
charakter des  Wortes  eine  Rolle  spielt. 

Daß  jedoch  diese  Tatsache  mit  einer  ursprünglichen  Afiinität 
zwischen  Laut  und  Bedeutimg  sehr  wohl  vereinbar  sein  kann,  lehrt 
die  Gebärdensprache,  imd  lehren  im  Grund  alle  jene  Erscheinungen, 
bei  denen  ein  analoger  Übergang  ursprünglich  psychisch  vermittelter 
Voi^änge  in  gewohnheitsmäßige  automatische  Verbindungen  nach- 
zuweisen ist.  Auch  die  Gebärden  gehen  ja  in  eingeübte  und  kon- 
ventionelle Zeichen  über.  Nur  liegt  bei  ihnen  dieser  Übergang 
wegen  der  fortwährenden  Neubildung  und  der  sinnlichen  Anschau- 
lichkeit der  Gebärden  in  der  Regel  in  so  naher  Vergangenheit,  daß 
nur  bei  einer  kleinen  Zahl  die  ursprüngliche  ps}'chologische  Bedeu- 
ümg  zweifelhaft  sein  kann.  Wenn  sich  dieses  Verhältnis  bei  der 
Lautsprache  umkehrt,  so  bleibt  dies  auch  dann  noch  begreiflich, 
wenn  wir  annehmen,  in  ihr  sei  ursprünglich  alles  ein  ebenso  natür- 
liches und  ps\'chologisch  wohl  moti\^ertes  Ausdrucksmittel  gewesen. 
Nun  würden  aber  bei  dieser  Annahme  keine  anderen  Beziehungen 
zwischen  Laut  und  Bedeutung  verständlich  sein  als  diejenigen,  die 
uns  bei  den  hinweisenden  und  nachahmenden  Lautgebärden  einer- 
seits und  bei  den  natürlichen  Lautmetaphem  anderseits  begegnet 
sind.  In  der  Tat  entsprechen  diese  drei  Formen  bedeutsamer 
Lautbewegimgen  durchaus  den  drei  Arten  von  Gebärden,  die 
wir  im  vorigen  Kapitel  kennenlernten:  den  hinweisenden,  nach- 
bildenden imd  symbolischen,  nur  daß  bei  der  letzteren  Gat- 
tung in  Anbetracht  der  willkürlichen  erfinderischen  Tätigkeit,  der 
die  Gebärdensprache  in  höherem  Grad  unterv.orfen  ist,  der  Über- 
gang in  das  eigentliche  Symbol  näher  liegt  als  bei  der  Lautsprache. 
Darum  köimen  wir  wohl  von  natürlichen  Metaphern,  nicht  aber 
berechtigterweise  von  >Laut5\'mbolen<  reden,  während  die  hierher 
gehörigen  Gebärden  wirkliche  Symbole  sind.  Denn  das  Symbol  liegt 
dem  bezeichneten  Gegenstand  gleichzeitig   femer  und  naher  als  die 


P^TchoIogisjrhe  Entsteh:!!!^'  ce'  Ls.Ti'^'^birceTi  "znd  l^z^^tntzz.o-f^n.  -?- 
'_ ■^ =          j^ -         3j  I 

Metapher:  femer,  wdl  sich  bei  ihm  eine  zusam m enges etzte  Vorstel- 
lung z\^"ischen  die  Ausdmcksbewegung  und  ihre  Beceu^Jng  einschiebt 
näher,  weil  diese  Vorstellung  infolge  ihrer  zusammengeseizteren  Be- 
schaffenheit ein  deutlicheres  Zeichen  des  Begriffes  sein  kann.  Die 
natürliche  Lautmetapher  besteht  demnach  lediglich  in  der  Über- 
tragung einer  Vorstellung  in  eine  Ausdrucks-  und  Lautbewegung,  die 
durch  die  Assoziation  der  an  beide  gebundenen  übereinstimmenden 
Gefühle  vermittelt  wird.  Bei  der  sj-mbolischen  Gebärde  wird  durch 
diese  Gefühlsassoziation  erst  noch  eine  zwischenliegence  Vorstd- 
lung  eru^eckt,  die  durch  die  Verbindung  ihrer  Teile  nach  ihrem  all- 
gemeinen Gefühlscharakter  dem  s\Tnboli=ierten  Begriffe  verwandt 
erscheint  In  diesem  Sinn  ist  Erhöhung  und  Vertiefung  des  Lautes 
für  den  Ausdruck  der  intensiveren  Tätigkeit  imd  des  Leidens  eine 
Lautmetapher;  die  gerade  und  die  schiefe  Bewegung  des  Zege- 
fingers  vom  Mimd  aus  fiir  die  Begrine  der  Wahrheit  imd  Lüge 
sind  Gebärdens\Tnbole.  Aus  diesem  Verhältnis  erklärt  es  sich 
zugleich,  daß  die  Sprache  zwar  natürliche  Lautmetaphem  in  Fülle, 
aber  natürliche  Laut5\-mbole  nicht  besitzt.  Der  Laut  als  solcher 
kann  immer  nur  bestimmte  Gefühle  und,  insofern  an  den  Laut 
eine  Vorstellung  geknüpft  wird,  auch  eine  diesen  Gefühlen  ent- 
sprechende Modifikation  der  \'orstellung  erwecken.  Er  ist  aber 
als  Bewegung  wie  als  Laut  ein  zu  einfaches  sinnliches  Gebilde 
um  ohne  weiteres  einen  nicht  in  der  unmittelbaren  Anschauimg 
vorhandenen  Begriff  sinnlich  vertreten  zu  können.  Dazu  bedarf 
es  hier  schon  der  aus  Worten  zusammengesetzten  Rede,  die  erst 
fähig  wird  ein  gegliedertes  Ganzes  der  Anschauung  im  Bewußt- 
sein wachzunifeiL  Dies  verhält  sich  anders  bei  der  Gebärde,  die 
wegen  der  deutlichen  Sichtbarkeit  ihrer  räumlichen  Erscheinungs- 
weise jenen  für  das  S\Tnbol  erforderlichen  Zusammenhang  un- 
mittelbar zu  erzeugen  vermag.  Hier  ist  also  cle  Gebärde  dem 
Sprachlaut  überlegen.  Freilich  ist  das  nur  eine  Überlegenheit  der 
imvollkonmineren  Entwicklungsstufe,  mit  der  zugleich  die  Beschrän- 
kung der  Grebärde  auf  S}Tnbole  einfachster  sinnlicher  Art  rz- 
sammenhängt. 

W  ären  alle  Sprachlaute  auf  hinweisende  imi  nacnshmende 
Lautgebärden  und  auf  natürliche  Lautmetaphem  zuriici-cnifuhren. 
so  würde  die  Sprache   hinsichtlich  des  Lautmaterials,    aus   dem  sie 


■Jpg  Die  Sprachlaute. 


besteht,  vollständig  erklärt  sein,  ähnlich  wie  uns  die  Gebärdensprache 
in  ihrem  Aufbau  aus  einzelnen  ausdrucksvollen  Gebärden  im  wesent- 
lichen vollständig  erkennbar  ist.  Auch  dann  würde  aber  die  Laut- 
sprache sicherlich  nicht  jener  Mannigfaltigkeit  der  Ausdrucksformen 
für  den  gleichen  Begriff  ermangeln,  die  bei  dem  gegenwärtigen,  für 
uns  zumeist  undurchsichtigen  Zustand  ihres  Lautmaterials  an  den 
Ungeheuern  Verschiedenheiten  menschlicher  Sprachen  einen  wesent- 
lichen Anteil  hat,  und  durch  die  sie  sich  von  der  gleichartigen 
Beschaffenheit  der  Gebärdensprache  unterscheidet.  Zu  einem 
wesentlichen  Teile  liegt  dies  jedenfalls  in  den  nämlichen  Ursachen 
begründet,  die  zwar  die  Gebärde,  jedoch  nicht  den  Laut  als  solchen 
zum  Symbol  werden  lassen,  sondern  ihn  auf  das  unbestimmtere 
Gebiet  natürlicher  Lautmetaphern  einschränken.  Denn  jene  Ur- 
sachen sind  auch  in  dem  Verhältnis  der  hinweisenden  und  nach- 
ahmenden Lautgebärden  zu  den  entsprechenden  Formen  äußerer 
Gebärden  erkennbar.  Wie  die  Lautmetapher,  so  ist  die  Laut- 
gebärde vieldeutig.  Sogar  im  engsten  Umkreis  der  Onomatopöie, 
bei  der  eigentlichen  Schallnachahmung,  ist  die  Artikulationsbewegung 
nicht  bloß  von  dem  objektiven  Laut,  sondern  von  der  Art,  wie  er 
apperzipiert  wird,  abhängig.  Darum  können  selbst  für  eine  und 
dieselbe  Schallvorstellung  die  nachbildenden  Wörter  verschiedener 
Sprachen  sehr  voneinander  abweichen.  Vollends  wo  Gefühlsasso- 
ziationen mit  ins  Spiel  kommen,  wie  bei  den  Lautmetaphern,  da 
können  bald  wechselnde  Gefühle  an  eine  und  dieselbe  Vorstellung 
geknüpft,  bald  übereinstimmende  in  sehr  verschiedener  Weise  aus- 
gedrückt werden.  Was  die  eine  Sprache  durch  die  Verstärkung 
eines  konsonantischen  Lautes,  das  deutet  die  andere  durch  eine  Er- 
höhung des  Vokaltones,  wieder  eine  andere  durch  ein  interjektions- 
artig wirkendes  Prä-  oder  Suffix  an  usw.,  und  manche  dieser  Aus- 
drucksmittel, namentlich  solche,  die  dem  Gebiet  der  Tonmelodie 
und  des  Sprechtaktes  angehören,  sind  in  den  uns  erhaltenen  Über- 
lieferungen älterer  Sprachformen  wahrscheinlich  unerkennbar  ge- 
worden. Zu  jenem  Wechsel  der  psychischen  Wirkungen  kommen 
dann  noch  Verschiedenheiten  der  physischen  Organisation  der  Laut- 
werkzeuge, die  notwendig  selbst  dann,  wenn  die  psychischen  Motive 
dieselben  bleiben,  den  Lautausdruck  verschieden  gestalten  können. 
Alle    diese   wechselnden    Eigenschaften    sind    aber    endlich    infolge 


Psychologische  Entstehung  der  Lautgebärden  und  Lautmetaphem.         tcq 

der  Vorgänge  des  Lautwandels  in  einem  fortwährenden  Flusse 
begriffen.  Dieser  verändert  den  Lautbestand  der  Wörter  unablässig, 
und  er  kann  dadurch  die  ursprüngliche  Beziehung  zu  dem  sinn- 
lichen Eindruck  völlig  unkenntlich  machen  oder  aber  auch  um- 
gekehrt Beziehungen  hervorbringen,  die  dem  ursprünglichen  Sprach- 
laute fehlten. 


Viertes  Kapitel. 

Der  Lautwandel. 

I.  Die  Lautgesetze  in  der  Sprachwissenschaft. 

I.   Das  Postulat  der  Ausnahmslosigkeit  der  Lautgesetze. 

Die  Erscheinungen  des  Lautwandels  verdanken  die  bevorzugte 
Stelle,  die  sie  in  der  sprachwissenschaftlichen  Forschung  einnehmen, 
wohl  in  erster  Linie  dem  Umstände ,  daß  sie  ein  Gebiet  bilden, 
auf  dem  mehr  als  auf  irgendeinem  andern  eine  strenge  Gesetz- 
mäßigkeit das  Leben  der  Sprache  zu  beherrschen  scheint.  Zwar 
folgen  Wortbildung  und  Satzfügung  im  allgemeinen  nicht  minder 
festen  Gesetzen.  Aber  da  es  sich  bei  ihnen  mehr  um  dauernde 
Zustände  handelt,  so  erwecken  sie  nicht  so  unmittelbar  wie  die 
Veränderungen  der  Laute  den  Eindruck  eines  kausalen  Zusammen- 
hangs, der  an  die  Regelmäßigkeit  gewisser  Naturvorgänge  erinnert. 

Die  Beobachtung  dieser  Regelmäßigkeit  ist  es,  die  zu  dem  in 
der  neueren  Sprachwissenschaft  energisch  betonten  Postulat  der 
»Ausnahmslosigkeit  der  Lautgesetze«  geführt  hat.  Ein  solches 
Postulat  konnte  natürlich  niemals  in  dem  Sinne  verstanden  werden, 
daß  man  Gesetze  annahm,  die  in  jedem  einzelnen  Fall  zur  Wirkung 
gelangten,  sondern  nur  in  dem  andern,  daß  die  Lautgesetze,  gerade 
so  wie  die  Naturgesetze,  ausnahmslos  dann  wirken,  wenn  sie  nicht 
durch  andere  Gesetze  oder  durch  singulare  Ursachen,  die  ihnen 
entgegenwirken,  aufgehoben  werden').    Nicht  um  die  ausnahmslose 


^)  In  diesem  Sinne,  nämlicli  mit  der  Voraussetzung,  daß  Ausnahmen  von  den 
Lautgesetzen  immer  nur  Fälle  bezeichnen  könnten,  in  denen  der  zu  erwartende  Laut- 
wandel, aus  bestimmten,  erkennbaren  Ursachen  nicht  eingetreten  ist,  interpretiert 
schon  A.  Leskien,  der  zuerst  den  Ausdruck  »Ausnahmslosigkeit«  in  diesem  Zusammen- 
hange gebraucht  hat,   jene  Forderung  (Die  Deklination   im  Slavisch-Litauischen  und 


Das  Postulat  der  Ausnahmslosigkeit  der  Lautgesetze.  •j5j 

Geltung  irgendeines  einzelnen  Gesetzes  handelt  es  sich  also  dabei, 
sondern  um  eine  ausnahmslose  Gesetzmäßigkeit,  das  heißt 
um  den  Grundsatz,  daß  für  jede  geschichtliche  Lautänderung  irgend- 
eine Ursache,  sei  es  nun  ein  in  weitem  Umfang  gültiges  Laut- 
gesetz, sei  es  eine  beschränktere,  nur  für  eine  Reihe  von  Fällen 
oder  vielleicht  sogar  nur  für  einen  einzelnen  Fall  geltende  Be- 
dingung anzunehmen  ist.  Die  in  diesem  Sinne  verstandene  »Aus- 
nahmslosigkeit  der  Lautgesetze«  kehrt  vor  allem  ihre  Spitze  gegen 
die  Ausnahmen  der  alten  Grammatik,  die  auf  der  Voraussetzung 
beruhten,  daß  irgendeine  Abweichung  von  einer  sonst  gültigen 
Regel  als  ein  Spiel  des  Zufalls  oder  einer  willkürlichen  Laune  an- 
zusehen sei.  Sieht  man  von  dieser  polemischen  Spitze  ab,  so 
würde  aber  der  Ausdruck  offenbar  zweckmäßiger  durch  den  andern 
einer  »allgemeingültigen  Gesetzmäßigkeit  des  Lautwandels«  ersetzt 
werden.  Auch  die  Naturgesetze  gelten  ja  nicht  ausnahmslos,  da 
ihre  Wirkungen  im  einzelnen  Fall  durch  hinzutretende  Bedingungen 
abgeändert  oder  ganz  aufgehoben  werden  können.  Dabei  sind 
freilich  auf  den  Gebieten,  wo  eine  exakte  mechanische  Analyse  der 
Erscheinungen  möglich  ist,  die  Wirkungen  aller  Gesetze  in  dem 
Sinn  unaufhebbar,  daß  sie  in  der  resultierenden  Wirkung  genau  so 
weit  zutage  treten,  als  sie  nicht  durch  bestimmte  Ursachen  kom- 
pensiert werden.  Wo  es  sich  um  sogenannte  »empirische  Gesetze« 
handelt,  da  kann  jedoch  im  allgemeinen  von  einer  irgendwie  nach- 
weisbaren Wirkung  derselben  bei  Erscheinungen,  die  dem  Gesetze 
tatsächlich  nicht  folgen,  aber  nach  ihrem  allgemeinen  Charakter 
ihm  folgen  könnten,  meist  nicht  die  Rede  sein;  sondern  solche 
empirische  Gesetze  gelten  entweder,  oder  sie  gelten  nicht,  und 
wenn  sie  nicht  gelten,  so  können  wir  unter  günstigen  Bedingungen 
die  Ursachen  nachweisen,  die  ihre  Geltung  verhindern,  oder  die 
anderweitigen  Gesetze,  die  für  sie  eintreten;  wir  sind  aber  nicht  im- 
stande, dem  nicht  zur  Anwendung  kommenden  Gesetze  selbst  noch 
irgendeine  Partialwirkung  innerhalb  der  zusammengesetzten  Er- 
scheinung zuzuweisen.     Das  Gesetz  z.  B. ,    daß  der  Kohlenstoff  ein 


Germanischen,  1875,  S.  2;  Preisschrift  der  Jablonowskischen  Ges.  zu  Leipzig,  Nr.  XIX). 
Ähnlich  sprechen  sich  Osthoff  und  Bmgmann  aus  (Morphologische  Untersuchungen 
auf  dem  Gebiete  der  indogermanischen  Sprachen,  I,  Vorwort,  S.  XIII). 


ß62  Der  Lautwandel. 


»vier wertiges«  Element  ist,  bewährt  sich  bei  einer  bestimmten 
Kohlenstoffverbindung,  oder  es  bewährt  sich  nicht;  das  sogenannte 
Dovesche  »Drehungsgesetz  der  Winde«  trifft  in  einem  bestimmten 
Falle  zu,  oder  es  trifft  nicht  zu.  Der  Grund  dieses  Verhaltens  ist 
unschwer  einzusehen.  »Empirische  Gesetze«  nennen  wir  im  all- 
gemeinen im  Gegensatze  zu  den  abstrakten  und  axiomatisch  an- 
genommenen Gesetzen  der  Mechanik  komplexe  Gleichförmigkeiten 
des  Geschehens,  die  wir  nicht  oder  mindestens  nicht  vollständig  in 
die  Summe  der  Bedingungen  zerlegen  können,  die  ihnen  zugrunde 
liegen.  Ein  solches  Gesetz  gilt  daher  nur  so  lange,  als  die  sämt- 
lichen zur  Erhaltung  jener  Gleichförmigkeit  erforderlichen  Bedingun- 
gen vorhanden  sind.  Es  hört  auf  zu  gelten  in  dem  Augenblicke, 
wo  die  dem  Enderfolg  entgegenwirkenden  Bedingungen  überwiegen. 
Wenn  nun  vollends  auf  den  Inhalt  eines  empirischen  Gesetzes 
psychologische  Momente  von  mitbestimmendem  Einflüsse  sind,  wie 
das  bei  den  »Lautgesetzen«  von  vornherein  wahrscheinlich  ist,  da 
wird  es  zweifelhaft,  ob  überhaupt  auch  nur  für  die  einfachsten  Fälle 
jene  Voraussetzung  einer  Verbindung  an  sich  unauf hebbarer  Wir- 
kungen, wie  wir  es  dem  Schema  des  Kräfteparallelogramms  ent- 
nehmen, zutreffend  sei.  Wo  z.  B.  dem  Bewußtsein  verschiedene 
Assoziationen  zur  Verfügung  stehen,  da  vollzieht  es  irgendeine 
von  ihnen,  und  für  diese  werden  gewiß  entscheidende  Gründe 
wirken;  aber  die  andern  beteiligen  sich  nicht  etwa  nach  Maßgabe 
der  sie  in  das  Bewußtsein  hebenden  Kräfte,  sondern  sie  beteiligen 
sich  in  der  Regel  gar  nicht.  Oder  wenn  wir  zwischen  verschiedenen 
Motiven  des  Handelns  schwanken,  so  kann  der  Kampf  der  Motive 
ein  deutlich  in  unserem  Bewußtsein  verlaufender  Vorgang  sein;  doch 
nachdem  die  Entscheidung  erfolgt  ist,  pflegen  die  überwundenen 
Motive  in  der  resultierenden  Handlung  nicht  mehr  nachzuwirken. 
Ob  diese  Fälle  auf  das  allgemeine  Verhalten  sogenannter  empiri- 
scher Gesetze  zurückzuführen  seien,  oder  ob  bei  ihnen  besondere 
Eigenschaften  der  psychischen  Kausalität  in  Rechnung  kommen, 
mag  hier  dahingestellt  bleiben,  der  Erfolg  ist  jedenfalls  der  näm- 
liche: von  einer  ausnahmslosen  Geltung  kann  unter  keinen  Um- 
ständen die  Rede  sein.  Die  einzige  Bedeutung,  die  diesem  Aus- 
druck in  Anwendung  auf  die  Lautgesetze  beigelegt  werden  kann, 
ist  also  die,  daß  die  Veränderungen  der  Sprachlaute  einer  strengen 


Teleologische  Hypothesen  über  die  Ursachen  der  Lautänderungen.         ^63 

Kausalität  unterworfen  sind,  die  teils  in  bestimmt  formulierbaren 
Gesetzen  von  weitverbreiteter  Geltung,  teils  in  nachweisbaren  ein- 
zelnen Ursachen,  die  jene  Geltung  in  besonderen  Fällen  aufheben, 
ihren  Ausdruck  findet"). 


2.   Teleologische  Hypothesen  über  die  Ursachen  der 
Lautänderungen. 

Indem  das  Postulat  der  »Ausnahmslosigkeit«  durch  die  ihm  aus- 
drücklich oder  stillschweigend  gegebene  Deutung  nicht  bloß  die 
Lautgesetze  selbst  mit  den  Naturgesetzen  in  Analogie  bringt,  son- 
dern auch  für  die  Ursachen,  welche  die  Wirksamkeit  dieser  Gesetze 
stören,  eine  Unterordnung  unter  gesetzmäßige  Bedingungen  fordert, 
richtet  nun  aber  jener  Begriff  seine  Spitze  nicht  allein  gegen  die 
Ausnahmen  der  alten  Grammatik,  sondern  nicht  minder  gegen 
eine  Interpretation  sprachlicher  Vorgänge,  welche  diese  auf  gewisse 
Zweckmäßigkeitsmotive  zurückführt. 

Von  den  Vertretern  dieser  teleologischen  Erklärungsweise,  die 
während  einer  längeren  Zeit  in  der  neueren  Sprachwissenschaft  vor- 
herrschte, wurde  anerkannt.  Regeln  wie  Ausnahmen  seien  von  be- 
stimmten Ursachen  abhängig.  Nur  hielt  man  daran  fest,  die  Sprach- 
forschung müsse,  wie  die  Naturforschung,  vor  allem  »normale  und 
abnorme  Erscheinungen  unterscheiden«.  Dann  lasse  auch  das  Ab- 
norme »durch  Zusammenstellung  verwandter  Abnormitäten  selbst 
wieder  eine  gewisse  Ordnung  erkennen«  ^).  Durch  diese  Vergleichung 
war,  da  das  Pathologische  mit  dem  Physiologischen  in  den  all- 
gemeinen Eigenschaften  des  Lebens  übereinkommt,  eigentlich  schon 
gefordert,  daß  für  Regel  wie  Ausnahme  die  Ursachen  auf  dem 
gleichen  Gebiete  zu  suchen  seien.  In  der  Tat  bemühte  man  sich 
daher,   alle   Lautänderungen    auf  gewisse   > Triebe«    zurückzuführen. 


')  Die  logische  Seite  dieser  Frage  ist  näher  erörtert  in  mtinem  Aufsatz  »Über 
den  Begriff  des  Gesetzes,  mit  Rücksicht  auf  die  Frage  der  Ausnahmslosigkeit  der 
Lautgesetze«,  Phil.  Stud.  III,  S.  196  ff.  Über  die  Anwendung  des  Gesetzesbegriffs 
überhaupt  und  über  den  Begriff  des  »empirischen  Gesetzes«  insbesondere  vgl.  Logik, 
n,2  2,  S.  129  ff.  Über  gewisse  Grenzfälle  einer  wirklichen  oder  scheinbaren  »Aus- 
nahmslosigkeit« der  Lautgesetze  vgl.  übrigens  unten  Nr.  VI,  5. 

2)  Curtius,  Grundzüge  der  griech.  Etymologie,S  S.  90. 


■i()A  Der  Lautwandel. 


denen  man  zwecktätig  wirkende  psychische  Motive  unterlegte.  Ob 
diese  Motive  zugleich  als  willkürliche  gedacht  waren,  mag  dahin- 
gestellt bleiben;  es  genügt,  daß  man  von  ihnen  nach  Analogie  be- 
kannter willkürlicher  Zweckmotive  Gebrauch  machte.  Solcher  Triebe 
wurden  hauptsächlich  drei  angenommen:  erstens  das  Streben  nach 
Bequemlichkeit,  zweitens  das  Streben  bedeutsame  Laute  zu  erhalten 
oder  zum  Zwecke  der  Unterscheidung  der  Begriffe  zu  sondern,  und 
drittens  der  Trieb  nach  Gleichförmigkeit,  der  unter  der  Wirkung 
anderer  Wortformen  »falsche  Analogien«  veranlasse,  das  heißt  Laut- 
bildungen, die  den  regelmäßigen  Lautgesetzen  widersprechen.  Von 
diesen  Trieben  sollten  die  beiden  ersten,  der  nach  Bequemlichkeit 
und  der  ihm  bis  zu  einem  gewissen  Grade  das  Gleichgewicht  hal- 
tende nach  Unterscheidung,  die  normalen  Erscheinungen  bestimmen, 
worunter  man  die  regelmäßigen  Lautgesetze  und  gewisse  wünschens- 
werte Einschränkungen  derselben  verstand.  Aus  »falschen  Analogie- 
bildungen« dagegen  sollte  ein  jenen  regelmäßig  wirkenden  Kräften 
entgegengesetztes,  abnormes  Verhalten  hervorgehen.  Demgemäß 
nahm  man  zugleich  an,  die  beiden  ersten  Triebe  seien  in  den  älteren 
Zeiten  der  Sprachentwicklung  fast  ausschließlich  herrschend  gewesen, 
während  der  letzte ,  abnorme  mehr  den  späteren  Stadien  des  Ver- 
falls der  sprachlichen  Formen  und  der  Verwischung  bedeutsamer 
Unterschiede  angehöre '). 

Diese  Auffassung  verwickelt  sich  nun  aber  schon  innerhalb  der 
von  ihr  gemachten  Voraussetzungen  mit  sich  selbst  in  einen  eigen- 
tümlichen psychologischen  Widerspruch.  Gerade  das,  was  sie  vor- 
zugsweise als  das  Normale  und  Ursprüngliche  ansieht,  die  Laut- 
gesetze, führt  sie  nämlich  auf  das  Streben  nach  »Bequemlichkeit« 
zurück,  also  auf  eine  Eigenschaft,  die  bereits  der  Grenze  des 
abnormen    Verhaltens    nahekommt.     Damit    stimmt    überein,    daß 


i)  Der  hier  kurz  gekennzeichnete  psychologische  Standpunkt  ist  von  einer  Reihe 
von  Forschern  festgehalten  vs^orden,  die  dabei  zugleich  von  dem  Streben  geleitet 
waren,  willkürlichen  etymologischen  Versuchen  durch  strengere  Betonung  der  Laut- 
gesetze zu  steuern.  Hierher  gehören  namentlich  G.  Curtius,  A.  Schleicher,  Benfey, 
Pott,  Max  Müller  u.  a.  Am  eingehendsten  wurden  diese  Anschauungen,  besonders 
auch  in  ihrer  psychologischen  Begründung,  von  Curtius  vertreten  in  seiner  Griech. 
Etymologie,5  S.  21  ff.,  409  ff.  und  an  andern  Orten.  Vgl.  bes.  die  Streitschrift:  Zur 
Kritik  der  neuesten  Sprachforschung,  1885,  und  die  Erwiderung  K.  Bmgmanns,  Zum 
heutigen  Stand  der  Sprachwissenschaft,   1885. 


Teleologische  Hypothesen  über  die  Ursachen  der  Lautänderungen.         ^65 

»Verwitterung«  und  »lautlicher  Verfall«  der  Sprache,  ohne  Frage 
pathologische  Zustände,  als  das  Ergebnis  dieser  Kräfte  der  Sprach- 
entwicklung betrachtet  werden.  Daß  eine  Verfallserscheinung  das 
Normale  und  Gesetzmäßige  sein  soll,  ist  aber  nicht  minder  wider- 
spruchsvoll wie  das  andere,  daß  der  »konservative  Trieb«,  der 
diesem  Verfalle  zum  Trotz  bedeutsame  Unterschiede  bewahre,  auf 
der  einen  Seite  als  ein  Zeichen  ungeschwächter  Nachwirkung  der 
ursprünglichen  sprachbildenden  Kräfte,  auf  der  andern  aber  doch, 
dem  »Gesetzmäßigen«  gegenüber,  das  ja  dem  unaufhaltsamen 
Verfall  entgegenführt,  als  etwas  Abnormes  angesehen  wird.  Dazu 
kommt,  daß  auch  der  »falschen  Analogie«  unter  Umständen  ein 
der  lautgesetzlichen  Zerstörung  entgegenwirkender  Einfluß  nicht 
abgesprochen  werden  kann.  So  ergibt  sich  ein  merkwürdiges 
Resultat:  am  Erfolge  gemessen  erscheint  das  Abnorme  zumeist  als 
das  erhaltende  und  gesunde,  das  Normale  als  das  kranke  und 
zerstörende  Prinzip.  Dieses  paradoxe  Ergebnis  fällt  natürlich  vor 
allen  Dingen  auf  Rechnung  des  Umstandes,  daß  diese  Gegen- 
überstellungen von  »normal«  und  »abnorm«,  von  »physiologisch« 
und  »pathologisch«  selbst  »falsche  Analogien«  sind.  Das  nämliche 
gilt  von  den  bildlichen  Ausdrücken  »Verwitterung«  und  »Verfall«. 
Sie  erwecken  unvermeidlich  die  Vorstellung  eines  rückläufigen  Zer- 
setzungsprozesses. Nun  ist  aber  nicht  im  mindesten  einzusehen, 
warum,  wenn  beispielsweise  eine  Aspirata  gh^  dh,  bh  im  Laufe  des 
regelmäßigen  Lautwandels  in  eine  Spirans  %^  d- ^  r/),  oder  auch  in 
eine  einfache  sogenannte  Media  g^  d,  b^  oder  wenn  endlich  diese 
in  eine  Tenuis  k,  t^  p  übergeht,  solches  als  »Verwitterung«  oder 
»Verfall«  zu  deuten  sei.  Man  könnte  mit  demselben  Rechte  meinen, 
der  Übergang  der  Media  in  die  Tenuis  bezeichne  eine  Erhebung 
der  Sprache  zu  größerer  Kraft,  was  ungefähr  auf  das  Gegenteil 
der  Verwitterungstheorie  hinauskäme'].  Mit  welchem  Rechte  will 
man  ferner  behaupten,  der  Übergang  eines  Vokals  a  m  e  oder  ?, 
oder  eines  a  m  0  oder  gar,  wie  z.  B.  im  Althochd.,  in  7co  sei  eine 
Verfallserscheinung?     Ebensogut  kann  man  sagen,  bei  der  Bildung 


1)  In  der  Tat  ist  diese  Auffassung  schon  von  Jakob  Grimm  und  dann  von 
G.  Curtius  selbst  in  einer  älteren  Abhandlung  (Kuhns  Zeitschr.  für  vergl.  Sprach- 
forschung II,   1853,  S.  331)  angedeutet  worden.     Vgl.  unten  Nr.  III,  6. 


•i66  Der  Lautwandel. 


des  a  sei  die  Mundartikulation  und  folglich  die  Innervation  ver- 
hältnismäßig einfacher  als  bei  den  andern  Vokalen,  demnach  be- 
zeichneten diese  eine  höhere  Stufe  der  Lautentwicklung.  Natür- 
lich wird  man  am  besten  weder  das  eine  noch  das  andere  tun, 
sondern  daraus,  daß  solche  Lautänderungen  in  sehr  verschiedener 
Richtung  vor  sich  gehen,  schließen,  irgendeine  konstante  Richtung 
in  bezug  auf  Erleichterung  oder  Erschwerung  der  Artikulation  be- 
stehe überhaupt  nicht;  dies  um  so  mehr,  da  jene  Begriffe  selbst 
wieder  relative  sind,  die  von  dem  jedesmaligen  Zustand  der  Sprach- 
organe abhängen.  Laute,  deren  Hervorbringung  bei  einem  be- 
stimmten Zustande  »bequem«  ist,  können  möglicherweise  bei  einem 
andern  unbequem  werden.  Es  ist  aber  durchaus  nicht  ausgeschlossen, 
daß  solche  verschiedene  Zustände  der  Organe  innerhalb  einer  län- 
geren Zeit  bei  einer  und  derselben  Sprachgemeinschaft  bestehen. 

Leidet  so  die  Vergleichung  des  regelmäßigen  Lautwechsels  mit 
einem  Verwitterungsvorgang  unter  einem  falschen  Bilde,  das  selbst 
wieder  durch  eine  fehlerhafte  psychologische  Begrififsbildung,  den 
»Bequemlichkeitstrieb«,  veranlaßt  ist,  so  steht  nun  aber  der  zur 
Erklärung  gewisser  Ausnahmeerscheinungen  herbeigezogene  »Er- 
haltungstrieb« ganz  und  gar  unter  dem  Banne  der  alten  Erfindungs- 
theorie. Einen  Trieb,  der  allgemein  auf  die  Erhaltung  der  sprach- 
lichen Laute  gerichtet  wäre,  könnte  man  sich  ja  noch  als  eine  ein- 
fache Betätigung  von  Gedächtnisassoziationen  denken.  Aber  ein 
Trieb,  dem  das  Gedächtnis  nur  da  zu  Hilfe  kommt,  wo  es  sich 
um  die  Erhaltung  »bedeutsamer  Unterschiede«  handelt,  ein  solcher 
Trieb  wäre  nur  als  die  Äußerung  einer  bedachtsam  handelnden 
Intelligenz  möglich,  die  wir  hier,  angesichts  der  bekannten  Tatsache, 
daß  die  Sprache  zufällige  Lautübereinstimmungen  bei  totaler  Ver- 
schiedenheit der  Bedeutungen  duldet,  billig  bezweifeln  dürfen. 

Gegenüber  dieser  Annahme  eines  Erhaltungstriebes  wurde  end- 
lich in  der  Anerkennung  sporadischer  »Analogiebildungen«,  das 
heißt  solcher  Abweichungen  von  den  Lautgesetzen,  die  durch  das 
Walten  mehr  äußerlich  wirkender  Laut-  und  Begrififsassoziationen  be- 
dingt seien,  auch  dem  Gebiet  der  unwillkürlichen  seelischen  Vor- 
gänge ein  gewisser  Spielraum  eingeräumt.  Es  ist  aber  bezeichnend, 
daß,  solange  man  den  angedeuteten  teleologischen  Standpunkt  fest- 
hielt, gerade  dieser  Einfluß  der  Assoziationen  eigentlich  nur  als  ein 


Annahme  physischer  und  psychischer  Momente  der  Lautentwicklung.       ^57 

Notbehelf  zugelassen  war.  Schon  der  Ausdruck  »falsche  Analogien« 
ist  dafür  charakteristisch.  Der  konservative  Trieb,  obgleich  an  sich 
den  Lautgesetzen  gegenüber  etwas  Abnormes,  galt  doch  noch  als 
eine  berechtigte  Reaktion  gegen  die  allzu  zerstörende  Wirksamkeit 
dieser  Gesetze.  Die  falsche  Analogie  dagegen  erschien  als  etwas 
absolut  Unlogisches  und  zugleich  Zweckloses,  als  eine  »Mißbildung 
und  Verirrung  gegenüber  der  gesunden  Bildung« '). 


3.    Annahme  physischer  und  psychischer  Momente  der 
Lautentwicklung. 

Bezeichnenderweise  war  es  zunächst  weniger  die  innere  Unwahr- 
scheinlichkeit  der  von  der  teleologischen  Erklärung  angenommenen 
»Triebe«  selbst,  als  das  Widerstreben  gegen  dieses  angeblich  plan- 
lose Abirren  der  durch  Analogie  beeinflußten  Lautänderungen,  was 
den  Widerspruch  herausforderte.  Sollte  überhaupt  die  Idee  einer 
strengen  Gesetzmäßigkeit  durchgeführt  werden,  so  war  das  Bild  eines 
zufälligen  »Mitlaufens  mit  einer  andern  Herde«  unmöglich  mehr  zu 
dulden,  sondern  man  fühlte  sich  gedrungen,  dem  Zufall  die  Natur- 
notwendigkeit, der  vorbedachten  Willkür  den  Zwang  absichtslos 
wirkender  psychischer  Motive  gegenüberzustellen.  Für  beide  Begriffe 
boten,  wenn  man  alle  sonst  angenommenen  Bedingungen  möglichst 
ausschied,  die  Lautgesetze  einerseits,  die  Analogiebildungen  ander- 
seits die  gewünschten  Anhaltspunkte.  Das  Lautgesetz  repräsentierte 
das  Prinzip  der  strengen  Gesetzmäßigkeit,  die  Analogie  erschien  als 
ein  Resultat  bewußtloser  psychischer  Kräfte,  das  die  allgemeinere 
Wirksamkeit  der  Lautgesetze  zuweilen  unterbreche,  um  so  mehr 
aber  mit  ihnen  zusammen  der  »Ausnahmslosigkeit  der  Gesetze«  als 
Stütze  diene.  Denn  genau  da,  wo  der  physische  Mechanismus  der 
Lautgesetze  ein  Ende  habe,  beginne  der  psychische  der  von  Asso- 
ziationen geleiteten  Analogiebildungen.  So  wurden  beide  als  das 
physiologische  und  das  psychologische  Moment  des  Laut- 
wechsels unterschieden  und  ihnen  die  Forderung  an  die  Seite  ge- 
stellt: sobald  eine  lautliche  Erscheinung  aus  den  physischen  Laut- 
gesetzen nicht  abzuleiten  sei,   müsse  man  sie  auf  den  psychischen 


Curtius,  Zur  Kritik  der  neueren  Sprachforschung,  S.  44. 


^68  Der  Lautwandel. 


Mechanismus  der  Analogie  zurückzuführen  suchen.  Ein  letzter  Rest 
jener  Unterscheidung  des  Normalen  und  Abnormen,  mit  der  die 
Abstraktion  der  Lautgesetze  begonnen  hatte,  blieb  aber  auch  hier 
noch  in  dem  methodologischen  Prinzip  erhalten:  an  die  Erklärung 
einer  Erscheinung  durch  Analogiebildung  solle  immer  erst  dann 
gedacht  werden,  wenn  sich  alle  lautgesetzlichen  Interpretationen  als 
unmöglich  herausstellten '). 

Hiernach  ist  es  keineswegs  bloß  die  Betonung  der  strengen  Kausa- 
lität des  Lautwechsels,  sondern  eigentlich  in  noch  höherem  Grade 
die  Hervorhebung  der  »blind  waltenden«  Gesetzmäßigkeit,  was  diese 
Auffassung  von  den  vorangegangenen  Anschauungen  scheidet,  und 
worin  zugleich  ihr  Hauptfortschritt  diesen  gegenüber  begründet  liegt. 
Von  einer  gewissen  Inkonsequenz  und  Willkür  war  aber  auch  die 
neue  Doktrin  nicht  frei.  Die  stärkste,  die  ihr  als  eine  Art  Erbstück 
von  den  Regeln  und  Ausnahmen  der  alten  Grammatik  noch  anhaftete, 
die  nämlich,  daß  die  »Analogie«  immer  nur  im  Notfall  und  »so 
sparsam  wie  möglich«  herbeigezogen  werden  solle,  wurde  allerdings 
bald  überwunden.  Indem  das  »psychologische  Moment«  in  den 
Vordergrund  trat,  war  man  um  so  mehr  geneigt,  in  ihm  ein  wich- 
tiges neues  Erklärungsprinzip  zu  sehen,  als  sich  hier  das  Merk- 
würdige ergab,  daß  man  die  »Regel«,  nämlich  die  den  Lautgesetzen 
folgenden  Veränderungen,  als  etwas  zunächst  noch  ganz  Unerklär- 
liches hinnehmen  mußte,  während  man  die  »Ausnahmen«,  die  Ana- 
logiewirkungen, als  psychologisch  begreifliche  Erscheinungen  be- 
trachten lernte.  So  konnte  es  nicht  ausbleiben,  daß  das  Erkennbare 
dem  Unerkennbaren  auch  in  der  Wertschätzung  den  Rang  streitig 
machte,  und  daß  man  allmählich  dazu  geführt  wurde,  Analogien  und 
Lautgesetze  einander   gleichzustellen  ^).     Immerhin  blieb  auch  jetzt 


1)  H.  Paul  in  seinen  und  Braunes  Beiträgen  zur  Geschichte  der  deutschen  Sprache 
und  Literatur,  VI,  1879,  S.  I  ff.  Osthoff,  Das  physiologische  und  psychologische 
Moment  der  sprachlichen  Formenbildung,  1879.  Misteli,  Lautgesetz  und  Analogie, 
Zeitschrift  für  Völkerpsychologie,  XI,   1880,  S.  410. 

2)  Bezeichnende  Äußerungen  vgl.  bei  Brugmann,  Zum  heutigen  Stand  der  Sprach- 
wissenschaft, S.  81,  85  ff.  Paul,  Prinzipien  der  Sprachgeschichte,3  S.  96  ff.  Sogar 
eine  Bevorzugung  der  Analogie  in  ihrem  Werte  für  die  Sprache  tritt  nicht  selten 
hervor.  So  heißt  es  bei  Brugmann  (S.  81  f.):  »Der  Lautwandel  beeinträchtigt  die 
Gruppierung  (zusammengehöriger  Wortgruppen),  lockert  die  Verbände,  indem  er 
zwecklose  Unterschiede  zwischen  zusammengehörigen  Formen  schafft«.    Dagegen  >ist 


Annahme  physischer  und  psychischer  Momente  der  Lautentwicklung.       -jög 

noch  eine  qualitative  Unterscheidung,  zu  der  ein  positiver  Rechts- 
grund um  so  weniger  vorlag,  als  die  Ursachen  der  eigentlichen 
Lautgesetze,  wie  gesagt,  als  unerkennbar  angesehen  wurden.  Sind 
sie  aber  dies,  so  ist  ofifenbar  jene  Gegenüberstellung  des  »physio- 
logischen« oder  »mechanischen«  und  des  »psychologischen«  Momen- 
tes vorläufig  ganz  hypothetisch.  In  der  Tat  läßt  es  sich  mindestens 
ebensogut  denken,  daß  allmählich  wirkende  psychische  Bedingungen 
die  letzten  Ursachen  der  regelmäßigen  Lautänderungen  seien,  als  daß 
rein  äußere  Einflüsse,  etwa  solche  des  Klimas,  der  Naturumgebung 
oder  der  Ernährung,  eine  Umwandlung  der  physischen  Organisation 
bewirkt  haben,  von  der  die  Sprachorgane  mit  ergrififen  wurden. 
Auch  wird  die  Art,  wie  Lautgesetze  und  Analogiebildungen  fort- 
während ineinander  greifen,  offenbar  viel  verständlicher,  wenn  man 
sie  nicht  als  disparate,  einander  entgegenwirkende  Kräfte,  sondern 
als  Bedingungen  auffaßt,  die  schließlich  beide  irgendwie  in  der 
psychophysischen  Natur  des  Menschen  begründet  sind.  Damit  stimmt 
überein,  daß  wir  einerseits  wegen  der  gedächtnismäßigen  Reproduk- 
tion lautgesetzlicher  Formen  notwendig  bei  diesen  eine  Mitwirkung 
der  nämlichen  Assoziationen  voraussetzen  müssen ,  die  man  zur  Er- 
klärung der  Analogiebildungen  heranzieht,  und  daß  anderseits  die 
Assoziationen,  wie  alle  psychischen  Vorgänge,  durch  Einübung  in 
automatische  Verbindungen  übergehen,  so  daß  diejenigen  Erschei- 
nungen, die  von  vornherein  auf  die  Seite  der  psychischen  Momente 
verlegt  werden,  mit  der  Zeit  auf  die  der  physischen  zu  stehen  kommen. 
Nicht  bloß  sukzessiv  wandelt  sich  aber  auf  solche  Weise  das,  was 
wir  auf  Grund  gewisser  in  die  Augen  fallender  Merkmale  ein  Phy- 
sisches nennen,  in  ein  Psychisches,  und  umgekehrt  dieses  in  jenes 
um,  sondern  vielfach  durchkreuzen  sich  beide  von  Anfang  an  so 
innig,  daß  sie  gar  nicht  voneinander  gesondert  werden  können,  weil 
mit  jedem  Moment  der  einen  Art  auch  eines  der  andern  hinweg- 
fallen müßte. 


ein  Mittel  zur  Reaktion   in  der  Analogiebildung   gegeben.     Jede   Sprache  ist  unauf- 
hörlich damit  beschäftigt,  unnütze  Ungleichmäßigkeiten  zu  beseitigen«  usw. 


Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.    2.  Aufl.  24 


370 


Der  Lautwandel. 


4.   Komplikation  der  Ursachen  des  Lautwandels. 

Machen  die  angedeuteten  Umstände  eine  strenge  Scheidung  der 
physiologischen  und  der  psychologischen  Faktoren  dieser  Vorgänge 
überhaupt  unmöglich,  so  kommt  nun  noch  der  weitere  Umstand 
hinzu,  daß  die  Annahme,  jeder  Lautwechsel  sei  entweder  auf  all- 
gemeine Lautgesetze  oder  auf  Analogiebildungen  zurückzuführen, 
an  eine  Voraussetzung  geknüpft  ist,  die  in  der  Wirklichkeit  wahr- 
scheinlich niemals  vollständig  zutrifft.  Dies  ist  die  Voraussetzung, 
daß  die  Sprachgemeinschaft  eine  in  sich  geschlossene  sei,  also 
nicht  durch  äußeren  Verkehr  und  die  an  ihn  gebundenen  Sprach- 
mischungen beeinflußt  werde.  Man  pflegt  darum  die  Geltung  aller 
bei  jener  Zweiteilung  der  Erscheinungen  in  Frage  kommenden 
Wirkungen  auf  einen  bestimmten  Dialekt  und  auf  eine  bestimmte 
Periode  der  Sprachentwicklung  zu  beschränken.  Nun  lassen  sich 
aber  weder  die  Grenzen  einer  Periode  noch  die  eines  Dialektes  fest 
bestimmen,  und  überdies  finden  sich  namentlich  in  einem  Kulturvolke 
durch  das  Zuströmen  einzelner  Individuen  aus  fremden  Dialekten 
und  durch  den  in  der  Literatur  vermittelten  Austausch  so  kontinuier- 
liche Abweichungen  von  dem  angenommenen  Stabilitätszustande, 
daß  dieser  zu  einer  Abstraktion  wird,  zu  der  die  Wirklichkeit  immer 
nur  Annäherungen  bieten  kann'). 

Auch  da,  wo  derartige  äußere  Einflüsse  hinwegfallen  sollten, 
bildet  jedoch  das  »psychische«  so  wenig  wie  das  »physische«  Mo- 
ment der  Lautentwicklung  einen  einheitlichen  Begriff,  sondern  dieser 
zerlegt  sich  jedesmal  in  eine  Vielheit  von  Bedingungen.  Mag  nun 
gleich  unter  den  psychischen  Bedingungen  die  »Analogie«  der  Inter- 
pretation einen  sehr  weiten  Spielraum  bieten,  so  ist  doch  kaum 
anzunehmen,  daß  es  außer  ihr  keinerlei  psychologische  Ursachen 
geben  könne,  die  auf  die  Gestaltung  der  Laute  einwirken.  Legen 
doch  schon  die  beim  Zusammentreffen  gewisser  Laute  innerhalb 
derselben  Wörter  oder  benachbarter  Wörter  entstehenden  Laut- 
änderungen (das  »Sandhi«  der  indischen  Grammatiker)  den  Zweifel 
nahe,  ob  nicht  auch  hier  psychische  Motive  wirksam  seien,  die  dann 
jedenfalls  nicht  auf  »Analogien«  zurückzuführen  sind.    Ferner  ist  der 

I)  Vgl.  Hugo  Schuchardt,  Über  die  Lautgesetze,   1885,  S.  10  ff. 


Komplikation  der  Ursachen  des  Lautwandels.  •^  7  I 

»Nachahmungstrieb«  oder  vielmehr  die  Summe  eigentümlicher  Asso- 
ziations-  und  Willensmotive,  die  wir  unter  diesem  Namen  zusammen- 
fassen, und  die  wir  in  der  Gebärdensprache  eine  so  große  Rolle 
spielen  sahen"),  möglicherweise  auch  bei  der  Lautsprache  von  nicht 
zu  unterschätzendem  Einfluß.  Freilich  wird  er  nur  dann  auf  weitere 
Kreise  wirken  können,  wenn  ihm  sonst  begünstigende  Bedingungen 
entgegenkommen.  Welcher  Art  aber  diese  seien,  das  läßt  sich  von 
vornherein  kaum  bestimmen.  Zudem  brauchen  die  Assoziationen, 
die  den  Lautwandel  beeinflussen,  nicht  allein  von  der  Sprache  selbst, 
sondern  sie  können  ebenso  von  irgendwelchen  andern  Lebensgebieten, 
von  der  Sitte  und  von  den  mythologischen  Vorstellungen  ausgehen 
und  auf  die  Sprache  übergreifen.  Man  denke  nur  an  die  bei  manchen 
amerikanischen  Stämmen  bestehende  Sitte,  beim  Sprechen  den  Mund 
nicht  zu  schließen,  eine  Gewohnheit,  durch  die  sich  das  ganze  Laut- 
system dieser  Sprachen  verändert  hat.  Darf  man  nun  aber  vielleicht 
auch  mit  Recht  annehmen,  daß  solche  Einflüsse  nur  in  ganz  singu- 
lären  Fällen  eine  so  starke  und  dauernde  Wirkung  ausüben,  und 
daß  sie  daher  gegenüber  den  allgemeineren  Formen  der  Veränderung 
vorläufig  außer  Betracht  bleiben  mögen,  so  bleibt  doch  schließlich 
noch  eine  Gruppe  von  Tatsachen  übrig,  die  von  nicht  geringerer 
Bedeutung  zu  sein  scheint,  und  die  den  Lautgesetzen  so  wenig  wie 
den  ^> Analogiebildungen  <  unterzuordnen  ist.  Sie  besteht  in  allen 
den  Erscheinungen,  die  auf  eine  Wechselwirkung  zwischen 
Laut  und  Bedeutung  hinweisen.  Ihnen  wird  man  um  so  weniger 
die  Aufnahme  unter  die  allgemeinen  Ursachen  der  Lautänderungen 
versagen  können,  als  uns  schon  die  Untersuchung  der  Sprachlaute 
eine  Menge  solcher  Assoziationen  in  den  natürlichen  Lautgebärden 
und  Lautmetaphern  kennen  lehrte.  So  gut  wie  die  Neuschöpfung 
von  Wörtern,  werden  sie  natürlich  auch  den  Lautwandel  beeinflussen, 
sei  es  daß  sie  erhaltend,  oder  daß  sie  verändernd  auf  den  Lautwert 
eines  Wortes  wirken.  Ahnliches  wird  man  überall  da  annehmen 
dürfen,  wo  sich  bestimmte  Lautelemente  mit  bestimmten  Begriffs- 
modifikationen assoziiert  haben,  wie  z.  B.  im  Griechischen  der  z-Laut 
mit  der  Bedeutung  des  Optativs  usw.  Daß  sich  solche  begriß"liche 
mit  andern,  rein  lautlichen  Assoziationen  mannigfach  durchkreuzen, 


')  Vgl.  oben  Kap.  11,  S.  244. 

24=* 


■1^2  ^^^  Lautwandel. 


deren  Wirkungen  verstärken  oder  aufheben  können,  scheint  un- 
zweifelhaft. Doch  muß  es  genügen,  hier  auf  diesen  Punkt  hinzu- 
weisen. Denn  die  Frage  dieser  Wechselbeziehungen  hängt  so  eng 
mit  den  allgemeinen  Erscheinungen  des  Bedeutungswandels  zu- 
sammen, daß  sie  uns  erst  bei  diesem  näher  beschäftigen  kann^). 

Im  Hinblick  auf  diese  große  Mannigfaltigkeit  der  Umstände,  die 
bei  den  Vorgängen  des  Lautwandels  in  Betracht  kommen,  ist  es  viel- 
leicht begreiflich,  daß  man  sich  in  der  Sprachwissenschaft  in  der  Regel 
auf  die  Nachweisung  der  allgemeinsten,  für  eine  große  Zahl  einzelner 
Fälle  geltenden  Einflüsse  beschränkt,  und  daß  man  nach  dem  Grund- 
satze handelt:  sobald  für  eine  gegebene  Erscheinung  eine  Ursache 
nachgewiesen  sei,  so  werde  dadurch  von  selbst  die  Aufsuchung 
weiterer  Bedingungen  überflüssig.  Mag  nun  aber  auch  dieser  Grund- 
satz als  provisorische  Maxime  bis  zu  einem  gewissen  Grade  gerecht- 
fertigt sein,  auf  sachliche  Richtigkeit  kann  er  keinen  Anspruch  er- 
heben. Denn  das  Prinzip  der  Einheit  der  Ursache  hat  in  diesem 
Falle  keinerlei  Wahrscheinlichkeit  für  sich.  Erscheinungen  von  so 
verwickelter  Natur  sind  in  der  Regel  weder  im  ganzen  noch  in  einem 
einzelnen  Fall  durch  eine  einzige  Kategorie  von  Bedingungen  zu 
erschöpfen.  Nicht  das  Prinzip  der  Einfachheit,  sondern  das  der 
Komplikation  der  Ursachen  ist  daher  dasjenige,  das  von  vorn- 
herein der  Beurteilung  des  Tatbestandes  zugrunde  gelegt  werden  sollte. 


II.  Individuelle  und  generelle  Formen  der  Lautänderung. 

I.   Lautwandel  und  Lautwechsel. 

Wie  bei  allen  Erscheinungen,  die  zum  Gebiet  völkerpsycholo- 
gischer Betrachtung  gehören,  das  Individuum  und  die  Gemeinschaft 
in  fortwährender  Wechselwirkung  stehen,  so  gilt  dies  naturgemäß 
auch  von  den  Wandlungen  der  Sprachlaute.  Eine  generelle  Geltung 
kann  aber  im  allgemeinen  nur  eine  solche  Abweichung  erlangen, 
die  aus  Bedingungen  hervorgeht,  denen  auch  die  andern  Mitglieder 
der  Sprachgemeinschaft  unterworfen  sind. 


^)  Vgl.  den  Abschnitt   über  die  Erscheinungen  des   korrelativen  Laut-  und  Be- 
deutungswandels in  Kap.  VIII,  Nr.  I. 


Lautwandel  und  Lautwechsel. 


373 


Nun  bringen  es  die  physiologischen  Verhältnisse  der  Lautbildung 
mit  sich,  daß  der  individuelle  Ursprung  einer  Lautänderung  im 
allgemeinen  ein  doppelter  sein  kann:  entweder  ein  allmählicher 
und  stetiger,  bei  dem  zwischen  dem  Ausgangs-  und  dem  End- 
faut  möglicherweise  eine  unendliche  Anzahl  von  Zwischenstufen 
liegt,  oder  ein  plötzlicher  und  sprungweiser,  bei  dem  mit 
einem  Male  der  Anfangs-  in  den  Endlaut  übergeht.  Man  pflegt 
diese  beiden  Fälle  als  die  des  stetigen  und  des  springenden 
Lautwechsels  zu  bezeichnen,  und  demnach  wohl  auch,  da  der  Be- 
griff des  »Wandels«  die  Nebenbedeutung  eines  stetigen  Vorgangs 
angenommen  hat,  den  ersteren  einen  »Lautwandel«,  den  letzteren 
einen  »Lautwechsel«  im  engeren  Sinne  des  Wortes  zu  nennen'). 

Der  Gegensatz  dieser  beiden  Formen  der  Lautänderung  hängt 
naturgemäß  mit  dem  physiologischen  Charakter  der  beiden  Laute, 
die  als  Anfangs-  und  Endlaut  den  Prozeß  der  Veränderung  ein- 
schließen, zusammen.  Ein  stetiger  Lautwandel  kann  nur  zwischen 
solchen  Lauten  stattfinden,  die  durch  alle  möglichen  Übergangsstufen 
ineinander  übergeführt  werden  können.  Dagegen  ist  zwischen  Lauten, 
bei  denen  ein  solcher  Übergang  ausgeschlossen  ist,  nur  ein  springender 
Lautwechsel  möglich.  So  kann  z.  B.  a  in  c  oder  0,  0  in  ?/,  e  m  z,  oder 
es  kann  d  einerseits  in  t^  anderseits  in  dli^  dz^  z  ganz  allmählich  durch 
minimale  Veränderungen  der  Mundstellungen  übergehen.  Dagegen 
kann  p  m.  q^  t  m.  f  oder  re  in  er  nur  plötzlich  überspringen,  weil 
es  zwischen  den  Artikulationsstellungen  des  Anfangs-  und  des  End- 
lautes keine  Zwischenstellungen  gibt,  die  eine  Reihe  allmählicher 
Übergänge  bilden  könnten.  Begegnet  man  in  der  Sprache  Laut- 
änderungen, die  sich  individuell  durch  stetige  Abstufungen  der  ersten 
Art  hervorbringen  lassen,  so  pflegt  man  daher  anzunehmen,  daß 
sie  auch  generell  Erzeugnisse  eines  stetigen  Lautwandels  seien.  So 
wenn  mhd.  lüite  in  nhd.  Leute ^  ahd.  gasti  in  gesti  'Gäste',  urgerm. 
*fad-er  {-d-  =  engl.  ///)  ^)  in  nhd.  Vater,  lat.  ag-nus  in  ang-niis  über- 
gegangen ist.     Begegnet   man   anderseits    solchen   Lautänderungen, 


^)  Sievers,  Grundzüge  der  PhonetIk,4  1893,  S.  246,  und  in  Pauls  Grundriß  der 
germanischen  Philologie,^  I,   1897,  S.  309. 

2)  Mit  einem  Sternchen  werden  hier  und  im  folgenden  überall,  nach  dem  in 
der  Sprachwissenschaft  eingeführten  Usus,  solche  Wörter  bezeichnet,  die  lautgesetz- 
lich erschlossen,  aber  nicht  direkt  belegt  sind. 


xy^  Der  Lautwandel. 


die  sich  individuell  nicht  stetig  erzeugen  lassen,  so  führt  man  sie 
auf  einen  springenden  Lautwechsel  zurück.  So  wenn  griech.  *goUros 
in  TtoTSQog^  lat.  *pmq2ie  in  qiiinqiie ^  ahd.  brestan  in  nhd.  bersten 
überging. 

So  wichtig  nun  dieser  Unterschied  für  die  physiologische  Ent- 
stehungsweise des  Lautwechsels  sein  mag,  so  erweist  er  sich  doch 
in  doppeltem  Sinn  als  ein  fließender.  Erstens  ist  es  natürlich  nicht 
ausgeschlossen,  daß  auch  derjenige  Wechsel,  der  seiner  physiolo- 
gischen Natur  nach  ein  stetiger  sein  kann,  im  einzelnen  Fall  als 
ein  springender  vorkommt;  und  wahrscheinlich  würde  er  sich  um 
so  mehr  als  ein  solcher  darstellen,  je  mehr  man  auf  sein  individuelles 
Vorkommen  zurückzugehen  vermöchte.  Beim  Übergange  von  gasti 
in  gesti  z.  B.  wird  wohl  der  Einzelne  gelegentlich  einmal  mehr  nach 
«,  ein  anderes  Mal  mehr  nach  e  artikulieren,  doch  im  ganzen  wird 
er  in  jedem  besonderen  Falle  nicht  um  unendlich  kleine,  sondern 
um  beliebige  endliche  Größen  seine  Mundstellung  ändern.  Ferner 
muß  aber  umgekehrt  auch  derjenige  Lautwechsel,  der  individuell  ein 
springender  war,  bei  seiner  generellen  Verbreitung  zu  einem  an- 
nähernd stetigen  Vorgang  werden.  Denn  wie  sich  schon  bei  dem 
Einzelnen  der  Übergang  von  der  alten  zur  neuen  Lautform  nicht 
mit  einem  Mal  als  Regel  durchsetzt,  sondern  zunächst  zeit- 
weise auftritt  und  dann  durch  Gewöhnung  häufiger  und  häufiger 
wird,  so  wird  vollends  nie  eine  Abweichung  die  ganze  Sprach- 
gemeinschaft gleichzeitig  ergreifen,  sondern  allmählich  durch  eine 
Periode  gemischten  Gebrauchs  sich  ausbreiten,  um  schließlich  herr- 
schend zu  werden.  Auf  diese  Weise  kann  jeder  noch  so  allmähliche 
Lautwechsel  im  individuellen  Sinn  als  ein  springender  gelten, 
der  nur  die  Eigenschaft  hat,  in  sehr  vielen  Abstufungen  variieren  zu 
können;  und  umgekehrt  kann  jeder  Lautwechsel,  wie  er  auch  indi- 
viduell beschaffen  sein  mag,  im  generellen  Sinn  als  ein  allmäh- 
licher und  annähernd  stetiger  Vorgang  angesehen  werden. 

Mag  aber  gleich  jener  Unterschied  des  Stetigen  und  des  Plötz- 
lichen, solange  man  nur  die  äußere  Erscheinungsweise  der  Laut- 
änderungen ins  Auge  faßt,  individuell  ein  fließender  und  generell 
ein  verschwindender  sein,  so  verhält  es  sich  doch  anders,  sobald 
man  den  ursprünglichen  psychophysischen  Bedingungen 
der   Lautänderungen  nachgeht.     Da   diese  Bedingungen   notwendig 


Lautwandel  und  Lautwechsel.  375 

mit  Einflüssen  zusammenhängen,  denen  die  individuellen  Sprach - 
Organe  unterworfen  sind,  so  ist  es  von  vornherein  denkbar,  daß 
ein  Lautwechsel,  der  durch  stetige  Verschiebungen  in  der  Stellung 
der  Artikulationsorgane  hervorgebracht  werden  kann,  unter  andern 
Bedingungen  entstehe  als  ein  solcher,  der  in  jedem  Einzelfalle  nur 
durch  einen  sprungweisen  Übergang  möglich  ist.  Sobald  es  sich 
um  diese  physiologische  Frage  handelt,  tritt  daher  naturgemäß  der 
Grundsatz  in  seine  Rechte  ein,  daß  sich  kein  Wechsel  in  einer 
redenden  Gemeinschaft  vollziehen  kann,  der  nicht  in  den  Eigen- 
schaften der  Individuen  und  in  den  Einwirkungen,  denen  sie  unter- 
worfen sind,  vorgebildet  wäre.  Darum  setzt  die  Analyse  der  gene- 
rellen eine  solche  der  individuellen  Bedingungen  des  Lautwandels 
voraus,  und  diese  können  möglicherweise  je  nach  der  Beschaffenheit 
der  Lautübergänge  abweichen,  da  Unterschieden  der  physischen 
Vorgänge  auch  solche  ihrer  psychischen  Bedingungen  voraussicht- 
lich entsprechen  werden. 

In  der  Tat  wird  nun  diese  Voraussage  durch  die  Beobachtung 
der  unabhängig  von  allen  generellen  Lautänderungen  sich  darbieten- 
den individuellen  Abweichungen  der  Lautbildung  bestätigt. 
Solche  Abweichungen  treten  nämlich  erstens  dadurch  ein,  daß 
jedes  individuelle  Sprachorgan  für  jede  Artikulationsweise,  die  ihm 
möglich  ist,  einen  gewissen  Spielraum  der  Artikulation  be- 
sitzt, innerhalb  dessen  stetige  Veränderungen  möglich  sind,  die, 
sobald  irgendwelche  Einflüsse  eine  bestimmte  Richtung  begünstigen, 
die  Anlage  zur  Entstehung  eines  stetig  eintretenden  Lautwandels 
enthalten.  Zweitens  beobachten  wir,  daß  im  Verlaufe  der  Rede 
durch  fehlerhafte  Artikulation  ein  Überspringen  aus  einer  be- 
stimmten Artikulationsform  in  eine  andere,  die  außerhalb  jenes 
Spielraums  der  normalen  Bewegungsamplitude  liegt,  eintreten  kann, 
ein  springender  Lautwechsel  also,  den  man  in  seinen  die  normale 
Lautbildung  beeinflussenden  Formen  je  nach  seinen  besonderen 
Eigenschaften  entweder  als  eine  Lautvermengung  oder  als  eine 
Wortvermengung  bezeichnen  kann:  das  erstere  dann,  wenn  die 
Abweichungen  unter  dem  Einflüsse  nahe  benachbarter  Laute  ent- 
stehen, das  letztere,  wenn  sie  infolge  von  Assoziationen  mit  andern, 
durch  den  Inhalt  des  Gesprochenen  lautlich  oder  begrifflich  nahe- 
gelegten   Wörtern    zustande    kommen.      Zu    diesen    Abweichungen 


2^6  Der  Lautwandel. 


kommt  endlich  noch  eine  dritte,  darin  bestehend,  daß  das  indivi- 
duelle Sprachorgan  die  Laute  einer  fremden  Sprache  in  ihrem 
Lautvverte  zu  verändern  pflegt,  auf  welche  Veränderungen  teils  die 
abweichende  physische  Anlage  des  Sprachorgans,  teils  Assoziationen 
mit  Wörtern  der  eigenen  Sprache  bestimmend  einwirken.  Das 
Studium  dieser  drei  Arten  individueller  Lautänderungen,  des  Spiel- 
raums normaler  Artikulationen,  der  Laut-  und  Wortvermengungen, 
der  Sprachmischungen,  bildet  so  eine  notwendige  Vorbereitung  zu 
der  psychophysischen  Analyse  jedes  generellen  Lautwandels.  Denn 
nach  den  Bedingungen  dieser  Vorgänge  ist  im  allgemeinen  anzu- 
nehmen, daß  sich  die  Ursachen  der  individuellen  auch  in  den 
generellen  Lautänderungen  wiederfinden  werden.  Dabei  bieten  aber 
zugleich  die  individuellen  Abweichungen  besonders  günstige  Verhält- 
nisse dar,  um  jede  Form  des  Lautwechsels  gewissermaßen  in  seinem 
Entstehungsmoment  zu  beobachten,  während  uns  die  generellen  Laut- 
änderungen einer  Sprache  zunächst  nur  als  abgeschlossene  Wirkungen 
unbekannter  Ursachen  entgegentreten.  Auf  die  letzteren  können  wir 
daher  immer  erst  teils  aus  verschiedenen  begleitenden  Bedingungen, 
teils  aber  mit  Hilfe  ihnen  analoger  individueller  Abweichungen  zurück- 
schließen. 


2.    Spielraum  der  normalen  Artikulationen. 

Der  Spielraum  der  normalen  Artikulationen  ist  bei  jedem  einzelnen 
Laut  ein  nicht  unbeträchtlicher.  Zugleich  kann  aber  diesem  Begriff 
eine  individuelle  und  eine  generelle  Bedeutung  gegeben  werden. 
Der  individuelle  Spielraum  äußert  sich  darin,  daß  der  nämliche 
Laut  in  verschiedenen  Fällen  innerhalb  einer  gewissen  Breite  variieren 
kann,  ohne  von  dem  Redenden  oder  Hörenden  als  falsch  aufgefaßt 
zu  werden.  Dabei  sind  von  diesem  Begriff  des  individuellen  Spiel- 
raums diejenigen  Lautmodifikationen  auszuschließen,  die  von  wech- 
selnden objektiven  Bedingungen,  namentlich  von  den  verschiedenen 
Lautverbindungen  abhängen.  Denn  hier  handelt  es  sich  in  Wahrheit 
gar  nicht  um  denselben  Laut,  sondern  um  verschiedene  Laute,  die 
wir  nur  wegen  ihrer  Ähnlichkeit  gewöhnlich  mit  dem  gleichen  Zeichen 
schreiben.  Das  a  in  laclien  und  laden  ^  das  e  in  geben  und  Pferd^ 
das  p  in  Post  und  Pfeil^  vollends  das  betonte  und   das  tonlose  c  in 


Spielraum  der  normalen  Artikulationen.  ■in'j 

geben ^  leben  usw.  sind  wirklich  verschiedene  Laute,  die  in  jeder 
strengeren  phonetischen  Schrift  unterschieden  werden  müssen,  wobei 
dann  aber  wiederum  wegen  der  unendlichen  Zahl  solcher  Abstufun- 
gen eines  Lautes  nur  die  größeren  Intervalle  berücksichtigt  werden 
können.  Doch  abgesehen  von  diesen  wirklichen  Unterschieden  gibt 
es  für  einen  und  denselben,  in  einem  bestimmten  Wort  und  unter 
sonst  unverändert  bleibenden  Bedingungen  vorkommenden  Sprach- 
laut gerade  so  gut  einen  gewissen  Spielraum  der  individuellen  Arti- 
kulation, wie  unsere  sonstigen  Bewegungen,  z.  B.  Größe,  Verlauf 
und  Richtung  der  Gehbewegungen,  variieren  können,  auch  wenn  wir 
im  allgemeinen  die  einzelnen  Schritte  als  gleich  auffassen. 

Einen  noch  weiteren  Umfang  hat  der  Spielraum  in  der  zweiten, 
allgemeinen  Bedeutung,  wo  er  die  Breite  der  Abweichungen  der 
einzelnen  Individuen  einer  Sprachgemeinschaft  von  der  mittleren 
durchschnittlichen  Artikulationsform  bezeichnet.  Denn  in  diesem 
generellen  Spielräume  sind  alle  individuellen  Spielräume  ent- 
halten, derart,  daß  die  häufigste  Artikulationsweise  des  Einzelnen  für 
einen  Laut  in  jenem  eine  ganz  bestimmte  Stelle  einnimmt.  Hier- 
durch entsteht,  zusammen  mit  den  Eigentümlichkeiten  von  Tonfall 
und  Rhythmus,  die  individuelle  Nuancierung  der  Sprache,  die  es 
uns  möglich  macht,  eine  uns  bekannte  Person  an  ihrer  Sprech- 
weise unter  Umständen  aus  tausend  andern  Stimmen  heraus  zu 
erkennen. 

In  den  beiden  Bedeutungen,  in  denen  hier  der  Begriff  des  Spiel- 
raumes der  Artikulation  gebraucht  wurde,  repräsentiert  nun  aber 
dieser  Begriff  keine  einfache,  etwa  nur  nach  zwei  entgegengesetzten 
Richtungen  veränderliche  Größe,  sondern  er  läßt  sich  als  eine  »vier- 
fach ausgedehnte  Mannigfaltigkeit«  auffassen,  insofern  er  sich  aus 
vier  Spielräumen  zusammensetzt:  aus  der  räumlichen  Variation 
der  Artikulationsstelle,  der  zeitlichen  der  Lautdauer,  der 
intensiven  der  Lautstärke,  und  der  qualitativen  der  Tonhöhe. 
In  dem  ersten  dieser  Spielräume  bewegen  sich  die  hauptsächlich- 
sten Veränderungen  des  Geräusch-  und  Klangcharakters,  die 
den  Sprachlaut  als  solchen  kennzeichnen.  Der  zweite  und  dritte 
kommen  vorzugsweise  in  dem  Zusammenhange  der  verschiedenen 
Laute  zur  Geltung,  indem  der  zweite  die  relative  Dauer  der  einzel- 
nen,  der  dritte   den   relativen   Grad   der  Betonung  bestimmt.     Das 


2^8  l^er  Lautwandel. 


nämliche  gilt  von  dem  vierten  Spielräume,  dem  der  Tonhöhe.  Nur 
kommt  bei  ihm  außerdem  in  Betracht,  daß  er  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  von  dem  ersten  und  dritten,  dem  Klangcharakter  des  Lauts 
und  der  Lautstärke,  abhängt,  da  namentlich  gewisse  Vokalklänge 
höhere,  andere  tiefere  Teiltöne  enthalten,  und  da  mit  der  Lautstärke 
infolge  der  eintretenden  größeren  Spannung  der  Stimmbänder  in 
der  Regel  auch  die  Tonhöhe  steigt.  Weil  bei  der  gewöhnlichen 
Rede  die  Variationen  der  Tonhöhe  nicht  bedeutend  zu  sein  pflegen, 
so  machen  sie  sich  hier  hauptsächlich  in  dieser  Verbindung  mit  den 
Abstufungen  der  Lautstärke  geltend;  daher  man  wohl  auch  beide 
in  dem  Begriffe  der  »dynamischen«  Variationen  zusammenfaßt.  Doch 
abgesehen  vom  Gesang,  wo  es  auf  der  Hand  liegt,  bilden  immer- 
hin schon  in  der  gewöhnlichen  Rede  die  Variationen  der  Tonhöhe 
ein  selbständiges  Moment,  in  welchem  namentlich  gewisse  Schwan- 
kungen in  den  Gefühlsbetonungen  der  Wörter  zum  Ausdrucke 
kommen.  Durch  die  innerhalb  jener  vier  Spielräume  möglichen 
Variationen  sowie  durch  die  Wirkungen,  die  diese  Schwankungen 
wieder  aufeinander  ausüben,  ist  nun  fortwährend  die  Möglichkeit  zu 
allmählichen  Lautänderungen  gegeben.  In  der  Tat  sehen  wir  solche 
regelmäßig  bereits  während  des  individuellen  Lebens  eintreten, 
namentlich  wenn  zu  den  allgemeinen  Bedingungen  psychophysischer 
Entwicklung  noch  besondere  Einflüsse  hinzutreten,  wie  sie  Erziehung, 
Bildung  und  Verkehr  mit  sich  führen.  Selten  wird  daher  die  Sprache 
eines  Menschen  in  zwei  zeitlich  weit  auseinander  liegenden  Perioden 
seines  Lebens  genau  den  gleichen  Lautcharakter  besitzen.  Vielmehr 
vollzieht  sich  hier  in  beschränktem  Umfang  ein  stetiger  Laut- 
wandel, der  sich  dann  naturgemäß  bei  dem  Übergange  von  einer 
Generation  zur  andern  in  dem  Maße  steigern  muß,  als  sich  bei 
diesem  Wechsel  nicht  nur  die  individuellen  Wirkungen  fortwährend 
summieren,  sondern  auch  in  der  Ausbreitung  gewisser  ursprünglich 
individueller  Abweichungen  ein  weiterer  abändernder  Einfluß  hervor- 
tritt, den  die  Bedingungen  des  gesellschaftlichen  Lebens  selbständig 
mit  sich  führen. 


Störungen  der  Lautbildung.  27g 


3.   Störungen  der  Lautbildung. 

Von  anderer  Beschaffenheit  ist  die  zweite  Klasse  der  obenge- 
nannten Bedingungen  möglicher  Artikulationsänderungen,  die  der 
Artikulationsfehler.  Gröbere  Fehler  von  konstanter  Beschaffenheit 
sind  Wirkungen  pathologischer  Zustände,  die  als  solche  außerhalb 
des  Kreises  normaler  Lautänderungen  liegen,  aber  deshalb  hier 
herbeigezogen  werden  müssen,  weil  sie  gewissen  noch  in  die  Breite 
des  normalen  Lebens  fallenden  Erscheinungen  analog  sind.  Nach 
ihren  Symptomen  lassen  sich  die  pathologischen  wie  die  normalen 
Artikulationsfehler  in  drei  Klassen  ordnen,  zwischen  denen  übri- 
gens mannigfache  Übergänge  vorkommen  können:  in  die  Laut- 
erschwerungen (Dyslalien),  die  Lautv  er  mengungen  (Paralalien) 
und  die  Wortvermengungen  (Onomatomixien).  Dabei  verstehen 
wir  unter  den  »Lautvermengungen«,  deren  es,  ebenso  wie  der  »Laut- 
erschwerungen« ,  mehrere  Formen  gibt,  speziell  solche  Störungen 
der  Lautbildung,  die  durch  die  Einwirkung  von  Lauten  des  glei- 
chen Wortes  oder  dicht  aneinander  grenzender  Wörter  zustande 
kommen,  während  wir  Lautstörungen,  die  durch  die  Einwirkung 
ganz  verschiedener  und  nicht  unmittelbar  verbundener  Wörter  ent- 
stehen, unter  dem  Begriffe  der  »Wortvermengung«  (Onomatomixie) 
zusammenfassen.  Diese  dritte  Klasse  wird  von  der  zweiten  in  der 
Regel  nicht  geschieden.  Dennoch  ist  dies  ebensowohl  um  des  ver- 
schiedenen Charakters  der  Erscheinungen  willen,  wie  v/egen  der 
Beziehungen,  die  sie  zu  wesentlich  verschiedenen  Vorgängen  des 
generellen  Lautwechsels  darbieten,  unbedingt  erforderlich']. 


')  Zusammenfassende  Darstellungen  der  pathologischen  Sprachstörungen  geben 
A.  Kußmaul,  Störungen  der  Sprache,  1877,  S.  186  ff.,  und  A.  Liebmann,  Vorlesungen 
über  Sprachstörungen,  Heft  i — 4,  1898 — 1900.  Neben  den  Dyslalien,  Paralalien 
und  der  Onomatomixie  umfassen  die  zentral  bedingten  Sprachstörungen  noch  die 
verschiedenen  Formen  der  >Aphasie«,  bei  denen  die  Wortbildung  entweder  ganz 
oder  nach  gewissen  Richtungen  hin  aufgehoben  ist,  sowie  die  Erscheinungen  der 
Wortverwechselung  und  fehlerhaften  Neubildung,  die  wir  zur  Unterscheidung  von 
der  bloß  auf  falscher  Lautartikulation  beruhenden  »Paralalie«  als  »Paraphasie«  be- 
zeichnen wollen.  Die  letztere  ist  häufig  zugleich  verbunden  mit  Fehlern  der  syn- 
taktischen Satzfügung,  der  »Akataphasie«,  wie  sie  Steinthal  (Einl.  in  die  Psychologie 
und  Sprachw.  S.  479)  zu  nennen  vorschlug.  Die  >Aphasie«  und  »Paraphasie«  wer- 
den uns,  als  Symptome,  die  für  die  psychophysischen  Bedingimgen  der  Wortbildung 


jSo  Der  Lautwandel. 


a.    Lauterschwerungen. 

Die  Lauterschwerungen  oder  Dyslalien  können  entweder 
auf  fehlerhafter  Bildung  der  peripheren  Sprachwerkzeuge  oder  auf 
zentralen  Innervationsstörungen,  oder  sie  können  endlich  —  und  in 
gewissem  Grad  ist  das  wahrscheinlich  die  Regel  —  auf  beiden 
Momenten  zugleich  beruhen.  Ihre  Symptome  bestehen  in  einer 
Erschwerung  der  Artikulation,  die  entweder  alle  Laute  oder  bloß 
einzelne  treffen  kann.  Ist  dabei  die  Fähigkeit  der  Erzeugung  der 
Laute  vorhanden  und  ihre  Hervorbringung  nur  durch  organische 
Bedingungen  erschwert,  so  entstehen  die  Erscheinungen  des  Stam- 
meins und  Silbenstolperns.  Bei  ihnen  pflegen  sich  stets  mit 
peripheren  Erschwerungen  zentrale  Innervationsstörungen  zu  ver- 
binden. Als  der  mildeste  Fall  der  letzteren  Art  ist  der  Mangel  an 
Übung  in  deutlicher  Artikulation,  wie  er  als  Folge  fehlerhafter 
Erziehung  und  Selbsterziehung  sehr  häufig  vorkommt,  hierher  zu 
rechnen.  Ebenso  wird  das  durch  periphere  Erschwerungen  oder 
mangelnde  Sprachübung  entstehende  Stammeln  durch  die  Angst- 
gefühle, die  das  Sprechen  begleiten,  und  die  auch  mit  sonstigen 
Störungen  der  Koordination  der  Bewegungen  verbunden  sind,  er- 
heblich gesteigert.  Hier  grenzt  übrigens  das  Abnorme  oft  dicht  an 
das  noch  Normale.  Denn  jenes  besteht  eigentlich  nur  in  einer 
schon  bei  ganz  geringfügigen  Anlässen  eintretenden  Erschwerung 
des  Sprechens,  ähnlich  derjenigen,  die  auch  dem  gesunden  Sprach- 
organ unter  etwas  schwierigeren  Bedingungen  widerfährt.  Minde- 
stens bedarf  es  einer  besonderen  Übung,  um  nicht  bei  dem  Ver- 
suche, schwer  zu  artikulierende  oder  ungewöhnlich  lange  Wörter 
und  Phrasen  schnell  auszusprechen,  dem  Stammeln  und  Silben- 
stolpern  anheimzufallen:  so  bei  dem  bekannten  *^Fritz  frißt  frische 
Fische'  usw. 


bedeutsam  sind,  im  nächsten  Kapitel  beschäftigen.  In  den  pathologischen  Arbeiten 
werden  die  Störungen  der  Lautbildung  und  der  Wortbildung  im  allgemeinen  nicht 
zureichend  geschieden,  daher  man  auch  meist  die  Bezeichnungen  »Paralalie«  und 
»Paraphasie«  promiscue  auf  beide  anwendet.  Eine  Art  Mittelglied  zwischen  diesen 
Gruppen  bildet  die  »Wortverm engung«,  insofern  sie  Laut-  und  Wortbildungsfehler 
zugleich  ist.  Wir  reihen  sie  aber  hier  wegen  ihrer  nahen  Beziehungen  zu  gewissen 
allgemeinen  Erscheinungen  des  Lautwandels  den  »Paralalien«  an. 


Störungen  der  Lautbildung.  ßgl 

Wesentlich  verschieden  von  diesen  mit  den  Artikulations- 
erschwerungen der  normalen  Sprache  verwandten  Erscheinungen 
des  Stammeins  sind  die  des  Stottern s.  Sie  beruhen  auf  einer 
tetanischen  krampfhaften  Innervation  der  Artikulationsorgane,  sind 
also,  wie  aus  ihren  Symptomen  hervorgeht,  vorwiegend  zentralen 
Ursprungs,  wobei  jedoch  wiederum  periphere  Ursachen  ihren  Ein- 
tritt begünstigen  können.  Auch  der  auffallende  Einfluß  psychischer 
Bedingungen,  die  Verstärkung  des  Übels  durch  Angstgefühle,  seine 
Milderung  durch  methodische  Erziehung  und  vor  allem  durch 
Übung  in  willkürlicher  langsamer  Artikulation,  bestätigt  in  diesem 
Falle  die  zentrale  Entstehungsweise.  Auf  gemischte  Ursachen  sind 
schließlich  die  auf  einzelne  Laute  beschränkten  Artikula- 
tionsfehler zurückzuführen,  insofern  bei  ihnen  ebenso  die  man- 
gelnde Beweglichkeit  der  äußeren  Organe  auf  die  Innervation  wie 
umgekehrt  die  mangelnde  Übung  dieser  auf  die  Organe  zurück- 
wirken kann.  Die  beschränkten  Artikulationsfehler  dieser  Art  führen 
regelmäßig  zu  Lautvertretungen.  Dabei  lassen  sich  zwei  verschie- 
dene Grade  der  letzteren  unterscheiden.  Der  stärkere  besteht  in  der 
Substitution  eines  Lautes  von  ganz  abweichender  Artikulationsform, 
z.  B.  in  der  Vertretung  der  Gaumenlaute  durch  Resonanzlaute,  der 
Lippenlaute  durch  Zungenlaute  oder  umgekehrt.  Dies  sind  Lautver- 
tretungen, wie  man  sie  auch  beim  Kind  in  der  Zeit  des  Sprechen- 
lernens (S.  302  ff.),  sowie  bei  der  Assimilation  der  Wörter  einer 
Sprache  durch  eine  andere  von  abweichendem  Lautsystem  be- 
obachtet. Der  schwächere  Grad  der  Lautvertretung  äußert  sich 
in  der  Vertauschung  nahe  verwandter  Laute,  wie  z.  B.  in  dem 
Ersatz  des  Zungen -r  durch  das  Rachen- r,  der  Tenuis  /,  /',  / 
durch  die  Media  b^  g,  d  usw.,  Fälle,  die  bereits  durchaus  in  die 
Breite  normaler  Abweichungen  und  dialektischer  Unterschiede  hin- 
überspielen. Abgesehen  von  diesen  eigentlich  nicht  hierher,  son- 
dern zu  den  generellen  Lautabweichungen  der  Sprache  gehörenden 
Erscheinungen,  bilden  die  Dyslalien  denjenigen  Grenzfall  individueller 
Lautstörungen,  wo  diese  ihrer  Natur  nach  individuell  bleiben. 
Denn  indem  die  besonderen  zentralen  und  peripheren  Momente,  die 
eine  derartige  Erschwerung  der  Artikulation  herbeiführen,  aus  sin- 
gulären  Bedingungen  der  psychophysischen  Organisation  entsprin- 
gen,  verschwinden  sie   im    allgemeinen   mit    dem  Individuum,    bei 


2 §2  Der  Lautwandel. 


dem  sich  jene  Bedingungen  vorfanden.  Darin  unterscheiden  sie 
sich  wesentlich  von  den  folgenden  Lautstörungen ,  bei  denen  eine 
jede  individuell  eintretende  Abweichung  in  vielen  andern  Individuen 
analoge  Bedingungen  vorfindet,  so  daß  wenigstens  einzelne  der  in- 
dividuell entstandenen  Lautabweichungen  zu  genereller  Verbreitung 
gelangen  können. 

b.    Laut  vermengung  an. 

Im  Unterschiede  von  den  verschiedenen  Formen  der  Dyslalie 
bleiben  bei  den  Lautvermengungen  oder  Paralalien  die  einzel- 
nen Lautbildungen  an  sich  normal,  aber  ihre  Ordnung  in  der  Zu- 
sammenfügung zum  Worte  wird  gestört.  In  diesem  Symptom  liegt 
schon  deutlich  ausgesprochen,  daß  ausschließlich  zentrale  Ursachen, 
und  zwar  solche,  die  den  höheren  Zentralgebieten  angehören,  der 
pathologischen  Paralalie  zugrunde  liegen.  Während  uns  ferner  bei 
den  Dyslalien,  soweit  sie  zentral  bedingt  sind,  überall  nur  Störun- 
gen der  Reflex-  oder  Koordinationsverbindungen  begegnen,  ohne 
daß  diesen  physiologischen  Vorgängen,  die  sich  durchgängig  in 
den  niedrigeren  Nervenzentren  abspielen,  psychische  Abweichungen 
parallel  gehen,  sind  umgekehrt  bei  den  krankhaften  Formen  der 
Paralalie  solche  in  der  Regel  vorhanden.  So  beobachtet  man  denn 
auch  die  auffallendsten  dieser  Lautvermengungen  in  der  Sprache 
Geisteskranker').  Zu  den  noch  in  die  Breite  des  normalen  Lebens 
fallenden  »Paralalien«  gehören  viele  Erscheinungen  des  sogenannten 
Versprechens.  Sie  sind  ziemlich  regelmäßige  Begleitsymptome 
der  »Zerstreutheit«,  können  aber  außerdem  durch  eine  ungewöhn- 
liche Geschwindigkeit   des  Redeflusses  unterstützt   werden^).     Hier- 


^)  Über  die  Sprache  Geisteskranker  vgl.  Snell,  Allg.  Ztschr.  f.  Psychiatrie,  IX, 
1852,  S.  II  if.     Brosius,  ebenda  XIV,   1857,  S.  37  ff. 

2)  Meringer  und  Mayer,  Versprechen  und  Verlesen.  Eine  psychologisch-lin- 
guistische Studie,  1895.  Viele  der  in  dieser  Schrift  sorgfältig  gesammelten  Beispiele 
gehören  allerdings  nicht  hierher,  sondern  teils  zu  der  unten  zu  besprechenden  Wort- 
vermengung  (Onomatomixie),  teils  in  das  Gebiet  der  dem  nächsten  Kapitel  vorzu- 
behaltenden Wortbildungsfehler  (Paraphasien).  Der  populäre  Begriff  des  »Ver- 
sprechens« umfaßt  eben  unterschiedslos  alle  diese  -  Sprachstörungen ,  die  wesentlich 
abweichende  psychologische  Bedingungen  darbieten.  Meringer  und  Mayer  dehnen 
aber  auch,  wie  ich  glaube,  den  Begriff  des  »Versprechens«  in  einigen  Fällen  auf 
Redeformen  aus,  die  zwar  ungewöhnlich,  deshalb  aber  doch  nicht  den  Sprach- 
störangen  zuzurechnen  sind,  so  z.  B.  auf  die  Vermischung  bildlicher  Ausdrücke,  wie 


Störungen  der  Lautbildung.  ^S- 


aus  ergibt  sich,  daß  auch  diese  normalen  Artikulationsfehler  über- 
wieg-end  infolge  psychischer  Ursachen  entstehen,  denen  gegenüber 
periphere  Bedingungen  nur  von  sekundärer  und  untergeordneter 
Bedeutung  sind.  Denn  der  Zustand  der  »Zerstreutheit«  pflegt  in 
einer  Ablenkung  der  Aufmerksamkeit  zu  bestehen,  die  ein  Ab- 
schweifen auf  assoziierte,  namentlich  auch  auf  die  unmittelbar  nach- 
folgenden oder  vorausgehenden  Lautvorstellungen  möglich  macht. 
Suchen  wir  die  pathologischen  Paralalien  sowie  die  gewöhnlichen 
Erscheinungen  des  »Versprechens«,  soweit  sie  dem  Gebiete  der 
oben  definierten  eigentlichen  Lautvermengungen  angehören,  nach 
psychologischen  Gesichtspunkten  zu  ordnen,  so  lassen  sich  die- 
selben zunächst  in  die  drei  Klassen  der  Einschaltungen,  der 
Auslassungen  und  der  Umstellungen  der  Laute  unterscheiden. 
Die  erste  dieser  Erscheinungen,  die  Einschaltung,  findet  sich  in 
pathologischen  Fällen  außerordentlich  häufig.  Sie  kann  sich  hier 
zu  Einfügungen  ganzer  Wort-  und  Satzbildungen  erweitern  oder  auch 
aus  völlig  sinnlosen  Lautbildungen  bestehen.  In  allen  diesen  Fällen 
sind  die  eingeschalteten  Laute  durch  ihre  häufige  Wiederholung  in 
hohem  Grad  eingeübt,  so  daß  sie  offenbar  meist  absichtslos  und 
nur  dunkel  bewußt  auftreten.  Sie  werden  vor  allem  da  in  den  Zu- 
sammenhang der  Rede  eingefügt,  wo  diese  aus  irgendeinem  Grunde 
vorübergehend  stockt;  doch  können  sich  in  extremen  Fällen  die 
Schaltlaute  auch  fortwährend  und  zwangsweise  der  Artikulation  auf- 
drängen'). Die  nämlichen  Erscheinungen  kommen  übrigens  in  allen 
ihren  Formen,  nur  in  der  Regel  in  geringeren  Graden,  als  soge- 
nannte »üble  Gewohnheiten«  auch  bei  sonst  normalen  Menschen 
vor.  Einschaltungen  unartikulierter  geräusperter  Zwischenlaute  be- 
obachtet man  namentlich  bei  solchen,  die  häufig  öffentlich  vortragen, 
z.  B.  bei  akademischen  Lehrern  und  Parlamentsrednern.  Offenbar 
bildet  gerade  bei  ihnen  das  Stocken  des  Gedankenflusses  besonders 
leicht  Anlaß   zu   einer  unwillkürlicheu  Ausfüllung   der  Pausen,    die 


sie  in  der  poetischen  Redeweise  vorkommt.  Shakespeares  Worte  im  Hamlet  »Or 
to  take  arms  against  a  sea  of  troubles,  and  by  opposing  end  them«  halte  Ich  nicht 
mit  den  Verff.  für  eine  falsche  Kontamination  (S.  58),  sondern  für  eine  sehr  schöne 
Metapher.  Denn  die  Verstärkung  des  Eindnicks  durch  eine  Verbindung  der  Bilder 
ist  eine  berechtigte  Eigentümlichkeit  der  Metapher.  (Vgl.  unten  Kap.  VIII,  Nr.  V,  4.) 
']  Kraepelin,  Psychiatrie,^  I,  S.  146. 


384 


Der  Lautwandel. 


dann  zur  Gewohnheit  wird,  so  daß  sie  schließlich  auch  da  eintritt, 
wo  jene  ursprüngliche  Ursache  hinwegfällt.  Innerhalb  längerer 
Wörter  sind  Schaltlaute  als  Silbenwiederholungen,  z.  B.  Indedetermi- 
nisimis  für  Indcterininisimis^  oder  als  einfache  Trennungen  zweier 
Laute,  z.  B.  netonatoriim  für  neonatorum^  beim  gewöhnlichen  Ver- 
sprechen nicht  ganz  selten.  Eine  besondere  Modifikation  der  Ein- 
schaltungsgewohnheiten ist  es,  wenn  manche  Personen  die  Schluß- 
worte der  Sätze  zu  wiederholen  pflegen.  Da  der  Satzschluß  in  der 
Regel  mit  einer  Pause  des  Vorstellungsverlaufes  zusammenfällt,  so 
ist  dies  übrigens  nur  ein  spezieller  Fall  der  allgemeinen  Tatsache, 
daß  die  Schaltlaute  vorzugsweise  in  derartigen  Zwischenpausen  auf- 
treten. 

Die  zweite  Klasse  der  Paralalien  besteht  in  der  Auslass ung 
von  Lauten.  Sie  geht  leicht  durch  Auslassung  ganzer  Wörter  in 
die  syntaktischen  Sprachfehler  über.  Bei  der  Lautfolge  im  einzel- 
nen Worte  tritt  die  Auslassung  besonders  bei  längeren  Wörtern 
ein ,  und  es  sind  hier  vorzugsweise  die  mittleren  Laute ,  die  aus- 
fallen: die  Lautbildung  eilt  ihrem  Ende  zu.  So  in  der  Ideenflucht 
der  Irren,  wo  leicht  nicht  nur  Worte,  sondern  ganze  Satzteile  aus- 
fallen können;  aber  auch  beim  gewöhnlichen  Versprechen,  nament- 
lich in  sehr  schneller  Rede:  z.  B.  Snbstution  für  Substitution ^  Cha- 
raktologie  für  Charakterologie ^  aller  Leute  für  allerlei  Leute  u.  ä. 
Durch  die  schon  hier  sichtlich  in  die  Erscheinung  tretende  Wirkung 
des  Folgenden,  das  zu  früh  im  Bewußtsein  aufsteigt  und  daher  die 
Lautbewegungen  überstürzt,  geht  diese  Verkürzung  in  die  Erschei- 
nungen der  folgenden  Klasse  über. 

Diese  dritte  Klasse  ist  die  der  Umstellungen.  Eine  Um- 
stellung von  Lauten  ist  in  doppelter  Weise  möglich.  Entweder 
wird  ein  späterer  Laut  vor  einem  andern,  der  ihm  vorausgehen 
sollte,  gebildet;  oder  ein  früherer  Laut  folgt  einem  andern  nach, 
der  eigentlich  später  kommen  sollte.  Wo  es  sich  um  eine  reine 
Umstellung  handelt,  da  sind  natürlich  beide  Fälle  immer  zugleich 
vorhanden:  jede  Antizipation  ist  für  den  Laut,  der  durch  den  vor- 
ausgenommenen zurückgedrängt  wird,  eine  Postposition,  und  um- 
gekehrt. Doch  sind  die  Störungen  von  verschiedenen  Neben- 
symptomen begleitet,  die  bald  auf  die  eine,  bald  auf  die  andere 
Erscheinung  als  die  primäre  und  für  beide  zugleich  auf  abweichende 


Störungen  der  Lautbildung.  7  8  c 


Ursachen  hinweisen.     Die  Vorausnahme  besteht  nämlich  entweder 
in  einer  einfachen  Umstellung,   wobei  ein  einzelner  Laut  oder  ein 
ganzer  Lautkomplex  mit  einem  folgenden  vertauscht  wird,  wie  z.  B. 
bei  der  Umwandlung  von  begleiten  in  gebleiten^  von  Raum  und  Zeit 
in  Zaum  und  Reit^  von  Rotkohl  in  Kohlrot.     Oder  sie  ist  mit  laut- 
lichen Veränderungen  verbunden,  bei  denen  sichtlich  die  ursprüng- 
liche Lautform   auf  die   veränderte  noch  eingewirkt  hat,   wie  z.  B. 
bei   dem   Übergänge   von    Totschläger    in    Schlagtoter.      In    beiden 
Fällen  kann  kein  Zweifel    daran  bestehen,    daß    die   Vorausnahme 
eines  im   regelmäßigen  Vorstellungsverlaufe   nachfolgenden  Gliedes 
die  Ursache,   und  die   eintretende  Veränderung  der   wirklich    nach- 
folgenden bloß  eine  Folge  jener  Antizipation  ist.     Diese  selbst  be- 
ruht aber  offenbar  darauf,    daß  die  Wortvorstellungen  samt  den  an 
sie  gebundenen  Artikulationsimpulsen  dem  Fluß   der  Rede  voraus- 
eilen.    Im  Verlaufe  der  normalen  Rede   ist   fortwährend  die  Hem- 
mungsfunktion des  Willens  dahin  gerichtet,  Vorstellungsverlauf  und 
Artikulationsbewegung   miteinander  in  Einklang  zu  bringen.     Wird 
die  den  Vorstellungen  folgende  Ausdrucksbewegung  durch  mecha- 
nische Ursachen  verlangsamt,    wie  beim  Schreiben  oder  aber  auch 
bei  der  Rede  des  Stammelnden,   so  treten  daher   solche  Antizipa- 
tionen   besonders    leicht    ein.      Wir  verschreiben    uns  schon   unter 
normalen  Verhältnissen  leichter  als  wir  uns  versprechen,  und  in  den 
Schriftstücken    der    Idioten    und    paralytischen    Geisteskranken    ist, 
neben  der   Auslassung  von  Silben   oder  Buchstaben,    die  Voraus- 
nahme nachfolgender  Schriftzeichen  eine  häufige  Erscheinung.     Bei 
den    nämlichen    Kranken    findet    man    aber    auch  nicht  selten    das 
Symptom  des  sogenannten  »Silbenstolperns«,  das  eben  aus  solchen 
Vorausnahmen  der  Laute  und  den  ihnen  folgenden  Wirkungen  be- 
steht.    Die  häufigste  dieser  Wirkungen   ist   die,   daß    während  der 
Antizipation  einer  folgenden  Wortvorstellung  auch  die  normale  Asso- 
ziation der  Laute,   namentlich  wenn  diese  durch  mehrfache  Anwen- 
dung eingeübt  ist,  auf  die  momentane  Artikulation  einwirkt,  wodurch 
sich  dann  diese  aus  beiden  Wirkungen  zusammensetzt:    so  bei   der 
Umkehrung  von    Totschläger  in  Schlagtoter. 

Von  allen  diesen  Erscheinungen  unterscheiden  sich  durchaus 
diejenigen  Symptome,  die  entstehen,  wenn  ein  bestimmter  Laut 
oder  Lautkomplex  eine  verspätete  Wirkung  auf  das   Bewußtsein 

Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  25 


•  36  Der  Lautwandel. 


ausübt.     Eine  solche  kann  unabhängig  von  gleichzeitigen  Voraus- 
nahmen, die  dann  stets  als  das  Primäre  anzusehen  sind,   nur  in  der 
Form  einer  Nachwirkung  stattfinden,  bei  der  ein  vorangegangener 
Laut  noch  als  Vorstellung  im  Bewußtsein  bleibt,  während  sich  die 
folgenden   Sprachbewegungen  bereits  abspielen.      Dadurch  entsteht 
aber  entweder  eine  Vermischung  jenes  vorausgegangenen  mit  dem 
augenblicklich  geforderten  Laut  oder  eine  völlige  Verdrängung  des 
letzteren  durch  jenen.     So    in    Ar  trillerte  für    Artillerie^    Pomode 
für  Pomade^    Rautenkraune  für  Rautenkrone.     Besser   als   die  Aus- 
drücke Antizipation  und  Postposition  drücken  daher  die  andern  der 
Vorausnahme  und  Nachwirkung  das  Verhältnis  der  Vorgänge 
aus.     Zugleich  machen  es  diese  Ausdrücke  unmittelbar  verständlich, 
daß  die  durch  Vorausnahme  der  Artikulationen  entstehenden  Sprech- 
fehler im   allgemeinen  häufiger  sind  als    die   aus   der  Nachwirkung 
der  Laute   entspringenden.     Daß   der   Vorstellungsverlauf  schneller 
dahineilt  als  die  Sprachbewegungen,  ist  eben   eine  sehr  leicht  vor- 
kommende,   namentlich    aber    eine   jeden    Nachlaß    der    normalen 
Willenshemmung  begleitende  Erscheinung.     Darum  versprechen  wir 
uns  in  dieser  Weise  so  leicht,  wenn  wir  »zerstreut«  sind.    Dagegen 
verschwindet  das  gesprochene  Wort  in  der  Regel  sehr  schnell  aus 
dem  Bewußtsein,  und  nur  ausnahmsweise,   wenn  aus  irgendwelchen 
Gründen   die  Vorstellungsbewegung    gehemmt    ist,    bleibt    dasselbe 
noch,  während  sich  schon  ein  neues  Wort  zur  Apperzeption  drängt. 
Einen  Fall   dieser  Art  haben  wir   bei  den  regelmäßig  progressiven 
Lautangleichungen  der  kindlichen  Sprache  beobachtet,   wo   eben 
offenbar  die  Schwerfälligkeit  der  Vorstellungsbewegung,  die  aus  dem 
Mangel  an  Übung  entspringt,  die  Quelle  der  Erscheinung  ist  (S.  306). 
Wegen  ihrer  wesentlich  verschiedenen  Bedingungen  kommen   übri- 
gens die  Vorausnahme  und  die  Nachwirkung  der  Laute  selten  neben- 
einander, und  namentlich  innerhalb  einer  und  derselben  Umstellung 
fast  niemals  vor.      Nur  die  pathologischen   Fälle  bieten  hierzu  ge- 
legentliche Beispiele,  wie  in  Rartrillerie  für  Artillerie.    Doch  mögen 
hier   noch  besondere  Ursachen,    in   diesem  Beispiel  wahrscheinlich 
eine  abnorme  Neigung  zur  Artikulation  des  r,  hinzukommen. 


Störungen  der  Lautbildung.  -igy 


c.    Wortvermeng ungen. 

Durch  ihre  dem  eigenen  Verlauf  der  Vorstellungen  und  Arti- 
kulationen entgegengesetzte  Richtung  nähern  sich  die  Nachwirkungen 
der  Laute  bereits  der  dritten  Klasse  individueller  Sprachstörungen, 
den  Wortvermengungen ,  unter  denen  wir  hier  Artikulationsfehler 
verstehen,  die  infolge  von  Assoziationen  mit  andern  laut-  oder 
begriffsverwandten  Wörtern  eintreten.  Von  den  Erscheinungen  des 
gewöhnlichen  Versprechens  gehört  hierher  wahrscheinlich  die  aus- 
nehmend häufige  Verwechselung  von  Fisc/i  und  Schijf  ^  wo  sowohl 
das  erste  für  das  zweite  wie  das  zweite  für  das  erste  Wort  ein- 
treten kann.  Zwar  läßt  sich  dies  Beispiel  auch  als  eine  Vor- 
ausnahme der  Laute  deuten.  Doch  stehen  beide  Wörter  jedenfalls 
unter  einer  wechselseitigen  lautlichen  und  begrifflichen  Assoziations- 
wirkung, die  wahrscheinlich  zusammen  den  Austausch  vermitteln. 
Häufiger  kommen  ähnliche  Erscheinungen  in  der  Form  falscher 
Wortzusammensetzungen  vor,  wobei  die  Bestandteile  aus  verschie- 
denen assoziativ  verbundenen  Wörtern  bestehen,  z.  B.  Zwittellaut^ 
zusammengesetzt  aus  Mittellaut  und  Ztvitterlaut.  Namentlich  kurz 
vorher  gesprochene  Laute  oder  Wörter  assoziieren  sich  leicht  auf 
diese  Weise  mit  den  nachfolgenden.  Jemand  hat  z.  B,  eben  von 
Gegenstä?iden  gesprochen  und  redet  dann  von  der  "^Verschärfung 
der  Gegenstände^  statt  der  'Verschärfung  der  Gegejisätze^ .  Oder: 
''erworbene  Körperveränderungen  erwerben  sich  nicht'  statt  ^ver- 
erben sich  nicht',  konkret  und  kontrakt  statt  abstrakt  usw. ').  Auch 
bei  Geisteskranken  sind  derartige  Phänomene  nicht  selten.  Sie 
kommen  hier  besonders  in  der  Form  der  Neubildung  von  Wörtern 
vor,  die  freilich  manchmal  ganz  willkürliche  oder  zufällig  aufge- 
griffene Lautgebilde  sein  können,  oft  aber  auch  aus  der  Asso- 
ziation zweier  irgendwie  lautlich  verwandter  oder  sonst  in  Beziehung 
stehender  Wörter  hervorgehen,  wie  z.  B.  Idensität  aus  Identität 
und  Intensität^  Kontraktionskohäsion  durch  Lautassoziation  von 
Kontraktion  und  Kohäsion  u.  a.  Mehr  als  in  solchen  einzelnen 
Wortbildungen     gibt     sich     übrigens     die     ungeheure     Macht     der 


^)  Eine   Reihe   hierher   gehöriger  Beispiele  s.  bei  Meringer  und  Mayer  a.  a.  O. 
S.  44  ff- 

25* 


388 


Der  Lautwandel. 


Lautassoziationen  bei  der  Ideenflucht  der  Irren  in  den  Wortwieder- 
holungen zu  erkennen,  bei  denen  Laute,  die  ursprünglich  vielleicht 
zufällig  zusammengeraten  sind,  fortwährend  in  der  nämlichen  äuße- 
ren Assoziation  wiederkehren"). 

Abgesehen  von  diesen  Fällen  des  normalen  Zerstreutseins  oder 
der  pathologischen  Gedankenverwirrung,  die  beide  auf  die  gleiche 
Ursache,  auf  die  Vorherrschaft  loser  Assoziationen  bei  schweifender 
Aufmerksamkeit,  zurückführen,  kommt  die  Onomatomixie  aber  auch 
noch  unter  einer  wesentlich  andern  Bedingung  vor,  nämlich  bei 
mangelnder  Übung  im  Gebrauch  der  Sprache  überhaupt  oder  ge- 
wisser in  dem  gegebenen  Zusammenhang  benutzter  Wörter,  an  deren 
Stelle  sich  dann  andere  irgendwie  lautverwandte  ganz  oder  teilweise 
einschieben.  So  nicht  selten  beim  Reden  in  einer  fremden  Sprache, 
als  Bestandteil  des  sogenannten  Radebrechens.  Dann  aber  auch 
bei  der  verwandten  Erscheinung  des  »Messingisch«,  den  Vermischun- 
gen von  Dialekt  und  Schriftsprache  bei  solchen,  die  in  der  letzteren 
ungeübt  sind,  oder  endlich  oft  besonders  drastisch  in  der  Ver- 
mischung von  Fremdwörtern.  Fritz  Reuter  bietet  namentlich  in  der 
»Stromtid«  dafür  zahlreiche  Beispiele,  z.  B.  Elemente  statt  Eleven^ 
Gregoriiis  für  Chirurgiis  ^  Operamente  statt  Operationen  (Assozia- 
tion mit  Sakramente)^  qualifikaziert  statt  qualifiziert,  nach  Analogie 
von  Qualifikation,  "^ich  bin  dem  Herrn  Großherzog  sein  Fasan ,  statt 
Vasall  usw.  In  diesen  Fällen  ist  es  die  unzureichende  Festigkeit 
der  Assoziation  zwischen  dem  Begriff  und  dem  zugehörigen  Wort, 
die  eine  teilweise  oder  vollständige  Verdrängung  durch  ein  anderes 
lautverwandtes  Wort  oder  auch,  wie  z.  B.  in  qualifikaziert,  eine 
Vermengung  mit  einer  andern  Ableitungsform  des  gleichen  Wortes 
herbeiführt. 

Diesen  Erscheinungen  nahe  verwandt  sind  schließlich  die  falschen 
Wortbildungen  in  der  Sprache  des  Kindes,  die  besonders  in  den 
späteren,  der  vollen  Beherrschung  der  Sprache  unmittelbar  voran- 
gehenden Stadien  vorkommen,  am  meisten  in  der  Zeit  zwischen 
dem  dritten  und  sechsten  Lebensjahr,  aber  auch  noch  darüber  hinaus 
in  einzelnen  Fehlgriffen  andauernd.  Vermengungen  der  Stamm- 
bestandteile laut-  oder  begfriffsverwandter  Wörter  finden  sich  in  der 


Beispiele  vgl.  bei  Brosius  a.  a.  O.  S.  52  ff.     Kraepelin,  a.  a.  O.  S.  146  ff. 


Störungen  der  Lautbildung.  agg 


Kindersprache  selten;  augenscheinlich  weil  der  Wortvorrat  über- 
haupt noch  ein  beschränkter  ist.  Um  so  mehr  wirken  die  Ab- 
wandlungsformen des  gleichen  Wortes  oder  verschiedener  Wörter 
aufeinander  ein  und  bewirken  dadurch  die  mannigfachsten  Ver- 
mengungen der  Wortformen.  So  bildete  ein  Kind  das  Substantiv 
Setz  statt  Sitz  durch  Assoziation  mit  setzen,  zu  Ameise  einen 
falschen  Singular  Äinaiis  nach  Analogie  zu  Maus,  Mäuse.  Am 
verbreitetsten  sind  aber,  offenbar  wegen  ihrer  die  sichere  Ein- 
übung erschwerenden  Mannigfaltigkeit,  die  durch  Assoziationen 
bewirkten  Abweichungen  der  Verbalflexion.  Sie  können  in  den 
verschiedensten  Richtungen  auftreten.  Besonders  das  deutsche  Prä- 
teritum mit  seinem  Wechsel  zwischen  starker  und  schwacher  Form 
und  seinen  verschiedenen  vokalischen  Umlauten  innerhalb  der 
ersteren  bietet  Anlaß  zu  außerordentlich  häufigen  Vermengungen. 
So  bildete  ein  von  mir  beobachtetes  Kind  scJiaß  zu  schießen, 
offenbar  durch  Vermengung  mit  aß  zu  essen,  dagegen  Iß  zu  essen 
durch  Vermengung  mit  ließ  zu  lassen.  Zugleich  ist  bei  allen 
diesen  Vermengungen  verschiedener  Wortformen  leicht  zu  bemer- 
ken, daß  die  am  häufigsten  gebrauchten,  weil  sie  eben  die  ein- 
geübteren sind,  am  leichtesten  Assoziationswirkungen  äußern.  Hier- 
aus erklärt  sich,  daß  die  anomalen,  aus  abweichenden  Wort- 
stämmen gebildeten  Formen  leicht  nach  Analogie  der  normalen 
Bildungen  umgewandelt  werden:  also  guter  statt  besser,  vieler 
statt  mehr,  Svir  binnen  statt  Vir  sinc^  u.  dgl.  Auch  die  Erschei- 
nung, daß  das  Kind  beim  Gebrauch  der  Genera  das  Neutrum 
bevorzugt  oder  allein  anwendet,  gehört  hierher.  Infolge  des  ver- 
schwenderischen Gebrauchs  der  Diminutivbildungen  in  der  Kinder- 
sprache hat  in  dieser  das  Neutrum  von  vornherein  das  Über- 
gewicht, und  die  Macht  der  Übung  verschafft  ihm  daher  in  zweifel- 
haften Fällen  stets  die  Vorherrschaft.  Endlich  wird  hierdurch  die 
Tatsache  verständlich,  daß  die  überwiegende  Richtung  der  Ver- 
tauschungen im  Deutschen  beim  Nomen  wie  Verbum  in  der  Rich- 
tung von  der  starken  zur  schwachen  Form  geht.  Da  die  schwachen 
Formen  an  und  für  sich  schon  die  Mehrheit  bilden  und  außerdem 
durch  die  übrigen  Formen  des  gleichen  Wortes  begünstigt  werden, 
so  erkennt  man  darin  wiederum  die  Wirkung  der  größeren  asso- 
ziativen   Übung.      So    bildet  das    Kind   mit    Vorliebe    Formen    wie 


390 


Der  Lautwandel. 


gebte^  gehte^  trinkte  für  gab^  ging^  trank  usw.").  Zu  diesen  Wir- 
kungen der  assoziativen  Angleichung  anderer  Wortformen  an  die 
häufigsten  und  geübtesten  gehört  ohne  Zweifel  auch  die  in  die 
früheste  Zeit  der  Aneignung  der  Sprache  fallende  Ersetzung  aller 
mösflichen  andern  Verbalformen  durch  den  Infinitiv.  Sie  ist  die 
unmittelbare  Folge  des  ausgedehnten  Gebrauchs,  den  in  unseren 
modernen  Sprachen  der  Infinitiv  in  seinen  Verbindungen  mit  den 
Hilfsverben  findet.  Indem  in  solchen  Verbindungen  wie  'ich  will 
gehend  Verde  gehend  *^soll  gehen',  *^muß  gehen'  usw.  durch  alle 
Personen  der  Einzahl  und  Mehrzahl  hindurch  immer  das  Wort 
'gehen'  als  konstanter  Bestandteil  wiederkehrt,  wird  es  naturgemäß 
zu  derjenigen  Form,  die  zum  Ausdruck  aller  möglichen  Modifika- 
tionen des  Begriffs  dient,  solange  die  für  diese  in  der  Sprache  vor- 
handenen Ausdrucksformen  noch  nicht  geläufig  sind.  Auch  diese 
Erscheinung  ist  also  eine  Wirkung  der  Assoziationsübung,  die  nicht 
im  geringsten  etwa  mit  der  abstrakteren  Bedeutung  des  Infinitivs 
zusammenhängt,  für  die  das  Kind  in  dieser  Lebenszeit  überhaupt 
kein  Verständnis  hat.  Wie  andere  Sprachfehler,  so  kann  übrigens 
auch  dieser  bei  fortdauerndem  Mangel  an  Übung  in  begrifflicher 
Sonderung  der  Redeteile  aus  der  Kindheit  in  die  spätere  Lebenszeit 
mit  hinübergenommen  werden,  wo  er  dann  manchmal  irrtümlicher- 
weise für  absichtlichen  Lakonismus  gehalten  wird. 

Diese  Erscheinungen  der  Kindersprache  gleichen  bereits  so  sehr 
den  in  der  normalen  Sprachentwicklung  vorkommenden  sogenannten 
»Analogiebildungen«,  daß  man  vielfach  nicht  nur  auf  ihre  unver- 
kennbare Verwandtschaft  hingewiesen,  sondern  sogar  vermutet  hat, 
die  »Analogiebildungen«  seien  ursprünglich  aus  der  Kindersprache 
in  die  allgemeine  Sprache  eingedrungen.  Diese  Annahme  ist 
aber  kaum  wahrscheinlich.  Einerseits  ist  nicht  einzusehen,  warum 
nicht  dieselben  Assoziationsmotive,  die  beim  Kinde  wirksam  sind, 
auch    in    der    allgemeinen    Sprache   zur    Geltung    kommen    sollten. 


^)  Weitere  hierher  gehörige  Beispiele  vgl.  bei  Gust.  Lindner,  Aus  dem  Natur- 
garten der  Kindersprache,  1898,  S.  loi  fF.,  und  W.  Ament,  Entwicklung  von  Sprechen 
und  Denken,  S.  166  fF.  Analoge  Beobachtungen  an  französischen  Kindern  bei 
E-  Egger,  Observations  et  reflexions  sur  le  developpement  de  l'intelligence  et  du 
langage  chez  les  enfants,  1879,  p.  40.  Compayre,  Entwicklung  der  Kindesseele, 
S.  ^16  ff. 


Störungen  der  Lautbildung.  jQI 

Anderseits  weichen  die  Veränderungen  dieser  durch  ihre  allmähliche 
und  stetige  Entwicklung  so  sehr  ab  von  der  irregulären,  vielfach 
von  Fall  zu  Fall  wechselnden  Wortvermischung  des  Kindes,  daß 
ein  Zusammenhang  zunächst  doch  nur  in  der  Verwandtschaft  der 
Vorgänge  zu  bestehen  scheint.  Gerade  dieser  Zusammenhang  ist 
es  aber,  der  auch  hier  die  individuellen  Erscheinungen  für  das  Stu- 
dium der  generellen  wertvoll  macht,  weil  wir  bei  jenen  die  Vor- 
gänge, die  uns  hier  im  allgemeinen  nur  in  ihren  Resultaten  entgegen- 
treten, noch  in  ihrer  unmittelbaren  Entstehungsweise  beobachten 
können. 

Überblickt  man  die  gesamten  Laut-  und  Wortvermengungen, 
wie  sie  in  der  Breite  des  normalen  Lebens  bald  infolge  schwei- 
fender Aufmerksamkeit,  bald  als  Wirkungen  sich  überstürzenden 
Redeflusses  oder,  wie  beim  Kind,  als  solche  mangelnder  Artiku- 
lationsübung, und  in  gesteigerten  Maß  endlich  bei  der  sogenannten 
Ideenflucht  der  Geisteskranken  beobachtet  werden,  so  sind  es  offen- 
bar zwei  Punkte,  in  denen  alle  diese  Erscheinungen  übereinstimmen. 
Erstens  vollziehen  sie  sich  stets  absichtslos.  Die  Fehler  des  ge- 
vvöhnlichen  Versprechens  werden  entweder  von  dem  Redenden  selbst 
gar  nicht  bemerkt  oder  verspätet,  nachdem  das  falsche  Wort  längst 
ausgesprochen  ist.  Das  gilt  selbst  von  den  auffallendsten  dieser 
Sprechfehler,  von  den  Laut-  und  Worteinschaltungen,  wie  sie  als 
gewohnheitsmäßige  Ausfüllungen  der  Redepausen  bei  Gesunden  und 
besonders  bei  Geisteskranken  vorkommen.  Auch  diese  fühlen  sich 
widerstandslos  der  Macht  der  in  ihrem  Bewußtsein  auftauchenden 
und  die  Artikulationsorgane  zur  Mitbewegung  hinreißenden  Laut- 
vorstellungen, selbst  wenn  solche  aus  ganzen  Wortgruppen  und 
Sätzen  bestehen,  preisgegeben.  Zweitens  spielen  bei  der  Erzeugung 
dieser  Sprachfehler  gelegentlich  wohl  mechanische  Erschwerungen 
der  Artikulation  eine  gewisse  Rolle.  Doch  sind  sie  in  vielen  Fällen, 
namentlich  bei  den  Lautversetzungen  und  Wortvermengungen,  ganz 
ausgeschlossen.  So  ist  gebleiten  nicht  leichter  als  begleiten^  Artril- 
lerie  ist  schwieriger  als  Artillerie  usw.  Was  dagegen  niemals 
fehlt,  das  sind  gewisse  psychische  Einflüsse.  Dahin  gehört  zu- 
nächst als  positive  Bedingung  der  ungehemmte  Fluß  der  von  den 
gesprochenen  Lauten  angeregten  Laut-  und  Wort assoziationen. 
Ihm  tritt  der  Weefall  oder  der  Nachlaß  der  diesen  Lauf  hemmenden 


;92 


Der  Lautwandel. 


Wirkungen  des  Willens  und  der  auch  hier  als  Willensfunktion  sich 
betätigenden  Aufmerksamkeit  als  negatives  Moment  zur  Seite.  Ob 
jenes  Spiel  der  Assoziationen  darin  sich  äußert,  daß  ein  kommen- 
der Laut  antizipiert  oder  ein  vorausgegangener  reproduziert  oder 
ein  gewohnheitsmäßig  eingeübter  zwischen  andere  eingeschaltet  wird, 
oder  endlich  darin,  daß  ganz  andere  Worte,  die  mit  den  gespro- 
chenen Lauten  in  assoziativer  Beziehung  stehen,  auf  diese  herüber- 
wirken —  alles  dies  bezeichnet  nur  Unterschiede  in  der  Richtung 
und  allenfalls  in  dem  Spielraum  der  stattfindenden  Assoziationen, 
nicht  in  der  allgemeinen  Natur  derselben.  Auch  kann  es  in  man- 
chen Fällen  zweifelhaft  sein,  welcher  Form  man  eine  bestimmte 
Störung  zuzurechnen,  oder  ob  man  sie  nicht  mit  größerem  Rechte, 
nach  dem  Prinzip  der  Komplikation  der  Ursachen,  auf  ein  Zu- 
sammentreffen mehrerer  Motive  zurückzuführen  habe.  So  kann  die 
Umwandlung  von  begleiten  in  gebleiten  auf  Vorausnahme:  sie  kann 
aber  auch  auf  freier  Assoziation  zahlreicher  Wörter  mit  der  An- 
fangssilbe ge  ^  oder  sie  kann  endlich  auf  der  speziellen  Assoziation 
mit  dem  begriffsverwandten  geleiten  beruhen.  Netonatorum  kann 
als  einfache  Einschaltung  eines  Lautes,  es  kann  aber  auch  als  Vor- 
ausnahme des  t  der  vorletzten  Silbe  gedeutet  werden.  Pomode 
ist  zunächst  wohl  eine  Lautnachwirkung,  doch  ist  daneben  die  Asso- 
ziation mit  Kommode  nicht  ausgeschlossen;  bei  Zaum  und  Reit  ist 
die  Vorausnahme  wahrscheinlich  das  primäre  Moment,  aber  die 
Existenz  der  Wörter  Zaum  und  reiten  und  der  Umstand,  daß  diese 
selbst  wieder  begrifflich  assoziiert  sind,  hat  vielleicht  mitgewirkt. 
Übrigens  bilden  die  verschiedenen  Formen  assoziativer  Einflüsse 
nsofern  zugleich  eine  Stufenreihe  der  Symptome,  als  infolge  der 
natürlichen  Richtung  des  Redeflusses  die  Vorausnahmen  am  leich- 
testen vorkommen,  die  Nachwirkungen  und  die  Übergänge  auf 
andere  Wortgebilde  aber,  wenigstens  innerhalb  der  Grenzen  der 
durch  unsere  Kultursprachen  vermittelten  Redeübung,  höhere  Grade 
der  Störung  bezeichnen.  Darum  finden  sich  die  Vorausnahmen  in 
den  gewöhnlich  beobachteten  Fällen  des  Versprechens  am  häufig- 
sten; die  Nachwirkungen  und  die  Vermengungen  disparater  Wörter 
werden  nur  bei  hohen  Graden  der  »Zerstreutheit«,  außerdem  bei 
noch  mangelnder  Redeübung,  wie  beim  Kinde,  oder  endlich  als 
Symptome  geistiger  Paralyse  wahrgenommen. 


Sprachmischungen  und  Mischsprachen.  tqt 

Alle  diese  Ergebnisse  stehen  im  vollen  Einklang  mit  bekannten 
experimentellen  Beobachtungen  über  Laut-  und  Wortassoziationen. 
Ermittelt  man  in  einer  großen  Zahl  von  Fällen  die  auf  ein  zuge- 
rufenes, vorher  nicht  erwartetes  Wort  im  Bewußtsein  aufsteigenden 
Vorstellungen,  so  zeigt  sich,  daß  schon  beim  normalen  Menschen 
reine  Lautassoziationen  überwiegen,  d.  h.  solche,  bei  denen  das 
Wort  ein  anderes  lediglich  nach  der  Lautähnlichkeit  oder  nach 
sonstigen  äußeren  Beziehungen,  z.  B.  nach  häufiger  Verbindung, 
wachruft.  Sie  nehmen  unter  allen  nach  irgendwelchen  Merkmalen 
gebildeten  Assoziationsklassen  numerisch  stets  die  erste  Stelle  ein, 
da  sie  nach  den  besonderen  individuellen  Anlagen  zwischen  25  und 
30  Prozent  aller  Fälle  schwanken^).  Mit  dem  Nachlaß  hemmender 
und  regulierender  Willenseinflüsse  auf  den  Vorstellungsverlauf  nimmt 
nun  aber  die  Menge  dieser  reinen  Lautassoziationen  noch  erheblich 
zu.  Diese  Zunahme  ist  daher  eine  der  gewöhnlichsten  Erscheinun- 
gen der  geistigen  Störung,  derart,  daß  zuweilen  beinahe  alle  in  der 
angegebenen  Weise  erregten  Assoziationen  Lautassoziationen  sind. 
Mehr  noch  als  die  quantitative  Zunahme  ist  hierbei  die  veränderte 
Verteilung  der  Assoziationen  charakteristisch.  Die  sprachlichen  Ver- 
bindungen selbst  werden  nämlich  bei  fortschreitender  geistiger  Para- 
lyse immer  äußerlicher,  der  Einfluß  des  Begriffswertes  der  Wörter 
und  ihrer  logischen  Verbindungen  tritt  immer  mehr  zurück,  bis 
schließlich  nur  noch  Klangähnlichkeit,  Tonhöhe  und  Rhythmus  eine 
Rolle  spielen''). 


4.    Sprachmischungen  und  Mischsprachen. 

Mit  der  Betrachtung  des  Einflusses  der  Sprachmischungen  auf 
die  individuelle  Lautbildung  betreten  wir  bereits  ein  Gebiet,  auf 
dem   die  individuellen  unmittelbar  in  generelle   Erscheinungen   des 


^;  Trautscholdt,  Philos.  Studien,  I,  1883,  S.  218.  AschafFenburg,  Kraepelins 
Psychologische  Arbeiten,  I,  1896,  8*64,  72.  A.  hat  die  bei  Tr.  in  eine  Klasse 
zusammengefaßten  Wortassoziationen  in  die  vier  Rubriken  der  sprachlichen  Remi- 
niszenzen, Wortergänzungen,  der  sinnvollen  und  der  sinnlosen  Reime  verteilt.  Be- 
rücksichtigt man  dies,  so  sind  die  numerischen  Ergebnisse  der  beiden  Beobachter 
nahe  übereinstimmend. 

2)  Aschaffenburg,  ebenda  II,   1899,  S.  4  ff.,   14,  49  f. 


394 


Der  Lautwandel. 


Lautwechsels  übergehen.  Indem  der  Einzelne  aus  einer  fremden 
Sprache  ein  Wort  aufnimmt,  ändert  er  dessen  Lautcharakter  nach 
der  Anlage  seiner  Sprachorgane  und  nach  den  besonderen  Laut- 
und  Begriffsassoziationen,  die  in  ihm  bereit  liegen.  Auf  diese  Weise 
ist  die  entstehende  Lautänderung  zunächst  ein  individueller  Vor- 
gang, Aber  da  fast  überall,  wo  sich  dieser  Vorgang  ereignet, 
ähnliche  Bedingungen  bei  einer  größeren  Zahl  von  Menschen 
wiederkehren,  so  entsteht  aus  dieser  individuellen  sofort  eine  gene- 
relle Erscheinung,  bei  der  nun  die  Einzelnen  in  eine  Wechsel- 
wirkung miteinander  treten,  infolge  deren  die  größeren  individuellen 
Unterschiede  allmählich  sich  ausgleichen.  Die  Sprachmischung  kann 
auf  diesem  Wege,  wenn  die  Zufuhr  fremden  Sprachgutes  zunimmt, 
die  der  Gemeinschaft  ursprünglich  eigentümliche  Sprache  mehr  und 
mehr  umgestalten  und  sie  in  eine  Mischsprache  überführen.  Gleich- 
wohl nähert  sich  die  Sprachmischung  in  doppeltem  Sinne  noch  dem 
Bereich  des  individuellen  Lautwechsels.  Erstens  handelt  es  sich  bei 
den  in  der  Gegenwart  oder  in  einer  näher  zurückliegenden  Vergan- 
genheit entstandenen  Mischungen,  auf  die  wir  hier  diesen  Ausdruck 
einschränken,  um  Erscheinungen,  die  in  ihrem  Werden  und  Wach- 
sen noch  mehr  oder  minder  der  direkten  Beobachtung  zugänglich 
sind;  und  zweitens  gestattet  es  dieser  Umstand,  daß  wir  wenigstens 
in  einzelnen  Fällen  einigermaßen  imstande  sind,  die  individuellen 
Faktoren  nachzuweisen,  aus  denen  sich  die  allgemeinen  Wirkungen 
zusammensetzen  ^). 

Der  Eintritt  eines  Einzelnen  mit  fremder  Muttersprache  in  eine 
bestimmte  Sprachgemeinschaft  pflegt  einen  Austausch  herbeizu- 
führen, der  sich  auf  alle  Bestandteile  der  Sprache,  auf  Laute,  Wör- 
ter und  Satzfügungen,  erstrecken  kann.  Dieser  Austausch  steigert 
sich,  wenn  mehrere  mit  dem  gleichen  fremden  Idiom  in  dieselbe 
Gemeinschaft  aufgenommen  werden,   und  mit  der  wachsenden  Zahl 


^)  Auf  die  Wichtigkeit  des  Studiums  der  Sprachmischungen  für  die  Laut-  und 
Begriffsseite  der  Sprache  hat  besonders  eindringlich  H.  Schuchardt  hingewiesen  und 
sie  an  mannigfachen  Beispielen  erörtert:  Slawo-Deutsches  und  Slawo-Italienisches, 
1884,  und  Zeitschrift  für  romanische  Philologie,  herausgeg.  von  G.  Gröber,  XII, 
1888,  S.  242,  301  ff.,  Xin,  1889,  S.  463  ff.  (Negerportugiesisch  und  Indoportugie- 
sisch.) Vgl.  a.  Windisch,  Zur  Theorie  der  Mischsprachen  und  Lehnwörter,  Ber.  der 
Sachs.  Ges.  der  Wiss.   1897,  und  Paul,  Prinzipien,3  S.  365  ff. 


Sprachmischungen  und  Mischsprachen.  Tgc 

nähert  er  sich  zugleich  der  Grenze,  wo  ein  Gleichgewicht  zwischen 
Nehmen  und  Geben  hergestellt  werden  kann.  Während  das  Idiom 
des  einzelnen  Einwanderers  in  der  Regel  sehr  bald  spurlos  in  der 
Masse  verschwindet  und  schließlich  ihm  selber  entfremdet  wird,  er- 
hält eine  zusammengehörige  Gruppe,  indem  sie  unter  sich  die  alte 
Muttersprache  pflegt,  diese  länger  und  entwickelt  einen  größeren 
Einfluß  auf  die  Umgebung").  Das  Maß  dieses  Einflusses,  mit  dem 
die  eigene  Widerstandskraft  gegen  die  fremde  Sprache  gleichen 
Schritt  hält,  ist  nun  aber  von  verschiedenen  Faktoren  abhängig, 
und  es  verteilt  sich  auf  die  Bestandteile  der  Sprache  in  sehr  un- 
gleichem Grade.  So  ist  der  Einfluß  kulturell  höher  stehender  Indi- 
viduen begreiflicherweise  im  allgemeinen  größer,  und  infolge  dieses 
Übergewichts  teilt  bei  Rassenmischungen  die  höhere  Rasse  leichter 
der  niederen  ihre  Sprache  mit  als  umgekehrt.  Ferner  ist  es  eine 
Begleiterscheinung  dieser  überwiegenden  Wirkung,  daß  die  auf- 
genommene fremde  Sprache  relativ  wenig  verändert  wird, 
während  die  Muttersprache  derer,  die  sich  das  neue  Idiom 
aneignen,  durch  Aufnahme  fremder  Bestandteile  entartef"). 
So  ist  das  alemannische  Deutsch  der  Elsässer  durch  den  Einfluß 
des  Französischen,  so  das  Deutsch  der  in  Amerika  eingewanderten 
Deutschen  unter  dem  Einfluß  des  Englischen  zur  Mischsprache  gewor- 
den, während  das  Französisch  der  ersteren,  das  Englisch  der  letz- 
teren weit  weniger  von  ihrer  ursprünglichen  deutschen  Muttersprache 
beeinflußt  werden.  Dabei  verhalten  sich  aber  die  einzelnen  Bestand- 
teile der  Sprache  in  diesem  Wettkampf  der  Kulturen  wesentlich 
verschieden.  Was  die  Sprache  der  höheren  Kultur  in  die  der  nie- 
deren überträgt,  das  ist  hauptsächlich  ein  Teil  des  Wortschatzes. 
Das  neue  Wort  als  Zeichen  eines  neuen  Begriffs  wird  mit  diesem 
selbst  aufgenommen.  Viel  widerstandsfähiger  als  gegen  die  Einfuhr 
fremder  Wörter  verhält  sich  eine  Sprache  gegen  die  Aufnahme 
fremder  Satzfügungen  '  und  Wortabwandlungen.  Dies  ist  leicht  be- 
greiflich, da  diese  Formen  von  den  psychischen  Gesetzen  abhängen, 
nach  denen   die   Vorstellungen   verbunden   werden.     Diese    Gesetze 


')  Über  einzelne  Bedingungen  solcher  Ausbreitung  finden  sich  lehrreiche  Aus- 
führungen mit  Bezug  auf  die  slawischen  Sprachmengungen  in  Österreich  bei  Schuchardt, 
Slawo-Deutsches  usw.,  S.  ii  ff. 

2)  Vgl.  Schuchardt,  Slawo-Deutsches  usw.  S.  35  f.     Windisch  a.  a.  O.  S.  104. 


iQÖ 


Der  Lauhvandel. 


können  natürlich  beharren,  selbst  wenn  sich  ein  großer  Teil  des 
Wortschatzes  verändert  hat.  So  läßt  das  Judendeutsch  auch  da, 
wo  es  alle  hebräischen  Wortabkömmlinge  abgestreift  hat,  und  wo 
die,  die  es  reden,  vielleicht  keines  einzigen  hebräischen  Wortes 
mehr  kundig  sind,  dennoch  in  Satzkonstruktion  und  Rhythmus  deut- 
lich den  Einfluß  der  hebräischen  Sprache  erkennen. 

Ähnlich  ist  nun  aber  auf  der  andern  Seite  das  Lautmaterial, 
aus  dem  die  Wörter  einer  Sprache  bestehen,  sehr  viel  beharrlicher 
und  widerstandsfähiger  gegen  individuelle  Einflüsse  als  der  Wort- 
vorrat. Dies  gibt  sich  daran  zu  erkennen,  daß  nicht  bloß  bei  der 
Übertragung  einzelner  Lehnwörter,  sondern  auch  bei  der  Aufnahme 
ganzer  Wortverbindungen  und  bei  der  Entstehung  wirklicher  Sprach- 
mischungen nicht  der  Lautbestand  der  aufnehmenden,  son- 
dern der  der  aufgenommenen  Sprache  die  wesentlichsten 
Veränderungen  erfährt.  Das  Lehnwort  wird  durch  Lautver- 
tretungen und  Lautangleichungen,  aufgenommene  Phrasen  werden 
außerdem  durch  Einschiebung  geläufiger  Wortbildungen  aus  der 
eigenen  Sprache  assimiliert.  Dabei  ist  es  augenfällig,  daß  im  ge- 
raden Gegensatze  zu  der  Aufnahme  der  begrifflichen  Seite  des  Wort- 
vorrats diese  lautliche  Umbildung  um  so  eingreifender,  die  An- 
eignung also  um  so  vollständiger  zu  sein  pflegt,  auf  einer  je  niedri- 
geren Kulturstufe  sich  die  aufnehmende  Sprachgemeinschaft  befindet. 
So  erfahren  die  Wörter  europäischer  Sprachen  die  stärksten  Um- 
wandlungen, wenn  sie  in  die  Sprachen  der  Naturvölker  übergehen''). 
Diese  Umwandlungen  sind  denen  der  kindlichen  Sprache  insofern 
ähnlich,  als  die  Assimilation  des  dargebotenen  an  das  eigene  Laut- 
material  in  beiden  Fällen  eine  möglichst  vollständige  ist.  Hierin 
liegt  zugleich  die  Erklärung  für  jenen  über\viegenden  Einfluß,  den 
bei  der  Sprachmischung  die  primitivere  Rasse  auf  das  Lautmaterial 
der  Sprache  ausübt.  Dieses  Übergewicht  beruht  hier  nicht  sowohl 
auf  einer  positiven  Einwirkung,  als  auf  dem  Unvermögen,  den  neu 
sich  darbietenden  Lautgebilden  die  eigenen  Artikulationsbewegungen 
willkürlich  anzupassen. 


^)  Vgl.  Beispiele  aus  dem  kreolischen  Romanisch  bei  Schuchardt,  Gröbers  Zeit- 
schrift, Xn,  S.  245  fF.,  XIII,  S.  467  ff.,  dazu  die  Lautumwandlungen  der  Kindersprache, 
oben  Kap.  III,  S.  302  ff. 


Sprachmischungen  und  Mischsprachen.  ^gy 

Abweichend  von  diesen  Erscheinungen  bei  der  Mischung  fremder 
Sprachen  verhalten  sich  in  mancher  Beziehung  die  allmählichen 
Übertragungen  und  Ausgleichungen,  die  man  da  beobachtet,  wo 
Dialekte  einer  und  derselben  Sprache  miteinander  in  Berührung 
treten.  Diese  Vorgänge  sind  deshalb  von  besonderem  Interesse, 
weil  sich  dabei  in  gewissem  Grad  unter  unsern  Augen  Ereignisse 
vollziehen,  die  zweifellos  bei  allen  allmählich  und  stetig  geschehen- 
den Lautänderungen  der  Sprache  wirksam  sind.  So  beobachtet 
man,  daß  innerhalb  eines  Bezirks  mit  kleineren  dialektischen  Ab- 
weichungen besonders  die  größeren  Städte,  wie  sie  die  ländliche 
Bevölkerung  namentlich  in  dem  arbeitskräftigen  und  neuen  Ein- 
drücken zugänglichsten  Lebensalter  anziehen,  so  auch  in  der 
Sprache  allmählich  ihre  Umgebung  sich  angleichen.  Mit  städtischen 
Lebensanschauungen  und  Sitten  bringt  der  Dienstbote  und  Fabrik- 
arbeiter die  städtische  Sprechweise  in  seine  alte  Heimat  mit^).  Noch 
schärfer  prägen  sich  diese  Erscheinungen  da  aus,  wo  abweichendere 
Dialekte  aneinander  grenzen.  Auch  in  diesem  Fall  pflegt  die  An- 
gleichung  die  Regel  einzuhalten,  daß  die  in  Wirtschaft  und  Verkehr 
zurückstehenden  Gebiete  vorwiegend  von  den  fortgeschritteneren 
beeinflußt  werden,  nicht  umgekehrt.  Dabei  schreitet  sie  in  be- 
stimmten Stadien  vor,  indem  sie  von  solchen  Lautgebilden  ausgeht, 
die  in  den  häufiger  gebrauchten  Wörtern  vorkommen,  um  von  da 
aus  langsamer  auf  die  Gesamtheit  der  Laute  überzugreifen "").  In 
beiden  Fällen  ist  es  die  jüngere  Generation,  bei  welcher  die  Ver- 
änderung beginnt.  Zunächst  ist  es  wahrscheinlich  das  fortgeschrittenere 
Jugendalter,  die  Generation  der  jugendlichen  Dienstboten  und  wan- 
dernden Arbeiter,  die  fremde  Laute  und  Worte  in  ihre  Heimat  ein- 
führen. Dann  ist  es  das  Kindesalter  in  dem  Stadium  der  sich 
vollendenden  Aneignung  der  Sprache,  das  die  Neuerungen  bereit- 
willig aufnimmt,  während  das  reifere  Geschlecht  und  namentlich  die 
Generation  der  Alten  auch  hier  noch  an  dem  Überkommenen  fest- 
hält. So  entspringt  dieser  Einfluß  der  jüngeren  Generation  wohl 
aus    zwei    ineinander    greifenden    Momenten:    aus    dem    lebhafteren 


^)  Vgl.  einige  Beispiele  aus  deutschem  Sprachgebiet  bei  Otto  Bremer,  Deutsche 
Phonetik,   1893,  Vorwort  S.  X. 

2)  Rousselot,  Les  modifications  phonetiques  du  langage  etudiees  dans  le  patois 
d'une  famille  die  Cellefrouin  (Charente',   1901,  p.  147  ff.,  348. 


Der  Lautwandel. 


Verkehr,  der  die  reifere  Jugend  beeinflußt,  und  aus  der  größeren  An- 
passungsfähigkeit der  Sprachorgane,  an  der  mit  dieser  in  noch 
höherem  Maße  das  Kindesalter  teilnimmt.  In  einzelnen  dieser  Er- 
scheinungen hat  man  eine  Stütze  für  die  Annahme  eines  individuellen 
und  zufälligen  Ursprungs  solcher  Veränderungen  gesehen.  Der 
ländliche  Arbeiter  bringe  etwa  eine  neue  Aussprache  aus  der  Stadt 
in  seine  Dorfgemeinde  mit,  weil  ihm  jene  als  die  vornehmere  er- 
scheine. Nun  soll  gewiß  nicht  geleugnet  werden,  daß  gelegentlich 
einmal  etwas  derartiges  vorkommt.  Aber  diese  singulären  Fälle 
willkürlicher  Nachahmung  sind  offenbar  auf  die  regelmäßigen  Er- 
scheinungen der  Ausbreitung  und  Angleichung  der  Lautformen  im 
wesentlichen  ohne  Einfluß.  Der  individuelle  Fall  verschwindet  wir- 
kungslos, wenn  er  einem  weiter  verbreiteten  Vorgang  sich  einreiht. 
(Vgl.  oben  Einl.  S.  13  ff.)  So  können  wohl  auch  einmal  Sprach- 
fehler von  Einzelnen  nachgeahmt  werden.  Doch  der  Zwang,  den 
sie  den  Sprachorganen  aufnötigen,  läßt  sie  bald  spurlos  wieder  ver- 
schwinden. Die  dauernden  Wandlungen  der  Laute  verbreiten  sich 
aber  unwillkürlich,  und  ohne  daß  die  Beteiligten  selbst  davon  ein 
deutliches  Bewußtsein  besitzen,  indem  ihnen  offenbar,  im  Gegensatze 
zu  jenen  gezwungenen  Nachahmungen,  die  Artikulation  willig  ent- 
gegenkommt. Dafür  spricht  denn  auch,  daß  das  Jünglingsalter  bei 
der  ersten  Aufnahme  des  Fremden,  dagegen  das  frühere  Kindesalter 
bei  der  weiteren  Ausbreitung  desselben  die  Hauptrolle  spielt.  Der 
individuelle  Einfluß  gewinnt  eben  dann  erst  die  zureichende  Macht 
zur  Hervorbringung  allgemeiner  Veränderungen,  wenn  er  durch  die 
unabhängige  Wiederholung  in  zahlreichen  Einzelfallen  zu  einem 
generellen  wird,  und  namentlich  dann,  wenn  ihm  in  der  Bevölke- 
rung selbst  schon  allgemeine  Anlagen  forderlich  sind.  Die  Träger 
dieser  Anlagen  sind  aber  wiederum  vornehmlich  die  Angehörigen 
der  neuen  Generation  mit  ihren  bildsameren  Organen  und  ihrer 
höheren  Rezeptivität  für  neue  Eindrücke'). 


^)  Auch  Rousselot  betont  diese  generelle  Natur  der  sprachlichen  Veränderungen : 
>Le  point  de  depart  d'une  Evolution  phonetique  ne  reside  pas  dans  une  cause  ac- 
cidentelle.  Les  transformations  de  cette  nature  restent  Isoldes:  ce  sont  les  d^fauts 
de  langue,  et  ceux  qui  en  sont  affliges  ne  fönt  pas  ecole;  on  les  cite,  on  ne  les 
imite  pas.«  Und  weiter:  >La  cause  determinante  de  l'^volution  est  d'ordre  general; 
eile  agit  sur  la  masse  de  la  population.     Cest  une  sorte  d'^pidemie  ä  laquelle  per- 


Sprachmischungen  und  Mischsprachen.  -jgg 

Bei  allen  jenen  Lautänderungen,  die  im  Gefolge  der  Sprach-  und 
Dialektmischung  eintreten,  sind  übrigens  sichtlich  zwei  physiologische 
Momente  wirksam,  ein  akustisches  und  ein  motorisches.  Beide 
sind  infolge  der  unmittelbaren  Verbindung  der  Sprachlaute  und 
Artikulationsempfindungen  fest  assoziiert.  Das  fremde  Wort  wird 
zunächst  als  Lautbild  geläufigen  Lauten  der  eigenen  Sprache  an- 
geglichen, wobei  die  Veränderung,  die  es  erfährt,  mit  dem  Abstand 
der  abweichenden  Artikulationsgewohnheiten  zunimmt.  Dieser  Um- 
bildung des  akustischen  Eindrucks  entsprechend  werden  dann  bei 
der  Übertragung  des  gehörten  Lautes  in  eigene  Sprachbewegungen 
diese  noch  einmal  im  Sinne  der  eingeübten  Bewegungsformen  ver- 
schoben. Darum  pflegt  beim  Nachsprechen  eines  Fremdwortes  dem 
Radebrechenden  selbst  die  Abweichung  seiner  Aussprache  nicht 
ganz  zu  entgehen ;  aber  er  hält  doch  seine  Aussprache  da  schon  für 
richtig,  wo  sie  dies  in  Wahrheit  noch  lange  nicht  ist.  Worte,  die 
ein  Mensch  nicht  korrekt  aussprechen  kann,  vermag  er  wegen  der 
mangelhaften  Wirkung  der  Artikulationsempfindung  innerhalb  der 
Wortkomplikation  auch  nicht  richtig  zu  hören  ^).  Er  überträgt  sie 
daher  in  die  nach  Laut  und  Bewegungsempfindung  nächsten  aus 
dem  ihm  geläufigen  Vorrat,  wobei  jedoch  immerhin  der  gehörte 
Laut  eine  gewisse  Wirkung  im  Sinne  seiner  ursprünglichen  Artiku- 
lationsweise ausübt.  Was  die  Art,  in  der  der  Gebildete  und  der 
Mann  aus  dem  Volk  ein  ihm  neues  Fremdwort  nachspricht,  unter- 
scheidet, das  ist  darum  vor  allem  die  durch  die  mannigfaltigere 
Übung  gesteigerte  Fähigkeit  des  ersteren,  jener  von  dem  gehörten 
Laut  ausgeübten  äußeren  Wirkung  nachzugeben  und  auf  diese  Weise 
akustisch  wie  motorisch  Sprachlaute  zu  unterscheiden  und  zu  repro- 
duzieren, die  ursprünglich  außerhalb  des  Umfangs  der  ihm  gewohnten 
Artikulationen  lagen.     Ebenso  ist  dann   wieder   vermöge   der   oben 


sonne  n'echappe.«  Wenn  dann  freilich  dieser  Vergleich  mit  der  Ausbreitung  einer 
Epidemie  Rousselot  zu  der  Hypothese  einer  mehr  oder  weniger  plötzlich  eintreten- 
den Blutänderung  führt,  die  das  pneumogastrische  Nervensystem  affiziere,  und  er  für 
diese  Hypothese  die  geringere  Widerstandskraft  des  Kindesalters  gegen  das  Neue 
anführt,  so  ist  er,  wie  ich  glaube,  hier  an  den  näherliegenden,  und  gerade  mit 
dem  Einfluß  des  jugendlichen  Alters  auf  diese  Änderungen  unmittelbarer  zusammen- 
hängenden psychophysischen  Bedingungen  vorübergegangen.    Vgl.  Rousselot  a.  a.  O. 

P-  350,  352- 

')  Vgl.  die  Parallelerscheinungen  aus  der  Kindersprache,  Kap.  lU,  S.  303  ff. 


400 


Der  Lautwandel. 


erörterten  Bedingungen  durchweg  bei  der  jüngeren  Generation  die 
Anpassungsfähigkeit  größer  als  bei  der  älteren.  Wo  wirkliche 
Sprachmischungen  eintreten,  wie  in  den  Grenzgebieten  verschiedener 
Nationen,  teilt  sich  dann  diese  Erweiterung  des  Laut-  und  Artiku- 
lationsumfanges  größeren  Kreisen  der  Bevölkerung  mit.  Die  Macht 
der  ursprünglich  eingeübten  Bewegungsformen  ist  aber  auch  in 
solchen  Fällen  noch  daran  zu  erkennen,  daß  der  Lautcharakter  der 
aufgenommenen  fremden  Sprache  dann  am  wenigsten  gefälscht  wird, 
wenn  sie  ausschließlich  zur  Anwendung  kommt.  Hier  greift  nun 
die  für  den  Wortschatz  geltende  Regel,  daß  die  aufgenommene 
Fremdsprache  unverändert  bleibt,  mit  einer  gewissen  Annäherung, 
wenngleich  nicht  im  selben  Maß,  auch  für  die  Sprachlaute  Platz. 
Dies  trifft  aber  für  die  ursprüngliche  Muttersprache  nicht  mehr  zu, 
sondern  hier  ist  die  für  den  Wortschatz  geltende  Kehrseite  der 
obigen  Regel,  daß  die  Muttersprache  stark  durch  aufgenommene 
Fremdwörter  verunstaltet  wird,  in  bezug  auf  den  Lautbestand  der 
Wörter  mit  der  entgegengesetzten  verbunden,  daß  der  aus  der 
fremden  Sprache  aufgenommene  Wortvorrat  durch  den 
Lautcharakter  der  Muttersprache  korrumpiert  wird.  So 
kann  man  leicht  beobachten,  daß  die  Elsässer  und  die  gleich  ihnen 
in  manchen  Kantonen  stark  von  der  französischen  Sprache  beein- 
flußten Schweizer  das  Französische  auf  zwei  verschiedene  Arten 
aussprechen,  die  namentlich  bei  Ungebildeteren  sehr  beträchtlich 
abweichen  können:  als  ein  erträglich  reines  Französisch,  wenn  sie 
sich  französisch  unterhalten,  und  als  ein  sehr  stark  durch  das  Ale- 
mannische lautlich  verderbtes  Französisch  in  den  einzelnen  franzö- 
sischen Wörtern  oder  Phrasen,  die  sie  in  ihre  deutsche  Unterhaltung 
einstreuen.  Ähnlich  verhält  es  sich  mit  den  Deutschamerikanern, 
wo  sie  in  größeren  Mengen  zusammenwohnen.  Neben  einem  ver- 
hältnismäßig reinen  Englisch  herrscht  bei  ihnen  ein  Deutsch,  das 
durch  zahlreiche  englische  Wörter  verunstaltet  ist;  diese  englischen 
Wörter  sind  aber  dialektisch  gänzlich  verderbt,  und  sie  kommen  in 
solch  verderbter  Form  nur  in  diesem  eigentümlichen  »Slang«  vor. 
Zum  Teil  erklärt  sich  diese  Erscheinung  wohl  daraus,  daß  ver- 
schiedene Sprachen  abweichende  Konfigurationen  der  Sprachwerk- 
zeuge erfordern,  die  in  dem  Fluß  der  Rede  nicht  plötzlich  gegen- 
einander ausgewechselt   werden  können.     Mag   das    aber    auch   die 


Spraclimischvingen  und  Mischsprachen.  401 

ursprüngliche  Bedingung  sein,  so  wirkt  doch  im  weiteren  Verlaut 
jedenfalls  noch  mit,  daß  eine  solche  Mischsprache  ein  Idiom  für  sich 
ist,  das  nicht  bloß  als  Ganzes,  sondern  in  allen  seinen  Bestandteilen 
von  der  angeeigneten  fremden  Sprache  unterschieden  wird.  Das 
scheinbar  gleiche  und  nur  lautlich  abweichende  Wort  in  beiden 
Sprachen  ist  daher  in  Wahrheit  dennoch  nicht  völlig  das  gleiche 
Wort.  Wesentliche  Bedingung  für  den  Eintritt  aller  dieser  Erschei- 
nungen bleibt  es  aber  stets,  daß  der  eindringenden  fremden  Sprache 
eine  einigermaßen  geschlossene  Gemeinschaft  oder  mindestens  eine 
größere  Zahl  von  Individuen,  die  durch  Verkehr  und  gemeinsame 
Sprache  zusammengehalten  werden,  gegenübersteht''). 

Auch  diese  Tatsachen  lehren,  daß  der  allgemeine  Lautcharakter 
einer  Sprache  eine  verhältnismäßig  stabile,  viel  weniger  individuell 
bestimmte  Eigenschaft  ist  als  ihr  begrifflicher  Wortvorrat.  Mag  der 
Einzelne  unter  günstigen  Umständen  durch  Worte  und  selbst  Satz- 
wendungen die  Sprache  dauernd  beeinflussen,  dem  überlieferten 
Lautbestand  gegenüber  ist  das  Individuum  in  der  Regel  machtlos 
Im  engsten  Kreise  kann  es  wohl  durch  seine  Sprechweise  auf  andere 
einwirken.  Solche  Einflüsse  äußern  aber  nur  dann  dauernde  Wirkun- 
gen, wenn  sie  in  einer  großen  Zahl  weiterer  Individuen  der  gleichen 
Abänderungsrichtung  begegnen,  wenn  sich  also  das  Individuelle  durch 
vielfache  Wiederholung  der  gleichen  Bedingungen  von  selbst  zum 
Generellen  erweitert. 


^)  Als  Beispiel  der  obenerwähnten  Wirkung  auf  die  assimilierten  fremden  Ele- 
mente mögen  die  folgenden  Sätze  aus  dem  »Pennsylvania-Dutch<  dienen,  die  ich 
einer  von  M.  Grünbaum  (Mischsprachen  und  Sprachmischungen,  Virchows  und 
Holtzendorffs  Vorträge,  1886,  S.  42)  mitgeteilten  Geschäftsreklame  einer  pennsyl- 
vanischen  Zeitung  entnehme.  Die  zugrunde  liegende  Muttersprache  ist  der  Pfälzer 
Dialekt,  der  in  seinem  Lautcharakter  vollständig  erhalten  geblieben  ist  und  diesen 
den  aufgenommenen  englischen  Wörtern  mitgeteilt  hat.  »Sagt  der  Pit  (Peter) : 
wann  sei  Lebtag  Leut  mich  geplihst  (to  please)  han,  so  warens  de  zweh  Deutsche. 
.  .  Do  hab  ich  mir  von  denne  a  Suht  (suite)  kaft,  un  nau  (now)  fihl  ich  mich  so 
stolz  wie  e  General  .  .  .  Well,  loß  der  Stiem  raus  (let  the  steam  out),  do  muß  ich 
anne  .  .  .  wir  sind  determt  (determined)  Bissness  (business)  zu  tun.« 


Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  26 


AQ2  Der  Lautwandel. 


5.   Grundformen  des  generellen  Lautwandels. 

Von  drei  verschiedenen  Gesichtspunkten  kann  man  bei  dem 
Versuch  einer  Klassifikation  der  Erscheinungen  des  Lautwandels 
ausgehen:  von  einem  »logischen«,  einem  »psychophysischen«  und 
einem  »soziologischen«.  Vom  logischen  Standpunkt  aus  ist  es 
lediglich  der  Geltungsbereich  der  die  einzelnen  Erscheinungen  be- 
herrschenden Lautgesetze,  ohne  jede  Rücksicht  auf  den  eigentüm- 
lichen Inhalt  derselben,  der  für  die  Gruppierung  der  Tatsachen  in 
Betracht  kommt.  Neben  diesem  Umfang  der  Gültigkeit  kann  außer- 
dem noch  die  Eigenschaft  bestimmter  Gleichförmigkeiten  des  Ge- 
schehens, miteinander  verbunden  vorzukommen,  als  ein  formales  Merk- 
mal angesehen  werden,  so  daß  also  z.  B.,  wenn  innerhalb  eines 
Sprachgebietes  der  Übergang  der  Aspirata  in  die  Media  und  der- 
jenige der  Media  in  die  Tenuis  sich  begleitende  Veränderungen  sind, 
diese  letzteren  als  der  Inhalt  eines  allgemeineren  Lautgesetzes  gelten. 
Nun  kann  es,  wie  oben  bemerkt  wurde  (S.  360),  »ausnahmslose  Laut- 
gesetze« höchstens  dann  geben,  wenn  die  Konkurrenz  mit  andern 
Gesetzen  nicht  verändernd  einwirkt.  Es  liegt  aber  in  der  Natur  der 
Sache,  daß  es  sich  dabei  in  der  Regel  um  gewisse  Grenzfälle  handeln 
wird,  bei  denen  zu  irgendwelchen  Ursachen  bestimmter  Laut- 
änderungen spezielle  Bedingungen  hinzutreten,  welche  die  Wirksam- 
keit konkurrierender  Ursachen  ausschließen.  So  kommt  es,  daß 
diejenigen  Lautgesetze,  die  eine  solche  Ausnahmslosigkeit  für  sich 
in  Anspruch  nehmen  können,  meist  nicht  allgemeinster,  sondern 
umgekehrt  speziellster  Art  sind,  und  daß  sie,  wenn  man  ihnen  eine 
allgemeine  Formulierung  zu  geben  sucht,  nicht  selten  den  Charakter 
von  Regeln  mit  Ausnahmen  oder  sogar  von  Ausnahmen  zu  all- 
gemeineren Regeln  annehmen^).  Wohl  aber  gibt  es  Lautgesetze, 
die  gegenüber  andern  in   doppelter  Beziehung   eine  ausgezeichnete 


^)  Dahin  gehören  z.  B.  die  von  Delbrück  (Gnmdfragen  der  Sprachforschung, 
S.  102)  angeführten  Fälle  »ausnahmsloser  Lautgesetze«,  daß  im  Griechischen  am 
Ende  des  Wortes  i  und  d  abfallen  und  m  in  n  übergeht  (z.  B.  jutXi  aus  */uiXiT, 
vgl.  Gen.  fXiXiT-og,  aXXo&  aus  *«AAo  =  lat.  aliud,  "innov  =  lat.  eqmim),  Beispiele, 
wo  eben  die  ausschließlich  für  das  Ende  des  Wortes  geltende  Erscheinung  das 
sogenannte  Gesetz  sofort  als  eine  Ausnahme  zu  der  sonst  bestehenden  Konstanz 
jener  Laute  kennzeichnet. 


Grundformen  des  generellen  Lautwandels.  40^ 

Stellung  einnehmen:  erstens  insofern  die  einzelnen  Tatsachen,  die 
unter  sie  gehören,  an  Zahl  besonders  groß  sind,  und  zweitens  in- 
sofern, als  sie  eine  ungewöhnlich  große  Menge  regelmäßig  koexi- 
stierender Vorgänge  umfassen.  Wir  wollen  den  durch  diese  beiden 
Eigenschaften  formal  ausgezeichneten  Lautwandel  den  regulären, 
und  die  für  ihn  geltenden  empirischen  Gesetze  die  »regulären  Laut- 
gesetze« nennen.  Alle  diejenigen  Veränderungen,  die  nur  einzelne 
Tatsachen  der  Lautgeschichte  oder  beschränkte  Gruppen  solcher 
umfassen,  und  bei  denen  die  regelmäßig  begleitenden  Veränderun- 
gen fehlen  oder  ebenfalls  von  beschränktem  Umfange  sind,  wird 
man  dann  als  singulären  Lautwandel  bezeichnen  können. 

Nach  dem  zweiten,  dem  psychophysischen  Gesichtspunkte 
zerfallen  die  Erscheinungen  des  Lautwandels  nach  den  für  sie  nach- 
zuweisenden Bedingungen  ihrer  Entstehung  innerhalb  eines  indivi- 
duellen Sprachorgans  in  Formen  stetiger  und  in  solche  sprung- 
weiser Änderungen.  Hierbei  sind  aber  diese  zeitlichen  Verschieden- 
heiten nur  äußere  Symptome  wichtigerer  innerer  Unterschiede. 
Physiologisch  können  nämlich  die  stetigen  Lautänderungen  nur 
zwischen  Lauten  von  verwandter  Artikulationsform  vor  sich  gehen, 
die  sich  nach  den  früher  (S.  377)  erwähnten  vier  Richtungen  des 
Artikulationsraumes,  der  Lautdauer,  der  Tonhöhe  und  der  Laut- 
stärke verändern.  Der  sprunghafte  Lautwechsel  dagegen  vollzieht 
sich  zwischen  allen  möglichen  an  sich  völlig  unverwandten  Lauten, 
und  es  ist  bei  ihm  nur  die  allgemeine  Veränderung  der  Artiku- 
lationsform von  Bedeutung.  Psychologisch  beruht  ferner  der 
stetige  Lautwandel  auf  langsam  vor  sich  gehenden  Veränderungen 
der  gesamten  psychophysischen  Organisation  und  demnach  auf  ent- 
sprechenden allmählichen  Veränderungen  der  Bedingungen,  denen 
diese  Organisation  im  Laufe  der  Zeiten  ausgesetzt  ist.  Infolge- 
dessen entgehen  die  Lautänderungen  nicht  bloß  der  unmittelbaren 
Wahrnehmung  der  Individuen,  von  denen  sie  erlebt  werden,  son- 
dern sie  lassen  sich  mit  Sicherheit  überhaupt  erst  in  verhältnis- 
mäßig großen  Zeitabständen  feststellen.  Über  ihre  Bedingungen 
herrscht  aber  teils  wegen  dieser  Allmählichkeit  der  Vorgänge,  teils 
wegen  der  ungemein  zusammengesetzten  Beschaffenheit  verändern- 
der Ursachen  große  Unsicherheit.  Dies  ist  wesentlich  anders  bei 
jenen  Lautändemngen ,    die  sich  zwar   ebenfalls   nur  allmählich  und 

26* 


404 


Der  Lautwandel. 


stetig  über  eine  redende  Gemeinschaft  ausbreiten,  die  aber  von  dem 
individuellen  Sprachorgan  jedesmal  plötzlich  vollzogen  werden.  Hier 
ist  der  Umfang  der  stattfindenden  Abweichung  größer,  daher  sich 
oft  in  verhältnismäßig  kurzer  Zeit  ein  Wechsel  bestimmter  Laut- 
formen nachweisen  läßt.  Außerdem  sind  auch  die  Bedingungen, 
welche  die  Veränderungen  bewirken,  enger  begrenzt.  Sie  bestehen 
hier  durchweg  in  einzelnen,  verhältnismäßig  leicht  nachweisbaren 
assoziativen  Einwirkungen  verschiedener  Lautgebilde  aufeinander,  zu 
denen  häufig  noch  unterstützende  physiologische  Bedingungen  hin- 
zukommen. Demnach  fällt  im  ganzen  die  psychophysische  Ein- 
teilung mit  der  logischen  in  dem  Sinne  zusammen,  daß  der 
reguläre  Lautwandel  einerseits  ein  stetiger  und  anderseits  ein 
allgemeiner  ist,  so  daß  er  sich  allmählich  über  die  ganze  Sprache 
oder  mindestens  über  große  Gebiete  derselben  ausbreitet,  während 
der  singulare  in  den  besonderen  Wirkungen  der  Laut- 
bestandteile einer  Sprache  aufeinander  seine  konkreten  psy- 
chophysischen  Ursachen  hat. 

Die  unter  dem  dritten,  dem  soziologischen  Gesichtspunkte 
sich  darbietenden  Unterschiede  endlich  gehen  in  ihren  Hauptgruppen 
der  logischen  und  der  psychophysischen  Einteilung  parallel.  Der  re- 
guläre und  stetige  Lautwandel  ist  stets  derjenige,  von  dem  zugleich 
vorausgesetzt  werden  darf,  daß  er  die  sprechende  Gemeinschaft  in 
weitem  Umfang  umfaßt,  daß  er  also  in  seinem  Gesamtverlauf  ein 
kollektiver  Vorgang  ist.  Der  singulare  wird  zwar  ebenfalls  nie 
in  einem  einzigen  Individuum  allein  entstehen,  da  ihm  eine  Ver- 
breitung nur  dann  gesichert  ist,  wenn  seine  Bedingungen  hinreichend 
häufig  sind.  Immerhin  sind  vermöge  der  beschränkteren  Natur  dieser 
Bedingungen  die  Ausgangspunkte  dieses  Lautwandels  voraussichtlich 
begrenztere.  Dies  bestätigt  die  Erfahrung,  da  überall  wo  die  An- 
fänge solcher  Veränderungen  aufzufinden  sind ,  diese  auf  einen 
räumlich  wie  zeitlich  bestimmt  begrenzten  Ursprung  hin- 
weisen. 

Hiernach  stimmen  die  Ergebnisse  der  logischen,  psychophy- 
sischen und  soziologischen  Betrachtung  in  dem  Sinne  überein,  daß 
die  beiden  Hauptformen  des  Lautwandels  nach  jeder  dieser  Rich- 
tungen charakteristische  Unterschiede  darbieten.  Weiterhin  lassen 
sich  dann   aber   die   Hauptformen   des    singulären   Lautwandels 


Grandformen  des  generellen  Lautwandels.  4O5 

aus  dem  Verhältnis  ableiten,  in  dem  die  soziologischen  zu  den 
individuellen  psychologischen  Bedingungen  stehen.  Bezeichnen  näm- 
lich die  verschiedenen  Klassen  der  unter  normalen  wie  abnormen 
Verhältnissen  als  individuelle  Abweichungen  vorkommenden  Laut- 
und  Wortvermengungen  die  überhaupt  möglichen  Richtungen,  nach 
denen  Lautänderungen  innerhalb  einer  geschlossenen  Sprachgemein- 
schaft möglich  sind,  so  sind  es  anderseits  allgemeingültige  psycho- 
physische  Momente  sowie  besondere  soziologische  Bedingungen,  die 
jene  Abweichungen  in  bestimmte  Grenzen  einschränken  und  gewissen 
unter  ihnen  einen  Vorrang  verschafifen.  In  erster  Linie  steht  hier 
die  Ausschaltung  allzu  großer  Abweichungen  von  dem 
gegebenen  Zustand,  ein  allgemein  für  das  Verhältnis  der  indivi- 
duellen zu  den  ihnen  entsprechenden  generellen  Veränderungen  gül- 
tiges Gesetz,  das  wir  kurz  als  das  Prinzip  der  soziologischen 
Auslese  bezeichnen  können.  Durch  diese  Auslese  bleiben  nament- 
lich die  beiden  ersten  Arten  allgemeiner  Sprachfehler,  die  Einschal- 
tungen und  Auslassungen  von  Lauten,  in  ihrer  generellen  Ver- 
breitung durchaus  in  jene  Grenzen  eingeschränkt,  wo  sie  zugleich 
eine  physiologische  Erleichterung  der  Artikulation  bewirken.  Da  die 
Motive,  die  zu  einer  solchen  Erleichterung  drängen,  wiederum  nahe 
mit  allgemeinen  Veränderungen  zusammenhängen,  so  sind  gerade 
solche  erleichternde  »Dissimilationen«  sowie  die  der  beschleunigten 
Artikulation  sich  fügenden  Lautabschwächungen,  die  allmählich  in 
eine  völlige  Elimination  gewisser  Laute  übergehen,  sehr  allgemeine 
Begleiterscheinungen  des  regulären  Lautwandels.  Eine  selbständigere 
Bedeutung  besitzen  die  Vorausnahmen  und  die  Nachwirkungen 
der  Laute.  Für  beide  gilt  die  in  dem  Prinzip  der  soziologischen 
Auslese  begründete  Einschränkung,  daß,  im  Unterschiede  von  den 
weit  umfangreicheren  individuellen  Sprachfehlern  analoger  Art,  bei 
dem  generellen  Lautwechsel  nur  benachbarte  Laute  solche  Ein- 
flüsse äußern.  Wir  können  daher  diese  Erscheinungen,  die  ge- 
wöhnlich »regressive  und  progressive  Assimilationen«  genannt  wer- 
den, als  assoziative  Kontaktwirkungen  der  Laute  bezeichnen. 
Das  Attribut  »assoziativ«  weist  darauf  hin,  daß,  wie  bereits  die  Be- 
trachtung der  entsprechenden  individuellen  Artikulationsfehler  ge- 
zeigt hat,  trotz  mithelfender  physiologischer  Momente  das  haupt- 
sächlich  wirksame  Motiv  in  Lautassoziationen  besteht.     Solche  sind 


A.o6  ^^^  Lautwandel. 


nun  auch  bei  der  letzten  Gruppe  von  Lautänderungen  anzutreffen, 
die  den  »Wortvermengungen«  parallel  gehen.  Wir  wollen  sie,  da 
in  diesem  Falle  die  Assoziationen  von  mehr  oder  minder  fern  lie- 
genden Lautgebilden  ausgehen,  die  assoziativen  Fernewirkungen 
der  Laute  nennen.  Bei  ihnen  wird,  im  Vergleich  mit  den  außer- 
ordentlich mannigfaltigen  individuellen  Sprachfehlern  von  gleichem 
psychologischen  Charakter,  wiederum  in  hohem  Grade  die  sozio- 
logische Auslese  wirksam,  da  hier  nur  gewisse  oft  wiederkehrende 
Verbindungen,  die  durch  grammatische  und  begriffliche  Beziehungen 
nahegelegt  werden,  einen  dauernden  Einfluß  auf  die  Sprache  ge- 
winnen. Die  große  Mehrzahl  zufälliger  individueller  Entgleisungen 
dagegen  geht  spurlos  an  ihr  vorüber. 

Während  die  bisher  unterschiedenen  Lautänderungen  Vorgänge 
sind,  die  sich  in  einer  geschlossenen  Sprachgemeinschaft  lediglich 
durch  die  in  der  Sprache  selbst  und  in  den  allgemeinen  Kultur- 
einflüssen gelegenen  Bedingungen  vollziehen  können,  tritt  diesen 
endlich  eine  letzte  Gruppe  von  Lauterscheinungen  gegenüber,  an 
denen  sich  die  Einflüsse  fremder  Sprachgemeinschaften  oder 
einzelner  ihnen  entlehnter  Wortgebilde  verraten.  Hier  müssen  frei- 
lich für  uns  die  möglicherweise  sehr  umfangreichen  Sprachmischun- 
gen ganz  außer  Betracht  bleiben,  die,  einer  vorhistorischen  Zeit 
angehörend,  vielleicht  für  den  Lautbestand  der  uns  überlieferten 
»Ursprachen«  bestimmend  gewesen  sind.  Die  dahin  gehörigen 
Fragen  mögen  noch  einmal  Aufgaben  der  prähistorischen  Sprach- 
forschung werden,  der  psychologischen  Untersuchung  bieten  sie 
keinerlei  Angriffspunkte.  Wohl  aber  hat  diese  diejenigen  Erschei- 
nungen der  Sprachmischung,  die  als  Wirkungen  des  Völkerver- 
kehrs fortwährend  in  die  Entwicklung  der  Sprache  eingreifen,  in 
die  bei  ihnen  wirksamen  psychischen  Vorgänge  zu  zerlegen.  Solche 
Erscheinungen  sind  die  Lautänderungen  bei  der  Wortentlehnung. 
Geht  man  von  den  direkt  beobachteten  Tatsachen  der  Sprach- 
mischung zu  diesen  assoziativen  Fernewirkungen  der  Laute 
bei  der  Wortentlehnung  über,  so  findet  nun  wiederum  das  Prin- 
zip der  soziologischen  Auslese  seine  Anwendung,  insofern  die  Wort- 
entlehnung überhaupt,  gegenüber  den  die  ganze  Sprache  umgestal- 
tenden eigentlichen  Sprachmischungen ,  einen  verhältnismäßig  zu- 
rücktretenden Bestandteil  der  Sprachentwicklung  bildet. 


Grundformen  des  generellen  Lautwandels.  407 

Indem  die  hier  aufgezählten  Formen  des  Lautwandels,  abgesehen 
von  noch  spezielleren  Ursachen,  die  sich  unserer  Nachweisung  ent- 
ziehen, sowie  von  den  später  zu  erörternden  Wechselwirkungen 
von  Laut-  und  Bedeutungswandel,  fortwährend  nebeneinander  auf 
die  Sprache  einwirken,  ist  diese  von  einer  Fülle  sich  durchkreu- 
zender Gesetze  beherrscht,  deren  jedes  naturgemäß  nur  gelten 
kann,  wenn  es  nicht  durch  andere,  im  gegebenen  Fall  zwingendere 
Gesetze  aufgehoben  wird.  Unter  diesen  Gesetzen  treten  zunächst 
die  des  regulären  Lautwandels  den  mannigfachen  einzelnen  Kon- 
takt- und  Assoziationswirkungen  gegenüber,  die  wir  auf  singulare 
Lautgesetze  zurückführen  können.  Da  jene  im  ganzen  die  kon- 
stanteren, diese  die  variableren  sind,  so  erklärt  sich  daraus  hin- 
reichend die  verbreitete  Vorstellung,  daß  der  reguläre  Lautwandel 
die  eigentlichen,  im  engeren  Sinne  so  zu  nennenden  »Lautgesetze« 
in  sich  schließe,  deren  Geltung  nun  in  einzelnen  Fällen  durch  spe- 
zielle Bedingungen  aufgehoben  oder  modifiziert  werde.  Da  ferner 
der  reguläre  Lautwandel,  wie  das  seine  größere  Regelmäßigkeit 
schon  mit  sich  bringt,  im  allgemeinen  bei  sehr  wechselnden  Ver- 
bindungen der  Laute  vorkommen  kann,  so  pflegt  man  ihn  auch  den 
»selbständigen«  zu  nennen  und  ihn  als  solchen  speziell  dem  aus 
Kontaktwirkungen  hervorgehenden  als  dem  »abhängigen«  oder 
»kombinatorischen«  gegenüberzustellen.  Nun  ist  aber  klar,  daß 
in  dem  verbreiteteren  Vorkommen  an  und  für  sich  noch  keinerlei 
Beweisgrund  für  die  Annahme  liegen  kann,  hier  sei  es  der  einzelne 
Laut  als  solcher,  der  eine  von  äußeren  Bedingungen  völlig  unab- 
hängige Veränderung  erfahren  habe,  wie  dies  der  Ausdruck  »selb- 
ständig« andeutet.  Vielmehr  kann  es  sehr  wohl  sein,  daß  solche 
äußere  Bedingungen  dabei  nur  in  einer  viel  größeren  Zahl  von 
Fällen  und  unter  sonst  mannigfach  variierenden  Umständen  auf  den 
Laut  eingewirkt  haben.  In  der  Tat  ist  ja  ein  im  strengen  Sinne 
»selbständiger«  Lautwandel  schon  deshalb  ein  Ding  der  Unmöglich- 
keit, weil  der  einzelne  Sprachlaut  kein  isoHertes  Gebilde,  sondern 
ein  aus  dem  Wortzusammenhang  durch  Abstraktion  gewonnenes 
Element  ist.  Wenn  aber  der  einzelne  Laut  durchweg  in  Verbindung 
mit  andern  Lauten  steht,  so  kann  er  unmöglich  absolut  selbstän- 
dige, von  diesen  Verbindungen  unabhängige  Veränderungen  er- 
fahren.    In  Wirklichkeit  bestätigen   das  auch,  wie   wir  unten  sehen 


4o8 


Der  Lautwandel. 


werden,  die  Erscheinungen,  indem  sie  zeigen,  daß  die  sogenann- 
ten »Lautgesetze«  selbst  wiederum  nur  Abstraktionen  aus  gewissen 
durchschnittlichen  Lautänderungen  sind,  die  in  den  einzelnen  Fällen 
durch  den  Zusammenhang  mit  andern  Lauten  mannigfach  modi- 
fiziert erscheinen.  Demnach  wollen  wir  den  Ausdruck  »selbstän- 
diger« Lautwandel  um  so  mehr  vermeiden,  weil  er  zwischen  den 
beiden  Klassen  mehr  oder  minder  regulärer  und  relativ  singulärer 
Lautänderungen  eine  Kluft  errichtet,  die  tatsächlich  nirgends  exi- 
stiert. Auch  hat  die  Vorstellung,  daß  der  Laut  als  solcher  ge- 
wissermaßen die  Tendenz  in  sich  trage,  ganz  unabhängig  von  den 
Schicksalen,  die  er  als  Lautelement  des  Wortes  haben  mag,  eine 
ihm  immanente  Entwicklung  zu  durchlaufen,  beinahe  etwas  Mysti- 
sches an  sich,  da  sie  eben  den  Einzellaut  aus  allen  den  Beziehungen 
loslöst,  ohne  die  er  doch  in  der  Wirklichkeit  nicht  vorkommt.  In- 
dem sie  aber  dazu  verführt,  immer  wieder  das  alte  Schema  der 
grammatischen  Regel  und  ihrer  Ausnahmen  auf  die  Lautgesetze  zu 
übertragen,  erweckt  sie  von  vornherein  die  Vorstellung,  die  eigent- 
lichen Lautgesetze  beruhten  auf  spezifischen,  von  Kontakt-  und 
Assoziationseinflüssen  gänzlich  verschiedenen  Kräften.  Da  diese  auf 
die  einzelnen  Laute  selbständig  wirken  sollen,  so  liegt  es  dann 
außerdem  nahe,  sie  wiederum  auf  eine  einzige  allgemeine  Ursache 
zurückzuführen,  über  die  man  sich  nun  in  mancherlei  vagen  Ver- 
mutungen ergeht.  Natürlich  sind  aber  alle  diese  Voraussetzungen 
von  vornherein  ebenso  unwahrscheinlich,  wie  es  die  Annahme  eines 
selbständigen  Lautwandels  überhaupt  ist.  Denn  unter  je  mannig- 
faltigeren Bedingungen  der  reguläre  Wandel  vorkommt,  um  so 
wahrscheinlicher  ist  es,  daß  er  sich  nicht  durch  die  Einfachheit,  son- 
dern umgekehrt  durch  die  Komplikation  der  Ursachen  unterscheidet ; 
und  bei  den  singulären  Lautänderungen  wird  die  Zurückführung  auf 
bestimmte  einzelne  Bedingungen  eben  deshalb  leichter  möglich  sein, 
weil  hier  die  Erscheinungen  selbst  im  ganzen  von  einfacherer  Natur 
sind.  Das  für  die  nähere  Untersuchung  maßgebende  Merkmal  ist 
daher  nicht  dies,  daß  die  regulären  Lautänderungen  strengeren  Ge- 
setzen folgen  als  die  singulären ;  mindestens  muß  dies  vorläufig  ganz 
dahingestellt  bleiben.  Noch  weniger  ist  es  zulässig,  von  vornherein 
anzunehmen,  beidemal  seien  die  Erscheinungen  auf  wesentlich  ver- 
schiedene Ursachen   zurückzuführen.      Vielmehr    bleibt    der    einzige 


Grundformen  des  generellen  Lautwandels.  ^OQ 

Unterschied,  den  wir  ohne  vorzugreifen  machen  dürfen,  der,  daß 
singulare  Veränderungen  durchweg  auf  bestimmte  einzelne  Be- 
dingungen zurückführbar  sind,  die  wir  entweder  direkt  nachweisen 
oder  mit  verhältnismäßiger  Sicherheit  aus  den  näheren  Umständen 
erschließen  können,  während  sich  die  Ursachen  des  regulären 
Lautwandels  zunächst  unserem  Nachweis  entziehen.  Damit  wird 
aber  für  die  Untersuchung  beider  Gruppen  von  Erscheinungen  eine 
Maxime  maßgebend,  die  zu  der  gewöhnlich  befolgten  den  vollen 
Gegensatz  bildet.  Während  diese  unter  der  immer  noch  herrschen- 
den Vorstellung  steht,  der  reguläre  Lautwandel  sei  eine  Art  allge- 
meinverbindlicher Norm,  der  die  singulären  Erscheinungen  infolge 
irgendwelcher  Ausnahmebedingungen  widerstreiten,  haben  wir  hier 
lediglich  der  Maxime  zu  folgen,  daß  man  bei  einer  Klasse  zu- 
sammengehöriger und  überall  einander  durchkreuzender  Erschei- 
nungen nicht  vom  Unbekannteren  und  darum  voraussichtlich  Ver- 
wickelteren zum  Bekannteren  und  Einfacheren,  sondern  umgekehrt 
von  diesem  zu  jenem  überzugehen  hat.  Zunächst  werden  daher  die 
Fälle  verhältnismäßig  leicht  zu  durchschauender  Lautänderungen  zu 
durchforschen  und  damit  gewisse  unzweifelhaft  vorhandene  Ursachen 
des  Lautwandels  festzustellen  sein,  um  dann  erst  zur  Untersuchung 
derjenigen  Erscheinungen  fortzuschreiten,  bei  denen  dies  bis  dahin 
nicht  in  gleicher  Weise  gelungen  ist.  Demnach  gehen  wir  aus  von  den 
assoziativen  Kontaktwirkungen  der  Laute.  Von  ihnen  führt 
dann  die  Betrachtung  naturgemäß  zu  solchen  Veränderungen,  die 
wir  als  die  assoziativen  Fernewirkungen  der  Laute  zusammen- 
fassen können.  An  diese  schließen  sich,  mehr  als  eine  besondere 
Gruppe  denn  als  eine  spezifische  Art  solcher  Fernewirkungen,  die 
vorzugsweise  bei  Wortentlehnungen  stattfindenden  Laut-  und 
Begriffsassoziationen  an.  Nachdem  wir  durch  die  Betrachtung  aller 
dieser  Fälle  singulären  Lautwandels  mit  den  Bedingungen  vertraut 
geworden  sind,  unter  denen  in  einzelnen,  durch  die  Gunst  der  Um- 
stände zugänglicheren  Fällen  Lautänderungen  bedingt  werden,  wollen 
wir  uns  schließlich  den  Erscheinungen  des  regulären  Lautwan- 
dels zuwenden,  bei  denen  dies  nicht  zutrifft,  die  nun  aber  wegen 
ihrer  weitgreifenden  geschichtlichen  Zusammenhänge  ein  besonderes 
Interesse  in  Anspruch  nehmen. 


4IO 


Der  Lautwandel. 


III.  Assoziative  Kontaktwirkungen  der  Laute. 

I.    Regressive  und  progressive  Lautinduktion. 

Als  Kontaktwirkungen  sollen  hier  alle  diejenigen  Lautände- 
rungen bezeichnet  werden,  die  sich  unmittelbar  als  Folgen  der  Ein- 
wirkung eines  Lautes  auf  einen  andern,  der  sich  in  seiner  Nähe, 
also  in  der  Regel  in  unmittelbarer  Wortverbindung  mit  ihm  befindet, 
darstellen.  Für  die  Kontaktwirkungen  ist  es  demnach  kennzeich- 
nend, daß  nicht  bloß  der  Lautwandel  selbst,  sondern  auch  der  ihn 
herbeiführende  äußere  Anlaß  direkt  unserer  Beobachtung  gegeben 
ist.  Durch  dieses  Merkmal  unterscheiden  sich  die  Kontaktwirkungen 
von  allen  andern  Formen  des  Lautwechsels,  bei  denen  die  Be- 
dingungen der  Veränderung  entweder  in  mehr  oder  weniger  weit 
zurückliegenden  Tatsachen  der  Sprachgeschichte  oder  in  andern, 
mit  den  veränderten  Lauten  selbst  nicht  unmittelbar  verbundenen 
sprachlichen  Erscheinungen  bestehen.  Übrigens  sind  auch  bei  den 
Kontakt^virkungen  nur  die  äußeren  Bedingungen  der  Vorgänge  in 
gewissen  die  Veränderung  bewirkenden  Lauten  unserer  direkten 
Beobachtung  zugänglich;  auf  die  Gründe,  aus  denen  ein  einzelner 
Laut  wirklich  auf  einen  andern  einwirkt,  läßt  sich  erst  aus  der  Ver- 
gleichung  einer  größeren  Anzahl  analoger  Erscheinungen  und  aus 
Beobachtungen  über  die  bei  dem  Kontakt  der  Laute  obwaltenden 
physischen  und  psychischen  Bedingungen  zurückschließen. 

Bezeichnen  wir,  nach  dem  Vorbilde  der  für  gewisse  physikalische 
und  physiologische  Ferne-  und  Nahewirkungen  eingeführten  Namen, 
denjenigen  Laut,  von  dem  eine  verändernde  Wirkung  ausgeht,  als 
den  > induzierenden«,  den,  der  die  Veränderung  erleidet,  als  den 
»induzierten«,  so  können  nun  sowohl  bei  unmittelbarer  Berührung 
des  induzierenden  und  induzierten  Lautes,  wie  bei  mittelbarer,  wo 
sich  zwischen  beide  noch  andere  Lautelemente  einschieben,  Kontakt- 
erscheinungen stattfinden.  Immer  jedoch  besteht  die  Bedingung, 
daß  beide  Laute  einander  nahe  genug  seien,  um  sowohl  physisch 
wie  psychisch  eine  direkte  Einwirkung  möglich  zu  machen,  — 
physisch,  insofern  die  beiden  Artikulationsbewegungen  einander 
schnell    genug    folgen;    psychisch,     insofern    vorausgesetzt    werden 


Regressive  und  progressive  Lautinduktion.  ah 

darf,  daß  sich  beide  Laute  während  einer  gewissen  Zeit  zusammen 
im  Bewußtsein  befinden.  Ferner  kann  die  Kontaktwirkung  eine 
einseitige  sein,  so  daß  von  den  zwei  in  Beziehung  tretenden  Lauten 
der  eine  der  induzierende,  der  andere  der  induzierte  ist;  oder  es 
kann  eine  Wechselwirkung  vorliegen,  wo  dann  jeder  Laut  indu- 
zierend und  induziert  zugleich  ist.  Von  diesen  beiden  möglichen 
Fällen  ist  der  erstere  jedenfalls  der  weitaus  häufigere:  die  Kontakt- 
wirkungen der  Laute  sind  durchweg  einseitiger  Art.  Wir  müssen 
also  annehmen,  daß,  welches  auch  die  inneren  Ursachen  der  Laut- 
änderungen sein  mögen,  diese  im  allgemeinen  jedesmal  an  die  vor- 
herrschende physische  oder  psychische  Wirkung  eines  bestimmten 
Lautes  auf  einen  andern  gebunden  sind. 

Unter  den  in  dem  obigen  Sinne  zu  definierenden  Kontakterschei- 
nungen nehmen  diejenigen  die  erste  Stelle  ein,  bei  denen  sich 
die  Wirkung  auf  die  Erzeugung  eines  qualitativen  Lautwechsels 
beschränkt,  ohne  daß  Lautverlust  oder  Einschaltung  von  Lauten 
stattfindet:  die  Fälle  der  sogenannten  »kombinatorischen  Laut- 
änderungen« der  Sprachwissenschaft.  Sie  lassen  sich  in  verschie- 
dene Unterformen  unterscheiden,  indem  alle  prinzipiell  möglichen 
Fälle  hier  auch  in  Wirklichkeit,  obgleich  in  sehr  verschiedener 
Häufigkeit  vorkommen.  Die  Lautinduktion  kann  nämlich  sowohl 
in  qualitativ  entgegengesetzten  Formen  wie  in  zeitlich  entgegen- 
gesetzten Richtungen  stattfinden.  Die  qualitativen  Gegensätze 
bestehen  darin,  daß  der  induzierende  Laut  entweder  den  indu- 
zierten sich  ähnlich,  oder  aber  daß  er  ihn  sich  unähnlich  macht, 
—  daß  er  also  im  ersten  Fall  eine  qualitativ  attrahierende,  im 
zweiten  eine  abstoßende  Wirkung  ausübt.  Dort  pflegt  man  die 
Erscheinung  als  »Assimilation«,  hier  als  »Dissimilation«  zu  bezeich- 
nen. In  jedem  dieser  Fälle  kann  aber  außerdem  die  zeitliche 
Richtung  der  Wirkung  eine  entgegengesetzte  sein,  indem  ein  Laut 
entweder  auf  einen  ihm  vorausgehenden  oder  auf  einen  ihm  nach- 
folgenden induzierend  einwirkt :  im  ersten  Falle  nennt  man  die  Wir- 
kung eine  »regressive«,  im  zweiten  eine  »progressive«.  Demnach 
zerfallen  die  Erscheinungen  der  eigentlichen  Lautinduktion  in  vier 
Formen:  in  eine  regressive  und  progressive  Assimilation, 
und  in  eine  regressive  und  progressive  Dissimilation.  Unter 
diesen    Formen  überwiegen   weitaus  die  Assimilationen  und  ebenso 


41. 


Der  Lautwandel. 


überwiegen  wiederum,  wenigstens  in  den  uns  näher  stehenden  Kultur- 
sprachen, die  regressiven  Wirkungen.  Die  häufigste  unter  den 
genannten  Erscheinungen  ist  daher  überhaupt  die  »regressive  Assi- 
milation« oder  diejenige  Kontaktwirkung,  bei  der  ein  bestimmter 
Laut  einen  ihm  in  der  Rede  vorausgehenden  in  solcher  Weise  in- 
duziert, daß  dieser  ihm  gleich  oder  ähnlich  wird. 

Auf  die  abweichenden  Bedingungen  der  regressiven  und  der 
progressiven  Assimilation  weist  nun  schon  die  Tatsache  hin, 
daß  jede  dieser  entgegengesetzt  gerichteten  Formen  einer  Attraktion 
in  der  Regel  auf  Laute  von  verschiedenem  Klangcharakter  ihre 
Wirkungen  ausübt.  Bei  der  gewöhnlichen  » regressiven  Assimi- 
lation« gehören  die  aufeinander  einwirkenden  Laute  am  häufigsten 
der  Klasse  der  konsonantischen  Geräuschlaute  an;  der  »progressiven 
Assimilation«  unterliegen  öfter  die  Vokale  und  die  Halbvokale.  Wo 
die  Vokale  überhaupt  eine  assimilierende  Wirkung  äußern,  sei  es 
eine  regressive  oder  progressive,  da  geschieht  dies  außerdem 
niemals  in  unmittelbarer  Berührung,  wie  zumeist  bei  den  Konso- 
nanten, sondern  über  zwischenliegende  Konsonanten  hinweg.  So 
gehören  zu  den  gewöhnlichsten  regressiven  Assimilationen  Übergänge 
wie  adshnüare  in  assimilare^  adferre  in  ajferre^  adgrcdi  in  aggredi, 
adtrahere  in  attrahere^  conligere  in  colligerc  usw.,  ferner  von  agnus 
in  angnus^  snpmus  in  siimmus^  scdla  in  sella^  oder  im  Italieni- 
schen fiotto  aus  lat.  ßuctiis,  fatto  aus  /actus,  im  Deutschen  hatte 
aus  hatte ^  empfangen,  empfinden  aus  entfangen,  ent finden,  griech. 
ifxßdXXio  aus  6vßd?.lco,  lllehrcü  aus  kvlsinio  usw.  Die  Kontakt- 
wirkung besteht  hier  teils  in  einer  völligen,  teils  in  einer  bloß  par- 
tiellen Angleichung,  in  einer  Annäherung  der  Artikulation  des  voran- 
gehenden an  den  nachfolgenden  induzierenden  Laut:  ersteres  z.  B.  in 
snpmus — sumtnus,  adsimilare — asshnilare,  habte — hatte,  letzteres  in 
agnus — angniis,  entfangen — empfangen,  IvßaÜM — lußäU.oj.  Viel 
seltener  ist  die  progressive  Assimilation  konsonantischer  Laute,  wie 
in  klimmen  aus  klimben,  lat.  forfcx  aus  forpex,  vulva  aus  vidba 
u.  a. ,  Fälle,  die  zugleich  an  Erscheinungen  der  Dissimilation,  der 
Elision  und  der  Umstellung  der  Laute,  mit  denen  sie  im  Erfolg  zu- 
sammentreffen,  nahe  angrenzen').     Umgekehrt  ist  dagegen  die  vo- 

')  Eine  systematische  Übersicht  über  alle  diese,  hier  nicht  näher  zu  erörternden, 
aber  in  den  wesentlichen  Motiven   mit  den  Formen  der  Assimilation   und  Dissimila- 


Regressive  und  progressive  Lautinduktion.  ^I^ 

kaiische  Assimilation  in  regressiver  Richtung  eine  verhältnismäßig 
seltene  Erscheinung.  Doch  gehören  hierher  wahrscheinlich  Fälle 
wie  im  lat.  similis  (simul),  facilis  (facultas),  wo  die  adjektivische 
Endung  auf  den  Stammvokal  zurückgewirkt  zu  haben  scheint,  ferner 
der  Umlaut  im  Deutschen,  wie  der  Übergang  von  ahd.  gasti  in 
gesti^  mhd.  geste  'Gäste'',  fallit  in  fellit  'fällt "*,  handi  in  hendi 
'Hände',  briit  in  plur.  brinti  'Bräute'  usw.,  in  welchen  Fällen 
wieder  in  der  Regel  eine  bloße  Annäherung  des  vorausgehenden 
an  den  nachfolgenden  Vokal,  keine  völlige  Angleichung  zu  beobach- 
ten ist.  Um  so  häufiger  ist  progressive  Assimilation  der  Vokale. 
So  lat.  fulguris  aus  *ßdgoris  ('vgl.  temporis)^  ahd.  hdhona  aus 
höhana  'von  oben'.  Vor  allem  aber  gehören  hierher  die  Erschei- 
nungen der  sogenannten  »Vokalharmonie<  in  den  ural-altaischen, 
den  malaiischen  und  polynesischen  Sprachen.  In  den  beiden 
letzteren  Sprachgruppen  hängt  dieselbe  mit  den  hier  außerordent- 
lich verbreiteten  Verdoppelungserscheinungen  zusammen,  die  es 
bewirkt  haben,  daß  viele  Wörter  dieser  Sprachen  überhaupt  nur 
noch  als  Verdoppelungsformen  vorkommen.  Da  man  in  solchen 
Fällen  meist  annehmen  darf,  daß  die  einfache  Form  die  ursprüng- 
liche sei,  so  kann  diese  dann  zugleich  als  der  induzierende  Laut 
betrachtet  werden;  und  da  die  Betonung  auf  dem  inlautenden  Vo- 
kal liegt,  so  sind  hier  wahrscheinlich  ähnliche  assimilierende  Be- 
dingungen wie  bei  der  eigentlichen  Assimilation  wenigstens  von 
mitbestimmender  Wirkung.  In  der  Tat  zeigen  diese  Sprachen  auch 
da,  wo  keine  eigentliche  Wiederholung  vorliegt,  eine  große  Neigung 
zur  Bildung  zweisilbiger  Wörter  mit  gleichen,  durch  einen  konsonan- 
tischen Laut  getrennten  Vokalen.  Noch  charakteristischer  äußert 
sich  die  progressive  Vokalassimilation  in  den  uralischen  und  altai- 
schen  Wortbildungen,  wo  dasselbe  Suffix  in  seinen  übrigen  Bestand- 
teilen konstant  zu  bleiben,  in  seinen  vokalischen  Elementen  aber 
derart  zu  variieren  pflegt,  daß  diese  jedesmal  dem  vokalischen  Inlaut 
des  vorangehenden    Wortstammes   angeglichen   sind.     So  heißt   im 


tion  übereinstimmenden  Erscheinungen  für  das  indogermanische  Gebiet  ^bt  Brug- 
mann,  Kurze  vergl.  Grammatik,  S.  225  ff.  Für  die  romanischen  Sprachen  findet  sich 
reiches  Material  bei  Meyer-Lübke,  Gramm,  der  romanischen  Sprachen,  Bd.  I,  S.  315  ff. 
Charakteristische  Beispiele  vorzugsweise  aus  dem  gleichen  Sprachgebiet  sind  heraus- 
gehoben von  E.  Wechssler,  Gibt  es  Lautgesetze?  S.  140  ff. 


414 


Der  Lautwandel. 


Jakutischen  aga-lar  Väter,  äsä-lär  Bären,  ogo-lor  Kinder,  ebenso 
aga-ttmi  vom  Vater,  äsä-ttän  vom  Bären,  ogo-tton  vom  Kinde. 
Ähnlich  im  Türkischen  sev-mek  lieben,  bak-mak  erblicken,  mä-mäk 
kennen  usw. 

Gegenüber  diesen  mannigfaltig  variierenden  Vorgängen  der  Assi- 
milation ist  die  Dissimilation  die  weit  seltenere  Erscheinung. 
Ausschließlich  von  konsonantischen  Lauten  als  induzierenden  Ele- 
menten ausgehend,  erstrecken  sich  ihre  Wirkungen  in  der  Regel 
ebenfalls  auf  solche;  doch  können  auch  Vokale,  die  zwischen  Kon- 
sonanten eingeschaltet  werden,  als  Erzeugnisse  der  Dissimilation 
vorkommen.  Die  regressive  Richtimg  der  Wirkung  ist  wieder  die 
vorwaltende,  ohne  daß  jedoch  die  progressive  ganz  fehlt.  In  beiden 
Formen  scheint  die  Dissimilation  auf  den  älteren  Entwicklungs- 
stufen der  indogermanischen  Sprachen  allgemeiner  gewesen  zu  sein, 
was  zumeist  wohl  mit  dem  häufigeren  Vorkommen  der  eine  solche 
besonders  leicht  veranlassenden  echten  Aspiraten  zusammenhängt. 
Denn  im  Sanskrit  und  Griechischen  werden  die  verbreitetsten  dieser 
Erscheinungen  durch  das  von  Graßmann  aufgestellte  »Gesetz  der 
Hauchdissimilation«  beherrscht:  »Wenn  in  zwei  Konsonantengruppen 
eines  Wortes,  die  durch  einen  Vokal  getrennt  sind,  Aspiraten  vor- 
kommen, so  wird  eine  derselben,  in  der  Regel  die  erste,  ihrer 
Hauchung  beraubt«  ^).  So  hat  sich  durch  regressive  Dissimilation 
ein  idg.  *dhidheti  in  skr.  dadhäti^  gr.  ri^rjOL^  *-9-Qscpco  in  Tqecpio, 
*d-QiXÖg  [d-Qi^'j  in  rgiy^ög  umgewandelt.  Der  Effekt  bleibt  der- 
selbe, wenn  bei  der  Wiederholung  gleicher  Laute  der  vorangehende 
in  eine  andere,  verwandte  Lautgruppe  überspringt,  wie  beim  Über- 
gang von  gr.  ^r]QrjTriQ  in  -d-rjXrjTiJQ ,  väqva^  in  laQvaB,  lat.  pere- 
grimis  in  ital.  pellegrmo^  veneniun  in  veleno^  arbor  in  albero  u.  a.  *). 
Progressive  Dissimilationen  kommen  vereinzelt  im  Lateinischen  sowie 
in  modernen  Sprachen,  in  den  letzteren  namentlich  bei  der  Auf- 
nahme von  Fremdwörtern  vor.  So  schwankt  die  Endung  des  latei- 
nischen Adjektivs  zwischen  -alis  und  -aris:  die  im  einzelnen  Falle 
übliche  Form  ist  aber  in  der  Regel  von  der  dissimilierenden  Wirkung 
des  vorausgehenden  Stammkonsonanten  abhängig.    Demnach  stehen 


^)  Graßmann,  Kuhns  Zeitschr.  für  vergl.  Sprachw.  XII,   1863,  S.  iioff. 
2)  Brugmann,    Kurze  vergl.  Grammatik    der  indogerm.  Sprachen,   1902,  S.  39  ff. 
M.  Grammontj  La  dissimilation  consonantique  (These  de  Paris),   1895. 


Regressive  und  progressive  Lautinduktion.  ^  j  c 

sich  einerseits  pliiralis^  ruralis^  muralis^  anderseits  singularis^  sola- 
ris^ cappillaris  u.  a.  gegenüber^).  Progressive  Dissimilationen  bei 
der  Aufnahme  von  Fremdwörtern  sind  Turteltaube^  engl,  turtle  aus 
turtur^  engl,  pnrple  aus  purpiira^  marble  aus  marnior  u.  a. 

Mit  der  Assimilation  und  Dissimilation  stehen  endlich  noch 
gewisse  andere  Veränderungen  der  Lautgestalt  der  Wörter,  nämlich 
die  Weglassung  und  Zufügung,  die  Umstellung  und  Zusammen- 
ziehung von  Lauten,  in  naher  Beziehung.  Unter  ihnen  sind  Weg- 
lassung, Umstellung  und  Zusammenziehung  offenbar  der  Assimilation, 
und  zwar  speziell  der  regressiven,  verwandt.  Denn  der  nämliche 
Zusammenhang  der  Rede,  der  auf  einen  gegebenen  Laut  einen 
nachfolgenden  einwirken  läßt,  wird  natürlich  auch  die  Ausstoßung 
der  zwischen  beiden  vorhandenen  Lautelemente  bewirken  können, 
wobei  es  dann,  da  das  einzelne  Wort  nicht  für  sich  allein  steht, 
gleichgültig  ist,  ob  die  ausgestoßenen  Teile  dem  Inlaut  oder  dem 
An-  oder  Auslaut  angehören  (Elision,  Aphäresis  und  Apokope  der 
Grammatiker).  So  ist  lat.  ne-unqiiam  in  nunquam^  ante-ea  in  antea^ 
griech.  yeveaog  in  yevsog,  xf^qiETOi  in  yaqieoi^  im  Deutschen  tadelen 
in  tadeln^  weralt  in  werlt^  Welt,  oder  lat.  gnotus  in  notus,  historia 
in  ital.  storia^  griech.  yiqovx  (Vokativ)  in  yeqov,  deutsch  herriro 
in  he7'ro,  herre^  Herr,  ime,  ire  in  ihm,  ihr  übergegangen  usw. 
Ähnlich  beruht  die  Umstellung  (Methathesis)  auf  der  Antizipation 
eines  folgenden  Lautes,  die  der  bei  der  regressiven  Assimilation  be- 
obachteten analog  ist  und  sich  nur  durch  ihre  in  den  sonst  ab- 
weichenden Bedingungen  begründete  Form  der  Wirkung  unterscheidet: 
so  in  den  Doppelformen  v.aqxEqöc,  und  xQateQÖg,  deutsch  Born  und 
Bronn  ^Brunnen^,  ital.  formento  aus  lat.  frumentum,  roman.  por,  pour 
aus  lat.  pro.  Als  eine  Assimilation  und  Elision  zugleich  läßt  sich 
schließlich  die  Zusammenziehung  betrachten,  wie  xovvoua  aus  xh 
ovo^ia,  ndrunt  für  noverunt  usw.  Dagegen  ist  die  Zufügung  von 
Lauten  nur  eine  modifizierte  Dissimilation:  so  der  Übergang  von 
griech.  ^OY-XrircLÖg  in  lat.  Aesculapnis,  ferner  die  Bildung  der  Formen 
promptus,  sumptus  für  promtiis,  sumtus  usw.  Endlich  kann  auch 
die  Elision  gleichzeitig  die  Bedeutung  einer  Dissimilation  besitzen: 
so  beim  Übergang  von  gr.  (pqaxqla  in  (paxqia,  von  afÄq)i(poQsvg  in 


Pott,  Etymologische  Forschungen,^  n,  S.  96. 


4i6 


Der  Lautwandel. 


äf.i(poQevg,  wo  eben  durch   den   Wegfall  der  Lautwiederholung  die 
dissimilatorische  Wirkung  erzielt  wird. 


2.   Theorie  der  Kontaktwirkungen. 

a.    Ästhetische,  teleologische  und  psychologische  Deutungen. 

So  klar  bei  allen  diesen  Erscheinungen,  bei  der  Assimilation,  der 
Dissimilation  und  den  ihnen  verwandten  Vorgängen  der  Ausschaltung, 
Umstellung,  Kontraktion  und  Einfügung  von  Lauten  die  äußeren 
Bedingungen  der  Lautänderungen  in  Gestalt  bestimmter,  unmittelbar 
sich  berührender  oder  benachbarter  Laute  vor  Augen  liegen,  so 
wenig  hat  man  sich  bis  dahin  über  die  inneren,  physiologischen 
oder  psychologischen  Ursachen  dieser  Erscheinungen  einigen 
können.  Die  alten  Grammatiker  sahen  den  Wohllaut  für  den 
treibenden  Grund  derselben  an,  und  noch  heute  ist  diese  Meinung 
nicht  ganz  verschwunden,  indem  man  euphonischen  oder  allgemeiner 
ausgedrückt  ästhetischen  Motiven  wenigstens  eine  mitwirkende 
Bedeutung  zugesteht^).  Diese  Annahme  ist  aber  nach  allem,  was 
oben  über  die  Bedingungen  des  Lautwandels  überhaupt  bemerkt 
wurde,  unzulässig^).  Sie  ist  dies  nicht  deshalb,  weil  nicht  in  der 
Tat  Sprachlaute  mehr  oder  minder  wohlgefällige  Klangverbindungen 
bilden  könnten,  sondern  weil  dies  eine  von  Bedingungen  objektiver 
w^ie  subjektiver  Art  abhängige  Nebenwirkung,  kaum  jemals  die 
Ursache  des  Lautwechsels  selbst  ist. 

Noch  länger  als  die  ästhetische  hat  sich  die  teleologische  Auf- 
fassung in  der  Form  der  »Bequemlichkeitstheorie«  erhalten^).  Was 
im  allgemeinen  von  ihrer  Anwendung  auf  die  Erscheinungen  des 
Lautwandels  gesagt  wurde,  gilt  auch  hier  (S.  364  ff.).  Daß  die  meisten 
Assimilationen  und  Dissimilationen  eine  gewisse  »Erleichterung  der 
Artikulation«  mit  sich  führen,  ist  unbestreitbar.  Der  Fehler  liegt  nur 
darin,  daß  man  diesen  Erfolg  wieder  zur  Ursache  macht,  was  er 
unmöglich  sein  kann,  da  der  »Bequemlichkeitstrieb«  kein  psychisches 
Motiv  ist,   das  wir  als  solches  bei  den  sprachlichen  Vorgängen  eine 


^)  Vgl.  z.  B.  W.  Scherer,  Zur  Geschichte  der  deutschen  Sprache,^  S.  36. 

2)  S.  oben  S.  363  ff. 

3)  Vgl.  z.  B.  G.  V.  d.  Gabelentz,  Die  Sprachwissenschaft,  1891,  S.  203  ff. 


Theorie  der  Kontaktwirkungen.  aij 

Rolle  spielen  sehen.  Entscheidend  sind  hier  vor  allem  die  diesen 
generellen  analogen  individuellen  Kontaktwirkungen,  die  uns  bei 
den  Erscheinungen  des  sogenannten  »Versprechens«  entgegentreten, 
und  die,  vollkommen  unwillkürlich  sich  einstellend,  von  dem  Sprechen- 
den entweder  erst  nachträglich  oder  überhaupt  nicht  bemerkt  werden 
(S.  379  0".).  Sind  diese  Erscheinungen  Wirkungen  eines  physischen 
oder  psychischen  Mechanismus,  bei  dem  von  zwecktätigem  Handeln 
nicht  die  Rede  sein  kann,  so  muß  das  aber  auch  von  dem  »kom- 
binatorischen Lautwandel«  der  Sprache  gelten,  der,  abgesehen  davon 
daß  er  allgemein  geworden  ist,  offenbar  in  seinen  Entstehungs- 
bedingungen mit  jenen  individuellen  Erscheinungen  zusammenfällt. 
Auch  weist  unter  den  Tatsachen  der  sprachlichen  Kontaktwirkungen 
selbst  schon  das  auffallende  Übergewicht  der  regressiven  Assimilation 
oder  Dissimilation  in  den  uns  bekannten  Kultursprachen  auf  solche 
absichtslos  und  unbewußt  wirkende  Bedingungen  hin.  Denn  hier 
liegt  es  überaus  nahe,  an  die  sich  der  unmittelbaren  Beobachtung 
aufdrängende  Erscheinung  zu  denken,  daß  der  Fluß  unserer  Ge- 
danken nicht  selten  dem  Fluß  unserer  Worte  vorauseilt.  Es  leuchtet 
aber  ein,  daß  infolgedessen  eine  Artikulationsbewegung  bereits  aus- 
geführt oder  wenigstens  vorbereitet  werden  kann,  ehe  sie  eigentlich 
an  der  Reihe  ist '). 

Da  nun  das  gleiche  Prinzip  auf  die  progressive  Assimilation  und 
Dissimilation  offenbar  keine  Anwendung  finden  kann,  so  griff  Stein- 
thal diesen  scheinbaren  Gegensatz  der  Erscheinungen  auf,  indem  er 
ihn  unmittelbar  auf  einen  Gegensatz  der  Bedingungen  selbst  bezog. 
War  es  ihm  auf  der  einen  Seite  unzweifelhaft,  daß  die  regressiven 
Kontaktwirkungen  auf  dem  der  Lautbewegung  vorauseilenden  Fluß 
der  Vorstellungen,  also  auf  einer  psychischen  Ursache  beruhten,  so 
glaubte  er  umgekehrt  schließen  zu  dürfen,  bei  allen  progressiven 
sei  eine  rein  physische  Abhängigkeit  anzunehmen.    Demnach  unter- 


^)  Der  erste,  der  in  diesem  Sinne  die  regressive  Assimilation  aufgefaßt  hat, 
scheint,  nach  einer  Bemerkung  W.  Scherers,  Th.  Jacobi  gewesen  zu  sein  (Scherer, 
Zur  Geschichte  der  deutschen  Sprache,^  S.  35).  Wie  sehr  er  sich  aber  dabei  den 
Vorgang  als  einen  rein  psychischen  denkt,  geht  daraus  hervor,  daß  er  ihn  als  eine 
»Antizipation  des  Ableitungs-  oder  Endvokals  in  der  Vorstellung«  bezeichnet.  In 
der  »Vorstellung«  mögen  die  Vokale  als  die  klangreicheren  Laute  die  wirksameren 
sein,  mit  Rücksicht  auf  die  Artikulationsbewegungen  stehen  sie  jedenfalls  hinter  den 
Konsonanten  zurück. 

Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i,     2.  Aufl.  27 


Der  Lautwandel. 


schied  er  zwischen  psychisch  und  physisch  bedingten  Vorgängen 
der  Lautattraktion.  Jenen  wies  er  die  regressiven,  diesen  die  pro- 
gressiven Wirkungen  zu.  Indirekt  machte  er  für  die  letzteren 
freilich  ebenfalls  psychische  Motive  insofern  verantwortlich,  als  er, 
der  hergebrachten  »Bequemlichkeitstheorie«  sich  anschließend,  »Eile, 
Nachlässigkeit  und  Schlaffheit«  als  ihre  wesentlichsten  Ursachen  be- 
trachtete'). Diese  Annahmen  haben  unter  Sprachforschern  und 
Psychologen  eine  ziemlich  weite  Verbreitung  gefunden,  so  daß  sie 
wohl  noch  gegenwärtig  als  die  vorherrschenden  gelten  können^). 

Gleichwohl  läßt  sich  eine  solche  Gegenüberstellung  psychisch 
und  physisch  bedingter  Lautänderungen  nicht  aufrechterhalten. 
Gerade  hier  sind  die  normalen  und  pathologischen  »Lautvermen- 
gungen«,  bei  denen  wir  uns  in  der  günstigen  Lage  befinden,  analoge 
Erscheinungen  in  ihrer  individuellen  Entstehung  verfolgen  zu  können, 
entscheidende  Belege  für  eine  andere  Auffassung^).  Nach  den  dort 
gewonnenen  Ergebnissen  bildet  nämlich  nicht  nur  der  dem  ge- 
sprochenen Wort  vorauseilende  Verlauf  der  Vorstellungen  ein  wesent- 
liches Moment  bei  der  Antizipation  von  Lauten,  sondern  auch  dem 
umgekehrten  Vorgang,  der  Einwirkung  vorausgehender  auf  nach- 
folgende Laute,  liegt  nicht  minder  ein  psychisches  Moment,  eine 
Nachwirkung  des  vorausgegangenen  Klanges  im  Bewußtsein,  zu- 
grunde. Ganz  besonders  die  auffallenden  Steigerungen  dieser  Nach- 
wirkung, wie  sie  in  pathologischen  Fällen  vorkommen,  bilden  hierfür 
überzeugende    Belege.      Freilich    ist    im    normalen    Bewußtsein    der 


^)  Steinthal,  Zeitschr.  für  Völkerpsychologie  und  Sprachwissenschaft,  I,  1860, 
S.  93  ff.     Vgl.  bes.  S.  125  f. 

2)  Vgl.  z.  B.  Misteli  (Lautgesetz  und  Analogie,  Zeitschr.  f.  Völkerpsychologie  usw. 
XI,  1880,  S.  388  ff.),  der  die  Möglichkeit  einer  merklichen  psychischen  Tätigkeit 
bei  der  progressiven  Assimilation  dadurch  für  widerlegt  hält,  daß  dieselbe  entweder 
einen  rückwärts  gekehrten  Ablauf  der  Lautbilder  oder  ein  langsameres  Denken  als 
Sprechen  voraussetzen  würde,  was  beides  unmöglich  sei.  Doch  scheint  Misteli  die 
von  ihm  beibehaltene  scharfe  Scheidung  einer  »regressiven  oder  psychischen«  und 
einer  »progressiven  oder  leiblich  mechanischen  Assimilation<  eigentlich  auch  nur 
widerwillig  zuzugestehen,  da  er  gegen  Bmgmann,  der  (Morpholog.  Untersuchungen, 
I,  S.  IV  ff.)  auch  für  diese  Erscheinungen  die  Notwendigkeit  einer  Erforschung  der 
psychischen  Bedingungen  betont  hatte,  den  Standpunkt  festhält,  alles,  was  den  Laut 
selbst  angehe,  gehöre  in  die  Lautphysiologie,  und  diese  habe  wenigstens  bei  dem 
gegenwärtigen  Stand  der  Forschung  möglichst  die  Psychologie  von  sich  fern  zu 
halten  (S.  397  ff.). 

3)  Vgl.  oben  S.  382  ff. 


Theorie  der  Kontaktwirkungen.  ^jq 

Kulturvölker  der  vorwärts  gerichtete  Drang  der  Vorstellungen  über- 
wiegend, und  die  Nachwirkungen  verschwinden  hier,  wenigstens  beim 
erwachsenen   Menschen,    verhältnismäßig   rasch,    während   sie  beim 
Kinde  viel  länger  andauern,  wie  das  starke  Übergewicht  progressiver 
Lautangleichungen  in  der  Kindersprache  zeigt  (S.  306).     Nicht  bloß 
bei    den   beiden  Formen    der  Assimilation,    sondern    auch    bei   der 
Dissimilation,  sowie  bei  den  übrigen  hierher  gehörigen  Vorgängen 
der  Einschaltung,  Ausstoßung  und  Zusammenziehung  der  Laute  sind 
jedoch    assoziative    Einflüsse    als    notwendige    Bedingungen    voraus- 
zusetzen.    Bei   der  Ausstoßung  und   Zusammenziehung  ergibt    sich 
das  schon  aus   ihrer  engen  Beziehung  zur   regressiven  Assimilation. 
Da  sie  eigentlich  nichts  anderes   sind  als    sehr  intensive  Wirkungen 
der  nachfolgenden  Laute   auf  die   vorangehenden  (S.  384  ff.),  so  ist 
natürlich    auch    derselbe    Einfluß    der    vorauseilenden    Vorstellungs- 
bewegung   nur  in  höherem  Grade   anzunehmen.     Ebenso    setzt    die 
Dissimilation  analoge  psychische  Bedingungen  voraus.    Die  Wirkung 
ist   hier  bloß  insofern   verschieden,  als   sie   nicht  in   angleichendem, 
sondern  in  differenzierendem  Sinn  erfolgt.    Darum  ist  es  kein  wesent- 
lich anderer  Vorgang,  der  supmus  in  sicmmus^  agnus  in  angnus^  und 
der  umgekehrt   sumtus  in  swiiptus^  dhidJieti  in  dadhäti^  rlS-rjai  über- 
führt, oder  der  in  pluralis  und  singidaris  die  gleiche  Adjektivendung 
jedesmal  in  einer  von  dem  Stammkonsonanten  abweichenden  Rich- 
tung   gestaltet.      Man    muß    sich    bei    allen    diesen    Erscheinungen 
gegenwärtig    halten,    daß    der    einzelne    Laut    nie    für    sich    allein, 
sondern  immer  nur  in  dem  Zusammenhang  einer  bestimmten  Laut- 
folge im  Bewußtsein  existiert.   Wie  der  rasche  Übergang  der  labialen 
Tenuis  in  den  entsprechenden  Resonanzlaut  die  erstere  verschwin- 
den läßt   [supmus  in  summus\   so  schiebt  sich  umgekehrt  bei  dem 
Übergang    des   labialen   Resonanzlautes   in   die   dentale   Tenuis    von 
selbst,    und   um   so  leichter,  je  rascher  der  Übergang  erfolgt,  zwi- 
schen beide  die   labiale   Tenuis  ein  [sumtus  in  sumptus).     Ahnliche 
Wirkungen   können   dann   aber   auch    über    zwischenliegende  Laute 
hinausreichen:  so  in  singuralis^  pluralis^  marble  für  marmor  u.  dgl., 
wo  überall  der  Wechsel  zwischen  verwandten  und  leicht  ineinander 
übergehenden  Lauten  im  Vergleich  mit  der  Wiederholung  der  gleichen 
Konsonanten  als    eine   bei   rascher  Artikulation  unbewußt  sich  ein- 
stellende Anpassung   an   den  Fluß    der  Rede    auftritt;    daher    denn 

27* 


420 


Der  Lautwandel. 


auch  schon  bei  den  Erscheinungen  des  »Versprechens«  und  ebenso 
in  der  Kindersprache  solche  Dissimilationen  vermischt  mit  Assimi- 
lationen, Lautausstoßungen  und  -kontraktionen  vorkommen  (S.  3026".). 
Der  Irrtum  Steinthals,  der  in  diesen  Fällen,  sobald  die  Wirkung 
regressiv  erfolgt,  einen  psychischen  Vorgang  sieht,  aber  in  progres- 
siver Richtung  einen  solchen  für  unmöglich  hält,  wurzelt  schließlich  in 
einer  allgemeineren  psychologischen  Voraussetzung,  die  nach  allem, 
was  wir  aus  experimentellen  Ermittelungen  über  den  Verlauf  der 
Bewußtseins  Vorgänge  wissen,  falsch  ist:  in  der  Voraussetzung  näm- 
lich, daß  in  einem  gegebenen  Augenblick  immer  nur  eine  einzige 
Vorstellung  im  Bewußtsein  anwesend  sei').  Daraus  würde  sich 
natürlich  ebensogut  die  Unmöglichkeit  einer  regressiven  wie  die 
einer  progressiven  Wirkung  folgern  lassen.  Denn  wäre  jeweils  nur 
eine  Vorstellung  möglich,  so  würde  das  notwendig  der  im  Augenblick 
ausgesprochene  Laut  sein,  neben  dem  weder  ein  später  kommender 
noch  ein  früher  dagewesener  Platz  fände.  Steinthal  hatte  dieser 
Folgerung  durch  seine  Hypothese  der  »schwingenden  Vorstellungen« 
zu  entgehen  versucht.  Jeder  Satz  verläuft,  wie  er  meint,  »punktuell« 
durch  unser  Bewußtsein;  aber  das  eben  gesprochene  Wort  kommt 
nicht  sofort  mit  seinem  Verschwinden  im  Unbewußten  zur  Ruhe, 
sondern  es  befindet  sich  noch  während  einer  gewissen  Zeit  im  er- 
regten Zustand.  Ebenso  seien  die  kommenden  Worte  bereits  in 
einer  gewissen  Bewegung  im  unbe\\aißten  Hintergrund  der  Seele, 
ehe  sie  ins  Bewußtsein  eintreten,  so  daß  dadurch  auch  das  momentan 
gesprochene  Wort  mit  dem  vorausgehenden  und  nachfolgenden  in 
Verbindung  treten  könne  ^).  Dies  würde  freilich  an  und  für  sich 
wieder  ebensogut  eine  vorwärts  wie  rückwärts  gerichtete  Wirkung 
erzeugen  können.  Aber  es  soll  dann  noch  das  weitere  Moment 
hinzukommen,  daß  der  physische  Mechanismus  der  Sprachorgane 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  selbständig  abläuft,  wie  eine  aufgezogene 
Uhr,  ohne  daß  er  in  jedem  Augenblick  mit  der  Vorstellungsbewegung 
gleichen  Schritt  halten  müßte.  Da  nun  die  Gedanken  rascher  fließen 
als  die  Worte,  so  soll  im  allgemeinen  der  Vorstellungs verlauf,  für 
dessen    Glieder  jener    Satz    von    der    punktuellen   Ausdehnung    des 


i)  Steinthal,  Einleitung  in  die  Psych ol.  und  Sprachw.,   1871,  S.  134. 
2)  Ebenda  S.  237  ff.     Zeitschr.  für  Völkerpsych.  I,  S.  ili. 


Theorie  der  Kontaktwirkungen.  ^21 

Bewußtseins  allein  gilt,  dem  Verlauf  der  Worte  meist  um  eine  ge- 
wisse Strecke  voraus  sein.  Dadurch  werde  dann  unmittelbar  die 
regressive  Wirkung  als  eine  psychisch  bedingte  begreiflich,  wogegen 
es  naheliege,  die  progressive  aus  eben  jener  Trägheit  der  Artiku- 
lationsorgane abzuleiten,  die  das  Vorauseilen  des  Gedankenlaufs 
möglich  macht'). 

Diese  ganze  Betrachtungsweise  steht  und  fällt,  wie  man  sieht, 
mit  der  Annahme  der  punktuellen  Enge  des  Bewußtseins.  Schon 
in  der  Hilfshypothese  der  »schwingenden  Vorstellungen«  liegt  aber 
eigentlich  das  Eingeständnis  der  Unhaltbarkeit  dieser  Annahme. 
Denn  die  Tatsachen,  denen  zuliebe  sie  gemacht  ist,  beweisen 
unbefangen  betrachtet,  daß  es  eine  solche  punktuelle  Enge  nicht 
gibt.  Wie  ließe  es  sich  auch  sonst  begreifen,  daß  in  jedem  Augen- 
blick einer  zusammenhängenden  Rede  die  Prägung  des  Gedankens 
offenbar  nicht  bloß  durch  die  momentan  ausgedrückte  Vorstellung, 
sondern  gleichzeitig  durch  die  vorangehenden  und  die  nachfolgenden 
bestimmt  wird?  Die  Lehre  von  den  »schwingenden  Vorstellungen« 
ist  hier  nur  ein  Notbehelf,  um  diese  Tatsache  mit  der  Hypothese, 
der  sie  in  Wahrheit  widerspricht,  zu  vereinigen.  Denn  das  Wesen 
dieser  »schwingenden  Vorstellungen«  besteht  eigentlich  darin,  daß 
den  unbewußten  Vorstellungen  die  bekannten  Wirkungen  der  be- 
wußten zugeschrieben  werden.  Sie  sollen  sich  genau  so  wie  diese 
verhalten,  abgesehen  davon,  daß  sie  eben  nicht  im  Bewußtsein  sind. 
Woher  wissen  wir  aber,  daß  sie  das  nicht  sind,  und  was  berechtigt 
uns  darum,  dem  »Unbewußten«  eine  Wirkimg  zuzuschreiben,  die 
wir  uns  durchaus  nur  als  eine  bewußte  denken  können?  Offenbar 
bloß  der  Umstand,  daß  wir  diese  Vorstellungen  nicht  ohne  weiteres 
bemerken  und  beobachten  können.  Das  würde  aber  immer  nur 
rechtfertigen,  sie  nicht  als  »unbewußte«,  sondern  als  »unbemerkte« 
zu  bezeichnen,  das  heißt  anzunehmen,  neben  den  klarer  bewußten 
Vorstellungen,  über  die  wir  uns  deutliche  Rechenschaft  geben,  seien 
auch  noch  andere,  dunklere  vorhanden.  Daß  dies  im  Fluß  der  ge- 
sprochenen Rede  in  der  Regel  teils  diejenigen  Wort-  und  Begriffs- 
vorstellungen sein  werden,  die  den  unmittelbar  deutlich  aufgefaßten 
vorausgehen,    teils   diejenigen,    die  ihnen  nachfolgen,    liegt   auf  der 


')  Zeitschr.  f.  Völkerpsychol.  I,  S.  126  f. 


422 


Der  Lautwandel. 


Hand.  Auch  steht  dies  mit  den  Beobachtungen,  die  wir  unter  den 
zur  Entscheidung  dieser  Frage  geeignetsten  experimentellen  Be- 
dingungen machen  können,  im  Einklang.  Bei  momentaner  Ein- 
wirkung einer  größeren  Anzahl  von  Gesichtseindrücken  unterscheiden 
wir  neben  dem  sehr  beschränkten  Umfang  deutlich  apperzipierter 
Reize  andere,  die  dunkler  aufgefaßt  werden,  und  endlich  noch  andere, 
bei  denen  wir  nur  noch  ein  unbestimmtes  Dasein  im  Bewußtsein 
konstatieren  können.  Lassen  wir  Taktschläge  in  regelmäßigen  Zeit- 
intervallen einwirken,  so  läßt  sich  die  Grenze  feststellen,  wo  plötz- 
lich eine  Zusammenfassung  der  vorhergegangenen  mit  den  gegen- 
wärtigen nicht  mehr  möglich  ist,  weil  jene,  dunkler  und  dunkler 
werdend,  schließlich  den  Umfang  des  Bewußtseins  überschreiten"). 
Aber  nicht  bloß  diese  auf  ganz  anderem  Wege  gewonnenen  Beob- 
achtungen beweisen  die  Undurchführbarkeit  der  Hypothese  von  der 
»punktuellen  Enge  des  Bewußtseins«,  auch  die  Erscheinungen  selbst, 
die  der  Fluß  der  Rede  darbietet,  sind  unterstützende  Zeugnisse  gegen 
jene  offenbar  nicht  aus  Beobachtungen,  sondern  aus  der  meta- 
physischen Hypothese  einer  punktuellen  Unteilbarkeit  der  Seele  her- 
stammende Voraussetzung.  In  dem  Augenblick,  in  dem  ich  einen 
Satz  auszusprechen  beginne,  steht  das  Ganze  des  Gedankens  schon 
in  allgemeinen  Umrissen,  mit  etwas  deutlicherer  Ausprägung  einzelner 
Hauptvorstellungen,  vor  mir;  und  in  dem  Augenblick,  in  dem  ich 
den  Satz  vollendet  habe,  überblicke  ich  meist  noch  einmal  dieses 
Ganze,  während  sich  oft  gleichzeitig  schon  der  folgende  Gedanke 
unbestimmt  ankündet  ^).  Dabei  ist  von  einem  Hin-  und  Herschwingen 
abwechselnd  über  die  Schwelle  des  Bewußtseins  tretender  und  wieder 
unter  sie  sinkender  Vorstellungen  nichts  zu  bemerken,  sondern  der 
ganze  Vorgang  spielt  sich  in  der  Regel  vollkommen  stetig  und  ruhig 
ab,  und  als  besonders  charakteristische  Symptome  der  dunkler  be- 
wußten Inhalte  tritt  überall  nur  ihr  Einfluß  auf  die  Gefühlslage 
hervor. 

b.    Psychophysische  Theorie  der  Lautinduktion. 

Nach  allen  oben  erörterteten  Tatsachen  kann  es  nicht  zweifelhaft 
sein,    daß    ein    im  Fluß    der    Rede    auftretender    Sprachlaut   einem 


Grandriß    der  Psychologie,^  S.  253  ff.     Vgl.  auch  unten  Kap.  V,  Nr.  II. 
Weiteres  hierüber  in  Kap.  V,  Nr.  IQ,  5,  und  in  Kap.  VII. 


Theorie  der  Kontaktwirkungen-  42'' 

doppelten  psychischen  Einfluß  ausgesetzt  ist:  einerseits  der 
Wirkung,  welche  die  nachfolgenden,  teilweise  selbst  schon  in  sprach- 
licher Form  im  Bewußtsein  anklingenden  Vorstellungen  auf  ihn  aus- 
üben, anderseits  aber  auch  der  Nachwirkung,  die  von  dem  ge- 
sprochenen Wort  im  Bewußtsein  zurückgeblieben  ist.  Welcher 
dieser  beiden  Einflüsse  überwiegt,  oder  ob  beide  in  gewissem  Grade 
sich  mischen,  das  hängt  natürlich  von  besonderen  Bedingungen 
individueller  oder  genereller  Art  ab.  In  diesem  Sinn  ist  daher  die 
Erscheinung,  daß  in  bestimmten  Sprachen  die  regressive  und  in 
andern  ebenso  ausgeprägt  die  progressive  Richtung  der  Verände- 
rungen vorwaltet,  zu  beurteilen.  Eigentlich  ist  dieser  Unterschied 
selbst  schon  ein  Zeugnis  dafür,  daß  auch  bei  der  progressiven 
Form  psychische  Bedingungen  nicht  fehlen  können.  Denn  ein 
solcher  fast  zum  Gegensatze  sich  zuspitzender  Unterschied  läßt  sich 
doch  kaum  anders  als  aus  einer  verschiedenen  psychischen  Anlage 
begreifen.  Wo  die  regressive  Assimilation  vorherrscht,  wie  bei  den 
Indogermanen,  da  wird  man  annehmen  müssen,  daß  die  Gedanken- 
bewegung vorzugsweise  vor\värts,  den  kommenden  Vorstellungen 
zugewandt  sei.  Jene  Tendenz  nach  wachsender  Geschwindigkeit  des 
Redeflusses,  wie  sie  sich  als  Produkt  der  intellektuellen  Kultur  ein- 
gestellt hat,  mußte  zugleich  die  vorwärts  eilende  Richtung  der  Vor- 
stellungsbewegung erzeugen,  die  in  der  Rückwirkung  der  kommen- 
den Laute  auf  die  vorangegangenen  ihren  Ausdruck  findet.  In 
dieser  Hinsicht  ist  es  bedeutsam,  daß  sich  in  den  älteren  Formen  der 
indogermanischen  Sprachen  noch  am  häufigsten  Erscheinungen  der 
entgegengesetzten,  progressiven  Wirkung  vorfinden  (S.  41 3  f.),  und 
daß  diese  noch  heute  in  der  Sprache  des  Kindes  fast  die  allein- 
herrschende ist  (S.  306).  Nicht  minder  ist  es  charakteristisch,  daß 
sie  als  bleibende  Erscheinung  ganz  besonders  in  Sprachgebieten  vor- 
kommt, in  denen  überhaupt  eine  Neigung  zu  Lautwiederholungen 
besteht  (S.  413).  Die  progressive  Wirkung  selbst  wird  man  daher 
im  allgemeinen  als  die  ursprünglichere,  als  diejenige  ansehen  dürfen, 
die  sich  naturgemäß  als  nächste  Folge  der  Lautäußerung  einstellt. 
Die  »Vokalharmonie«  ist  eben  nur  ein  spezieller  Fall  von  Laut- 
wiederholung. Nun  kann  man  die  letztere  in  ihren  sonstigen,  be- 
reits in  das  Gebiet  der  Wortbildungsprozesse  hereinreichenden  For- 
men unmöglich    für    einen    bloß    »leiblich   mechanischen«   Vorsfanpf 


424 


Der  Lantvrandel. 


halten.  Schon  durch  diesen  Zusammenhang  wird  also  eigentlich 
die  Annahme  eines  rein  physischen  Ursprungs  der  vonvärts  gerich- 
teten Laut\virkungen  widerlegt"). 


i^  Eine  im  obigen  Sinne  psychologische,  in  einigen  Punkten  der  hier  gegebenen 
ähnliche  Erklärung  hat,  \s"ie  ich  einer  Notiz  von  Sievers  (Grundzüge  der  Phonetik.* 
S.  252)  entnehme,  bereits  Böthlingk  Jen.  Lit.-Ztg.  1874,  S.  767)  von  der  ver- 
schiedenen Richtung  der  Lautwirkungen  bei  dem  »kombinatorischen  Lautwandel« 
gegeben :  >Ein  indogermanisches  Wort«,  sagt  er,  »ist  in  dem  Maß  eine  wirkliche 
Einheit,  daß  der  Sprechende  schon  beim  Hervorbringen  der  ersten  Silbe  das  ganze 
Wort  sozusagen  im  Geist  ausgesprochen  hat.  Nur  auf  diese  Weise  ist  es  zu  er- 
klären, daß  zur  Erleichterung  der  Aussprache  einer  nachfolgenden  Silbe  schon  die 
vorangehende  modifiziert  wird.  Ein  Indi^-iduum  der  ural-altaischen  Völkergrappe 
stößt,  unbekümmert  um  das  Schicksal  des  Wortes,  die  erste  Silbe  desselben,  den 
Träger  des  Hauptbegriffs,  ohne  weiteres  heraus;  an  diese  reiht  er  dann  die  weniger 
bedeutsamen  Silben  in  etwas  roher  Weise  an,  indem  er  gleichsam  erst  in  dem 
Augenblick  an  Abhilfe  denkt,  wenn  er  nicht  mehr  weiter  kann.«  Zu  dem  ersten 
Teil  dieser  Erklärung  bemerkt  Sievers  mit  Recht,  daß  man  ihr  im  allgemeinen  zu- 
stimmen könne,  jedoch  mit  der  Einschränkung,  daß  von  einem  »Bestreben  nach 
Erleichterung«  nicht  geredet  werden  sollte,  da  willkürlich  und  bewußt  die  Assimi- 
lationen nicht  seien.  Auch  beschränkt  sich,  wie  aus  den  oben  angeführten  Be- 
obachtungen her\'orgeht.  das  Vorauseilen  der  Vorstellungen  keineswegs  auf  die  Teile 
des  nämlichen  Wortes.  Weiterhin  bedarf  aber  die  Schilderung  des  Bewußtseins- 
zustandes bei  der  progressiven  Assimilation  insofern  der  Richtigstellung,  als  eine 
»Abhilfe«  im  Augenblick  der  Aussprache  nicht  vorliegt,  da  man  unter  dieser  doch 
wiedermn  nur  ein  willkürliches  zwecktätiges  Handeln  verstehen  kann.  Bei  der 
»Vokalharmonie«  stellt  sich  -s-ielmehr  ein  dem  vorangegangenen  gleicher  Klang 
lediglich  deshalb  ein,  weil  derselbe  unmittelbarer  dem  Bewußtsein  gegenwärtig  ist 
als  der  in  einem  andern  Lautgebilde  von  sonst  gleicher  Bedeutung  gebrauchte.  In 
sn'-mek  wird  also  z.  B.  der  vokalische  Inlaut  des  Suffixes  unmittelbar  von  dem 
vorangegangenen  Stammvokal  attrahiert.  und  nur  die  konsonantischen  Bestandteile 
folgen  der  ganzen  Gruppe  übereinstimmender  Suffixe  von  gemeinsamer  Lautform, 
wie  bak-mak,  tnä-tnäk  usw.  Es  würde  aber  unberechtigt  sein,  dies  auf  eine  beson- 
dere Trägheit  des  Redenden  zurückzuführen.  Sie  beruht  darauf  jedenfalls  ebenso- 
wenig wie  die  verwandte  Erscheinung  der  Wortwiederholung,  die  im  Gegenteil, 
wie  wir  sehen  werden,  meist  aus  einem  Trieb  nach  energischer  Betonung  der  Vor- 
stellungen hervorgeht.  Eher  wird  man  sagen  können,  die  progressive  Assimilation 
sei  die  natürliche  und  darum  ursprüngliche  Form  der  Lautwirkung  im  Bewußtsein, 
solange  nicht  durch  die  zunehmende  Schnelligkeit  der  Gedankenbewegung  eine 
relativ  stärkere  Wirkung  der  kommenden  Laute  auf  die  vorangehenden  eingetreten 
ist.  Dafür  spricht  vor  allem  auch  ihr  Übergewicht  in  der  frühesten  Kindersprache. 
In  diesem  Sinne  würde  sie  also  in  ihrer  einseitigen  Ausbildung  als  ein  Zeichen 
primitiverer  geistiger  Kultur  zu  deuten  sein,  wobei  freilich  beachtet  werden  muß, 
daß  von  einem  gewissen  Punkt  an  die  Sprache  stabiler  wird,  so  daß  daher  der 
Zustand  einer  Sprache  nicht  den  Zustand  der  heutigen  Kultur  eines  Volkes,  son- 
dern denjenigen  spiegelt,  in  dem  jene  letzte  Stabilisierang  der  Wortformen  ein- 
getreten ist.     Auch  ist   nicht  zu    vergessen,    daß   die  Ursachen  der  progressiven  wie 


Theorie  der  Kontaktwirkungen.  ^2'; 

Verfolgt  man  die  Assoziationswirkungen  in  ihren  besonderen 
Gestaltungen  bei  den  verschiedenen  Kontakterscheinungen  der 
Sprache,  so  zeigen  sich  nun  aber  schließlich  doch  besonders  in  den 
elementaren  Prozessen,  welche  die  komplexen  Assoziationen  zusam- 
mensetzen, charakteristische  Unterschiede  bei  den  Assimilationen 
und  Dissimilationen  einerseits,  bei  den  regressiven  und  progressiven 
Lautinduktionen  anderseits.  Bei  den  Assimilationen  ist  unter  allen 
Umständen  die  Assoziationswirkung  eine  direkte:  der  induzierende 
Laut  ist  in  dem  Augenblick,  wo  er  auf  den  induzierten  einwirkt,  im 
Bewußtsein  derart  aktuell,  daß  er  sich  entweder  ganz  an  die  Stelle 
des  ursprünglich  vorhandenen  Lautes  drängt  oder  diesen  in  seinem 
Lautcharakter  sich  angleicht.  Die  assoziativen  Elementarwirkungen 
sind  also  hier  wesentlich  Gleichheitsassoziationen,  und  wo  eine 
völlige  Angleichung  nicht  zustande  kommt,  da  ist  dies  nur  darauf 
zurückzuführen,  daß  der  ursprüngliche  Laut  noch  eine  partielle 
Nebenwirkung  geltend  macht,  —  zugleich  ein  Fall,  der  besonders 
deutlich  die  Entstehung  einer  solchen  ^»Ahnlichkeitsassoziation«  aus 
einer  Mischung  gleicher  und  verschiedener  Elementarwirkungen  ver- 
deutlicht. Demnach  sind  die  Lautassimilationen  psychologisch  be- 
trachtet simultane  Assoziationen.  Der  induzierende  Laut  ver- 
drängt den  induzierten  ganz  oder  teilweise,  ohne  daß  in  dem  Moment, 
wo  sich  die  Assoziation  vollzieht,  etAvas  anderes  als  die  vollendete 
Assoziationswirkung  im  Bewußtsein  ist:  der  Vorgang  ist  so  auch  im 
psychologischen  Sinn  eine  »Assimilation«,  da  wir  mit  dem  letzteren 
Namen  eben  eine  solche  simultane  Assoziation  von  Elementen  eines 
und  desselben  Sinnesgebiets  verstehen').  Nicht  ganz  so  einfach  liegen 
die  Verhältnisse  bei  den  Dissimilationen.  Dies  hat  aber  offenbar 
darin  seinen  Grund,  daß  man  unter  diesem  Namen  überhaupt  ziemlich 


der  regressiven  Attraktionserscheinungen  fortan  in  jedem  Sprachbewußtsein  neben- 
einander wirksam  bleiben,  daher  denn  auch  beide  nebeneinander  bestehen  können, 
wobei  nur  eine  verschieden  starke  Neigung  in  der  einen  oder  andern  Richtung  nach- 
zuweisen ist.  Ein  Zeugnis  hierfür  ist  das  Rumänische,  in  welchem  die  Vokalharmonie 
in  beiden  Formen  ziemlich  häufig  ist  (Ad.  Storch,  Vokalharmonie  im  Rumänischen, 
Diss.  Leipzig  1899;,  während  sie  in  andern  romanischen  Sprachen  selten  und  nur  in 
regressiver  Richtung  vorzukommen  scheint  'Meyer-Lübke ,  I,  S.  286  f.).  Inwieweit 
übrigens  bei  den  Rumänen  die  Nachbarschaft  der  Türken  und  Magyaren  mit  ihrer 
progressiven  Vokalassimilation  eingewirkt  haben  mag,  bleibt  dahingestellt. 
')  Grundriß  der  Psychologie,^  S.  274  ff. 


A26  Der  Lautwandel. 


verschiedenartige  Erscheinungen  zusammenfaßt.  Vor  allem  lassen  sich 
hier  wohl  drei  Gruppen  solcher  Erscheinungen  unterscheiden,  je 
nachdem  gleichzeitig  Lautverlust  oder  aber  Lautwechsel  ohne  Laut- 
verlust oder  endlich  Lautvermehrung  mit  oder  ohne  Lautwechsel 
stattfindet. 

Der  erste  dieser  Fälle,  die  dissimilatorische  Elision,  nähert 
sich  in  seinen  Bedingungen  am  meisten  der  Assimilation.  Wie  bei 
der  letzteren  ein  vorangehender  und  ein  folgender  Laut  miteinander 
zu  einem  einheitlichen  Lautgebilde  verschmelzen,  so  verdrängt  bei 
jener  der  eine  den  andern  ganz  aus  dem  Bewußtsein,  indem  sich 
unter  der  Wirkung  des  vorandrängenden  Vorstellungsverlaufs  die 
Artikulationsorgane  auf  einen  folgenden  Lautkomplex  einstellen,  ehe 
noch  der  momentan  erzeugte  vollständig  hervorgebracht  ist.  Von 
den  sonstigen  im  raschen  Redefluß  entstehenden  Elisionen  unter- 
scheidet sich  die  dissimilatorische  nur  dadurch,  daß  bei  ihr  der  Aus- 
fall durch  die  folgende  Wiederholung  des  gleichen  Lautes  unter- 
stützt wird,  wie  in  (puTQia  für  cpQarQia,  a/^KpoQSvg  für  ccfxcpicpoQevg^ 
semestris  für  s^nimestris ,  gratulari  für  gratitiilari  usw.  Alle  diese 
Fälle  reichen  in  das  Gebiet  der  Wortbildung  durch  Wortzusammen- 
setzung hinüber.  Indem  bei  dieser  die  Beschleunigung  des  Rede- 
flusses eine  wesentliche  Rolle  spielt,  erklärt  es  sich  zugleich,  daß 
hier  die  Veränderung  durchweg  in  regressiver  Form  erfolgt.  So 
finden  sich  denn  zahlreiche  Analoga  nicht  nur  in  den  Erscheinungen 
des  Versprechens,  sondern  auch  in  denen  des  Verschreibens ,  wo 
das  wiederholte  Vorkommen  desselben  Buchstabens  eine  besonders 
häufige  Ursache  von  Elisionen  ist. 

Der  zweite  Fall  ist  die  eigentliche  Dissimilation,  eine  Laut- 
induktion, bei  der  von  zwei  gleichen  in  kurzem  Abstand  sich  wieder- 
holenden Lauten  der  eine  nach  einer  abweichenden,  aber  verwandten 
Lautgruppe  hin  verändert  wird,  wie  z.  B.  ^d-qecpu)  in  TQecpco,  ^rjQrjTrjQ 
in  d-rilrjxriQ^  venenum  in  veleiio^  turtur  in  turtle  usw.  Auch  hier 
setzt  die  Erscheinung,  ebenso  wie  die  Lautassimilation,  eine  assozia- 
tive Wechselwirkung  der  aufeinander  folgenden  Lautgebilde  voraus: 
ohne  diese  würde  ja  ein  momentan  noch  nicht  ausgesprochener 
Laut  ebensowenig  dissimilativ  wie  assimilativ  wirken  können.  Wäh- 
rend derselbe  bei  der  Assimilation  die  Artikulationsbewegung  un- 
mittelbar   nach    sich   zieht,   modifiziert    er  diese    bei    der    dissimila- 


Theorie  der  Kontaktwirkungen.  ^27 

torischen  Lautänderung  im  Sinn  eines  erleichterten  Übergangs  auf 
einen  andern  dominierend  gewordenen  und  deshalb  der  Verän- 
derung widerstehenden  Laut.  Bei  der  eigentlichen  Dissimilation 
srewinnt  dann  die  relative  Assoziationskraft  der  in  Wechsel- 
Wirkung  tretenden  Laute  den  entscheidenden  Einfluß:  der  durch 
Assoziationshilfen  wiederstandskräftigere  Laut  bleibt  bestehen,  der 
schwächere  verändert  sich.  Hieraus  ergibt  sich  meist  sofort  die 
Richtung  der  dissimilierenden  Wirkung.  So  entsteht  einerseits  sin- 
gjilaris  durch  Assoziation  mit  singiili^  anderseits  aber  pluralis 
durch  Assoziation  mit  phires.  Natürlich  wird  übrigens  dieser  Unter- 
schied der  assoziativen  Hebung  auch  bei  den  dissimilatorischen 
Elisionen  in  der  Regel  eine  mitwirkende  Rolle  spielen.  So  wird 
z.  B.  in  einem  Wort  wie  äficpupooevg  der  zweite  Bestandteil  durch 
die  gleichzeitige  Assoziation  von  Laut  und  Bedeutung  mit  fpoQsvg, 
(poQct  usw.  gehoben.  Sobald  daher  das  zusammengesetzte  Wort 
zu  einer  neuen  Worteinheit  verschmolzen  ist,  kann  das  Ganze  leicht 
zu  af.i(poQsvg,  unmöglich  aber  etwa  zu  *äf.ifpiQEvg  verstümmelt 
werden.  Man  wird  demnach  den  Unterschied  der  Wirkungen  zwi- 
schen Assimilation  und  Dissimilation  auch  darauf  zurückführen 
können,  daß  bei  der  Assimilation  der  Einzellaut  als  solcher,  bei  der 
Dissimilation  der  ganze  Lautkomplex,  in  dem  jener  das  herr- 
schende Element  bildet,  assoziativ  wirksam  wird.  Damit  stimmt 
überein,  daß  namentlich  die  konsonantischen  Assimilationen  häufiger 
im  unmittelbaren  Kontakt  der  Laute,  die  entsprechenden  Dissimi- 
lationen aber  erst  auf  größere  Entfernungen  hin  zu  wirken  pflegen; 
und  hiermit  hängt  offenbar  wieder  zusammen,  daß  eigentlich  nur 
die  Assimilationen  reine  Kontakterscheinungen  sind,  während  bei 
den  Dissimilationen  bereits  Fernewirkungen,  nämlich  Assoziationen 
mit  andern  Wortgebilden,  mitspielen^). 


^)  An  assoziative  Fernewirkungen  hat  wohl  auch  Brugmann  gedacht,  wenn  er  die 
Dissimilation  darauf  zurückführt,  daß  ein  Sprachgebilde  »durch  andere  mit  ihm  asso- 
ziierte nicht  in  allen  Teilen  die  genügende  'etymologische'  BeHchtung«  habe.  (Kurze 
vergleichende  Grammatik  S.  40,  vgl.  auch  Ber.  der  sächs.  Ges.  d.  Wiss.,  Phil.-hist. 
Kl.  1900,  S.  394  ff.,  und  Grundriß,  I,  S.  850  ff.)  Analog  Grammont  (a.  a.  O.),  wenn 
er  die  Dissimilation  >la  loi  du  plus  fort«  nennt.  Vgl.  Wechssler,  Gibt  es  Laut- 
gesetze? S.  155  ff.  Psychologisch  scheint  es  mir  auch  hier  geboten,  den  möglicher- 
weise der  Mißdeutung  ausgesetzten  Begriff  des  Etymologischen  ganz  aus  dem  Spiel 
zu  lassen,  überdies  aber  die  Bedingungen  der  stärkeren  Wirkung  positiv  auszudrücken: 


428  Der  Lautwandel. 


Der  dritte  Fall,  die  dissimilatorische  Einschaltung,  kommt 
teils  im  unmittelbaren  Kontakt  der  Laute  in  der  Form  einer  dem 
natürlichen  Mechanismus  der  Bewegungen  folgenden  konsonantischen 
Übergangsartikulation  vor,  wie  in  siimptiis  für  siimtiis^  teils  in  der 
Form  vokalischer  Zwischenlaute  zwischen  zwei  Konsonanten,  wie  in 
lat.  Aesculapius  für  gr.  Ao/.XiqTtLÖg.  polynes.  igolide  für  engl,  gold, 
franz.  canif  für  niederl.  knijf  (Messer),  lansequenct  für  deutsch  lands- 
knecht  u.  a.  ^).  Wie  diese  Beispiele  lehren,  finden  sich  solche  Laut- 
einschaltungen, ebenso  wie  die  ihnen  entgegengesetzten  Elisionen  und 
Lautverstümmelungen,  besonders  häufig  bei  der  Aufnahme  von 
Fremdwörtern,  wo  dann  neben  der  Anpassung  an  die  gewohnte 
Artikulationslage  der  Sprachorgane  wohl  auch  noch  Assoziationen  mit 
geläufigen  Wortvorstellungen  der  eignen  Sprache  einwirken  können, 
etwa  bei  Aesculapius  solche  mit  Wörtern  wie  aes  ^  aesculus  usw. 
Auch  die  Kindersprache  ist  reich  an  Einschaltungen,  die  durch 
diese  Verhältnisse  ihres  Vorkommens  sowie  durch  ihre  häufige  Ver- 
bindung mit  den  unter  den  gleichen  Bedingungen  stehenden  Erschei- 
nungen der  Elision  schon  darauf  hinweisen,  daß  bei  ihnen  die  rein 
mechanische  Seite  der  Artikulation  die  Hauptrolle  spielt,  indes  die 
gelegentlich  mitwirkende  assoziative  Angleichung  an  andere  Wörter 
auch  hier  wieder  die  Erscheinung  den  assoziativen  Fernewirkungen 
nähert. 

Während  so  die  Assimilation  und  Dissimilation  der  Laute  nur 
äußerlich  als  Gegensätze  erscheinen,  innerlich  aber,  nach  den  sie 
bestimmenden  psychophysischen  Bedingungen,  einander  nahe  ver- 
wandt sind,   ist  dies  wesentlich  anders  bei  den  über  beide  Erschei- 


dann  bestehen  diese  eben  darin,  daß  die  eine  >Lautung<  gegenüber  der  andern 
dnrch  Hilfsassoziationen  gehoben  und  darum  zur  dominierenden  geworden  ist.  Das- 
selbe gilt  natürlich  für  die  spärlichen  Fälle  rein  vokalischer  Dissimilationen:  so 
wenn  z.  B.  societas  nicht  in  *sociitas  (vgl.  novitas)  übergegangen  ist,  wo  die  Asso- 
ziation mit  socius  erhaltend  auf  das  erste  i  eingewirkt  haben  wird.  Cl)rigens  kommt, 
wie  dieses  Beispiel  zeigt,  die  vokalische  Dissimilation,  im  Gegensatze  zur  konsonan- 
tischen, vorzugsweise  im  unmittelbaren  Kontakt  der  Laute  vor,  wogegen  umgekehrt 
die  vokalische  Assimilation  ^die  sogenannte  Vokalharmonie)  in  die  Entfernung,  die 
konsonantische  Assimilation  im  unmittelbaren  Kontakt  der  Laute  wirkt,  ein  doppelter 
Gegensatz,  der  aus  den  Bedingungen  der  Lautartikulation  in  beiden  Fällen  leicht  er- 
klärlich ist. 

^t  Weitere  Beispiele    aus   romanischem   Sprachgebiet   s.  bei  Wechssler,    Gibt  es 
Lautgesetze?  1900,  S.  153  f. 


Theorie  der  Kontaktwirkungen.  ^,q 


nungen  sich  verteilenden  Gruppen  regressiver  und  progressiver 
Kontaktwirkungen.      Indem   bei   den   ersteren    der  Laut   noch   nicht 
als  akustischer  Eindruck  vorhanden  ist,  wohl  aber  sich  die  ihm  ent- 
sprechende   Artikulationsbewegung    bereits    stark,  zum    Bewußtsein 
drängt,    ist  bei  ihnen  die  Artikulationsempfindung  der  in  der  Laut- 
komplikation dominierende  Bestandteil,  neben  dem  zwar  der  akusti- 
sche,   vermöge    seiner    innigen   Assoziation  mit  jener  Empfindung, 
nicht  fehlt,  aber  doch  verhältnismäßig  zurücktritt.     Umgekehrt  ver- 
hält es  sich  bei  den  progressiven  Erscheinungen.     Hier  wirkt  mehr 
als   die  vorangegangene  Artikulationsempfindung   des  induzierenden 
Lautes  dieser  selbst   als    unmittelbarer    akustischer  Eindruck  nach. 
Hieraus  erklärt  es  sich,    daß    die  regressive  Wirkung  bei  den  Assi- 
milationen vorzugsweise  die  für  die  Bewegungsempfindung  deutlich- 
sten Lautelemente,    die  Konsonanten,   die   progressive  die  akustisch 
wirksamsten,    die    Vokale,    trifft.      Wie    aber   auf  diese   Weise  die 
psychische  Wirkung  eines  Lautes  stets  eine  zweiseitige  ist,  ebenso 
hat  jeder  eine   rüclavärts    und  eine   vorwärts  gerichtete  physische 
Wirkimg,    die  von    der    Einübung  bestimmter   Lautverbin- 
dungen abhängt.     Auch  physiologisch  ist  ja  der  einzelne  Sprach- 
laut nichts   für  sich  allein  Bestehendes,  sondern,    wie  er  nur  in  be- 
stimmten Wortverbindungen  vorkommt,    so  wird   er  in  diesen  Ver- 
bindungen  je    nach    ihrer    relativen    Häufigkeit    mehr   oder    minder 
fest  eingeübt.     Ganz  abgesehen  von   dem  Vorauseilen  der  Vorstel- 
lungen stellen  sich  also  schon  infolge  dieser  mechanischen  Einübung 
oft  verbundener  Bewegungen   die   Sprachorgane    bereits    auf   einen 
kommenden   Laut   ein,    während   der   gegenwärtige  eben    erst   aus- 
gesprochen wird.     Damit  tritt  dann  von  selbst  je  nach  Umständen 
eine  Angleichung  des  gesprochenen  Lautes  an  einen  folgenden,  oder 
die  völlige  Elimination  eines  solchen,  oder  endlich,  wenn  der  Über- 
gang der  Artikulationen  einen  Wechsel  der  Lautbewegungen  begün- 
stigt, eine  Dissimilation  ein.    Alle  Kontaktwirkungen  finden  auf  diese 
Weise  in  dem  Prinzip  der  mechanischen  Einübung  oft  ver- 
bundener   Bewegungen    ihre    physiologische    Erklärung.      Eine 
solche  Übung  wird    aber  wieder  um  so  merklicher  sein,    je    rede- 
geübter im  allgemeinen  ein  Volk,   und  je  mehr  es  zu  rascher  Ver- 
kettung der  Laute  beanlagt   ist.     So  begreift  sich  auch  von  dieser 
Seite  aus  die  Bevorzugung  der  regressiven  Veränderungen  besonders 


430 


Der  Lautwandel. 


der  Assimilationen  in  denjenigen  Sprachen ,  deren  Entwicklungs- 
geschichte auf  eine  früh  errungene  Kultur  hinweist.  Dieses  physi- 
sche und  das  obenerwähnte  psychische  Moment  werden  sich  nun 
voraussichtlich  bei  allen  regressiven  Kontaktwirkungen  als  parallel 
laufende  Erscheinungen  verbinden,  was  nicht  ausschließt,  daß  im 
einzelnen  Fall  bald  mehr  das  eine,  bald  mehr  das  andere  in  den 
Vordergrund  tritt.  Dies  ist  darum  möglich,  weil  die  mechanische 
Einübung  dazu  führt,  daß  Artikulationen  zusammen  eingeübt  und 
infolgedessen  automatisch  verbunden  werden,  ohne  daß  die  Laut- 
vorstellung stets  gleichen  Schritt  damit  hält.  Namentlich  werden 
wir  daher  voraussetzen  dürfen,  daß  bei  den  Kontaktwirkungen  un- 
mittelbar aufeinander  folgender  Laute  dies  mechanische  Moment  zur 
Hervorbringung  des  Lautwechsels  genügt,  ohne  daß  dasselbe  in 
merklichem  Grade  von  einer  Vorausnahme  der  Lautvorstellungen 
begleitet  zu  sein  braucht.  Wo  dagegen  eine  regressive  Assimilation 
oder  Dissimilation  über  zwischenliegende  Laute  hinaus  stattfindet, 
da  wird  im  allgemeinen  die  Wirkung  stets  als  eine  psychophy- 
sische  in  dem  Sinn  aufzufassen  sein,  daß  die  bloße  mechanische 
Einübung  immer  nur  direkt  aneinander  grenzende  Bewegungen  zu 
völliger  oder  teilweiser  Verschmelzung  bringen  kann,  während  eine 
rückläufige  Wirkung,  die  weitere  Strecken  umspannt,  nicht  wohl 
ohne  eine  gleichzeitige  Vorausnahme  der  Vorstellungen  möglich 
ist  Dazu  können  dann  endlich  noch  Assoziationen  mit  außerhalb 
stehenden,  aber  laut-  und  bedeutungsverwandten  Wortgebilden,  also 
assoziative  Fernewirkungen,  treten.  Sie  erweisen  sich  besonders 
bei  den  dissimilatorischen  Lautänderungen  wirksam,  indem  sie  hier 
durch  die  Fixierung  eines  dominierenden  Lautgebildes  für  die  Rich- 
tung der  Dissimilationen  bestimmend  werden. 

Wie  bei  den  regressiven,  so  sind  nun  aber  auch  bei  den  progressi- 
ven Kontaktwirkungen  physische  Bedingungen  wohl  überall  von  mit- 
wirkender Bedeutung.  Ist  es  dort  die  Einübung  oft  verbundener 
Artikulationen,  so  kann  es  hier  die  Einstellung  auf  eine  soeben  aus- 
geführte Bewegung  sein,  die  den  Einfluß  ausübt.  So  schwierig  eine 
Lautbewegung  an  sich  sein  mag,  einmal  ausgeführt  kommt  sie 
wesentlich  leichter  zustande.  Das  Symptom  unvollkommner  Übung 
in  irgendeiner  Klasse  mechanischer  Leistungen  pflegt  sich  daher 
stets  in  der  Neigung  zur  Wiederholung  der  zuletzt  ausgeführten  Be- 


Allgemeine  Formen  assoziativer  Femewirkung.  ^^l 

wegungen  zu  äußern.  Bis  zu  einem  gewissen  Grade  bleibt  natürlich 
diese  Neigung  auch  bei  fortgeschrittener  Übung  erhalten.  Demnach 
übt  fortwährend  auch  physisch  ein  vorangegangener  Laut  eine  Art 
Attraktionswirkung  auf  einen  nachfolgenden  aus.  Dies  zeigt  zu- 
gleich, daß  die  progressiven  Assimilationswirkungen  auch  vom  Ge- 
sichtspunkte der  physischen  Einübung  aus  die  primitiveren,  einer 
ursprünglicheren  Stufe  sprachlicher  Übung  entsprechenden  Formen 
sind,  zu  denen  dann  freilich  die  allgemeinen  Anlagen  fortan  be- 
stehen bleiben,  so  daß  sie  nicht  sowohl  direkt  als  indirekt,  durch 
den  wachsenden  Einfluß  der  Einübung  zusammengesetzter  Artiku- 
lationsverbindungen, in  den  Hintergrund  gedrängt  werden. 

Hiemach  läßt  sich  das  Ergebnis  dieser  Analyse  dahin  zusammen- 
fassen, daß  bei  jeder  Art  dieser  Erscheinungen  psychische  und  phy- 
sische Ursachen  zusammenwirken.  Dabei  gehören  aber  die  psychi- 
schen Ursachen  zu  jenen  elementaren  Assoziationswirkungen, 
vermöge  deren  jeder  psychische  Vorgang  nach  zwei  Richtungeu 
hin  in  assoziativen  Beziehungen  stehen  kann  und  in  der  Regel  auch 
wirklich  steht,  wenngleich  die  eine  Richtung  durch  das  Überge\ncht 
der  andern  kompensiert  zu  werden  pflegt.  Die  phj^sischen  Ursachen 
fallen  dagegen  in  das  Gebiet  der  Übungs Vorgänge,  und  zwar 
werden  die  regressiven  Erscheinungen  als  Folgen  der  Mit- 
übung bestimmter  Artikulationsbewegungen  mit  andern,  mit  denen 
sie  oft  verbunden  waren,  die  progressiven  als  Folgen  jener  un- 
mittelbaren Übung  aufzufassen  sein,  die  eine  Wiederholung  der 
Bewegung  erleichtert. 


IV.  Assoziative  Femewirkungen  der  Laute. 

I.    Allgemeine  Formen  assoziativer  Fernewirkung. 

Von  > Fernewirkungen  der  Laute«  werden  wir,  wenn  wir  diesen 
Begriff  im  Verhältnis  zu  den  Nahe-  oder  Kontaktwirkungen  be- 
stimmen, überall  da  reden  können,  wo  gewisse  Lautelemente  eines 
Wortes  nicht  durch  andere,  im  selben  oder  in  einem  angrenzenden 
Wort  vorkommende  Laute  beeinflußt  werden,  sondern  wo  sich 
irgendein  im  Augenblick  nicht  unmittelbar  gegebenes  Wort  oder 
eine    entsprechende    Wortsippe    als    der   Grund    der    Lautänderung 


Der  LautwandeL 


herausstellt  Auch  auf  die  Femewirkungen  können  wir  daher,  um 
die  Richtung  derselben  anzugeben,  die  oben  gebrauchte  Unterschei- 
dung induzierender  und  induzierter  Laute  anwenden.  Dabei 
ist  aber,  wenn  eine  solche  Feme^'irkung  zw"ischen  zwei  Wörtern 
odo"  Wor^nippen  annehmbar  sein  solL  stets  erforderlich,  daß  die- 
selben in  irgendeinem  Verhältnis  stehen,  das  eine  Assoziation 
zwischen  ihnen  ermöglicht  Denn  daß  eine  Lautinduktion  zwischen 
Wönem.  die  durch  den  unmittelbaren  Zusammenhang  der  Rede 
ear  nicht  verbunden  sind,  anders  als  durch  Vermitteluns:  bestimmter 
ps>"chischer  Assoziationen  zustande  komme,  erscheint  hier  von 
vornherein  ausgeschlossen.  Auch  imter  dieser  Voraussetzimg  kann 
übrigens  die  Frage,  ob  eine  bestimmte  assoziati\"e  Beziehung  wirk- 
lich stattgefunden  habe,  im  einzelnen  Falle  ZAveifelhaft  bleiben,  weil 
ja  eben  hier  immer  nur  der  Effekt  einer  Liduktionswirkung  ge- 
geben ist.  während  die  induzierenden  Momente  selbst  bloß  er- 
schlossen werden  können.  Dieser  Schluß  kann  nun  namentlich 
deshalb  xmsicher  sein,  weil  teils  mehrere  induzierende  Momente, 
teils  andere  verändernde  Bedingungen  möglicherueise  im  gleichen 
Sinne  wirken.  Schon  über  die  tatsächlichen  Beziehungen  der  Er- 
schdnungen.  die  dner  psychologischen  Interpretation  zugnmde  zu 
legen  sind,  bleiben  darum  hier  nur  mehr  oder  minder  wahrschein- 
liche Aufstellungen  möglich.  Diese  werden  sich  jedoch  um  so  mehr 
der  Grenze  der  Gewißheit  nähern,  je  zahlreichere  einander  ähnliche 
Fälle  für  eine  bestimmte  Form  der  Beziehung  aufgefunden  werden 
können,  und  je  größer  die  psychologische  Wahrscheinlichkeit  ist 
daß  gewisse  Wörter,  zwischen  denen  eine  Femewirkimg  angenom- 
men wird,  wirklich  miteinander  assoziiert  werden. 

Die  Sprachwissenschaft  hat  die  sämtlichen  Erscheinungen  sol- 
cher assoziativer  Femewiikungen  der  Laute  >  Analogiebildungen« 
genannt  ein  Ausdruck,  der  den  äußeren  Erfolg  der  Wirkung,  freilich 
aber  auch  nur  diesen,  vollkommen  treffend  bezeichnet  Bei  jeder 
Analogiebildung  wirkt  irgendein  Wort  so  auf  ein  anderes  ein,  daß 
dieses  ihm  in  seinem  Lautcharakter  analog  wird.  Besser  noch  als 
>  Analogiebildung«  deutet  daher  auch  der  ebenfalls  oft  gebrauchte 
Ausdruck  »Angleichimg«  die  äußere  Beschaffenheit  des  Vorganges 
an.  Zugleich  weist  dieser  Ausdruck  darauf  hin.  daß  den  Analogie- 
büdimgen    unter    den   Kontaktwirkungen    die    > Assimilationen «    am 


AllgemeiBe  Fonnen  assoziativer  Femewirkang.  4^^ 

nächsten  stehen.  Wie  diese  als  Angleichungen  benachbarter  Laute, 
so  können  jene  als  >Angleichungen  durch  femewirkende  Assozia- 
tion* definiert  werden.  Der  Arten  solcher  Angleichung  können  wir 
aber  im  allgemeinen  zwei  unterscheiden:  die  eine  woUen  wir  als 
^Angleichung  grammatischer  Formen  <  oder  kürzer  als  >  grammati- 
sche Angleichung* .  die  andere  als  >Angleichung  nach  logischen 
Beziehungen  der  Begriffe«;  oder  als  »begriffliche  Angleichung<  be- 
zeichnen. Jede  dieser  Arten  läßt  sich  dann  wieder  in  zwei  Unter- 
arten zerlegen:  die  grammatische  Angleichung  in  die  > Angleichung 
verschiedener  grammatischer  Formen  desselben  Wortes  t.  wir  wollen 
sie  kurz  die  > innere  grammatische  Angleichung«  nennen,  imd  in 
die  :> Angleichung  übereinstimmender  grammatischer  Formen  ver- 
schiedener Wörter«,  sie  sei  die  »äußere  grammatische  Angleichung^ 
genannt.  Die  zweite  Hauptform,  die  »begriffliche  Angleichung  =: , 
zerfällt  ebenfalls  in  zwei  Gruppen  von  Erscheinungen:  die  eine  wird 
durch  »Angleichungen  an  Wörter  von  ven\'andter  Bedeutung « ,  die 
andere  durch  ■:>  Angleichungen  an  Wörter  von  gegensätzlicher  Bedeu- 
tung« gebildet;  jene  mögen  abkürzend  »Angleichungen  durch  Ähn- 
lichkeit« ,  diese  »Angleichungen  durch  Kontrast«  genannt  werden '). 


^  .  \  on  den  genannteii  Klassen  der  »Analogiebildung«  liat  ursprünglicli  die  erste 
vorzugsweise  die  Aufinerksamkeit  der  Sprachforscher  auf  sich  gelenkt.  Hier  hat 
zuerst  H.  Paul  die  oben  erwähnten  beiden  Unterarten  scharf  geschieden.  Die  An- 
gleichung verschiedener  grammatischer  Formen  desselben  Wortes  aneinander  nennt 
er  »Analogiebildung  durch  stoffliche  Ausgleichung«,  die  Angleichung  übereinstim- 
mender grammatischer  Formen  verschiedener  Wörter  »Analogiebildung  durch  formale 
Ausgleichung«,  weU  dort  der  Wortkörper  selbst  eine  Ausgleichung  ursprünglicher 
Lautunterschiede  zeige,  während  hier  bloß  zwischen  formal  zusammengehörigen 
\N  örtem  verschiedenen  Stoffs  die  ausgleichende  Wirkung  stattfinde.  'Paul,  in  den 
Beiträgen  zur  Geschichte  der  deutschen  Sprache  und  Literatur,  herausgegeben  von 
Paul  und  Braune.  Yl.  1879,  S.  7  ff.)  Wesentlich  auf  der  Grundlage  dieser  Panischen 
I.  nterscheidung  haben  dann  H.  Osthoff,  Das  physiologische  und  psychologische 
Moment  in  der  sprachlichen  FormenbUdung,  1879,  S.  22  ff.,  und  \Mieeler.  Analogy 
and  the  scope  of  its  application  in  language  Comell  L'niversitv,  Studies  in  classical 
Philology  ,  18S7,  p.  8  ff.,  die  Analogiebildungen  behandelt.  Ich  habe  es  vorgezogen, 
um  den  Unterschied  von  der  zweiten  Klasse  dieser  Erscheinungen  kenntlich  zu 
machen,  beide  Gruppen  unter  der  Benennung  der  »grammatischen  Angleichungen« 
zusammenzufassen,  wodurch  dann  die  weitere  Unterscheidung  in  »innere«  innerhalb 
der  Abwandlungen  eines  und  desselben  Wortstammes  und  »äußere«  (zwischen 
grammatischen  Formen  ganz  verschiedener  Wortstämme  von  selbst  gegeben  ist. 
L*brigens  sei  schon  hier  bemerkt,  daß  diese  Unterscheidung  nur  eine  vorläufige  ist, 
da.  wie  wir  unten  sehen  werden,  in  den  einzelnen  Fällen  die  »inneren«  und  die 
Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  ->8 


434 


Der  Lautwandel. 


2.    Grammatische  Angleichungen. 

a.  Innere  grammatische  Angleichungen. 

Unter  diesen  verschiedenen  Formen  von  Angleichungsvorgängen 
stehen  die  inneren  grammatischen  Angleichungen  offenbar 
den  im  unmittelbaren  Kontakt  der  Laute  erzeugten  Lautassimilatio- 
nen am  nächsten.  Zwar  treffen  die  induzierend  aufeinander  wirken- 
den Laute  nicht  im  selben  Worte  zusammen,  aber  sie  gehören  Wörtern 
an,  die  als  Ableitungen  aus  einem  und  demselben  Wortstamm  ein- 
ander so  nahe  stehen,  daß  die  Gelegenheit  zur  Assoziation  dieser 
Wortformen  fortwährend  geboten  ist,  daher  denn  auch  hier  ver- 
hältnismäßig am  wenigsten  ein  Zweifel  über  die  Existenz  und  Rich- 
tung wirklicher  Assoziationen  obwalten  kann.  Wenn  z.  B.  der  Plural 
des  Präteritums  von  sterben  aus  dem  noch  im  älteren  Neuhoch- 
deutsch vorkommenden  stürben  in  starben  übergegangen  ist,  so  hat 
sichtlich  der  Singular  starb  hier  eine  angleichende  Wirkung  ausge- 
übt. Umgekehrt,  wenn  im  Präteritum  zu  werden  die  ältere  Singular- 
form ward  gegenwärtig  zwar  nicht  ganz  verschwunden,  aber  doch 
durch  die  neue  Form  wurde  zurückgedrängt  ist,  so  hat  hier  der 
Plural  wurden  induzierend  gewirkt.  Ähnliche  Umwandlungen  sind 
ick  horte ^  aus  dem  mittelhochd.  ich  horte  durch  Angleichung  an  das 


> äußeren«  Assoziationsmomente  stets  zusammenwirken,  und  es  sich  also  höchstens 
um  ein  Übergewicht  der  einen  oder  der  andern  Richtung  handeln  kann.  Die 
»begrifflichen  Angleichungen«  sind  in  ihrer  Bedeutung  für  die  Lautentwicklung  be- 
sonders von  K.  Bragmann  hervorgehoben  und  in  die  beiden  Formen  der  »Anglei- 
chung gegensätzlicher  Begriffe«  und  der  »Angleichung  infolge  von  Begriffsverwandt- 
schaft« unterschieden  worden,  für  welche  beide  Formen  er  zugleich  zahlreiche  Belege 
besonders  aus  den  älteren  Formen  der  indogermanischen  Sprachen  beibrachte. 
(Bmgmann,  Gnindriß  der  vergleichenden  Grammatik  der  indogermanischen  Sprachen, 
1886 — 93,  vgl.  den  Sachindex  unter  »Angleichung«  und  die  dabei  angeführten  einzel- 
nen Stellen  des  Textes.)  Unter  den  gleichen  Gesichtspunkten  behandelt  M.  Bloom- 
field  eine  Reihe  von  ihm  so  genannter  »Assimilationen  und  Adaptationen«  (American 
Journal  ofPhilology,  XII,  1891,  p.  14  ff.,  XVI,  1895,  P- 420  ff.).  Ebenso  W.  Meyer- 
Lübke  speziell  für  das  Gebiet  der  romanischen  Sprachen,  Gramm,  der  rom.  Spr.,  I, 
1890,  II,  1894:  siehe  die  Sachregister  unter  »Anbildung«  und  »Angleichung«. 
Manche  Fälle,  die  diese  Autoren  zu  dem  Prinzip  des  Gegensatzes  stellen,  glaube 
ich  dem  der  Verwandtschaft  unterordnen  zu  müssen.  Doch  ist  dies  bei  der  nahen 
Beziehung,  in  der  hier  überhaupt  Verwandtschaft  und  Gegensatz  stehen,  nicht  von 
wesentlicher  Bedeutung. 


Grammatische  Angleichnngen.  4-%'^ 

Präsens  tc/i  h'öre  entstanden,  du  fliegst^  er  fliegt^  du  kriechst^  er 
kriecht  aus  du  fleugst,  er  fleugt^  du  kreuchst^  er  kreucht  durch  An- 
gleichung  an  icli  fliege^  ich  krieche.  Oder  das  Adjektivum  rauh 
statt  des  älteren  rauch  durch  Angleichung  an  den  Komparativ 
raiiJier  usw.  In  manchen  dieser  Fälle  sind  die  ursprünglichen  For- 
men nicht  vollständig  durch  die  neuen,  durch  Angleichung  gebildeten 
verdrängt  worden,  sondern  sie  bestehen  für  gewisse  Nuancen  des 
Begriffs,  wie  zuard  neben  ivurde^  oder  in  der  poetischen  Redeweise, 
wie  fleugt  neben  fliegt^  noch  fort.  Nicht  selten  begegnen  wir  ferner 
solchen  Wortformen,  die  in  der  Art  ihres  Gebrauchs  derart  zwie- 
spältig sind,  daß  sich  bei  ihnen  die  induzierende  Wirkung  und  das 
Beharrungsvermögen  der  ursprünglichen  Form  die  Wage  zu  halten 
scheinen,  wie  m gesendet  neben  gesandt,  gewendet  neben  geivandt  usw. 
Auf  früheren  Stufen  der  Sprachentwicklung  scheinen  die  inneren 
grammatischen  Angleichnngen  namentlich  auch  bei  jener  allmählichen 
Reduktion  der  Kasusformen  der  Nomina,  der  Genera,  Tempora  und 
Modi  des  Verbums  beteiligt  zu  sein,  die  z.  B.  in  den  indogermani- 
schen Sprachen  einen  durchgehenden  Zug  bildet').  Zuweilen  ist 
hier  wohl  die  Angleichung  der  Laute  verschiedener,  ursprünglich 
nach  Begriff  wie  Laut  abweichender  Formen  das  primäre  gewesen. 
Nachdem  sich  erst  der  Lautunterschied  verwischt  hatte,  wurde  dann 
auch  der  begriffliche  Unterschied  allmählich  verdunkelt,  was  frei- 
lich nur  geschehen  konnte,  indem  an  die  Stelle  des  ursprünglich 
durch  die  Flexionsform  ausgedrückten  konkreteren  Begriffsverhält- 
nisses ein  allgemeineres  trat.  So  hat  mutmaßlich  diese  zunächst 
den  äußeren  Lautkörper  der  Worte  treffende  Assoziationswirkung 
in  ihren  Folgen  eine  indirekte  Wirkung  auch  auf  die  Entwicklung 
der  Begriffe  ausgeübt. 

b.    Äußere  grammatische  Angleichnngen. 

Wesentlich  anders  verhält  es  sich  nach  Bedingungen  wie  Wir- 
kungen mit  den  äußeren  grammatischen  Angleichnngen.  In- 
dem bei  ihnen  nicht  verschiedene  Abwandlungsformen  eines  und 
desselben  Wortes,  sondern  umgekehrt  analoge  grammatische  For- 
men verschiedener  Wörter  zueinander  in  Beziehung  treten,    ist  die 


Vgl.  Kap.  VI,  Nr.  U  und  lü. 

28=* 


436  Der  Lautwandel. 


induzierende  Wirkung  an  und  für  sich  eine  entferntere,  kann  aber 
dadurch  verstärkt  werden,  daß  sie  von  einer  größeren  Zahl  von 
Wörtern  ausgeht.  So  hat  sich  im  Neuhochdeutschen  die  Genitiv- 
endung -es  vom  Gebiet  der  Nominalstämme  mit  ursprünglich  vokali- 
schem Auslaut  zum  Teil  auf  das  der  konsonantischen  Stämme  aus- 
gedehnt. Nach  Analogie  der  Formen  des  Tages^  des  Wolfes  usw. 
sagen  wir  so  statt  des  älteren  des  Vater,  des  Bruder  jetzt  des  Vaters, 
des  Bruders',  ebenso  haben  die  alten  Genitive  des  Hahnen,  des 
Schwanen  den  neuen  des  Hahnes,  des  Schivaties  Platz  gemacht. 
Anderseits  freilich  fehlt  es  auch  nicht  an  der  umgekehrten  In- 
duktionswirkung, wenn  sie  gleich  die  seltenere  ist:  statt,  wie  im 
älteren  Neuhochdeutschen,  des  Hirtes,  des  Rabens  heißt  es  jetzt  des 
Hirten,  des  Raben.  Vielleicht  ist  hier  zunächst  die  Angleichung  an 
andere  einen  Stand  oder  Beruf  ausdrückende  W'örter  der  schwachen 
Deklination,  wie  des  Grafen,  des  Boten,  wirksam  gewesen.  In  nicht 
wenigen  Fällen  schwankt  übrigens  auch  dann  wieder  die  Form 
zwischen  verschiedenen  Wirkungen,  wie  in  des  Nachbars  und  des 
Nachbarn,  des  Bauers  und  des  Bauern,  des  Bares  und  des  Bären. 
Eine  weitere  Angleichung  dieser  Art  besteht  darin,  daß  der  in  ge- 
wissen Fällen  regelmäßig  bestehende  Umlaut  des  Plurals  auf  den 
Plural  anderer  Nomina,  dem  er  ursprünglich  nicht  zukommt,  ein- 
gewirkt hat.  So  hatte  gast  ursprünglich  den  Plur.  gasti,  \\as  durch 
regressive  Assimilation  in  nhd.  Gäste  überging,  und  danach  sind  dann 
Plurale  wie  Wolfe,  Vögel,  Äcker  gebildet  worden.  Nicht  minder 
zahlreich  sind  ähnliche  Angleichungsvorgänge  im  Gebiet  verbaler 
Formen.  Im  ganzen  ist  auch  hier  der  Übergang  der  sogenannten 
starken  in  die  schwachen  Formen  überwiegend.  So  sind  er  buk, 
viuld,  glomm,  boll  in  er  backte,  mahlte,  glimmte,  bellte  übergegangen. 
Doch  stehen  dem  auch  Angleichungen  umgekehrter  Richtung  gegen- 
über, wie /rzV^  statt /rm/^, /r«^  statt  yV^^/^.  Immerhin  kommen  im 
letzteren  Falle  neben  den  neu  gebildeten  die  älteren  Formen  noch 
im  Gebrauch  vor.  Des  öfteren  finden  sich  solche  Übergänge  und 
Mischformen  auch  in  Dialekten,  wie  gelitten  statt  geläutet,  gewunkeii 
statt  gewinkt.  In  den  meisten  dieser  Fälle  äußerer  grammatischer 
Angleichung  ist  es  augenfällig,  daß  ein  bestimmtes  Wort,  das  auf 
ein  anderes  mutmaßlich  eingewirkt  haben  könnte,  nicht  anzugeben 
ist:    er  buk  kann  in   er  backte  unter   der  Einwirkung  von   machte, 


Grammatische  Angleichungen.  4^y 

brachte  ebenso  wie  von  leötc^  legte  usw.,  er  preiste  in  er  priefi 
unter  der  von  ließ  wie  von  gab^  ging^  stand  usw.  übergegangen 
sein.  Höchstens  wird  man  vermuten  dürfen,  daß  den  im  Klang 
ähnlicheren  Wörtern  eine  intensivere  Wirkung  zukam,  daß  also 
ließ  mehr  auf  prieß  eingewirkt  haben  mag  als  gab  oder  stand^ 
viachte  mehr  auf  backte  als  lebte  oder  lobte.  Im  ganzen  aber  wird 
in  jedem  einzelnen  Falle  solch  äußerer  Angleichung  eine  von  un- 
bestimmt vielen  Wörtern  ausgehende  Attraktion  anzunehmen  sein, 
wobei  natürlich  diese  Wirkungen  bald  in  gleichem,  bald  in  ent- 
gegengesetztem Sinne  stattfinden  konnten.  Im  letzteren  Fall  können 
sie  dann  leicht  zur  Bildung  von  Doppelformen  führen,  die  entweder 
als  rein  lautliche  Schwankungen  bestehen  bleiben  oder  sich  zugleich 
mit  einer  Differenzierung  der  Begriffe  verbinden.  Da  solche  ver- 
schieden gerichtete  Attraktionen  bei  den  äußeren  grammatischen 
Angleichungen  natürlich  ungleich  häufiger  vorkommen  als  bei  den 
inneren,  so  hat,  während  diese  ihrem  natürlichen  Verlaufe  nach 
leichter  zur  Reduktion  grammatischer  Formen  und  dadurch  zum 
Zusammenfließen  gewisser  Begriffsverhältnisse  führen,  die  äußere 
Angleichung  wohl  häufiger  den  Erfolg  einer  Neubildung,  nament- 
lich in  den  älteren  Stadien  der  Sprachentwicklung,  in  denen  solche 
Prozesse  an  und  für  sich  wegen  der  im  nächsten  Kapitel  zu  erörtern- 
den Bedingungen  der  Wortbildung  einen  weiteren  Spielraum  ein- 
nehmen^ . 

Erscheinen  nach  dieser  Richtung  der  Assoziationen  innere  und 
äußere  grammatische  Angleichung,  so  verwandt  sie  nach  der  Natur 
der  psychischen  Vorgänge  sind,  gewissermaßen  als  Gegensätze,  so 
werden  sie  nun  aber  dadurch  wieder  einander  näher  gerückt,  daß 
jeder  Vorgang  der  einen  Art,  z.  B.  jede  zwischen  den  xA.b Wandlungen 
eines  und  desselben  Wortes  sich  bewegende  Assoziation,  auch  Vor- 
gänge der  andern  Art,  Assoziationen  mit  den  analogen  Abwandlungs- 
formen anderer  Wörter,  nahelegt,  und  ebenso  umgekehrt.  Hat 
sich  also  auch  der  Plural  stürben  zunächst  durch  Angleichung  an  den 


')  Zahlreiche  Beispiele  für  die  Reduktion  wie  Neubildung  grammatischer  Formen 
infolge  solcher  Assoziationen  vgl.  bei  Brugmann,  Grundriß,  Sachindex  unter  »Ana- 
logiebildung« und  die  zugehörigen  Stellen  des  Textes,  speziell  für  das  Englische 
bei  Wheeler,  Analogy,  p.  12,  21  ff.,  für  die  romanischen  Sprachen  bei  Meyer-Lübke 
11,  S.  403  ff.,  426  ff. 


438  Der  Lautwandel. 


Singular  starb  in  starben  umgewandelt,  so  können  immerhin  andere 
im  Inlaut  übereinstimmende  Singular-  und  Pluralformen  wie  gab — - 
gaben ^  machte — machten^  legte — legten  usw.  als  äußere  Hilfskräfte 
mitgewirkt  haben.  Und  wenn  auf  der  andern  Seite  bei  der  äußeren 
Angleichung  auf  die  Umwandlung  von  Bildungen  wie  biik^  vmJil^ 
glomm  in  backte^  mahlte^  glimmte  in  erster  Linie  die  analogen  Abwand- 
lungsformen anderer  Wortstämme,  wie  machte^  brachte^  dachte  usw. 
eingewirkt  haben  werden,  so  läßt  sich  doch  die  Annahme  nicht  ab- 
weisen, daß  nebenbei  auch  eine  Art  innerer  Angleichung  stattge- 
funden habe,  indem  die  Präsensformen  backe ^  ^naJile^  glimme  auf 
jene  Formen  des  Präteritums  herüberwirkten  und  zu  ihrem  allmäh- 
lichen Verschwinden  beitrugen.  Mag  sich  hier  die  rein  sprachliche 
Betrachtung  mit  der  Annahme  derjenigen  Wirlamgen  begnügen,  die 
mutmaßlich  als  die  Hauptwirkungen  anzusehen  sind,  der  Psychologie 
liegt  es  ob,  womöglich  die  Gesamtheit  der  Momente  in  Rechnung 
zu  ziehen,  die  an  einem  bestimmten  Vorgange  beteiligt  waren.  Nun 
steht  psychologisch  betrachtet  jede  Wortform,  sobald  es  sich  über- 
haupt um  assoziative  Fernewirkungen  handelt,  jedenfalls  unter  dem 
Einfluß  unabsehbar  vieler  Attraktionskräfte,  die  von  den  zu  ihr  in 
Beziehung  stehenden  Vorstellungsresiduen  ausgehen.  Daß  solche 
assoziative  Beziehungen  innere  wie  äußere  sein  können,  das  lehrt 
gerade  die  Existenz  der  beiden  Hauptformen  sogenannter  »Analogie- 
bildungen«. Da  aber  im  allgemeinen  bei  jeder  äußeren  Angleichung 
immer  zugleich  irgendwelche  Motive  einer  inneren  und  ebenso  bei 
jeder  inneren  Motive  einer  äußeren  tatsächlich  obwalten,  so  werden 
wir  psychologisch  gezwungen  anzunehmen,  daß  strenggenommen 
beide  assoziative  Fernewirkungen  immer  ineinander  eingreifen, 
und  daß  sich  im  einzelnen  Fall  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  nur 
ihre  relative  Stärke  unterscheidet,  indem  bei  der  inneren  An- 
gleichung die  äußere  und  bei  der  äußeren  die  innere  als 
Hilfswirkunsf  hinzukommt. 


3.    Begriffliche  Angleichungen. 

a.    Angleichung  durch  Begriffsverwandtschaft. 

Von  den  zumeist  vorzugsweise  unter  dem  Begriff  der  »Analogie- 
bildungen«   zusammengefaßten   Wirkungen    und    Wechselwirkungen 


Begriffliche  Angleichungen.  ^,g 

der  grammatischen  Abwandlungsformen,  die  sich  deutlich  bis  in  das 
gegenwärtige  Leben  der  Sprache  herab  verfolgen  lassen,  unter- 
scheiden sich  die  begrifflichen  Angleichungen  schon  äußer- 
lich dadurch,  daß  ihre  Wirksamkeit  wohl  durchweg  entweder  in  eine 
frühere  Zeit  der  Sprachentwicklung  oder,  sofern  sie  einer  späteren 
Periode  angehören,  in  Zeiten  rascher  Umbildung  durch  Einwirkung 
von  Volksdialekten,  Sprachmischungen  u.  dgl.  fällt.  Dies  begreift 
sich  leicht,  da  es  sich  hier  um  Lautumwandlungen  handelt,  die  zu- 
meist in  die  Vorgänge  der  Wortbildung  selbst  eingreifen,  und  bei 
denen  daher  das  Wort  als  solches  gewissermaßen  noch  im  Flusse 
der  Entwicklung  begriffen  ist.  So  treten  uns  namentlich  Bezeich- 
nungen für  korrelate  Begriffe  schon  in  früher  Zeit  oft  in  lautlich 
verwandten  Formen  entgegen,  die  wegen  dieses  Parallelismus  von 
Laut  und  Begriff  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  auf  eine  ursprüng- 
liche Angleichung  durch  Ähnlichkeit  der  Bedeutung  zurück- 
geführt werden  können.  Als  sicher  erwiesen  kann  aber  freilich  der 
Angleichungsvorgang  nur  dann  gelten,  wenn  das  eine  Glied  eines 
solchen  Wortpaares  auf  einer  älteren  Stufe  nachgewiesen  werden 
kann,  wo  es  jene  Lautähnlichkeit  noch  nicht  besaß,  und  namentlich 
läßt  sich  auch  nur  in  diesem  Fall  die  Richtung  bestimmen,  in  der 
die  induzierende  Wirkung  stattfand.  So  haben  sich  wahrscheinlich 
schon  in  urindogermanischer  Vorzeit  die  Endungen  der  Namen  für 
Schwester  und  Bruder,  *suesör  und  *bhratdj-^  sowie  für  Vater  und 
Mutter,  pater  und  mater^  in  Angleichung  aneinander  gebildet.  Ähn- 
lich scheinen  im  Gebiete  der  Pronomina  vielfach  solche  Laut- 
beziehungen  nach  Verwandtschaft  der  Begriffe  entstanden  zu  sein, 
indem  die  Lautformen  der  verschiedenen  Personenbezeichnungen, 
das  ich,  du,  er,  einander  angeglichen  wurden.  So  lassen  die  Be- 
zeichnungen der  drei  Personen  in  den  ural-altaischen  Sprachen,  wie 
im  Lappischen  mon — ton — son^  im  Magyarischen  en — te — ö^  deutlich 
eine  Angleichung  des  Vokalklangs  erkennen,  derart,  daß  die  auf 
den  konsonantischen  Lauten  ruhende  Verwandtschaft  der  verschie- 
denen Sprachen  älter  ist  als  die  im  allgemeinen  auf  eine  engere 
Sprachgruppe  beschränkte  Analogie  der  Vokalklänge.  In  den  indo- 
germanischen Sprachen  sind  bei  der  allmählichen  Reduktion  der 
Kasusformen  des  Nomens  neben  grammatischen  Lautangleichungen 
jedenfalls    auch    Assoziationen    nach    begrifflicher    Verwandtschaft 


440 


Der  Lautwandel. 


wirksam  gewesen^).  Besonders  ausgeprägt,  namentlich  in  bezug  auf 
die  Richtung  der  stattgehabten  Angleichung,  erscheinen  jedoch  die 
Wirkungen  dieser  Vorgänge  bei  gewissen  Verbal-  und  Nominal- 
formen von  ähnlicher  Bedeutung,  aber  abweichender  Abstammung, 
wenn  das  eine  der  begriffsverwandten  Wörter  in  einer  Lautmodi- 
fikation vorkommt,  die  auf  die  angleichende  Wirkung  des  andern 
Wortes  zurückgeführt  werden  kann.  So  hat  gr,  aqvio  *^schöpfe* 
die  Nebenform  ccQvaaco,  die  unter  der  Wirkung  von  acpvoato 
"^schöpfe'  entstanden  zu  sein  scheint.  So  ist  ferner  (päqvyS,  für 
ein  ursprüngliches  (pccqv^  'Schlund'  eingetreten,  offenbar  durch 
Angleichung  an  läqvy'^  '^Kelilkopf\  So  hat  sich  ferner  ital.  ßir- 
7ieccio  *^ Diebstahl'  wahrscheinlich  nach  ladroneccio^  franz.  rougeole 
'Röteln'  nach  veröle  'Pocken'  gebildet  usw. 

b.    Angleichung  durch  Kontrast  der  Begriffe. 

Noch  häufiger  scheint  die  zweite  Form  begrifflicher  Angleichung 
zu  sein,  die  nach  Kontrast  der  Begriffe,  Sie  findet,  wie  das  die 
Natur  des  logischen  Gegensatzes  mit  sich  bringt,  regelmäßig  zwischen 
Gliedern  eines  Begriffspaares  statt,  was  bei  der  vorigen  Form  zwar 
ebenfalls  vorkommen  kann,  aber  doch  nicht  überall  zutrifft,  da  sich 
z.  B.  die  Angleichungen  der  Personenbezeichnungen  meist  zwischen 
mehr  als  zwei  Gliedern  bewegen.  Übrigens  bildet  der  Kontrast 
auch  hier  eigentlich  nur  einen  Grenzfall  der  Verwandtschaft,  insofern 
eine  Angleichung  durch  Gegensatz  bloß  stattfinden  kann,  wenn  sich 
die  gegensätzlichen  Begriffe  als  die  Endglieder  eines  und  desselben 
Begriffskontinuums  betrachten  lassen,  wie  groß  und  klein,  gut  und 
schlecht,  schwer  und  leicht  usw.  So  vermutet  man,  daß  in  den 
Präpositionen  Ivq,^  elg  'in',  'hinein'  das  g  zu  der  einfacheren  lokalen 
Präposition  ev  'in'  nach  Analogie  von  £|  'aus'  hinzugefügt  worden 
sei,  so  daß  nun  die  begrifflichen  Gegensätze  des  'herein'  und  'heraus' 
durch  den  gleichen  Endlaut  zusammengehalten  werden.  Ähnlich 
ist  oTZLoS-e  'hinten'  für  das  ältere  orcid'e  wahrscheinlich  durch  An- 
gleichung an  TtQoa&e  'vorn'  gebildet.  Im  Lat.  entstand,  wie  man 
annimmt,  aus  einem  ursprünglichen  Neutrum  minus  'die  Minderheit' 
das  Adjektivum  minor^  minoris  durch  Angleichung  an  major^  majoris. 


I)  Vgl.  Kap.  VI,  Nr.  II. 


Begriffliche  Angleichungen.  44  i 


Das  altlat.  ningiUiis  statt  millus  "^keiner*  scheint  eine  Angleichung  an 
singulus  *^ein  einziger'  zu  sein.  So  wird  ferner  senecta  *^das  Greisen- 
alter^  nach  Analogie  von  juventa  'die  Jugend',  aber  wohl  auch  um- 
gekehrt Juventus  nach  Analogie  von  senectiis^  senectiitis  gebildet; 
meridionalis  ist  an  die  Stelle  des  regulär  gebildeten  meridialis  "^mit- 
täglich' getreten,  nach  dem  Vorbilde  von  septentrionalis  *^mitternächt- 
lich'.  Im  ital.  greve  aus  lat.  grave  'schwer'  ist  der  lautgesetzlich 
nicht  begründete  Übergang  des  a  in  e  mutmaßlich  in  Anlehnung 
an  /cve  'leicht'  aus  lat.  iez'zs  erfolgt.  Aus  lat.  reddere  'wiedergeben' 
hat  sich,  wohl  durch  Einwirkung  von  prendere  'nehmen',  ital.  re?idere^ 
franz.  rendre  gebildet.  Im  Deutschen  sind  Sotmner  und  Winter^ 
ahd.  sumar,  zvmtar^  ein  Begriffspaar,  bei  dem  das  zweite  nach  dem 
ersten  Worte  gebildet  zu  sein  scheint.  Der  irreguläre  Genitiv  Nachts 
ist  wahrscheinlich  durch  Angleichung  an  Tags^  das  dialektisch  vor- 
kommende heute  Morgend  nach  Analogie  von  heute  Abend  ent- 
standen usw.  ^). 

c.    Komplikationen  der  Angleichungsvorgänge. 

Die  verschiedenen  Formen  sogenannter  »Analogiebildung«,  die 
grammatische  und  die  begriffliche  Angleichung  infolge  von  Ver- 
wandtschaft und  Gegensatz,  sind  nun  keineswegs  überall  getrennt 
voneinander  vorkommende  Erscheinungen,  sondern  sie  können  in 
der  mannigfaltigsten  Weise  ineinander  eingreifen,  sich  unterstützen 
oder  sich  entgegenwirken  und  sich  in  einzelnen  Fällen  wohl  auch  mit 
den  oben  behandelten  Nahewirkungen  der  Laute,  den  Assimilationen 
und  Dissimilationen,  verbinden.  So  fügen  z.  B.  unsere  zahlreichen 
deutschen  Komposita  mit  genitivischer  Bildung  des  ersten  Wort- 
bestandteils bekanntlich  an  dieses  nicht  selten  das  Genitivsuffix  -i- 
auch  dann  an,  wenn  das  Wort  für  sich  allein  diese  Genitivendung 
nicht  hat:  wir  sagen  nicht  bloß  Kriegsgeschrei ^  Ratsversammlung ^ 
Berufswahl^  sondern  auch  Regierungsrat^  Grimdungsfest  usw.  Aber 
diesen  stehen  andere  Beispiele  gegenüber,  wo  die  gleiche  Endung 
nicht  in  das  Kompositum  eingedrungen  ist,  obgleich  das  Simplex 
sie  hat,  wie  in  Hofrat^  Vaterhaus^  Jubeljahr  u.  a.    Hier  werden  wir 


')  Vgl.    über    diese    Erscheinungen    außer    Brugmann   a.  a.  O.    noch    Wheeler, 
Analogy,  p.  19  ff.  und  Meyer-Lübke,  I,  11  im  Register  unter  » Angleichung c. 


442 


Der  Lautwandel. 


demnach  annehmen  dürfen,  daß  die  echten  Genitivbildungen  von 
Wörtern  wie  Ratsversammliing  ^  Berufsiuahl  usw.  auf  die  andern 
Komposita  angleichend  eingewirkt  haben,  daß  dies  aber  hauptsäch- 
lich in  solchen  Fällen  geschehen  sei,  wo  der  Lautübergang  von 
dem  ersten  zum  zweiten  Teile  des  Kompositums  dies  begünstigte. 
Wir  dürfen  also  wohl  diese  Erscheinung  als  ein  Mischprodukt  aus 
Angleichung  an  verwandte  grammatische  Formen  und  aus  dissimi- 
lierender Kontaktwirkung  der  Laute  betrachten.  Häufiger  noch 
kommen  Komplikationen  der  verschiedenen  Arten  begrifflicher  An- 
gleichung untereinander  sowie  mit  den  grammatischen  Angleichungen 
vor.  So  hatte  ^lala  "^sehr^  ursprünglich  wohl  zwei  Komparativ- 
formen: f-ialiov  {fj-dliGTa)  und  *f.ifAlov.  Der  Übergang  dieses 
*fX€klov  in  (.läXXov  kann  dann  einerseits  aus  der  grammatischen 
Angleichung  an  (.läXa,  fxäliaTa^  anderseits  aus  der  begrifflichen 
Angleichung  an  Bildungen,  die  irgendwelche  andere  Größenbestim- 
mungen ausdrücken,  wie  taxa^  -d-äooov  {Tcr/jov),  raxiora,  eläaaoi'y 
eXaxLora,  abgeleitet  werden.  Bei  den  mannigfaltigen  assoziativen 
Beziehungen,  in  denen  das  einzelne  Wort  zu  andern  Wörtern  steht, 
ist  in  diesen  und  allen  ähnlichen  Fällen  in  der  Tat  die  Komplikation 
der  Motive  wahrscheinlicher  als  die  isolierte  Wirksamkeit  eines 
einzelnen.  Im  allgemeinen  werden  wir  daher  auch  hier  nach  dem 
Prinzip  der  »Komplikation  der  Bedingungen«  den  Lautcharakter,  den 
das  einzelne  Wort  im  Laufe  seiner  Entwicklung  annimmt,  als  das 
Erzeugnis  einer  Vielheit  mannigfach  interferierender  Ursachen  an- 
sehen müssen,  die  sich  teils  unterstützen,  teils  auch  einander  ent- 
gegen wirken  können,  so  daß  sich  in  bestimmten  Wörtern  gewisse 
Lautmetamorphosen  nicht  vollziehen,  die  in  andern,  sonst  ihnen 
parallel  gehenden  eingetreten  sind.  So  ist  im  Präsens  des  Verbum 
subst,  sif-ii  "^ich  bin'  die  erste  Person  Plur.  aus  Eif.i£v  in  EO(.iiv  über- 
gegangen, augenscheinlich  durch  eine  von  den  Mehrheitsformen  der 
zweiten  Person  loröv,  iori  ausgeübte  Attraktion,  die  gleichzeitig  als 
eine  grammatische  und  als  eine  begriffliche,  letztere  vermittelt  durch 
die  in  beiden  Fällen  vorhandene  Mehrheitsvorstellung,  betrachtet 
werden  kann.  Es  handelt  sich  also  hier  um  eine  Interferenz  gleich 
gerichteter  Einflüsse.  Dagegen  ist  im  Imperf.  des  gleichen  Verbums 
die  analoge  Angleichung  nicht  erfolgt:  neben  rjorov,  rjors  ist  hier 
rji.i£v  stehen  geblieben,   nicht   in  rjGixev  übergegangen.     Den  Grund 


Psychologische  Theorie  der  assoziativen  Ferne\virkungen.  ^a2 

hierzu  kann  man  aber  in  den  zahlreichen  andern  Verbalformen  mit 
der  gleichen  Pluralendung  finden,  wie  sXrjf-isv,  €ßi]i.i£v^  saßrjf-iev,  eine 
Wirkung,  die  selbst  wieder  als  die  Verbindung  einer  äußeren  gram- 
matischen Angleichung  mit  einer  durch  die  Mehrheitsvorstellung 
vermittelten  Begriffsassoziation  betrachtet  werden  kann,  durch  welche 
die  angleichende  Wirkung  der  Formen  i]ötov^  rjars  paralysiert  wurde, 
—  also  in  diesem  Fall  eine  Interferenz  entgegengesetzt  gerichteter 
Einflüsse,  w^obei  der  eine,  offenbar  derjenige,  der  sich  aus  den 
meisten  Einzelkräften  zusammensetzt,  obsiegte^). 


4.  Psychologische  Theorie  der  assoziativen  Fernewirkungen. 

a.  Entstehung  der  Ferne  Wirkungen  aus  elementaren  Assoziationen. 

Greifen  auf  diese  Weise  die  vier  oben  unterschiedenen  Grund- 
formen psychischer  Angleichungsvorgänge  in  so  mannigfacher 
Weise  ineinander  ein,  daß  der  einzelne  Fall  wohl  zumeist  aus 
einem  Zusammen-  und  Gegenwirken  verschiedener  Bedingungen 
hervorgegangen  ist,  so  deutet  nun  aber  schon  das  Wort  »An- 
gleichung«, das  einen  für  alle  Fälle  gemeinsamen  Begriff  bezeich- 
net, sowenig  es  auch  über  die  Vorgänge  selbst  irgend  etwas  aus- 
zusagen vermag,  auf  einen  im  ganzen  übereinstimmenden  Charakter 
aller  dieser  assoziativen  Fernewirkungen  und  zugleich  auf  Beziehun- 
gen zu  den  oben  erörterten  Kontaktwirkungen  hin.  Dies  bewährt 
sich  auch  darin,  daß  beide,  die  Ferne-  wie  die  Nahewirkungen  der 
Laute,  in  den  Formen,  in  denen  sie  uns  in  der  Sprache  begegnen, 
an  individuelle  Abweichungen  erinnern,  die  auf  den  nämlichen 
physischen  und  psychischen  Bedingungen  beruhen.  Wie  die  Laut- 
veränderungen infolge  von  Kontaktwirkungen  in  den  verschiedenen 
Lautvermengungen  (Paralalien)  ihre  Vorbilder  haben,  so  finden  sich 
solche  zu  den  mannigfaltigsten  »Analogiebildungen«  vor  allem  in 
jenen  Erscheinungen  der  Wortverm engung  (Onomatomixie),  wie  sie, 
zusammen  mit  Paralalien,  bei  dem  »Versprechen«  des  Zerstreuten, 
bei  dem  Gebrauch  einer  nicht  geläufigen  Sprache  oder  einzelner 
Wörter   einer    solchen    oder  endlich  bei   dem  Kind  in  der  Periode 


I)  Vgl.  Bnigmann,    Berichte  der  kgl.  sächs.  Ges.  d.  Wiss.,  Phil.-hist.  Kl.   1897, 
S.  185  fF. 


AA±  Der  Lautwandel. 


der  Aneignung  der  Sprache  vorkommen  (S.  302  ff.).    Hierbei  besteht 
der  Unterschied  zwischen  den  Erscheinungen  des  Versprechens  der 
Redegeübten    und    den    Sprachfehlern    der    Sprechenlernenden    im 
wesentlichen    nur   darin,    daß    bei    jenen   irgendeine    ganz    zufällige 
Wortassoziation    die    Abweichung    herbeiführt,   die  dann  bei   klarer 
Besinnung  leicht  als  Fehler  erkannt  wird,   während  bei  diesen  dem 
Kinde  selbst  die  Abweichung  von   dem  Sprachgesetz  ebensowenig 
wie    die    Übereinstimmung    mit    demselben   direkt    zum    Bewußtsein 
kommt.     Hier  zeigen    nun  jene    Wortvermengungen    des    gewöhn- 
lichen  Versprechens    deutlich,   daß    die    Ursachen  zu    solchen    Ab- 
weichungen  in  jedem   Bewußtsein   vorhanden   sind.     Zugleich   wird 
es    aber    begreiflich,    daß    diese    die    bestimmte,    vorzugsweise   den 
Abwandlungsformen   der   Wörter   zugekehrte   Richtung  nur   da   an- 
nehmen,   wo  eben  die  eigentümlichen  Bedingungen  hinzutreten,    die 
bei  der  Aneignung  einer  Sprache  obwalten.     Nun  bleiben  diese  Be- 
dingungen in  einem  gewissen  Grad  immer  bestehen.     Eine  jüngere 
Generation  eignet  sich  die  überlieferte  Sprache  von  neuem  an,  und 
in  geringerem  Umfange  bleibt  auch  der  Sprachgeübte  den  Wirkun- 
gen,  die  verwandte  Wortbildungen   auf  die  Aussprache   des  einzel- 
nen Wortes  ausüben,  fortan  ausgesetzt.     Auf  einer  je  früheren  Stufe 
der  Kultur  sich  die  Sprachgemeinschaft  befindet,  je  weniger  nament- 
lich die  Sprache  durch  die  Literatur  fixiert  ist,  einen  um  so  größeren 
Spielraum    müssen  natürlich  solche  individuelle  Einflüsse  gewinnen. 
So   führt  auch  hier,  gerade  so  wie  bei  den  Kontaktwirkungen   der 
Laute,    diese    Betrachtung    zu    dem    Ergebnis,    daß    jede    in    der 
Sprache  zur  Herrschaft   gelangte  Abweichung  von  den  Laut-  und 
Formgesetzen  infolge  grammatischer  oder  begrififlicher  Angleichun- 
gen  ursprünglich  ein  individueller  Vorgang  war,  der,  während  eine 
Menge    ähnlicher    individueller    Abweichungen    spurlos  verschwand, 
durch  begünstigende  Bedingungen   sich  verbreitete,   bis  seine  Wir- 
kung   schließlich    allgemein    wurde.      Damit    ist    nicht   gesagt,   daß 
eine  solche  Abweichung   nur  in   einem    einzigen   Individuum  ihren 
Ursprung  genommen  habe.     Vielmehr,   je  günstigere  Bedingungen 
der  Verbreitung  sie  vorfand,  um  so  mehr  wird  auch  schon  ihre  Ent- 
stehung erleichtert  gewesen  sein,  so  daß  viele  Einzelne  unabhängig 
voneinander  den  gleichen  Wirkungen  unterlagen. 

Mit  diesem  individuellen  Ursprung  der  generellen  Erscheinungen 


Psychologische  Theorie  der  assoziativen  Femewirkungen.  44  S 

ist  für  die  Natur  der  Prozesse  vor  allem  dies  sichergestellt,  daß 
auch  hier  von  einer  teleologischen,  Willkür  und  Absicht  zu  Hilfe 
rufenden  Interpretation  unmöglich  die  Rede  sein  kann.  Denn  alle 
jene  individuellen  Erscheinungen  treten  ganz  von  selbst,  ungewollt 
und  zunächst  ohne  jedes  Bewußtsein  der  wirklich  stattfindenden 
Abweichung  ein.  Wie  die  individuelle,  so  kann  also  auch  die  gene- 
relle Erscheinung  nur  in  einem  psychischen  oder  physischen  Mecha- 
nismus oder,  da  die  Sprache  eine  doppelseitige  Funktion  ist,  in 
einem  psychophysischen  begründet  sein.  Nun  weisen  in  psycholo- 
gischer Hinsicht  alle  diese  Erscheinungen  so  zwingend  auf  Vor- 
gänge der  Assoziation  hin,  daß  die  Ausdrücke  »Analogiebildun- 
gen« und  »sprachliche  Assoziationen«  vielfach  schon  als  gleichbe- 
deutend gebraucht  worden  sind^).  Aber  so  zweifellos  es  sein  mag, 
daß  überall  Assoziationsprozesse  vorliegen,  so  ist  doch  auch  hier 
mit  diesem  allgemeinen  Ausdruck  wenig  getan,  solange  man  sich 
nicht  nähere  Rechenschaft  darüber  gibt,  wie  die  Assoziationen 
beschaffen  sind.  Das  Wort  > Assoziation«  selbst  sagt  nicht  mehr, 
als  daß  infolge  irgendwelcher  Beziehungen  zwischen  psychischen 
Inhalten  lediglich  vermöge  der  Eigenschaften,  die  diese  selbst  be- 
sitzen, also  ohne  Zutun  unseres  Willens  oder  vermittelnder  intellek- 
tueller Vorgänge,  eine  Verbindung  zwischen  jenen  Inhalten  einge- 
treten sei.  Und  man  redet  von  einem  »Mechanismus  der  Assozia- 
tionen«, um  anzudeuten,  daß  keine  außerhalb  der  assoziierten  Vor- 
stellungen liegenden  psychologisch  nachweisbaren  Ursachen,  wie 
z.  B.  Willenshandlungen  oder  logische  Überlegungen,  die  Verbin- 
dung erzeugt  haben.  Doch  mit  diesem  in  seiner  Allgemeinheit 
höchst  unbestimmten  Begriff  ist  für  die  beschreibende  Analyse  des 
Tatbestandes  selber  so  gut  wie  nichts  gewonnen,  und  die  ohne 
Rücksicht  auf  überlieferte  psychologische  Begriffe  gebrauchten  Aus- 
drücke »Analogiebildungen«  und  »Angleichungen«  sind  insofern 
sogar  zutreffender,  als  sie  wenigstens  das  jedesmalige  Endergebnis 
des  sprachlichen  Vorgangs  deutlich  bezeichnen.  Ja,  nimmt  man  den  Be- 
griff der  »Assoziation«  in  demjenigen  Sinn,  in  dem  ihn  die  sogenannte 
»Assoziationspsychologie«  des  i8.  Jahrhunderts  ausgebildet  hat,  und 
in   dem   er  von   vielen  Psychologen  noch  gegenwärtig  festgehalten 


I)  Vgl.  oben  S.  367  f. 


446 


Der  Lautwandel. 


und  speziell  auch  auf  diese  sprachlichen  Vorgänge  angewandt  wird, 
so  muß  man  noch  einen  Schritt  weiter  gehen,  —  dann  ist  jener 
Ausdruck  nicht  nur  zu  unbestimmt,  sondern  in  dieser  Anwendung 
geradezu  falsch:  Assoziationen  in  dem  hergebrachten  Sinne 
sind  die  sogenannten  Analogiebildungen  und  Anglei- 
chungen  überhaupt  nicht.  Jenem  Begriff  gemäß  soll  nämlich 
die  Assoziation  ein  Vorgang  sein,  der  im  allgemeinen  auf  zwei 
Vorstellungen  A  und  B  sich  erstreckt,  von  denen  die  eine  die 
andere  in  das  Bewußtsein  hebe,  weil  sie  ihr  irgendwie  ähnlich,  oder 
weil  sie  gewohnheitsmäßig  oft  mit  ihr  verbunden  gewesen  sei. 
Man  unterscheidet  danach  die  Ahnlichkeits-  und  die  Berührungs- 
assoziation, die  manche  Psychologen  auch  auf  eine  Form  zu  re- 
duzieren suchen,  indem  sie  entAveder  die  Berührung  auf  Ähnlichkeit 
oder  —  und  dies  wohl  häufiger  —  die  Ähnlichkeit  auf  Berührung 
zurückführen^).  Auch  bei  diesem  Streite  wird  jedoch  daran  festge- 
halten, daß  die  Assoziation  in  jedem  einzelnen  Fall  auf  einer  irgend- 
wie entstandenen  Affinität  zwischen  je  zwei  Vorstellungen  beruhe, 
die  bei  der  Anziehung,  die  sie  aufeinander  ausüben,  im  wesentlichen 
unverändert  bleiben.  Wenn  A  von  einem  direkten  Eindrucke  her- 
stammt und  B  ein  dem  A  assoziiertes  Erinnerungsbild  ist,  so  soll 
dieses  B  zwar  manchmal,  gerade  so  gut  wie  der  Eindruck  A  selbst, 
unvollständig  oder  undeutlich  wahrgenommen  werden.  Aber  dies 
soll  nicht  hindern,  daß  in  einem  gegebenen  Assoziationsakt  jeweils 
nur  ein  bestimmtes  A  mit  einem  bestimmten  B  verbunden  w-erden 
kann.  Kommt  irgendeine  dritte  Vorstellung  C  mit  ins  Spiel,  so 
soll  das  eben  nur  in  einem  neuen  Assoziationsakt  geschehen 
können.  Dieser  Voraussetzung  eines  von  Vorstellung  zu  Vorstellung 
reichenden  Bandes  entspricht  es  denn  auch  ganz,  daß  man  jede 
Assoziation  als  einen  sukzessiven  Vorgang  auffaßt,  weil  zuerst  das 
eine  Glied  A  der  Verbindung  und  dann  das  andere  B  im  Bewußt- 
sein auftrete.  Das  Schema,  nach  dem  man  die  gewöhnlichen  Er- 
innerungsvorgänge —  nicht  beobachtet,  aber  mit  einem  gewissen 
Schein  von  Wahrscheinlichkeit  logisch  gegliedert  hatte,  w^urde  hier 
zum  Schema  der  Assoziation  und  Reproduktion  überhaupt.  Wenn 
irgendein  Eindruck  an   ein  früheres  Erlebnis  erinnere,  dann  sei,  so 


Grundriß  der  Psychologie,^  S.  267  ff. 


Psychologische  Theorie  der  assoziativen  Femewirkungen.  447 

reflektierte  man,  zuerst  der  Eindruck  da  und  hierauf  das  Gedächtnis- 
bild; ähnlich  schlinge  daher  überall  die  Assoziation  ihre  Bande 
zwischen  unsern  Vorstellungen.  Wie  der  Eindruck  das  Erinnerungs- 
bild, so  könne  dieses  ein  anderes  Erinnerungsbild  emporheben. 
Auf  solche  Weise  sollen  Assoziationsreihen  von  mehr  oder  minder 
großer  Ausdehnung  entstehen,  in  denen  die  folgenden  Vorstellungen 
immer  an  die  früheren  anknüpfen,  mögen  sie  nun  mit  den  unmittel- 
bar vorangegangenen  Gliedern  der  Reihe  oder  mit  weiter  zurück- 
liegenden verbunden  sein. 

Mißt  man  die  grammatischen  und  begrifflichen  Angleichungen 
der  Sprache  an  diesem  überlieferten  Schema  der  Assoziation,  so 
kann  es  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  beide  Begriffe  nicht  im 
geringsten  sich  decken.  Erstens  ist  es  in  den  meisten  Fällen 
nicht  ein  einzelnes  Wort,  dem  ein  anderes  angeglichen  wird,  son- 
dern eine  Vielheit,  nicht  selten  eine  unbestimmte  Vielheit  von  Wör- 
tern. Zweitens  wirkt,  wo  je  einmal  die  vorwiegende  Assoziation 
eines  bestimmten  Wortes  nachweisbar  ist,  dieses  nicht  als  ganzes, 
sondern  in  irgendeinem  einzelnen  Lautbestandteil,  während  seine 
andern  Elemente  völlig  wirkungslos  bleiben.  Drittens  kann  ein 
und  dasselbe  Wort  verschiedenen,  von  ganz  abweichenden  Wörtern 
ausgehenden  Wirkungen  unterworfen  sein,  —  Interferenzphänomene, 
die  bald  Verstärkung,  bald  Komplikation  der  Wirkungen,  bald  aber 
auch  Kombinationen  verschiedener  nebeneinander  stattfindender 
Lautinduktionen  erzeugen  können.  Viertens  endlich  ist  von  einer 
Sukzession  der  Vorstellungen  in  keinem  einzigen  Beispiel  dieser 
Angleichungsvorgänge,  mögen  sie  auf  eine  Mehrheit  nebeneinander 
hergehender  Wirkungen  oder  nur  auf  eine  einzige  hinweisen,  irgend 
etwas  wahrzunehmen.  Daß  das  induzierende  und  das  induzierte 
Wort  im  unmittelbaren  Zusammenhang  der  Rede  sich  berühren, 
ist  nur  ein  seltener  Ausnahmefall,  der  bereits  auf  der  Übergangs- 
stufe zur  Kontaktwirkung  steht.  Freilich  ist  aber  auch  bei  dieser, 
wie  war  sahen,  das  eigentliche  Motiv  der  Wirkung  nicht  eine  dem 
üblichen  Schema  entsprechende  »Reproduktion  und  Assoziation«, 
sondern  es  besteht  in  der  Vorausnahme  und  Nachwirkung  bestimmter 
Laute  und  Lautbewegungen,  die  sich  unwillkürlich  und  bei  den 
Assimilationen  vollkommen  simultan  mit  dem  gesprochenen  Laute 
verbinden  (S.  422  ff). 


448 


Der  Lautwandel. 


In  der  Tat  lassen  sich  daher  die  sämtlichen  Formen  der  An- 
gleichung,  der  grammatischen  wie  der  begrifflichen,  nur  als  simul- 
tane Assoziationen  oder,  wie  wir  diese  nennen,  wenn  es  sict  um 
Verbindungen  innerhalb  eines  und  desselben  Sinnesgebietes  handelt, 
als  psychische  Assimilationen  verstehen,  an  denen  aber  nicht, 
wie  die  alte  Assoziationstheorie  voraussetzt,  fest  begrenzte  fertige 
Vorstellungen,  sondern  Vorstellungselemente  beteiligt  sind. 
Das  Produkt  dieser  elementaren  Verbindungen  steht  als  eine  einheit- 
liche Vorstellung  im  Bewußtsein,  und  erst  durch  die  psychologische 
Analyse  der  unmittelbaren  Bedingungen  und  der  entfernteren  Vor- 
bedingungen, unter  denen  es  entstand,  kann  es  einigermaßen  in 
seine  Bestandteile  zerlegt  werden.  Solche  Assimilationen  begegnen 
uns  schon  im  Gebiet  der  normalen  Sinneswahrnehmung  überall.  Der 
Vorstellungsinhalt  irgendeiner  Wahrnehmung  erklärt  sich  im  allge- 
meinen niemals  zureichend  aus  der  Zusammensetzung  des  Eindrucks, 
sondern  er  besteht  immer  zugleich  aus  Assoziationen  mit  den  Ele- 
menten vorangegangener  Vorstellungen,  mit  denen  sich  die  Ele- 
mente des  wirklichen  Eindrucks  wechselseitig  assimiliert  haben. 
Darum  nimmt,  auch  abgesehen  von  der  verschiedenen  Beschaffen- 
heit der  Sinnesorgane  und  dem  verschiedenen  Standpunkt  der  Be- 
trachtung, vermutlich  kein  Mensch  einen  Gegenstand  genau  ebenso 
wie  ein  anderer  wahr.  Jeder  bringt  zu  dem  Eindruck  wieder  andere 
Bedingungen  hinzu,  andere  Vorstellungselemente,  die  zu  dem 
gegebenen  Objekt  in  irgendwelche  Beziehungen  treten  können,  sei 
es  daß  sie  sich  angleichen  und  dadurch  den  Eindruck  verstärken, 
sei  es  daß  ihnen  aus  vorangegangenen  Verbindungen  Elemente 
anhaften,  die  dem  unmittelbaren  Eindruck  fehlen.  Alle  diese  Be- 
dingungen treten  uns  am  deutlichsten  bei  jenen  künstlichen  Stei- 
gerungen und  willkürlichen  Variationen  der  Assimilationswirkungen 
entgegen,  wie  sie  sich  bei  den  experimentell  erzeugten  Sinnes- 
täuschungen beobachten  lassen').  Auf  diese  simultanen  Assozia- 
tionen den  von  Leibniz  in  wesentlich  anderem  Sinne  geschaffenen 
Begriff  der  »Apperzeption«  zu  übertragen,  ist  schon  deshalb  unzu- 
lässig, weil   dadurch  jene  simultanen  Vorgänge  von  der  Gesamtheit 


^)  Grundriß   der   Psychologie,S  S.  276  ff.     Grundzüge    der   physiol.   Psychol.^  II, 
S.  564  ff.,  m,  S.  528  ff.     Phil.  Stud.  XIV,  S.  32  ff. 


Psychologische  Theorie  der  assoziativen  Fernewirkungen.  449 

der  übrigen  Assoziationen,  mit  denen  sie  auf  das  engste  zusammen- 
hängen, und  zu  denen  sie  die  mannigfachsten  Übergänge  darbieten, 
getrennt  werden,  so  daß  die  falsche  Vorstellung  einer  spezifischen 
Verschiedenheit  der  Vorgänge  selbst  erweckt  wird^). 

Wie  die  Erscheinungen  der  normalen  Illusionen  bei  der  Sinnes- 
wahrnehmung, so  bilden  nun  die  Analogiebildungen  und  Anglei- 
chungen  innerhalb  der  Sprache  ein  Gebiet,  auf  welchem  sich  die 
völlig  passive,  ohne  jede  Beteiligung  unseres  WoUens  und  Denkens 
erfolgende  und  dabei  doch  überaus  fruchtbare  und  schöpferische 
Wirksamkeit  der  Assimilationen  auf  das  klarste  entfaltet.  Zugleich 
bilden  diese  Erscheinungen  ein  für  das  Studium  der  psychischen 
Prozesse  höchst  wertvolles  Beobachtungsmaterial,  einerseits  weil  uns 
hier  die  Vorgänge  selbst  unter  wesentlich  andern  und  verwickeiteren 
Bedingungen  entgegentreten  als  bei  den  Sinneswahrnehmungen, 
und  anderseits  weil  die  Zeugnisse  der  Sprachgeschichte  in  der 
Regel  bestimmtere  Hinweise  auf  die  Ursachen  der  Vorgänge  und 
das  Verhältnis  der  in  assimilative  Wechselwirkung  tretenden  Ele- 
mente enthalten.  Dies  zeigt  sich  auch  daran,  daß  in  diesem  Fall 
die  Erscheinungen  schon  für  die  äußere  Beobachtung  in  mehrere, 
scharf  zu  unterscheidende  Gruppen  auseinander  treten,  deren  Eigen- 
tümlichkeiten jedesmal  auf  Unterschiede  der  psychischen  Bedin- 
gungen selbst  hinweisen.  Hierdurch  bilden  diese  Assimilationsvor- 
gänge auf  dem  Gebiet  der  Sprache  ganz  besonders  schlagende 
Belege  für  das  sich  bei  allen  assoziativen  Prozessen  bewährende 
Prinzip,  daß  eine  Assoziation  überhaupt  nicht  zwischen 
Vorstellungen,  sondern  immer  nur  zwischen  Vorstellungs- 
elemcnten  stattfindet,  indem  gleiche  Elemente  mit  glei- 
chen,  berührende  mit  berührenden  früherer  Vorstellunsren 


'}  Es  ist  bezeichnend,  daß  dieser  von  Herbart  eingeführte,  nach  unserer  heutigen 
Kenntnis  der  Assoziationen  unbrauchbar  gewordene  Begriff  der  »Apperzeption«  auch 
heute  noch  hauptsächlich  von  Philosophen  angewandt  wird,  die  in  bezug  auf  die 
Assoziationen  selbst  an  dem  unzulänglichen  Schematismus  der  Assoziationspsycho- 
logie festhalten.  So  stützen  sich  hier  zwei  unhaltbare  Begriffe  wechselseitig.  Daß 
man  bei  dieser  irreführenden  Anwendung  des  Apperzeptionsprinzips  zugleich  einer 
passenden  Bezeichnung  für  die  elementaren  Funktionen  des  Willens  und  der  Auf- 
merksamkeit verlustig  geht,  wird  sich,  abgesehen  von  den  hierher  gehörigen  Tat- 
sachen der  Individualpsychologie,  auch  bei  den  sprachlichen  Vorgängen  der  W^ort- 
bildung  und  Satzfügung  deutlich  ergeben.     (Vgl.  Kap.  V  und  VII.' 

Wundt,  Völkerpsychologie  I,  I.     2.  Aufl.  20 


45  o 


Der  L&arvrandel. 


sich  zu  verbinden  streben.  Da  nun  aber  solche  Elemente  nie- 
mals in  isoliertem  Zustande,  sondern  sowohl  vor  wne  nach  eingetre- 
tener Assimilation  immer  nur  in  ihrer  Verbindung  mit  andern  Be- 
standteilen als  vorstellbare  psychische  Inhalte  vorkommen,  so  können 
sie  überhaupt  nur  als  Dispositionen  unserer  Seele  gedacht  werden, 
denen  zugleich  irgendwelche  ph\-sisclie  Dispositionen  in  den  Sinnes- 
zentren entsprechen  werden,  und  die  jeweils  erst  in  dem  Moment 
in  vorstellbare  psychische  Inhalte  übergehen,  wo  sie  sich  mit  wei- 
teren Elementen  verbinden,  mögen  nun  letztere  durch  unmittelbare 
Sinneseindrücke  er^veckt  werden  oder  selbst  zu  den  ^\-iede^  aktuell 
gewordenen  Dispositionen  gehören.  Die  in  einem  gegebenen  Augen- 
blick im  Bewuiätsein  auftauchende,  aus  Elementen  zahlreicher  und 
zum  Teil  weit  abweichender  früherer  Eindrücke  aufgebaute  Vorstel- 
lung wird  daher  als  Ganzes  \\-ie  in  allen  ihren  Teilen  stets  nur  in 
dem  Augenblick  zu  einer  wirklichen  Vorstellung,  wo  sich  die 
assimilative  Verbindung  vollzieht.  \'orher  sind  die  Elemente  bloß 
als  latente  psychische  Kräfte  vorhanden  gewesen,  die  sich  erst  in 
ihrer  nachherigen  Beteiligung  an  einer  gegebenen  Vorstellungs^\^r- 
kung  zu  erkennen  geben.  Den  Dispositionen,  insofern  sie  in  dieser 
Weise  zugleich  latente  psychische  Kräfte  sind,  lassen  sich  nun  bild- 
lich, wenn  wir  die  \'erhältnisse  der  physischen  Kräfte  auf  sie  über- 
tragen denken,  immer  attraktive  imd  repulsive  Wirkungen  zuschrei- 
ben: attrakti\-e.  die  gleiche  und  berührende  Elemente  in  das  Be- 
wußtsein zu  heben  streben:  repulsive,  durch  die  sonstige  Elemente, 
die  ihnen  widerstreiten,  unter  der  Schwelle  des  Bewußtseins  gehalten 
werden.  Gerade  für  dieses  Wechselspiel  der  Attraktion  imd  Re- 
pulsion der  Vorstellungselemente  j  das  wir  gelegentlich  schon  bei 
den  Wahmehmuncrsvorsränsfen  beobachten,  bieten  die  analogen  Er- 
scheinongen  auf  dem  Gebiet  der  Sprache  die  deutlichsten  Belege. 
besond«3^  in  jenen  Fällen,  wo  zwei  Angleichimgsprozesse  mitein- 
ander in  Wettstreit  geraten  und  der  Enderfolg  dann  eine  Verbin- 
dung mehrerer  partieller  Angleichungen  aufweist.  Wenn  z.  B.  *uf).).oy 
nicht  in  *ui^iLXor.  wie  die  Angleichung  an  verwandte  Komparativ- 
formen vermuten  ließe,  sondern  durch  eine  nebenher  gehende  An- 
gleichung an  uöjjx,  die  \\-ahrscheinüch  noch  durch  eine  von  analo- 
gen Steigerungsbegriffen,  w-ie  &äGaov,  (Ääaaov  ausgehende}  Attrak- 
tion unterstützt  wurde,  in  uäkkor  übergegangen  ist.  so  hat  hier  die 


Psychologische  Theorie  der  assoziativen  Femewirkangen.  ^r  I 

von  dem  «-Laut  ausgeübte  angleichende  Wirkung  zugleich  eine 
Repulsion  auf  den  r-Laut  ausgeübt,  die  stärker  war  als  die  sonst 
diesem  zur  Seite  stehenden  attrahierenden  Kräfte. 

Um  die  Wirkungen,  aus  denen  solche  den  sprachlichen  Ana- 
logiebildungen zugrunde  liegenden  psychischen  Assimilationen  her- 
vorgehen, richtig  zu  würdigen,  muß  man  bedenken,  daß  alle  jene 
Erscheinungen  nur  einzelne  Fälle  sind,  in  denen  vermöge  beson- 
derer, irgendeine  Abweichung  vom  normalen  Verhalten  herbei- 
führender Bedingungen  die  Attraktionen  und  Repulsionen  psychi- 
scher Elemente  deutlicher  hervortreten.  In  Wahrheit  besteht  aber 
alles  Sprechen  in  fortwährenden  Analogiebildungen  und  Angleichun- 
gen,  und  wir  würden  niemals  zur  Beherrschung  einer  Sprache 
gelangen,  wenn  nicht  fort  und  fort  Dispositionen  zur  Assoziation 
der  Vorstellungselemente  entstünden  und  sich  verstärkten.  Ohne 
Zaudern  bilden  wir  in  einer  uns  geläufigen  Sprache  die  Kasus- 
formen des  Substantivs,  die  Abwandlungen  des  Verbums  oder  selbst 
Wortzusammensetzungen,  ohne  sie  uns  im  einzelnen  Fall  direkt 
angeeignet  zu  haben.  Wir  tragen  gewissermaßen  paradigmatische 
Vorstellungsreihen  als  latente  Kräfte  in  uns,  deren  Latenz  aber  eben 
darin  besteht,  daß  sie  uns  nicht,  wie  die  Paradigmen  der  wirklichen 
Grammatik,  in  Gestalt  bestimmter  einzelner  Vorstellungen  gegeben 
sind,  sondern  daß  sie  nur  in  der  Form  elementarer  funktioneller 
Anlagen  in  uns  liegen,  von  denen  jeweils  diejenigen  aktuell  werden, 
die  durch  die  gegebene  Bewußtseinslage  begünstigt  sind.  Wenn 
wir  eine  einzelne  grammatische  Form  bilden,  so  werden  wir  uns 
daher  nur  sehr  selten  und  unter  Ausnahmebedingungen  irgendeiner 
andern  Wortvorstellung  beAvußt,  der  sie  analog  ist.  Vielmehr  wirken 
die  zugehörigen  und  im  Augenblick  disponibeln  Elemente  wie  eine 
Totalkraft,  die  uns  bloß  in  ihrem  Effekt,  nicht  in  den  zahllosen 
einzelnen  Komponenten  gegeben  ist,  aus  denen  sie  sich  zusammen- 
setzt. Ein  überraschendes  und  freilich  auch  nur  partiell  erhellendes 
Licht  fällt  auf  diese  Vorgänge  erst  da,  wo  sie  etwa  einmal  in 
ungewöhnlicher  Form  verlaufen,  wo  also  statt  der  erwarteten 
andere  Attraktionswirkungen,  sogenannte  »falsche  Analogien«,  zu- 
stande kommen.  Sie  spielen  in  der  Tat  im  Gebiet  der  Sprache 
etwa  dieselbe  Rolle  wie  in  dem  der  Sinneswahrnehmung  die  >  nor- 
malen Sinnestäuschungen  .     In  Wirklichkeit  sind   diese  ebensowenig 


452 


Der  Lautwandel. 


Urteilsfehler,  als  die  man  sie  früher  häufig  betrachtet  hat,  wie  die 
sogenannten  falschen  Analogien  Sprachfehler  sind.  Wie  vielmehr 
jene  aus  den  schon  bei  der  normalen  Sinneswahrnehmung  wirk- 
samen Gesetzen,  so  sind  auch  diese  aus  den  Assoziationsgesetzen 
hervorgegangen,  die  sich  überall  in  der  Sprache  betätigen.  Nur 
der  Umstand,  daß  die  Assoziationen  der  Elemente  infolge  bestimm- 
ter Bedingungen  ungewöhnlicher  Art  sind,  gibt  ihnen  ihre  eigen- 
artige Stellung  und  zugleich  ihren  großen  heuristischen  Wert.  Beide 
Fälle  gehören  zu  jenen,  wo  die  Natur  für  uns  experimentiert,  in- 
dem sie  eine  Veränderung  der  Bedingungen  herbeiführt,  die  einer 
willkürlichen  Variation  derselben  gleichkommt. 

b.    Psychologische  Analyse  der  vier  liauptformen  der 
Lautangleichung. 

Betrachtet  man  die  vier  oben  unterschiedenen  Gruppen  der  An- 
gleichung  sprachlicher  Formen  nach  den  durch  diese  Zurückführung 
auf  elementare  psychische  Assimilationen  geforderten  Gesichtspunk- 
ten, so  zeigt  sich  kein  wesentlicher  Unterschied  der  Elementarpro- 
zesse selbst.  Wohl  aber  führen  die  Erscheinungen  zur  Annahme 
einer  verschiedenen  und  für  jede  Gruppe  höchst  charakteristischen 
Verteilungs weise  der  Elementarwirkungen.  Hierbei  ist,  wie  bei 
allen  sprachlichen  Erscheinungen,  jede  Vorstellung  als  Komplikation 
eines  begrifflichen  Inhalts  und  einer  zugehörigen  Lautvorstellung 
aufzufassen.  Wegen  der  Festigkeit  dieser  Komplikation  wird  im  all- 
gemeinen eine  Assoziation  der  begrifflichen  immer  auch  eine  solche 
der  lautlichen  Elemente  herbeiführen;  es  wird  aber  auch  umgekehrt 
die  Lautattraktion  eine  Assoziation  der  Begriffe  veranlassen  können. 
Zugleich  bringt  es  die  Verkettung  der  sprachlichen  Komplikationen 
mit  sich,  daß  keine  der  erwähnten  Attraktionsvvirkungen  jemals  für 
sich  allein  vorkommt,  sondern  daß  es  sich  überall  nur  um  vorwie- 
gende Richtungen  handeln  kann. 

In  einer  Hinsicht  stimmen  nun  trotz  sonstiger  Verschiedenheit 
der  Bedingungen  die  vier  Gruppen  der  Angleichungsprozesse  über- 
ein. Das  ist  die  allgemeine  Richtung,  in  der  die  lautändernden 
Kräfte  wirken.  Unterscheiden  wir  die  Lautelemente  eines  Wortes 
in  solche,  die  dem  in  dem  Worte  ruhenden,  relativ  konstant  blei- 
benden   Grundbegriff  angehören,   und   in  andere,   die  den  verschie- 


Psychologische  Theorie  der  assoziativen  Fernewirkungen.  /i  c  z 

denen  Modifikationen  entsprechen,  in  denen  jener  Grundbegriff  in- 
folge seiner  Beziehungen  zu  andern  Begriffen  vorkommt,  so  können 
wir  die  Elemente  der  ersten  Art  als  die  Grundelemente,  die  der 
zweiten  als  die  Beziehungselemente  des  Wortes  bezeichnen'). 
Die  Unterscheidung  dieser  Elemente  berührt  sich  zwar  mit  der 
grammatischen  Unterscheidung  des  Wortstammes  und  der  Flexions- 
bestandteile, aber  sie  ist  von  allgemeinerer  Bedeutung.  Indem  wir 
uns  nämlich  dabei  das  Wort  nicht  in  einen  einzigen  konstanten 
Grundbestandteil  und  in  einen  oder  einige  Beziehungsbestandteile 
zerlegt  denken,  sondern  in  seine  Lautelemente,  die  je  nach  ihrer 
Bedeutung  Grundelemente  oder  Beziehungselemente  sein  können, 
entspricht  es  dem  fließenden  Charakter  der  in  der  Sprache  ausge- 
drückten Begriffe  und  Begriffsbeziehungen,  daß  auch  dieses  Ver- 
hältnis zwischen  Grundelementen  und  Beziehungselementen  ein 
fließendes  ist.  Gewisse  Elemente,  die  sich  in  zahlreichen  Umwand- 
lungsformen als  Grundelemente  bewähren,  können  in  andern  in  die 
Reihe  der  Beziehungselemente  übertreten,  während  bei  der  Stabili- 
sierung gewisser  Flexionsformen  und  bei  der  Wortkomposition  um- 
gekehrt Beziehungselemente  zuweilen  zu  Grundelementen  werden 
oder  auch  zu  selbständigen  Beziehungswörtern  sich  verbinden  kön- 
nen. Angesichts  des  nie  rastenden  Wirkens  der  sprachbildenden 
Vorgänge  beanspruchen  daher  jene  Bezeichnungen  an  und  für  sich 
nur  eine  relative  Bedeutung:  Grundelemente  sind  überall  nur  die- 
jenigen Lautelemente,  die  innerhalb  einer  Reihe  zusammengehöriger 
Laut-  und  Begriffsänderungen  konstant  bleiben  und  eben  darum 
für  den  Redenden  die  Träger  des  Grundbegriffs  sind;  Beziehungs- 
elemente diejenigen,  die  durch  ihr  Gebundensein  an  die  Beziehungen 
und  Verbindungen,  in  die  der  Begriff  tritt,  von  selbst  die  Bedeutung 
variabler  Begrififsmodifikationen  annehmen. 

Fassen  wir  in  diesem  relativen,  aber  in  jedem  einzelnen  Fall 
der  Anwendung  doch  eindeutigen  Sinne  jenen  durch  die  natürliche 
Stellung  des  Wortes  in  der  Rede  gegebenen  Gegensatz  auf,  so  bil- 
den nun  die  sämtlichen  oben  betrachteten  Angleichungsvorgänge, 
wenn  wir  für  sie  wieder  den  Begriff  der  »Lautinduktion«  benützen. 


'i  Näheres  über  die  Bedeutung  dieser  Elemente  für  die  Wortbildung  vgl.  unten 
Kap.  V,  Nr.  m. 


454 


Der  Lautwandel. 


ein  Gebiet  von  Vorgängen,  wo  die  induzierten  Lautbestandteile 
durchaus  nur  den  jeweiligen  Beziehungselementen  des  Wortes 
angehören.  Dagegen  zerfallen  sie  nach  der  Stellung  der  indu- 
zierenden Bestandteile  von  vornherein  in  zwei  Klassen:  in  der 
einen  sind  diese  induzierenden  Bestandteile  ebenfalls  Beziehungs- 
elemente, —  dies  bildet  den  Fall  der  »grammatischen  Angleichun- 
gen« ;  in  der  andern  sind  sie  Grundelemente,  —  dies  ist  der  Fall 
der  »begrifflichen  Angleichungen « .  Dabei  treten  nun  aber  neben 
diesen  dem  Vorgang  den  entscheidenden  Charakter  aufprägenden 
Assoziationen  stets  noch  andere  als  Hilfskräfte  auf,  so  daß  eben- 
sowohl bei  den  grammatischen  Angleichungen  Attraktionen  von 
Grundelementen  wie  bei  den  begrifflichen  Angleichungen  solche 
von  Beziehungselementen  mitwirken.  Diejenige  Wirkung,  die  wir 
in  einem  gegebenen  Fall  speziell  als  die  »induzierende«  heraus- 
greifen, bezeichnet  daher  stets  nur  die  zunächst  der  Beobachtung 
sich  aufdrängende  Seite  der  Erscheinung,  niemals  den  ganzen 
Komplex  mannigfach  gerichteter  attraktiver  und  repulsiver  Kräfte, 
die  an  dieser  beteiligt  sind.  Hiernach  lassen  sich  im  ganzen  vier 
typische  Formen  assoziativer  Verbindungen  unterscheiden,  die  den 
vier  oben  betrachteten  symptomatischen  Gruppen  entsprechen.  Um 
sie  mittelst  kurzer  symbolischer  Ausdrücke  zu  erläutern,  sollen  be- 
liebige Grundelemente  eines  Begriffs  durch  Buchstaben  der  ersten, 
Beziehungselemente  durch  solche  der  zweiten  Hälfte  des  Alphabets 
angedeutet  werden ,  so  daß  also  A  B  M  iV  und  E  F  S  T  zwei 
Wörter  nebst  den  an  sie  gebundenen  Begriffen  andeuten,  die  in 
allen  ihren  Elementen  abweichen,  A  B  M  iV  und  A  B  S  T  solche, 
die  in  ihren  Grundelementen  übereinstimmen,  A  B  M  N  und 
EFM N  andere,  bei  denen  das  gleiche  für  die  Beziehungs- 
elemente gilt,  endlich  ABMT  und  A  C  S  T,  AB  MS  und 
CDMT  usw.  solche,  die  verschiedene  Arten  partieller  Über- 
einstimmung darbieten.  Nun  sind  an  sich  nur  zwischen  überein- 
stimmenden Elementen  assimilierende  Wirkungen  möglich.  Durch 
diese  können  dann  aber  nach  dem  Prinzip  der  Kontiguität  weitere, 
bloß  in  äußerer  Verbindung  stehende  in  das  Bewußtsein  gehoben, 
oder  aber  vorhandene,  die  in  der  neu  gebildeten  Verbindung 
keine  Stelle  finden,  aus  ihm  verdrängt  werden.  Derartige  Wir- 
kungen   können    nach    mannigfachen   Erfahrungen,     die    sich    uns 


Psychologische  Theorie  der  assoziativen  Fernewirkungen.  45 c 

im  Gebiet  der  Sprache  darbieten,  nicht  bloß  zwischen  den  Ele- 
menten verschiedener,  sondern  auch  zwischen  denen  der  gleichen 
Vorstellungen,  insbesondere  also  zwischen  den  Laut-  und  Begrififs- 
elementen  eines  Wortes  stattfinden.  Wollen  wir  eine  schematische 
Übersicht  über  die  verschiedenen  typischen  Formen  der  oben  be- 
handelten Angleichungsvorgänge  gewinnen,  so  erscheint  es  daher 
zweckmäßig,  für  die  Begrifiselemente  symbolische  Zeichen  zu  wählen, 
die  je  nach  Bedürfnis  die  isolierte  oder  die  vereinigte  Wirkung  der 
verschiedenen  Bestandteile  einer  Komplikation  andeuten.  Wir  be- 
zeichnen daher  eine  Komplikation  aus  Laut-  und  Begrififselementen, 
wie  oben,  mit  großen  Buchstaben  und  wählen  diese  Symbole  über- 
all da,  wo  eine  gleichzeitige  assoziative  Wirkung  der  vereinigten 
Laut-  und  Begriffselemente  anzunehmen  ist.  Dagegen  sollen  Laut- 
elemente, wo  sie  für  sich  allein  wirksam  sind,  durch  die  kleinen 
Buchstaben  des  lateinischen  Alphabets  a^  b^  c  .  .  .  oder  in^  n,  o  .  .  .^ 
und  Begrififselemente,  sofern  sie  ohne  die  zugehörigen  Lautelemente 
v/irken,  durch  die  griechischen  Buchstaben  a,  ß,  y  .  .  .  angedeutet 
werden.  Dabei  werden  im  letzteren  Fall  diese  Symbole  nur  für  die 
Grundelemente  des  Wortbegriffs  angewandt,  da,  wie  die  Erschei- 
nungen begrifflicher  Angleichung,  bei  denen  eine  solche  selbständige 
Wirksamkeit  der  Begrififselemente  allein  in  Frage  kommt,  zeigen, 
Attraktionswirkungen,  die  vom  Lautwert  der  Worte  unabhängig 
sind,  überhaupt  nur  den  Grundelementen  zukommen.  Weiterhin 
soll  die  Hauptrichtung  der  Assoziationen  durch  ausgezogene,  die 
Neben-  oder  Hilfswirkungen  sollen  durch  unterbrochene  Linien 
angedeutet  werden.  Solche  Elemente  endlich,  die  durch  die  beglei- 
tenden repulsiven  Wirkungen  verschwinden,  sind  in  eckige  Klam- 
mern eingeschlossen,  und  die  Hauptrichtung  der  Induktion  wird 
durch  einen  Pfeil  angedeutet.  Jeder  symbolischen  Wortformel  ist 
zur  Verdeutlichung  ein  Wortbeispiel  beigefügt. 

Typus  I.     (Innere  grammatische  Angleichung.) 
A  B  S  [z.  B.  starb) 

T   A  B[M]  r  (stürben 
M     I     1       I 

ABS    r  fstarben  bdST      efST      g  k  S  7'   usw. 

-n  —r  —r-  -r 


(gab 

tat 

machte 

gaben 

taten 

machten' 

bd  S 

efS 

ghS 

456  Der  Lautwandel. 


Typus  II.     (Äußere  grammatische  Angleichung.) 

A  B  S  [z.  B.  backe)  (mache  lache  krache 

:  machte  lachte  krachte) 

A  B[M]  (buk)  c  d  S  c  f  S  g  h  S 

A  B  S   T  (backte)  c  d  S   T      e  f  S  T    g  k  S   7 

"T ^^       IT        -^ 


Typus  III.     (Angleichung  durch  Begriffsverwandtschaft.) 

a  ß  s  t{v\[z.  B.  ucpvaaio)  \ 
I    I    I    I  j  [oQVßßio     vvaau)     Tirvcaui] 

T       a  c   s  [uQVU))  >  (ß  =  schöpfe) 

'        I    I    I    I                                     \                                efstghstikst    usw. 
a  c  s  t       {uQVGata)  ]  I \ 1 


Typus  IV.     (Angleichung  durch  Begriffsgegensatz.) 
a  ß  b  s  t  [z.  B.  it.  leve)\ 

?l^       '    '    '        '  \    n  ß  =  leicht  (brevis) 

I      n  y  d     [v\  (lat.  gravis)     > 

Y       I    I    I        I  i    a  y  ^  schwer  c  e  s  t 

n  y  d  s  t  (it.  greve)         /  : 


Aus  diesem  Schema  erhellt  zunächst,  daß  die  beiden  Formen 
grammatischer  Angleichung  (Typus  I  und  II),  solange  man  von 
dem  Verhältnis  der  Hauptrichtung  und  der  Nebenrichtungen  der 
Assimilation  abstrahiert,  im  wesentlichen  übereinstimmen.  Der  Unter- 
schied beider  liegt  besonders  darin,  daß,  was  bei  der  einen  Form 
Hauptwirkung  ist,  bei  der  andern  zur  Nebenwirkung  wird,  und  um- 
gekehrt. Damit  hängt  der  weitere  in  dem  Schema  ausgedrückte 
Unterschied  zusammen,  daß  bei  dem  ersten  Typus  die  assoziative 
Verbindung  der  Grundelemente  eine  größere  Rolle  spielt,  wodurch 
diese  Form  den  begrifflichen  Angleichungsvorgängen  des  Typus 
III  und  IV  näher  steht.  Diese  beiden  Typen  selbst  sind  dann 
wieder  von  im  ganzen  übereinstimmendem  Charakter,  indem  bei 
beiden  sogar  die  Richtung  der  Hauptwirkung  die  nämliche  ist 
und  nur  die  Beimischung  eines  Kontrastfaktors  {ß  und  y)  zu  den 
gleichen  Begriffselementen  a  einen  Unterschied  begründet.  Damit 
steht  in  Verbindung,  daß  die  Angleichung  durch  Kontrast  einen 
Grenzfall  bildet,  wo  äußere  Hilfswirkungen  verhältnismäßig  zurück- 
treten und   oft  wohl  sfanz   verschwinden   können.      Dies    ist    durch 


Physiologische  Einflüsse  bei  den  Lautangleichungen.  ^cy 


die  Natur  des  Kontrastes  bedingt,  nach  der  ein  gegebener  Be- 
griff in  einem  bestimmten  Gedankenzusammenhang  jeweils  einen 
bestimmten  Gegenbegriff  fordert.  Übrigens  ist  es  für  beide  be- 
griffliche Angleichungsformen  charakteristisch ,  daß ,  wie  bei  ihnen 
die  Hauptkräfte  von  Begriffselementen  ausgehen,  die  unabhängig 
von  ihren  Lautkomplikationen  wirken,  so  als  äußere  Hilfskräfte 
umgekehrt  reine  Lautwirkungen,  die  von  den  begrifflichen  Bedeu- 
tungen der  Wörter  unabhängig  sind,  unterstützend  eingreifen. 

6.    Physiologische  Einflüsse  bei  den  Lautangleichungen. 

Erscheint  nach  der  in  dem  obigen  Schema  gegebenen  Zerglie- 
derung der  Angleichungsvorgänge  der  Ausdruck,  diese  seien  »psy- 
chisch bedingte  Formen  des  Lautwandels« ,  gerechtfertigt,  insofern 
ja  eben  diese  Zergliederung  überall  auf  Verbindungen  elementarer 
Assoziationen  zurückführt,  so  schließt  das  nun  aber  keineswegs  aus, 
daß  nicht  auch  hier  den  Assoziationen  gewisse  physiologische 
Bedingungen  zur  Seite  stehen.  In  der  Tat  wird  diese  Annahme 
schon  durch  die  allgemeine  Erwägung  nahegelegt,  daß  alle  Asso- 
ziationen ihrem  wesentlichen  Charakter  nach  mit  den  Übungsvor- 
gängen eng  zusammenhängen ,  daß  aber  diese  stets  entweder  rein 
physische  oder  aber  psychophysische  Funktionsänderungen  sind: 
das  erstere  bei  der  Funktionsübung  der  niederen  Nervenzentren 
oder  der  peripheren  Organe,  wie  der  Muskeln  und  Drüsen,  das 
letztere  bei  den  mit  Veränderungen  in  den  höheren  Zentralgebieten 
vor  sich  gehenden  Prozessen.  So  begreiflich  es  demnach  ist,  daß 
wir  solche  Vorgänge  der  Übung  und  Mitübung  auf  die  psychische 
Seite  stellen,  solange  sie  sich  uns  vorwiegend  in  psychischen 
Symptomen  zu  erkennen  geben,  so  kann  dies  doch  an  jener  prin- 
zipiellen Auffassung  nichts  ändern,  daß  sie,  als  psychophysische 
Vorgänge,  nur  die  verwickeltsten  und  höchsten  Erscheinungsformen 
der  alle  Lebensprozesse  beherrschenden  Gesetze  der  Veränderung 
der  Funktion  durch  die  wiederholte  Ausübung  der  Funktion  selber 
sind.  Diese  prinzipielle  Auffassung  findet  aber  im  vorliegenden 
Fall  ihre  besondere  Rechtfertigung  noch  darin,  daß  die  Sprache 
mehr  als  irgendeine  andere  psychische  Leistung  die  Kennzeichen 
einer  psychophysischen  Funktion  an  sich  trägt,  die  von  den  äußeren 


458 


Der  Lautwandel. 


motorischen  und  akustischen  Hilfsmitteln  der  Lauterzeugung  an  bis 
zu  den  Verbindungen  der  akustischen  Zentren  verschiedener  Ord- 
nung auf  physischer  Grundlage  ruht.  Diese  Bedeutung  der  physio- 
logischen Übung  tritt  nun  auch  in  einzelnen  die  assimilativen  Ferne- 
wirkungen begleitenden  Erscheinungen  selbständig  zutage.  Besonders 
gehören  hierher  zwei  Tatsachen.  Die  trste  besteht  in  der  über- 
wiegenden Wirkung  solcher  Lautverhältnisse,  die  von  vornherein 
schon  durch  ihre  größere  Häufigkeit  bevorzugt  sind.  So  verdrängen 
bei  den  grammatischen  Angleichungen ,  wo  nicht  besondere  Erhal- 
tungsbedingungen mit  eingreifen,  die  häufigeren  Flexionsformen  all- 
mählich die  selteneren.  So  sind  ferner  unter  den  begrifflichen 
Angleichungen  die  durch  Kontrast  den  durch  Ähnlichkeit  vermittel- 
ten überlegen,  wahrscheinlich  deshalb,  weil  im  selben  Maß,  als 
der  Kontrast  das  wirksame  Begriffsverhältnis  auf  Korrelatbegriffe 
einschränkt,  er  wegen  der  großen  Häufigkeit  der  Verbindung  dieser 
Begriffe  ein  Übergewicht  in  ihrer  gemeinsamen  funktionellen  Ein- 
übung behauptet.  Die  zweite  Tatsache  besteht  in  dem  von  Anfang 
an  unwillkürlichen  Eintritt  der  Veränderungen.  Diese  Art  der  Ent- 
stehung enveckt  unmittelbar  den  Eindruck  eines  psychischen  Mecha- 
nismus, der  zugleich  ein  physischer  sein  muß,  da  die  Lautbildung 
als  solche  dem  Gebiet  physischer  Vorgänge  angehört.  Gerade  bei 
den  Sprachorganen  läßt  aber,  wie  auch  sonst  die  Erfahrung  viel- 
fach zeigt,  die  Wiederholung  einer  bestimmten  Bewegung  diese 
leicht  auch  da  entstehen,  wo  eigentlich  eine  andere  gewollt  wurde, 
lediglich  deshalb,  weil  die  Organe  nun  einmal  auf  eine  bestimmte 
Aufeinanderfolge  der  Artikulationsbe\\'egungen  eingeübt  sind.  Mag 
es  z.  B.  noch  so  wahrscheinlich  sein ,  daß  aQvco ,  als  es  sich  in 
aQvaoco  umwandelte,  zunächst  der  assoziativen  Wirkung  des  be- 
griffsverwandten dcpvaoio  gefolgt  ist:  ohne  die  entsprechende  Ein- 
übung der  der  Endung  -vggw  eigenen  Lautbewegungen,  die  wieder 
halb  als  assoziatives,  halb  als  rein  mechanisches  Moment  infolge 
der  in  dieser  Abfolge  eingeübten  Bewegungen  die  Veränderung  er- 
leichterte, würde  der  Wandel  der  Laute  nicht  erfolgt  sein.  So  darf 
durchweg  auch  für  diese  der  Wirksamkeit  der  psychischen  Asso- 
ziationsgesetze besonders  günstigen  Erscheinungen  assoziativer  Ferne- 
wirkungen der  Satz  als  gültig  angesehen  werden,  daß  jeder  Laut- 
wandel ein  psychophysischer  Vorgang  ist. 


Haimtformen  der  WortentleliTiung.  as^q 


V.   Laut-  und  BegriflFsassoziationen  bei  Wort- 
entlehnungen. 

I.    Hauptformen  der  Wortentlehnung. 

Mit  den  soeben  betrachteten  assoziativen  Fernewirkungen  der 
Laute  berühren  sich  sehr  nahe  diejenigen  Erscheinungen,  die  in- 
folge der  Einführung  eines  nach  Laut  wie  Bedeutung  frem- 
den Wortes  in  eine  Sprache  eintreten.  Auch  hier  entstehen  natur- 
gemäß Assoziationen  mit  andern,  bereits  geläufigen  Wörtern  von 
ähnlichem  Klangcharakter,  die  teils  als  bloße  Lautgebilde,  teils  auch 
durch  ihren  Begriffswert  auf  das  neuaufgenommene  Wort  herüber- 
wirken. Die  Wortentlehnung  ist  demnach  ein  Produkt  der  Sprach- 
mischung. Dabei  ist  aber  der  Begriff  der  letzteren  hier  im  wei- 
testen Sinne  zu  nehmen.  Denn  die  Erscheinungen  der  Wortentlehnung 
stellen  sich  überall  da  ein,  wo  überhaupt  ein  unverstandenes  Wort 
in  einer  Sprache  Eingang  findet,  mag  es  nun  einer  fremden  Sprache 
oder  einem  andern  Dialekt  oder  vielleicht  auch  nur  einer  älteren 
Periode  der  gleichen  Sprache  angehören.  Diese  geschichtlichen 
Bedingungen  ihrer  Entstehung  bewirken  zugleich  psychologische 
Eigentümlichkeiten,  durch  die  sich  der  Prozeß  der  Wortentlehnung 
von  den  gewöhnlichen  »Analogiebildungen«  wesentlich  unterscheidet. 

Geht  man  nämlich  von  den  vier  oben  unterschiedenen  Formen 
assoziativer  Fernewirkungen  aus,  so  umfassen  diese  nur  jene  näher 
zusammengehörigen  Vorgänge,  bei  denen  diejenigen  Lautbestand- 
teile eines  Wortes,  die  als  die  Träger  seiner  Grundbedeutung  be- 
trachtet werden  können,  während  des  Lautwechsels  unverändert 
geblieben  sind,  bei  denen  also  nur  seine  Beziehungselemente,  nicht 
aber  die  Grundelemente  einer  von  andern  Wörtern  ausgehenden 
assimilierenden  Wirkung  unterlagen.  (Vgl.  das  Schema  auf  S.  455  f) 
Nun  ist  es  unvermeidlich,  daß  die  Assoziationswirkungen,  denen 
alle  Bestandteile  der  Sprache  ausgesetzt  sind,  da  und  dort  über 
diese  Grenze  hinausstreben.  In  Anbetracht  der  festen  Verbindung 
von  Begriff  und  Wort  sind  aber  die  Grundelemente  des  letzteren 
unter  normalen  Bedingungen  weit  stabiler  als  die  Beziehungsele- 
mente, die  leicht,  ohne  daß  damit  der  begriffliche  Wert  des  Wortes 


i^O  I^cr  Lautwandel. 


selbst  oder  auch  nur  seiner  Abwandlungsformen  alteriert  wird,  die 
mannigfachsten  Veränderungen  erfahren  können.  Diese  Verhältnisse 
werden  jedoch  wesentlich  abweichende,  sobald  ein  der  Sprache  bisher 
fremdes  Wort  in  sie  eingeführt  wird.  Ihm  gegenüber  existiert  jenes 
der  Verbindung  von  Laut  und  Bedeutung  anhaftende  sichere  Gefühl 
des  Unterschieds  zwischen  Grund-  und  Beziehungselementen  nicht 
mehr.  Jetzt  ist  daher  das  ganze  Wort  in  allen  seinen  Bestand- 
teilen gleichmäßig  den  verändernden  Wirkungen  der  von  außen 
einwirkenden  Assoziationskräfte  ausgesetzt.  Den  beiden  Haupt- 
klassen der  grammatischen  und  der  begrifflichen  Angleichungen 
schließen  sich  demnach  alle  Umwandlungen,  die  infolge  dieser  weiter 
um  sich  greifenden  Wechselwirkungen  entstehen  können,  als  eine 
dritte  Klasse  an,  bei  der  weder  Beziehungs-  auf  Beziehungselemente, 
wie  bei  der  ersten,  noch  Grundelemente  auf  Beziehungselemente, 
wie  bei  der  zweiten  Klasse,  sondern  Grundelemente  auf  Grund- 
elemente assimilierend  einwirken.  Auch  diese  Klasse  zer- 
fällt dann  aber  wieder  in  zwei  Gruppen  von  Erscheinungen.  Bei 
der  ersten  wirld:  ein  Wort  oder  eine  Anzahl  von  Wörtern  auf  den 
gesamten  Lautkörper  eines  gegebenen  Wortes  ein,  um  ihn  eventuell 
bis  zur  Unkenntlichkeit  zu  verändern,  ohne  daß  dabei  der  Begriffs- 
wert desselben  wesentlich  alteriert  ward :  dies  ist  der  Fall  der  Wort- 
entlehnung mit  reiner  Lautassoziation  oder  der  gewöhnlich 
sogenannten  »Wortassimilation«.  Bei  der  zweiten  Gruppe  wirkt  ein 
einzelnes  Wort,  seltener  eine  bestimmte  Gruppe  von  Wörtern  ver- 
möge der  Lautassoziationen,  in  denen  sie  zu  einem  gegebenen  Worte 
stehen,  auf  dieses  ein,  indem  sie  es  sich  wiederum  in  erster  Linie 
lautlich,  dann  aber  auch  in  gewissem  Grade  begrifflich  assimilieren, 
so  daß  der  ursprüngliche  Begriff  des  Wortes  dadurch  zwar  nicht  ver- 
drängt wird,  aber  eine  eigentümliche  Färbung  gewinnt,  die  ihm  vor 
dieser  Einwirkung  nicht  zukam:  dies  ist  der  Fall  der  Wortent- 
lehnung  mit  Begriffsassoziationen  oder  der  sogenannten 
»Volksetymologie«.  Wir  können  demnach  unter  Benutzung  der 
gleichen  Symbole  beide  Gruppen  als  einen  Typus  V  und  VI  den 
obigen  vier  hinzufügen. 


Wortentlelinungen  mit  reiner  Lautassoziation.  46 1 

Typus  V.     (Wortentlehnung  mit  reiner  Lautassoziation.) 
ti  ß  a  b  in  n  (z.  B.  fenestrum'i  (Lager  abd.  legar     Maser  ahd.  masar)  ') 

u  ß  a  c  xa.   t  (Fenster  ahd.  venstar)  c  c  s  p  c  d  s  t         usw. 

II  II  II 


Typus  VI     (Wortentlehnung  mit  Begriffsassoziationen.) 

(Arm)  (Brast) 

«  /S  ab  m  n    (z.  B.  arcuballista)         y  am     —     d'  c  f 


^    K  ß  y  ö  a  c  m  t     (Armbrust) 

I    I    M    I    II 


2.    ^A^o^tentlehnungen  mit  reiner  Lautassoziation. 

Die  »Wortassimilation«  ist  die  einfachere  dieser  Erscheinungen. 
Sie  ist  diejenige,  bei  der  die  bloßen  Lautassoziationen  und  sie  be- 
gleitend die  physischen  Bedingungen  der  Lauterzeugung  vorwalten. 
Zugleich  ist  sie  aber,  wie  die  früher  (S.  393  ff.)  erwähnten  Beobach- 
tungen bei  Sprachmischungen  begreiflich  machen,  wesentlich  ab- 
weichend nach  der  Stufe  der  Kultur,  auf  der  sie  stattfindet.  In 
seiner  ursprünglichen,  Grund-  wie  Beziehungselemente  des  Wortes 
gleichmäßig  ergreifenden  Gestalt  vollzieht  sich  der  Vorgang  nur, 
wenn  die  Aufnahme  durch  die  mündliche  Rede  geschieht,  und  be- 
sonders wenn  sie  der  Ausbildung  einer  Schriftsprache  vorausgeht, 
also  in  einer  frühen  Kulturepoche  des  assimilierenden  Volksgeistes. 
Je  mehr  sich  dagegen  die  eigene  Sprache  gefestigt  und  die  Auf- 
merksamkeit auf  die  Eigentümlichkeit  des  Fremdwortes  geschärft 
hat,  um  so  mehr  zieht  sich  der  Assimilationsprozeß  auf  die  Be- 
ziehungselemente zurück  und  läßt  den  eigentlichen  Wortkörper 
selbst  unangetastet.  Deutlich  erhellt  dieser  Unterschied  in  solchen 
Fällen,  wo  eine  Sprache  auf  verschiedenen  Stufen  ihrer  Entwick- 
lung aus  einer   und    derselben  fremden    Sprache   das  gleiche  Wort 


I)  Natürlich  sollen  diese  Beispiele  wieder,  ähnlich  wie  die  oben  (Typus  I — IV) 
bei  den  äußeren  Wirkungen  der  Assoziation  angeführten,  nicht  sagen,  daß  speziell 
von  den  Lautelementen  der  hier  angeführten  Wörter  eine  nachweisbare  Attraktion 
ausgegangen  sei,  sondern  sie  sollen  nur  andeuten,  daß  zur  Zeit  der  Assimilation 
überhaupt  lautverwandte  Wörter  existierten,  die  attrahierend  wirken  konnten. 


462 


Der  Lautwandel. 


in  verschiedenen,  wenn  auch  verwandten  Bedeutungen  assimiliert 
hat,  wie  bei  manchen  dem  Lateinischen  und  Romanischen  ent- 
nommenen deutschen  Lehnwörtern.  So  ist  schon  in  sehr  früher 
Zeit  Vog-t  (ahd.  fögcit)  aus  lat.  vocatus^  dann  viel  später  im  mhd. 
und  nhd.  Advokat  aus  dem  gleichbedeutenden  advocatus  gebildet 
worden.  Ähnlich  Meister'  (ahd.  meistar)  aus  lat.  magistcr,  dem 
etwa  seit  dem  1 7 .  Jahrh.  das  unverändert,  jedoch  in  anderer  Bedeu- 
tung rezipierte  Fremdwort  Magister  gefolgt  ist;  ferner  Speise  (ahd. 
sptsa),  das  aus  dem  neulat.  spesa  =  spensa  eigentlich  "^ Aufwand' 
entlehnt  wurde,  während  aus  dem  gleichen  Wort  in  viel  späterer 
Zeit  (17.  Jahrh.)  das  der  ursprünglichen  Bedeutung  näher  liegende 
Spese  ('Geschäftsspese')  in  den  kaufmännischen  Verkehr  Aufnahme 
fand.  Ähnlich  sind  zu  verschiedenen  Zeiten  Segen  und  Signal  aus 
Signum^  Kreuz  und  Kruzifix  aus  crux^  crucifixnm  entstanden  usw.  ^). 
Wenn  man  diese  Unterschiede  der  Aneignung  fremden  Sprach- 
gutes in  früherer  und  in  späterer  Zeit  in  der  Regel  darauf  zurück- 
führt, daß  sich  die  Sprache  dort  noch  in  einem  »bildsameren«  Zu- 
stande befunden  habe  als  hier,  so  ist  das  natürlich  eine  nichtssagende 
Redeweise.  Der  eigentliche  Grund  kann  allein  darin  liegen,  daß 
die  physischen  und  psychischen  Bedingungen,  die  überhaupt  bei 
der  Wortassimilation  eine  Rolle  spielen,  auf  einer  Stufe  primitiverer 
Kultur  intensiver  wirken,  während  sie  doch  ihrem  allgemeinen  Cha- 
rakter nach,  wie  sich  aus  der  allgemeinen  Übereinstimmung  der 
Erscheinungen  schließen  läßt,  hier  wie  dort  die  nämlichen  sind.  Die 
physiologischen  Bedingungen  für  die  Umwandlung  eines  gehörten 
Lautes  bei  seiner  Reproduktion  durch  die  eigenen  Sprachorgane 
sind  aber  doppelter  Art:  sie  sind  sensorische,  insofern  der  aku- 
stische Eindruck  innerhalb  einer  gewissen  Breite  schwankt;  und  sie 
sind  motorische,  insofern  jedes  Sprachorgan  dem  Lautsystem  der 
eigenen  Sprache  adaptiert  ist  und  daher  vermöge  der  von  ihm 
erworbenen  mechanischen  Übung  fremde  Laute  bei  der  Reproduktion 
im  Sinne  der  gewohnten  umw^andelt.  Lifolge  jener  doppelseitigen 
Natur  der  Sprachfunktionen,  nach  der  jedes  Denken  von  Worten 
zum   leisen  Sprechen   zu  werden   strebt,    und    nach  der  sich  jedes 


^)  Vgl.   F.  Kluges  Verzeichnis   lateinischer   Lehnwörter   in   den   altgermanischen 
Sprachen,  in  Pauls  Grundriß  der  german.  Philologie,^  I,  S.  333  ff. 


Wortentlehmingen  mit  reiner  I,autassoziation.  ^53 


Hören  von  Worten  mit  dem  Impuls  zur  Nachbildung  der  Sprachlaute 
verbindet,  greifen  nun  diese  akustischen  und  motorischen  Umbil- 
dungen fortwährend  ineinander  ein:  der  Laut  wird  anders  gehört, 
weil  er  anders  gesprochen  wird;  und  er  wird  anders  gesprochen, 
weil  er  anders  gehört  wird.  Schon  innerhalb  der  verschiedenen 
Dialekte  einer  und  derselben  Sprache  ist  diese  Wechselwirkung 
deutlich  zu  bemerken:  Lautunterschiede,  die  den  Genossen  des  einen 
Dialekts  im  Sprechen  wie  Hören  geläufig  sind,  werden  von  denen 
des  andern,  solange  sich  jene  Unterschiede  innerhalb  enger  Grenzen 
bewegen,  auch  akustisch  nicht  unterschieden.  Hier  macht  sich  eben, 
wie  schon  bei  den  individuellen  Wortassimilationen  der  kindlichen 
Sprache  (S.  302  ff.),  die  Tatsache  geltend,  daß  jeder  Sprachlaut  eine 
Komplikation  ist,  in  welche  die  eigene  Artikulationsempfindung  mit 
eingeht,  so  daß,  wenn  diese  unverändert  bleibt,  auch  die  Änderungen 
der  begleitenden  Gehörsempfindung  schwerer  bemerkt  werden.  Zu 
diesen  psychologischen  Momenten  kommt  dann  noch  als  eine  weitere 
wichtige  psychophysische  Bedingung,  daß  in  der  Sprachgemeinschaft, 
die  ein  Fremdwort  aufnimmt,  Vorstellungsresiduen  besonderer 
Art  zu  assimilativer  Wechselwirkung  mit  neuen  Eindrücken  bereit 
liegen.  In  eine  in  völlig  fremder  Sprache  gehörte  Rede  ist  der 
Hörende  fortwährend  geneigt  die  ihm  vertrauten  Laute  und  Worte 
hineinzuhören,  ähnlich  wie  wir  auch  in  beliebige  unartikulierte  Ge- 
räusche oder  Naturlaute,  in  das  Klappern  der  Mühlräder,  das  Ticken 
des  Uhrpendels,  die  Stimmlaute  der  Tiere,  bekannte  Sprachlaute 
hineinhören  können.  Auf  diese  Weise  ist  jede  durch  einen  akustischen 
Eindruck  geweckte  Lautvorstellung  ein  Assimilationsprodukt,  in 
welchem  die  reproduktiven  Elemente,  die  dem  Schatz  geläufiger 
Wortvorstellungen  entstammen,  um  so  leichter  den  überwiegenden 
Bestandteil  bilden,  je  fremdartiger  die  gehörten  Laute  selbst  sind. 
Alle  diese  psychophysischen  Momente  zusammengenommen  verleihen 
der  Wortassimilation  ihren  eigenartigen  Charakter  und  unterscheiden 
sie  von  den  auf  die  formalen  Wortbestandteile  beschränkt  bleibenden 
Angleichungsvorgängen. 


a()a  Der  Lautwandel. 


3.   Wortentlehnungen  mit  Begriffsassoziationen. 

Die  sogenannten  -Volksetymologien«  sind  Erscheinungen,  die 
sich  in  allen  ihren  Eigenschaften  den  ursprünglichen  Wortassimila- 
tionen anschließen.  Doch  unterscheiden  sie  sich  dadurch,  daß  die 
bei  der  gewöhnlichen  Wortassimilation  ganz  im  Hintergrund  bleiben- 
den begrifflichen  Elemente  der  früheren  Wortvorstellungen  in  doppel- 
ter Weise  entscheidend  an  dem  Vorgang  teilnehmen.  Erstens  sind 
sie  es,  die  die  Auffassung  des  Wortes  und  dessen  Reproduktion  be- 
stimmen. Zweitens  verleihen  sie  dem  durch  das  assimilierte  Wort 
ausgedrückten  Begriff  selbst  eine  eigentümliche  Färbung,  die  ihn 
den  assimilierenden  Begriffselementen  nähert.  Diese  Verhältnisse 
finden  in  dem  auf  S.  461  dargestellten  Schema  (Typus  VI)  darin 
ihren  Ausdruck,  daß  das  neu  gebildete  Wort  nach  seinem  begriff- 
lichen Aufbau  aus  direkten,  ursprünglichen  Elementen  (a,  ß),  die  in 
der  Regel  das  Übergewicht  behalten,  und  aus  reproduktiven,  die 
durch  die  Lautassoziation  geweckt  werden  {y,  d),  gemischt  ist.  Hier- 
mit verbindet  sich  dann  von  selbst  die  diese  Klasse  von  Angleichungen 
unterscheidende  Eigenschaft,  daß  sich  bei  ihren  ausgeprägten  Formen 
überhaupt  nicht  mehr  Haupt-  und  Nebenwirkungen  unterscheiden 
lassen,  sondern  daß  an  jedem  Vorgang  zwei  Hauptwirkungen  be- 
teiligt sind  (bei  Typus  VI  durch  die  zwei  Pfeile  angedeutet),  die 
eben  durch  ihre  Verbindung  das  Eigenartige  der  Erscheinung  aus- 
machen. Genauer  läßt  sich  demnach  die  »Volksetymologie«  als 
eine  »Wortassimilation  mit  begrifflicher  Umbildung  des  Wortes 
durch  die  assimilierenden  Elemente«  oder,  wenn  man  diese  Defini- 
tion in  einen  kurzen  Ausdruck  zusammenfassen  will,  als  eine  -lautlich- 
begriffliche  Wortassimilation«  bezeichnen,  im  Unterschiede  von  der 
»rein  lautlichen«  des  Typus  V.  Wie  bei  dieser,  so  stellt  sich  aber 
auch  bei  jener,  und  zwar  wegen  des  Übergreifens  der  Assoziation 
auf  die  begrifflichen  Elemente  in  noch  höherem  Grade,  der  End- 
erfolg des  Prozesses  als  ein  Produkt  der  Wechselwirkung  direkter 
und  reproduktiver  Elemente  dar,  an  dem  bald  die  einen  bald  die 
andern  überwiegend,  bald  auch  beide  ziemlich  gleichmäßig  beteiligt 
sein  können.  Übrigens  ist  die  »Volksetymologie«  insofern  eine 
spezielle  Form  der  Wortassimilation,  als  sie  gleichfalls  das  Wort  als 


Wortentlehnungen  mit  Begriflfsassoziationen.  465 

Ganzes  ergreift.  Nur  hierdurch  ist  es  möglich,  daß  sie  den  Begriffs- 
inhalt des  Wortes  in  mehr  oder  minder  weitgehendem  Maße  ver- 
ändert, da  der  Begriffsinhalt  im  allgemeinen  an  das  Wortganze 
gebunden  ist.  Daß  diese  Vorgänge  durch  den  Ausdruck  »Volks- 
etymologie« psychologisch  in  ein  falsches  Licht  gerückt  werden,  ist 
hiernach  einleuchtend.  Mit  der  reflektierenden  Worterklärung  des 
Etymologen  sind  sie  in  Wahrheit  absolut  unvergleichbar.  Sie  unter- 
scheiden sich  von  ihr  ebenso  nach  ihren  äußeren  wie  nach  ihren 
inneren  Merkmalen.  Die  wirkliche  Etymologie  sucht  das  Wort  auf 
ein  verloren  gegangenes  oder  wenigstens  aus  dem  Bewußtsein  ver- 
schwundenes Stammwort  von  irgendwie  verwandter  Bedeutung  zurück- 
zuführen; die  »Volksetymologie«  substituiert  umgekehrt  ein  Wort 
mit  bekannter  Bedeutung  einem  andern,  wodurch  dieses  zugleich 
mehr  oder  weniger  in  seiner  Bedeutung  verändert  wird.  Vor  allem 
aber  ist  die  sogenannte  Volksetymologie,  wie  die  Wortassimilation 
überhaupt,  ein  rein  assoziativer,  dem  psychophysischen  Mechanis- 
mus der  Sprachfunktionen  zugehöriger  Vorgang,  von  der  rein  laut- 
lichen Wortassimilation  eben  nur  dadurch  verschieden,  daß  mit  den 
Lauten  zugleich  begriffliche  Elemente  assoziativ  gehoben  werden 
und  infolgedessen  ihrerseits  wieder  auf  die  Lautassoziation  zurück- 
wirken können. 

Mit  Rücksicht  auf  ihr  Verhältnis  zu  den  lautlichen  Wortassimila- 
tionen lassen  sich  nun  die  lautlich-begrifflichen  oder  die  »Volksetymo- 
logien« wieder  in  zwei  Gruppen  sondern,  deren  eine  jenen  noch 
näher  steht,  während  bei  der  zweiten  das  begriffliche  Moment  der 
Assoziation  überwiegt.  Die  erste  können  wir  als  »Wortassimilationen 
mit  begrifflichen  Nebenwirkungen«,  die  zweite  als  »Wortassimilationen 
mit  Begriffsumwandlungen«  bezeichnen^). 


^)  Eine  reiche  Sammlung  hierher  gehöriger  Erscheinungen  aus  dem  Gebiet  der 
deutschen  Sprachgeschichte  bietet  neben  zwei  Aufsätzen  von  W.  Förstemann,  der 
zuerst  den  Namen  »Volksetymologie«  eingeführt  hat  (in  Kuhns  Zeitschrift  für  vergl. 
Sprachforschung,  I,  1852,  S.  i  ff.,  XXIII,  1877,  S.  375  ff.),  das  Buch  von  K.  G.  An- 
dresen,  Über  deutsche  Volksetymologie,5  1889.  Vieles,  aber  nicht  immer  Zuverläs- 
siges aus  dem  Gebiet  der  Sprichwörter  und  sprichwortähnlichen  Redensarten  ent- 
hält unter  anderm  auch  H.  Schrader,  Der  Bilderschmuck  der  deutschen  Sprache 
(o.  J.).  Überhaupt  ist  die  »Volksetymologie«  neuerdings  ein  beliebtes  Thema.  Meist 
wird  jedoch  der  Gegenstand  nur  als  eine  Art  sprachlicher  Kuriosität  behandelt. 
Eine  Übersicht  der  Hauptliteratur  über  den  Gegenstand  und  zugleich  eine  kurze 
Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  30 


466  I^sr  Lautwandel. 


a.    Wortassimilationen  mit  begrifflichen  Nebenwirkungen. 

Bei  dieser  Gruppe  unterscheidet  sich  die  lautliche  Seite  des  Vor- 
ganges nicht  von  einer  gewöhnlichen  rein  lautlichen  Wortassimilation. 
Nur  entsteht  als  Nebenwirkung  infolge  der  partiellen  oder  totalen 
Übereinstimmung  des  assimilierten  Produktes  mit  einem  bekannten 
Wort  eine  nebenhergehende  Assoziation  mit  dem  an  dieses  Wort 
gebundenen  Begrift.  Doch  wirkt  diese  Assoziation  nicht  in  erheb- 
licher Weise  auf  das  Lautgebilde  selbst  ein.  Die  begriffliche  Färbung, 
die  das  assimilierte  Wort  annimmt,  erscheint  daher  als  ein  zufälliges 
psychologisches  Nebenprodukt  der  Wortassimilation:  diese  würde 
eine  rein  lautliche  geblieben  sein,  hätte  sich  nicht  der  Gleichklang 
mit  einem  geläufigen  Wort  eingestellt.  Dabei  kann  natürlich  dieser 
assoziierte  Begriffsinhalt  von  dem  wirklichen  des  Wortes  sehr  weit 
abliegen,  und  es  pflegt  darum  bei  dieser  ersten  Gruppe  die  Neben- 
vorstellung selbst  nur  in  der  Form  einer  unbestimmten  Komplikation 
mit  dem  Hauptbegriff  vorzukommen,  die  je  nach  besonderen  Be- 
dingungen auch  ganz  verschwinden  kann,  wodurch  der  Vorgang  in 
eine  rein  lautliche  Wortassimilation  übergeht. 

Beispiele,  die  dieser  Gruppe  vonviegend  lautlicher  Assimilationen 
angehören,  finden  sich  weit  verbreitet  in  der  Sprache.  So  in  Wörtern 
wie  Damhirsch  aus  lat.  dama  'Hirsch',  Leinwand  aus  mhd.  Itnwät 
durch  Assoziation  mit  dem  etymologisch  unverwandten  Gnvand, 
Kammer tiidi  urspr.  Tuch  von  Cambray^  deutsch  Kamerich ^  Maul- 
esel von  lat.  mulus  usw.  In  allen  diesen  Fällen  fehlt  zwar  nur  dann 
die  durch  die  Lautangleichung  des  Wortes  erweckte  Nebenvorstellung, 
wenn  ein  bestimmtes  Wort  durch  häufigen  Gebrauch  so  geläufig 
geworden  ist,  daß  es  sich  in  ein  einfaches  Begriffszeichen  ohne  alle 
Nebenvorstellungen  umgewandelt  hat.  Aber  auch  wo  dies  nicht 
zutrifft,  ist  die  Nebenvorstellung  nur  lose  mit  der  Hauptvorstellung 
verknüpft.  Bei  dem  "^Mauleser  denkt  man  etwa  an  das  Maul  des 
Esels,  bei  dem  ""Kammertuch'  an  die  Kammer,  in  der  es  aufbewahrt 
oder  in  der  es  gemacht  wird,  oder  man  empfindet  vielleicht  auch 
das  Wort,    analog  wie  in  'Kammerherr'  u.  dgl.,  als  eine  Art  Wert- 


Darstellnng  der  Entwicklung  der  theoretischen  Anschauungen  über  denselben  gibt 
J.  Kjederqvist,  in  Sievers'  Beiträgen  zur  Geschichte  der  deutschen  Sprache,  Bd.  27, 
1902,  S.  409  ff. 


Wortentlehnungen  mit  Begriffsassoziationen.  ^67 

prädikat.  Für  die  psychologische  Entstehung  solcher  Assozia- 
tionen bleibt  es  jedoch  bezeichnend,  daß  eine,  wenn  auch  noch  so 
unbestimmte,  Verbindung  der  Vorstellungen  immerhin  möglich  sein 
muß,  wenn  diese  den  Inhalt  des  Begriffs  ergreifende  Angleichung 
überhaupt  eintreten  soll.  Wo  das  nicht  der  Fall  ist,  da  kann  sich  eine 
vollkommene  lautliche  Übereinstimmung  zweier  Wörter  herstellen, 
mag  sie  nun  auf  dem  Weg  sonstiger  lautgesetzlicher  Änderungen 
oder  auf  dem  einer  rein  lautlichen  Wortassimilation  entstehen,  ohne 
daß  an  irgendeinen  begrifflichen  Zusammenhang  gedacht  wird.  So 
empfinden  wir  zwischen  bedauern^  eigentl.  betaiiern  (wie  noch  Lessing 
schreibt)  von  mhd.  türen^  und  dauern  =  "^beharren'  von  lat.  durare^ 
oder  zwischen  befehlen^  empfehlen  von  mhd.  bevelen,  empfelen  und 
fehlen  =  mhd.  vaelen  lat.  fallere  nicht  den  geringsten  Zusammen- 
hang, gerade  so  wenig  wie  zwischen  Ton  =  Lehm  und  Ton  =  toyius 
(musikalischer  Ton),  zwischen  Tau  =  Strick  (Schiffstau)  und  Tau  = 
engl,  dcw  (feuchter  Niederschlag),  Lehre  und  Leere  und  vielen  andern 
lautlich  entweder  ganz  oder  nahe  zusammenfallenden,  aber  begriff- 
lich auseinanderliegenden  Wörtern.  Es  muß  also  stets  eine  gewisse 
Assoziationsmöglichkeit  hinzukommen,  wenn  sich  mit  der  lautlichen 
auch  noch  eine  begriffliche  Assoziation  verbinden  soll,  während  es 
zugleich  als  ein  begünstigendes  Moment  wirkt,  wenn  das  die  Asso- 
ziation anregende  Wort  von  seltenerem,  das  der  assoziierten  Neben- 
vorstellung entsprechende  von  häufigerem  Gebrauch  ist.  So  werden 
ja  Wörter  wie  Damm^  Kammer^  Maul  usw.  viel  mehr  verwendet 
als  Damhirsch^  Kammertuch ^  Maulesel.  Dieser  Einfluß  der  rela- 
tiven Häufigkeit  entspricht  aber  durchaus  den  allgemeinen  Assozia- 
tionsbedingungen. Je  eingeübter  ein  Wort  ist,  um  so  mehr  ist  es 
geneigt,  bei  jedem  Anlaß  mit  seinen  lautlichen  wie  begrifflichen 
Elementen  deutlich  bewußt  zu  werden.  Ein  seltenes  Wort  dagegen 
wirkt  zunächst  nur  als  Lautgebilde,  und  es  bedarf  einer  gewissen 
Zeit,  bis  der  begleitende  begriffliche  Bestandteil  apperzipiert  wird. 
Mittlerweile  ist,  wenn  das  an  sich  seltene  Wort  einen  beweglicheren 
Bestandteil  hat,  dieser  als  selbständiger  Begriff  bereits  aktuell  ge- 
worden, und  der  Gesamtbegriff,  der  sich  nun  allmählich  ebenfalls 
aufarbeitet,  findet  jenen  bereits  vor,  mit  dem  er  sich  daher  alsbald 
assoziiert.  Dies  kann  aber  natürlich  nicht  geschehen,  wenn  die  be- 
grifflichen Elemente   beider  Wörter   gleich  geläufig,    und   wenn   sie 

30* 


^68  ^s""  Lautwandel, 


überdies  zureichend  voneinander  verschieden  sind.  Dann  wird  viel- 
mehr der  in  dem  gehörten  Wort  liegende  Begriff  sofort  herrschend 
und  läßt  den  durch  den  Gleichklang  etwa  assoziierbaren  gar  nicht 
neben  sich  aufkommen.  Letzteres  geschieht  in  der  Tat  in  Wörtern 
wie  befehlen^  empfehlen^  bedauern^  die  uns  ungefähr  ebenso  geläufig 
wie  fehlen  oder  dauern  geworden  sind,  und  wo  trotz  der  Laut- 
angleichung an  diese  keine  Spur  einer  begrifflichen  Assoziation  zu 
bemerken  ist. 

Hiermit  hängt  eng  zusammen,  daß  die  Bedingungen  für  lautlich- 
begriffliche Wortassimilationen  am  günstigsten  dann  sind,  wenn 
das  gehörte  Wort  an  sich  der  begrifflichen  Beziehungen  für  den 
Hörenden  entbehrt,  wenn  es  also  z.  B.  einer  fremden  Sprache  oder 
einer  zur  Fremdsprache  gewordenen  älteren  Sprachstufe  angehört. 
Hier  kommen  dann  auch  am  ehesten  Assoziationen  mit  völlig  hetero- 
genen, lediglich  durch  den  Wortklang  erweckten  Vorstellungen  vor, 
die  nun  auf  den  Lautcharakter  des  Wortes  stark  angleichend  zurück- 
wirken können.  Dahin  gehört  z.  B.  die  populäre  Umgestaltung  des 
Ufigiientnm  Neapolitammi  in  umgewendeten  Napoleon^  des  Emplas- 
triim  diachylon  in  Diakonuspflaster ^  der  Species  lignorum  in  spitze 
Lenore^  des  Unguentum  in  Unnvand^  der  Morsellen  ("von  Morsum 
Bissen^  in  Mamsellen  usw. ').  Ebenso  gewisse  aus  fremden  Sprachen 
aufgenommene  sprichwörtliche  Redensarten  wie  'sein  Glück  in  die 
Schanze  schlagen',  wo  die  Chance  des  Spiels  in  eine  Schanze 
(Festungsschanze)  verwandelt  worden  ist,  oder  dialektische  Über- 
tragungen von  Redensarten,  wie  blutjung  für  bluttjung^  blutt  dial.  = 
bloß^  also  ungefähr  so  viel  wie  'jung  wie  ein  Vogel  der  noch  nicht  flügge 
ist',  pudelnaß  wahrscheinlich  für  pfudelnaß^  pfudel  =  Pfütze^  also 
eigentlich  'naß  wie  eine  Pfütze'.  In  allen  diesen  Fällen  besitzen 
natürlich  die  Nebenvorstellungen,  die  hier  das  Wort  selbst  umge- 
prägt haben,  eine  verschiedene  Stärke.  Sie  sind  am  schwächsten 
bei  dem  'umgewendeten  Napoleon'  und  ähnlichen  anscheinend  durch 
reine  Lautassoziation  entstehenden  Gebilden,  bei  denen  nur  an  Stelle 
einer  ursprünglich   schon  willkürlichen  Benennung  eine   ebensolche 


^)  Eine  ziemlich  reiche  Zusammenstellung  derartiger  volkstümlicher  Namen  für 
Arzneimittel  gibt  C.  Müller  (Dresden)  in  der  Zeitschrift  des  deutschen  Sprachvereins, 
II.  Jahrg.  Nr.  4,   1896. 


Wortentlehnungen  mit  Begriffsassoziationen.  469 

andere  getreten  ist').  Tiefer  greift  dieser  Einfluß  in  den  andern 
Fällen,  wo  eine  dem  Gegenstand  inadäquate,  aber  doch  irgendwie 
mit  ihm  vereinbare  Vorstellung  erweckt  wird.  Hier  bleibt  der  Ge- 
danke in  einem  dem  ursprünglichen  angenäherten  Sinn  überhaupt 
nur  dadurch  erhalten,  daß  die  so  verdrängte  Vorstellung  selbst  eine 
bloße  Nebenvorstellung  war,  und  daß  daher  bei  dem  ganzen  Pro- 
zeß die  Hauptvorstellung  nach  Laut  wie  Begriff  unverändert  blieb. 
Statt  'naß  wie  eine  Pfütze'  denlct  der  Redende  nun  'naß  wie  ein 
in  Wasser  gebadeter  Pudel';  statt  an  den 'blutten',  noch  nicht  flügge 
gewordenen  Vogel  denkt  er  etwa  an  die  roten  Wangen  eines  ge- 
sunden Kindes:  statt  an  die  'Chance'  des  Spiels  an  die  glückliche 
Belagerung  einer  'Schanze',  falls  er  sich  überhaupt,  nachdem  die 
Redensarten  hinreichend  eingeübt  sind,  noch  an  die  Bedeutung  des 
Wortes  erinnert.  Denn  allerdings  wird  hier  die  inadäquate  Be- 
schaffenheit der  Vorstellungen  schon  darin  bemerkbar,  daß  sich 
die  syntaktische  Verbindung  durchaus  nicht  der  neuen  Neben- 
vorstellung angepaßt  hat.  Dies  ist  aber  zugleich  ein  Symptom  da- 
für, daß  diese  neue  Nebenvorstellung  überhaupt  nur  dunkler  im 
Bewußtsein  ist. 

b.    Wortassimilationen  mit  Begriffsumwandlungen. 

Durch  die  eingreifenden  Rückwirkungen,  die  in  Fällen  wie  den 
zuletzt  erwähnten  die  durch  die  Lautassimilation  erweckten,  eigent- 
lich dem  Gegenstand  heterogenen  Vorstellungen  auf  den  begriff- 
lichen Inhalt  eines  Wortes  ausüben,  nähern  sich  diese  Beispiele 
schon  bedeutend  der  zweiten  Gruppe  dieser  Erscheinungen,  den 
Wortassimilationen  mit  Begrififsumwandlungen.  Was  jene  Fälle 
immer  noch  von   dieser   Gruppe   scheidet,    ist    die   inadäquate   Be- 


'  Daß  übrigens  auch  in  diesen  Fällen  gelegentlich  eine  Begriffsassoziation  mit- 
spielen kann,  bemerkt  Kjederqvist.  Ein  Landapotheker  meinte,  wie  er  mitteilt,  die 
Bauern  dächten  bei  dem  »umgewendeten  Napoleon«  an  die  Hemden  und  Kleidungs- 
stücke, die  sie  zuerst  umwenden  müßten,  ehe  sie  dieselben  mit  der  Salbe  bestrichen 
(a.  a.  O.  S.  443).  Daß  die  Apotheken  die  reichsten  Fundstätten  solcher  Umbildungen 
sind,  hat  natürlich  seinen  guten  Grund  in  der  Fülle  unbekannter  Namen,  die  hier 
dem  Kunden  aus  dem  Volk  entgegentreten.  Doch  mag  auch  noch  eine  leise  Er- 
innerung an  den  zum  Teil  sehr  seltsamen  Drogenschatz  der  vormaligen  Apotheken 
mitwirken,  zu  denen  z.  B.  Eselspfoten,  Krebsaugen,  die  Asche  alter  Schuhe  (cineres 
calceorum  vetustorum)  und  vieles  ähnliche  gehörten. 


470 


Der  Lautwandel. 


schafifenheit  der  erweckten  Nebenvorstellungen,  die  es  dort  zu 
einer  festen  Assoziation  mit  dem  ursprünglichen  Begriff  nicht 
kommen  ließ.  Doch  finden  sich  in  dieser  Beziehung  offenbar 
wieder  die  verschiedensten  Abstufungen  und  Übergänge:  ein  Wort 
wie  "^pudelnaß'  z.  B.  steht  einer  neu  gebildeten  Vorstellung  mit  fester 
Assoziation  ihrer  Bestandteile  schon  viel  näher  als  'blutjung'  oder  gar 
als  die  "^Schanze',  in  die  das  Glück  geschlagen  wird.  Dies  ist  nun 
aber  das  Wesentliche  bei  den  wirklichen  Bergriffsumwandlungen, 
daß  der  lautliche  und  der  begriffliche  Bestandteil  des  Wortes  zu- 
gleich und  zum  Teil  jeder  durch  den  andern  geändert  wird,  so  daß 
sich  am  Ende  des  Prozesses  das  durch  die  doppelte  Assimilation 
veränderte  Wort  ebenso  als  ein  einheitliches  Laut-  und  Begriffs- 
gebilde darstellt  wie  vorher.  So  ist  der  Friedhof  in  unserer  heu- 
tigen Sprache  ein  unmittelbar  die  Vorstellung  des  Friedens  in  sich 
schließender  Begriff"  geworden,  verschieden  von  dem  FreitJiof  mhd. 
vritJiof^  dem  "^eingefriedigten  Hof,  der  er  einst  war.  Ebenso  wird 
die  Si'mdfltit  heute  als  ein  echtes  Kompositum  zum  Begriff  Sünde 
verstanden,  obgleich  sie  erst  durch  eine  teils  lautliche  teils  begriff- 
liche Angleichung  aus  der  sin-vluot^  der  "^allgemeinen  Flut'  (von 
ahd.  mhd.  sin  'überall,  immer')  entstanden  ist.  Ähnliche  Beispiele 
sind  Liebstöckel  als  Verdeutschung  von  Levisticum^  Pfeffennünzc  als 
Umwandlung  von  Pfejferminze^  Beifuß  für  das  ältere  biboz^  von 
bozen  stoßen,  also  wörtlich  'das  dazu  gestoßene'  (Kraut),  Fälle,  in 
denen  überall  Assoziationen  mit  dem  Stengel  oder  den  Blättern 
oder  der  Wurzel  der  Pflanze  mitgewirkt  haben  werden.  Weitere 
Assimilationen  dieser  Art  sind  Trampeltier  für  Dromedar  (von  d^of-iag 
Läufer),  Maulwurf  für  moltwurfc ^  von  mhd.  molte  'Staub',  also 
'Staubwerfer',  Murmeltier  für  mus  montamis  (Bergmaus),  Umwand- 
lungen, bei  deren  erster  die  Vorstellung,  daß  der  Maulwurf  die  Erde 
mit  dem  Mund  aufwerfe,  wirksam  war,  während  die  zweite  auf  die 
murmelnde  Stimme  des  Tieres  bezogen  wird,  von  der  hier  dahin- 
gestellt bleiben  mag,  ob  sie  nicht  ebenfalls  bloß  in  der  Vorstellung 
existiert.  Ähnliche  Beispiele,  deren  Entstehungsweise  hiernach  keiner 
Interpretation  bedarf,  sind  Höhenrauch  für  älteres  Heirauch  von  hei 
'heiß,  trocken',  Armbrust  aus  arcuballista  von  arcus  'Bogen'  und 
ballista  'Wurfmaschine',  Hängematte^  das  zunächst  von  dem  hollän- 
dischen hangmat  herstammt,   zu  dem  seinerseits  wieder  du  Ponceau 


Beziehungen  der  Wortentlehnungen  zu  den  andern  assoziativen  Fernewirkungen.   471 

und  Pott  das  Urwort  in  dem  in  verschiedenen  amerikanischen 
Sprachen  vorkommenden  Wort  für  'Bett'  [hamac^  aniacd)  vermuten'). 
Ganz  in  dieselbe  Klasse  gehören  manche  neuere  Umbildungen, 
wie  im  Schwedischen  die  von  Stipendium  in  st'öpeng  nach  st'o^ 
=  sföd  (südschwedisch)  'Unterstützung'  und  peng  'Pfennig',  oder 
niederd.  die  von  Odontine  (einem  aus  England  eingeführten  Zahn- 
mittel) in  in  de  tene  'in  die  Zähne' ^),  sowie  andere  dem  Beobach- 
tungsgebiet der  Landapotheke  entnommene  Verdeutschungen,  wie 
Tinctura  aniara  in  Martertropfen.,  Tinctura  asae  foetidae  in  Aas- 
tropfen und  ähnliche.  Auch  sprichwörtliche  Redensarten  gehören 
hierher,  z.  B.  das  ivütende  Heer  für  Wotans  {  Wiiotanes)  Heer.,  'einem 
den  Rang  ablaufen  für  rank  ablaufen.,  rank  =  'Nebenweg',  in  ana- 
loger Bedeutung  wie  im  nhd.  Ranke  usw.  In  allen  diesen  Fällen  läßt 
sich  annehmen,  daß  lautliche  und  begriffliche  Assimilationen  einander 
vollkommen  parallel  gegangen  sind,  so  daß,  wenn  auch  die  Laut- 
umwandlung zunächst  der  frühere  Prozeß  gewesen  sein  wird,  doch 
die  durch  sie  hervorgerufene  Begrififsumwandlung  alsbald  wieder  auf 
die  Lautsrestalt  des  Wortes  zurückwirken  mußte. 


4,    Beziehungen  der  W^ortentlehnungen  zu  den  andern 
assoziativen  Fernewirkungen. 

Während  die  vorangegangenen,  ausschließlich  die  Beziehungsele- 
mente der  Wörter  ergreifenden  Wortentlehnungen  allgemeine,  von 
früh  an  in  allen  Sprachen  vorkommende  Erscheinungen  sind,  ge- 
hören die  lautlich-begrifflichen  Assimilationen  im  allgemeinen  mehr 
den  späteren  Stadien  der  Sprachentwicklung  an.  Auch  scheinen  sie 
ebenso  häufig  Produkte  der  Dialektmischung  wie  der  eigentlichen 
Sprachmischung  zu  sein.  Auf  diese  mit  eigentümlichen  Bedin- 
gungen der  Kulturentwicklung  zusammenhängenden  Momente  ist  es 
wohl  zurückzuführen,  daß  unter  den  neueren  Sprachen  die  deutsche 
reicher  als  andere  an  > Volksetymologien«  zu  sein  scheint.  Bei  dem 
ursprünglichen  Mangel  an  Benennungen  für   die   Gegenstände,   mit 


')  Pott,  Doppelung,    1862,  S.  81  ff.,   wo   noch  einige   weitere  Beispiele  erläutert 
sind. 

2)  Kjederqvist,  a.  a.  O.  S.  432  ff. 


472 


Der  Lautwandel. 


denen  der  Fortschritt  der  Kultur  bekannt  machte,  war  die  deutsche 
Sprache  darauf  angewiesen,  teils  aus  dem  Lateinischen  und  aus  den 
romanischen  Sprachen  Fremdwörter  aufzunehmen,  teils  sich  aus 
eigenem  Vorrat  durch  Dialektübertragungen  zu  ergänzen.  Immerhin 
finden  sich  auch  auf  andern  Sprachgebieten  zahlreiche  hierher 
gehörige  Erscheinungen'^).  Unter  den  älteren  Sprachen  ist  beson- 
ders das  Griechische  ziemlich  reich  an  lautlich-begrifflichen  Assimi- 
lationen, wie  schon  die  bekannten  Umdeutungen  alter  mythologischer 
Namen  lehren,  so  die  des  Hirtengottes  Ildv  in  einen  »Allgott« 
{ncäv  '^alles"),  des  Kqövog  in  ein  mythologisches  Symbol  der  'Zeit' 
[yiqövog],  des  Ji/töXXcov  XuKSlog,  des  ""leuchtenden'  {lucco  leuchte), 
in  einen  "^Wolfstöter'  AvxozroVog,  des  ägyptischen  Horpe  cJirat 
fHorus  das  Kind')  in  einen  l^qnov.qäxr^g  'Herrn  der  Sichel'  (von 
aqii^  Sichel),  wobei  im  letzteren  Fall  auch  noch  die  Auffassung  der 
dem  Gott  auf  den  Bildwerken  beigegebenen  Geißel  als  einer  Sichel 
mitwirkte.  Diese  und  ähnliche  Beispiele  sprechen  genugsam  für  die 
Neigung  auch  des  griechischen  Volksgeistes,  das  Unverständliche 
oder  unverständlich  Gewordene  durch  Angleichung  an  geläufige  Be- 
griffe und  Wörter  zu  assimilieren. 

Nach  allem  dem  dürfen  wir  wohl  die  lautlich-begrifflichen  An- 
gleichungen  als  ebenso  allgemeingültige  Erscheinungen  wie  die 
übrigen  Angleichungsvorgänge  ansehen.  Sie  bilden  aber  zugleich 
insofern  die  letzte  Stufe  aller  assoziativen  Fernewirkungen,  als  bei 
ihnen  die  Vorgänge  selbst  ebenso  wie  die  Bedingungen,  unter  denen 
sie  entstehen,  am  verwickeltsten  sind.  In  dieser  Beziehung  bilden  alle 
diese  Prozesse,  von  den  einfachen  assoziativen  Wechselwirkungen 
zwischen  den  lautlichen  Beziehungselementen  der  Abwandlungen 
eines  und  desselben  Wortes  an  bis  zu  den  eventuell  alle  Laut- 
und  Begriffselemente  umfassenden  Umgestaltungen  der  Wörter  oder, 
wie    sie    die    populäre   Reflexionspsychologie    nennt,    den    »Volks- 


')  Vgl.  für  das  Lateinische  und  Griechische  Otto  Keller.  Lateinische  Volks- 
etymologie und  Verwandtes.  1891  (Anhang:  Griechische  Volksetj-mol.) ;  für  das  Indo- 
germanische überhaupt,  besonders  das  Griechische  Brugmann,  Grundriß  der  vergl. 
Grammatik,  an  den  im  Index  unter  »Volksetymologie«  angeführten  Stellen;  für  die 
romanischen  Sprachen  Diez,  Etymologisches  Wörterbuch,5  1887,  und  Meyer-Lübke, 
Gramm,  der  roman.  Sprachen,  I,  1890,  im  Sachregister  unter  »Volksetymologie«. 
Auch  Andresen  hat  in  der  Einleitung  zu  seiner  »Deutschen  Volksetymologie«  einiges 
aus  andern  Sprachgebieten  zusammengetragen,  a.  a.  O.  S.  26  ff. 


Allgemeine  Bedingungen  des  regulären  Lautwandels.  475 

etymologien«,  eine  Stufenreihe  von  Vorgängen,  in  der  jede  Form 
assimilativer  Beziehung,  die  aus  allgemeinen  psychologischen  Grün- 
den überhaupt  möglich  ist,  auch  wirklich  vorkommt.  Dabei  ist 
aber  diese  Stufenreihe  doch  insofern  in  gewissem  Sinn  eine  stetige, 
als  jene  Assoziation,  die  einer  Form  ihr  eigentümliches  Gepräge  ver- 
leiht, immer  nur  diejenige  Erscheinung  ist,  die  am  stärksten  an  den 
Endprodukten  des  Prozesses  hervortritt,  während  insbesondere  bei 
den  einfacheren  dieser  Vorgänge  stets  Nebenwirkungen  vorkommen, 
die  den  Übergang  zu  der  nächsten  Stufe  vorbereiten.  So  ver- 
bindet sich  jede  innere  mit  äußeren,  freilich  aber  auch  jede  äußere 
mit  inneren  grammatischen  Angleichungen.  So  greifen  begriffliche 
und  grammatische  Angleichungen  mannigfach  ineinander  ein,  und 
in  den  begrifflichen  Angleichungen  der  Beziehungselemente  bereiten 
sich,  da  dabei  die  Grundelemente  des  Wortes  bereits  als  assi- 
milierende Kräfte  auftreten,  die  lautlichen  und  lautlich-begrifflichen 
Wortassimilationen  vor.  Das  seelische  Leben  ist  eben  auch  hier 
ein  Zusammenhang  ineinander  eingreifender  und  vielfach  ineinander 
fließender  Vorgänge,  die  leicht  über  die  Grenzen  hinausreichen,  die 
wir  ihnen  durch  die  Unterordnung  unter  gewisse  Begriffe  ziehen. 


VI.  Regulärer  stetiger  Lautwandel. 

I.    Allgemeine  Bedingungen  des  regulären  Lautwandels. 

Die  Frage,  warum  ein  Volk  den  Lautbestand  eines  Wortes  im 
Laufe  der  Jahrhunderte  schließlich  bis  zur  Unkenntlichkeit  verändern 
kann,  läßt  sich  in  allgemeingültiger  Weise  unmöglich  beantworten. 
Wir  müßten,  um  dies  zu  leisten,  über  Art  und  Umfang  aller  der 
Wandlungen  Rechenschaft  geben,  die  durch  innere  Kultur  und 
äußere  Einflüsse  in  dem  ganzen  geistigen  und  körperlichen  Wesen 
der  redenden  Gemeinschaft  eingetreten  sind.  Wir  können  nur  fest- 
stellen, daß  sich  solche  Wandlungen  unaufhaltsam  vollziehen,  und 
daß  sie  schon  in  Zeiträumen  eintreten,  in  denen  man  ihnen  in  der 
Regel  nur  wenig  Beachtung  schenkt.  Betrachten  wir  die  Porträt- 
bilder eines  Lukas  Kranach  und  Hans  Holbein,  in  denen  sie  Ge- 
lehrte und  städtische  Patrizier  ihrer  Zeit   und  Umgebung  dargestellt 


474 


Der  Lautwandel. 


haben,  so  treten  uns  hier  meist  starkknochige,  wie  aus  Holz  ge- 
schnitzte Gesichter  entgegen,  wie  sie  uns  heutzutage  in  der  Studier- 
stube oder  in  den  Straßen  unserer  deutschen  Städte  nicht  mehr 
und  nur  noch  da  und  dort  bei  dem  Bauer,  der  hinter  seinem  Pfluge 
hergeht,  begegnen.  Freilich  fehlt  es  nicht  an  einzelnen  Ausnahmen; 
denn  natürlich  handelt  es  sich  hier  nur  um  den  Gesamteindruck,  den 
wir  bei  der  Durchmusterung  einer  größeren  Zahl  von  Werken  der 
deutschen  Porträtkunst  jener  Zeit  empfangen,  besonders  wenn  wir 
sie  mit  solchen  der  in  der  Literatur  und  der  äußeren  Kultur  des 
Lebens  zur  gleichen  Zeit  fortgeschritteneren  europäischen  Völker 
vergleichen.  Wie  die  deutsche  Sprache  noch  zu  Leibniz'  Zeit  für 
den  Ausdruck  von  Stimmungen  wie  Begriffen  im  Vergleich  mit  der 
italienischen,  französischen,  englischen  ein  ungefüges  Werkzeug  war, 
so  erscheint  auch  der  durchschnittliche  deutsche  Typus  als  der 
rohere,  ursprünglichere.  In  der  Tat  ist  ja  nicht  zu  zweifeln,  daß 
sich  mit  den  Veränderungen  der  Körpergestalt  und  namentlich  des 
mimischen  Ausdrucks  auch  Veränderungen  der  Sprachorgane  ver- 
binden. Leider  ist  aber  der  Phonautograph  erst  eine  moderne  Er- 
findung. In  der  Zukunft  mag  es  möglich  sein,  Aussprache,  Beto- 
nung, Schnelligkeit  und  Rhythmus  der  Rede,  wie  sie  innerhalb  einer 
bestimmten  Epoche  gewesen  sind,  künftigen  Generationen  aufzube- 
wahren. Uns  entgeht  dieses  Hilfsmittel.  Wir  können  uns  keine 
Vorstellung  davon  machen,  wie  Friedrich  der  Große  wirklich  ge- 
sprochen hat;  und  nicht  einmal  dies  vermögen  wir  uns  zureichend 
zu  vergegenwärtigen,  wie  zu  seiner  Zeit  im  allgemeinen  gesprochen 
worden  ist.  Wohl  gibt  uns  die  Literatur  einer  Zeit  ein  allgemeines 
Bild  ihrer  Sprache.  Aber  diesem  Bild  fehlt  eine  Menge  feinerer 
Züge,  die  der  schriftliche  Ausdruck  nicht  wiedergeben  kann,  und 
die  sich  von  Generation  zu  Generation  leise  verändern.  Vor  allem 
Geschwindigkeit,  Rhythmus  und  Tonbewegung  lassen  sich  durch 
keine  schriftliche  Aufzeichnung  festhalten,  höchstens  kann  man  sie 
mit  einer  gewissen  unbestimmten  Annäherung  aus  den  sonstigen 
Eigenschaften  der  Sprache  erschließen.  Darum  ist  nicht  bloß  die 
Sprache  Luthers,  sondern  auch  die  Gottscheds,  ja  in  einem  ge- 
wissen Grade  selbst  die  Schillers  und  Goethes  in  diesen  durch 
keine  Überlieferung  bewahrten  Eigenschaften  anders  gewesen  als 
die  unsere.    Wo  mehrere  Generationen  nebeneinander  leben,  da  ver- 


Allgemeine  Bedingungen  des  regulären  Lautwandels.  Ane 

nehmen   wir   letzte  Andeutungen  solcher  Wandlungen   noch   in  der 
Sprechweise  der  Alten  und  Jungen. 

Welches  sind  nun  die  Ursachen  dieser  wahrscheinlich  bald 
schneller  bald  langsamer  sich  vollziehenden  Veränderungen  des 
durchschnittlichen  physischen  wie  psychischen  Habitus,  zu  denen 
die  allmähliche  Veränderung  der  Sprechweise  vielleicht  als  eines 
ihrer  empfindlichsten  Merkmale  gehört?  Ganz  im  allgemeinen  lassen 
sich  wohl  drei  solcher  Ursachen  namhaft  machen :  erstens  der  Ein- 
fluß der  äußeren  Naturumgebung,  zweitens  die  Vermischung 
von  Völkern  und  Rassen  verschiedener  Abstammung,  und  drit- 
tens der  Einfluß  der  Kultur,  wenn  wir  unter  diesem  letzten  Be- 
griff alles  zusammenfassen,  was  innerhalb  einer  Sprachgemeinschaft 
unabhängig  von  den  beiden  zuerst  genannten  Bedingungen  einen 
Wandel  der  physischen  und  geistigen  Formen  des  Lebens  hervor- 
bringt. Natürlich  können  diese  drei  Arten  von  Ursachen  neben- 
einander wirksam,  und  die  eine  kann  wieder  auf  die  andere  von 
Einfluß  sein.  Im  allgemeinen  wird  man  aber  doch  nach  der  Be- 
schaffenheit derselben  voraussetzen  dürfen,  daß  die  Naturbedingungen 
größerer  räumlicher  oder  zeitlicher  Entfernungen  bedürfen,  um 
merkliche  Abweichungen  hervorzubringen,  und  daß  der  Einfluß  der 
Rassenmischung  vorzugsweise  an  eingreifende  geschichtliche  Vor- 
gänge geknüpft  ist,  die  stärkere  Völkerbewegungen  herbeiführen. 
Den  Wirkungen  der  Kultur  werden  dagegen  hauptsächlich  die  lang- 
samen und  stetigen  Veränderungen  vorbehalten  bleiben,  die  sich 
immer  und  überall  ereignen,  auch  wenn  die  äußeren  Bedingungen 
konstant  bleiben.  Bei  der  Würdigung  dieser  Einflüsse  werden  aber 
vor  allem  zwei  Gesichtspunkte  zu  beachten  sein,  die  bei  den  ana- 
logen Entwicklungsproblemen  der  Naturwissenschaft  bereits  ihre 
Fruchtbarkeit  bewährt  haben.  Der  erste  besteht  darin,  daß  aus  der 
allmählichen  Anhäufung  kleiner  Wirkungen  große  Veränderungen 
entstehen  können.  Der  zweite  läßt  sich  in  die  schon  bei  den  Be- 
ziehungen zwischen  Laut  und  Bedeutung  erwähnte  Regel  fassen, 
daß  komplexe  Erscheinungen  auch  aus  komplexen  Bedingungen 
hervorzugehen  pflegen.  Dabei  wird  nun  der  erste  dieser  Sätze  zu- 
gleich in  dem  Sinne  durch  den  zweiten  modifiziert,  daß  neu  hinzu- 
tretende Einflüsse  auf  Tendenzen,  die  bis  dahin  mehr  oder  weniger 
latent  geblieben  waren,  als  auslösende  Kräfte  wirken  können,  indem 


476 


Der  Lantwandel. 


sie  verhältnismäßig  rasch  Veränderungen  erzeugen,  die  durch  andere, 
stetig  wirkende  Kräfte  bereits  vorbereitet  waren,  aber  eines  von 
außen  kommenden  Anstoßes  bedürfen,  um  ins  Leben  zu  treten. 
Solche  Auslösungen  lange  vorbereiteter  Wirkungen  sind  es,  die, 
wie  wir  vermuten  dürfen,  bei  den  organischen  Arten  jene  plötz- 
lich auftretenden  Mutationen  zustande  bringen,  aus  denen  mit  über- 
raschender Schnelligkeit  neue  Varietäten  entspringen  können^).  Bei 
der  Sprache  ist  ein  solches  Zusammenwirken  plötzlich  eintretender 
neuer  Bedingungen  mit  langsam  und  stetig  sich  vollziehenden  Ver- 
änderungen der  funktionellen  Anlagen  von  vornherein  um  so  wahr- 
scheinlicher, als  sie  vermöge  ihrer  Gebundenheit  an  die  Gemein- 
schaft ein  Beharrungsvermögen  besitzt,  wie  es  den  rein  individuellen 
Lebensäußerungen  nicht  eigen  zu  sein  pflegt.  Denn  wo  diese  sich 
unbeschränkt  entfalten  können,  da  wird  dort  durch  den  Einfluß  der 
Umgebung  die  individuelle  Abweichung  unterdrückt,  selbst  wenn 
die  Neigung  zu  ihr  eine  weitverbreitete  sein  sollte,  und  erst  irgend- 
ein äußerer  Anstoß,  der  die  Macht  der  überlieferten  Gewohnheit 
erschüttert,  läßt  die  vielleicht  längst  vorbereitete  Neuerung  zum 
Durchbruch  gelangen.  Dies  ist  ein  Vorgang,  der  in  allen  sozialen  Ent- 
wicklungen wiederkehrt,  in  Mythus  und  Sitte  so  gut  wie  in  der  Sprache. 
Die  wirklichen  Erscheinungen  stehen  darum  auch  hier  im  vollen 
Gegensatze  zu  jenem  Schema,  nach  welchem  die  individualistische 
Reflexion  die  völkerpsychologischen  Vorgänge  zurechtlegt.  Die  von 
dem  Individuum  ausgehenden  Einflüsse  verschwinden,  von  wenigen, 
zumeist  einer  höheren  Kultur  angehörenden  Grenzfällen  abgesehen, 
wirkungslos,  und  dies  geschieht  infolge  der  Ungeheuern  Macht  der 
überkommenen  Lebens-  und  Denkformen  selbst  dann,  wenn  die 
Tendenz  zu  einer  bestimmten  Neuerung  schon  eine  gewisse  Ver- 
breitung erlangt  hat.  Erst  wenn  der  günstige  Augenblick  gekommen 
ist,  ereignet  sich  der  Übergang  zur  neuen  Form,  und  dies  geschieht 
nun  um  so  plötzlicher,  je  mehr  jener  zuvor  schon  in  zahlreichen 
Individuen  vorbereitet  war.  Der  günstige  Augenblick  ist  aber  durch- 
weg in  neu  hinzutretenden  Bedingungen  gegeben,  welche  die  Macht 
der  auf  allen  Stufen  des  geistigen  Lebens  wirksamen  erhaltenden 
Kräfte  schwächen.    Kann  es  auf  diese  Weise  geschehen,  daß  irgend- 


')  Hngo  de  Vries,  Die  Mutationstheorie.     Bd.  i,   1901. 


Allgemeine  Bedingungen  des  regulären  Lautwandels.  477 

eine  Veränderung  der  sozialen  Einflüsse  Wirkungen  erzeugt,  die 
direkt  gar  nicht  von  ihr  selbst  verursacht  sind,  sondern  für  die  sie 
nur  gewissermaßen  die  Bahn  freimacht,  so  ist  nun  aber  natürlich 
auch  der  andere  Fall  nicht  ausgeschlossen,  daß  gewisse  Momente, 
die  an  sich  heterogener  Natur  sind,  direkt  in  übereinstimmendem 
Sinne  zusammenwirken.  Je  mehr  daher  von  vornherein  jeder  Ver- 
such, irgendwelche  lautgesetzliche  Veränderungen  aus  einer  einzigen 
Bedingung  abzuleiten,  berechtigten  Zweifeln  begegnen  muß,  um  so 
mehr  wird  es  gleichwohl  erforderlich,  die  Haupteinflüsse,  die  wir  mit 
einiger  Sicherheit  annehmen  dürfen,  zunächst  soviel  als  möglich 
einzeln  in  ihren  entweder  direkt  nachweisbaren  oder  zu  vermuten- 
den Wirkungen  zu  prüfen,  um  dann  die  wahrscheinlichen  Erfolge 
ihrer  Verbindung  erwägen  zu  können. 

Die  Komplikation  der  Bedingungen,  die  auf  solche  Weise  bei 
den  meisten  Lautänderungen  vorauszusetzen  ist,  fällt  nun  naturge- 
mäß gerade  bei  dem  regulären,  stetigen  Lautwandel  am  schwer- 
sten ins  Gewicht.  Ist  sie  auch  bei  den  oben  erörterten  Kontakt- 
und  Fernewirkungen  der  Laute  sicherlich  nicht  minder  vorhanden, 
so  hat  sich  hier  doch  schon  in  den  Erscheinungen  selbst  gewisser- 
maßen eine  Auslese  wenigstens  der  zunächst  eingreifenden  äußeren 
Ursachen  vollzogen.  Da  sich  nämlich  als  solche  bei  den  Kontakt- 
wirkungen gewisse  angrenzende  Laute,  bei  den  Fernewirkungen 
aber  bereit  liegende  Vorstellungsassoziationen  erweisen,  so  geben 
diese  nächsten  Ursachen  hier  zugleich  die  leitenden  Gesichtspunkte 
an  die  Hand,  nach  denen  sich  die  entfernteren  physischen  und  psy- 
chischen Bedingungen  wenigstens  mit  großer  Wahrscheinlichkeit 
ermitteln  lassen.  Das  ist  anders  bei  dem  regulären  Lautwandel.  Er 
dokumentiert  sich  eben  durch  die  relative  Unabhängigkeit  von  solchen 
unmittelbar  nachweisbaren  Kontakt-  und  Assoziationswirkungen  wie 
nicht  minder  durch  seine  Ausdehnung  über  das  ganze  Gebiet 
der  Sprache  ohne  weiteres  als  ein  Vorgang,  dessen  entscheidende 
Ursachen  weiter  zurückliegen  und  daher  entweder,  da  wir  diese 
entfernteren  Bedingungen  überhaupt  nicht  kennen,  unbestimmbar 
bleiben  oder  doch  jedenfalls  erst  auf  Grund  einer  Erwägung  aller 
möglichen  Umstände  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  zu  ermitteln 
sind. 


478 


Der  Lautwandel. 


2.   Einfluß  der  Naturumgebung. 

Unter  den  obengenannten  drei  Kategorien  möglicher  Ursachen 
hat  man  dem  Einflüsse  der  äußeren  Naturbedingungen  eine 
besonders  wichtige  Bedeutung  beigemessen^).  Zu  dieser  Annahme 
führte  mit  einer  gewissen  Folgerichtigkeit  die  Voraussetzung,  daß 
der  reguläre  Lautwandel  physisch  bedingt  sei,  im  Gegensatze  zu 
den  psychisch  bedingten  assoziativen  Lautänderungen.  Aber  zunächst 
ist  diese  Voraussetzung  selbst,  wie  schon  oben  bemerkt  wurde, 
eigentlich  eine  petitio  principii.  Ob  bei  jenen  allgemeinen  Ver- 
änderungen der  psychophysischen  Organisation,  die  den  lautgesetz- 
lichen Verändenmgen  zugrunde  liegen,  das  Physische  oder  das 
Psychische  das  Primäre  in  der  Reihe  der  Bedingungen  sei,  wissen 
wir  nicht;  jedenfalls  ist  das  erstere  nicht  ohne  weiteres  vorauszu- 
setzen. Gibt  es  doch  im  Gegenteil  eine  Menge  von  Erscheinungen, 
namentlich  alle  die,  bei  denen  die  willkürliche  Einübung  bestimmter 
physischer  Leistungen  eine  Rolle  spielt,  wo  die  Ausgangspunkte 
der  physischen  Vorgänge  auf  psychischer  Seite  liegen.  Gerade  die 
Sprache  bietet  hierfür  ein  deutliches  Beispiel  in  den  Rückwirkungen, 
welche  die  Sprachfunktionen  auf  die  physische  Bildung  der  Sprach- 
organe und  dadurch  indirekt  auf  den  mimischen  und  physiognomischen 
Ausdruck  ausüben.  Es  gibt  wenige  Sprachen,  die  trotz  ihrer  genea- 
logischen Verwandtschaft  doch  so  auffallende  Verschiedenheiten  ihres 
Lautsystems  zeigen  und  darum  eine  so  abweichende  Konfiguration 
der  Sprachorgane  erfordern  wie  das  Hochdeutsche  und  das  Eng- 
lische; und  die  auf  den  ersten  Blick  erkennbaren  physischen  Rassen- 
unterschiede beider  Völker  bestehen  zu  einem  großen  Teil  in  den  mit 
der  Sprache  zusammenhängenden  physiognomischen  Unterschieden. 
Man  kann  aber  oft  beobachten,  daß  in  England  geborene  Kinder 
deutscher  Eltern  die  nämlichen  physiognomischen  Züge  annehmen. 
Die  frühe  Einübung  der  Sprachorgane  gewinnt  also  hier  das  Über- 
gewicht über  die  angeborenen  Rassenmerkmale.  Auch  bei  dem 
erwachsenen  Deutschen,  der  nach  England  auswandert,  sind  manch- 
mal Spuren  dieser  Umwandlung  zu  bemerken.     Sie   sind   aber  hier 


^)  H.  Osthoff,  Das  physiologische  und  psychologische  Moment  der  sprachlichen 
Formenbildung,  S.  19  flf. 


Einfluß  der  Naturumgebung.  ^jg 

geringer,  offenbar  weil  die  große  Bildsamkeit  der  kindlichen  Organe 
bei  ihm  nicht  mehr  vorhanden  ist.  In  andern  Fällen  haben  zwar 
die  klimatischen  und  die  sonstigen  Unterschiede  der  Naturumgebung 
einen  deutlichen  Einfluß  auf  den  gesamten  physischen  Habitus  aus- 
geübt. Doch  die  nebenhergehenden  Einflüsse  der  Kultur  und  der 
Rassenmischung  sind  so  groß,  daß  es  völlig  unsicher  bleibt,  inwie- 
weit eingetretene  Lautmodifikationen  auf  solche  Natureinflüsse  zurück- 
zuführen sind.  So  hat  besonders  der  angelsächsische  Typus  in 
Amerika  wie  in  Australien  charakteristische  Umwandlungen  erfahren. 
Auch  ist  es  bemerkenswert,  daß  der  echte  Yankeetypus  in  Ame- 
rika vor  allem  dann  sich  ausprägt,  wenn  Rassenmischungen  an- 
scheinend nicht  erfolgt  sind.  Aber  da,  wie  wir  sehen  werden, 
Rassenberührungen  nicht  weniger  als  Rassenmischungen  die 
Sprache  beeinflussen  können,  und  da  gewisse  Besonderheiten  des 
amerikanischen  Englisch,  wie  die  Unterdrückung  und  Schwächung 
gewisser  Laute,  wohl  eher  zu  der  Eigenart  der  amerikanischen  Kul- 
tur, zu  der  Hast  des  Lebens  und  der  sorgloseren  Behandlung  des 
überkommenen  Sprachgutes,  in  Beziehung  gebracht  werden  können, 
so  bleibt  es  hier  sehr  zweifelhaft,  ob  oder  inwieweit  die  Natur  als 
solche  zu  den  verändernden  Bedingungen  zu  zählen  sei. 

Von  größerer  Bedeutung  scheinen  auf  den  ersten  Blick  zwei 
andere  Zeugnisse  zu  sein,  die  man  denn  auch  vorzugsweise  für  einen 
direkten  klimatischen  Einfluß  auf  den  Lautbestand  der  Sprache  an- 
geführt hat.  Das  eine  besteht  in  der  Tatsache,  daß  die  Sprachen 
von  Gebirgsvölkern ,  welcher  Abstammung  sie  auch  seien,  ob  sie 
die  deutschen  Alpen  oder  den  Kaukasus  oder  die  hohen  Kordilleren 
bewohnen,  auffallend  reich  an  Gutturallauten  sind;  die  andere  in  der 
Beobachtung,  daß  stammesfremde  Sprachen  nicht  selten  in  ihrem 
Lautbestand  übereinstimmen,  wenn  sie  in  Gebieten  von  gleichen 
geographischen  Bedingungen  gesprochen  werden.  Die  Allgemein- 
gültigkeit der  ersten  dieser  Beobachtungen  mag  hier  dahingestellt 
bleiben  —  für  die  Gebirgsvölker  Hochasiens  z.  B.  scheint  sie  nicht 
zuzutreffen  — ,  sicher  ist  aber,  daß  die  semitische  Rasse,  deren 
Sprachen  sich  durch  einen  besonderen  Reichtum  an  Kehllauten 
auszeichnen,  in  vielen  ihrer  Abzweigungen  seit  unvordenklichen 
Zeiten  keine  Berggegenden  bewohnt  hat.  Auf  der  andern  Seite  ist 
die  Möglichkeit   nicht  ausgeschlossen,    daß  nicht  das  Gebirgsklima 


480  Der  Lautwandel. 


als  solches,  etwa  sein  Einfluß  auf  Lungen  und  Kehlkopf,  sondern 
die  mit  dem  Gebirgsleben  verbundene  Lebens-  und  Sprechweise, 
wie  z.  B.  die  Gewohnheit  an  lautes,  von  Berg  zu  Berg  erschallen- 
des Rufen,  zu  dem  das  Leben  der  Hirten  auf  einsamer  Alm  heraus- 
fordert, die  eigentliche  Ursache  dieser  Anlage  der  Sprachorgane  sei. 
Noch  weniger  entscheidend  ist  das  zweite  Zeugnis,  der  übereinstim- 
mende Lautvorrat  sonst  abweichender  Sprachen  unter  gleichen  kli- 
matischen Bedingungen.  Gerade  da,  wo  die  Behauptung  zutrifft, 
bei  den  Sprachen  des  Kaukasus,  sind  die  auf  dieser  Völkerstraße 
seit  uralten  Zeiten  eingetretenen  Mischungen  und  Berührungen  der 
Rassen  ein  näherliegender  und  wahrscheinlicherer  Grund  für  die 
Ausgleichung  der  Lautsysteme.  Dies  gilt  um  so  mehr,  als  in  sol- 
chen Fällen,  wo  die  geographischen  Verhältnisse  diese  Einflüsse 
verhindern  oder  nur  in  spärlichen  Zuzügen  möglich  machen,  trotz 
übereinstimmender  klimatischer  Einwirkungen  und  bei  sonst  großer 
Verwandtschaft  der  Sprachen  die  Lautsysteme  wesentlich  abweichen 
können.  So  finden  sich  starke  Lautunterschiede  zwischen  den  ma- 
laiischen und  polynesischen  und  wiederum  zwischen  diesen  und 
den  mikronesischen  Dialekten,  ebenso  zwischen  den  verschiedenen 
Sprachen  der  nordamerikanischen  Ureinwohner,  darunter  solchen, 
die  in  benachbarten,  klimatisch  wenig  verschiedenen  Gebieten  ihre 
Wohnsitze  hatten.  Im  ersten  dieser  Fälle  ist  das  Meer,  im  zweiten 
das  Leben  in  abgeschlossenen  Horden  dem  Verkehr  hinderlich 
gewesen.  Nach  allem  dem  wird  man  schließen  können,  daß  ein 
direkter  Einfluß  des  Klimas  oder  sonstiger  äußerer  Naturbedingungen 
auf  das  Lautsystem  wohl  an  sich  nicht  unmöglich  ist,  insofern  an 
den  Unterschieden  des  allgemeinen  physischen  Habitus,  der  jeden- 
falls in  einem  gewissen  Grad  einem  solchen  Einfluß  unterworfen 
ist,  auch  die  Sprachorgane  teilnehmen.  Immerhin  sind  in  den  Fäl- 
len, wo  sich  hieran  denken  ließe,  regelmäßig  auch  noch  andere 
Einflüsse,  namentlich  Sprachmischungen  und  Kulturbedingungen, 
wirksam;  und  vieles  spricht  dafür,  daß  diese  von  überwiegender 
Bedeutune  sind. 


Mischungen  und  Berührungen  der  Völker.  48 1 

3.    Mischungen  und  Berührungen  der  Völker. 

Wesentlich  anders  verhält  es  sich  mit  dem  Einfluß  der  Mi- 
schungen und  der  durch  den  Völkerverkehr  eintretenden  Be- 
rührungen der  Völker.  An  Völkerwanderungen  hat  es  wohl 
keiner  Zeit  gefehlt,  mögen  sie  nun  als  große  Massenbewegungen 
oder  als  allmähliche  Zuzüge  Einzelner  oder  endlich,  was  wahrschein- 
lich bei  den  großen  historischen  und  vorhistorischen  Völkerwande- 
rungen die  Regel  war,  als  Einwanderungen  kriegerischer  Stämme 
erfolgt  sein,  denen  die  Herrschaft  über  eine  numerisch  stärkere 
Urbevölkerung  zufiel.  Besonders  bei  dieser  mutmaßlich  häufigsten 
Form  mußten  aber  tief  eingreifende  Sprachmischungen  eintreten,  die 
voraussichtlich  nicht  zum  wenigsten  das  Lautsystem  der  Sprachen 
ergriffen  haben.  Da  die  meisten  und  die  für  die  Ausbildung  unserer 
Kultursprachen  wichtigsten  dieser  Wanderungen  entweder  vorge- 
schichtlich sind  oder  in  einer  der  Sprachgeschichte  unzugänglichen 
Zeit  erfolgten,  so  sind  wir  freilich  hinsichtlich  dieser  Quelle  laut- 
licher Umgestaltungen  vielfach  ganz  auf  Vermutungen  angewiesen. 
Im  allgemeinen  darf  man  aber  als  wahrscheinlich  voraussetzen,  daß 
die  Tatsachen,  die  bei  der  heutigen  Entstehung  der  Mischsprachen 
beobachtet  werden,  auch  für  jene  vorgeschichtlichen  Sprachmischun- 
gen gelten').  Danach  wird  es  in  der  Regel  die  Rasse  der  höheren 
Kultur  gewesen  sein,  die  der  niedrigeren  ihren  Wortvorrat  und,  wo 
einigermaßen  das  Verhältnis  einem  numerischen  Gleichgewichte  nahe 
kam,  auch  das  grammatische  System  ihrer  Sprache  mitteilte,  wo- 
gegen das  Lautsystem,  gleich  den  Merkmalen  der  physischen 
Organisation ,  umgekehrt  durch  seine  größere  Beharrlichkeit  der 
Mehrheit  ihren  vorwiegenden  Einfluß  sicherte.  Dem  Verhältnis 
höherer  und  niederer  Kultur  wird  bei  den  ursprünglichen  Völker- 
wanderungen wohl  das  der  physisch  stärkeren  oder  durch  kriege- 
rische Organisation  überwiegenden  zur  schwächeren  Horde  entspro- 
chen haben.  Mag  demnach  der  an  Zahl  zurücktretende,  aber  herr- 
schende Teil  einer  Mischbevölkerung  mit  den  sozialen  Formen  des 
Lebens  und  den  meisten  sittlichen  und  religiösen  Anschauungen 
auch  die  sprachliche  Form,   in   die  der  Mensch  seine  Vorstellungen 


')  Vgl.  oben  S.  393  ff. 
Wundt    Völkerpsychologie  I,  I.     2.  Aufl.  oj 


482  I^er  Lautwandel. 


und  Gefühle  kleidet,  der  Gesamtheit  mitteilen,  —  in  dem  Laut- 
charakter der  Sprache  wird,  wie  in  der  Haarfarbe,  der  Körpergröße 
und  den  allgemeinen  Gemüts-  und  Charakteranlagen,  schließlich  die 
unterdrückte,  scheinbar  verschwundene  Rasse  ihre  Spuren  zurück- 
lassen. Das  ist  in  der  Tat  in  allgemeinen  Zügen  wohl  der  Gang 
der  Entwicklung  der  modernen  romanischen  Sprachen  aus  dem 
Lateinischen  oder  der  des  modernen  Englisch  gewesen,  hier  nur 
mit  der  besonderen  Modifikation,  daß  zwei  erobernde  Stämme,  der 
germanische  und  der  romanische,  der  Sprache  ihre  hauptsächlichsten 
Eigenschaften  gaben:  der  erste  den  grammatischen  Bau  und  die 
ursprünglichen  Bestandteile  des  Wortschatzes,  der  zweite  den  größten 
Teil  der  Begriffe  und  Wörter,  die  einer  fortgeschritteneren  Kultur 
angehören.  In  dem  eigentümlichen  Lautsystem  dieser  Sprache 
haben  aber  allem  Anscheine  nach  die  keltischen  und  sonstigen 
älteren  Bewohner  Britanniens,  von  denen  im  übrigen  Form  und  In- 
halt der  Sprache  fast  unberührt  geblieben  sind,  ihre  Spuren  zurück- 
gelassen. Von  diesen  Gesichtspunkten  aus  werden  die  gewaltigen 
Differenzierungen,  die  in  den  Lautbildungen  sonst  genealogisch 
zusammenhängender  Sprachen  eingetreten  sind,  wohl  verständlich, 
wenn  sich  auch  bei  unserer  Unkenntnis  der  vorhistorischen  und 
selbst  vieler  der  in  geschichtlicher  Zeit  erfolgten  Völkermischun- 
gen Art  und  Umfang  dieses  Einflusses  zumeist  unserer  Schätzung 
entziehen. 

Mit  den  Mischungen  gehen  die  Berührungen  der  Völker  und 
der  einzelnen  Stammesgruppen,  wie  sie  durch  den  Grenzverkehr  und 
die  Einwanderung  bedingt  sind,  Hand  in  Hand.  Natürlich  lassen 
sich  die  Wirkungen  der  Mischung  und  Berührung  im  allgemeinen  hier 
ebensowenig  wie  diese  Vorgänge  selbst  auseinanderhalten.  Immer- 
hin weisen  viele  Erscheinungen  darauf  hin,  daß  schon  der  bloße 
Verkehr  weitgreifende  Einflüsse  mit  sich  führen  kann,  ohne  gleich- 
zeitig mit  erheblichen  Rassen-  oder  Stammesmischungen  verbunden 
zu  sein.  So  besitzen  z.  B.  die  konsonantischen  Lautvertretungen 
in  denjenigen  Zweigen  der  ural-altaischen  Sprachen,  deren  Träger 
früh  schon  in  einen  Verkehr  mit  germanischen  Stämmen  getreten 
sind,  wie  besonders  im  Finnischen  und  Magyarischen,  gegenüber  den 
isolierter  gebliebenen  Sprachen  der  gleichen  Völkerfamilie  häufig 
einen   der    unten    zu    erwähnenden   germanischen   Lautverschiebung 


Mischlingen  und  Berührungen  der  Völker.  430 

verwandten  Charakter').  Da  diese  Verschiebungen  aber  immerhin 
nicht  in  gleicher  Weise  reguläre  Erscheinungen  sind  wie  die  ver- 
wandten Vorgänge  auf  germanischem  Sprachgebiet,  so  unterstützt 
dies  die  Vermutung,  daß  hier  nicht  ein  originärer  Lautwandel,  sondern 
der  Einfluß  benachbarter  germanischer  Stämme  vorliegt.  Der  Um- 
stand, daß  solche  Lautvertretungen  durchaus  das  den  finnischen 
Idiomen  ursprünglich  eigene  Sprachgut  ergriffen  haben,  macht  es 
jedoch  wahrscheinlich,  daß  es  sich  hier  mehr  um  Berührungs- 
wirkungen als  um  Sprachmischungen  handelt.  Einen  noch  prägnan- 
teren Fall  ähnlicher  Art  bildet  eine  Erscheinung,  die  allerdings 
an  sich  nicht  dem  regulären  Lautwandel,  sondern  den  oben  be- 
sprochenen Wirkungen  der  Lautassimilation  zugehört,  die  aber  durch 
die  eigentümlichen  Verhältnisse  ihres  Vorkommens  auf  die  Wir- 
kungen der  Sprachberührungen  hinweist.  Das  Rumänische  bietet 
eine  große  Zahl  von  Vokalumwandlungen,  die  nach  dem  Prinzip 
der  Vokalharmonie  erfolgt  sind,  indem  sie  in  der  Angleichung 
zweier  Vokale  in  zwei  aufeinander  folgenden  Silben  besteht,  wie 
z.  B.  riimiinek  für  lat.  romanescus  u.  a.  Die  Erscheinung  ist  den 
übrigen  romanischen  Sprachen,  ebenso  wie  dem  Lateinischen,  Deut- 
schen und  Slawischen,  fremd;  sie  ist  jedoch  den  ural-altaischen  Spra- 
chen und  so  auch  dem  an  das  rumänische  Sprachgebiet  grenzenden 
Türkischen  und  Magyarischen  eigen.  Vermutlich  hat  also  das  Ru- 
mänische aus  diesen  die  Neigung  zur  Vokalharmonie  entnommen. 
Daß  aber  auch  hier  wieder  die  Erscheinung  nicht  oder  zum  ge- 
ringsten Teil  auf  Sprachmischung  beruht,  wird  dadurch  wahrschein- 
lich, daß  die  aus  dem  Lateinischen  und  Slawischen  stammenden 
Wörter  sie,  ihrem  allgemeinen  Übergewicht  in  der  Sprache  ent- 
sprechend, vorzugsweise  darbieten.  Auch  hat  sie  sich  darin  ge- 
wissermaßen dem  sonst  abweichenden  Charakter  der  Sprache  an- 
gepaßt, daß  sie  in  progressiver  wie  regressiver  Richtung  vorkommt, 
d.  h.  ebenso  als  Wirkung  des  vorangehenden  auf  den  nachfolgenden 
wie  des  nachfolgenden  auf  den  vorangehenden  Vokal,  während  sie 
in  ihrer  eigentlichen  Heimat  nur  in  der  ersteren,  progressiven  Form 
existiert^). 


')  Vgl.    die  Beispiele   konsonantischer   Vertretungen   bei   Fr.  Müller,   Grundriß, 
Bd.  2,  n,  S.  192  ff. 

2)  Ad.  Storch,  Vokalharmonie  im  Rumänischen.     Diss.  Leipzig  1899. 

31* 


484 


Der  Lautwandel. 


4.    Einflüsse  der  Kultur, 

Die  Einflüsse  der  durch  Wanderung  und  Verkehr  vermittelten 
Mischung  und  Berührung  der  Völker  reichen  nun  vielfach  schon  in 
die  allgemeineren  der  Kulturentwicklung  hinüber.  Da  der  Be- 
griff der  Kultur  zunächst  eine  Erhebung  über  den  Zustand  der 
bloßen  Natur  bezeichnet,  so  entsteht  aber  bei  jeder  Anwendung 
dieses  Begriffs  vor  allem  die  Frage  nach  dem  Grade  der  Kultur, 
das  heißt  nach  dem  Maß  jener  Erhebung,  sowie  die  nach  der  auf- 
oder  absteigenden  Richtung  der  Kulturbewegung,  ohne  daß  damit 
selbstverständlich  qualitative  Veränderungen  der  Kulturwerte  bei 
gleich  geschätzter  Größe  derselben  ausgeschlossen  wären.  Insofern 
nun  der  Naturzustand,  als  die  der  tierischen  Existenz  sich  nähernde 
untere  Grenze,  durch  körperliche  wie  geistige  Merkmale  charakteri- 
siert ist,  bezieht  sich  auch  der  Begriff  der  Kultur  gleichzeitig  auf 
das  körperliche  und  auf  das  geistige  Sein  des  Menschen.  Da  aber 
allerdings  als  die  Grundbedingung  der  Erhebung  über  den  Natur- 
zustand die  Entwicklung  der  geistigen  Fähigkeiten  gelten  muß,  so 
fällt  das  Schwergewicht  des  allgemeinen  Kulturbegriffs  auf  die 
psychische  Seite.  Die  physischen  Veränderungen  gelten  uns  hier 
wesentlich  nur  als  äußere  Symptome  für  die  Veränderungen  der 
psychischen  Kulturmotive.  In  diesem  Sinn  ist  die  Kultur  in  ihrem 
eigensten  Wesen  Kulturentwicklung  und  als  solche  die  haupt- 
sächlichste Äußerung  der  in  einer  bestimmten  Kulturgesellschaft 
vorhandenen  geistigen  Entwicklung.  Vermöge  des  engen  Zu- 
sammenhangs physischer  und  psychischer  Funktionen  ist  sie  jedoch 
stets  zugleich  von  äußeren  Lebensbedingungen  abhängig  und  wirkt 
ihrerseits  wieder  zurück  auf  die  körperliche  Organisation.  So  wird 
denn  auch  im  einzelnen  Fall  oft  kaum  mehr  zu  ermitteln  sein,  wel- 
cher unter  diesen  sich  wechselseitig  steigernden  Kulturfaktoren  der 
ursprünglichere  gewesen  sei. 

Indem  nun  die  Veränderungen  der  Kultur  nach  ihrer  geistigen 
Seite  wesentlich  auch  in  der  Entstehung  neuer  Begriffe  und  in  der 
Umbildung  vorhandener  ihren  Ausdruck  finden,  ist  es  in  erster  Linie 
der  Wortvorrat  der  Sprache,  der  von  ihr  berührt  wird.  Wo  neue 
Kulturbestandteile  von  außen  zufließen,  da  wird  mit  der  Sache  meist 


Einflüsse  der  Kultur. 


485 


auch  das  Wort  aufgenommen :  darum  sind  in  allen  Sprachen  Lehn- 
wörter das  nächste  Symptom  äußerer  Kultureinwirkungen.  Wo 
anderseits  selbständig  aus  gegebenen  Kulturelementen  neue  entstehen, 
da  helfen  Wortzusammensetzung  und  Bedeutungswandel  vorhandener 
Wörter  den  neu  erwachten  Bedürfnissen  ab.  Alles  das  kann  sich 
ereignen,  ohne  daß  irgendeine  Änderung  an  dem  Lautmaterial  der 
Sprache  vor  sich  gehen  müßte.  Wir  dürfen  daher  wohl  schließen, 
daß  die  Kultur  im  allgemeinen  weniger  direkt  als  indirekt  die 
Sprachlaute  beeinflußt,  sei  es  daß  Gewohnheiten  und  Sitten  auf 
die  Formen  der  Rede  und  damit  auch  auf  die  Laute  der  Sprache 
verändernd  einwirken,  sei  es  daß  in  dem  Verlauf  der  psychischen 
Vorgänge  Änderungen  eintreten,  die  für  Tonfall,  Rhythmus  und 
Schnelligkeit  der  Artikulationen  bestimmend  sind. 

Das  erste  der  hier  angedeuteten  Momente,  die  Sitte,  scheint  vor 
allem  in  den  Sprachen  mancher  primitiver  Kulturvölker  tiefgreifende 
Änderungen  des  Lautsystems  erzeugt  zu  haben.  So  ist  es  eine 
Eigentümlichkeit  einiger  Sprachen  nord-  und  mittelamerikanischer 
Indianerstämme,  daß  in  ihnen  die  Lippenlaute  nicht  oder  nur  spur- 
weise vorkommen.  Im  Irokesischen  fehlen  die  Laute  /,  ph^  b^  bJi^ 
w,  a',  um  vorzugsweise  durch  Lingual-  und  Dentallaute  ersetzt  zu 
werden.  Im  Tscherokesischen  finden  sich  zwar  die  tönenden  Lippen- 
laute zu  und  ;ä,  aber  die  labialen  Explosivlaute  mangeln.  Die  Sprache 
der  Koloschen  endlich  besitzt  den  Resonanzlaut  ;w,  sonst  fehlen  auch 
hier  die  Labiallaute^).  Nun  wird  man  sicherlich  nicht  daran  denken 
können,  daß  diese  Laute,  die  zu  den  frühesten  Lalllauten  der  Kinder 
gehören,  an  sich  irgendeinem  Sprachorgan  ursprünglich  physische 
Schwierigkeiten  bereitet  hätten.  Aber  es  ist  so  sehr  die  Sitte 
dieser  Stämme,  bei  offenem  Munde  zu  artikulieren,  daß  es  der 
Irokese  z.  B.  für  unanständig  hält,  das  Gegenteil  zu  tun.  Wie  diese 
Sitte  entstanden  ist,  wissen  wir  nicht,  —  möglicherweise  hängt  sie 
mit  dem  Streben  zusammen  die  Lautgebärden  der  Zunge  bei 
gewissen  ausdrucksvollen  Lauten  sichtbar  zu  machen.  Wahrschein- 
lich ist  dieser  Ursprung  selbst  dem  Gedächtnis  entschwunden;  aber 
die  so  erzeugten  Lautänderungen  mit  ihren  Rückwirkungen  auf  die 
Sprachorgane  sind    erhalten  geblieben").     Auf  einer  eigentümlichen 

^)  Vgl.  die  Lauttabellen  bei  Fr.  Müller,  n,   i,  S.  206,  223,  239. 

2)  Nicht  direkt  hierher  zu  zählen  sind   solche  Lautmängel,    die   nicht,   wie   die 


486  Der  Lautwandel. 


Bevorzugung  gewisser  Laute,  die  wohl  erst  im  Laufe  der  Zeit  ent- 
standen sein  kann,  scheint  ferner  der  auffallend  klangvolle  Charakter 
der  polynesischen  Sprachen  zu  beruhen.  Die  Konsonanten  dieser 
Sprachen  werden  nachlässig  gesprochen  und  oft  miteinander  ver- 
wechselt. Die  Vokale,  die  nur  in  den  fünf  einfachen  Formen  «,  e,  z, 
<7,  z^,  nicht  in  diphthongischen  Verbindungen  vorkommen,  sind  daher 
die  Hauptträger  des  Wortes,  auf  deren  Klangqualität  und  Quantität 
streng  gehalten  wird.  Dadurch  gewinnen  diese  Sprachen  einen 
ungewöhnlich  musikalischen  Charakter,  indem  sich  in  ihnen  das 
Prinzip  der  Tonmodulation  offenbar  mehr  als  sonst  mit  dem  der 
Lautartikulation  verbindet.  (Vgl,  oben  Kap.  III,  S.  263  ff.)  Ähnlich 
scheinen  die  eigentümlichen  Tonabstufungen  der  indo-chinesischen 
Sprachen,  die  hier  zum  Teil  dem  Ausdruck  bestimmter  Begriffs- 
änderungen dienen,  zu  den  gleichzeitig  eingetretenen  Abschleifungen 
der  Laute  in  unmittelbarer  Beziehung  zu  stehen^).  Natürlich  ist 
dabei  an  eine  willkürliche  Unterdrückung  oder  Bevorzugung  nicht 
zu  denken.  Vielmehr  lassen  sich  diese  Veränderungen  wiederum 
nur  als  solche  betrachten,  die  mit  innerer  Notwendigkeit  und  zum 
Teil  zugleich  in  Wechselwirkung  miteinander  erfolgten. 

Bei  dieser  Korrelation  der  Erscheinungen  spielt  nun  das  In- 
einandergreifen äußerer  und  innerer  Kultureinflüsse  sichtlich  eine 
wichtige  Rolle.  Stehen  unter  den  äußeren  die  Mischungen  und  Be- 
rührungen der  Völker  in  erster  Linie,  so  wird  unter  den  inneren 
dem  wachsenden  Vorrat  an  Vorstellungen,  der  Verfeinerung  der 
Gefühle  und  Affekte  und  der  im  allgemeinen  wachsenden  geistigen 
Regsamkeit  die  vorwiegende  Bedeutung  beizumessen  sein,  wobei 
dann  diese  Verhältnisse  im  einzelnen  wieder  auf  das  mannigfaltigste 
wechseln   und   sich   steigern  können.      Daß    sich  hier  irgendwelche 


obigen  infolge  gewisser  Artikulationsgewohnheiten  bei  sonst  normaler  Beschaffen- 
heit der  Sprachorgane  vorkommen,  sondern  durch  die  Verstümmelung  oder  Defor- 
mation der  Teile  rein  mechanisch  bedingt  sind:  so  die  mangelnde  Aussprache  der 
Dentallaute  infolge  des  Ausbrechens  oder  Ausfeilens  der  Schneidezähne  bei  manchen 
australischen  und  südafrikanischen  Stämmen  und  die  verschiedenen  Lautdefekte  in- 
folge der  bei  südamerikanischen  und  afrikanischen  Völkern  bestehenden  Sitten  des 
Lippenpflockes,  der  Durchbohrung  der  Lippen  oder  der  Nasenscheidewand. 

I)  Misteli  (Steinthal),  Charakteristik  der  hauptsächlichsten  Typen  des  Sprach- 
baues, 1893,  S.  203  ff.  Conrady,  Eine  indochinesische  Kausativ-Denominativ-Bildung 
1896. 


Einflüsse  der  Kultur.  487 


konstant  und  gleichförmig  wirkende  Ursachen  feststellen  lassen,  die 
auch  nur  für  ein  Volk  während  einer  längeren  Zeit  ausschließlich 
maßgebend  wären,  ist  natürlich  ausgeschlossen.  Insbesondere  ist  es 
aber  von  vornherein  höchst  unwahrscheinlich,  daß  auch  nur  einzelne 
Bedingungen  überall  wieder  genau  die  gleichen  Wirkungen  hervor- 
bringen, da  ja  die  einzelne  Ursache  voraussichtlich  jedesmal  wieder 
mit  abweichenden  weiteren  Einflüssen  sich  kompliziert.  Wenn  z.  B. 
der  phonetische  Charakter  der  aus  dem  Vulgärlateinischen  stammen- 
den Wörter  in  den  einzelnen  romanischen  Sprachen  ein  vielfach 
abweichender  geworden  ist,  obgleich  in  den  meisten  derselben  augen- 
scheinlich die  Tendenz  zur  Kürzung  und  wechselseitigen  Assimilation 
der  Laute  vorherrscht,  so  ist  das  bei  der  Ungeheuern  Mannigfaltigkeit 
der  sonstigen  Bedingungen  nicht  zu  verwundern.  Eine  Sprache,  die 
eine  so  ausgeprägte  Tonmodulation  besitzt  wie  das  Französische, 
und  eine  andere,  die  umgekehrt  eine  stark  dynamische  Akzentuierung 
erworben  hat  wie  das  Italienische,  sie  müssen  schon  um  dieses  einen 
Unterschiedes  willen  notwendig  dem  in  ihnen  beiden  lebenden  Trieb 
nach  Verkürzung  der  Lautform,  aus  welcher  Ursache  dieser  auch 
immer  in  ihnen  entstanden  sein  mag,  in  sehr  verschiedener  Weise 
Folge  leisten.  Angesichts  der  Ungeheuern  Abweichungen,  welche 
zuerst  Sprachmischung  und  Entlehnung  und  dann  in  einem  weiteren 
Stadium  der  Kulturentwicklung  die  oben  besprochenen  Erscheinungen 
der  Ausgleichung  benachbarter  Dialektformen  ausüben,  wird  man 
sich  in  der  Tat  das  Ineinandergreifen  der  verschiedenen  Faktoren, 
die  zusammenwirken  mußten,  um  eine  unserer  heutigen  Literatur- 
sprachen zustande  zu  bringen,  nicht  kompliziert  genug  vorstellen 
können,  und  man  wird  hier  im  allgemeinen  nur  daran  festhalten 
dürfen,  daß  die  entscheidenden  unter  diesen  Einflüssen  genereller 
Natur  waren.  Sollen  jedoch  unter  diesen  generellen  Kulturein- 
flüssen die  allgemeinsten,  auf  die,  so  verschieden  sie  im  einzelnen 
wirken  mögen,  doch  immer  und  immer  wieder  die  Erscheinungen 
als  nächste  bedingende  Momente  hinweisen,  hervorgehoben  werden, 
so  dürften  vornehmlich  zwei  in  den  Vordergrund  zu  stellen  sein. 
Der  eine  besteht  in  dem  Tempo  der  Rede,  der  andere  in  den 
Verhältnissen  der  Betonung.  Dabei  werden  unter  den  letzteren 
wieder  die  zum  größten  Teil  noch  der  näheren  Aufklärung  bedürf- 
tigen Verhältnisse  der  musikalischen  und  der  dynamischen  Betonung, 


488  Der  Lautwandel. 


sodann  aber  auch  die  zumeist  wenigstens  der  geschichtlichen  Nach- 
weisung leichter  zugänglichen  Verschiebungen  der  letzteren  in  Be- 
tracht kommen. 


5.   Tempo  der  Rede  und  Wortbetonung, 

a.    Allgemeine  Wirkungen  der  Artikulationsgesch windigkeit. 

Unter  den  genannten  Bedingungen  ist  das  Tempo  der  Rede  wohl 
eine  der  eingreifendsten,  obgleich  sie  bis  jetzt  von  selten  der  Sprach- 
forscher nur  wenig  beachtet  wurde.  Daß  mit  einem  rascheren 
Wechsel  der  psychischen  Erregungen,  wie  ihn  neben  anderem  die 
wachsende  Kultur  in  der  Regel  hervorbringen  wird,  auch  die  Ge- 
schwindigkeit der  Rede  einigermaßen  gleichen  Schritt  halten  muß, 
ist  ja  von  vornherein  nicht  unwahrscheinlich.  Natürlich  brauchen 
diese  Wirkungen  weder  bei  allen  Nationen,  denen  wir  eine  auf- 
steigende Kulturent\vicklung  zuschreiben,  in  gleicher  Weise  und  zur 
gleichen  Zeit,  noch  brauchen  sie  aus  den  früher  erörterten  Gründen 
überhaupt  gleichförmig  zu  erfolgen.  Vielmehr  wird  auch  hier  gelten, 
daß  solche  Veränderungen  nach  dem  früher  (S.  476)  erwähnten  Mu- 
tationsprinzip zwar  in  der  Regel  langsam  und  stetig  sich  vorbereiten, 
daß  sie  selbst  aber  doch  meistens  infolge  irgendeines  auslösenden 
Impulses  plötzlich  zum  Durchbruch  gelangen  und  nun  in  rapider 
Entwicklung,  von  der  jüngeren  Generation  anfangend,  bis  zu  einem 
neuen  Punkt  relativen  Stillstandes  anwachsen.  Mehr  als  in  dem 
Tempo  der  Rede  selbst,  für  das  uns  unmittelbare  Zeugnisse  kaum 
zu  Gebote  stehen,  besitzen  wir  in  dieser  Beziehung  ein  chararakte- 
ristisches  Zeugnis  aus  einer  noch  der  Gegenwart  naheliegenden  Zeit 
in  einem  andern,  in  mancher  Beziehung  unmittelbareren  Ausdrucks- 
mittel der  Gefühle  und  Affekte,  in  der  Musik.  Bekanntlich  hören 
wir  selbst  Beethovens  Symphonien  heute  in  der  Regel  in  einem 
schnelleren  Tempo  vorgetragen,  als  in  dem  sie  ursprünglich  kom- 
poniert waren ;  und  noch  größer  ist  dieser  Unterschied  bei  Meistern 
wie  Haydn  oder  Mozart,  Händel  oder  Bach,  wenn  nicht  in  diesen 
Fällen  der  Charakter  der  Kompositionen  auch  noch  heute  zu  einem 
bedächtigeren  Tempo  zwingt.  Die  merklich  gewordene  Erhöhung 
der  Orchesterstimmung  der  Instrumente  ist  wahrscheinlich  ein  hier- 
mit zusammenhängendes  Phänomen,  denn  der  schnellere  Schritt  der 


Tempo  der  Rede  und  Wortbetonung.  489 


Töne  fordert  im  allgemeinen  auch  eine  höhere  Tonlage.  Nun  ist 
freilich  die  Stimmung  unserer  Instrumente  konventionell.  Aber  diese 
Konvention  ist  doch  aus  dem  musikalischen  Bedürfnis  hervorgegangen ; 
und  wir  können  kaum  zweifeln,  daß,  analog  wie  sich  das  musika- 
lische Tempo  in  den  Jahrhunderten  geändert  hat,  so  auch  das 
durchschnittliche  Tempo  der  Rede  ein  anderes  geworden  ist.  Ob- 
gleich uns  dieses  Tempo  selbst  nicht  erhalten  geblieben  ist,  so 
spiegelt  sich  doch  in  dem  Stil,  in  der  umständlicheren  Form  der 
grammatischen  Konstruktionen  deutlich  genug  die  Veränderung,  die 
bereits  seit  Gottscheds  Zeiten  in  der  gewöhnlichen  Form  der  deut- 
schen Rede  vor  sich  gegangen  sein  mag.  Dabei  ist  es  wiederum 
für  die  Wechselbeziehung  zwischen  Denken  und  Sprechen  bezeich- 
nend, daß  zur  selben  Zeit,  da  sich  der  deutsche  Stil  noch  in  schwer- 
fällig gravitätischen  oder  in  der  vulgären  Unterhaltung  in  plumpen 
und  ungelenken  Schritten  bewegte,  das  Französische  schon  eine 
sehr  viel  srrößere  Geschmeidisfkeit  und  darum  sicherlich  auch  eine 
größere  Geschwindigkeit  der  Diktion  erlangt  hatte.  Darum  kann 
man  sich  in  solchen  Fällen  die  geistige  Organisation  der  damals 
noch  häufiger  als  jetzt  vorkommenden  Menschen,  die  in  zwei  Sprachen 
zu  denken  und  zu  sprechen  pflegten,  kaum  anders  denn  als  eine 
auch  hinsichtlich  des  Tempos  zwiespältige  vorstellen.  Ein  Leibniz 
und  ein  Friedrich  der  Große  haben  gewiß  französisch  schneller  ge- 
dacht und  gesprochen,  als  wenn  sie  sich  der  deutschen  Sprache 
bedienten.  Nun  wissen  wir  freilich  nicht,  wie  unsere  althochdeutschen 
Vorfahren  oder  wie  die  Goten  oder  gar  die  Urgermanen  gesprochen 
haben,  abgesehen  von  den  indirel<ten  Zeugnissen,  die  wir  den 
grammatischen  Formen  entnehmen  können.  Gerade  diese  Formen 
lassen  aber  auf  ein  langsameres,  sozusagen  majestätisch  einher- 
schreitendes  Tempo  der  Rede  schließen;  ja  in  dieser  Beziehung 
finden  sich  selbst  zwischen  dem  Gotischen  und  dem  Althochdeut- 
schen und  zwischen  diesem  wieder  und  dem  Mittelhochdeutschen 
Unterschiede,  die  überall  mit  dem  volleren  Klang  auch  den  lang- 
sameren Gang  der  auf  einer  früheren  Lautstufe  stehen  gebliebenen 
Sprachform  annehmen  lassen.  Mit  feiner  poetischer  Intuition  hat 
das  Gustav  Frey  tag  in  seinen  »Ahnen«  zum  Gehör  gebracht,  indem 
er  seine  althochdeutschen  Helden  Ingo  und  Ingraban  in  einem  Stil 
reden  läßt,   der  freilich  so,   wie  ihn  der  Dichter  erfindet,  sicherlich 


490 


Der  Lautwandel. 


nirgendwo  und  nirgendwann  vorgekommen  ist,  der  aber  doch  durch 
die  Art  der  grammatischen  Konstruktion  und  namentlich  durch  die 
Einfügung  gewisser  regelmäßig  wiederkehrender  Redeformen,  die 
an  den  homerischen  Stil  erinnern,  wie  »auf  der  Männererde«,  den 
Eindruck  gediegener  und  schwerfälliger  Langsamkeit  hervorbringt. 
Doch  wir  besitzen,  abgesehen  von  diesem  immerhin  etwas  un- 
bestimmten allgemeinen  Eindruck  von  Sprache  und  Stil,  noch  ein 
anderes  Zeugnis  im  Gebiet  der  Lautformen  selbst  in  jenen  Kontakt- 
wirkungen  der  Laute,  die,  wie  wir  sahen,  mit  zwingender  Gewalt 
auf  den  Einfluß  einer  beschleunigten  Rede  hinweisen:  so  vor  allem 
die  Erscheinungen  der  sogenannten  » regressiven «  und  ein  nicht 
unbeträchtlicher  Teil  auch  der  »progressiven  Lautassimilationen«, 
(Vgl.  oben  S.  422  ff.)  Dieses  Zeugnis  ist  um  so  wertvoller,  weil  es 
sich  geradezu  auf  alle  uns  bekannteren  Kultursprachen  und  auf  die 
verschiedensten  Perioden  der  Sprach-  und  Kulturentwicklung  erstreckt. 
Wenn  lat.  siipnius  in  summus^  sedla  in  sella^  f actus  in  ital.  fatto^ 
fluctiis  in  fiotto^  deutsch  Jiabtc  in  hatte,  entfinden  in  empfinden,  oder 
auch  (progressiv)  viilba  in  vulva,  klimben  in  klimmen  überging  usw., 
so  liegt  der  Beweis  für  den  Zusammenhang  dieser  Veränderungen 
mit  einer  Beschleunigung  der  Artikulationsbewegungen  schon  darin, 
daß  sich  alle  diese  Wörter  sehr  leicht  von  selbst  aus  der  ersten  in 
die  zweite  Lautform  umwandeln,  sobald  wir  rasch  artikulieren.  Aller- 
dings geschieht  das  nicht  überall  gleich  vollständig:  entfinden  geht 
z.  B.  leichter  in  empfinden  über  als  ßuct?is  in  fiotto.  Aber  hier  ist 
eben  auch  die  Veränderung  noch  durch  eine  dissimilatorische  Vokal- 
bildung kompliziert,  und  sie  hat  daher  mutmaßlich  eine  längere 
Zeit  gebraucht,  um  sich  vollständig  durchzusetzen.  Bei  allem  dem 
stimmen  diese  durch  den  Kontakt  der  Laute  eingetretenen  Um- 
wandlungen darin  überein,  daß  sie  auf  eine  irgend  einmal  eingetretene 
Beschleunigung  in  dem  Tempo  der  Rede  hinweisen,  was  natürlich 
dazwischen  liegende  Stadien  des  Stillstandes  oder  einer  retrograden 
Bewegung  und  nebenhergehende  andere  Einflüsse,  wie  Sprach-  und 
Völkermischungen,  nicht  ausschließt.  Darum  würde  es  verkehrt  sein, 
solche  Veränderungen  überhaupt  etwa  gar  zu  einem  Maß  der  Kultur 
zu  nehmen,  also  z.  B.  daraus,  daß  das  Italienische  stärkere  Symptome 
des  durch  die  Geschwindigkeit  der  Rede  bewirkten  Lautwandels 
bietet  als  das  Lateinische,  schließen  zu  wollen,  daß  in  ihm  das  ab- 


Tempo  der  Rede  und  Wortbetonung.  ^gi 

solute  Tempo  der  Rede  wesentlich  verändert  oder  überhaupt  schneller 
geworden  sei.  Vielmehr  liegt  darin  immer  nur  ein  Zeugnis  dafür, 
daß  alle  jene  Einflüsse  auf  die  jüngere  Sprachform  länger  und  eben 
darum  schließlich  stärker  eingewirkt  haben  als  auf  die  ältere,  gerade 
so  wie  ja  auch  die  jüngere  Kultur  keineswegs  immer  die  höhere 
zu  sein  braucht.  Wohl  aber  wird  aus  jenen  Veränderungen,  die 
der  Kontakt  der  Laute  herbeigeführt  hat,  zu  schließen  sein,  daß 
die  Beschleunigung  des  Tempos  ein  Faktor  ist,  der  zu  Zeiten  auf 
jede  der  Kultursprachen  gewirkt  hat;  und  schwerlich  wird  dieser 
Faktor  auf  die  direkt  nachweisbaren  Kontaktwirkungen  beschränkt 
geblieben  sein,  sondern  er  wird  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  schließ- 
lich den  Lautbestand  der  Sprache  als  solchen  mehr  oder  minder  ein- 
greifend verändert  haben. 

b.    Vokalkontraktionen  und  Lautschwächungen. 

In  der  Tat  bietet  nun  die  Sprache  eine  große  Zahl  von  Erschei- 
nungen dar,  die  hierfür  eintreten.  Vor  allem  gehört  dahin  das 
zum  Teil  noch  in  das  Gebiet  der  Lautassimilationen  hinüberreichende 
Phänomen  der  Vokalkontraktion.  Sie  vollzieht  sich  bald  in  der 
Form  der  Verschmelzung  zweier  aufeinander  folgender  Vokale  in 
einen  einzigen,  der  einem  von  ihnen  oder  beiden  ähnlich  ist,  oder 
zu  einem  artikulatorisch  zwischen  ihnen  liegenden  Laut,  bald  in  der 
Auswerfung  des  einen  Vokals,  bald  endlich  auch  in  einer  durch 
Elision  eines  zwischenliegenden  Konsonanten  vermittelten  Verbin- 
dung. Zusammenziehungen  wie  griech.  rjQog  aus  eaQog,  (pilslre  aus 
(pikiere^  (pLXov(.iev  aus  cpileof-ier,  f,uG&iü  aus  /.iiod-ocoj  €a[.iev  aus  ur- 
griech.  eaif^ev  u.  a.  sind  hier  naheliegende  Beispiele^).  Eine  zweite, 
ebenfalls  weitverbreitete  Erscheinung  besteht  in  den  in  der  mannig- 
faltigsten Weise  wieder  sich  äußernden  Lautschwächungen  am 
Ende  der  Wörter,  Man  nehme  qualitative  Übergänge  wie  im 
Lateinischen  prodtt  aus  "^prodät  (zu  dö  dare)^  artifex  aus  ^  artifax 
(zu  facio)^   vivunt  aus  vivont^    oder  Kürzungen    der  Endvokale    bei 


')  Brugmann,  Griech.  Grammatik,^  S.  58  ff.  Auch  die  romanischen  Sprachen 
sind  reich  an  hierher  gehörigen  Erscheinungen,  die  sich  nur  bei  ihnen  vielfach  zu- 
gleich mit  dissimilatorischen  Elisionen  und  selbständigen  Änderungen  des  Vokal- 
klangs verbinden.  Vgl.  Meyer-Lübke,  Grammatik  der  romanischen  Sprachen,  Bd.  I, 
S.  98  ff. 


492 


Der  Lautwandel. 


gleich  bleibender  Qualität  wie  lego  aus  "^  legö  (gr.  Ae/w),  auctor  aus 
altlat.  aiictdr  [mictdris]^  oder  endlich  den  völligen  Silbenschwund  im 
Auslaut,  wie  in  mors  aus  ^mortis,  ager  aus  *agros^  acer  aus  agris^). 
Ähnlich  im  Deutschen  leiten  zu  ahd.  ltda?t^  Bahre  zu  öä7'a^  Wunder 
zu  ivuntar^  zeigen  zu  zeighi^  leben  zu  leben  usw.  Hier  ist  überall 
schon  im  Mittelhochdeutschen  die  Schwächung  eingetreten.  Aber 
sie  ist  in  diesem,  wie  manche  Erscheinungen  schließen  lassen,  noch 
nicht  so  weit  wie  in  der  heutigen  Sprache  fortgeschritten  gewesen. 
So  sind  Formen  wie  Tags  für  Tages  ^  dem  Mann  für  de77i  Manne 
erst  in  verhältnismäßig  neuer  Zeit  allgemein  geworden;  und  diese 
Kürzungen  sind  zum  Teil  auch  da  eingedrungen,  wo  in  der  Schrift 
der  Vokal  noch  bewahrt  blieb:  wir  sprechen  nicht  Tages^  sondern 
Tag^s,  und  ähnlich  inmitten  des  Wortes,  z.  B.  der  andere,  nicht  der 
andere^  indem  der  stumme  Vokal  nur  noch  als  ein  fast  verschwin- 
dender Übergangslaut  erscheint. 

Zu  dieser  Schwächung  und  Abwerfung  der  Vokale  bieten  nun 
auch  die  Änderungen  der  konsonantischen  Laute  am  Ende  des  Wortes 
parallele  Erscheinungen.  So  ist  im  Lateinischen  namentlich  der 
Schwund  des  Schluß-w,  obgleich  dasselbe  noch  geschrieben  wird, 
im  poetischen  Metrum  deutlich  zu  bemerken;  auch  in  die  romanischen 
Sprachen  hat  sich  dies  fortgesetzt.  Doppelkonsonanten  sind  ferner 
durchweg  zu  einfachen  zusammengezogen  worden,  wie  lac  aus  ^lact 
[lactis]^  cor  aus  "^  cord  [cordis)  usw.  ^).  Im  Deutschen  besteht  die 
bemerkenswerteste  Erscheinung  dieser  Art  darin,  daß  im  Wortschluß 
die  tönende  Media  in  einen  kurzen  tonlosen  Verschlußlaut,  eine 
stimmlose  Tenuis,  überzugehen  pflegt.  So  schreiben  wir  zwar  aus 
Rücksicht  auf  den  grammatischen  Zusammenhang  Tag^  Tages  und 
La?id,  Länder^  wir  sprechen  aber  in  Wirklichkeit  Tak^   Tages^  Lant^ 


I)  Vgl.  Ferd.  Sommer,  Handbuch  der  lateinischen  Laut-  und  Formenlehre, 
1902,  S.  155  fiF. 

-)  Nur  das  Schluß-j  bildet  im  Lateinischen  eine  Ausnahme,  indem  es  zu  einer 
gewissen  Zeit  ausfiel,  wenn  ein  Wort  mit  anfangendem  Konsonanten  folgte,  wie  in 
omnibii{s]  princeps.  Dieser  Fall  reicht  aber  wieder  in  die  Kontaktwirkungen  der 
Laute  hinein,  und  er  ist  wohl  als  eine  in  der  Volkssprache  eingerissene  dissimila- 
torische  Elision  aufzufassen,  die  dann  später  von  der  Schriftsprache  unter  dem  Ein- 
flüsse des  vor  Vokalen  stets  erhalten  gebliebenen  Schlußlautes  wieder  getilgt  wurde. 
Vgl.  Sommer  a.  a.  O.  S.  302  ff.  und  über  Dissimilationen  oben  S.  414  ff. 


Tempo  der  Rede  vind  Wortbetonung.  ^g^ 

Länder'^].  Zugleich  bemerkt  man  übrigens  hierbei,  daß  diese  Unter- 
schiede nicht  unbeträchtlich  variieren  können,  und  daß  darauf 
namentlich  die  Länge  des  vorangehenden  Vokals  von  Einfluß  ist. 
Sprechen  wir  das  Wort  Tag  kurz  und  scharf,  so  tritt  der  harte 
Schlußlaut  sehr  deutlich  hervor;  sprechen  wir  es  gedehnt,  so  er- 
mäßigt er  sich  und  geht  in  eine  tonlose  Media  oder  Spirans  über. 
Die  Aussprache  variiert  also  zwischen  täk^  tag  und  tä^^  wenn  wir 
mit  g  den  stimmhaften,  mit  i  den  stimmlosen  Konsonanten  be- 
zeichnen. Entsprechende  Unterschiede  sind  denn  auch  dialektisch 
vorhanden,  indem  der  Schlußkonsonant  bald  mehr  nach  der  stimm- 
losen Media,  bald  mehr  nach  der  Spirans  hin  abweicht,  und  sie  sind 
zum  Teil  wenigstens  mit  entsprechenden  Unterschieden  in  der  Länge 
des  Vokallautes  kombiniert. 

c.   Lautänderungen  der  Verschlußlaute. 

Aus  diesen  Beobachtungen  erhellt  zunächst,  daß  die  Scheidung- 
der  Formen  des  sogenannten  selbständigen  und  des  kombinatorischen 
Lautwandels  in  keiner  Weise  streng  durchgeführt  werden  kann.  Da 
in  der  Sprache  kein  einziger  Laut  für  sich  allein  existiert,  so  ist 
auch  jede  Lautänderung  in  einem  gewissen  Grade  durch  die  Ver- 
bindung mit  andern  Lauten  beeinflußt.  Es  ergibt  sich  aber  auch 
weiterhin,  daß  bei  dieser  nie  fehlenden  Verbindung  der  Laute  die 
Schnelligkeit  ihrer  Aufeinanderfolge  eine  entscheidende  Rolle  spielt. 
Besonders  deutlich  lassen  sich  diese  Schwankungen  je  nach  der  Art 
und  der  Geschwindigkeit  der  Aufeinanderfolge  bei  der  willkürlichen 
experimentellen  Variation  dieser  Bedingungen  nachweisen.  Als 
Beispiele  seien  hier  die  Lippenexplosivlaute  />,  b  in  ihren  Wand- 
lungen verfolgt,  da  sie  bei  der  oberflächlichen  Lage  der  Verschluß- 
stelle der  Beobachtung  am  leichtesten  zugänglich  sind.  Als  kombi- 
natorisch verwendeten  Vokal  wollen  wir  der  Gleichförmigkeit  wegen 
überall  das  a  wählen.  Es  seien  ferner  bezeichnet  mit  p^^  ^''  die 
stark,  mit  p'^  F  die  schwach  aspirierten  Laute,  mit  p  und  t  die  ge- 
schärften tonlosen  Verschlußlaute  (Affricatae),  mit  b  die  gewöhnliche 
tönende  Media,  und  endlich  mit  p  und  b  die  tonlosen  Lippenlaute. 
Es  treten  dann  bei  wechselnder  Stellung  und  Kombination  mit  langen 


^)  Vgl.  Sievers,  Phonetik,4  S.  265  f. 


494 


Der  Lautwandel. 


und  kurzen  Vokalen  die  folgenden  Veränderungen  der  beiden  Ver- 
schlußlaute von  selbst  ein: 

p'^a  ,   p  a^    apa  ,    apa^    ap 
*  d^ä ,    bä^    abä  ^    iä  ^    äb^    äp. 

Der  Sinn  dieser  beiden  Reihen  ergibt  sich  ohne  weiteres  aus  der 
obigen  Interpretation  der  Bezeichnungen.  Zunächst  hat  der  Unter- 
schied der  beiden  Anfangsglieder  [p^ä  und  b^ä)  die  Bedeutung,  daß 
die  Stärke  der  Aspiration  bei  dem  weicheren  Explosivlaut  immer 
schwächer  als  bei  dem  harten,  und  daß  sie  dort  überhaupt  nur  bei 
starker  Betonung  des  kommenden  Vokals  vorhanden  ist,  sonst  aber 
ganz  schwindet  [Fa  und  ba).  Tritt  der  Verschlußlaut  in  die  Mitte 
zweier  Vokale,  so  verschwindet  die  Aspiration,  und  es  bleibt  nur 
die  Neigung  zu  einer  Verschärfung  des  Lautes.  Am  Schluß  des 
Wortes  weicht  endlich,  wenn  ein  langer  Vokal  vorangeht,  die  tönende 
der  tonlosen  Media,  und  diese  bei  verkürztem  Vokal  dem  tonlosen 
harten  Verschlußlaut  [ab  und  ap). 

Die  Ursachen  dieses  durch  die  Position  bewirkten  Lautwandels 
sind  nun  offenbar  wieder  keine  rein  physiologischen,  sondern  im 
eigentlichen  Sinne  des  Wortes  psychophysische.  Dies  gilt  vor 
allem  von  den  Lautänderungen  am  Ende  des  Wortes,  den  Schwä- 
chungen und  Elisionen  der  Vokale  und  dem  Übergang  der  tönenden 
in  kurze  und  tonlose  Verschlußlaute,  sowie  von  den  im  Gegensatz 
zu  ihnen  stehenden  Modifikationen  der  gleichen  Laute  am  Wortan- 
fang. Jedes  einigermaßen  selbständig  zu  denkende  Wort  bildet 
nämlich,  so  eng  es  sich  auch  in  den  Zusammenhang  der  Rede  ein- 
fügt, doch  bis  zu  einem  gewissen  Grad  ein  Ganzes  für  sich,  indem 
der  ihm  zukommende  spezifische  Bedeutungsinhalt  notwendig  einen 
gleichzeitigen  Wechsel  der  Vorstellungen  mit  sich  führt,  ausgenommen 
natürlich  Enklitika,  deren  selbständige  Schreibung  ohnehin  im  all- 
gemeinen willkürlich  ist.  Demnach  bildet  jedes  neue  Wort  einen 
momentanen  Haltepunkt  der  Rede,  so  daß  sich  die  Kraft  der  Arti- 
kulation vor  allem  auf  den  Wortanfang  konzentriert.  Umgekehrt 
verhält  sich  der  Schluß  des  Wortes.  Ist  der  Anfang  intoniert,  so 
ist  namentlich  bei  einem  kürzeren  Worte  für  den  Redenden  der 
psychische  Prozeß  der  Wortbildung  vollendet:  nur  der  physische 
Vorgang    der  Artikulation   folgt   noch   mechanisch   dem    zuvor   ge- 


Tempo  der  Rede  und  Wortbetonimg.  ^gg 

gebenen  Impuls.  Darum  ist  das  Ende  des  Wortes  vorzugsweise  der 
Lautschwächung  und  Lautkürzung  ausgesetzt.  Ist  der  Schlußlaut 
ein  Vokal,  so  wird  dieser  kürzer  oder  seine  Klangfarbe  dumpfer; 
bei  den  Geräuschlauten  weicht  der  leichtere,  tönende  einem  härte- 
ren, tonlosen  Verschlußlaut.  In  diese  Bedingungen  greifen  dann 
noch  Akzentuierung  und  Dauer  der  inlautenden  Vokale  wesent- 
lich modifizierend  ein,  während  zugleich  physiologische  Bedingun- 
gen die  hieraus  entspringenden  begleitenden  Veränderungen  der 
Verschlußlaute  bestimmen.  So  ist  die  Aspiration  der  harten  Ex- 
plosivlaute am  Anfang  des  Wortes  um  so  mehr  eine  mechanische 
Notwendigkeit,  je  dauernder  der  folgende  Vokal  ist  [p^Ti  und  p^a). 
Die  weiteren  Verändungen  ergeben  sich  von  selbst  aus  den  für 
An-  und  Auslaut  geltenden  psychophysischen  Momenten  einerseits 
und  den  aus  Betonung  und  Dauer  der  Laute  hervorgehenden  mecha- 
nischen Vor-  und  Rückwirkungen  anderseits,  wie  aus  den  obigen 
Reihen  für  den  Wandel  des  /-  vmd  (5-Lautes  hervorgeht. 

Unverkennbar  haben  nun  aber  diese  mit  der  Aneinanderreihung 
der  Laute  zusammenhängenden  Lautvariationen  noch  eine  andere, 
über  diesen  nächsten  Bereich  ihrer  Wirkungen  hinausgehende  Be- 
deutung. Die  Veränderungen,  die  sich  innerhalb  eines  zusammen- 
hängenden Lautkomplexes  als  die  Folgen  der  Beschleunigung  oder 
Hemmung  der  Bewegung  einstellen,  werden  nämlich  in  einem  ge- 
wissen Umfang  auch  als  allgemeine  Veränderungen  mehr  oder 
weniger  in  jedem  Lautzusammenhang  wiederkehren,  teils  weil  sich 
die  Einstellung  auf  die  neue  Artikulationslage  überhaupt  fester  ein- 
geübt hat,  teils  weil  die  an  bestimmten  Punkten  durch  den  Lautzu- 
sammenhang erzeugten  Veränderungen  assoziativ  auf  andere  Fälle, 
ganz  wie  bei  den  sogenannten  »Analogiebildungen«,  herüberwirken. 
So  sind  es  Kontakt-  und  Fernewirkungen  der  Laute,  die  überall 
in  das  Gebiet  des  sogenannten  »selbständigen«  Lautwandels  ein- 
greifen. Natürlich  lassen  sich  die  im  letzteren  Fall  sich  ergebenden 
Wirkungen  des  häufigen  Gebrauchs  nicht  mehr  ohne  weiteres  mittels 
einer  experimentellen  Variation  der  Bedingungen  feststellen,  oder 
mindestens  würde  dies  umständlichere  Verfahrungsweisen  mit 
statistischer  Verwertung  der  Beobachtungen  erfordern.  Wohl  aber 
gibt  uns  hier  die  geschichtlich  eingetretene  Veränderung  gewisse 
Hinweise,  falls  wir  uns  nur  die  experimentell  konstatierten  Einflüsse 


aq()  Der  Lautwandel. 


der  Geschwindigkeit  und  Betonung  über  eine  längere  Zeit  ausge- 
dehnt oder  durch  hinzutretende  Bedingungen  verstärkt  denken.  Dieses 
Prinzip  läßt  sich  namentlich  auf  gewisse  Veränderungen  der  harten 
Explosivlaute  anwenden.  Bei  der  Betrachtung  der  obigen  beiden 
Reihen  für  die  Variationen  der  Lippenlaute/  und  d  fällt  ja  ohne  wei- 
teres auf,  daß  die  Breite  der  experimentell  herzustellenden  Schwan- 
kungen des  weichen  Verschlußlautes  sehr  viel  größer  als  die  des 
harten  ist.  Jener  kann  zwischen  tönender  und  tonloser,  zwischen 
aspirierter  und  unaspirierter  Form  wechseln,  und  er  kann  unter  be- 
stimmten Bedingungen  in  den  tonlosen  harten  Explosivlaut  p  über- 
gehen, während  der  letztere  immer  nur  die  verschiedenen  Stufen 
aspirierter  Aussprache  mit  dem  kurzen  Verschluß  ohne  Aspiration 
als  Grenzfall  durchwandert.  Dennoch  gibt  es  auch  hier  einen  ein- 
greifenden Wechsel,  der,  wie  die  Geschichte  zeigt,  in  den  verschie- 
densten Sprachen  als  Folge  eines  länger  dauernden  Gebrauchs  ein- 
getreten ist,  und  der  auch  sporadisch  in  der  inviduellen  Beobachtung 
vorkommt;  letzteres  freilich  nur  bei  willkürlichen  Experimenten 
oder  aber  beim  Sprechenlernen  des  Kindes.  Da  beobachtet  man 
nämlich,  daß  ein  Lautgebilde  wie  p'mif  mit  mehr  oder  weniger 
starker  Aspiration  des  harten  Anfangslautes  gelegentlich  durch  dissi- 
milatorische  Erleichterung  zunächst  in  pfimt  und  dann,  bei  noch 
weiter  beschleunigter  Rede,  in  fiint  übergeht.  Der  letztere  Über- 
gang läßt  sich  leicht  mechanisch  erzwingen,  wenn  man  das  Wort 
mehrmals  nacheinander  oder  in  Kombinationen  wie  fmif  pfiint 
fünf  pfiint  fünf  pfiint  .  .  spricht.  Diese  verwandeln  sich  fast  un- 
vermeidlich in  fünf  fiint  fünf  fitnt  fünf  fiint  ...  Es  besteht  also 
auch  für  die  harten  Explosivlaute  wenigstens  innerhalb  einer  länger 
dauernden  Reihe  von  Veränderungen  die  Möglichkeit  einer  weiteren 
Umwandlung,  die  auf  der  im  Anlaut  stets  vorhandenen  Verbin- 
dung dieser  Laute  mit  einer  Aspiration  beruht.  Denn  aus  dieser 
geht  nun,  unter  Einschaltung  eines  dissimilatorischen  Zwischen- 
stadiums, das  auch  dauernd  erhalten  bleiben  kann,  eine  Spirans 
hervor,  die  je  nach  der  Verbindung  mit  andern  Lauten  bald  tonlos 
(/,  w),  bald  tönend  ist  (zy,  v).  So  sprechen  wir  in  der  Tat  das  Wort 
Pfund  im  Hochdeutschen  pfiint\  wir  finden  aber  daneben  als  dia- 
lektische Abweichungen  sowohl  die  Form  ;f)unt  wie  fnnt.  Auch 
von    diesen   Veränderungen    können    nun    wahrscheinlich    Assozia- 


Tempo  der  Rede  und  Wortbetonung.  aqj 

tionswirkungen  ausgehen.  Die  Umwandlung  in  die  Spirans  wirkt 
auf  andere,  minder  zwingende  Fälle  hinüber.  Dabei  kommt  dann 
namentlich  in  Betracht,  daß  in  einem  früheren  Stadium  der  Sprache 
aspirierte  Formen  infolge  einer  langsamen  Redeweise  leichter  auch 
im  Inlaut  der  Wörter  vorkommen  konnten,  wo  sie  jetzt  ver- 
schwunden sind.  So  war  die  ursprüngliche  Wortform  für  den 
Apfel  wahrscheinlich  ^ap'nl^  woraus  schon  im  Althochdeutschen 
nebeneinander  die  Formen  apfiil  und  affnl  [affoltra  Apfelbaum), 
im  Neuhochdeutschen  Apfel  und  daneben  niederd,  Appel  hervorge- 
gangen sind. 

Wie  hier  die  geschichtliche  Entwicklung  der  Laute  Änderungen 
erzeugt  hat,  die  sich  unter  Umständen  unwillkürlich  in  dem  Mechanis- 
mus unseres  gewöhnlichen  Sprechens  ereignen,  so  lassen  nun  anderseits 
auch  die  in  der  Sprache  anscheinend  fixierten  Laute  deutliche  Nuancen 
der  Klangfärbung  und  Tonhöhe  erkennen,  so  daß  ein  und  dasselbe 
Lautzeichen,  mag  man  noch  so  sehr  den  üblichen  Buchstabenbezeich- 
nungen durch  weitere  phonetische  Symbole  zu  Hilfe  kommen,  eigent- 
lich immer  eine  Fülle  individueller  Laute  unter  sich  begreift.  Diese 
Lautschwankungen  erweisen  sich  aber  durchweg  als  Kontaktwir- 
kungen, bei  denen  die  Vokale  ebenso  von  den  umgebenden  Konso- 
nanten wie  diese  hinwiederum  von  den  zwischen  ihnen  liegenden 
und  besonders  von  den  vorausgehenden  Vokalen  abhängen.  Neh- 
men wir  z.  B.  eine  Reihe  von  Wörtern  wie  Dach^  Sache  ^  pocJie^ 
suche,  Zeche ^  Sichel  usw.,  so  ist  die  Spirans  in  keiner  dieser  Wörter 
der  gleiche  Laut,  sondern  die  Verengerungsstelle,  die  dem  Reibungs- 
geräusch seinen  Klangcharakter  gibt,  richtet  sich  in  erster  Linie 
nach  dem  vorangehenden  Vokalklang,  auf  den  die  Artikulationsor- 
gane noch  eingestellt  sind,  wenn  der  Geräuschlaut  beginnt;  sie 
richtet  sich  aber  auch  etwas  nach  dem  folgenden  Laut  und  ist 
z.  B.  eine  andere,  wenn  das  Wort  mit  der  Spirans  schließt,  als 
wenn  dieser  wieder  ein  Vokal  nachfolgt.  So  liegt  in  Dach  die 
verengerte  Stelle  weiter  zurück  als  in  Sache ^  und  sie  rückt  dann 
mit  der  Erhöhung  des  vorausgehenden  Vokals  immer  weiter  nach 
vorn.  Die  gewöhnliche  phonetische  Unterscheidung  dieser  pala- 
talen  Spirans  in  eine  vordere  ^i  ("''^^)j  und  in  eine  hintere  /^ 
[Dach]  greift  daher  nur  gewisse  Grenzfälle  heraus,  zwischen  denen 
alle    möglichen   Übergänge    stattfinden    können.     Dabei  sind    diese 

Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  32 


4q8  Der  Lautwandel. 


Variationen  in  erster  Linie  v^on  dem  vorausgehenden,  in  geringerem 
Grade  von  dem  nachfolgendem  Vokal  bestimmt.  So  ziehen  die 
hohen  Vokale  e,  i  und  ihre  Verbindungen,  wie  eii.,  ei,  ä,  ?V,  die 
vordere  Spirans  Xt^  ^^^  tieferen  Vokale  «,  o,  ii  die  hintere  i^ 
nach  sich.  Aber  indem  hierbei  jedesmal  die  Vokaleinstellung  auf 
den  folgenden  und  bis  zu  einem  gewissen  Grad  auch  auf  den 
vorangehenden  palatalen  Verschluß  herüberwirkt,  hat  in  jedem  ein- 
zelnen dieser  Fälle  die  Spirans  wieder  einen  etwas  abweichenden 
Charakter.  Selbst  auf  die  Stimmbänder  wirkt  diese  Adaptation 
an  den  Vokal  zurück,  indem  der  Laut  /^  im  allgemeinen  tonlos, 
y^  aber  von  langsamen  tönenden  Schwingungen  begleitet  ist,  die 
zunächst  wahrscheinlich  in  der  Mundhöhle,  namentlich  am  Gaumen- 
segel entstehen,  dann  aber  durch  Resonanz  auch  dem  Kehlkopf 
sich  mitteilen.  Wie  der  Konsonant  dem  Vokal,  so  adaptiert  sich 
aber  umgekehrt  dieser  jenem.  So  ist  der  rt'-Laut  schon  ein 
anderer  in  Dadi  als  in  Sache.  Dort  ist  seine  Klangfarbe  heller 
als  hier,  wo  die  Einstellung  auf  das  e  der  folgenden  Silbe  bereits 
trübend  zurückwirkt.  Ähnlich  variiert  das  englische  ih  in  laut- 
lich einander  so  nahestehenden  Wörtern  wie  ethe}-  (Äther)  und 
either  (jeder):  dort  ist  es  interdental  und  tonlos,  hier  postdental  und 
tönend  usw.  ^). 

Auf  diese  Weise  ist  jeder  Sprachlaut  eigentlich  ein  unendlich 
variables  Gebilde.  Seine  jedesmalige  Färbung  ist  aber  abgesehen 
von  andern  Bedingungen,  die  auf  ihn  wirken  mögen,  zunächst  ein 
Produkt  der  Kontaktwirkungen,  die  durch  seine  Verbindung  mit 
andern  Lauten  entstehen,  und  diese  sind,  wie  die  Kontaktwirkungen 
überhaupt,  stets  zugleich   von   der  Geschwindigkeit   der  Artikulation 


I)  Herr  Dr.  Felix  Krüger  hatte  die  Güte,  an  einem  von  ihm  für  anderweitige 
Beobachtungen  über  Sprechmelodie  und  ähnliches  verwendeten  Apparat  die  akusti- 
schen Eigenschaften  solcher  Wortgruppen  wie  der  obenerwähnten  zu  untersuchen. 
Dabei  wurde  der  Stimmton  mittels  der  Schwingungen  des  Schildknorpels  nach 
einem  schon  von  Rousselot  angewandten,  aber  wesentlich  vervollkommneten  Ver- 
fahren registriert,  während  gleichzeitig  der  Exspirationsdruck  durch  die  direkte  Ein- 
wirkung des  Luftstroms  auf  eine  Mareysche  Hebelvorrichtung  ermittelt  wurde,  und 
zum  Zweck  der  Zeitbestimmungen  eine  Stimmgabel  von  bekannter  Tonhöhe  ihre 
Schwingungen  auf  die  gleiche  berußte  Papierfläche  aufzeichnete.  Dabei  lassen  sich 
namentlich  mit  Hilfe  der  Kombination  der  Exspirationskurve  und  der  Stimmtonkurve 
die  obenerwähnten   Erscheinungen  überaus  deutlich  objektiv  feststellen. 


Tempo  der  Rede  und  Wortbetonung.  ^gg 

abhängig".  Die  Kontaktwirkungeii  an  sich  reichen  demnach  weit 
über  jenes  engere  Gebiet  der  progressiven  und  regressiven  Assimi- 
lationen und  Dissimilationen  hinaus,  das  oben  zunächst  unter  jenem 
Namen  zusammengefaßt  wurde,  und  es  umfaßt  eine  Fülle  fei- 
nerer Abänderungen  der  Laute,  die  von  einer  Lautverbindung  zur 
andern  wechseln  können.  Mögen  nun  diese  auch  in  den  unserer 
unmittelbaren  Beobachtung  zugänglichen  Grenzen  nur  relativ  un- 
bedeutende Schwankungen  hervorbringen ,  so  können  sie  doch 
möglicherweise  zu  großen  Umwandlungen  führen,  falls  ihnen  nur 
die  Gelegenheit  gegeben  sein  sollte  allmählich  anzuwachsen,  da- 
durch,  daß  sich  ihre  Ursachen  häufen  oder  stetig  im  gleichen 
Sinne  fortdauern.  Offenbar  sind  daher,  gegenüber  diesen  notwen- 
dig von  früh  an  in  der  Sprache  wirksamen  Kontakten,  jene  un- 
mittelbar auf  solche  zurückführenden  Erscheinungen  der  Assimi- 
lation, Dissimilation  usw.  relativ  junge  und  durch  die  Möglichkeit 
der  Vergleichung  eines  vor  und  nach  eingetretener  Lautänderung 
bestehenden  Zustandes  besonders  augenfällige  Beispiele  eines  um- 
fassenden Prozesses,  der  sich  in  den  mannigfachsten  Verzweigun- 
gen von  den  Urzeiten  der  Sprache  an  bis  in  die  Gegenwart  er- 
streckt. 

Mit  den  zuletzt  betrachteten  Erscheinungen  stehen  nun  sichtlich 
die  Lautumwandlungen,  die  man  besonders  in  den  germanischen 
Sprachen  in  dem  Gesetz  der  Lautverschiebungen  zusammen- 
faßt, zu  denen  sich  aber  auch  in  andern,  zum  Teil  weit  entfernten 
Sprachgebieten  analoge  Erscheinungen  vorfinden,  in  nahem  Zusam- 
menhang. Jener  von  Jakob  Grimm  entdecld:e  regelmäßige  Laut- 
wandel besteht  übrigens  aus  zwei  zeitlich  weit  voneinander  ablie- 
genden Vorgängen.  Die  erste  oder  gemeingermanische  Laut- 
verschiebung liegt  in  der  vorhistorischen  Zeit.  Da  sie  alle  ger- 
manischen Sprachen  erfaßt  hat,  so  läßt  sich  annehmen,  daß  zur 
Zeit,  da  sie  erfolgte,  die  Germanen  noch  ein  einziges  Volk  von 
nicht  allzu  großer  Verbreitung  waren.  Wesentlich  abweichend  ver- 
hält sich  die  zweite  oder  hochdeutsche  Lautverschiebung, 
die  in  historischer  Zeit,  etwa  in  der  Periode  der  Merowinger,  all- 
mählich entstand,  dabei  jedoch  auf  einen  Teil  der  deutschen  Stäm- 
me, nämlich  auf  die  oberdeutschen  und  einige  benachbarte  der 
Franken  und  Sachsen,  beschränkt  blieb.     Demnach  zeigen,    abge- 

32* 


500 


Der  Lautwandel. 


sehen  von  dem  Gotischen,  das  ausgestorben  ist,  und  von  dem 
Nordgermanischen,  das  sich  früher  als  die  andern  von  dem  Urger- 
manischen geschieden  hat,  noch  heute  das  Englische,  Niederlän- 
dische und  Niederdeutsche  im  ganzen  einen  Zustand,  der  der  ersten 
Lautverschiebung  entspricht,  während  das  Althochdeutsche  mit 
seinen  Weiterentwicklungen  in  das  Mittel-  und  Neuhochdeutsche 
durch  die  zweite  Lautverschiebung  beeinflußt  ist.  Auch  bei  dieser 
hat  aber  der  Prozeß  nicht  stillgehalten,  sondern  mit  den  übrigen 
Lauten  sind  die  Verschlußlaute  noch  weiteren  Veränderungen  unter- 
worfen gewesen.  So  sind  denn  überhaupt  jene  beiden  Perioden 
des  Lautwechsels  nicht  als  Zeiten  alleinstehender  Umwälzungen  an- 
zusehen, zwischen  denen  der  Lautbestand  unverändert  geblieben 
wäre,  sondern  sie  bezeichnen  nur  Kulminationspunkte  eines  Pro- 
zesses, wo  durch  besondere  Bedingungen  ein  ungewöhnlich  rascher 
Wandel  eintrat.  Wie  wenig  hier  von  einem  Stillstande  die  Rede 
sein  kann,  das  bezeugt,  abgesehen  von  den  fortwährenden,  bis  in 
die  Gegenwart  reichenden  Veränderungen,  die  Tatsache,  daß  in  der 
Zeit  zwischen  der  ersten  und  der  zweiten  Lautverschiebung  die 
Spaltung  des  Urgermanischen  in  seine  Töchtersprachen  zum  großen 
Teil  eingetreten  ist.  So  sind  denn  auch  die  einzelnen  Lautumwand- 
lungen, aus  denen  sich  die  zweite,  und  ohne  Zweifel  nicht  minder 
diejenigen,  aus  denen  sich  die  erste  Verschiebung  zusammensetzte, 
keineswegs  alle  gleichzeitig  vor  sich  gegangen,  sondern  sie  haben 
teils  eine  Lautgruppe  nach  der  andern,  teils  einen  und  denselben 
Laut  je  nach  seinem  Vorkommen  in  verschiedenen  Wörtern  nicht 
auf  einmal  ergriffen.  Am  gleichförmigsten  verhalten  sich  schon 
innerhalb  der  ersten  Lautverschiebung  die  harten  Verschlußlaute^). 
Was  im  Indogermanischen  als  Tenuis  vorausgesetzt  werden  darf 
und  im  Sanskrit,  Griechischen  und  Lateinischen  durchweg  diesen 
Charakter  bewahrt  hat,  das  ist  im  allgemeinen  in  den  germanischen 


I)  Vgl.  rücksichtlich  der  Verschiedenheiten  der  drei  Klassen  von  Verschluß- 
lauten, auf  die  hier  nicht  näher  eingegangen  werden  kann,  Sievers,  Grundzüge  der 
Phonetik, '^  S.  127  ff.,  und  speziell  mit  Rücksicht  auf  die  Fragen  der  Lautverschiebung 
Kräuter,  Zur  Lautverschiebung,  1877.  Hinsichtlich  der  näheren  sprachgeschicht- 
lichen  Verhältnisse  sei  außerdem  für  die  erste  Lautverschiebung  auf  W.  Streitberg, 
Urgermanische  Grammatik,  i8g6,  S.  97  ff.,  und  F.  Kluge,  in  Pauls  Grundriß,  I,^ 
S.  365  ff.,  für  die  zweite  auf  O.  Behaghel,  ebenda  S.  722  ff.,  verwiesen. 


Tempo  der  Rede  und  Wortbetommg.  501 

Sprachen  ursprünglich  in  die  Spirans  übergegangen:  /  in/,  t  in  dz 
(engl.  tJi\  k  in  ch  oder  in  //,  z.  B.  lat.  pallidtis,  engl,  fallow  *fahl*, 
lat.  tuli.,  tolerare^  got.  dziilan  ''dulden',  lat.  capio^  got.  Jiafjan  'heben'. 
Was  im  Indogermanischen  eine  Media  war  [b^  d^  g)  und  ebenfalls 
in  den  klassischen  Sprachen  Media  blieb,  ist  dagegen  im  Germa- 
nischen zu  einer  Tenuis  geworden,  z.  B.  das  b  in  lat.  liibricus 
^'schlüpfrig',  got.  sliupan  "schlüpfen',  das  d  in  lat.  diio^  engl,  two 
"zwei',  g  in  gr.  yövv^  got.  kniit  'Knie'.  Etwas  verwickelter  verhiel- 
ten sich  die  aspirierten  Laute,  welche  nicht  bloß  im  Germa- 
nischen, sondern  auch  im  Griechischen  und  Lateinischen,  die  in  den 
vorigen  Fällen  den  vorauszusetzenden  Urzustand  des  Indogermani- 
schen relativ  unverändert  bewahrt  haben,  Lautverschiebungen  er- 
fuhren. Das  Indogermanische  enthielt,  wie  man  annehmen  muß, 
zwei  Reihen  aspirierter  Verschlußlaute,  die  Tenues  aspiratae, 
/'*,  ^^  k'\  und  Mediae  aspiratae,  b'\  d'\  g^\  von  denen  die  erste- 
ren  in  kleinerer,  die  letzteren  in  größerer  Zahl  vertreten  waren.  Im 
Griechischen  haben  sich  diese  aspirierten  Laute  wohl  am  längsten 
erhalten,  die  Tenues  aspiratae  unverändert,  die  Mediae  aspiratae, 
nachdem  sie  in  Tenues  aspiratae  umgewandelt  waren.  Später  sind 
aber  alle  diese  aspirierten  Verschlußlaute  durch  Lockerung  der  Ver- 
schlußstelle in  Spiranten  übergegangen,  und  im  Lateinischen  ist 
diese  Erweichung  der  ursprünglichen  Aspiratae  von  früh  an  vor- 
handen, auch  hat  sie  sich  zuweilen  mit  einer  Verschiebung  der 
Artikulationsstelle,  z.  B.  mit  dem  Übergang  von  labialem  in  velaren 
Verschluß,  verbunden.  So  ist  griech.  ocpallio  urspr.  sp'hallo^  dann 
sfallo  gesprochen  worden,  dem  altind.  dlmmas  entspricht  griech. 
■O-uaog,  wo  &  ebenfalls  zuerst  als  aspirierte  Tenuis,  später,  ähnlich 
dem  engl,  t/i,  als  Spirans  gesprochen  wurde;  ebenso  wurde  ein 
indogerm.  *g^ortos  im  Griech.  zu  /o^rog,  im  Lat.  zu  Jiortus  usw. 
Diesem  Verhalten  der  beiden  klassischen  Sprachen  entspricht  nun 
das  Germanische  durchaus  bei  der  Tenuis  aspirata:  /'',  k^\,  ^  werden 
in  der  Regel  zu  //  oder  /,  dz  (engl.  ///),  //  ermäßigt,  z.  B.  griech. 
Ofpc(?Juo,  lat.  /a//o,  ahd.  fallan  'fallen',  idg.  '^kJiabJiemi^  lat.  Jiabeo^ 
ahd.  Jiabicn  'haben'.  Dagegen  sind  die  Mediae  aspiratae  b^^  d^,  g'^ 
wechselnderen  Schicksalen  unterworfen  gewesen,  wobei  insbesondere 
auch  die  Stellung  zu  benachbarten  Lauten  eine  wichtige  Rolle  spielte. 
Im  allgemeinen    sind  sie   nämlich    durch  ein  Zwischenstadium    von 


502 


Der  Lautwandel. 


Media  aspirata  oder  tönender  Spirans  in  die  reine  tönende  Media 
b^  d^  g  übergegangen,  während  der  Einfluß  der  Stellung  hauptsäch- 
lich in  der  Verschiedenheit  der  Laute  im  An-,  In-  oder  Auslaut  des 
Wortes  und  in  der  Abhängigkeit  von  dem  etwa  vorausgehenden 
Vokal  hervortritt.  Man  vergleiche  z.  B.  die  Aussprache  des  g  in 
Gabe  und  legen  oder  in  Tag  (=  tak]  und  Tages  ^  in  lagcn^  legen ^ 
liegen^  lügen  usw.  Die  gleiche  Schreibung,  die  sich  der  gewöhn- 
lichen Buchstabenzeichen  bedient,  birgt  hier  erhebliche  Unterschiede, 
die  bald  als  verschiedene  Stufen,  bald  auch  als  verschiedene  Diffe- 
renzierungen des  eingetretenen  Lautwandels  angesehen  werden 
können. 

Die  zweite,  hochdeutsche  Lautverschiebung  läßt  sich  nun 
in  einem  gewissen  Sinn  als  eine  auf  bestimmte  Dialekte  beschränkte 
Weiterentwicklung  der  ersten  betrachten.  Charakteristisch  ist  in  die- 
ser Beziehung,  daß  die  durch  diese  entstandenen  Spiranten  an  der 
zweiten  keinen  Anteil  nehmen,  so  daß  sich  dieselbe  im  wesentlichen 
auf  die  Verschlußlaute  /,  /,  k  und  b^  d,  g  beschränkt.  Von  ihnen 
gehen  die  Tenues  durchweg  in  Spiranten  über:  so  entsprechen  sich 
got.  sliupan  und  ahd.  sliofan  *^schlüpfen^,  engl,  tzvo  und  hochd.  zicei^ 
got.  kniu  und  ahd.  chnin  'Knie^  Die  ersteren  Formen  repräsentieren 
den  durch  die  erste,  die  letzteren  den  durch  die  zweite  Verschie- 
bung hergestellten  Zustand.  Irregulärer  ist  wiederum  die  Verände- 
rung der  Mediae.  Doch  ist  hier  bei  d  und  ^  der  Übergang  in  die 
Tenuis  vorherrschend,  z.  B.  got.  dags^  engl,  day^  ahd.  tac  'Tag', 
niederl.  liggen^  ahd.  licken  (neben  ligen)  *^liegen^  Bei  der  labialen 
Media  ist  dieser  Übergang  nur  vorübergehend  in  einzelnen  Fällen 
eingetreten,  und  auch  bei  den  übrigen  ist  nicht  selten  eine  Rück- 
wärtsbewegung vorgekommen  [licken  in  liegen). 

Jakob  Grimm  hat  den  ganzen  Vorgang  der  germanischen  Laut- 
verschiebung, der  so  trotz  der  angedeuteten  Schwankungen  und  der 
Zusammensetzung  aus  mehreren  voneinander  unabhängigen  Laut- 
wandlungen einen  in  seiner  allgemeinen  Richtung  einheitlichen  Cha- 
rakter zeigt,  mit  einem  Rade  verglichen,  das  sich  immer  in  einer 
und  derselben  Richtung  um  seine  Achse  drehe.  Die  drei  Laut- 
formen der  Media,  der  Tenuis,  der  Aspirata  und  Spirans  betrachtete 
er  gewissermaßen  als  die  drei  Speichen  dieses  Rades  (Fig.  35),  und 
in  der  Media,  als  dem  zwischen  den  Gegensätzen  der  andern  mitten- 


Tempo  der  Rede  und  Wortbetonung. 


503 


Temas, 


Aspirnta- 


inne  liegenden  Laute,  glaubte  er  den  Ausgangspunkt  der  ganzen 
Bewegung  sehen  zu  können.  Das  Gesetz  lautete  dann  einfach: 
»Media  geht  über  in  Tenuis,  Tenuis  in  Aspirata  und  Aspirata  wie- 
der in  Media«  ^).  Bei  der  Anwendung  dieses  Bildes  ist  aber  nicht 
bloß  keine  Rücksicht  darauf  genommen,  daß  die  Lautverschiebung 
kein  simultaner,  alle  Phasen  eines  Umlaufs  mit  einem  Mal  um- 
fassender Vorgang  ist;  sondern  es  sind  auch  Lautgruppen  in  eine 
einzige  vereinigt,  die  in  pho- 
netischer Hinsicht  ebenso  wie 
nach  ihrer  Stellung  im  Prozeß 
der  Lautverschiebung  eine  ab- 
weichende Bedeutung  haben: 
so  besonders  die  Tenues  aspi- 
ratae,  Mediae  aspiratae  und 
Spirantes.  Auch  ist  nicht  zu 
übersehen,  daß  das  Schema 
nur  die  Hauptstationen  des 
Vorgangs  veranschaulicht  und 
dabei  nicht  nur  von  den 
Zwischenstufen  überhaupt, 
sondern  auch  davon  abstra- 
hiert, daß  gerade  diese  Zwischenstufen  wieder  in  verschiedenen 
Fällen  variieren  können.  Endlich  und  hauptsächlich  bleibt  bei 
jeder  solchen  abstrakten  Formulierung  des  Verschiebungsgesetzes 
der  große  Einfluß,  den  benachbarte  Laute  und  die  Stellung  des 
Lautes  im  Wort  ausüben,  ganz  außer  Betracht.  Dieser  modifiziert 
aber  das  Ergebnis  so  bedeutend,  daß  jede  einzelne  Lautverschie- 
bung, sobald  diese  Bedingungen  irgendwie  wechseln,  wieder  etwas 
abweicht. 

Überblickt  man  nun  zunächst  die  allgemeine  Richtung  der  Laut- 
änderungen sowie  die  Abweichungen,  die  sie  im  einzelnen  darbieten. 


Fig.  35.     Schema  der  germaniFchen  Laut- 
verschiebungen nach  Grimm. 


^)  Jakob  Grimm,  Geschichte  der  deutschen  Sprache,"*  I,  S.  276.  Bei  Grimm 
lautet  das  Bild  allerdings  etwas  anders.  Nach  dem  Vorgang  von  R.  v.  Raumer 
(Über  die  Aspiration  und  die  Lautverschiebung,  1837)  vergleicht  er  die  Lautver- 
schiebung mit  »drei  Wagen,  die  in  einem  Kreis  umlaufen«.  In  der  Sache  ist 
natürlich  kein  Unterschied,  aber  das  seither  meist  gebrauchte  Bild  des  dreispeichigen 
Rades  ist  einfacher  und  deutlicher. 


504  üer  Lautwandel. 


SO  springt  in  die  Augen,  daß  diese  Erscheinungen  in  beiden 
Beziehungen  im  wesentlichen  den  Modifikationen  entsprechen,  welche 
die  drei  Klassen  der  Verschlußlaute  infolge  der  experimentellen 
Variation  der  Artikulationsbedingungen  erfahren.  In  den  Verände- 
rungen, die  sich  in  der  auf  S.  493  ff.  dargestellten  Reihenfolge 
an  den  labialen  Verschlußlauten  hervorbringen  lassen,  wiederholen 
sich,  wenn  wir  noch  die  unter  bestimmten  länger  einwirkenden 
Ursachen  oder  bei  den  Sprechversuchen  des  Kindes  zu  beobach- 
tenden Übergänge  in  die  Spirans  hinzunehmen,  beinahe  Schritt 
für  Schritt  gewisse  Erscheinungen  der  Lautverschiebung.  Sie  ent- 
sprechen dieser  sowohl  in  ihrer  allgemeinen  Richtung  wie  in  vielen 
einzelnen  Zügen:  so  in  der  größeren  Zahl  von  Stufen,  welche  die 
Media  gegenüber  der  Tenuis  durchlaufen  kann,  ferner  in  dem  Ein- 
fluß, den  die  Stellung  im  An-,  In-  oder  Auslaut  ausübt,  endlich  in 
der  Wirkung  der  Qualität,  Dauer  und  Betonung  der  umgebenden 
Vokale.  So  haben  sich  im  Anlaut  bei  unmittelbar  folgendem  Vokal 
noch  heute  die  aspirierten  Tenues  erhalten,  während  sie  im  Inlaut 
in  Affrikatae  oder  weiterhin  in  Spiranten,  und  endlich  im  Auslaut 
in  stumme  Explosivlaute  übergegangen  sind.  Die  Media  aspirata 
dagegen  ist  sehr  frühe  schon  im  Anlaut  zur  tönenden  Media  ge- 
worden, während  sie  im  Inlaut  Affrikata  blieb  oder  durch  diese  in 
eine  tönende  Spirans  überging,  im  Auslaut  aber  dem  stimmlosen 
Explosivlaut  zustrebte:  lauter  Veränderungen,  die  im  wesentlichen 
mit  den  auf  S.  494  verzeichneten  Reihen  übereinstimmen^).  Aus 
diesem  Parallelismus  darf  man  wohl  den  Schluß  ziehen,  daß  die 
im  Germanischen  in  besonders  weitem  Umfang,  in  den  andern  indo- 
germanischen  Sprachen   in   engeren    Grenzen,    aber    im    ganzen    in 


')  Delbrück  hat  gegen  die  Darstellung  der  Lautverschiebungen  in  der  ersten 
Auflage  des  vorliegenden  Werkes  eingewandt,  die  hier  erwähnten  Übergänge  seien 
von  mir  übersehen  worden;  aixch  führt  er  dieselben  als  entscheidende  Instanz  gegen 
den  Zusammenhang  der  Verschiebungen  mit  der  Artikulationsgeschwindigkeit  an 
(Grundfragen  der  Sprachforschung,  S.  103).  Offenbar  hat  Delbrück  dabei  nur  das 
in  Fig.  35  symbolisierte  Schema  vor  Augen  gehabt  und  nicht  beachtet,  daß  eben- 
sowohl auf  diese  Zwischenstufen  wie  auf  ihre  Abhängigkeit  von  der  Stellung  im 
An-,  In-  oder  Auslaut  im  Text  mehrfach  hingewiesen  ist  (vgl.  i.  Aufl.  S.  408,  415)- 
Prüft  man  nun  aber  diese  Zwischenstufen  näher  hinsichtlich  ihres  Vorkommens  und 
ihrer  Artikulationsbedingungen,  so  sind  sie,  wie  aus  der  obigen  Darlegiing  zu  er- 
sehen ist,  nicht  Zeugnisse  gegen,  sondern  solche  für  die  vorgetragene  Theorie. 


Tempo  der  Rede  und  Wortbetonung.  =0^ 

Übereinstimmendem  Sinn  eingetretenen  Lautverschiebungen  der  Kon- 
sonanten Prozesse  sind,  die,  ganz  wie  die  vielfach  gleichzeitig  mit 
ihnen  erfolgten  Vokalkontraktionen,  Elisionen  und  Lautschwächun- 
gen am  Ende  des  Wortes,  sowie  in  Übereinstimmung  mit  den 
Kontaktänderungen  der  Laute,  zum  größten  Teil  als  Wirkungen 
der  beschleunigten  Artikulation  zu  deuten  sind.  Außerdem  sind 
aber  alle  diese  Wandlungen  nicht  überall  die  nämlichen  für  einen 
gegebenen  Laut  oder  Lautkomplex,  sondern  sie  sind  von  seiner 
Stellung  im  Wort,  von  der  Betonung,  Dauer  und  Klangfarbe  der 
Nachbarlaute  abhängig.  In  diesem  Sinne  fällt  daher  jeder  reguläre 
Lautwandel  zugleich  in  das  Gebiet  der  Kontaktwirkungen.  Außer- 
dem werden  wir,  gemäß  den  ausgedehnten  Einflüssen  der  Laut- 
wie  Begriffsassoziationen ,  die  uns  früher  in  zahlreichen  Erschei- 
nungen begegnet  sind,  unbedingt  voraussetzen  dürfen,  daß  auch 
bei  der  Ausbreitung  bestimmter  Lautänderungen  assoziative  Ferne- 
wirkungen wirksam  waren,  durch  die  sich  eine  zuerst  im  engeren 
Umkreis  begonnene  Veränderung  auf  das  weitere  Vorkommen  der 
gleichen  Laute  übertragen  konnte,  sofern  nicht  sonstige  Bedin- 
gungen, namentlich  abweichende  Kontaktverhältnisse  störend  in  den 
Weg  traten. 

Natürlich  lassen  nun  aber  diese  allgemeinen  Bedingungen  hier 
ebensowenig,  wie  bei  den  nach  ihrem  Ursprünge  verwandten  Assi- 
milations-  und  Dissimilationswirkungen  der  Laute,  irgendeinen  Schluß 
auf  die  besonderen  historischen  Anlässe  zu,  die  etwa  zu  einer 
solchen  Lautänderung  geführt  haben.  Niemand  kann  den  Übergang 
des  Wortes  supimts  in  sninmus  oder  bnunben  in  brummen  auf  ein 
bestimmtes  geschichtliches  Ereignis  zurückführen.  Mit  den  ein- 
zelnen Akten  der  germanischen  oder  irgendeiner  andern  Lautver- 
schiebung verhält  es  sich  nicht  anders.  Hier  läßt  sich  immer  nur 
einerseits  auf  die  allmähliche,  weder  alle  Laute  auf  einmal,  noch  so- 
fort den  einzelnen  ausnahmslos  ergreifende  Art  des  Vorgangs, 
anderseits  auf  jenes  Prinzip  der  Mutation  hinweisen,  nach  dem  sich 
überall  im  organischen  Leben  bestimmte  Änderungen  langsam  vor- 
bereiten, um  dann  unter  der  Wirkung  auslösender  Kräfte  mehr  oder 
minder  plötzlich  um  sich  zu  greifen,  ohne  daß  diese  Kräfte  selbst 
in  der  Regel  für  uns  nachweisbar  sind  (S.  476). 

Um  so  wichtiger  ist  nun  aber  die  Tatsache,    daß    die  Lautver- 


■o6  Der  Lautwandel. 


Schiebungen  offenbar  ebenso  wie  die  Vokalkontraktionen,  die  Laut- 
schwächungen und  Kontaktwirkungen  Erscheinungen  sind,  die  in 
den  verschiedensten  Sprachen  nicht  beliebig  variieren  können,  son- 
dern daß  auch  hier  eine  allgemeinere  Gesetzmäßigkeit  herrscht. 
Obgleich  die  in  unabhängigen  Sprachgebieten  vorkommenden  Er- 
scheinungen in  diesem  Falle  wiederum  niemals  völlig  identisch  sind, 
so  verlaufen  sie  doch  in  übereinstimmender  Richtung.  Daß  hier 
nur  von  einer  solchen  die  Rede  sein  kann,  ist  ja  schon  deshalb 
selbstverständlich,  weil  die  Ausgangspunkte  der  Veränderungen  jedes- 
mal abweichende  sind,  außerdem  aber  die  weiter  hinzutretenden 
Einflüsse  in  der  mannigfaltigsten  Weise  wechseln.  Gegenüber  dieser 
Ungeheuern  Variabilität  der  Bedingungen  ist  jedoch  die  trotzdem 
zu  beobachtende  Übereinstimmung  überraschend  groß.  Dies  gilt 
nicht  bloß  von  den  Vokalkontraktionen,  Elisionen  und  Laut- 
schwächungen, sondern  sogar  von  dem  Wandel  der  Verschluß- 
laute. Ein  merkwürdiges  Beispiel  bilden  hier  nach  den  Ermitte- 
lungen C.  Meinhofs  die  Bantusprachen  Südafrikas.  So  finden  sich 
z.  B.  in  dem  Peli  für  die  aus  den  gegenwärtig  bestehenden  Dia- 
lekten zu  erschließenden  Konsonanten  des  » Ur-Bantu «  folgende 
Vertretungen :  y^  für  k.  f  für  /,  k  für  ng^  iit  für  nd^  inp  für  iiib^  nth 
für  nf^).  Das  sind  Vertretungen,  die  hinsichtlich  des  Übergangs 
der  Tenuis  in  die  Spirans  vmd  in  gewissem  Umfang  auch  der  Media 
in  die  Tenuis,  der  aspirierten  in  unaspirierte  Laute  einigen  im  Ger- 
manischen eingetretenen  Verschiebungen  durchaus  entsprechen^). 
Andere  Wandlungen  weichen  ab,  zeigen  dafür  aber  um  so  charak- 
teristischer den  Einfluß  der  Betonung  und  Dauer  der  umgebenden 
Laute.      So   wird    die   Tenuis  k   in  betonter   Stammsilbe   meist  zur 


1)  C.  Meinhof,  Grundriß  einer  Lautlehre  der  Bantu- Sprachen,  1899,  S.  31  ff. 
und  die  Tabellen  S.  194  ff. 

2)  Auf  diese  Analogien  hat  schon  H.  Meyer  aufmerksam  gemacht,  Zeitschr.  f. 
deutsches  Altertum  u.  deutsche  Literatur,  Bd.  54,  1901,  S.  loS.  Gleichzeitig  erhebt 
aber  Meyer  gegen  den  Einfluß  des  Redetempos  auf  die  Lautverschiebungen  den  Ein- 
wand, daß  sich  zu  keiner  Zeit  im  germanischen  Altertum  ein  Anlaß  zu  einer  plötz- 
lichen Beschleunigung  nachweisen  lasse.  Dieses  auch  noch  anderwärts  geäußerte 
Bedetiken  beruht  doch  wohl  auf  der  Nichtbeachtung  des  oben  geltend  gemachten,  in 
der  organischen  Natur  mannigfach  bestätigten  Mutationsprinzips  sowie  auf  der  Unter- 
schätzung jener  Komplikation  der  Bedingungen,  aus  der  die  auslösenden  Kräfte  der 
Wandlungen  entspringen. 


Tempo  der  Rede  und  Wortbetonung.  cq? 

Aspirata  kJi.  Besonders  bemerkenswert  ist  endlich  noch,  daß  bei 
den  dem  Ackerbau  lebenden  Stämmen,  die,  in  der  Kultur  höher 
stehend,  durch  einen  regeren  Verkehr  sich  auszeichnen,  der  Laut- 
wandel stärker  um  sich  gegriffen  hat  als  bei  den  nomadisierenden 
Völkern'). 

d.    Lautänderungen  unter  dem  Einfluß  des  Akzentwechsels. 

Zu  den  auf  allgemeinen  Kultureinflüssen  beruhenden  Änderungen 
der  Sprechweise  gehören  neben  dem  Tempo  der  Rede  auch  die 
Veränderungen  der  Betonung,  deren  schon  oben  mehrfach  gedacht 
werden  mußte,  weil  sie  oft  als  komplizierende  Nebenbedingungen 
hinzutreten.  Solcher  Veränderungen  lassen  sich  im  allgemeinen 
wieder  zwei  unterscheiden.  Die  eine  besteht  in  dem  Übergang  aus 
einer  mehr  dynamischen  in  eine  mehr  musikalische  Betonung  und 
umgekehrt,  die  andere  in  dem  Ortswechsel  der  Betonung,  der 
hauptsächlich  beim  dynamischen  Akzent  eintritt,  dabei  aber  jedes- 
mal zugleich  gewisse  Verschiebungen  der  Tonhöhe,  also  in  diesem 
Sinn  Änderungen  des  Tonakzentes  herbeiführt.  Unter  diesen  Über- 
gängen sind  die  der  ersten  Art  oben  schon  als  Momente  erwähnt 
worden,  die  offenbar  in  hohem  Grade  durch  Vokaländerungen  und 
Elisionen  sowie  indirekt  auch  durch  Wandlungen  der  Verschluß- 
laute auf  den  Lautcharakter  der  Sprache  einwirken,  die  aber  wegen 
unserer  Unkenntnis  der  Ausgangspunkte  und  des  Verlaufs  solcher 
Änderungen  zumeist  noch  der  näheren  Analyse  unzugänglich  sind 
(S.  468  ff.). 

Viel  deutlicher  lassen  sich  im  allgemeinen  diejenigen  Wirkungen 
nachweisen,  die  mit  den  Verschiebungen  der  Betonung  zusammen- 
hängen. Sie  treten  zunächst  an  den  Änderungen  hervor,  die  der 
Vokalklang  erfährt,  je  nachdem  er  einer  betonten  oder  unbetonten 
Silbe  angehört.  Dabei  durchkreuzt  sich  aber  diese  Wirkung  wiederum 
mit  einer  andern,  die  von  der  Qualität  der  umgebenden  Verschluß- 
laute abhängt.  Indem  diese  die  Mundhöhle  in  verschiedener  Weise 
verengern,  wirken  sie  zugleich  auf  die  Klangfarbe  der  umgebenden 
Vokale  ein,  und  diese  Wirkung  muß,  wie  schon  W.  Scherer  hervor- 
gehoben hat,  um  so  stärker  sein,  je  größer  die  Geschwindigkeit  der 


')  Nach  brieflichen  Mitteilungen  des  Herrn  C.  Meinhof. 


co8  Der  Lautwandel. 


Rede  ist.  Auch  wird  naturgemäß  derjenige  Vokal,  der  zu  seiner 
reinen  Intonation  die  volle  Öffnung  des  Mundraums  erfordert,  das 
offene  «,  von  solchen  Trübungen  am  meisten  getroffen.  Kommt 
dazu  noch,  wie  z.  B.  im  modernen  Englisch,  eine  Artikulationsbasis, 
die  an  und  für  sich  das  volle  Ausströmen  des  Stimmklangs  hindert, 
so  verliert  die  Sprache  gänzlich  den  reinen  a-Laut,  und  auch  die 
übrigen  Vokale  können  an  dieser  je  nach  der  Einstellung  auf  die 
nachfolgenden  Verschlußlaute  wieder  variierenden  Trübung  teil- 
nehmen^). Dem  gegenüber  ist  nun  die  dynamische  Betonung  im 
allgemeinen  stets  von  einer  doppelten  Wirkung  begleitet:  sie  erhöht 
den  Vokalklang  der  betonten,  und  sie  dämpft  die  Klangfarbe  des 
Vokals  der  folgenden  unbetonten  Silbe.  Beide  Wirkungen  geben 
sich  deutlich  an  den  Verschiebungen  zu  erkennen,  die  sie  beim 
Ortswechsel  des  Akzentes  erfahren.  Man  nehme  z.  B.  zusammen- 
gehörige Wortpaare  wie  griech.  Ttareoeg  und  än:c(TOQog,  cpgeveg 
und  ucpQoveg,  ipevdeg  und  ipsvdog,  wo  der  Kontrast  der  helleren 
Klangfarbe  des  e  und  der  dumpferen  des  o  regelmäßig  den  Orts- 
wechsel des  dynamischen  Akzentes  begleitet^).  Daß  es  sich  hier 
um  Erscheinungen  handelt,  die  zwar  durch  die  Komplikation  mit 
andern  Ursachen  mehr  oder  minder  verdeckt  werden  können,  an 
sich  aber  auf  allgemeingültigen  psychophysischen  Bedingungen  der 
Lautgebung  beruhen,  erhellt  wieder  daraus,  daß  sich  analoge  Wir- 
kungen von  selbst  einstellen,  wenn  man  experimentell  in  beliebige 
Lautgruppen  durch  willkürlichen  Wechsel  der  Betonung  die  gleichen 
Bedingungen  einführt.  Wählt  man  auch  hier  um  der  Einfachheit 
der  Bedingungen  willen  Lautgruppen  mit  überall  gleichem  Vokal, 
wie  ä/c?,  äpä^  äöä,  aba  und  ähnliche,  und  registriert  man  die 
Schwingungen  der  tönenden  Laute,  so  ist,  obgleich  in  diesem 
Falle  der  Vokalklang  für  das  Ohr  kaum  merklich  geändert  erscheint, 
doch  regelmäßig  der  betonte  Vokal  der  höhere,  was  namentlich 
dann  deutlich  hervortritt,  wenn  er  zugleich  gedehnt  ist  [apa^  äba). 
Augenscheinlich  setzt  sich  diese  Wirkung  aus  einer  physischen  und 


1)  Scherer,  Zur  Geschichte  der  deutschen  Sprache, ^  S.  56  ff.  Victor,  Elemente 
der  Phonetik,3  S.  279. 

2)  H.  Örtel,  Lectures  on  the  Study  of  Language,  1901,  p,  217.  Über  ent- 
sprechende Erscheinungen  im  Altindischen  vgl.  J.  Wackernagel,  Altindische  Gram- 
matik, I,  S.  64  ff. 


Tempo  der  Rede  und  Wortbetonung.  cqq 

einer  psychischen  Komponente  zusammen.  Rein  physikalisch  be- 
dingt nämlich  schon  die  stärkere  Bewegung  der  Stimmbänder  nicht 
bloß  durch  Beimischung  höherer  Obertöne  eine  schärfere  Klang- 
farbe, sondern  sie  erhöht  auch  den  Grundton.  Sodann  aber  ist 
jeder  Betonungswechsel  mit  einer  psychischen  Kontrastwirkung  ver- 
bunden, die  wie  jeder  Kontrast  das  Moment  der  Selbstverstärkung 
in  sich  trägt:  der  Kontrast  der  dynamischen  Betonung  assoziiert 
sich  also  mit  einem  entsprechenden  Kontrast  in  der  Empfindung 
der  Tonhöhe,  worauf  die  letztere  unmittelbar  den  Stimmton  selbst 
verändert").  Diese  Beobachtungen  zeigen,  daß  dynamischer  Akzent 
und  Tonakzent  nicht  bloß  nebeneinader  vorkommen,  sondern  daß 
sie  sich  auch  wechselseitig  beeinflussen  können.  Wenn  man  der 
einen  Sprache,  wie  dem  Englischen,  dynamische  Akzente,  einer 
andern,  z.  B.  dem  Französischen,  Tonakzente  zuschreibt,  so  handelt 
es  sich  in  der  Tat  immer  nur  um  ein  mehr  oder  minder.  Auch 
ein  Wechsel  zwischen  beiden,  wie  er  in  der  Geschichte  mancher 
Sprachen  eingetreten  ist,  wird  daher  niemals  in  einem  sprungweisen 
Übergang,  sondern  lediglich  darin  bestehen,  daß  von  den  bei  jeder 
Betonung  verbundenen  beiden  Faktoren  der  bisher  mehr  zurück- 
tretende überwiegend  wird.  Dies  kann  natürlich  so  allmählich  und 
stetig  geschehen,  daß  ein  bestimmter  Zeitpunkt  des  Wechsels  nicht 
anzugeben  ist.  Abgesehen  von  den  Berührungen  mit  andern  Sprachen 
können  hier  allmähliche  Änderungen  in  dem  psychischen  Charakter 
des  Volkes  einen  stetig  wirkenden  Einfluß  äußern,  da  Akzent  und 
Sprechmelodie,  wie  wir  bei  der  Erörterung  der  Satzbetonungen  noch 
sehen  werden,  in  hohem  Grade  von  dem  Afiekt  abhängen^). 

Nun  ist  der  Vokalismus  der  Sprache  solchen  durch  musikalische 
und    dynamische     Betonung     erzeugten    Lautänderungen     zunächst 


ij  Auch  hier  verdanke  ich  Herrn  Dr.  F.  Krueger  die  MitteiUing  mehrerer  Stimm- 
tonkurven der  obigen  Lautgruppen,  die,  mittels  der  Registrierung  der  Schild- 
knorpelschwingungen gewonnen,  außerordentlich  deutlich  die  Tonerhöhung  der  be- 
tonten Silbe  und  die  Zunahme  dieser  Tonerhöhung  mit  der  relativen  Stärke  der 
Betonung  zeigen.  Demzufolge  Ist  z.  B.  die  Erhöhung  des  zweiten  Vokals  in  apä 
merklich  größer  als  in  aba,  weil  der  starke  und  tonlose  Explosivlaut  eine  schärfere 
Akzentuierung  der  folgenden  Silbe  mit  sich  führt.  Die  Tonerhöhung  selbst  beträgt 
in  aba  durchschnittlich  etwas  mehr  als  eine  Sekunde,  in  apä  kann  sie  ungefähr 
eine  Terz  erreichen. 

2)  Vgl.  Tl.  II,  Kap.  VII,  Nr.  VH. 


5IO 


Der  Lautwandel. 


ausgesetzt.  Denn  die  Vokale  sind  es,  auf  denen  in  beiden  Fällen 
die  Betonung  ruht,  und  an  denen  nicht  minder  das  Sinken  derselben 
zum  Ausdruck  kommt.  Aber  indirekt  können  diese  Momente  doch 
auch  auf  die  angrenzenden  Verschlußlaute  zurückwirken,  ebenso 
wie  umgekehrt  die  Vokale  von  den  zwischen  sie  tretenden  und 
namentlich  von  den  ihnen  folgenden  Konsonanten  die  Klangfärbung 
empfangen,  die  der  entsprechenden  Mundstellung  zukommt. 

Unter  den  mannigfachen  hierher  gehörigen  Erscheinungen  sind 
besonders  die  auf  germanischem  Gebiet  unter  dem  Namen  des 
Vernerschen  Gesetzes  zusammengefaßten  bemerkenswert^).  Nach 
diesem  Gesetze  sind  nämlich  die  eingetretenen  Lautverschiebungen 
in  dem  Sinne  von  der  Betonung  abhängig,  daß  die  endgültige  Ver- 
schiebung eine  andere  ist,  wenn  in  der  Zeit,  da  die  Difierenzierung 
der  Laute  erfolgte,  die  dem  Verschlußlaut  vorangehende,  eine  andere, 
wenn  die  ihm  nachfolgende  Silbe  betont  war.  In  manchen  Fällen 
konnten  dann  diese  Differenzierungen  auch  solche  der  Bedeutung 
vermitteln.  So  gehen  unsere  beiden  Wörter  zeigen  und  zeihen 
(verzeihen)  wahrscheinlich  auf  ein  und  dasselbe  indogermanische 
Wort  zurück,  von  dem  auch  lat.  elico^  griech.  deUwi-ii  herstammen. 
Im  Urgermanischen  Avar  der  k-Laut,  gemäß  der  zwischen  Griechisch- 
Lateinisch  und  Germanisch  geltenden  Lautvertretung,  in  eine  Spirans 
übergegangen  (daher  got.  gateilian  erzählen).  Im  Althochdeutschen 
findet  sich  dagegen  eine  Spaltung  der  Betonungen,  der  nun  auch  eine 
Spaltung  der  Verschlußlaute  parallel  geht.  Der  dem  betonten  Vokal 
folgende  Konsonant  ist  tonlose  Spirans:  ziJian  (zeihen),  der  dem  be- 
tonten Vokal  vorausgehende  dagegen  ist  tönende  Media:  zeigen 
(zeigen).  Zahlreiche  Beispiele  dieser  konsonantischen  Lautdifferen- 
zierung infolge  der  Betonung  finden  sich  auch  im  Gotischen'^).  Ihre 
Entstehung  fällt  in  eine  Zeit,  wo  noch  nicht,  wie  in  den  späteren 
germanischen  Dialekten,  der  Akzent  auf  der  Stammsilbe  des  Wortes 
fixiert,  sondern  von  wechselnder  Lage  war.  Durchweg  induziert 
dabei  der  sinkende  Ton  eine  Lockerung  des  vorangegangenen  Ver- 
schlusses, also  stimmlose  Spirans,  umgekehrt  die  steigende  Betonung 


')  Verner,  Kuhns  Zeitschr.  f.  vergl.  Sprachwiss.  XXITI,  1877,  S.  97  ff.  Vgl.  a. 
H.  Paul,  in  Paul  und  Braune,  Beiträge  zur  Geschichte  der  deutschen  Sprache,  VI, 
1879,  S.  538  ff. 

2)  Vgl.  Kluge,  Pauls  Grundriß,^  I,  S.  506  ff. 


Zur  Theorie  des  regulären  Lautwandels.  c  I  I 

den  tönenden  Verschlußlaut,  der  durch  den  festeren  Verschluß  die 
folgende  stärkere  Exspiration  und  gleichzeitig  durch  die  bereits  in 
Schwingung  versetzten  Stimmbänder  die  nachfolgende  lautere  Voka- 
lisation  vorbereitet.  Demnach  erscheint  es  unzulässig,  den  Verner- 
schen  Satz  als  ein  Ausnahmegesetz  anzusehen,  das  die  regulären 
Lautgesetze  durchbreche.  Könnte  man  doch  ebensogut  schließlich 
die  Tatsache,  daß  wir  die  harten  Verschlußlaute  im  Anlaut  ziemlich 
stark  aspiriert  sprechen,  oder  daß  in  den  Umwandlungen  der  tönen- 
den Media  mannigfache,  von  den  umgebenden  Lauten  und  der 
Stellung  im  Wort  abhängige  Schwankungen  vorkommen ,  als  Aus- 
nahmen bezeichnen.  Jeder  Lautwandel  erfolgt  unter  den  Bedin- 
gungen, unter  denen  er  steht,  ausnahmslos.  Diese  Bedingungen 
sind  aber  für  keinen  Laut  völlig  identisch,  weil  sich  mit  den  relativ 
gleichförmigeren  Wirkungen  der  Geschwindigkeit  der  Rede,  der 
äußeren  Einwirkungen  und  der  Assoziationen  verwandter  Laute 
immer  noch  mannigfach  wechselnde  Kontaktwirkungen  der  Laute 
und  der  Betonung  verbinden  können.  Darum  ist  der  Begriff  des 
»regulären  Lautwandels«  schließlich  ein  Grenzbegriff,  der  Schwan- 
kungen innerhalb  eines  mehr  oder  weniger  großen  Intervalls  und, 
wie  gerade  bei  dem  Fall  des  Vernerschen  Gesetzes,  eine  Divergenz 
der  Lautentwicklunsfen  nicht  ausschließt. 


6.    Zur  Theorie  des  regulären  Lautwandels. 

a.    Physische,  psychophysische  und  psychische  Hypothesen. 

Insoweit  der  reguläre  Lautwandel  nicht  als  ein  der  Erkenntnis 
seiner  Ursache  völlig  unzugänglicher  Prozeß  angesehen  wird,  be- 
wegen sich  die  Versuche  ihn  zu  erklären  zwischen  drei  Möglich- 
keiten. Die  erste  Hypothese  führt  ihn  auf  allmählich  eingetretene 
Änderungen  der  physischen  Organisation  zurück,  die  entweder  aus 
den  eigenen  Entwicklungsbedingungen  des  Organismus  oder  aus 
äußeren  Natureinflüssen  hervorgegangen  sein  sollen.  Die  zweite 
stellt  die  psychophysischen  Wirkungen  der  Sprach-  und  Völker- 
mischung in  den  Vordergrund.  Eine  dritte  Gruppe  bringt  aus- 
schließlich psychische  Ursachen,  und  zwar  in  der  Regel  ästhetische 
und  teleologische  Motive,    zur   Geltung.      Über  die  erste,   physische 


512 


Der  Lautwandel. 


Hypothese  können  wir  hier  kurz  hinweggehen.  Abgesehen  von  ihrer 
Unbestimmtheit  und  von  dem  Umstand,  daß  es  kaum  möglich  er- 
scheint, Tatsachen,  die  auf  so  abweichenden  physischen  Bedingungen 
beruhen,  wie  die  Vokalkontraktionen  und  die  Lautverschiebungen 
der  Konsonanten,  aus  irgendeiner  übereinstimmenden  physischen 
Ursache  unmittelbar  abzuleiten,  weisen  die  Änderungen  der  kör- 
perlichen Organisation,  namentlich  soweit  sie  die  Artikulationsorgane 
betreffen,  überall  zugleich  auf  psychophysische  oder  psychische  Be- 
dingungen zurück.  Allem  Anscheine  nach  macht  sich  demnach  diese 
Hypothese  in  den  wesentlichsten  Punkten  einer  Umkehrung  der 
Kausalität  schuldig:  die  Sprachorgane  haben  sich  zunächst  der 
Sprache  angepaßt,  also  mutmaßlich  auch  die  Änderungen  der  ereteren 
denen  der  letzteren,  und  erst  infolge  der  bei  allen  solchen  Erschei- 
nungen stattfindenden  Wechselwirkungen  sind  dann  hinwiederum  die 
Organe  für  die  erzeugten  Laute  bestimmend  geworden.  Die  zweite, 
psychophysische  Hypothese  greift  dagegen  zweifellos  ein  wichtiges 
Moment  aller  Sprachentwicklung  heraus.  Aber  sie  vermag  es  nicht 
im  geringsten  wahrscheinlich  zu  machen,  daß  dieses  Moment  das 
,  ausschließliche,  oder  daß  es  auch  nur  das  hauptsächlich  maßgebende 
sei.  Vielmehr  gehen  gerade  die  wichtigsten  und  regelmäßigsten 
Erscheinungen,  wie  der  Wandel  der  Verschlußlaute,  die  Kontraktionen 
und  Elisionen  am  Ende  des  Wortes,  wenigstens  in  sehr  vielen  Fällen 
unabhängig  von  irgendwie  nachweisbaren  Mischungseinflüssen  vor 
sich.  So  gewinnt  es  denn  durchaus  den  Anschein,  daß  eben  diese 
Einflüsse,  wo  nicht  ausgeprägte  Fälle  der  Entstehung  von  Misch- 
sprachen vorliegen,  vornehmlich  teils  als  auslösende  Ursachen,  teils 
als  begünstigende  Bedingungen  wirken:  das  erstere,  indem  sie  zu 
lange  vorbereiteten  Änderungen  den  Anstoß  geben,  das  letztere,  in- 
dem sie  die  Ausbreitung  bereits  eingetretener  Änderungen  unterstützen. 

Wesentlich  anders  verhält  es  sich  mit  den  rein  psychologischen 
Hypothesen:  der  ästhetischen  und  der  teleologischen.  Sie  gehen, 
ohne  Rücksicht  auf  irgendwelche  äußere  Bedingungen,  auf  die  Er- 
scheinungen des  Lautwandels  selbst  zurück  und  suchen  aus  der 
Vergleichung  der  gewandelten  Laute  mit  den  ursprünglichen  die 
treibenden  Motive  der  Vorgänge  zu  entnehmen. 

Unter  ihnen  greift  nun  die  ästhetische  Hypothese  die  nächst- 
liegenden   subjektiven  Motive    bei   der    Beurteilung    menschlicher 


Zur  Theorie  des  regulären  Lautwandels.  -  j  •! 

Handlungen  heraus:  wenn  jemand  statt  einer  Sache  eine  andere 
bevorzugt,  so  sind  wir  geneigt  zu  urteilen,  diese  habe  ihm  besser 
gefallen  als  jene.  Eine  solche  Bevorzugung  braucht  natürlich  nicht 
als  eine  willkürliche  betrachtet  zu  werden;  man  kann  sie  ebensogut,  im 
Hinblick  auf  die  Allgemeinheit  der  Vorgänge,  als  ein  instinktives 
Handeln  des  > Volksgeistes«  auffassen.  In  diesem  Sinne  hat  in 
der  Tat  Jakob  Grimm  das  von  ihm  entdeckte  Gesetz  der  germa- 
nischen Lautverschiebung  gedeutet.  An  sich  erscheint  ihm  —  darin 
klingen  romantische  Einflüsse  an  —  die  Lautverschiebung  als  eine 
»Barbarei  und  Verwilderung«,  durch  die  sich  die  Sprache  von  ihrer 
ursprünglichen  »organischen  Lautstufe«  losgesagt  habe.  Aber  auf 
der  andern  Seite  liegt  ihm  doch  in  dieser  Tat  des  »Sprachgeistes«, 
deren  sich  »andere,  ruhigere  Völker  enthielten«,  ein  bewunderns- 
werter Zug,  »der  mit  dem  gewaltigen  das  Mittelalter  eröffnenden 
Vorschritt  und  dem  Freiheitsdrang  der  Deutschen  zusammenhänge«^). 
Ganz  im  Geiste  dieser  Auffassung  sah  noch  G.  Curtius  in  der  Richtung 
jener  Lautverschiebung  von  der  Aspirata  hinweg  zu  der  Media  und 
Tenuis  den  Ausdruck  der  »Tatkraft«  und  der  »jugendlichen  Rüstig- 
keit« der  Germanen^).  Doch  dieser  Versuch  scheitert  schon  an  den 
Tatsachen:  jenem  vermeintlich  mit  größerer  Energie  gepaarten 
Übergang  in  die  Tenuis  steht  nicht  nur  die  Umwandlung  der  letzteren 
in  die  Spirans,  sondern  auch  die  der  Aspirata  in  die  Media  zur 
Seite.  Hier  ist  aber  im  ersten  Fall  die  Ermäßigung  des  Verschlusses 
jedenfalls  bestimmter  ausgeprägt,  als  die  sie  etwa  begleitende  Ver- 
stärkung des  Atemstroms;  vollends  im  zweiten  Fall  besteht  die 
Veränderung  in  einer  Abnahme  statt  in  einer  Zunahme  der  Energie. 
So  hat  sich  denn  auch  Curtius  selbst  später  der  zweiten,  teleo- 
logischen Auffassung  zugewandt.  Ein  anderer  Versuch  ästhetischer 
Erklärungsweise  wurde  von  W.  Scherer,  allerdings  unter  wesent- 
licher Zuhilfenahme  teleologischer  Motive,  gemacht.  Indem  er  das 
Verlassen   des  bis  dahin  geltenden  Systems  der  Verschlußlaute  als 


^)  J.  Grimm,  Geschichte  der  deutschen  Sprache,*  I.  S.  292. 

2)  Curtius  in  Kuhns  Zeitschrift  für  vergl.  Sprachforschung,  11,  1853,  S.  331.  Fast 
genau  mit  dieser  älteren  Curtiusschen  Ansicht  kommt  die  neuerdings  von  James 
Byrne  (General  Principles  of  the  Structure  of  Language,=  II,  1892,  p.  187  f.)  ent- 
wickelte überein;  auch  sucht  dieser  Autor  die  Umwandlung  der  Aspirata  in  die 
Media  in  etwas  gekünstelter  Weise  dem  gleichen  Gesichtspunkt  unterzuordnen. 
Wundt     Völkerpsychologie!,  i.     2.  Aufl.  33 


514 


Der  Lautwandel. 


eine  lässige  Funktionsweise  der  Sprachorgane  deutet,  bezieht  er 
diese  »Lässigkeit«  auf  eine  Abziehung  der  Aufmerksamkeit  nach  einer 
andern  Richtung  hin.  Eine  solche  Attraktion  habe  aber  der  Vokal- 
klang ausgeübt:  »ihn  verlangte  man,  daran  ergötzte  man  sich,  das 
andere  war  gleichgültig«.  Diese  Poesie  der  reinen  Vokale  besitze 
vor  allem  das  Althochdeutsche.  Insbesondere  die  zweite  Lautver- 
schiebung glaubt  daher  Scherer  auf  den  »musikalischen  Sinn«  der 
Oberdeutschen  zurückführen  zu  sollen^).  Doch  der  volltönende 
Klang  ist  den  älteren  Formen  der  Sprache  überhaupt  eigen,  dem 
Altindischen  so  gut  wie  dem  Altgriechischen,  und  ob  das  Gotische, 
das  die  zweite  Lautverschiebung  nicht  mitgemacht  hat,  ihn  weniger 
besitze  als  das  Althochdeutsche,  darf  man  wohl  bezweifeln.  Der 
gesetzmäßige  Lautwandel  überhaupt  hat  in  seiner  allgemeinen  Ent- 
wicklung sicherlich  nicht  dazu  geführt,  die  Sprachen  indogermanischer 
Abkunft  musikalischer  zu  machen  —  wie  sich  das  vielleicht  von  den 
polynesischen  Sprachen  behaupten  läßt  — ,  sondern  eher  zum  Gegen- 
teil dieses  Erfolges.  Die  Lautverschiebungen  selbst  scheinen  aber 
im  allgemeinen  außerhalb  dieser  Veränderungen  zu  stehen,  die  weit 
mehr  durch  die  allmähliche  Abschleifung  und  Verkürzung  der  Wort- 
formen, also  durch  Elimination  von  Lauten,  als  durch  die  Wand- 
lungen der  Verschlußlaute  herbeigeführt  werden. 

Hiervon  geht  nun  die  teleologische  Hypothese  aus,  die  im 
allgemeinen  bis  zum  heutigen  Tage  die  Herrschaft  geführt  hat. 
Wegen  dieser  herrschenden  Rolle,  welche  sie  in  der  Psychologie 
aller  Formen  des  Lautwandels,  des  singulären  wie  des  regulären, 
spielt,  sind  die  beiden  in  ihr  vereinigten  Prinzipien  der  »Bequem- 
lichkeit «  und  der  » Erhaltung  bedeutsamer  Unterschiede «  oben 
schon  besprochen,  und  es  ist  dort  bereits  auf  die  psychologische 
Unmöglichkeit  dieser  beiden  »Triebe«  hingewiesen  worden  (S.  363  ff.). 
Bei  der  besonderen  Anwendung  auf  die  regelmäßigen  Lautver- 
schiebungen sind  aber  beide  wieder  von  verschiedenem  Erklärungs- 
wert. Der  erste,  der  Trieb  nach  Bequemlichkeit,  ließe  sich  mit 
einem  gewissen  Rechte  verteidigen.  Wenn  nicht  bei  allen,  so  trifft 
es  wenigstens  bei  mehreren  der  lautgesetzlichen  Veränderungen  zu, 
daß  die  neuen  Artikulationen  leichter  sind  als  die  vorangegangenen. 


')  W.  Scherer,  Zur  Geschichte  der  deutschen  Sprache,^   1878,  S.  151  ff. 


Zur  Theorie  des  regulären  Lautwandels.  5  I  e 

Aber  alle  diese  Erleichterungen  haben  doch  in  doppeltem  Sinn 
eine  bloß  relative  Bedeutung:  erstens  kommt  es  überall  auf  die 
benachbarten  Laute  an,  in  deren  unmittelbarer  Nähe  sich  der  dem 
Wandel  unterworfene  befindet;  und  zweitens  sind  Betonung,  Quan- 
tität, Rhythmus  und  Geschwindigkeit  der  Aufeinanderfolge  auf  die 
größere  oder  geringere  Leichtigkeit  einer  einzelnen  Lautbewegung 
von  entscheidendem  Einfluß.  Wörter  wie  Tä/,  Pest^  Kind  sprechen 
wir  aspiriert,  T^al^  P^est^  K^ind^  und  es  wird  uns  sehr  schwer, 
sie  unaspiriert  zu  sprechen;  bei  Wörtern  wie  Spafi^  Traube^  Acker 
gelingt  es  kaum,  die  drei  Laute  p,  /,  k  deutlich  zu  aspirieren.  Nach 
langem  Vokal  entsteht,  wie  schon  oben  bemerkt,  leichter  die 
Media,  z.  B.  räb^  täd^  läg^  dem  kurz  herausgestoßenen  folgt  die 
Tenuis:  räp^  tat^  lak.  So  gibt  es  denn  auch  Lautverbindungen,  in 
denen  offenbar  infolge  derartiger  Verhältnisse  Laute  unverändert 
blieben,  die  sonst  verschoben  worden  sind,  wie  z.  B.  die  drei  Ver- 
schlußlaute in  sp^  st^  sk  —  man  vergleiche  got.  standan  ahd.  stän 
^stehen',  engl,  to  spare  ahd.  spar  "^sparen'  u.  a.  Auf  diese  Weise 
ist  der  Eintritt  oder  Nichteintritt  einer  Lautverschiebung  überall 
mitbestimmt  durch  die  Kontaktwirkungen  der  Laute.  Insofern 
aber  diese  ihrerseits  wieder  mitbestimmt  sind  durch  die  von  ihnen 
bewirkte  Erleichterung  der  Artikulation,  wird  in  der  Tat  die  Annahme 
nahegelegt,  daß  diese  bei  der  Lautverschiebung  eine  wichtige  Rolle 
spielt.  Eine  andere  Frage  ist  es  jedoch,  ob  diese  Erleichterung 
da,  wo  sie  tatsächlich  eintritt,  als  Wirloing  eines  »Triebes  nach 
Bequemlichkeit«  bezeichnet  werden  darf.  Macht  doch  der  Laut- 
wandel gerade  da,  wo  er  unzweifelhaft  die  Artikulation  erleichtert, 
den  Eindruck  eines  mit  mechanischer  Notwendigkeit  und  nicht 
unter  der  Wirkung  irgendeines  bewußten  oder  selbst  unbewußten 
»Strebens«  sich  vollziehenden  Vorgangs.  Dieser  Ausdruck  schließt 
eben  unvermeidlich  irgendein  Willensmoment  ein,  von  dem  hier 
nirgends  die  Rede  sein  kann.  Mag  man  also  immerhin  zugeben, 
daß  der  Hinweis  auf  die  leichtere  Artikulation  einen  richtigen  Ge- 
danken birgt,  der  nur  in  dem  »Bequemlichkeitstrieb«  einen  unge- 
eigneten Ausdruck  fand,  so  ist  die  zur  Ergänzung  dieses  Triebes 
herbeigezogene  Hypothese  des  »Strebens  nach  Erhaltung  bedeut- 
samer Unterschiede«  völlig  verfehlt^).  Denn  hier  ist  schon  der 
')  Vgl.  oben  S.  366. 

33* 


c  j  5  Der  Lautwandel. 


historische  Ausgangspunkt  unhaltbar,  nach  welchem  ein  bestimmter 
Verschiebungsvorgang,  und  zwar  derjenige,  der  dem  ursprüng- 
lichen Motiv  der  Bequemlichkeit  am  meisten  unterworfen  war, 
überall  der  primäre  gewesen  sei,  worauf  dann  die  weiteren  Ver- 
schiebungen deshalb  eintreten  sollen,  weil  sonst  eine  allzu  große 
Anhäufung  von  Lauten  einer  Klasse  entstünde.  So  meinte  schon 
Grimm,  das  erste  sei  gewesen,  daß  sich  die  tönende  Media  zur 
tonlosen  Tenuis  »verdünnt«,  worauf  sich  durch  die  weiteren  Ver- 
schiebungen erst  wieder  das  »richtige  Verhältnis  der  Laute«  habe 
herstellen  müssen.  Curtius  verlegte  jenen  ersten  Schritt  in  die  Ab- 
schwächung  der  aspirierten  Verschlußlaute,  um  dann  die  übrigen 
Verschiebungen  dem  Gesichtspunkt  der  zweckmäßigen  Lautverteilung 
unterzuordnen.  Max  Müller  behauptete,  bei  den  germanischen 
Stämmen  sei,  als  sie  in  den  Verschiebungsprozeß  eintraten,  noch 
eine  Erinnerung  an  die  dreifachen  Verschlußlaute  ihrer  arischen 
Vorfahren  erhalten  geblieben,  und  sie  seien  daher  bemüht  gewesen, 
»so  gut  wie  möglich  diesem  dreifachen  Anspruch  zu  genügen«^). 
Hier  wird  also  gar  das  Differenzierungsbedürfnis  damit  motiviert, 
daß  den  Urgermanen  die  Fähigkeit  der  Vergleichung  mit  dem  vor 
Beginn  der  Verschiebung  vorhandenen  Lautsystem  zugeschrieben 
wird. 

Nun  ist  jede  einzelne  Lautverschiebung  insofern  ein  unabhän- 
giger Vorgang,  als  es  keine  gibt,  die  erst  durch  die  absichtliche 
Vergleichung  mit  andern  Veränderungen  veranlaßt  wäre.  Der  ge- 
setzmäßige Zusammenhang  aller  dieser  einzelnen  Verschiebungsakte 
spricht  aber  zugleich  dafür,  daß  es  wesentlich  übereinstimmende 
Ursachen  waren,  unter  denen  sie  erfolgten.  Doch  die  eintretende 
Wirkung  ist  überall  von  den  begleitenden  Bedingungen  abhängig. 
Abweichende  Bedingungen  ergaben  sich  nun  bei  einem  und  dem- 
selben Laut  je  nach  seinen  Verbindungen  mit  andern  Lauten. 
So  erklärt  sich  die  Reihe  der  durch  den  Kontakt  der  Laute  be- 
gründeten Variationen.  Eine  übereinstimmende  Natur  der  Ur- 
sachen   wird    daher    trotz    solcher    Verschiedenheit    offenbar    dann 


I)  Diese  merkwürdige  Vorstellung  ist  aus  der  ersten  Auflage  der  >Vorlesungen 
über  die  Wissenschaft  der  Spraclie<  (1866,  IT,  S.  194)  noch  unverändert  in  die 
neueste  (1893,  n,  S.  224)  übergegangen. 


Zur  Theorie  des  regfulären  Lautwandels. 


517 


vorauszusetzen  sein,  wenn  diese  Wirkungen  gleichwohl  überein- 
stimmende Richtungen  erkennen  lassen;  und  den  Grund  solcher 
übereinstimmenden  Richtungen  wird  man  auch  hier  wieder  am 
wahrscheinlichsten  in  Bedingungen  suchen  dürfen,  die  uns  heute 
noch  fortwährend  in  gewissen  allmählich  erfolgenden  Lautände- 
rungen entgegentreten.  Hier  spielen  aber,  wie  uns  sowohl  die  Er- 
scheinungen des  Versprechens  wie  die  unserer  Beobachtung  er- 
reichbaren singulären  Lautänderungen  der  Sprache  gelehrt  haben, 
ästhetische  oder  teleologische  Motive  nirgends  eine  nennenswerte 
Rolle,  sondern  die  Erscheinungen  sind  überall  not\vendige  Folgen 
J)sychophysischer  Bedingungen,  die  im  allgemeinen  gänzlich  außer- 
halb  der  Sphäre  willkürlicher  Beurteilung   und  Beeinflussung  liegen. 

b.    Der  reguläre  Lautwandel  als  resultierende  Wirkung  der  singulären 

Lautänderungen. 

Sucht  man  sich  über  die  Gründe  Rechenschaft  zu  geben,  aus 
denen  die  ästhetische  und  die  teleologische  Theorie  der  regulären 
Lautänderungen,  jede  für  sich  allein  und  beide  in  ihrer  Verbindung, 
gescheitert  sind  und  notwendig  scheitern  mußten,  so  liegen  diese 
nicht  bloß  in  der  mangelhaften  Reflexionspsychologie,  mit  der  sie 
operierten,  sondern  noch  in  einem  allgemeineren  erkenntnistheore- 
tischen Fehler,  der  freilich  selbst  mit  jener  Reflexionspsychologie 
eng  verbunden  ist.  Er  besteht  kurz  gesagt  darin,  daß  man  gene- 
relle Erscheinungen  aus  zufälligen  individuellen  Motiven  abzuleiten 
sucht;  und  er  hängt  zugleich  mit  der  oben  (S.  398)  schon  charak- 
terisierten Hypothese  zusammen,  nach  der  jede  generelle  Erschei- 
nung zuerst  einmal  in  irgendeinem  Individuum  entstanden  sei  und 
sich  dann  auf  dem  Wege  der  Nachahmung  weiter  verbreitet  habe. 
Dem  gegenüber  liegt  jenen  Hypothesen,  die  diese  Vorgänge  aus 
Veränderungen  der  Naturbedingungen  oder  aus  Völkerwanderungen 
und  Sprachmischungen  ableiten  wollen,  immerhin  der  richtige  Ge- 
danke zugrunde,  daß  allgemeine  Wirkungen  insgemein  auch  all- 
gemeine Ursachen  voraussetzen.  Aber  obgleich  es  wahrscheinlich 
ist,  daß  die  genannten  Momente  nicht  selten  von  mitwirkendem 
Einfluß  sind,  so  erweisen  sie  sich  doch  der  Regelmäßigkeit  und 
allgemeinen  Übereinstimmung  der  Erscheinungen  gegenüber  als 
unzulänsflich.     Dazu  kommt,  daß  man  auch  hier  für  die  Gesamtheit 


e  j  8  Der  Lautwandel. 


dieser  Phänomene  eine  einzige  Ursache  oder  mindestens  eine  fest 
bestimmte  Kategorie  von  Ursachen  voraussetzt.  Dieses  Streben 
nach  einem  einzigen,  allgemeingültigen  Erklärungsgrund  hat  aber 
wiederum  seine  Quelle  in  einem  Vorurteil,  das  in  der  häufig  ge- 
brauchten Bezeichnung  »selbständiger  Lautwandel«  seinen  Ausdruck 
findet.  Indem  man  diesen  zu  dem  »abhängigen«  oder  »kombina- 
torischen« in  einen  Gegensatz  bringt,  verbindet  sich  damit  die 
Vorstellung  einer  totalen  Verschiedenheit  beider  Formen,  derart, 
daß  von  den  Ursachen,  die  den  kombinatorischen  Wandel  bestim- 
men, bei  dem  selbständigen  nicht  die  Rede  sein  könne.  Vollends 
aber  gilt  bei  diesem  die  Mit^virkung  assoziativer  Einflüsse,  wie  sie 
in  den  Fernewirkungen  hervortreten,  um  so  mehr  als  ausgeschlossen, 
weil  solche  nicht  sejten  die  Wirkungen  des  regelmäßigen  Laut- 
wandels aufheben  können.  So  gilt  denn  dieser  als  die  eigentliche 
Norm.  Der  Ausdruck  >  Lautgesetze «  wird  nur  auf  ihn  oder  auf 
sonstige  Lautänderungen  höchstens  widerstrebend,  um  den  fatalen 
Begriff  der  »Ausnahme«  zu  vermeiden,  angewandt.  Jener  »selb- 
ständige« Lautwandel  soll  aber,  wie  das  Wort  andeutet,  den  ein- 
zelnen Laut  als  solchen,  ganz  unabhängig  von  den  Lautverbin- 
dungen, in  denen  er  steht,  und  natürlich  auch  von  allen  assozia- 
tiven Einflüssen  ergreifen. 

Nun  kommen  Einzellaute,  wie  sie  hier  als  Objekte  einer  selb- 
ständigen Änderung  vorausgesetzt  werden,  in  der  wirklichen  Sprache 
natürlich  nicht  vor.  Sie  sind  im  Grunde  genommen  Abstraktionen 
des  Grammatikers  oder  Phonetikers,  der  erst  den  einzelnen  Laut 
aus  dem  Zusammenhang  der  Rede  loslöst.  Da  aber  jeder  Laut 
nur  in  mancherlei  Verbindungen  mit  andern  Lauten  existiert,  so 
kann  er  auch  nur  in  diesen  Verbindungen  Wandlungen  erfahren. 
Damit  wird  es  von  vornherein  höchst  unwahrscheinlich,  daß  ein 
solcher  Wandel  trotzdem,  von  allen  begleitenden  Lauten  unab- 
hängig, nur  in  dem  isoliert  gedachten  Einzellaut  selbst  sein  Objekt 
haben  sollte.  In  der  Tat  zeigt  auch  die  Beobachtung,  daß  dies 
niemals  der  Fall  ist,  und  daß  man  nur  dadurch  zu  dem  Begriff 
eines  »unabhängigen«  Lautwandels  gelangen  konnte,  weil  man  von 
mehr  oder  minder  erheblichen  Unterschieden  der  Laute,  die  nach- 
weislich von  ihrem  Zusammenhang  mit  andern  herrühren,  abstra- 
hierte.     Die  Belege  hierzu  sind  uns  oben  überall  begegnet.     Sucht 


Zur  Theorie  des  regulären  Lautwandels.  n;ig 

auch  der  Phonetiker  solchen  Unterschieden  durch  die  Einführung 
einer  größeren  Anzahl  von  Lautzeichen  nachzukommen,  so  ist 
doch  nicht  entfernt  daran  zu  denken,  daß  er  dabei  die  wirklichen 
Unterschiede  erschöpfen  könnte.  Nicht  anders  steht  es  mit  den 
Vokalen,  die  wieder,  abgesehen  von  nicht  unbeträchtlichen  indi- 
viduellen Abweichungen,  teils  von  den  vorangehenden,  teils  aber 
und  namentlich  von  den  nachfolgenden  Konsonanten,  endlich  von 
der  Betonung  in  ihrer  Klangfärbung  und  Tonhöhe  bestimmt  sind, 
wobei  die  letzteren  Verhältnisse  ebenso  mit  den  variableren  Motiven 
der  Affekterregung  wie  mit  den  konstanteren  assoziativer  Einübung 
zusammenhängen.  Diese  Momente  in  ihrer  Vereinigung  bedingen 
es  dann,  daß  Akzent  und  Tonfall  zu  einer  gegebenen  Zeit,  neben 
fortwährenden  leiseren,  von  der  momentanen  Gefühlslage  und  dem 
spezifischen  Inhalt  des  Gesprochenen  abhängigen  Schwankungen, 
eine  konstante  Regelmäßigkeit  zeigen,  die  sich  nur  innerhalb  län- 
gerer Zeiten  oder  unter  dem  Einfluß  sonstiger  starker  Veränderun- 
gen der  Sprache  wandeln  können.  Hier  erhebt  sich  eben  überall 
auf  der  Basis  des  durch  assoziative  Gewöhnung  stabil  gewordenen 
Besitzes  ein  Strom  beweglicher  Einflüsse,  die  dem  Ausdruck  seine 
dem  singulären  Fall  entsprechende  Färbung  geben. 

Nach  allem  dem  ist  der  reguläre  Lautwandel  kein  Vorgang,  der 
eine  fest  bestimmte  frühere  Lautform  mit  einer  ebenso  bestimmt  zu 
fixierenden  späteren  stetig  verbindet.  Seinen  Anfang  wie  sein  Ende 
bildet,  wenn  er  noch  so  regulär  verläuft,  kein  einzelner  Laut,  son- 
dern ein  Spielraum  von  Lautbildungen,  wobei  die  im  einzelnen  Fall 
wirklich  vorhandene  jeweils  von  den  besonderen  Bedingungen  der 
Lautumgebung  und  der  Betonung  abhängt.  Und  wie  Anfang  und 
Ende,  so  sind  alle  zwischenliegenden  Stationen  durch  Lautformen 
bezeichnet,  die  sich  innerhalb  eines  mehr  oder  weniger  breiten 
Intervalls  feinerer  Lautabwandlungen  bewegen.  Nun  ist  jede  Varia- 
tion, die  ein  Laut  innerhalb  eines  solchen  Spielraums  erfährt, 
nachweislich  von  den  singulären  Bedingungen  abhängig,  denen  er 
hierbei  begegnet,  also  vom  Kontakt  mit  andern  Lauten,  von  asso- 
ziativen Fernewirkungen,  durch  die  verwandte  oder  ähnliche  Wort- 
und  Lautformen  angleichend  aufeinander  einwirken,  und  endlich 
von  den  Verhältnissen  der  Betonung.  Jener  Spielraum  selbst  ist 
also  im  einzelnen  Fall  eine  Funktion  der  Einflüsse,  die  der  singulare 


520 


Der  Lautwandel. 


Lautwandel  mit  sich  führt:  der  Laut  ist  in  dieser  ihm  eigenen 
Variabilität  selbst  nichts  anderes  als  ein  Produkt  der  Wirkungen, 
welche  die  Ursachen  des  singulären  Laut\vandels  auf  ihn  ausüben. 
Mit  dieser  Abhängigkeit  der  Schwankungen  des  regulären  Laut- 
wandels vom  singulären  hängt  nun  noch  eine  weitere,  durch  die 
Erfahrung  bestätigte  Beziehung  beider  zusammen.  Es  ist  selbst- 
verständlich, daß  alle  die  psychophysischen  Einflüsse,  die  auf  die 
Erscheinungen  des  singulären  Laut^vandels  einwirken,  auch  den 
regulären  nicht  unberührt  lassen  können.  Nun  sind  jene  Einflüsse 
bei  den  beiden  Hauptformen  des  ersteren,  den  Kontakt-  und  den 
Fernewirkungen,  wieder  von  wesentlich  abweichender,  wenn  auch 
in  gewissen  Grundmotiven  psychophysischer  Entwicklung  überein- 
stimmender Art.  Bei  den  Kontaktwirkungen,  vor  allem  bei  den 
innerhalb  der  bekannteren  Kultursprachen  eine  so  große  Rolle 
spielenden  regressiven  Assimilationen,  wirkt  als  nächstes,  seiner- 
seits wieder  vornehmlich  von  psychischen  Bedingungen  abhängiges 
Moment  die  Beschleunigung  des  Redeflusses.  Diese  Ursache  ist 
hier  deshalb  so  zwingend,  weil  wir  den  ganzen  Vorgang  in  der 
Regel  ohne  weiteres  experimentell  nachahmen  können:  die  meisten 
Kontaktwirkungen  treten  sofort  ein,  wenn  wir,  von  einem  ihnen 
vorausgehenden  Lautstadium  ausgehend,  die  Artikulation  beschleu- 
nigen. Dazu  kommen  dann  noch  die  Wirkungen  der  Betonung, 
die  sich  mit  denen  der  Beschleunigung  komplizieren.  Nun  muß 
natürlich  jeder  Einfluß,  der  die  Kontaktwirkungen  verändert,  auch 
den  Spielraum  der  Artikulationen,  innerhalb  deren  sich  der  reguläre 
Lautwandel  bewegt,  verändern,  und  zwar  nicht  bloß  in  seinem 
Umfang,  sondern  vor  allem  darin,  daß  er  die  Lage  des  Intervalls 
verschiebt,  in  welchem  sich  die  um  einen  bestimmten  mittleren 
Normallaut  gruppierten  Variationen  bewegen.  Der  reguläre  Laut- 
wandel selbst  ist  also  nicht  bloß  in  den  von  besonderen  Bedin- 
gungen abhängigen  Schwankungen,  sondern  in  seiner  eigenen  Be- 
wegung von  den  gleichen  Bedingungen  abhängig,  die  den  singu- 
lären bestimmen:  von  den  Kontaktwirkungen,  der  Lage  der  Beto- 
nung, und  somit  von  der  im  allgemeinen  mit  steigender  Kultur  und 
geistiger  Beweglichkeit  zunehmenden  durchschnittlichen  Geschwin- 
digkeit des  Redeflusses. 

Wie  der  Kontakt  der  Laute,   so  kann  aber  auch  die  assoziative 


Zur  Theorie  des  regulären  Lautwandels.  52  I 

Fernewirkung  derselben,  sobald  sie  in  zahlreichen  singulären  Fällen 
übereinstimmende  Lautänderungen  herbeiführt,  auf  den  regulären 
Lautwandel  nicht  ohne  Einfluß  bleiben.  Nur  ist  dieser  Einfluß,  wie 
in  seinen  Ausgangspunkten,  so  in  seinen  Erfolgen  ein  wesentlich 
anderer.  Während  bei  den  Kontaktwirkungen  der  Mechanismus 
der  Artikulation  das  nächste,  der  psychische  Mechanismus  des 
Vorstellungs-  und  Aff'ektverlaufs  nur  das  entferntere  Moment  ab- 
gibt, geht  die  assoziative  Fernewirkung  direkt  auf  diesen  Verlauf 
zurück.  Darum  nehmen  die  Assoziationseinflüsse  mit  wachsender 
geistiger  Beweglichkeit  ebenso  zu  wie  die  Kontaktwirkungen.  Aber 
diese  Einflüsse  gehen  nach  einer  andern  Richtung.  Wirken  die 
Lautkontakte  differenzierend,  indem  sie  jeweils  die  einzelne 
Lautqualität  den  spezifischen,  durch  die  Umgebung  bestimmten 
Artikulationsbedingungen  anpassen,  so  wirken  umgekehrt  die  Laut- 
assoziationen uniformierend,  indem  sie  solchen  Lautgruppen  und 
Einzellauten,  die  durch  häufigen  Gebrauch  in  höherem  Maß  ein- 
geübt sind,  mehr  und  mehr  das  Übergewicht  verschaflen  über  an- 
dere, seltenere.  Direkt  nachweisen  läßt  sich  begreiflicherweise  diese 
Wirkung  nur  da,  w^o  solche  Lautangleichungen  in  die  Wortbildung 
eingreifen  und  entweder  einzelne  Abweichungen  oder,  wenn  diese 
sich  häufen,  schließlich  neue  Bildungsformen  verursachen,  wie  uns 
das  überall  bei  den  früher  erörterten  Beispielen  assoziativer  Ferne- 
wirkungen entgegentrat  (S.  443  ß".).  Doch  w^erden  naturgemäß  solche 
Assoziationen  und  daraus  entspringende  Lautangleichungen  überall 
und  auch  in  solchen  Fällen  stattfinden,  wo  sie  sich  nicht  ohne 
weiteres  in  der  Umwandlung  früher  bestandener  Flexionsformen 
oder  in  der  offenkundigen  Anlehnung  eines  bestimmten  Wortes 
an  ein  anderes  zu  erkennen  geben.  Insbesondere  werden  diese 
Fernewirkungen  im  Zusammenhange  mit  den  Einflüssen  der  Laut- 
kontakte in  doppeltem  Sinne  vorauszusetzen  sein.  Erstens  muß  eine 
durch  Lautkontakt  bewirkte  Änderung  der  Artikulation  um  so  mehr, 
je  häufiger  sie  sich  wiederholt,  den  gesamten  Zustand  der  Sprach- 
organe und  damit  die  Artikulationsbasis,  die  jede  einzelne  Laut- 
gebung  bestimmt,  beeinflussen.  Zweitens  aber  übt,  wie  gerade 
die  sogenannten  »Analogiebildungen«  in  ihren  nach  rein  lautlichen 
Assoziationen  auftretenden  Formen  zeigen,  jeder  häufig  wiederholte 
Laut    eine    assoziative  Wirkung    aus,    die    zu    seiner  Wiederholung 


522 


Der  Lautwandel. 


disponiert,  so  daß  ein  anderer,  bis  dahin  verschiedener  ihm  ange- 
glichen wird.  Nimmt  man  nun  diese  uniformierende  mit  jener 
differenzierenden  Wirkung  der  Lautkontakte  und  wechselnden  Be- 
tonungsverhältnisse zusammen,  so  bietet  sich  für  die  Entstehungs- 
möglichkeit irgendwelcher  mehr  oder  minder  regulärer,  das  heißt  von 
dem  Zusammenhang  der  Laute  innerhalb  eines  gewissen  Spielraums 
anscheinend  unabhängiger  Lautänderungen  das  folgende  Bild.  Unter 
den  Kontaktwirkungen  der  Laute  wirken  solche,  die  sich  in  einer 
großen  Zahl  von  Fällen  wiederholen,  auf  den  Artikulationsmecha- 
nismus in  ihrem  Sinn  umbildend  zurück,  und  sie  wirken  außerdem 
assoziativ  auf  die  gleichen  Laute,  zunächst  wenn  sich  diese  in  ähn- 
lichen, dann  aber  auch  wenn  sie  sich  in  etwas  abweichenden  Ver- 
bindungen befinden,  x^uf  diese  Weise  bildet  sich  allmählich  aus 
einer  Reihe  von  Fällen  singulärer  Lautänderungen  ein  regulärer 
Lautwandel,  der  freilich  in  dem  Spielraum,  den  er  den  Einflüssen 
von  Kontakt  und  Betonung  im  einzelnen  Falle  läßt,  immer  noch  die 
Spuren  seines  Ursprungs  an  sich  trägt.  Die  Richtungen,  in  denen 
sich  der  so  entstandene  reguläre  Lautwandel  bewegt,  sind  aber 
wieder  unter  sich  um  so  übereinstimmender,  je  mehr  die  Ausgangs- 
punkte dieser  Veränderungen,  die  einzelnen  Kontakt^virkungen,  aus 
einer  übereinstimmenden  Ursache  entspringen.  Eine  solche  ist  nun 
in  der  Tat  in  der  mit  wachsender  Kultur  zunehmenden  Sprach- 
übung und  in  der  hiermit  zusammenhängenden  Beschleunigung  der 
Artikulation  gegeben.  Für  die  Art  wie,  und  insbesondere  für  die 
Zeitpunkte  wo  solche  Änderungen  hervortreten,  ist  jedoch  stets  zu- 
gleich eine  Fülle  äußerer  Bedingungen  von  bestimmendem  Einfluß. 
Hier  mögen  teils  plötzliche  Völkerbewegungen,  teils  Berührungen 
mit  andern  Dialekten  oder  Sprachen,  teils  Änderungen  der  Verkehrs- 
verhältnisse als  auslösende  Kräfte  wirken  und  verhältnismäßig  rasch 
Wandlungen  hervorbringen,  die  vielleicht  lange  zuvor  schon  vorbe- 
reitet waren,  aber  wirkungslos  blieben,  weil  die  nämlichen  assozia- 
tiven Fernewirkungen,  die  in  günstigen  Momenten  die  Ausbreitung 
einer  Lautänderung  von  einzelnen  Kontaktwirkungen  aus  über  das 
ganze  Gebiet  der  Sprache  vermitteln,  da,  wo  die  auslösenden  Be- 
dingungen fehlen,  als  retardierende  Momente  wirken.  Denn  gerade 
jene  Assoziationen  lassen  hinwiederum  die  überlieferte  Lautform 
auch  da  noch  festhalten,   wo  ihr  der  psychophysische  Mechanismus 


Zur  Theorie  des  regulären  Laiit\Yandels.  ^2X 


der  Sprache  eigentlich  schon  entwachsen  ist.  Darum  ist  es  nun  in 
den  Zeiten  solcher  Umwandlungen  die  junge,  durch  solche  fest- 
gefügte Assoziationen  weniger  gebundene  Generation,  die  sich  den 
neuen  Einflüssen  zugänglicher  zeigt. 

Auf  diese  Weise  stellt  sich  der  Laut^vandel  schließlich  als  ein 
in  allen  seinen  Erscheinungen  gleichartiger  und  zusammen- 
hängender psychophysischer  Vorgang  dar.  Wohl  steht  dieser 
Vorgang  unter  einer  Fülle  mannigfach  ineinander  greifender  Be- 
dingungen, die  in  einer  zumeist  unserer  näheren  Nachweisung  ent- 
zogenen Weise  die  Schnelligkeit  der  Veränderungen,  ihre  Inter- 
missionen  und  dann  wieder  ihre  oft  plötzlichen  Fortschritte  veranlassen 
mögen.  Aber  die  durchgreifenden  Ursachen  selbst  sind  nicht  für 
die  eine  Gruppe  von  Erscheinungen  diese,  für  eine  andere  jene, 
sondern,  wie  die  Sprache  selbst  ein  organisches  Ganzes  ist,  so  ist 
sie  auch  in  allen  ihren  Teilen,  in  ihren  begrenzteren  wie  in  ihren 
umfassendsten  Wandlungen  schließlich  von  dem  gleichen  Strom  der 
Entwicklung  beherrscht,  der  sie  als  die  nächste  Ausdrucksform  des 
geistigen  Lebens  der  Gemeinschaft  in  ihrem  ganzen  Sein,  nach  Laut 
wie  Begriffsinhalt,  ergreift.  Die  entscheidenden  Einflüsse  sind  dabei 
die  Kultureinflüsse,  wie  sie  sich  nicht  zum  geringsten  Teil  in  der 
Beweglichkeit  der  Vorstellungen  und  Gefühle  und  in  dem  Reichtum 
und  der  zunehmenden  Erleichterung  der  Gedankenverbindungen 
äußern.  Diese  psychischen  Wandlungen  wirken  naturnotwendig 
zurück  auf  das  ursprünglichste  Organ  des  psychischen  Lebens,  auf 
die  Sprache;  und  sie  wirken,  wie  alle  Ursachen,  zunächst  auf  einzelne, 
der  Veränderung  durch  geringere  Widerstandskraft  leichter  zugäng- 
liche Punkte.  Solche  Punkte  sind  jene  Verkettungen  der  Artikula- 
tionsbewegungen, die  dem  über  sie  weggleitenden  Redestrom,  sobald 
sich  dieser  beschleunigt,  besondere  Schwierigkeiten  bieten,  indes 
zugleich  der  Lauf  der  Vorstellungen  der  Trägheit  der  Bewegung 
vorauseilt:  so  entstehen  als  die  mutmaßlichen  Ausgangspunkte  aller 
Veränderungen  die  Kontaktwirkungen  der  Laute.  Sie  bilden  dann 
die  Herde,  von  denen  aus  sich  die  einmal  eingeleiteten  Wandlungen 
durch  die  allezeit  rege  assoziative  Verkettung  der  Worte  und  Laute 
und  durch  die  langsamer  folgende  Umbildung  der  Artikulations- 
organe weiter  ausbreiten.  Daneben  greifen  dann  in  diese  unter  der 
Macht  der  allgemeinen  Kultureinflüsse  stehenden  Vorgänge  noch  die 


524 


Der  Lautwandel. 


spezielleren,  von  Ort  zu  Ort  und  von  Zeit  zu  Zeit  wechselnden 
Bedingungen.  So  bildet  hier,  wie  überall,  nicht  das  Reguläre,  sondern 
das  Singulare  den  Anfang.  Dieses  Singulare  ist  aber  kein  individueller, 
an  einem  Einzelnen  zufällig  einmal  sich  ereignender  Vorgang,  sondern 
es  ist  eine  einzelne,  durch  einen  bestimmten  Lautkontakt  oder  durch 
eine  spezielle  Assoziation  ausgelöste  Veränderung,  die,  weil  die  Be- 
dingungen überall  zu  ihr  bereit  liegen,  in  unzähligen  Fällen  unab- 
hängig sich  wiederholen  kann.  Noch  weniger  ist  es  eine  Ausnahme, 
die  eine  über  allen  einzelnen  Erscheinungen  schwebende  universelle 
Gesetzmäßigkeit  störend  unterbricht.  Vielmehr  ist  das  Reguläre  selbst 
nichts  anderes  als  die. Reihe  übereinstimmender  Vorgänge,  die  aus 
einer  Fülle  singulärer  Bedingungen  von  übereinstimmender  Richtung 
als  notwendige  Resultante  hervorgeht. 

Diese  Auffassung  bestätigt  sich  denn  auch  darin,  daß  uns  die 
Erscheinungen  des  regulären  Lautwandels  in  ihrer  ausgeprägtesten 
Gestalt  in  den  Sprachen  der  fortgeschrittensten  Kulturvölker  ent- 
gegentreten. Bei  ihnen  haben  offenbar  die  aus  den  allgemeinen 
Kultureinflüssen  hervorgehenden  psychophysischen  Ursachen,  ab- 
gesehen von  den  in  solchen  Entwicklungen  überall  vorkommenden 
Intermissionen ,  am  dauerndsten  eingewirkt;  und  zugleich  haben 
hier  die  fortwährend  dazwischentretenden  neuen  singulären  Wir- 
kungen an  dem  Zusammenhalt  der  Sprachgemeinschaft  eine  ge- 
wisse Schranke  gefunden.  Je  tiefer  die  Kulturstufe,  um  so  mehr 
überwuchern  dagegen  die  singulären  über  die  regulären  Lautände- 
rungen, so  daß  schließlich  bei  den  zersprengt  lebenden  wilden 
Stämmen,  wie  den  brasilianischen  Waldindianern,  fast  jede  Horde 
ihre  besonderen  Lautabweichungen  zeigt,  die  vielleicht  nach  wenigen 
Generationen  wieder  verschwinden  und  neuen  Abweichungen  Platz 
machen  können. 

Ist  diese  Auffassung  die  richtige,  so  hat  nun  freilich  diejenige 
Betrachtungsweise,  mit  der  man  zuerst  den  Erscheinungen  des  Laut- 
wandels gegenübertrat,  ihre  völlige  Umkehrung  erfahren.  Dennoch, 
so  merkAvürdig  sich  diese  Umkehrung  auf  den  ersten  Blick  aus- 
nehmen mag,  so  leicht  verständlich,  ja  selbstverständlich  ist  sie. 
Abgesehen  von  vereinzelten  Fällen  assimilativer  Kontaktwirkungen 
relativ  späten  Ursprungs,  die  der  Aufmerksamkeit  nicht  leicht  ent- 
gehen konnten,  mußten  sich  naturgemäß  die  regulären  Erscheinungen 


Zur  Theorie  des  regulären  Lautwandels.  C2C 

des  Lauüvandels  am  frühesten  der  Beachtung  aufdrängen.  Sie 
wurden  daher  als  eine  alles  beherrschende  Gesetzmäßigkeit  betrachtet; 
und  wo  sich  nun  Fälle  darboten,  die  sich  solcher  Gesetzmäßigkeit 
entzogen,  da  erschienen  sie  als  Ausnahmen,  die  jedesmal  aus  beson- 
deren Ursachen  abzuleiten  seien.  So  entstand  der  Begriff  der 
»falschen«  Analogien,  nach  dem  alle  diese  Fälle  gewissermaßen  als 
Entgleisungen  erschienen,  die  aus  bösem  Beispiel  hervorgegangen 
seien.  Nun  war  es  freilich  von  Anfang  an  merkwürdig,  daß 
man  zwar  diese  singulären  Ausnahmen  meist  mit  einer  gewissen 
Wahrscheinlichkeit  auf  bestimmte  psychophysische  Ursachen  zurück- 
führen konnte,  daß  dagegen  der  Ursprung  der  regulären  Ver- 
änderungen völlig  im  Dunkeln  blieb.  Wo  man  sich  je  einmal  in 
hypothetischer  Weise  über  diesen  Ursprung  Rechenschaft  gab,  da 
waltete  dann  begreiflicherweise  das  Streben,  jene  eben  wegen 
ihrer  Regelmäßigkeit  auf  eine  einzige  Ursache  zurückzuführen,  indes 
für  die  singulären  Veränderungen  bereitwillig  eine  Komplikation 
mannigfacher  Einflüsse  zugestanden  wurde.  Die  nähere  Betrachtung 
hat  uns  gezeigt,  daß  gerade  das  Gegenteil  richtig  ist.  Die  Kontakt- 
erscheinungen und  die  assoziativen  Fernewirkungen  sind  nur  deshalb 
der  Nachweisung  ihrer  Ursachen  zugänglicher,  weil  sie  unter  ver- 
hältnismäßig einfacheren  Bedingungen  stehen.  Bei  dem  regulären 
Lautwandel  ist  es  dagegen  die  Komplikation  der  Bedingungen,  die 
durch  die  Interferenz  zahlreicher  bald  in  gleichem,  bald  in  ab- 
weichendem Sinne  wirkender  Ursachen  Resultanten  erzeugt,  die  in 
zahlreichen  Fällen  trotz  einzelner  entgegenstehender  Sonderwirkungen 
von  im  ganzen  übereinstimmendem  Charakter  bleiben,  da  sie  nur  in 
geringem  Grade  durch  die  bei  dem  singulären  Lautwandel  relativ 
isoliert  hervortretenden  Sonderwirkungen  beeinflußt  werden.  So 
kommt  es,  daß  die  fundamentalen  Ursachen  des  Lautwandels  zunächst 
nicht  aus  den  regulären  Erscheinungen,  bei  denen  die  Komplikation 
der  Bedingungen  viel  zu  groß  ist,  sondern  mit  annähernder  Vollständig- 
keit nur  aus  den  singulären  ermittelt  werden  können. 


,6  Der  Lautwandel. 


VII.  Allgemeiner  Rückblick  auf  die  Vorgänge 
des  Lautwandels. 

Als  die  neuere  Sprachwissenschaft  zuerst  es  unternahm,  die  Vor- 
gänge des  Lautwandels  bestimmten  Gesetzen  unterzuordnen,  da 
suchte  sie,  geleitet  durch  die  verbreiteten  Vorstellungen  von  der 
Allgemeingültigkeit  der  Naturgesetze  und  von  der  Zufälligkeit  alles 
psychischen  Geschehens,  jene  Gesetze  vor  allen  Dingen  als  phy- 
sische nachzuweisen.  So  entstanden  zwei  allgemeine  Voraus- 
setzungen, die  für  die  Interpretation  der  Tatsachen  bestimmend 
wurden.  Die  erste  bestand  darin,  daß  physische  und  psychische 
Bedingungen  des  Lautwandels  streng  zu  sondernden  Gebieten  an- 
gehörten, und  daß  daher  das  physisch  Bedingte  ebensowenig  eine 
psychologische  wie  umgekehrt  das  psychisch  Bedingte  eine  physio- 
logische Deutung  zulasse.  Die  zweite  Voraussetzung  war,  daß  nur 
auf  physischem  Gebiet  eine  strenge  und,  soweit  nicht  eben  psy- 
chische Einflüsse  dazwischen  kämen,  eine  ausnahmslose  Gesetzmäßig- 
keit herrsche,  während  auf  psychischer  Seite  eine  solche  nicht  zu 
finden,  hier  vielmehr  alles  von  Laune  und  Zufall  abhängig  sei. 

Die  zweite  dieser  Voraussetzungen  ist,  wie  wir  sahen,  innerhalb 
der  Sprachwissenschaft  selbst  schon  allmählich  wankend  geworden. 
In  dem  Maß,  als  gerade  die  psychisch  bedingten  Lautänderungen 
die  Aufmerksamkeit  fesselten,  begann  die  Erkenntnis  durchzudringen, 
daß  auch  sie  auf  gewisse  Regelmäßigkeiten  zurückzuführen  seien. 
Dagegen  blieb  die  erste  Annahme  im  ganzen  bestehen,  und  unter 
ihrer  Herrschaft  mußte  sich  ein  gewisser  Wertunterschied  der  Vor- 
gänge behaupten.  Wie  die  psychologischen  Assoziationsgesetze  an 
bindender  Kraft  hinter  den  Naturgesetzen  zurückstehen,  so  meinte 
man  und  meint  man  vielfach  noch  heute  den  rein  physiologischen 
Lautänderungen  einen  gewissen  Vorzug  einräumen  zu  müssen'). 

Dieser  ganzen  Betrachtungsweise  wird  nun  schon  dadurch  der 
Boden  entzogen,  daß  die  psychologische  Analyse  der  einzelnen 
Formen  des  Lautwandels  den  Begriff  eines  rein  physisch  be- 
dingten, also  unter  Ausschluß  aller  und  jeder  psychischen  Momente 


')  Vgl.  oben  S.  367  ff. 


Allgemeiner  Rückblick  auf  die  Vorgänge  des  Lautwandels.  e  2  7 

eintretenden  Wechsels  überhaupt  als  einen  innerlich  unmöglichen 
zurückweisen  muß.  Der  Mensch  ist  so  wenig  ein  reines  Naturobjekt, 
wie  er  ein  rein  geistiges  Wesen  ist,  sondern  er  ist  beides  zugleich,  ein 
psychophysischer  Organismus;  und  im  Umkreis  seiner  Funktionen 
ist  es  wieder  besonders  die  Sprache,  die  in  allen  ihren  Eigenschaften 
den  Charakter  einer  doppelseitigen  Funktion  an  sich  trägt.  Anzu- 
nehmen, daß  es  irgendeinen  allgemeineren  sprachlichen  Vorgang 
gebe,  der  aus  rein  physischen,  oder  einen  andern,  der  ebenso  aus 
rein  psychischen  Bedingungen  erfolgt  sei,  das  ist  daher  eine  Vor- 
stellung, die  von  vornherein  unter  dem  Verdacht  einer  willkürlichen 
Abstraktion  steht.  Gewiß  kann  eine  solche  unter  Umständen  nütz- 
lich oder  für  gewisse  Zwecke  vorübergehend  notwendig  sein.  Nur 
darf  man  nicht  den  ausnahmsweise  zulässigen  Standpunkt  für  die 
vollständige  Auffassung  der  Sache  halten  und  ihn  auch  da  noch 
anwenden,  wo  es  sich  um  eine  erschöpfende  Ermittelung  der  Be- 
dingungen handelt.  In  diesem  Fall  ist  vielmehr  daran  festzuhalten, 
daß  die  Sprache  im  ganzen  wie  in  allen  ihren  Bestandteilen  eine 
psychophysische  Funktion  ist,  und  daß  es  daher  strenggenommen 
keine  einzelne  Erscheinung,  viel  weniger  ein  ganzes  Erscheinungs- 
gebiet in  ihr  geben  kann,  das  nur  physisch  oder  nur  psychisch 
zu  erklären  wäre.  Hierbei  ist  es  natürlich  nicht  ausgeschlossen, 
daß  unserer  Beobachtung  bald  die  physische  Seite  der  Vorgänge, 
bald  die  psychische  zugänglicher  ist,  oder  daß  wir  sogar  in  bezug 
auf  die  eine  oder  andere  bloß  auf  mehr  oder  minder  wahrscheinliche 
Vermutungen  angewiesen  bleiben. 

Ist  der  Lautwandel  im  allgemeinen  psychophysisch  bedingt,  so 
ist  aber  damit  nicht  gesagt,  daß  auch  das  Verhältnis  der  physischen 
zu  den  psychischen  Ursachen  bei  ihm  überall  das  nämliche  sei. 
Vielmehr  sind  es  gerade  die  in  dieser  Beziehung  nachweisbaren 
Unterschiede,  mit  denen  die  wesentlichen  Eigentümlichkeiten  der 
einzelnen  Formen  des  Lautwandels  zusammenhängen.  Dabei  wird 
jedoch,  dem  streng  empirischen  Standpunkt  entsprechend,  den 
diesen  Problemen  gegenüber  die  sprachgeschichtliche  wie  die  psy- 
chologische Betrachtung  einzunehmen  hat,  niemals  auf  irgendwelche 
hypothetisch  anzunehmende  Parallelvorgänge  zurückzugehen  sein, 
sondern  wir  können  hier  die  Begriffe  des  Physischen  und  des  Psy- 
chischen durchaus  nur  in  dem  Sinn  anwenden,   in  dem  jeder  dieser 


528  Der  Lautwandel. 


beiden  Bestandteile  der  Erfahrung  entweder  direkt  in  der  Beobachtung 
gegeben  oder  aus  empirisch  gegebenen  Tatsachen  zu  erschließen 
ist.  So  betrachtet  scheinen  sich  nun  der  reguläre  stetige  Laut\vandel 
oder  das  Gebiet  der  gewöhnlich  sogenannten  » Lautgesetze  c  und 
jene  »assoziativen  Fernewirkungen«,  bei  denen  sich  teils  die  Laut- 
teils die  Begrififselemente  der  Wörter  beeinflussen,  am  ehesten  als 
Gegensätze  gegenüberzustehen.  Bei  dem  regulären  Lautwandel  tritt 
die  physische  Seite  des  Prozesses  in  den  Vordergrund,  die  psychi- 
schen Bedingungen  bleiben  im  Dunkeln.  Bei  den  mannigfachen 
Vorgängen  der  »Angleichung«  dagegen  erscheint  diese  selbst  un- 
mittelbar als  ein  Resultat  psychischer  Assoziationen.  Beide  Momente 
durchdringen  sich  endlich  in  einer  Verkettung  anscheinend  simultaner 
Wechselwirkungen  bei  den  Kontaktwirkungen  der  Laute,  die 
einerseits  durch  die  Regelmäßigkeit,  mit  der  unter  ähnlichen  Be- 
dingungen der  Lautkombination  ähnliche  Wirkungen  eintreten,  ander- 
seits durch  die  sichtliche  Beteiligung  von  Lautassoziationen  eine  Art 
Mittelglied  zwischen  den  andern  Formen  des  Lautwandels  bilden. 
Bei  allen  diesen  Erscheinungen  bleibt  aber  zu  beachten,  daß  die 
Bedingungen,  die  sich  für  unsere  Analyse  in  eine  Sukzession  be- 
stimmter Akte  auflösen,  in  der  Wirklichkeit  wegen  der  Zusammen- 
setzung der  Erscheinungen  aus  einer  Menge  elementarer  Wirkungen 
einen  einzigen,  in  jedem  Augenblick  aus  verschiedenartigen  Gliedern 
gebildeten  psychophysischen  Vorgang  bilden.  Das  zeigt  sich  schon 
bei  den  anscheinend  am  meisten  auf  die  physische  Seite  fallenden 
Wortassimilationen,  wo  das  entstehende  Produkt  freilich  in  hohem 
Maße  durch  die  disponibeln  Vorstellungselemente,  gleichzeitig  aber 
doch  auch  durch  die  einem  bestimmten  Lautsystem  und  bestimmten 
Wortgebilden  angepaßte  Artikulationsübung  bestimmt  wird.  Das 
zeigt  sich  dann  in  anderer  Weise  vor  allem  beim  regulären  Laut- 
wandel, in  den  überall  Kontakt  Wirkungen  und  Lautassoziationen 
modifizierend  eingreifen,  und  der  schließlich  auch  in  seinen  nicht 
direkt  auf  solche  zurückzuführenden  Erscheinungen  von  den  näm- 
lichen Bedingungen  wie  diese,  nämlich  in  erster  Linie  von  dem 
Tempo  der  Rede  und  den  Verhältnissen  der  Betonung  bestimmt 
wird.  Damit  erweist  sich  schließlich  der  reguläre  Lautwandel  selbst 
nicht  als  ein  spezifischer  Vorgang,  sondern  als  eine  Reihe  von  Er- 
scheinungen, in  denen  sich  die  Gesamtheit  der  singulären  Bedingungen 


Allgemeiner  Rückblick  auf  die  Vorgänge  des  Lautwandels.  52g 

lautlicher    Veränderungen,    namentlich    der    Lautkontakte    und    der 
Lautassoziationen,  zu  resultierenden  Wirkungen  verbindet. 

Demnach  sind  die  verschiedenen  Vorgänge  des  Lautwandels  über- 
haupt nicht  ein  Gemenge  verschiedenartiger  physischer  und  psychi- 
scher Prozesse,  sondern  sie  bilden  ein  einheitliches  psycho-physi- 
sches  Geschehen,  das  nur  je  nach  der  Ordnung  und  Verknüpfung 
seiner  einzelnen  Momente,  und  je  nachdem  diese  einer  entfernteren 
Vergangenheit  oder  einer  uns  in  ihren  psychischen  Motiven  noch 
zugänglicheren  Stufe  der  Sprachentwicklung  angehören,  verschiedene 
Formen  annimmt. 


Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  24 


Fünftes  Kapitel. 
Die  Wortbildung. 

I.  Psychophysische  Bedingungen  der  Wortbildung. 

I.    Zentrale  Störungen  der  W^ortbildung. 

Die  Frage  nach  der  Beteiligung  physischer  und  psychischer 
Faktoren  an  den  Funktionen  der  Sprache,  die  bei  der  Betrachtung 
der  verschiedenen  Formen  des  Lautwandels  eine  so  wichtige  Rolle 
gespielt  hat,  ist  auch  für  das  Problem  der  Wortbildung  von  her- 
vorragender Bedeutung.  Und  mehr  noch  als  dort  sind  hier  im  Laufe 
der  Zeit  Wandlungen  der  Anschauung  eingetreten,  die  in  diesem 
Fall  um  so  bemerkenswerter  sind,  weil  sie  nicht  von  irgendwel- 
chen philosophischen  Richtungen  oder  sprachwissenschaftlichen 
Hypothesen,  sondern  von  Tatsachen  der  Beobachtung  ausgingen. 
Diese  Tatsachen  sind  zunächst  auf  dem  Gebiete  der  Pathologie 
der  Sprachstörungen  gewonnen  worden. 

Waren  dereinst  Sprachwissenschaft  und  Psychologie  dahin  über- 
eingekommen, dem  Sprachlaut,  als  einer  ursprünglich  unter  der 
Wirkung  irgendwelcher  Gefühle  oder  Affekte  entstehenden  Aus- 
drucksbewegung, eine  halb  physische  halb  psychische  Bedeutung 
zuzuschreiben,  so  verhielt  sich  dies  wesentlich  anders  mit  dem 
Wort.  Dieses,  als  Ausdruck  eines  Begriffs,  fiel,  so  schien  es,  so 
gut  wie  der  Begriff  selber,  ganz  auf  die  psychologische  Seite.  Das 
Wort  bedürfe  zwar,  so  dachte  man  sich,  der  physischen  Hilfsmittel 
der  Lauterzeugung,  etwa,  wie  die  Willenshandlung  der  Wirksamkeit 
der  äußeren  Bewegungsorgane ;  aber  das  Wort  als  solches  sei  doch 
nicht  minder  ein  geistiges  Erzeugnis,  wie  Begehren  und  Wollen 
psychische,  nicht  physische  Vorgänge  sind.  Diese  Vorstellung,  die 
in  reinlicher  Sonderung  die  Sprachfunktionen  zwischen  Körper  und 


Zentrale  Störungen  der  Wortbildung. 


531 


Seele  verteilte,  erhielt  einen  schweren  Stoß,  als  Broca  sein  be- 
rühmtes »Sprachzentrum«  auffand').  Wenn  es  sich  in  den  von  ihm 
und  andern  beobachteten  Fällen  zeigte,  daß  der  Besitz  der  artiku- 
lierten Sprache  an  die  Integrität  einer  bestimmten,  wohlumgrenzten 
Stelle  der  dritten  Frontalwindung  {AI Fig.  36)  der  linken  —  in  sel- 
tenen Fällen  und,  wie  es  scheint,  vorzugsweise  bei  linkshändigen 
Menschen,  der  rechten  —  Hirnhälfte  gebunden  ist,  so  mußte  ein 
solches  Zentrum  offenbar  als  ein  physiologisches  Organ  der  Wort- 
bildung im  eigentlichsten  Sinne  angesehen  werden,  um  so  mehr,  da 
die  Erzeugung  der  artikulier- 
ten Laute  als  solcher  dabei 
erhalten  sein  kann,  also  nur 
die  Zusammenfügung  der 
Laute  zu  Worten  aufgehoben 
ist.  Aus  diesem  Grunde  pflegt 
man  denn  auch  die  durch  Ver- 
letzungen des  genannten  Zen- 
trums entstehenden  Sprach- 
störungen nicht  als  motori- 
sche, sondern  als  ataktische 
Aphasie  zu  bezeichnen. 
Bald  zeigte  es  sich  jedoch, 
daß    nicht    in    allen    Fällen 

zentraler  Sprachstörungen,  die  zu  dem  allgemeinen  Symptomenbild 
der  »Aphasie«  gerechnet  werden  können,  eine  Affektion  der  Broca- 
schen  Windung  nachzuweisen  ist.  Da  war  es  ein  wichtiger  Fort- 
schritt auf  der  einmal  betretenen  Bahn,  als  neben  jenem  ersten 
Zentrum  ein  zweites,  sensorisches  aufgefunden  wurde,  dessen  Zer- 
störung nicht  die  Fähigkeit  der  Wortartikulation  sondern  das  »Wort- 
gedächtnis« aufhebt,  so  daß  zwar  ein  unmittelbar  vorgesprochenes 
Wort  meist  nachgesprochen  wird,  zu  einem  sinnlich  wahrgenom- 
menen oder  erinnerten  Gegenstand  aber  das  zugehörige  Wort  man- 
gelt. Das  so  entstehende  Symptomenbild  bezeichnet  man  als  das  der 
amnestischen  Aphasie.  Als  das  bei  ihr  in  der  Regel  affizierte 
Zentralg-ebiet  erwies  sich  in  einer  großen  Zahl  von  Beobachtungen 


Fig-  36. 


Lage  der  Sprachzentren  im  Frontal- 
und  Temporalhirn. 


I)  Broca,  Sur  le  siege  de  la  faculte  du  langage,  1861. 


34=* 


532 


Die  Wortbildung. 


IZ 


-^ 


V 


■70 


'3 


X 


SCfiO 


die  der  Brocaschen  Windung  gegenüberliegende  Region  der  ersten 
linken  Temporalwindung  (5  Fig.  36)').  Hiernach  lag  es  nahe,  diese 
Region  5  ebenso  als  das  zu  einer  sensorischen  Leitung  gehörige 
Zentrum  anzusehen,  wie  das  Brocasche  M  als  Ausgangspunkt  einer 
motorischen  Leitung,  wobei  die  letztere,  zentrifugale  zu  den  unter- 
geordneten direkten  Zentren  der  Lautartikulation  gerichtet  sei,  die 
erstere,  zentripetale  aber  zunächst  von  dem  allgemeinen  Hörzentrum 
herkomme.      Übrigens    zeigten    die    Beobachtungen,    daß    bei    der 

»  ataktischen  Aphasie  « 
immer  zugleich  die  Ar- 
tikulations  empfindun- 
gen  gestört  sind,  so  daß 
hier,  ähnlich  wie  in  an- 
dern motorischen  Ge- 
bieten der  Hirnrinde,  die 
Zentra  für  die  Bewe- 
gungsempfindungen mit 
denen  für  die  Inner- 
vationserregungen  der 
Muskeln  entweder  sich 
decken  oder  nahe  zu- 
sammenfallen ;  daher 
man  in  den  von  M  aus- 
gehenden Bahnen  zentrifugale  und  zentripetale  Leitungen  vereinigt 
denken  kann,  wie  dies  die  Pfeile  in  der  schematischen  Fig.  37  an- 
deuten. Zwischen  dem  Gebiet  5  und  dem  direkten  Hörzentrum, 
das  man  in  den  weiter  rückwärts  liegenden  Teilen  des  Schläfe- 
lappens vermutet,  konnte  dann  ein  analoges  Verhältnis  voraus- 
gesetzt werden  wie  zwischen  der  Brocaschen  Region  M  und  den 
direkten  motorischen  Zentren.  Wie  in  M  die  Verbindung  der  ein- 
zelnen   motorischen    Impulse    zu    den    regelmäßigen    Artikulations- 


Fig.  37.     Lokalisationsschema  der  Sprachfunktionen 
nach  Lichtheim. 


I)  C.  Wernicke,  Der  aphasische  Symptomenkomplex,  1874.  Das  Symptomen- 
bild der  »amnestischen  Aphasie«  hatte  übrigens  schon  bald  nach  Brocas  Entdeckung 
W.  Ogle  (1867)  beschrieben,  der  auch  zuerst  auf  den  Zusammenhang  der  zuweilen 
vorkommenden  rechtsseitigen  Lage  der  Sprachzentren  mit  der  Linkshändigkeit  auf- 
merksam machte.     (Philos.  Transactions,  vol.  XLV,  p.  279.) 


Zentrale  Störungen  der  Wortbildung.  5^^ 

bewegungen,   so   mochte  in  5  die  Kombination  der  Lauteindrücke 
zu  Wortvorstellungen  erfolgen. 

Die  so  gewonnene  Sonderung  schien  sich  der  Mannigfaltigkeit  der 
wirklich  vorkommenden  Störungen  gegenüber  schon  dadurch  nütz- 
lich zu  erw^eisen,  daß  sie  nicht  bloß  solche  Formen  der  Aphasie 
annehmen  ließ ,  die  in  je  einem  der  beiden  Zentren  M  oder  5 
allein,  sondern  je  nach  Umständen  auch  solche,  die  in  beiden  zu- 
sammen oder  in  der  zwischen  ihnen  liegenden  Leitungsbahn,  die 
im  Hintergrund  der  Sylvischen  Spalte  [FS]  das  Gebiet  der  soge- 
nannten »Insel«  durchsetzt,  ihren  Sitz  haben  mochten.  Dies  veran- 
schaulicht das  in  Fig.  37  durch  die  ausgezogenen  Linien  dargestellte 
Schema,  wo  i,  2,  3,  4  und  5  die  möglichen  Orte  der  Funktionsstörung 
andeuten.  War  einmal  der  Begriff  des  »Sprachzentrums«  dergestalt 
erweitert  und  gegliedert,  so  ließ  sich  nun  aber  auf  diesem  Wege 
leicht  fortschreiten,  um  den  mittlerweile  sich  mehrenden  Beobach- 
tungen über  weitere  Sprachstörungen  gerecht  zu  werden,  für  welche 
die  bloße  Unterscheidung  eines  »motorischen«  und  eines  »senso- 
rischen« Zentrums  nicht  zuzureichen  schien.  Dahin  gehörten  nament- 
lich die  Fälle  der  »Worttaubheit«,  der  »Wortblindheit«  (Alexie)  und 
der  Unfähigkeit  zu  schreiben  (Agraphie),  von  denen  sich  zwar  die 
beiden  ersteren  als  eigentümliche  Unterformen  der  amnestischen, 
die  letztere  als  eine  solche  der  ataktischen  Aphasie  betrachten 
ließen,  wobei  aber  doch  jede  ihre  besondere  zentrale  Lokalisation 
zu  fordern  schien.  Denn  die  Worttaubheit,  d.  h.  die  Unfähigkeit 
Worte  zu  verstehen  bei  vollkommener  Fähigkeit  Laute  zu  hören, 
kann,  wie  die  Beobachtung  zeigt,  sehr  wohl  ohne  Wortblindheit 
vorkommen;  und  ebenso  kann  diese  oder  die  Unfähigkeit,  trotz 
sonstiger  Erhaltung  des  Sehvermögens,  die  Schriftzeichen  der  Worte 
zu  erkennen,  ohne  gleichzeitige  Worttaubheit  bestehen.  Diesen  Ver- 
hältnissen suchte  man  gerecht  zu  werden,  indem  man  das  Schema 
der  zwei  Sprachzentren  in  der  durch  die  unterbrochenen  Linien  der 
Fig.  37  angedeuteten  Weise  ergänzte.  Das  sensorische  Zentrum  5 
betrachtete  man  nun  speziell  als  akustisches  Wortzentrum  S  (/^). 
Ihm  trat  als  sekundäres  sensorisches  Sprachzentrum  das  optische  0, 
und  ebenso  dem  motorischen  M  das  Schreibzentrum  E  zur  Seite 
(Fig-  37).  Für  beide  ließen  sich  freilich  bestimmte  Gebiete  in  der 
Hirnrinde   nicht  mit  Sicherheit  nachweisen.      Höchstens    kann   man 


c  ■^  4  I^ic  Wortbildung. 


noch  nach  verschiedenen  Beobachtungen  annehmen,  daß  das  Zen- 
trum 0  wohl  dem  in  der  Rinde  des  Okzipitalhirns  liegenden  all- 
gemeinen Sehzentrum  benachbart  sei,  ähnlich  wie  das  akustische 
Wortzentrum  5  {Ä)  dem  allgemeinen  Hörzentrum.  Daneben  lag 
es  dann  aber  natürlich  nahe  zu  vermuten,  daß  auch  noch  andere, 
namentlich  sensorische  Zentren  in  ähnlichen  Verbindungen  mit  den 
beiden  Hauptzentren  M  und  5  stehen  möchten.  In  Fig.  37  sind 
diese  weiteren  Zentren,  denen  man  zuweilen  mit  Kußmaul  ein  all- 
gemeines »Begriffszentrum«  substituierte,  durch  den  kleinen  Kreis  C 
angedeutet']. 

Mit  Hilfe  des  so  gewonnenen  anatomischen  Schemas  sah  man 
sich  in  den  stand  gesetzt,  alle  irgend  möglichen  Sprachstörungen 
zentralen  Ursprungs  zu  klassifizieren  und  gewissermaßen  a  priori 
vorauszusagen.  Bezeichnen  wir  die  in  den  Zentren  selbst  sowie  in 
den  Leitungsbahnen  möglicherweise  vorkommenden  Unterbrechungen 
der  Funktionen  durch  die  in  Fig.  37  mit  den  Zahlen  i,  2,  3  .  . 
versehenen  kleinen  Striche,  so  würden  z.  B.  nach  diesem  Schema 
nicht  weniger  als  13  einzelne  Störungen  möglich  sein,  die  dann 
natürlich  noch  in  der  verschiedensten  Weise  kombiniert  und  abge- 
stuft vorkommen  könnten.  Durch  die  den  einzelnen  Zentren  bei- 
gelegte Bedeutung  würde  aber  die  Beschaffenheit  einer  jeden  Funk- 
tionsstörung von  selbst  gegeben  sein.  So  müßte  z.  B.  einer 
Leitungsunterbrechung  bei  3  eine  Aufhebung  der  Lautsprache  fol- 
gen, während  das  Schreibvermögen,  da  die  Leitungen  ME  und 
0  E  noch  bestehen,  erhalten  bliebe.  Aufhebung  der  Funktion 
des  Zentrums  M  bei  i  würde  vollständige  Aufhebung  des  Sprach- 
vermögens herbeiführen,  während ,  falls  der  sensorische  Teil  der 
Zentren  und  Leitungsbahnen  unversehrt  bliebe,  gehörte  und  ge- 
schriebene Worte  noch  verstanden  werden  könnten.  Eine  Unter- 
brechung bei  6  würde  die  Fähigkeit  spontan  zu  sprechen  be- 
seitigen, da  von  dem  > Begriffszentrum«  C  aus  die  Zuleitung  einer 
motorischen  Wortinnervation  nicht  mehr  möglich  wäre.  Dagegen 
würden,  wenn  die  Leitungen  SM  und  0  E  erhalten  sind,  gehörte 
Worte  nachgesprochen  und  geschriebene  oder  gedruckte  gelesen 
werden  können.   Wäre  endlich  bei  2  die  Funktion  von  5  aufgehoben, 


Kußmaul,  Die  Störungen  der  Sprache,   1877,  S.  182. 


Hypothesen  über  die  physischen  Substrate  der  Wortbildung.  c'ic 

SO  könnten  gehörte  Worte  weder  verstanden  noch  nachgesprochen 
werden,  während  bei  Integrität  der  Leitung  Cßf  noch  spontanes 
Sprechen  möglich  sein  müßte,  usw.  ^]. 


2.  Hypothesen  über  die  physischen  Substrate  der  Wortbildung. 

Mit  den  durch  das  obige  Schema  ausgedrückten  Anschauungen 
hat  die  Pathologie  der  Sprachstörungen  noch  einige  weitere  ver- 
bunden, die  zuweilen  wohl  nur  als  vorläufige  Hilfshypothesen  be- 
trachtet wurden,  denen  man  aber  doch  nicht  selten  einen  realen 
Wert  zuschrieb.  In  der  Tat  ist  zuzugestehen,  daß  sich  diese 
Hypothesen  wenigstens  teilweise  bei  der  Verfolgung  des  in  der 
vorausgesetzten  Lokalisation  der  Sprachzentren  eingeschlagenen 
Weges  mit  innerer  Folgerichtigkeit  ergeben.  Allerdings  mögen  da- 
bei außerdem  die  Traditionen  der  alten  Phrenologie  etwas  mitge- 
wirkt haben,  mit  denen  man  durch  jene  Annahme  besonderer 
»Zentren«  für  so  komplexe  psychophysische  Tätigkeiten,  wie  Spre- 
chen, Wortverständnis  und  Schreiben,  wieder  in  nahe  Berührung 
gekommen  war.  Ahnlich  wie  dereinst  die  Galische  Phrenologie  die 
Oberfläche  des  menschlichen  Gehirns  in  eine  Anzahl  »innerer  Sinne« 
eingeteilt  hatte,  deren  jedem  sie  eine  den  äußeren  Sinnen  analoge, 
nur  gewissermaßen  potenzierte  Funktion  zuschrieb,  so  begann  man 
nach  der  Entdeckung  des  Brocaschen  Sprachzentrums  in  diesem 
nicht,  was  zunächst  gefordert  schien,  ein  motorisches  oder,  mit 
Rücksicht  auf  die  gleichzeitigen  Störungen  der  Artikulationsempfin- 
dungen, ein  motorisch-sensorisches  Zentrum  zu  sehen,  sondern  man 


')  Das  in  Fig.  37  dargestellte  Schema  entspricht  im  wesentlichen  zwei  von 
Lichtheim  gegebenen  Konstruktionen  (On  Aphasia,  Brain,  VIT,  1885,  p.  437,  443), 
mit  denen  übrigens  auch  das  etwas  ältere  Schema  Kußmauls  in  den  Hauptzügen 
übereinstimmt  (Die  Störungen  der  Sprache,  S.  183).  Beide  Autoren  lassen  die  Frage 
der  wirklichen  anatomischen  Lage  der  Zentren  grundsätzlich  beiseite.  Einzelne 
Beobachtungen  über  die  verschiedenen  der  Aphasie  zugezählten  Funktionsstörungen 
finden  sich  in  reicher  Menge  in  neuropathologischen  Zeitschriften:  so  im  Brain  I, 
p.  304,  n,  p.  303,  323  ff.  (Hughlings  Jackson),  XH,  p.  82  ff.  (Starr),  XXI,  p.  343  ff. 
(Bramwell),  und  in  vielen  Bänden  des  Archivs  für  Psychiatrie.  Gute  Darstellungen 
des  ganzen  Gebiets  finden  sich  bei  Charlton  Bastian,  Über  Aphasie  und  andere 
Sprachstörungen,  deutsch  von  Urstein,  1902,  und,  mit  Berücksichtigung  der  psycho- 
logischen Verhältnisse,  bei  Gust.  Störring,  Vorlesungen  über  Psychopathologie,  1900, 
S.  127  ff. 


5^5  Die  Wortbildung. 


erklärte  es  für  ein  ausschließlich  sensorisches,  also  für  eine  Art  von 
»innerem  Sinn«;  und  daran  änderte  auch  die  Entdeckung  des  außer- 
dem für  die  amnestische  Aphasie  in  Anspruch  genommenen  Zentrums 
nichts.  Vielmehr  fühlte  man  sich  dadurch  eher  in  der  allgemeinen 
Voraussetzung  bestärkt,  daß  jedes  dieser  Gebiete  eine  bestimmte 
Kategorie  von  Vorstellungen  in  sich  berge.  Bei  dem  gewöhnlich  so 
genannten  motorischen  Zentrum  {M  Fig.  36)  sollten  das  die  Vorstel- 
lungen der  Sprachbewegungen,  bei  dem  sensorischen  Zentrum  (5) 
die  Lautvorstellungen  der  Wörter  sein;  und  ähnlich  wurden  dann 
den  später  aufgestellten  Zentren  0  und  E  (Fig.  37)  bestimmte  Arten 
von  Erinnerungsbildern,  jenem  die  optischen  Wortbilder,  diesem  die 
Vorstellungen  der  Schreibbewegungen,  zugeteilt,  worauf  es  nun 
nahe  lag,  auch  noch  die  unabhängig  von  Wort  und  Schriftbild  an- 
genommenen Begriffe  in  einem  besonderen  »ideagenen  Zentrum« 
nach  dem  Vorschlage  Kußmauls  zu  lokalisieren. 

Diese  Vorstellungen  fanden  einen  lebhaften  Widerhall  in  den 
Deutungen,  die  Th.  Meynert  den  Ergebnissen  seiner  um  die  gleiche 
Zeit  entstandenen  bahnbrechenden  Arbeiten  über  den  feineren  Bau 
des  Gehirns  gab^).  Waren  auch  diese  Deutungen  selbst  schon  von 
der  neu  gewonnenen  Lokalisation  der  Sprachfunktionen  wesentlich 
beeinflußt,  so  wirkten  sie  doch  ihrerseits  wieder  auf  die  Auffassung 
der  Sprachzentren  zurück.  Als  drittes  Glied  in  dieser  Vereinigung 
sich  wechselseitig  stützender  Gebiete  erschien  endlich  noch  die  ex- 
perimentelle Gehirnphysiologie,  in  der  namentlich  H,  Munk  die 
nämlichen  Anschauungen  der  Deutung  seiner  Ergebnisse  zugrunde 
legte"). 

So  bildete  sich  immer  zuversichtlicher  die  Ansicht  aus,  die 
Rinde    des  großen  Gehirns   berge    in  jeder  ihrer  Zellen  irgendeine 


')  Vgl.  besonders  die  Bemerkungen  zur  Physiologie  des  Gehirns  in  seiner  Psy- 
chiatrie, I,   1884,  S.  126  ff. 

2)  H.  Munk,  Über  die  Funktionen  der  Großhirnrinde,  gesammelte  Abhandlungen, 
1891.  Vgl.  besonders  die  Einleitung  zu  diesem  Werk  und  dazu  meine  Abhandlung 
»Zur  Frage  der  Lokalisation  der  Großhirnfunktionen«,  Philos.  Stud.  VI,  1891,  S.  i  ff.^ 
sowie  Physiol.  Psychol.5  I,  S.  289  ff.,  über  die  Sprachzentren  ebenda  S.  307  ff.  Vom 
physiologischen  Standpunkt  aus  hat  auf  Grund  zahlreicher  experimenteller  Beobach- 
tungen die  Lokalisationsversuche  Munks  namentlich  F.  Goltz  bekämpft:  Über  die 
Verrichtungen  der  Großhirns,  gesamm.  Abhandl.,  1881 ;  dazu  dessen  weitere  Arbeit 
in  Pfliigers  Archiv  für  Physiologie,  LI,   1892,  S.  570  ff. 


Hypothesen  über  die  physischen  Substrate  der  Wortbildung.  r^y 

Vorstellung-,  und  solche  Depots  von  Vorstellungen  seien  in  geson- 
derten Gebieten  massenhaft  über  die  Oberfläche  des  Gehirns  ver- 
teilt. In  einem  bestimmten  Bezirk  sollten  direkte  Lauteindrücke 
aufgenommen,  in  einem  andern  ältere  Wortvorstellungen  abgelagert 
werden,  ein  dritter  sei  durch  Gesichtsreize  erregbar,  ein  vierter 
berge  die  Gesichtsbilder  früherer  Eindrücke  usw.  Dabei  sollten  die 
Depots  der  verschiedenen  Arten  von  Erinnerungsbildern  teils  durch 
vorhandene  Vorstellungen  bereits  »besetzt«  sein,  teils  aber  auch 
noch  im  leeren  Zustand  ihrer  künftigen  Insassen  warten.  Zerstö- 
rung einer  ein  solches  Vorstellungszentrum  einschließenden  Rinden- 
region vernichte  daher  die  in  ihr  abgelagerten  Vorstellungen;  aber 
diese  könnten  durch  neue  ersetzt  werden,  die  in  den  noch  vakanten 
Zellen  Platz  fänden.  Auf  solche  Weise  glaubte  man  sich  auch  die 
oft  zu  beobachtende  allmähliche  Wiederherstellung  der  Funktionen 
erklären  zu  können.  Der  nämliche  Vorgang,  der  bei  der  normalen 
Entwicklung  das  Gehirn  mit  den  Erinnerungsbildern  früherer  Ein- 
drücke gefüllt  hatte,  konnte  sich  ja  wiederholen,  solange  nur  über- 
haupt unbesetzte  Vorstellungszellen  vorhanden  waren.  Wie  wenig 
diese  Spekulationen  im  ganzen  als  bloß  vorläufige  Hilfsannahmen 
gemeint  waren,  ging  deutlich  genug  daraus  hervor,  daß  man  ernst- 
lich die  Frage  erwog,  ob  die  in  der  Hirnrinde  zu  zählenden  Pyra- 
midalzellen wirklich  für  die  Bedürfnisse  der  menschlichen  Intelligenz 
ausreichten. 

Nun  erhellt  freilich  für  jeden,  dem  die  Begriffe  Vorstellung, 
Erinnerungsbild,  Eindruck  nicht  bloße  Wörter  für  unbekannte  Be- 
griffe sind,  daß  die  Annahme,  ein  Erinnerungsbild  werde  in  einer 
Hirnzelle  »deponiert«,  bei  dem  Problem  der  erinnerten  Vorstellungen 
genau  jener  Stufe  naiver  Interpretation  entspricht,  auf  dem  sich 
der  äußeren  Sinneswahrnehmung  gegenüber  dereinst  die  Physio- 
logie der  Alten  befand.  In  den  in  den  Hirnzellen  abgelagerten 
Erinnerungsbildern  lassen  sich  in  der  Tat  unschwer  die  direkten 
Abkömmlinge  jener  Bildchen  erkennen,  die  ein  Empedokles  und 
Demokrit  von  den  Gegenständen  sich  ablösen  und  in  Auge  und 
Ohr  eindringen  ließen.  Daß  das  Retinabild  und  die  Klangwirkung 
im  äußeren  Ohr  nicht  Gegenstände  sind,  die  von  außen  in  uns 
hereinwandern,  sondern  vergängliche  und  veränderliche  Funktionen 
der    Organe    selbst,   das    weiß    die    Physiologie    nachgerade.      Das 


c^S  Die  Wortbildung. 


Gehirn  ist  ihr  immer  noch  unbekannt  genug,  um  sich  nach  wie  vor 
die  abgelösten  Bildchen  in  den  Hirnzellen  eingewandert  und  ab- 
gelagert zu  denken.  Daß  die  Erinnerungsvorstellungen  so  wenig 
Objekte  sind  wie  die  äußeren  Wahrnehmungen,  und  daß  sie  sich 
von  diesen  höchstens  durch  ihre  noch  größere  Veränderlichkeit 
unterscheiden,  da  keine  zwei  Erinnerungsbilder  eines  und  desselben 
Gegenstandes  übereinstimmen,  —  alles  das  bleibt  hier  außer  Frage. 

3.    Unzulänglichkeit  der  Lokalisationshypothesen. 

Was  der  physiologischen  Funktionsanalyse  wahrscheinlich  schwe- 
rer gelungen  wäre,  das  hat  sich  nun  aber  allmählich  als  eine  drin- 
gende Forderung  bei  der  Untersuchung  eben  jener  Sprachstörungen 
herausgestellt,  von  denen  die  ganze  über  Anatomie,  Physiologie 
und  beinahe  auch  über  die  Psychologie  sich  ausbreitende  moderne 
Lokalisationslehre  ausgegangen  war.  Der  Schematismus  der  Sprach- 
zentren mit  ihren  leitenden  Zwischenbahnen  erwies  sich  um  so  un- 
zulänglicher, je  mehr  man  ihn  im  einzelnen  durchzuführen  suchte. 
Mochte  man  sich  auch  häufig  noch  mit  der  Annahme  bloß  >  funk- 
tioneller« Störungen  helfen,  die  unabhängig  von  lokalen  Defekten 
oder  vermischt  mit  solchen  vorkommen  könnten,  bei  unbefangener 
Betrachtung  der  Befunde  läßt  sich  nicht  mehr  verkennen,  daß  neben 
der  Sonderung  gewisser  Bestandteile  der  Sprachfunktion  immer  deut- 
licher zugleich  bestimmte  Zusammenhänge  verschiedener  Funktions- 
gebiete hervortreten.  Die  Erkenntnis  dringt  durch,  daß  sich  jeder 
noch  so  einfach  erscheinende  sprachliche  Vorgang  aus  einer  Fülle 
elementarer  psychophysischer  Funktionen  verschiedener  Art  zusam- 
mensetzt und  regelmäßig  zugleich  bestimmte  Hilfsfunktionen  in  An- 
spruch nimmt,  so  daß  es  völlig  unmöglich  erscheint,  ihn  an  ein  eng 
begrenztes  Himgebiet  oder  gar  an  eine  einzelne  Hirnzelle  binden  zu 
vrollen.  Damit  ist  natürlich  nicht  ausgeschlossen,  daß  sich  die  in 
der  Beobachtung  gegebenen  Sonderungen  der  Funktionen  in  irgend- 
einem Schema  festhalten  lassen.  Aber  bei  der  Konstruktion  eines 
solchen  muß  man  sich  immer  gegenwärtig  halten,  daß  es  nicht 
bloß  den  zur  Beobachtung  kommenden  Ausfallserscheinungen,  son- 
dern auch  den  Verbindungen  der  Funktionen,  durch  die  sie  sich 
unterstützen   oder  für   ausgefallene  Ersatz  schaffen,    Ausdruck  gebe. 


Unzulänglichkeit  der  Lokalisationshypothesen.  r^g 

Das  leistet  offenbar  das  in  Fig.  37  dargestellte  Schema  nicht,  denn 
es  gerät  überall  in  Widerstreit  mit  den  Tatsachen.  Es  lassen  sich 
aus  ihm  Störungen  der  Wortbildung  ableiten,  die  gar  nicht  vor- 
kommen. Noch  mehr  aber  bietet  die  Wirklichkeit  eine  Menge  von 
Störungen  isoliert  wie  in  Verbindung  mit  andern  dar,  die  aus  dem 
Schema  nicht  herauszulesen  sind,  weil  sie  außerhalb  der  Voraus- 
setzungen liegen,  auf  denen  es  beruht. 

So  ist  es  eine  der  augenfälligsten  und  durch  keine  Hilfsannahme 
zu  vermeidende  Folgerung,  die  sich  schon  auf  Grund  der  bloßen 
Unterscheidung  eines  motorischen  und  eines  sensorischen  Sprach- 
zentrums ergibt,  daß  eine  Aufhebung  der  Leitung  zwischen  diesen 
beiden  Zentren  (in  3  Fig.  37)  die  Fähigkeit  gehörte  Worte  nach- 
zusprechen aufheben  müßte,  während  die  Fähigkeit  spontan  zu 
reden  erhalten  bliebe.  Ein  solcher  Zustand  kommt  aber  nicht  vor. 
Statt  dessen  hat  man  Fälle  sogenannter  »Paraphasie«  hierher  be- 
zogen (s.  unten  5).  Da  jedoch  bei  dieser  eine  gewisse  Fähigkeit 
des  Nachsprechens  immer  besteht,  während  nur  gelegentlich  falsche 
Worte  für  die  richtigen  eingesetzt  werden,  und  da  femer  dieses 
Symptomenbild  bei  den  verschiedensten  sonstigen  zentralen  Stö- 
rungen beobachtet  wird,  so  ist  das  sichtlich  nur  ein  Notbehelf: 
eine  Störung,  die  genau  der  Leitungsunterbrechung  bei  3  entspricht, 
gibt  es  nicht  ^;.  Dies  ist  um  so  auffallender,  als  das  zwischen  den 
Zentren  J/  und  5  (Fig.  36)  gelegene  Gebiet  der  »Insel«  gar  nicht 
so  selten  für  sich  allein,  ohne  daß  die  Stellen  M  und  5  selbst  be- 
troffen sind,  Läsionen  darbietet.  Überhaupt  müßten  nach  dem 
Schema  viel  häufiger  gesonderte  motorische  oder  sensorische  Ano- 
malien beobachtet  werden,  als  es  der  Fall  ist,  und  es  müßte  un- 
gefähr ebenso  leicht  eine  sensorische  Störung  bei  intakter  moto- 
rischer Wortbildung,  wie  umgekehrt  eine  motorische  bei  erhalten 
gebliebenem  Wortgedächtnis  vorkommen  können.  Das  trifft  aber 
wieder  nicht  zu:  Störungen  rein  motorischer  Art  sind  sehr  häufig; 
mit  amnestischen  Zuständen  pflegen  dagegen  nicht  selten  auch  mehr 
oder  minder  beträchtliche  Störungen  der  Wortartikulation  verbunden 
zu  sein. 

Läßt    so   die    Annahme   einer    strengen  Lokalisation    der  Wort- 


^J  S.  Frend,  Zur  Auffassung  der  Aphasien.   1891,  S.  11. 


540 


Die  Wortbildung. 


bildungsfunktionen  Symptomenbilder  erschließen,  die  tatsächlich  nicht 
vorkommen,  so  gibt  sie  aber  auf  der  andern  Seite  über  eine  große 
Menge  von  Störungen,  und  namentlich  von  Verbindungen,  Begleit- 
erscheinungen und  nachträglichen  Kompensationen  derselben  gar 
keinen  Aufschluß.  So  besteht  die  Schriftblindheit  häufig  zusammen 
mit  gewöhnlicher  motorischer  Aphasie,  eine  funktionelle  Beziehung, 
für  die  nur  die  Annahme  einer  zufällig  gleichzeitigen  Affektion  der 
Zentren  M  und  0  übrigbliebe.  Ferner  ist  es  eine  bei  den  ver- 
schiedensten Störungen  vorkommende  Erscheinung,  daß  das  Nach- 
sprechen erhalten  bleibt,  während  die  spontane  Wortbildung,  das 
Erkennen  von  Wörtern  und  das  Lesen  von  solchen  unmöglich  ist. 
Von  allen  unter  den  unbestimmten  und  für  viele  Fälle  ungenauen 
Begriff  der  »Aphasie«  zusammengefaßten  Erscheinungen  sind  es 
endlich  ganz  besonders  diejenigen,  die  man  den  spezielleren  Symp- 
tomengruppen der  »Amnesie«  und  der  »Paraphasie«  zuzählt,  die 
durch  ihren  Verlauf,  durch  ihr  Ineinandergreifen  und  durch  die 
eigentümlichen  kompensatorischen  Vorgänge,  die  bei  ihnen  be- 
obachtet werden,  dem  Versuch  sie  in  eines  der  üblichen  Lokali- 
sationsschemata  einzuordnen  widerstreben,  während  gerade  sie 
psychologisch  von  besonderem  Interesse  sind.  Aus  diesem  Grunde 
bedürfen  sie  hier  einer  eingehenderen  Betrachtung. 

4.   Physiologische  und  pathologische  Amnesie. 

Unter  der  »amnestischen  Aphasie«  pflegt  man,  um  dem  in  dem 
Wort  Aphasie  liegenden  Begriff  einigermaßen  treu  zu  bleiben, 
solche  Sprachstörungen  zu  verstehen,  bei  denen  das  Wortgedächt- 
nis entweder  ganz  oder  bis  auf  geringe  Reste  aufgehoben  ist.  Da 
nun  von  diesen  schwersten  Formen  der  Störung  an  bis  zu  den 
leichteren  einer  noch  tief  in  das  normale  Leben  hereinreichenden 
Schwäche  des  Wortgedächtnisses  alle  möglichen  Übergangsstufen 
vorkommen,  so  sieht  man  sich  genötigt,  jenem  Begriff  den  allge- 
meineren der  »Amnesie«  gegenüberzustellen.  Er  ist  um  so  unent- 
behrlicher, als  in  diesem  Fall  ebensosehr  die  leichteren  Symptome 
durch  die  schwereren,  wie  nicht  selten  diese  durch  jene  erläutert 
werden.  Die  »Amnesie«  in  diesem  Sinne  ist  eine  lediglich  nega- 
tive   Störung:    sie  besteht    in    einem   Versagen    der  Assoziationen 


Physiologische  und  pathologische  Amnesie.  e^I 

zwischen  Begriff  und  Wort.  Während  die  Vorstellungen  und  Be- 
griffe, sofern  nicht  gleichzeitig  anderweitige  Störungen  vorhanden 
sind,  in  normaler  Weise  gebildet  werden  können,  unterbleibt  die 
Assoziation,  die  von  dem  Begriff  zu  dem  ihn  bezeichnenden  Worte 
führt,  entweder  völlig,  oder  sie  spricht  schwieriger  an,  so  daß  das 
Wort  nur  mit  Mühe  und  meist  unter  Mitwirkung  von  Assoziations- 
hilfen gefunden  werden  kann. 

Die  Wirksamkeit  solcher  Assoziationshilfen  sogar  bei  Gedächtnis- 
mängeln infolge  grober  Gehirnläsionen  zeigt  schlagend  ein  zuerst 
von  Grashey  ^)  beobachteter  Fall  hochgradiger  pathologischer  Am- 
nesie. Der  Patient  hatte  infolge  einer  Kopfverletzung  sein  Wort- 
gedächtnis fast  völlig  verloren;  er  besann  sich  aber  auf  den  Namen 
eines  Objektes,  indem  er  ihn  »schreibend  fand«,  d.  h.  indem  er  das 
Schriftbild  des  Wortes  durch  Fingerbewegungen  oder,  wenn  er 
daran  gehindert  war,  durch  Bewegungen  einer  Zehe,  im  Notfalle 
selbst  der  Zunge  hervorbrachte.  Darauf  stellte  sich  dann  auch  die 
Lautvorstellung  ein^).  Offenbar  war  also  in  diesem  Falle  das  Ge- 
dächtnis für  optische  Wortbilder  sowie  das  für  Schreibbewegungen 
erhalten,  aber  das  für  akustische  Wortvorstellungen  aufgehoben: 
so  weit  würde  die  Erscheinung  als  eine  Läsion  des  Zentrums  5  {A) 
bei  intakter  Beschaffenheit  von  0  und  E  (Fig.  37)  zu  deuten  sein. 
Aber  was  sich  dadurch  nicht  erklären  läßt,  ist  die  Tatsache,  daß 
die  Funktion  von  £  auch  das  insuffizient  gewordene  Zentrum  5  {Ä} 
wieder  zur  Funktion  anregt,  daß  also  die  Unterbrechung  dieser 
Funktion  keine  absolute  ist,  sondern  sich  teils  bei  unmittelbarer 
Einwirkung  des  Wortes  —  der  Patient  vermochte  unmittelbar  ge- 
hörte Worte  nachzusprechen  —  teils  durch  das   willkürlich    erzeugte 


')  Grashey,  Archiv  für  Psychiatrie,  XVI,  1885,  S.  654  ff.  Vgl.  auch  die  weiteren 
eingehenden  Untersuchungen  des  gleichen  Patienten  von  R.  Sommer,  Zeitschr,  für 
Psychologie  und  Physiologie  der  Sinnesorgane,  II,  1891,  S.  143  ff.,  und  Gustav  Wolff, 
ebenda  XV,   1897,  S.  i  ff. 

2)  Ähnliche  Hilfswirkungen  von  selten  der  Schreibbewegungen  sind  auch  in 
Fällen  von  Amnesie,  die  mit  >Agraphie«  verbunden  waren,  beobachtet  worden.  So 
konnte  ein  von  Hans  Gudden  untersuchter  amnestischer  Patient  bekannte  Wörter 
nicht  schreiben,  weder  wenn  man  sie  ihm  diktierte,  noch  wenn  man  ihm  die  von 
ihm  selbst  geschriebenen  zum  Abschreiben  vorlegte.  Er  schrieb  sie  aber  sofort 
nach,  wenn  man  sie  ihm  vor  seinen  Augen  vorschrieb.  (Neurologisches  Zentralblatt, 
1900,  Nr.  I,  S.  13.) 


CA^2  Die  Wortbildung. 


Schriftbild  desselben,  das  der  amnestischen  Störung  nicht  unterlag, 
momentan  wiederherstellen  kann.  Diese  Mithilfe  begleitender  Vor- 
stellungen zeigte  sich  bei  dem  gleichen  Patienten  auch  noch  in  man- 
chen andern  Erscheinungen.  Auf  die  Frage:  »welche  Farbe  hat  das 
Blut?«  vermochte  er  z.  B.  keine  Antwort  zu  finden,  obgleich  er, 
wie  seine  Handlungen  verrieten,  den  Sinn  der  Worte  verstand.  Er 
vermochte  es  selbst  dann  nicht,  als  man  ihm  irgendein  anderes  rotes 
Objekt  vorzeigte.  Aber  das  Wort  kam  ihm  sofort,  als  er,  um  es  zu 
finden,  absichtlich  eine  kleine  Pustel  an  seiner  Hand  ößhete  und  den 
Blutstropfen  hervorquellen  sah.  Dieses  Beispiel  zeigt  zugleich,  wie 
der  Patient  mit  Überlegung  und  nicht  ohne  Aufwand  eines  gewissen 
Scharfsinns  bemüht  war  dem  Defekt  seines  Wortgedächtnisses  abzu- 
helfen und  ihn  gelegentlich  zu  verbergen  wußte.  Wollte  man  allen 
diesen  Verhältnissen  in  einem  Lokalisationsschema  Ausdruck  geben, 
so  müßte  daher  in  diesem  nicht  bloß  den  besonderen  Assoziations- 
bedingungen der  verschiedenen  Zentren  untereinander,  sondern  auch 
den  Einflüssen  Rechnung  getragen  sein,  die  bei  solcher  Aushilfe 
der  Funktionen  von  höheren  Zentralgebieten,  in  denen  wir  uns  die 
Elemente  der  Apperzeptions-  und  Aufmerksamkeitsvorgänge  lokali- 
siert denken  können,  ausgehen.  Und  zu  dem  allem  müßte  man, 
um  der  notwendig  anzunehmenden  Verbindung  einfacher  Funktionen 
zu  komplexen  Resultanten  zu  genügen,  die  in  der  üblichen  Schema- 
tisierung der  Sprachzentren  festgehaltene  Voraussetzung  aufgeben. 
Laut  und  Wort  seien  bei  der  Bildung  und  Erkennung  der  Worte 
getrennt  existierende  Vorstellungen.  Dennoch  wird  man  an  »Wort- 
zentren« höchstens  in  dem  Sinne  denken  können,  daß  die  in 
den  Wortvorstellungen  durch  gemeinsame  Funktionsübung  verbun- 
denen Gehörsempfindungen  weiteren,  dem  direkten  Hör-  und  Seh- 
zentrum beigegebenen  Zentralgebieten  zugeleitet  werden,  deren 
Leistungen  aber  durchaus  an  die  gleichzeitige  Funktion  jener  un- 
mittelbaren Sinneszentren  gebunden  sind.  Damit  verschwindet  dann 
von  selbst  die  unmögliche  Annahme  irgendeiner  »Ablagerung  von 
Wörtern«  im  Gehirn.  Denn  in  jener  Forderung  eines  funktio- 
nellen Zusammenhangs  von  Zentren  verschiedener  Ordnung  ist 
schon  die  Voraussetzung  enthalten,  daß  jede  Wortvorstellung  auch 
nach  ihrer  physiologischen  Seite  ein  komplexer  Vorgang  ist,  der 
das  Zusammenwirken   zahlloser   zentraler  Elemente   umfaßt  und  da- 


Physiologische  und  pathologische  Amnesie.  54^ 

her  von  Fall   zu   Fall   in  unendlich    mannigfaltiger   Weise    variieren 
kann. 

Selbst  nach  dieser  wesentlichen  Modifikation  der  Lokalisations- 
vorstellungen  bleibt  aber  noch  eine  Menge  einzelner  Verhältnisse 
übrig,  die  von  besonderem  Wert  für  die  funktionelle  Charakteristik 
der  Sprachstörungen  sind,  und  die  sich  gleichwohl  oder,  wie  man 
vielleicht  besser  sagen  müßte,  die  sich  deshalb,  weil  sie  mit  der 
allgemeinen  Natur  der  zentralen  Funktionen  auf  das  engste  zu- 
sammenhängen, jedem  Versuch  einer  Lokalisation  der  verwickei- 
teren Funktionen  in  besonderen  räumlich  zu  trennenden  Gebieten 
entziehen.  Dahin  gehört  namentlich  die  bei  allen  Erscheinungen 
der  Amnesie  und  bei  deren  verschiedensten  Graden,  von  der 
beinahe  gänzlichen  Aufhebung  des  Wortgedächtnisses  bis  zu  der 
noch  in  die  Breite  des  normalen  Lebens  reichenden  Vergeßlichkeit, 
beobachtete  Tatsache,  daß  die  einzelnen  Wörter  je  nach 
der  Kategorie  der  Vorstellungen  und  Begriffe  ein  außer- 
ordentlich verschiedenes  Beharrungsvermögen  besitzen. 
Schon  bei  den  noch  dem  normalen  Vergessen  angehörenden  Er- 
scheinungen bemerken  wir  nämlich  regelmäßig,  daß  nicht,  wie 
man  denken  könnte,  die  abstraktesten  Redeteile,  Bejahung,  Ver- 
neinung, Präpositionen,  Konjunktionen  und  abstrakte  Adverbien, 
am  schnellsten  vergessen  werden,  sondern  umgekehrt  diejenigen 
Wörter,  die  am  unmittelbarsten  konkrete  sinnliche  Gegenstände  be- 
zeichnen: die  Eigennamen  bestimmter  Personen,  dann  die  konkreten 
Substantiva.  An  sie  schließen  sich  die  Adjektiva,  und  unter  ihnen 
gehen  wieder  solche  voran ,  die  von  sinnlich  anschaulicher  Bedeu- 
tung sind.  Fester  haften  die  abstrakteren  Adjektiva  und  die  Verba, 
und  am  festesten  endlich  neben  den  Interjektionen  die  abstrakten 
Partikeln.  Diese  Reihenfolge  wiederholt  sich  allerdings  in  den 
pathologischen  Fällen  nicht  immer  in  gleich  deutlicher  Weise.  Sie 
wird  hier  bald  von  einer  teilweisen  Wiederherstellung  der  Funktionen, 
bald  von  andern  Störungen  durchkreuzt,  die  auf  bestimmter  lokalisierte 
Unterbrechungen  der  Leitung  zurückzuführen  sind.  Dennoch  sind 
die  Spuren  jener  Regelmäßigkeit  häufig  selbst  bei  der  motorischen 
Aphasie  anzutreffen.  Daß  aber  die  Erscheinung  aus  irgendeiner 
Lokalisation  der  Erinnerungsbilder  nicht  erklärt  werden  kann,  ist 
einleuchtend.    Müßte  man  doch  nicht  bloß  voraussetzen,  die  Wörter 


544  Die  Wortbildung. 


seien  nach  grammatischen  Kategorien  in  den  Hirnzellen  abgelagert, 
sondern  auch  die  Zerstörung  der  Erinnerungszentren  gehe  immer  in 
der  entsprechenden  Reihenfolge  vor  sich. 

5.   Erscheinungen  der  Paraphasie. 

Gegenüber  der  Amnesie  als  einer  Gruppe  reiner  Ausfallserschei- 
nungen bezeichnet  die  »Paraphasie«  ein  positives  Symptomenbild. 
Wir  verstehen  nämlich  unter  diesem  Ausdruck  diejenigen  Störungen, 
bei  denen  die  Wortbildung  als  solche  beeinträchtigt  ist,  indem  ent- 
weder verschiedene  Wörter  miteinander  verwechselt  oder  ganz  neue 
Wörter  gebildet  und  den  der  Sprache  geläufigen  substituiert  werden. 
Diese  Wortfehler  sind  wohl  zu  unterscheiden  von  den  früher  (S.  382  ff.) 
besprochenen  Lautvermengungen  oder  »Paralalien« ,  mit  denen  sie 
häufig  zusammengeworfen  werden.  Bei  der  »Paralalie«  wird  das 
richtige  Wort  gewählt,  aber  es  wird  infolge  abnormer  Assimila- 
tionen, Dissimilationen,  Auslassungen  von  Lauten  usw.  unrichtig 
ausgesprochen.  Bei  der  »Paraphasie«  wird  von  vornherein  ein  un- 
richtiges Wort  gewählt,  während  namentlich  bei  den  geringeren, 
bloß  in  einzelnen  Wortverwechslungen  bestehenden  Graden  dieser 
Störung  jedes  einzelne  Wort  richtig  gesprochen  wird.  In  der  Mitte 
zwischen  den  Paralalien  und  den  Paraphasien  steht  die  »Wortver- 
mengung«  (Onomatomixie  S.  387),  in  die  daher  auch  die  Symptome 
der  Paraphasie  ohne  scharfe  Grenze  übergehen  können.  Im  allge- 
meinen rechnen  wir  aber  eine  Erscheinung  zur  »Onomatomixie«, 
solange  es  sich  bloß  um  eine  lautliche  Veränderung  handelt,  die 
ein  bestimmtes  Wort  durch  die  assoziative  Einwirkung  eines  andern 
erfährt,  indes  das  ursprüngliche  Wort  immer  noch  deutlich  erkenn- 
bar bleibt.  Wir  reden  dagegen  von  »Paraphasie«,  wenn  das  Wort 
in  seinen  wesentlichen  Bestandteilen  durch  assoziative  Einwirkungen 
völlig  unkenntlich,  oder  wenn  es  durch  ein  ganz  anderes  Wort  oder 
wortähnliches  Gebilde  ersetzt  wird.  Aus  diesen  Gründen  schließt 
sich  trotz  der  Verwandtschaft  beider  Erscheinungen  die  Onomato- 
mixie noch  den  Lautstörungen  der  Sprache  an,  während  die  Para- 
phasie zu  den  Störungen  der  Wortbildung  gerechnet  werden  muß. 
Damit  hängt  zusammen,  daß  die  Paraphasie  im  allgemeinen  ein 
schwereres  Symptom  ist,   und  daß  sie  daher  bei  dem  gewöhnlichen 


Erscheinungen  der  Paraphasie.  545 

»Versprechen«  nur  selten,  um  so  häufiger  dagegen  als  pathologische 
Erscheinung  vorkommt.  Als  solche  ist  sie  wohl  stets  mit  einer 
Rindenaffektion  des  Gehirns  verbunden.  Aber  sie  läßt  sich  weder 
in  einem  hypothetischen  Lokalisationsschema  unterbringen  noch 
tatsächlich  auf  eine  fest  bestimmte  örtliche  Störung  zurückführen. 
Gleichwohl  kann  sie  sich  mit  den  verschiedensten  andern  Sprach- 
störungen verbinden  sowie  als  Vorläuferin  tieferer  Defekte  auf- 
treten. 

Vor  allem  finden  sich  die  Erscheinungen  der  Wortverwechslung 
und  der  Einschaltung  von  Wörtern,  die  außerhalb  des  Zusammen- 
hangs der  Rede  liegen,  als  Begleiterinnen  der  pathologischen 
Amnesie.  Aber  auch  bei  höheren  Graden  seniler  Gedächtnisschwäche 
beobachtet  man  namentlich  die  Wortverwechslungen  nicht  selten. 
Dieser  Zusammenhang  erklärt  sich  ohne  weiteres  daraus,  daß  ge- 
rade in  den  Momenten,  wo  die  richtige  Assoziation  zwischen  Vor- 
stellung und  Wort  versagt,  der  Zufluß  solcher  Vorstellungen,  die 
durch  irgendwelche  andere  Assoziationsbedingungen  gehoben  wer- 
den, relativ  erleichtert  ist.  Anderseits  zeigt  jedoch  das  Vorkommen 
paraphatischer  Erscheinungen  bei  ganz  intaktem  Wortgedächtnis, 
sowohl  bei  der  Gedankenflucht  der  Irren  wie  bei  geistig  gesunden 
Menschen  infolge  hochgradiger  Zerstreutheit,  daß  es  sich  hier  um 
direkte  assoziative  Ursachen  handelt,  zu  denen  die  Amnesie  nur  als 
begünstigendes  Moment  hinzutreten  kann. 

Die  stärksten,  freilich  auch  irregulärsten  Beispiele  der  Paraphasie 
bietet  in  vielen  Fällen  die  Sprache  der  Geisteskranken:  irregulär 
deshalb,  weil  es  hier  meist  zufällig  eingeübte  Wortvorstellungen, 
manchmal  auch  ganz  willkürliche  Wortgebilde  oder  mindestens  will- 
kürliche Wortzusammensetzungen  sind,  die  den  Redestrom  unter- 
brechen, ohne  Rücksicht  darauf,  ob  sie  an  der  betreffenden  Stelle 
ein  anderes  ausfallendes  Wort  vertreten  oder  die  Rolle  sinnloser 
Klangbilder  spielen,  denen  aber  der  Kranke  nicht  selten  eine  be- 
sondere Bedeutung  beilegt").  Viel  regelmäßiger  gestalten  sich  die 
Wortvertretungen  bei  den  höheren  Graden  der  Amnesie.  Beson- 
ders beobachtet  man  das  bei  jenen  Erscheinungen  des  Gedächtnis- 
schwundes, wo  im  allgemeinen  konkretere  Wortklassen  fehlen,  aber 


I)  Brosius,  Allg.  Zeitschr.  für  Psychiatrie,  XI,  S.  52  fF. 
Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  jtf 


:  i5  Die  Wortbildung. 


abstral^ere  noch  verfügbar  sind  ^S.  543).  Hier  pflegt  bald  ein  nahe 
verwandtes  abstraktes  Wort  substituiert,  bald  auch  geradezu  das  feh- 
lende definierend  umschrieben  zu  werden:  z.  B.,  wenn  die  konkreten 
Substantiva  versagen,  die  entsprechenden  \'erba  aber  noch  geläufig 
sind,  die  *^Schere'  als  Mas  womit  man  schneidet',  das  *^Fenster'  als 
'das  wodurch  man  sieht'  u.  dgl.  ^^  Kommen  die  Wortverwechs- 
lungen  bei  irregulärer  Amnesie  vor,  so  treten  sie  meist  in  der  Form 
auf  daß  die  Wörter  in  der  gleichen  Kategorie  bleiben,  so  daß  also 
Wörter  wie  Tisch  und  Stuhl,  stehen  und  hängen,  gehen  und  fahren 
miteinander  verwechselt  werden. 

Auch  in  sonst  normalen  Zuständen  können  ähnliche  Wort\'er- 
tauschungen  als  gelegentliche  Begleiterscheinungen  oder  Steige- 
rungen der  Laut-  und  Wort\'ermengungen  vorkommen.  Von  den 
eigentlich  pathologischen  Fällen  unterscheiden  sich  diese  noch  dem 
normalen  Leben  angehörigen  Erscheinungen  dadurch,  daß  sich  die 
Assoziationen  innerhalb  eines  engeren  Gebiets  verwandter  oder  sich 
berührender  Vorstellungen  bewegen*).  Manchmal  wechseln  dabei 
auch  nur  bestimmte  Begritte  ihre  Stellen,  oder  es  wird  aus  einer 
begriftlich  verwandten  Redeweise  ein  Wort  oder  eine  Wortgruppe 
herübergenommen,  Fälle,  die  sich  als  assoziative  Substitution,  Per- 
mutation und  Kontamination  unterscheiden  lassen.  So  in  den  Bei- 
spielen: 'Maximilian  I.  hatte  die  Hoftnung,  den  Thron  auf  seinem 
Haupte  zu  sehen'  'Substitution  von  'Thron'  für  'Krone'),  'In  Neapel 
geht  man  des  Abends  auf  dem  Hause  seines  Daches  spazieren' 
(Permutation).  'Er  setzt  sich  auf  den  Hinterkopf  ^kontaminiert  aus 
'er  setzt  es  sich  in  den  Kopf  und  'er  stellt  sich  auf  die  Hinter- 
beine'ri-     Dagegen  nähert  es  sich  schon  der  Grenze  des  Patholo- 


I)  Kußmaol.  Störungen  der  Sprache.  S.  163. 

-]  Zahlreiche  Beispiele  dieser  Art  finden  sich  in  der  Sammlung  >Gallettiana«; 
(Berlin^  1876).  Sie  enthält  Aussprüche  eines  1750— 1S2S  in  Gotha  lebenden,  an 
hochgradiger  Zerstreutheit  leidenden  Schulmonarchen.  Dieselben  gehören,  abgesehen 
von  wenigen  Beispielen  von  Onomatoniixie.  sämtlich  in  das  Gebiet  der  »Paraphasie«, 
während  kein  einziger  Fall  einer  >Paralalie<  darunter  vorkommt  —  ein  Beweis  für 
die  oben  S.  544  hen-orgehobene  Wesensverschiedenheit  dieser  Erscheinungen.  Nur 
wenige  Beispiele  von  Paraphasie  enthält  dagegen  die  Sammlung  von  Meringer  und 
Mayer.  Versprechen  und  Verlesen    vgl.  S.  3S2  Anm.  2\ 

3  Die  beiden  ersten  Beispiele  aus  den  >Gallettiana<.  das  dritte  aus  Meringer 
und  Mayer,  welche  letztere  Autoren  noch  mehrere  Fälle  solcher  Kontamination  bei- 
bringen  ,S.  53  fF.v    Übrigens  wird  der  Begriff  der  »Kontamination«  gewöhnlich  nach 


Psychophysisches  Prinzip  der  Funktionsübung.  c^j 

gischen,  wenn  ein  Wort  durch  Assoziation  ein  anderes  wachruft, 
das  aus  dem  Gedankenzusammenhang  herausfällt,  eine  assoziative 
Einschaltung,  die  sich  am  nächsten  an  die  Substitution  anschließt 
und  manchmal  mit  ihr  verbunden  sein  kann.  So  in  dem  Beispiel: 
""Elisabeth  erschien  nach  der  Hinrichtung  der  Maria  Stuart  im  Par- 
lament in  der  einen  Hand  das  Schnupftuch,  in  der  andern  eine 
Träne'  (Gallettiana) ,  wo  durch  Assoziation  mit  der  *^einen  Hand' 
die  'andere""  interponiert  und  zugleich  dem  "^Auge'  substituiert  ist. 


6.    Psychophysisches  Prinzip  der  Funktionsübung. 

Da  die  zentralen  Störungen  der  Sprache,  wie  ihr  Zusammen- 
hang mit  Verletzungen  und  krankhaften  Veränderungen  bestimmter 
Hirngebiete  beweist,  physisch  bedingte,  an  sich  selbst  aber  psy- 
chische Symptome  sind,  so  fordern  sie  eine  doppelte  Funktions- 
analyse heraus :  eine  physiologische  und  eine  psychologische.  Dabei 
wird  freilich  die  letztere  der  ersteren  immer  als  Führerin  dienen 
müssen,  nicht  nur  weil  die  psychische  Seite  der  Sprachstörungen 
unserer  Beobachtung  zugänglicher,  sondern  weil  auch  bei  den  mannig- 
fachen Erscheinungen  ihrer  Korrelation  und  Kompensation  die  psy- 
chologische Deutung  die  näherliegende  ist.  Bei  dem  gegenwärtigen 
Zustande  der  Gehirnphysiologie  ist  jedoch  überhaupt  eine  tiefer  ein- 
dringende physiologische  Funktionsanalyse  völlig  ausgeschlossen; 
und  es  ist  nicht  wahrscheinlich,  daß  sich  dieser  Zustand  in  abseh- 
barer Zeit  wesentlich  ändern  werde.  Was  die  physiologische  hier 
der  psychologischen  Betrachtungsweise  zu  bieten  vermag,  beschränkt 
sich  vorläufig  auf  einen  allgemeinen  Gesichtspunkt,  der,  weil  er  sich 
in  gleicher  Weise  für  die  physische  wie  für  die  psychische  Seite 
der  Erscheinungen  bewährt,  zugleich  eine  allgemeinere  psychophy- 
sische  Bedeutung  besitzt.  Er  besteht  in  dem  Prinzip  der  Funk- 
tionsübung. Dieses  Prinzip  sagt  aus,  daß  jede  Funktion,  mag 
sie  nun   eine   physische   oder  eine  psychische  oder  beides  zugleich 


dem  Vorgang  von  H.  Paul  (Prinzipien  der  Sprachge3chichte,3  S.  145  ff.,  sehr  weit 
gefaßt,  so  daß  er  Vorgänge  der  Lautbildung,  Wortbildung  und  Satzfügung  einschließt, 
die  sich,  wenn  auch  überall  Assoziationen  zwischen  ursprünglich  gesonderten  Vor- 
stellungen eine  Rolle  spielen,  doch  wesentlich  unterscheiden. 

35* 


^^8  Die  Wortbildung. 


sein,  durch  ihre  Ausübung  gesteigert,  durch  ihre  Unter- 
lassung vermindert  und  schließlich  aufgehoben  wird. 
Der  Begrifif  der  Übung  ist  an  und  für  sich  ein  gemischter,  der 
ebenso  rein  physiologische  wie  psychologische  Erscheinungen  um- 
faßt. Auch  wo  uns  ein  Übungsvorgang  unmittelbar  nur  als  psy- 
chischer Tatbestand  gegeben  ist,  da  weist  aber  dieser  regelmäßig 
auf  gleichzeitige  physische  Übungsvorgänge  hin.  Diese  gemischte 
Anwendung  des  Begriffs  zeigt  schon,  daß  er  ein  rein  symptomatischer 
Begriff  ist,  der  an  sich  einen  nur  provisorischen  Wert  besitzt.  So- 
bald man  ihm  einen  bestimmteren  Inhalt  zu  geben  sucht,  so  wandelt 
er  sich  von  selbst  in  eine  psychologische  oder  in  eine  physiologische 
Gesetzmäßigkeit  um.  So  hat  der  Begriff  der  psychologischen 
Übung  seine  Unterlage  in  der  Befestigung  der  Assoziationen  durch 
Wiederholung,  die  zugleich  die  beiden  Hauptfälle  der  unmittel- 
baren Übung  und  der  Mitübung  einschließt.  Die  erstere  besteht 
in  der  durch  oft  wiederholte  Assoziation  zunehmenden  Bereitschaft 
eines  vorangegangenen  Bewußtseinsinhaltes  zu  seiner  Erneuerung; 
die  letztere  in  der  Übertragung  einer  solchen  Bereitschaft  von  einem 
gegebenen  Bewußtseinsinhalt  auf  einen  andern,  der  mit  jenem  häufig 
verbunden  war.  Dem  stehen  die  mannigfaltigsten  Vorgänge  rein 
physiologischer  Art  gegenüber,  die  wir  ebenfalls  nach  dem  all- 
gemeinen Charakter  ihrer  Wirkungen  der  Übung  und  Mitübung 
unterordnen.  So  wird  eine  Muskelgruppe  geübt,  wenn  ihre  Leistungs- 
fähigkeit durch  wiederholte  Arbeit  zunimmt;  und  eine  andere  wird 
mitgeübt,  wenn  sie,  ohne  direkt  an  jener  Leistung  beteiligt  zu  sein, 
infolge  der  mechanischen  oder  der  nervösen  Verbindungen  des 
Muskelsystems  regelmäßig  in  Mitbewegungen  gerät.  Bei  der  Übung 
peripherer  Organe  können  wir  über  die  Bedingungen  dieser  Ver- 
änderungen einigermaßen  Rechenschaft  geben,  indem  wir  sie  auf 
die  durch  die  Arbeitsleistung  gesteigerte  Ernährung  und  die  so  be- 
wirkte Zunahme  latenter  Energie  zurückführen.  Dunkler  ist  der 
Vorgang  bei  den  für  die  psychophysischen  Funktionen  maßgeben- 
den Übungsvorgängen  im  Nervensystem.  Hier  ist  es,  abgesehen 
von  den  in  gleicher  Weise  anzunehmenden  Ernährungseinflüssen, 
hauptsächlich  eine  Tatsache,  die  auf  den  eigentümlichen  Charakter 
der  Übungsvorgänge  Licht  wirft :  das  ist  die  schon  bei  den  einfach- 
sten Reizversuchen  an  motorischen  oder  sensibeln  Nerven  zu  beob- 


Psychophysisches  Prinzip  der  Funktionsübung.  e^n 

achtende  Zunahme  der  Reizbarkeit  durch  die  Reizung'). 
Sie  macht  es  begreiflich,  daß  jede  Bahn,  die  irgendwo  im  Nerven- 
system häufiger  von  einem  Erregungsvorgange  durchflössen  wird, 
für  künftige  Reize  zugänglicher  wird.  Daraus  ergibt  sich  in  der  An- 
wendung auf  die  unendlich  vielgestaltigen  Leitungs-  wie  Erregungs- 
bedingungen der  Nervenzentren  die  Folgerung,  daß  die  Wege,  die 
ein  Erregungsvorgang  einschlägt,  in  letzter  Instanz  zwar  von  den 
überhaupt  vorhandenen  und  in  der  vererbten  Organisation  gegebenen 
zentralen  Elementen  und  Nervenleitungen  abhängen,  daß  aber  zugleich 
die  Bedingungen  der  Erregbarkeit  und  der  Leitung  fortwährend 
durch  die  wirklich  stattfindenden  Erregungen,  gemäß  jenem  Prinzip 
der  Zunahme  der  Reizbarkeit  durch  die  Reizung,  verändert  werden. 
Die  Leitungsbahnen  in  einem  individuellen  Gehirn  sind  also  zu 
einem  sehr  wesentlichen  Teile  selbst  schon  Produkte  dessen,  was 
wir  »Übungsvorgänge«  nennen.  Die  Substrate  der  Nervenerregungen 
sind  nichts  Beharrendes,  sondern  in  ihrer  physiologischen  Anlage 
zum  Teil  Erzeugnisse  ihrer  Funktionen.  Hiermit  ist  eigentlich  eine  feste 
Lokalisation  dieser  Funktionen  bereits  ausgeschlossen.  Bedenken 
wir  aber  vollends,  auf  welch  verwickeltem  Zusammenwirken  ele- 
mentarer physischer  Vorgänge  die  Entstehung  einer  einfachen  Sinnes- 
wahrnehmung, z.  B,  eines  zusammengesetzten  Klangs  oder  einer 
ausgedehnten  Fläche,  schon  innerhalb  der  peripheren  Anhangs- 
apparate des  Nervensystems  beruht,  so  werden  wir  die  Annahme, 
daß  die  Erregungszustände  einer  abgegrenzten  Rindenstelle  als  phy- 
sische Substrate  einer  bestimmten  Klasse  von  Vorstellungen,  z.  B. 
von  Laut-  oder  von  optischen  Bildern  der  Worte,  anzusehen  seien, 
als  unmöglich  zurückweisen.  Leider  fehlen  uns  jedoch,  abgesehen 
von  jenen  allgemeinen  Gesetzen  der  Erregung  und  Erregungsleitung, 
auf  physiologischer  Seite  alle  Hilfsmittel  einer  exakteren  Funktions- 
analyse. 

Dagegen  bewährt  es  sich  gerade  bei  der  Sprache,  daß  die  zu- 
fälligen Störungen  im  Zusammenhang  der  Gehirnteile  ein  außer- 
ordentlich wertvolles  Hilfsmittel  für  die  psychologische  Analyse  selbst 
sind.  Zerlegen  sich  uns  doch  bei  solchen  Störungen  Vorgänge,  die 
im  normalen  Bewußtsein   fast  nur  in  ihrem  ungeteilten  Zusammen- 


')  Vgl.  oben  Kap.  I,  S.  8i. 


eeo  Die  Wortbildung. 


hang  vorkommen,  deutlich  in  ihre  psychischen  Komponenten;  und 
durch  die  Art  der  Ausgleichung  der  Störungen  gewähren  sie  einen 
oft  überraschenden  Einblick  in  die  Wechselbeziehungen  der  psy- 
chischen Funktionen.  Abgesehen  von  dieser  Hilfe,  die  sie  der 
Psychologie  leisten,  ergibt  sich  aber  aus  der  Beziehung  der  Störungen 
zu  bestimmten  Gehirnläsionen  nur  das  allgemeine  Resultat,  daß  wie 
schon  der  Sprachlaut  so  auch  das  Wort  im  eigentlichsten  Sinn  ein 
psychophysisches  Gebilde  ist,  —  ein  psychophysisches  auch  in 
der  Bedeutung,  daß  wir  die  gesamten  physiologischen  Begleiterschei- 
nungen der  Sprachfunktion  weder  als  Ursachen  noch  als  Wirkungen, 
sondern  nur  als  Parallelvorgänge  der  psychischen  Prozesse  an- 
sehen können.  Denn  die  vorauszusetzenden  physischen  Anlagen 
lassen  sich  gerade  so  gut  nur  aus  den  physischen  Eigenschaften  der 
Nervensubstanz  ableiten,  wie  umgekehrt  die  psychischen  Vorgänge 
der  Wortbildung  nur  aus  den  Assoziations-  und  Apperzeptions- 
prozessen zu  begreifen  sind.  Als  psychisches  Erzeugnis  steht  das 
Wort  inmitten  der  gesamten  seelischen  Entwicklungen,  aus  denen 
die  Sprache  hervorgeht;  als  physisches  ist  es  ein  integrierender 
Bestandteil  der  auf  ererbten  und  erworbenen  Anlagen  beruhenden 
Funktionen  des  Nervensystems  und  seiner  Hilfsorgane. 


7.   Psychologische  Deutung  der  zentralen  Sprachstörungen. 

Vermag  uns  die  Physiologie,  abgesehen  von  dem  allgemeinen 
psychophysischen  Prinzip  der  Funktionsübung  und  seiner  letzten 
Zurückführung  auf  gewisse  elementare  Eigenschaften  der  Nerven- 
erregung, über  den  Zusammenhang  der  zentralen  Sprachstörungen, 
über  ihre  Korrelationen  und  Kompensationen  nicht  die  allergeringste 
Auskunft  zu  geben,  so  verhält  sich  das  wesentlich  anders  mit  der 
psychologischen  Deutung  der  Erscheinungen.  Hier  bieten  diese, 
wie  oben  bemerkt,  ein  überaus  wichtiges,  durch  kein  anderes  ersetz- 
bares Hilfsmittel  für  die  psychologische  Analyse  der  Wortbildungs- 
vorgänge. Die  Natur  hat  in  diesem  Falle  selbst  für  uns  an  einem 
Objekt,  dem  menschlichen  Gehirn,  experimentiert,  das  sonst  mehr 
als  irgendein  anderes  willkürlichen  Eingriffen  entzogen  bleibt.  Die 
Sprachstörungen    können    aber    natürlich    diese    Hilfe    nur    deshalb 


Psychologische  Deutung  der  zentralen  Sprachstörungen.  ccj 

leisten,  weil  sie    selbst  einer  nahezu  vollständigen  psychologischen 
Deutung  zugänglich  sind. 

Die  üblichen  Lokalisationshypothesen  pflegen,  wie  oben  (S.  539) 
erwähnt,  schon  an  der  Tatsache  zu  scheitern,  daß  mit  tieferen  Stö- 
rungen des  Wortgedächtnisses  beinahe  regelmäßig  auch  Störungen 
der  Artikulationsfähigkeit  verbunden  sind.  Psychologisch  betrachtet 
ist  diese  Wechselbeziehung  nicht  bloß  begreiflich,  sondern  nahezu 
selbstverständlich.  Ist  doch  das  akustische  oder  optische  Wortbild 
so  eng  mit  den  Sprachbewegungen  assoziiert,  daß  bei  dem  Natur- 
menschen, bei  dem  nicht  willkürliche  Hemmungen  diese  Assoziation 
teilweise  gelöst  haben,  das  gedachte  oder  gelesene  Wort  unvermeid- 
lich in  das  gesprochene  übergeht.  Das  Denken  in  Worten  ist  zu- 
gleich leises' Sprechen,  und  auch  wenn  die  sichtbaren  Bewegungen 
der  Sprachorgane  unterdrückt  werden,  bleibt  es  dies  in  dem  Sinne, 
daß  schwache  Impulse  zu  denselben  samt  den  sie  begleitenden 
leisen  Empfindungen  zurückbleiben^).  Werden  nun  durch  irgend- 
eine zentrale  Störung  die  Artikulationsbewegungen  unmöglich,  so 
versagt  damit  die  Assoziationshilfe,  die  sie  den  akustischen  Wort- 
vorstellungen gewähren.  Aber  da  die  normale  Wortassoziation  von 
den  akustischen  oder  optischen  Wortvorstellungen  zu  den  Artikula- 
tionsbewegungen geht,  nicht  umgekehrt,  so  werden  Störungen  in 
der  Bildung  jener  Vorstellungen  immer  auch  mehr  oder  weniger  die 
motorische  Seite  der  Sprachfunktion  beeinträchtigen,  während  direkte 


I)  Nur  mit  der  hier  angedeuteten  Einschränkung,  also  mit  dem  Vorbehalt,  daß 
die  natürliche  Assoziation  der  Wortvorstellung  mit  den  Artikulationsbewegungen  und 
-empfindungen  durch  Hemmung  der  letzteren  in  gewissen  Grenzfällen  ganz  gelöst 
werden  kann,  ist  daher  der  von  Stricker  (Studien  über  die  Sprachvorstellungen, 
1880,  S.  29  ff.)  aufgestellte  Satz  richtig,  die  »Wortvorstellungen«  seien  »motorische 
Vorstellungen«.  In  Wahrheit  sind  sie  eben  Komplikationen  von  Lautvorstellungen 
und  Artikulationsempfindungen,  zu  denen  als  dritter  Bestandteil  auch  noch  Schrift- 
bilder und  das  Schreiben  oder  Zeichnen  begleitende  innere  Tastempfindungen  (pan- 
tomimische Bestandteile)  kommen  können,  und  bei  denen,  wie  bei  allen  Kompli- 
kationen, eventuell  jeder  Bestandteil  bis  zur  Nullgrenze  geschwächt  sein  kann.  Ob 
und  wie  dies  stattfindet,  das  hängt  aber  von  den  Verhältnissen  der  assoziativen 
Übung  ab.  Bei  dem  Gelehrten,  der  an  leises  Denken  und  Lesen  gewöhnt  ist,  ver- 
blassen die  Artikulationsempfindungen,  und  die  Bewegungen  können  derart  unter- 
drückt sein,  daß  nur  einzelne  besonders  betonte  Wörter  in  einer  längeren  Wort- 
reihe leise  artikuliert  werden.  Dafür  drängen  sich  dann  gelegentlich  auch  beim 
lauteren  Denken  Schriftbilder  der  Worte  auf. 


c  c  2  Die  Wortbildung. 


Störungen  der  Sprachbewegungen  selbst  nicht  notwendig  auf  die 
akustischen  oder  optischen  Bestandteile  der  Wortkomplikationen 
übergreifen  müssen.  Übrigens  widerlegt  diese  vorwiegende  Richtung 
der  Assoziation  auch  die  auf  die  alte  Lehre  von  den  »inneren 
Sinnen«  gegründete  Annahme,  daß  das  motorische  Sprachzentrum 
an  sich  nur  ein  Zentrum  der  »Bewegungsvorstellungen«  sei  (S.  536). 
Denn  jene  Richtung  läßt  sich  offenbar  am  einfachsten  erklären, 
wenn  man  annimmt,  die  akustische  oder  optische  Wortvorstellung 
löse  ursprünglich  zunächst  durch  die  Übertragung  auf  das  motorische 
Zentrum  eine  Artikulationsbewegung  aus,  und  dann  erst  entstehe 
konsekutiv  die  Artikulationsempfindung,  nicht  aber  umgekehrt  aus 
den  Bewegungsvorstellungen  die  wirkliche  Bewegung.  Die  letztere 
Annahme  wird  überdies  schon  dadurch  unmöglich,  daß  in  Wahrheit 
bei  der  Assoziation  der  Artikulation  der  Worte  mit  den  Wortvor- 
stellungen gar  keine  Erinnerungsbilder  auszuführender  Bewegungen, 
sondern  bloß  einzelne  Spannungsempfindungen  der  Sprachmuskeln 
und  der  Artikulationsorgane  existieren,  die  sich  durchaus  nicht  zu 
einer  wirklichen  Bewegungsvorstellung  zusammensetzen. 

Ahnlich  erklärt  sich  psychologisch  aus  jener  Richtung  der  Asso- 
ziation von  den  sensorischen  zu  den  motorischen  Gebieten  der 
Sprachfunktion  die  nicht  seltene  Kombination  der  Schriftblindheit 
mit  Bewegungsstörungen,  während  auch  hier  wieder  sehr  wohl  die 
letzteren  ohne  eine  Spur  von  Alexie  vorkommen  können.  Bei  einem 
an  das  Lesen  gewöhnten  Menschen  bilden  natürlich  die  optischen 
Wortbilder  wichtige  assoziative  Anregungen  für  die  Wortartikulation, 
so  daß  ihr  Wegfall  leicht  an  dieser  bemerklich  wird.  Auch  die  oft 
vorkommenden  Erscheinungen,  daß  Worte  nachgesprochen,  aber 
nicht  für  eine  längere  Zeit  festgehalten,  oder  daß  falsche  Worte 
substituiert  oder  die  Wortbestandteile  falsch  kombiniert  werden,  sind 
psychologisch  ohne  weiteres  aus  den  Abweichungen  zu  erklären, 
die  man  allgemein  bei  einer  Lockerung  eingeübter  Assoziationen 
beobachtet.  Ehe  eine  Assoziation  ganz  versagt,  gestattet  sie  immer 
noch  eine  Erneuerung  für  sehr  kurze  Zeit;  und  wenn  eine  bestimmte 
einzelne  Assoziation  unsicher  geworden  ist,  so  pflegt  zunächst  noch 
ihre  allgemeine  Assoziationsrichtung  fortzuwirken.  Das  erstere  er- 
klärt die  »Echosprache«,  das  letztere  viele  Erscheinungen  der 
»Paraphasie«.     Für   dieses   Fortwirken    bestimmter  Assoziationsrich- 


Psychologische  Deutung  der  zentralen  Sprachstörungen.  555 

tungen  ist  es  insbesondere  kennzeichnend,  daß  die  Wortverwechs- 
lungen immer  innerhalb  der  gleichen  Wortkategorie,  und  daß  sie 
in  den  meisten  Fällen  sogar  innerhalb  einer  Gruppe  irgendwie  be- 
Sfrifflich  verwandter  Wörter  bleiben.  Nie  wird  etwa  ein  Substantiv 
mit  einem  Verbum  verwechselt;  aber  sehr  häufig  vertauscht  der 
Paraphatische  Wörter  wie  ""stehen'  und  'hängen',  ""gehen'  und  'fahren  , 
'Tisch'  und  'Stuhl'  u.  dgl.  Diese  Vertauschungen  erklären  sich 
unmittelbar  aus  Assoziationen,  die  durch  jene  übereinstimmenden 
Begriffsgefühle  zustande  kommen,  durch  die  Wörter  gleicher 
Gattung  verbunden  sind,  und  die  ihrerseits  mit  gewissen  überein- 
stimmenden Begrififselementen  zusammenhängen.  So  kann  man  sich 
z.  B.  die  Verwechslung  zwischen  'gehen'  und  'fahren'  durch  ein  an 
das  identische  Element  der  Fortbewegung  gebundenes  Gefühl  ver- 
mittelt denken.  In  andern  Fällen  partieller  amnestischer  Aphasie 
sieht  man  nicht  minder  die  Assoziationen  der  Berührungselemente 
eine  große  Rolle  spielen.  So  ereignet  es  sich  häufig,  daß  ein  Gegen- 
stand für  sich  allein  nicht  genannt  werden  kann,  daß  aber  sein 
Name  sofort  aufsteigt,  wenn  ein  anderes  Wort  gesprochen  wird,  mit 
dem  er  häufig-  verbunden  vorkommt.  Ein  Patient  hatte  seinen 
eigenen  Namen  total  vergessen.  Nannte  man  seinen  Vornamen,  so 
geriet  er  in  heftige  Aufregung,  ohne  daß  jedoch  sein  verzweifeltes 
Suchen  Erfolg  hatte:  die  gewohnte  Berührung  der  Namen  erweckte 
offenbar  ein  gewisses  Bekanntheitsgefühl,  vermochte  aber  noch  nicht 
das  Wort  selbst  ins  Bewußtsein  zu  heben.  Dies  geschah  erst  in 
dem  Augenblick,  wo  auch  der  Anfangsbuchstabe  des  Zunamens 
genannt  wurde').  Analoge  Erscheinungen  begegnen  uns  sehr  oft 
bei  den  noch  in  die  Breite  des  normalen  Lebens  fallenden  Ge- 
dächtnisdefekten. 

Ganz  und  gar  in  der  Richtung  überall  wiederkehrender  Assozia- 
tionserscheinungen bewegt  sich  ferner  der  in  vielen  Beobachtungen 
amnestischer  Aphasie  zutage  tretende  Einfluß  der  Komplika- 
tionen der  Vorstellungen.  Eine  vergessene  Wortvorstellung 
kann  wiedererweckt  werden,  wenn  irgendeine  ihr  assoziierte  eines 
andern  Sinnesgebiets  in  das  Bewußtsein  tritt.  Eine  besonders  wich- 
tige  Rolle  spielen    dabei    die  Komplikationen  der   akustischen   und 


I)  H.  Gudden,  Neurologisches  Zentral blatt,  1900,  Nr.  i,  S.  Ii. 


-r  1  Die  Wortbildung. 


der  optischen  Wortvorstellungen  sowie  beider  mit  den  Artikulations- 
empfindungen des  Sprechens  und  Schreibens.  So  konnte,  wie  oben 
bemerkt,  der  Kranke  Grasheys  (S.  541)  die  Worte  ^schreibend 
finden« :  die  Assoziation  des  Wortes  mit  dem  Schriftbild  sowie  die 
des  letzteren  mit  den  Schreibbewegimgen  und  den  von  ihnen  aus- 
gelösten Empfindungen  war  also  erhalten  geblieben,  und  mittelst 
dieser  Empfindungen  konnte  sich  dann  auch  fi.ir  einen  Augenblick 
die  Assoziation  mit  dem  Worte  wiederherstellen.  Zu  seinen  Schreib- 
bewesfuns'en  verhielt  sich  hierbei  der  Kranke  ebenso  wie  zu  den 
unmittelbar  gehörten  Worten,  die  er  nachzusprechen  vermochte.  In- 
folge besonderer  Komplikationsbedingungen  konnte  aber  statt  des 
dominierenden  Gesichtssinnes  auch  ein  anderes  Sinnesgebiet  die 
Assoziationshilfe  leisten:  so  konnte  er  zwar  die  Uhr  benennen,  wenn 
er  sie  sah,  aber  eine  glatte  Fläche  oder  die  Spitze  einer  Nadel 
wurde  von  ihm  nur  als  ''glatt'*  oder  'spitz'  bezeichnet,  wenn  er  sie 
nicht  bloß  sah,  sondern  auch  betastete').  Bei  der  Auffassung  dieser 
Eigenschaften  ist  eben  der  Tasteindruck  so  sehr  der  vorherrschende, 
daß  er  sich  auch  noch  bei  dem  Kranken  als  die  mächtigere  Asso- 
ziationshilfe erwies.  Zugleich  spielt  hier  wohl  der  Umstand  eine 
Rolle,  daß  das  Eigenschaftswort  überhaupt  zu  einer  deutlichen  Ver- 
gegenwärtigung der  Assoziation  mit  einer  bestimmten  Gegenstands- 
vorstellung bedarf,  und  daß  es  daher  stärkere  Assoziationshilfen 
durch  gleichzeitiges  Sehen  und  Tasten  fordert.  Diese  Anlehnung 
an  den  Gegenstand  wird  besonders  auch  durch  jene  weitere  Beob- 
achtung belegt,  daß  dieser  Kranke  die  Frage  »welche  Farbe  hat 
das  Blut  ? «  erst  beim  Anblick  eines  Blutstropfens  beantworten  konnte. 
Die  Assoziation  zwischen  dem  Wort  'Blut'  und  dem  Wort  'rot'  war 
ihm  verloren  gegangen;  ebenso  war  die  zwischen  dem  Wort  Blut 
und  dem  Erinnerungsbild  des  Blutes  so  schwach  geworden,  daß  er 
sich  zwar  der  allgemeinen  Bedeutung  des  Wortes  wahrscheinlich 
mittelst  weiterer  Assoziationen  mit  bluthaltigen  Organen  u.  dgl.  er- 
innerte, daß  aber  das  sinnliche  Erinnerungsbild  des  Blutes  selbst 
nicht  mit  zureichender  Deutlichkeit  erweckt  wurde.  Auch  der  An- 
blick anderer  roter  Gegenstände  genügte  nicht:  hier  fehlte  wieder 
die  Assoziation  dieser  Gegenstände  mit  der  Vorstellung  des  Blutes; 


')  G.  Wolff,  Zeitschr.  für  Psychol.  und  Physiol.  der  Sinnesorg.  XV,  S.  29. 


Psychologische  Deutung  der  zentralen  Sprachstörungen.  crt 

erst  diese  Vorstellung  selbst,  wenn  sie  in  der  unmittelbaren  Wahr- 
nehmung gegeben  war,  vermochte  das  prädizierende  Wort  wachzu- 
rufen. Indem  hier  der  ganze  normalerweise  vorhandene  Komplex 
von  Assoziationen,  der  das  Wort  mit  seiner  Bedeutung  verbindet, 
mit  Ausnahme  einer  einzigen  zerstört  ist,  erweist  sich  deutlich  eben 
diese  zurückbleibende  Assoziation  der  sinnlichen  Eigenschaft  mit 
dem  anschaulich  gegebenen  Träger  derselben  als  die  stärkste  von 
allen.  Zugleich  ist  in  diesem  Fall,  ebenso  wie  in  vielen  andern  mit 
relativ  stabil  bleibenden  oder  allmählich  sich  ausgleichenden  Stö- 
rungen, die  intellektuelle  Arbeit  bemerkenswert,  durch  die  sich  der 
Kranke  Hilfsassoziationen  zu  verschaffen  suchte.  Ähnlich  beobachtet 
man  wohl  auch,  daß  Kranke  mit  Erfolg  bemüht  sind,  das  Verlorene 
durch  neue  Einprägung  wiederzugewinnen.  Das  sind  immer  solche 
Fälle,  in  denen  sich  die  Störung  auf  die  Lösung  gewisser  mechanisch 
eingeübter  Assoziationen  beschränkt,  während  die  intellektuellen 
Funktionen  relativ  ungestört  bleiben.  Sollten  also  auch,  wie  wir 
angesichts  des  Einflusses  der  Erfahrungseindrücke  auf  die  Willens- 
entwicklung annehmen  müssen,  die  ursprünglichen  Willensrichtungen 
selbst  unter  der  Wirkung  der  Assoziationen  entstanden  sein,  so  muß 
doch  auf  Grund  jener  Ausgleichung  der  Assoziationsstörungen  durch 
willkürliche  Anstrengung  angenommen  werden,  daß,  nachdem  ein- 
mal bestimmte  Willensrichtungen  vorhanden  sind,  diese  unabhängig 
von  ihrer  Assoziationsgrundlage  fortdauern  und  regulierend  und 
wiederherstellend  in  die  Assoziationsvorgänge  selbst  eingreifen 
können.  So  enthüllt  sich  hier  ein  Kreislauf  der  Vorgänge,  der  im 
normalen  Seelenleben  wegen  des  gleichförmigen  Fortschritts  aller 
Entwicklungen  verborgener  bleibt.  Die  höheren  intellektuellen  Pro- 
zesse sind  gleichzeitig  Wirkungen  und  Ursachen  der  niederen,  asso- 
ziativen. Einerseits  entstehen  sie  aus  den  Verflechtungen  und  Ver- 
dichtungen, die  diese  in  der  Seele  eingehen  und  zurücklassen; 
anderseits  aber  regulieren  sie,  einmal  entstanden,  den  Strom  der 
Assoziationen  und  können  demzufolge  auch  unter  günstigen  Um- 
ständen verloren  gegangene  von  neuem  erzeugen  oder  durch  andere 
stellvertretende  ersetzen. 

Besonders  naheliegend  erscheint  eine  psychologische  Deutung 
endlich  bei  jenen  Erscheinungen,  die  eine  regelmäßige  Beziehung 
der  Abnahme  des  Wortgedächtnisses  zu  der  grammatischen  Stellung 


cc6  Die  Wortbildung. 


der  Wörter  erkennen  lassen.  Was  den  entscheidenden  Einfluß 
ausübt,  kann  hier  natürlich  nicht  die  grammatische  Kategorie  als 
solche,  sondern  nur  der  psychologische  Charakter  des  Wortes  sein, 
der  wiederum  in  dem  Bewußtsein  selbst  direkt  nur  durch  das  be- 
gleitende Begriffsgefühl  sich  verrät,  und  hierdurch  erst  indirekt  mit 
dem  für  den  grammatischen  Wert  des  Wortes  entscheidenden  Vor- 
stellungsinhalt des  Begriffs  zusammenhängt.  Wenn  die  Reihenfolge, 
in  der  die  Wörter  vergessen  werden,  im  allgemeinen  von  solchen 
mit  konkreter  sinnlicher  Bedeutung  zu  denen  mit  abstrakterer  fort- 
schreitet, so  erklärt  sich  aber  dies  aus  der  Wirksamkeit  der  Kom- 
plikationen. Je  fester  ein  Wort  mit  einer  bestimmten  sinnlichen 
Vorstellung  assoziiert  ist,  um  so  leichter  kann  es  aus  dem  Bewußt- 
sein verschwinden,  da  es  nun  ganz  und  gar  durch  diese  Vorstellung 
ersetzt  werden  kann.  So  vergessen  wir  Eigennamen  uns  persönlich 
bekannter  Personen  am  leichtesten,  weil  uns,  wenn  wir  an  solche 
Personen  denken,  zunächst  das  Bild  des  Menschen  selbst  im  Be- 
wußtsein steht.  Den  Eigennamen  am  nächsten  kommen  die  kon- 
kreten Substantiva:  auch  der  Tisch,  der  Stuhl,  der  Baum  sind  mir 
sofort  in  ihrer  gegenständlichen  Beschaffenheit  gegenwärtig,  und  ich 
kann  mir  daher  diese  Gegenstände  vorstellen,  ohne  mich  ihrer 
Namen  zu  erinnern.  Etwas  weiter  in  der  Richtung  der  Abstrakta 
entfernen  sich  schon  die  konkreten  Adjektiva,  und  noch  mehr  die 
konkreten  Verba.  Eigenschaften  wie  rot,  blau,  groß,  klein  usw. 
können  an  sehr  vielen  Objekten  und  darum  in  außerordentlich 
mannigfachen  einzelnen  Nuancen  vorkommen,  sie  bedürfen  also 
schon  in  höherem  Maße  des  Wortes,  um  sie  in  ihrer  allgemeinen 
Natur  festzuhalten.  Vollends  die  konkreten  Verbalbegriffe  können 
zu  den  verschiedensten  sinnlichen  Wahrnehmungsbildern  gehören. 
Man  überzeugt  sich  von  ihrer  abstrakteren  Natur  am  leichtesten, 
wenn  man  sie  mit  entsprechenden  Substantiven  vergleicht:  da  ist 
"^schneiden'  abstrakter  als  'Schere',  "^schlagen'  als  ""Hammer'  usw. 
Hier  kann  daher  schon  viel  weniger  das  Wort  durch  die  Vorstellung 
selbst  verdrängt  werden.  Das  steigert  sich  endlich  noch  bei  den 
eigentlich  abstrakten  Begriffen,  welcher  Wortkategorie  sie  angehören 
mögen,  und  besonders  bei  den  Partikeln,  bei  denen  meist  das  Wort 
allein  den  Begriff  vertritt,  und  wo  daher  dieser  gar  nicht  gedacht 
werden  kann,  ohne  daß  das  Wort  sich   einstellt.     Dazu  kommt  bei 


Psychische  Struktur  der  Wortvorstellungen.  557 

den  Interjektionen  der  Gefühlswert  der  Worte,  und  bei  vielen  Par- 
tikeln, wie  bei  den  meisten  Präpositionen  und  Konjunktionen,  neben 
dem  Einfluß  des  bei  ihnen  stark  ausgeprägten  »Begriffsgefühls«, 
die  Häufigkeit  des  Gebrauchs,  die  ihnen,  den  selbständigeren  Be- 
standteilen der  Rede  gegenüber,  den  Vorteil  der  größeren  Einübung 
verschafft^). 

Wie  der  Einfluß  der  Einübung  bei  diesen  häufig  gebrauchten 
Redeteilen  neben  andern  mit  der  Bildung  der  Wortkomplikationen 
zusammenhängenden  Motiven  sich  geltend  macht,  so  spielt  er  übri- 
gens noch  sonst  bei  den  Erscheinungen  der  Amnesie  eine  wichtige 
Rolle.  So  ist,  wenn  das  zu  einem  Gegenstand  gehörige  Wort  ver- 
gessen ist,  damit  keineswegs  immer  auch  die  umgekehrte  Assozia- 
tion aufgehoben,  sondern  bei  etwas  geringeren  Graden  der  Störung 
wird  zu  dem  gehörten  Wort  in  der  Regel  vollkommen  sicher  der 
Begriff  reproduziert.  Dies  hat  nach  den  Assoziationsgesetzen  seinen 
guten  Grund  darin,  daß  wir  zu  einem  Wort,  sobald  uns  überhaupt 
seine  Bedeutung  bekannt  ist,  immer  die  zugehörige  Vorstellung, 
daß  wir  aber  keineswegs  immer  zu  einer  Vorstellung  das  sie  be- 
zeichnende Wort  assoziieren.  Jene  Assoziationsrichtung  ist  also  die 
eingeübtere:  sie  ist  gegenüber  der  entgegengesetzten  ähnlich  bevor- 
zugt wie  etwa  die  Assoziation  der  Buchstaben  in  der  von  a  bis  z 
gerichteten  Reihenfolge  vor  der  umgekehrten. 


II.  Psychologie  der  Wortvorstellungen. 

I.    Psychische  Struktur  der  Wortvorstellungen. 

Der  psychologischen  Untersuchung  der  Wortvorstellungen  tritt 
naturgemäß   als  nächstes  Problem   die  Frage  nach  der  Zusammen- 

I)  Auf  den  psychologischen  Zusammenhang  der  bei  der  amnestischen  Aphasie. 
ebenso  wie  bei  dem  gewöhnlichen  Vergessen,  beobachteten  Bevorzugung  bestimmter 
Wortklassen  mit  der  Stellvertretung  der  Wörter  durch  assoziierte  Vorstellungen  habe 
ich  schon  vor  langer  Zeit  verschiedentlich  hingewiesen  (»Gehirn  und  Seele«,  Deutsche 
Rundschau,  XXV,  1880,  S.  6  ff.,  wieder  abgedruckt  Essays,  1885,  S.  112  ff.  Grund- 
züge der  Physiol.  Psychol.  -I,  S.  223,  1880, 5  I,  S.  314).  Ohne  diese  Arbeiten  zu 
kennen,  hat  auch  B.  Delbrück  (Jenaische  Zeitschr.  für  Naturwiss.,  XX,  1886)  eine 
ähnliche  Erklärung  gegeben.  Bei  den  Pathologen  und  Gehirnphysiologen  hat  aber 
diese  psychologische  Interpretation  kaum  Beachtung  gefunden. 


ecg  Die  Wortbildung. 


Setzung  dieser  besonderen  Gattung  von  Vorstellungen  entgegen, 
an  welche  Frage  sich  unmittelbar  die  andere  nach  der  Ver- 
bindungsweise ihrer  Bestandteile  anschließt.  Da  es  vorzugsweise 
die  zentralen  Störungen  der  Wortbildung  sind,  in  denen  sich 
uns  die  Sprachfunktion  deutlich  in  ihre  verschiedenen  Bestand- 
teile zerlegt  und  dabei  zugleich  die  funktionellen  Wechselbeziehun- 
gen derselben  erkennen  läßt,  so  bilden  sie  auch  für  die  Unter- 
suchung der  psychischen  Struktur  der  Wortvorstellungen  die  sicherste 
Grundlage. 

Was  sich  nun  bei  den  pathologischen  Sprachstörungen  im  all- 
gemeinen sofort  der  psychologischen  Betrachtung  aufdrängt,  das 
ist  die  Tatsache,  daß  das  Wort  ein  sehr  zusammengesetztes 
psychisches  Gebilde  ist,  das  zugleich  durch  diese  seine  kom- 
plexe Beschaffenheit  in  hohem  Grade  befähigt  wird,  nach  den  ver- 
schiedensten Richtungen  Assoziationsbeziehungen  zu  vermitteln,  so- 
wie sich  selbst  durch  die  Verbindungen  seiner  Teile  gegen  zerstö- 
rende Einwirkungen  zu  erhalten.  So  machen  neben  den  Sprach- 
lauten vor  allem  die  Artikulationsempfindungen  einen  wohl  niemals 
ganz  fehlenden,  namentlich  aber  bei  der  Hemmung  anderer  Ele- 
mente sehr  lebhaft  hervortretenden  Bestandteil  aus.  Daneben  können 
dann  aber  auch  noch  die  gewohnheitsmäßig  gebrauchten  Schrift- 
zeichen des  Wortbildes  in  die  Verbindung  eingehen,  und  an  diese 
optischen  Elemente  endlich  die  Artikulationsempfindungen  der  Tast- 
organe geknüpft  sein,  welche  die  Schreibbewegungen  begleiten. 
Sind  gleich  diese  optischen  und  graphischen  Bestandteile  in  der 
besonderen  Ausprägung,  in  der  wir  sie  in  unserem  Bewußtsein 
vorfinden,  selbstverständlich  ein  spezifisches  Produkt  der  Kultur,  das 
schon  bei  den  des  Lesens  wenig  gewohnten  Mitgliedern  der  glei- 
chen Kulturgesellschaft  zurücktritt,  so  haben  wir  doch  allen  Grund 
anzunehmen,  daß  es  selbst  in  dem  Bewußtsein  des  Wilden  an 
Äquivalenten  derselben  nicht  fehlt.  Denn  je  geringer  die  Fähig- 
keit wird,  das  Wort  in  Lautzeichen  graphisch  zu  fixieren,  um  so 
lebhafter  pflegt  statt  dessen  die  Rede  von  Gebärden  begleitet  zu 
sein,  in  deren  pantomimischem  und  optischem  Bestandteil  die  As- 
soziationen unserer  Schriftsymbole  in  entgegengesetzter  Richtung 
wiederkehren,  —  entgegengesetzt  deshalb,  weil  bei  ihnen  die  Be- 
wegungsempfindung  das   Primäre,    das  Gesichtsbild   der  Bewegung 


Psychische  Struktur  der  Wortvorstellungen.  ecg 

aber  das  Sekundäre  ist,  ganz  wie  bei  der  eigenen  Hervorbringung 
der  Sprachlaute,  wo  sich  ebenfalls  erst  beim  Nachsprechen  gehörter 
Laute  die  Ordnung  umkehrt.  In  dieser  erweiterten  Bedeutung  wird 
man  demnach  in  jenen  pantomimischen  Bestandteilen  wieder  an- 
nähernd regelmäßige,  in  ihrer  besonderen  Gestaltung  und  in  ihrer 
Intensität  freilich  weit  veränderlichere  Elemente  der  Wortkompli- 
kationen sehen  dürfen.  Nennen  wir  diese  wechselnderen  Elemente 
den  graphischen,  die  beiden  konstanteren  dagegen  den  Laut-  und 
den  Begriffsbestandteil  des  Wortes,  und  deuten  wir  diese  drei 
Glieder  durch  die  Symbole  Z,  L  und  B  an,  so  sind  hiernach  zunächst 
L  und  Z  aus  zwei  Untergliedern  zusammengesetzt,  L  aus  dem  aku- 
stischen a  der  Lautvorstellung  und  dem  motorischen  m  der  Artiku- 
lationsempfindung, Z  aus  dem  optischen  o  des  Wortzeichens  und 
dem  motorischen  ;;/  der  zeichnenden  Bewegungsempfindung.  Nach 
den  allgemeinen  Eigenschaften  der  Begrififsvorstellungen  ist  aber  B 
ebenfalls  aus  zwei  Bestandteilen  gebildet:  aus  der  objektiven  Vor- 
stellung V  und  dem  diese  begleitenden  Gefühlston  g.  Die  vollstän- 
dige Wortvorstellung  erscheint  so  als  eine  dreiteilige  Komplikation 
mit  je  binärer  Zusammensetzung  ihrer  Glieder: 

a  VI  o  m  V  g. 

Innerhalb  dieser  Komplikation  müssen  wir  uns  nun  im  allgemeinen 
jedes  Glied  mit  jedem  andern  verbunden  denken,  so  daß  es  teils 
direkt  teils  indirekt  als  Assoziationshilfe  wirksam  werden  kann. 
Ferner  kann  jeder  Bestandteil  entweder  aller  seiner  Verbindungen 
oder  bloß  einzelner  verlustig  gehen;  und  endlich  kann  eine  Ver- 
bindung total  aufgehoben  oder  bloß  gestört  werden,  in  welchem 
letzteren,  sehr  häufigen  Falle  sich  eben  der  Ausfall  durch  Assozia- 
tionshilfen, die  durch  Einübung  allmählich  wirksamer  werden,  aus- 
gleichen kann.  Dabei  lehren  aber  schon  die  gewöhnlichen  Erfah- 
rungen und  zeigen  noch  vollständiger  die  Sprachstörungen,  daß 
die  Festigkeit  dieser  einzelnen  Assoziationen  eine  erheblich  ver- 
schiedene  ist,  indem  sie  teils  von  der  normalen  Übung,  teils,  bei 
vorhandenem  Ausfall,  von  der  kompensatorischen  Energie  der  Hilfs- 
assoziationen abhänsft.  Abgresehen  von  der  hierdurch  verursachten 
Veränderlichkeit  der  Verbindungen  dürfte  das  folgende  Schema  die 
regelmäßigeren  Erscheinungen  mit  einiger  Vollständigkeit  erläutern. 


560  Die  Wortbildung. 


In  ihm  sind  die  zwischen  den  einzelnen  Gliedern  der  VVortvorstel- 
lung  bestehenden  Assoziationen  durch  verbindende  Linien  darge- 
stellt. Die  Dicke  derselben  versinnlicht  die  Festigkeit  der  Assozia- 
tion, die  daneben  angebrachten  Pfeile  geben  deren  Richtungen  an. 
Die  rechts  stehenden  Symbole  v  g  bedeuten  irgendeine  andere 
Begrififsvorstellung,  die  eventuell  mit  v  g  assoziiert  ist:  sie  soll  die 
gelegentlich  vorkommenden  Einwirkungen  äußerer  Assoziationen, 
namentlich  auch  solcher  mit  Erinnerungsbildern,  veranschaulichen, 
wobei  zu  beachten  ist,  daß  ein  Erinnerungsbild  nach  allgemeiner 
psychologischer  Erfahrung  gegenüber  dem  Eindruck,  auf  den  es  zu- 
rückbezogen wird,  ebenfalls  eine  intensiv  wie  qualitativ  abweichende 
Vorstellung  ist. 


a    •—^^—  rrv 


\ 


Fig.  38.     Schema  der  sprachlichen  Assoziationen. 

Als  die  festesten  Verbindungen  treten  uns  in  diesem  Schema, 
wenn  wir  durch  die  Stellung  der  Buchstaben  die  Richtung  der  Ver- 
bindungen andeuten,  a  in^  m  a,  ga  und  vi  m  entgegen;  die  zu  der 
letzteren  entgegengesetzte  Assoziationsrichtung  m  m  ist  dagegen 
sehr  schwach:  wir  können  nicht  leicht  graphische  Wortsymbole 
hervorbringen,  ohne  sie  sofort  mit  Bewegungen  der  Sprachorgane 
zu  assoziieren,  während  wir  leicht  Worte  artikulieren,  ohne  sie  mit 
graphischen  oder  Gebärdezeichen  zu  verbinden.  Sehr  innig  sind 
auch  die  Verbindungen  ag  und  g a:  das  eine  Vorstellung  beglei- 
tende Begriffsgefühl  macht  sich  deutlich  auch  dann  noch  geltend, 
wenn  der  Vorstellungsbestandteil  wirkungslos  geworden  ist,  und 
ebenso  erweckt  der  Laut  ein  Begriffsgefühl,  wenn  er  die  zu  ihm 
gehörige  Vorstellung  nicht  mehr  zu  erregen  vermag.  Etwas  schwä- 
cher sind  die  Verbindungen  av  und  ov^  und  gegenüber  ihnen 
stehen  die  umgekehrten  Richtungen  v  a  und  v  0,  sowie  diejenigen 
zwischen  0  und  den  beiden    Formen  der    Bewegungsempfindungen 


Psychische  Struktur  der  Wortvorstellungen.  c5i 

in  und  w,  endlich  m  in  (im  Gegensatze  zu  der  sehr  festen  Asso- 
ziation /;/  ;;/)  noch  weiter  zurück ;  zugleich  ist  die  Verbindung  o  m 
in  der  Regel  eine  einseitige:  wir  assoziieren  zu  Schriftbildern  Arti- 
kulationsbewegungen, nicht  oder  doch  nur  unter  besonders  gün- 
stigen Bedingungen  der  Übung  umgekehrt  jene  zu  diesen,  während 
die  graphischen  Empfindungen  (;//)  ebensowohl  durch  Wortbilder 
erweckt  werden  wie  selbst  solche  anregen  können  [o  m  und  ;//  o). 
Einen  durch  die  Vielheit  der  Verknüpfungen  begünstigten  Fall 
bildet  schließlich  die  Assoziation  oa  (optisches  Wortbild  und 
Laut) :  ist  auch  die  direkte  Verbindung  o  a  relativ  schwach ,  so 
wird  sie  doch  durch  die  Zwischenglieder  o  in  und  in  a  wesentlich 
unterstützt;  daher  denn  auch  das  Schriftzeichen  kaum  anders  als 
unter  gleichzeitigen  Artikulationsbewegungen  die  Lautbildung  an- 
regt. 

Hinsichtlich  der  einzelnen  Formen  der  Sprachstörungen  ergibt 
sich  aus  diesem  Assoziationschema  folgendes :  i )  Aufhebung  der 
Verbindung  a  in  ist  die  Grundlage  der  gewöhnlichen  » ataktischen 
Aphasie«:  diese  Störung  kann  erfahrungsgemäß  bestehen,  ohne  daß 
die  andern  Assoziationen  wesentlich  beeinträchtigt  sind.  2)  Auf- 
hebung der  Assoziation  v  a  bewirkt  die  Symptome  der  gewöhnlichen 
»amnestischen  Aphasie«.  Da  die  Verbindungen  va  und  am  beim 
Sprechen  fortwährend  zu  koordinierter  Funktion  eingeübt  werden, 
so  leidet  mit  v a  \n  der  Regel  auch  am:  mit  amnestischer  ist  atak- 
tische Aphasie  in  irgendeinem  Grade  verbunden.  3)  Auf  analogen, 
aber  von  den  vorigen  relativ  unabhängigen  Assoziationsunterbre- 
chungen om  oder  vo  und  oni  beruhen  die  Symptome  der  »Agra- 
phie«  sowie  der  »Alexie«,  bei  welcher  letzteren  ebenfalls  Agraphie 
als  Folgestörung  zu  bestehen  pflegt.  4)  Motorische  Aphasie  kann 
ohne  Schriftblindheit  existieren,  diese  aber  pflegt  umgekehrt  mit 
jener  verbunden  zu  sein;  dies  wird  durch  die  einseitige  Verbindung 
0  in  ausgedrückt,  die  der  eingeübten  Assoziation  von  Sehen  und 
Artikulieren  beim  Lesen  entspricht.  Auf  der  Einübung  dieser  Ver- 
bindung sowie  der  an  sich  schwächeren  0  in  beruht  auch  die  päda- 
gogisch wichtige  Tatsache,  daß  Schreibbewegungen  die  Worte 
exakter  wiedergeben,  wenn  Laut  und  Schriftbild  gleichzeitig,  als 
wenn  bloß  eines  von  beiden  einwirkt;  im  letzteren  Fall  sind  eben 
bloß  die  Assoziationen  am  ^  mm  oder  orn  ^  im  ersteren  sind  beide 

Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  56 


c()2  Die  Wortbildung. 


gleichzeitig  wirksam").  5)  Erhaltung  der  Assoziation  ß ;;/  beim  Hin- 
wegfallen aller  andern  Verbindungen  begründet  das  Phänomen  der 
»Echosprache«.  Die  nur  durch  besondere  pathologische  Ursachen 
zu  störende  Festigkeit  dieser  Assoziation  entspricht  dem  hohen 
Grade  der  Einübung  in  dieser  Richtung.  6)  Eine  unter  beschränk- 
teren Übungsbedingungen  stehende,  dann  aber  nicht  minder  feste 
Verbindung  ist  m'  m.  Ihre  Erhaltung  sowie  die  ihrer  entsprechen- 
den Anfänge  v  0^  oin  und  ihrer  Fortsetzung  ma  kann  beim  Aus- 
fall der  gewöhnlichen  Verbindung  v  a  als  Assoziationshilfe  funktio- 
nieren: in  diesem  Fall  erweckt  die  graphische  Bewegung  zuerst  die 
Mitbewegung  der  Artikulationsorgane,  und  diese  die  akustische  Wort- 
vorstellung (Fall  Grashey).  7)  Die  an  sich  schwächere  umgekehrte 
Assoziation  m  in  kann  sich ,  wenn  Unterbrechungen  derselben  ein- 
treten, in  analogen  Störungen  der  Funktion  des  Schreibens  bemerk- 
lich machen:  ataktische  Aphasie  ist  daher  zuweilen  mit  völliger 
Agraphie  oder,  wenn  die  Assoziationen  o  m  und  a  m  kompensie- 
rend eingreifen,  mindestens  mit  Schreibstörungen  verbunden;  eben- 
so werden  bei  Stotternden  nicht  selten  die  Artikulationsstörungen 
auf  die  graphischen  Bewegungen  übertragen.  8)  Für  die  Assoziatio- 
nen va  und  vo  können  Assoziationen  mit  ähnlichen  Vorstellungen, 
v  ^  a  und  v' g' 0^  zu  welchen  letzteren  auch  die  bloßen  Erinne- 
rungsbilder der  direkt  durch  äußere  Eindrücke  erweckten  Vorstel- 
lung V  gezählt  werden  müssen,  nur  mangelhaft  Ersatz  leisten,  da 
diese  Assoziationen  im  allgemeinen  die  geringste  Wirkungsfähigkeit 
besitzen.  Umgekehrt  kann  aber  das  durch  eine  erinnerte  Vorstel- 
lung nicht  ausgelöste  Wort  durch  die  Assoziation  mit  einem  direk- 
ten Sinneseindruck  reproduziert  werden.  9)  Die  Assoziation  in  der 
Richtung  a  v  ist  erheblich  fester  als  die  umgekehrte  v  a ,  ent- 
sprechend der  konstanteren  Übung:  ein  bekanntes  Wort  kann  nicht 
gehört  oder  gesprochen  werden,  ohne  die  Vorstellung  des  Gegen- 
standes zu  erwecken,  während  diese  im  Bewußtsein  eventuell  für 
sich  allein  vorkommen  kann.  Gegenüber  der  verhältnismäßig 
schwachen  Assoziation  v  a  ist  jedoch  die  von  der  Gefühlskompo- 
nente der  Vorstellung  ausgehende  Assoziation  g  a  relativ  stark.  Dies 


')  Vgl.  W.  A.  Lay,  Führer  durch  den  Rechtschreibunterricht,  1897,  S.  170. 
H.  Schiller,  Studien  und  Versuche  zur  Erlernung  der  Orthographie,  S.  54  ff.  Abhandl. 
zur  pädagog.  Psychol.  von  Schiller  und  Ziehen,  ü,   1898. 


Psychische  Struktur  der  Wortvorstellungen.  c()-i 

erklärt  einerseits  die  bei  paraphatischen  Zuständen  vorkommenden 
Entgleisungen  innerhalb  der  gleichen,  durch  das  Begriffsgefühl 
zusammenhängenden  Wortkategorie,  anderseits,  verbunden  mit  den 
allgemeinen  Gesetzen  der  Übung  und  Mitübung,  die  Erscheinungen 
des  progressiven  Schwundes  der  Wortkategorien  bei  fortschreiten- 
der Amnesie,  indem  dabei  im  allgemeinen  die  Gefühlskomponente 
um  so  mehr  hervortritt,  je  unbestimmter  die  Vorstellungskompo- 
nente ist,  bis  endlich  die  letztere  durch  das  Wort  selbst  ersetzt 
wird:  daher  die  Interjektionen  einerseits  und  die  abstrakten  Partikeln 
anderseits  am  längsten  beharren. 

Lassen  sich  hiernach  die  wesentlichen  Störungen  der  Sprache 
ohne  Schwierigkeit  aus  den  allgemeinen  Assoziationsbedingungen 
ableiten,  so  ersieht  man  doch  ohne  weiteres,  daß  es  unmöglich 
sein  würde,  etwa  das  oben  gegebene  Assoziationsschema  in  ein 
Schema  von  Zentren  und  Leitungsbahnen  umgewandelt  zu  denken. 
Einem  solchen  Versuch  steht  schon  die  Tatsache  im  Wege,  daß 
die  hier  dargestellten  Verhältnisse  durchweg  als  Produkte  einer  asso- 
ziativen Übung  zu  deuten  sind,  die  individuell  erheblich  variieren 
kann.  Außerdem  weisen  aber  die  mannigfaltigen  Gradabstufungen 
der  Störungen  sowie  nicht  minder  die  Erscheinungen  der  Korrela- 
tion und  der  funktionellen  Aushilfe  überall  auf  verwickelte  Verbin- 
dungen elementarer  Funktionen  hin,  die  noch  dazu  fortwährenden 
Veränderungen  durch  die  Ausübung  der  Funktionen  unterwor- 
fen sind. 

Diese  Abhängigkeit  der  Wortkomplikation  von  der  Funktion  selbst 
sowie  von  den  Assoziationshilfen,  die  durch  den  Ausfall  bestimmter 
Funktionsrichtungen  entstehen  und  durch  Einübung  befestigt  werden, 
bringt  es  nun  natürlich  mit  sich,  daß  die  einzelnen  Verbindungen, 
aus  denen  sich  eine  vollständige  Wortvorstellung  zusammensetzt, 
von  Fall  zu  Fall  wechselnde  Verhältnisse  darbieten.  Auch  wird 
man  infolgedessen  die  in  dem  obigen  Schema  ausgedrückten  Eigen- 
schaften der  vollständigen  Wortkomplikation  nur  mit  der  Einschrän- 
kung auf  das  normale  Bewußtsein  übertragen  dürfen,  daß  solche 
Assoziationen,  zu  deren  besonderer  Einübung  in  den  individuellen 
Lebensverhältnissen  kein  Anlaß  vorliegt,  latent  bleiben  oder  nur 
unter  speziellen,  sie  begünstigenden  Bedingungen  gelegentlich  ak- 
tuell werden. 

36* 


564  Die  Wortbildung. 


Außerdem  steht  das  Wort,  wie  jede  andere  Vorstellung,  infolge 
der  Assoziationsbeziehungen  zu  früheren  Erlebnissen  in  jedem  in- 
dividuellen Bewußtsein  in  bestimmten,  wiederum  nach  Zeitbedin- 
gungen wechselnden  Verbindungen,  die,  sobald  sie  wirksam  werden, 
einen  verändernden  Einfluß  auf  die  Wortvorstellung  ausüben  können. 
Dieser  Einfluß  macht  sich  bei  der  Wortbildung,  ebenso  wie  bei 
der  Entstehung  anderer  Vorstellungen,  besonders  deutlich  dann  gel- 
tend, wenn  von  außen  einwirkende  Sinnesreize  die  Vor- 
stellung erwecken.  Denn  bei  der  Einwirkung  eines  Sinneseindrucks 
sind  wir  im  allgemeinen  leicht  in  den  stand  gesetzt,  diejenigen 
Bestandteile  der  Vorstellung,  die  unmittelbar  durch  den  Eindruck 
erregt  werden,  von  solchen  zu  scheiden,  die  nicht  auf  jenen  zurück- 
zuführen sind,  die  sich  aber  aus  reproduktiven  Elementen  ableiten 
lassen.  Hier  fordern  daher  zahlreiche  auffallende  Beispiele  einer 
Inkongruenz  von  Vorstellung  und  Eindruck  von  selbst  zu  Beobach- 
tungen heraus,  die  darauf  gerichtet  sind,  diese  bei  jeder  Vorstel- 
lungsbildung wirksamen  Assoziationen  zu  analysieren. 

2.    Tachistoskopische  Methode. 

Da  die  vollständige  Wortvorstellung  eine  Komplikation  aus 
jenen  drei  bzw.  sechs  Gliedern  ist,  die  wir  oben  symbolisch  mit 
am  om  vg  bezeichnet  haben,  so  steht  es  frei,  welchen  der  beiden 
auf  äußere  Eindrücke  zurückgehenden  Bestandteile  a  und  0  dieser 
Komplikation  man  zur  willkürlichen  Erregung  einer  Wortvorstel- 
lung bevorzugt.  Doch  ist  für  diesen  Zweck  naturgemäß  derjenige 
Eindruck  der  günstigste,  der  am  leichtesten  die  sämtlichen  andern 
Bestandteile  wachruft:  dies  ist  aber  vermöge  der  oben  entwickelten 
Assoziationsbedingungen  bei  solchen  Menschen,  denen  die  akusti- 
schen und  optischen  Elemente  der  Wortvorstellungen  gleich  ge- 
läufig sind,  das  Schriftbild,  nicht  der  Schalleindruck.  Allerdings 
steht  in  einer  Beziehung  der  Gesichtssinn  hinter  dem  Gehörssinn 
zurück.  Bei  diesem  gibt  es  keine  Gebiete,  die  von  viel  geringerer 
Unterscheidungsschärfe  sind,  wie  beim  Auge  die  peripheren  im  Ver- 
hältnis zu  den  zentralen  Teilen  des  Sehfeldes.  Doch  kommt  dieser 
Nachteil  im  vorliegenden  Falle  nicht  in  Betracht.  Denn  derjenige 
Teil  der  Netzhaut,  mit  dem  wir  wegen  der  dichteren  Anhäufung  der 


Tachistoskopische  Methode. 


565 


Zapfenelemente  deutlich  genug  sehen,  um  Wörter  vollkommen 
simultan  zu  lesen,  ist  groß  genug,  um  bei  geeigneter  Versuchs- 
einrichtung den  Umfang  der  Objekte,  die  wir  gleichzeitig  mit  der 
Aufmerksamkeit  erfassen  können,  noch  erheblich  zu  übertreffen. 
Während  nämlich  genau  in  der  Mitte  der  Netzhaut  zwei  Punkte 
unter  einem  Gesichts- 
winkel von  60 — goWin- 
kelsekunden  oder,  in 
Objektgrößen  ausge- 
drückt, bei  I  Millimeter 
Abstand  voneinander 
in  27,-37,  Meter 
Entfernung  vom  Sehen- 
den noch  deutlich  bei 
normaler  Sehschärfe 
unterschieden  werden, 
ist  diese  Raumschwelle 
zwar  272  Grade  von 
der  Netzhautmitte  schon 
auf  etwa  3  Winkel- 
minuten, also  auf  das 
Zwei-  bis  Dreifache 
jenes  Schwellenwertes 
im  Zentrum,  gestiegen. 
Diese  Größe  ist  aber 
immernochkleingenug, 
um  z.  B.  das  Lesen 
einer  größeren  Druck- 
schrift in  angemesse- 
ner Nähe   möglich  zu 

machen.  Erst  jenseits  dieser  Grenze  sinkt  die  Unterscheidungs- 
schärfe sehr  rasch,  wie  dies  die  Fig.  39  veranschaulicht.  In  ihr 
bedeutet  die  gerade  Linie  n  n  einen  durch  das  Sehzentrum  c  ge- 
legten, horizontal  aufgerollt  gedachten  Netzhautdurchschnitt.  Die 
senkrechten  Ordinaten  versinnlichen  den  Grad  der  Sehschärfe  an 
jedem  Punkt.  Die  Kurve,  die  diese  Ordinaten  verbindet,  fällt 
demnach    im    eanzen    sehr    rasch    von    ihrem     der    Netzhautmitte 


Sdüäfenseite 


Ifasenseitz^ 


■20     30     W     50     60 


60    50    W     30     20    W        C 

Fig-  39-     Graphische  Darstellung  der  Sehschärfe 
im  direkten  und  indirekten  Sehen. 


c56  Die  Wortbildung. 


entsprechenden  Maximum,  so  jedoch,  daß  in  einem  etwa  4 — 5° 
umfassenden  zentralen  Gebiet  a  b  die  Sehschärfe  zureichend  groß  für 
die  Unterscheidung  kleinerer  Objekte  von  der  Größe  unserer  Schrift- 
symbole bleibt.  Diese  ganze  Region  a  b  bezeichnet  man  daher 
gewöhnlich  als  die  des  zentralen  oder  direkten,  die  übrige 
Netzhaut  von  a  bis  71  und  von  b  bis  ;/  als  die  des  peripheren 
oder  indirekten  Sehens.  In  die  letztere  fällt,  als  ein  Gebiet  von 
etwa  6°  im  Durchmesser,  auf  der  Nasenseite  der  Netzhaut  der 
blinde  Fleck,  d.  h.  diejenige  Stelle,  die,  dem  Eintritt  des  Seh- 
nerven entsprechend,  wegen  ihres  Mangels  an  Stäbchen-  und 
Zapfenelementen  ganz  unempfindlich  ist:  sie  ist  in  Fig.  39  durch 
den  plötzlichen  steilen  Abfall  der  Ordinaten  auf  null  angedeutet^). 
Hiernach  ist  die  Region  des  zentralen  Sehens  groß  genug,  daß 
auf  ihr  leicht  6 — 8  Wörter  von  mäßiger  Länge,  die  man  über- 
und  nebeneinander  auf  einem  in  richtiger  Sehweite  befindlichen 
Blatt  anbringt,  sämtlich  gelesen  werden  können,  wenn  man  eine 
bestimmte  auf  dem  Blatt  angebrachte  Marke  fixiert.  Dabei  ist  es 
natürlich  nur  möglich,  die  einzelnen  Wörter  sukzessiv  zu  lesen, 
indem  die  Aufmerksamkeit  von  einem  Worte  zum  andern  wandert. 
Zugleich  beobachtet  man,  daß,  während  ein  Wort  gelesen  wird, 
die  übrigen  Wörter  undeutlicher  gegenwärtig  sind.  Es  treten  aus 
ihnen  zuweilen  einige  Buchstaben  hervor,  aber  die  nicht  apperzi- 
pierten  Wortvorstellungen  selbst  bleiben  dunkel:  sie  werden  per- 
zipiert,  nicht  apperzipiert.  Übrigens  lassen  auch  sie  in  ihrer 
Deutlichkeit  Grade  erkennen,  die  dadurch  bedingt  zu  sein  scheinen, 
daß  es  im  Zustande  der  Perzeption  noch  Abstufungen  der  Klarheit 
gibt.  Diese  Abstufungen  sind  aber  keineswegs  bloß  durch  die  Lage 
des  Bildes  auf  den  mehr  oder  minder  zentralen  Sehregionen,  sondern 
sie  sind  bei  diesen  Beobachtungen,  wo  überhaupt  nur  ein  be- 
schränkter zentraler  Teil  des  Sehfeldes  verwendet  wird,  fast  aus- 
schließlich von  'dem  willkürlichen  Wechsel  der  Apperzeption  ab- 
hängig. Wenn  man  z.  B.  die  Mitte  der  Tafel  fixierend  ein  seitlich 
gelegenes  Wort  liest,  so  hat  man  von  dem  zentral  gesehenen  nur 
eine  dunkle  Vorstellung.  Bei  ungezwungener  Aufnahme  der  Wort- 
bilder   pflegen    wir   jedoch    infolge    der    fest   eingeübten  Beziehung 


^)  Vgl.  A.  E.  Fick,  Archiv  für  Ophthalmologie,  XLIV,   1898,  S.  349. 


Tachistoskopische  Methode.  567 

zwischen  Apperzeption   und  Fixation   der   Objekte    regelmäßig  das 
gelesene  Wort  auch  in  das  Zentrum  der  Netzhaut  zu  bringen. 

Aus  diesen  psychophysischen  Bedingungen  und  aus  den  sonstigen 
durch  physiologische  Untersuchungen  bekannten  Eigentümlichkeiten 
der  Netzhauterregung  ergeben  sich  nun  die  für  die  experimentelle 
Untersuchung  der  Entstehung  von  Wortvorstellungen  geeigneten 
Methoden  ohne  Schwierigkeit.  Um  den  im  Augenblick  der  Ein- 
wirkung der  Wortbilder  eintretenden  Apperzeptionsvorgang  von 
den  in  der  Zeit  nachfolgenden,  durch  Wanderungen  der  Aufmerk- 
samkeit und  Augenbewegungen  vermittelten  Auffassungen  zu  son- 
dern, bedient  man  sich  am  besten  einer  Vorrichtung,  die  es  gestattet, 
das  aufzunehmende  Wortbild  gerade  so  lange,  aber  auch  nicht 
länger  einwirken  zu  lassen,  als  zu  einer  einmaligen  Apperzeption 
erforderlich  ist.  Die  Zeit  der  Einwirkung  darf  daher  weder  unter 
der  Grenze  der  hierzu  überhaupt  notwendigen  Zeit  liegen,  noch  darf 
sie  über  die  Grenze  gehen,  wo  eine  Wanderung  der  Aufmerksamkeit 
eintreten  könnte.  Ferner  muß  das  ganze  Wortbild  oder  die  Reihe 
der  Wortbilder,  die  man  einwirken  läßt,  dem  Bewußtsein  simultan, 
nicht  in  einer  merkbaren  Aufeinanderfolge  gegeben  werden.  Diese 
Anforderungen  erfüllt  das  in  Fig.  40  abgebildete  Fall-Tachistoskop. 
Es  besteht  im  wesentlichen  aus  einem  auf  einem  Fußbrett  senkrecht 
stehenden  starken  Messingrahmen  von  i  Meter  Höhe,  zwischen 
dessen  vertikalen  Säulen  sich  in  zwei  Rinnen  möglichst  reibungslos 
ein  Schlitten  5  von  geschwärztem  Eisenblech  bewegt.  In  diesem 
als  Fallschirm  dienenden  Blech  befindet  sich  eine  rechteckige,  der 
Exposition  des  Objektes  bestimmte  Öffnung,  deren  Höhe  durch 
einen  Schieber  von  annähernd  10  cm  Querdurchmesser  beliebig  von 
null  an  auf  etwa  50  cm  verstellt  werden  kann.  Vor  Beginn  jedes 
einzelnen  Versuchs  ist  der  Fallschirm  in  die  Höhe  geschoben,  so 
daß  der  oben  an  ihm  befindliche  eiserne  Anker  A  von  den  zwei 
kleinen  Elektromagneten  E  festgehalten  wird.  Das  Sehobjekt,  wel- 
ches in  der  Fig.  aus  einem  auf  einem  Karton  gedruckten  Wort 
(Empfindung)  besteht,  und  welches  zwischen  zwei  dicht  hinter  den 
Schirmvorrichtungen  befindlichen  Federn  festgehalten  wird,  ist  in 
jener  Ausgangslage  durch  ein  ebenfalls  geschwärztes  Schutzblech  B 
verdeckt,  das  in  seiner  Mitte,  genau  der  Mitte  des  Sehobjektes 
entsprechend,  eine  kleine  weiße  Fixiermarke  hat,  und  das  ebenfalls 


568 


Die  Wortbildung. 


durch  Federn,  aber  nur  lose,  festgehalten  wird.  Im  Augenblick,  wo 
der  Schirm  5  beim  Herabfallen  auf  den  oberen  Rand  von  B  trifft, 
wird  dieses  daher  in  ein  unten  befindliches  Fangschild /^geschoben, 

das   sich  dicht  vor  den 

zur  Aufnahme  des 
Schirms  5  bestimmten 
Fangfedern  C  befindet. 
In  Fig.  40  ist  der  Augen- 
blick dargestellt,  wo  der 
Schirm  S  so  weit  ge- 
fallen ist,  daß  seine  Öff- 
nung 0  gerade  vor  dem 
Sehobjekt  steht,  und 
das  Schutzblech  B  im 
Herabgleiten  begriffen 
ist.  Weiterhin  ist  noch, 
um  die  Geschwindigkeit 
der  Fallbewegung  früher 
oder  später,  namentlich 
aber  gegen  Ende  der 
Fallzeit  vermindern  zu 
können,  mit  dem  Schirm 
5  eine  Atwoodsche  Ein- 
richtung verbunden.  Der 
an  5  befestigte  Faden 
/  ist  nämlich  über  ein 
möglichst  reibungslos 
zwischen  Spitzen  laufen- 
des Rad  R  geschlungen, 
um  auf  der  andern  Seite 
in  einem  kleinen  Ge- 
wichte /  zu  endigen. 
Dieses  hebt,  sobald  es 
den  an  einer  Skala  ver- 
schiebbaren und  festzu- 
schraubenden Ring  t 
Fig.  40.    Fall-Tachistoskop.  passiert ,  ein  auf  diesem 


Erscheinungen  bei  kurz  dauernder  Einwirkung  von  Wortbildern.  c5q 

befindliches  zweites  Gewicht  q  in  die  Höhe.  Durch  geeignete  Variation 
der  Öffnung  0  und  der  Gewichte  p  und  q  läßt  sich  nun  leicht  die 
Zeit  der  Exposition  des  Sehobjektes  zwischen  0,005  und  0,050  Sek. 
variieren.  Zur  Beobachtung  dient  ein  schwach  oder  gar  nicht  ver- 
größerndes astronomisches  Fernrohr  mit  Fadenkreuz,  welches  letztere 
man  bei  Beginn  des  Versuchs  auf  den  Fixierpunkt  des  Schirmes  B 
einstellt.  Wegen  der  durch  das  Fernrohr  erzeugten  Umkehrung  der 
Bilder  müssen  auch  die  Sehobjekte,  wie  die  Fig.  zeigt,  in  umge- 
kehrter Stellung  eingesetzt  werden.  Die  Geschwindigkeit  der  Be- 
wegung wählt  man  am  zweckmäßigsten  so,  daß  die  Sehobjekte 
etwa  während  einer  Zeit  von  0,01  Sek.  sichtbar  sind.  Bei  dieser 
Geschwindigkeit  kann  man  sicher  sein,  daß  ebenso  jede  Bewegung 
des  Auges  wie  jedes  Wandern  der  Aufmerksamkeit  unmöglich  ist^). 
Wählt  man  die  Zeit  des  Eindrucks  wesentlich  kürzer,  so  ist  das 
Bild  zu  flüchtig,  um  überhaupt  ein  Erkennen  irgendwelcher  Teile 
des  Gegenstandes  zu  ermöglichen.  Wählt  man  sie  wesentlich  länger, 
so  erhält  man  nicht  mehr  einen  annähernd  momentanen,  sondern 
einen  länger  dauernden  Eindruck,  und  die  Bedingungen  gehen  daher 
in  die  des  gewöhnlichen  Lesens  über^). 


3.    Erscheinungen  bei  kurz  dauernder  Einwirkung 
von  Wortbildern. 

Bietet    man    in    der    angegebenen    Weise    im    Tachistoskop    die 
optischen  Wortbilder  der  Sprache  und  ihre  Bestandteile,   die  Buch- 


1)  Diese  Zeitbestimmung  gilt  für  normale  Sehschärfe.  Ist  diese  vermindert,  so 
ist  es  notwendig,  mit  der  Expositionszeit  auf  0,015—0,020"  zu  steigen. 

2)  Wahrscheinlich  ist  dieser  Grenzfall  vermöge  der  angewandten  Versuchsein- 
richtungen bereits  erreicht  in  den  von  B.  Erdmann  und  R.  Dodge  ausgeführten 
tachistoskopischen  Versuchen  (Psychologische  Untersuchungen  über  das  Lesen,  1889, 
S.  94  ff.).  Die  Verff.  bedienten  sich  nämlich  erstens  künstlicher  Lichtquellen,  nicht 
des  wegen  seiner  günstigen  Adaptationsverhältnisse  und  der  relativ  kürzesten  Dauer 
der  Nachbilder  unbedingt  zu  bevorzugenden  Tageslichts;  und  sie  wählten  durch- 
gängig die  sehr  lange  Einwirkungszeit  von  0,1".  Da  sich  hier  wegen  der  langen 
Nachbilddauer  unter  den  angewandten  Versuchsbedingimgen  die  Gesamtdauer  der 
Wahrnehmung  etwa  auf  das  Doppelte  der  Einwirkungszeit  verlängern  dürfte,  so  sind 
die  Versuche  der  Verff.  wohl  im  wesentlichen  gewöhnlichen  Leseversuchen  ohne 
alle  Versuchseinrichtungen  gleichzuachten.  Es  ist  daher  begreiflich,  daß  ihnen  die 
meisten  der  unten  zu  erwähnenden  Assimilationserscheinungen  entgangen  sind. 


cno  I^ic  Wortbildung. 


Stäben,  in  den  durch  unsere  Lesegewohnheiten  bevorzugten  Formen 
dem  Auge  dar,  so  beobachtet  man  die  folgenden,  zuerst  von  Cattell 
beschriebenen  Erscheinungen.  Bei  den  ersten  Versuchen,  die  ein 
Beobachter  ausführt,  vermag  er  in  der  Regel  nur  Fragmente  eines 
Wortes  aufzufassen.  Ist  aber  die  geeignete  Versuchsübung  ein- 
getreten, so  apperzipiert  er  ein  kürzeres  Wort  nicht  selten  ohne 
Schwierigkeit  mit  einem  Mal  entweder  schon  bei  der  ersten  Dar- 
bietung oder  bei  mehrmaliger  Wiederholung  des  Eindrucks.  Dabei 
spielt  jedoch  der  Umstand,  ob  das  Wort  mehr  oder  minder  geläufig 
ist,  eine  sehr  große  Rolle.  Während  ein  geläufiges  Wort  leicht 
beim  ersten  Male  gelesen  wird,  bedarf  ein  ungewohntes  oder  unbe- 
kanntes stets  einer  öfteren  Wiederholung.  Noch  mehr  gilt  dies 
von  sinnlosen  Buchstabenkombinationen.  Richtet  man  endlich  den 
Versuch  so  ein,  daß  man  bei  einem  gegebenen  Objekt  die  Ein- 
wirkungszeit so  lange  von  null  an  zunehmen  läßt,  bis  dasselbe  erkannt 
wird,  so  ergibt  sich,  daß  die  kürzeste  Zeit,  die  nötig  ist,  für  einen 
Buchstaben  geläufiger  Druckschrift  mindestens  ebensolange  dauert 
wie  für  ein  bekanntes  kürzeres  Wort,  ja  daß  das  letztere  in  der 
Reeel  leichter  und  fehlerloser  orelesen  wird  als  der  erste.  Substituiert 
man  ferner  in  einem  Wort  einzelne  falsche  den  richtigen  Buchstaben, 
so  wird  der  Fehler  nicht  nur  sehr  häufig  nicht  bemerkt,  sondern 
man  hat  sogar  den  Eindruck,  die  nicht  existierenden,  durch  andere 
ersetzten  Buchstaben  ebenso  deutlich  zu  sehen  wie  die  wirklich 
vorhandenen'). 

Diese  allgemeinen  Ergebnisse  gewinnen  nun  weiterhin  durch  die 
im  Verlauf  der  Versuche  zu  machenden  Beobachtungen  über  die 
Art,  wie  das  zuerst  unvollkommen  gesehene  Bild  allmählich  in  ein 
deutliches  übergeht,  eine  wichtige  Beleuchtung^).  Wird  ein  zwischen 
den  geläufigsten  und  den  ganz  ungewohnten  Wortbildern  ungefähr 
in  der  Mitte  stehendes  Wort  dargeboten,  so  bemerkt  in  der  Regel 
auch  der  geübte  Beobachter  beim  ersten  Versuch  nur  vereinzelte 
Teile  des  Bildes,  etwa  3—4  Buchstaben,  deutlich;   von  den  übrigen 


1)  J.  M.  Cattell,  Philos.  Studien,  Bd.  3,  1886,  S.  95  ff.  Vgl.  bes.  S.  iii  f.,  123  f. 
Cattell  hat  sich  zu  diesen  Versuchen  eines  einfacher  konstruierten,  im  übrigen  aber 
dem  oben  beschriebenen  ähnlichen  Falltachistoskops  bedient  (a.  a.  O.  S.  97). 

2)  Das  Folgende  hauptsächlich  nach  den  Versuchen  von  Jul.  Zeitler,  Tachisto- 
skopische  Untersuchungen  über  das  Lesen,  Phil.  Studien,  Bd.  16,   1900,  S.  380  ff. 


Erscheinungen  bei  kurz  dauernder  Einwirkung  von  Wortbildern.  c  y  i 

hat  er  den  Eindruck,  daß  irgendwelche  Buchstaben  vorhanden  seien, 
er  vermag  sie  aber  nicht  zu  erkennen.  Von  einem  Wort  wie  z.  B. 
Aprikose  erhält  man,  w^enn  wir  die  undeutlich  perzipierten  Teile  des 
Bildes  durch  Punktierung  andeuten,  etwa  ein  Bild  wie  Äp  .  .  ^  .  .  ., 
Äp  .  ik  .  .  .^  Ap  .  .  k  .  .  e  \x.  dgl.,  wobei  sich  zumeist  die  durch 
besondere  Merkmale  ausgezeichneten  Buchstaben,  z.  B.  die  großen 
Anfangsbuchstaben,  die  ober-  und  unterzeiligen  Typen,  vorzugsweise 
zur  Apperzeption  drängen.  Wiederholt  man  dann  den  Versuch,  so 
treten  ein  zweites  Mal  noch  weitere  Elemente  hinzu,  oder  es  wird 
auch  sofort  das  ganze  Wort,  wie  beim  gewöhnlichen  Lesen,  als  ein 
simultan  gegebenes  Ganzes  wahrgenommen.  Jedenfalls  tritt  dies 
aber  bei  einer  der  folgenden  Darbietungen  ein.  Wählt  man  da- 
gegen oft  gebrauchte  Wörter,  so  kann  es  sich,  namentlich  bei 
kürzeren  Worbildungen,  leicht  ereignen,  daß  sofort  bei  der  ersten 
Einwirkung  das  ganze  Wort  vollkommen  klar  gesehen  wird.  Das 
nämliche  kann  sogar  bei  längeren  Wörtern  eintreten,  falls  sie  nur 
sehr  geläufig  sind,  etwa  mit  dem  gewohnten  Vorstellungskreis  des 
Beobachters  oder  den  Gegenständen  der  unmittelbaren  Beschäf- 
tigung in  naher  Beziehung  stehen,  wie  z.  B.  'Aufmerksamkeit "*, 
'Bewußtseinszustand'  u.  dgl.  Wendet  man  umgekehrt  ganz  unbe- 
kannte oder  sinnlose  Buchstabenverbindungen  an,  so  ist  die  Grenze 
des  überhaupt  erreichbaren  Apperzeptionsumfangs  weit  enger  ge- 
steckt, und  es  kommen  überaus  leicht  »Verlesungen«  vor,  nament- 
lich in  der  Weise,  daß  irgendein  bekannteres  Wort,  das  einige 
Buchstaben  mit  dem  unbekannten  gemein  hat,  diesem  substituiert 
wird.  Dabei  steht  nicht  nur  bei  kürzeren  Wörtern  das  falsch  ge- 
lesene genau  ebenso  deutlich  vor  dem  Bewußtsein  und  also  schein- 
bar vor  dem  äußeren  Auge  wie  das  richtig  gelesene,  sondern  dies 
gilt  bei  größeren  Wortbildern  auch  von  solchen  Teilen  des  Wortes, 
die  jenseits  der  Region  des  direkten  Sehens  liegen:  hier  er- 
weitert sich  also  das  Gebiet  der  scheinbar  deutlichen  Wahrnehmung 
über  die  durch  die  Struktur  der  Netzhaut  gesetzten  Grenzen  des 
Sehens  hinaus.  Besonders  leicht  werden  aber  Verlesungen  hervor- 
gerufen, wenn  man  nur  einzelne  willkürliche  Abweichungen  von 
einem  geläufigen  Wortganzen  einführt:  hier  ist  die  Substitution  rich- 
tiger für  falsche  Symbole  die  Regel,  falls  man  nicht  gerade  solche 
Buchstaben  vertauscht,    die  eine  hervortretende  Rolle  als  Merkmale 


?/-' 


Die  Wortbilduns. 


des  Wortes  spielen.  Eine  beachtenswerte,  namentlich  bei  bekann- 
teren Wörtern  zuweilen  auftretende  Erscheinung  ist  endlich  noch 
die,  daß  man  bei  der  ersten  Einwirkung  nur  einzelne  Zeichen  deut- 
lich sieht,  die  übrigen  dunkel,  daß  dann  aber  in  einem  sehr  kurzen 
Moment  nachher,  wenn  das  Sehobjekt  selbst  schon  verdeckt  ist, 
plötzlich  das  Wort  vor  dem  Bewußtsein  steht.  Auch  in  diesem  Fall 
erscheint  es  jedoch  nicht  wie  ein  bloßes  Erinnerungsbild,  sondern 
deutlich  wie  ein  wirklicher  Eindruck. 

Diese  Beobachtungen  zeigen,  daß  es  bei  irgendwie  zusammen- 
gesetzteren Sehobjekten  niemals  der  äußere  Eindruck  allein  ist,  den 
wir  apperzipieren ,  sondern  daß  dieser  stets  mit  reproduktiven 
Elementen  zusammenwirkt,  die  sich  mit  ihm  zu  einer  einheitlichen, 
in  ihren  direkten  und  reproduktiven  Teilen  gar  nicht  zu  unter- 
scheidenden Wortvorstellung  verbinden.  Was  dem  Eindruck  ent- 
nommen wird,  das  sind  zunächst  gewisse  dominierende  Elemente, 
die  ihre  Bevorzugung  meist  äußeren  Eigenschaften,  zuweilen  aber 
auch  subjektiven  Bedingungen,  sei  es  ihrer  größeren  Geläufigkeit, 
sei  es  der  zufälligen  Richtung  der  Aufmerksamkeit,  verdanken.  Diese 
dominierenden  Elemente  werden  deutlich  apperzipiert,  alle  übrigen 
Teile  des  Gegenstandes  werden  nur  dunkel  perzipiert.  Augenschein- 
lich gewährt  jedoch  diesen  letzteren  die  Gruppe  der  dominierenden 
Elemente  eine  wirksame  Assoziationshilfe:  sie  verbinden  sich  daher 
nun  mit  reproduktiven  Elementen,  die  durch  jene  dominierenden 
Teile  in  das  Bewußtsein  gehoben  werden.  So  ist  die  endlich  zustande 
kommende  Wortvorstellung  das  Produkt  einer  Assimilation  der 
dargebotenen  Eindrücke  durch  die  disponibeln  Repro- 
duktionselemente, wobei  aber,  wie  besonders  die  Erscheinungen 
des  »Verlesens«  zeigen,  ebenso  die  direkten  auf  die  reproduktiven 
Elemente  wie  diese  auf  jene  einwirken:  die  direkten  erwecken  die 
reproduktiven,  und  diese  verdrängen  die  ihnen  ungleichen  Bestand- 
teile des  Empfindungseindrucks,  deren  Stellen  sie  einnehmen.  Jede 
Wortapperzeption  erfolgt  also  immer  erst  auf  Grund  einer  assozia- 
tiven Wechselwirkung  direkter  und  reproduktiver  Elemente,  und  je 
nach  den  besonderen  Bedingungen  können  bald  jene,  bald  diese  in 
dem  entstehenden  Endprodukt  überwiegen.  Dieser  Vorgang  der 
Assimilation  und  Apperzeption  erfolgt  ferner  im  allgemeinen  simul- 
tan, d.  h.  in  einer  für  uns  unwahrnehmbaren  Zeitfolge.    Doch  kann 


Das  Wort  als  simultane  Vorstellung.  ^y^ 

in  besonderen  Fällen,  wo  die  Assimilationsprozesse  ungewöhnliche 
Hemmungen  erfahren,  für  einzelne  Teile  des  Vorgangs  eine  Zeitfolge 
bemerkbar  werden. 


4.   Das  Wort  als  simultane  Vorstellung. 

Abgesehen  von  diesen  durch  besondere  Verhältnisse  herbei- 
geführten Hemmungen ,  bei  denen«  übrigens  gleichfalls  die  einzelnen 
Bestandteile  des  Wortes  in  höchst  irregulärer  Weise  und  keineswegs 
in  der  Folge  der  Buchstaben  in  den  Blickpunkt  des  Bewußtseins 
treten,  ergibt  sich  aus  den  obigen  Beobachtungen,  daß  ein  bekanntes 
Wort  in  der  Regel  unmittelbar  als  ein  einheitliches  Ganzes 
simultan  apperzipiert,  nicht  erst  aus  seinen  Bestandteilen,  den 
Buchstaben  oder  Lauten,  in  unserer  Vorstellung  zusammengefügt 
wird.  Vielmehr  fassen  wir  diese  Bestandteile  zumeist  überhaupt 
nicht  als  Teile,  sondern  als  Merkmale  des  Ganzen  auf.  Nur  wenn 
das  Wort  ein  größeres,  selbst  wieder  aus  mehreren  Wörtern  zu- 
sammengesetztes Gebilde  ist,  das  die  Grenzen  des  Umfangs  der 
Apperzeption  überschreitet,  wird  es  Gegenstand  einer  sukzessiven 
Apperzeption.  Immer  ist  aber  dabei  das  einzeln  Apperzipierte  ein 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  selbständiges  Wortgebilde,  das  für 
sich  schon  Assoziationen  einzugehen  vermag.  Ein  ähnliches  Ver- 
hältnis, wie  der  einzelne  Laut  oder  sein  optisches  Zeichen  zum  Wort, 
zeigt  dann  wiederum  das  Wort  zum  Satze.  Auch  der  Satz  kann, 
falls  er  nicht  durch  seinen  Umfang  die  Grenzen  der  simultanen 
Apperzeption  überschreitet,  als  ein  Ganzes  aufgefaßt  werden.  Aber 
dieses  umfassendere  Ganze  hat  einen  loseren  Zusammenhang  als  das 
einzeln  aufgefaßte  Wort,  und  der  Umfang,  um  den  die  Verbindung 
der  Wörter  zum  Satze  das  Gebiet  der  simultanen  Apperzeption  er- 
weitert, ist  daher  ein  relativ  kleiner. 

Es  könnte  scheinen,  als  wenn  mit  diesen  Ergebnissen  der  Ver- 
suche über  momentane  Apperzeption  zwei  bekannte  Tatsachen  im 
Widerspruch  stünden:  erstens  die,  daß  der  Lauteindruck  eines 
Wortes  in  der  Regel,  namentlich  bei  allen  mehrsilbigen  Wörtern, 
kein  simultaner,  sondern  ein  sukzessiver  ist;  und  zweitens  die,  daß 
wir  zur  Hervorbringung  optischer  Wortbilder,  nicht  bloß  bei  den 
Formen  der  Lautschrift,   sondern   auch  bei  der  primitiveren  Bilder- 


ejA  Die  Wortbildung. 


Schrift,  einer  Sukzession  von  Bewegungen  bedürfen,  da  ja  das  Bild, 
ebenso  wie  die  ihm  verwandte  zeichnende  Gebärde,  nur  allmählich 
entstehen  kann.  Auf  diesen  beiden  Tatsachen  beruht  denn  wohl 
auch  die  verbreitete  Meinung,  Sprechen  wie  Hören,  Schreiben  wie 
Lesen  seien  für  unsere  psychische  Tätigkeit  in  ganz  derselben  Weise 
sukzessive  Vorgänge,  wie  die  äußeren  Artikulations-  und  Schreibe- 
bewegungen sukzessive  Vorgänge  sind.  Nichtsdestoweniger  ist  dies, 
wenn  man  von  gewissen  Fällen  des  verständnislosen  Nachsprechens 
und  des  absichtlichen  oder  angelernten  lautierenden  und  buchstabie- 
renden Lesens  absieht,  ein  Irrtum.  Bei  der  Auffassung  eines  Wortes 
gelangen  zwar  die  Laute  in  einer  gewissen  Aufeinanderfolge  zu 
unserem  Ohr;  doch  das  Wort  als  solches,  in  seiner  unmittelbaren 
Assoziation  mit  einer  bestimmten  Begrififsvorstellung,  apperzipieren 
wir  nur  in  einem  einzigen  simultanen  Akt,  der,  wenn  die  Auffassung 
Schwierigkeiten  bereitet,  z.  B.  bei  einer  fremden  Sprache  oder  einem 
ungewohnten  Worte,  dem  sukzessiven  Hören  aller  Wortbestandteile 
nachfolgen  kann,  bei  der  Auffassung  eines  wohlbekannten  Wortes 
aber  entweder  mit  dem  letzten  gehörten  Laut  gleichzeitig  ist  oder 
aber,  bei  etwas  längeren  Wörtern,  schon  etwas  früher  eintritt. 
Letzteres  geschieht  besonders  dann,  wenn  die  Verbindung  der  Einzel- 
vorstellung des  Wortes  mit  der  im  Satze  ruhenden  Gesamtvorstellung 
bereits  auf  den  Begriff  hinweist,  der  im  Wort  ausgedrückt  ist. 
Ebenso  ist  beim  Sprechen  die  Wortvorstellung  als  solche  ein  simul- 
taner Akt,  nur  daß  dieser  nicht,  wie  beim  Hören,  nachfolgt,  sondern 
den  Artikulationsbewegungen  vorausgeht.  Dabei  finden  sich  dann 
freilich  hier  wie  dort  die  einzelnen  Bestandteile  der  Wortkomplikation 
nicht  in  gleicher  Weise  simultan  im  Bewußtsein,  sondern  der  eigent- 
liche Akt  der  momentanen  Apperzeption  trifft  vor  allem  die  Be- 
deutungskomponente, den  an  das  Wort  gebundenen  Begriff.  Mit 
dieser  verbunden  wird  dann  einer  der  Lautbestandteile,  im  allge- 
meinen derjenige,  der  im  Moment  jener  Begriffsapperzeption  gerade 
gesprochen  oder  gehört  wird,  apperzipiert.  Die  übrigen  befinden 
sich  in  einem  etwas  verdunkelten,  aber  immer  noch  hinreichend 
deutlichen  Zustande,  so  daß  das  ganze  Wort  auch  nach  seinem 
Lautgehalt  als  ein  simultan  aufgefaßtes  gelten  kann.  Genau  wie  der 
Sprechende  verhält  sich  der  Schreibende,  sobald  ihm  das  Schreiben 
eine   eingeübte,    auf  festen   Assoziationen   beruhende   Tätigkeit   ge- 


Das  Wort  als  simultane  Vorstellung.  5^5 

worden  ist :  die  Wortvorstellung  geht  der  schreibenden  Reproduktion 
des  Wortbildes  voraus.  Da  sie  aber  dieser  im  allgemeinen  als  Laut- 
vorstellung vorausgeht  und  die  Lautartikulationen  weit  schneller  ab- 
laufen als  die  Schreibebewegungen,  so  halten  beide  meist  nicht 
gleichen  Schritt.  Der  Schreibende  muß  seine  vorauseilenden  Wort- 
vorstellungen gewaltsam  hemmen,  oder  es  widerfährt  ihm,  daß  im 
Schriftbilde  später  kommende  Wortbestandteile  oder  selbst  ganze 
Worte  antizipiert  werden.  Das  begegnet  begreiflicherweise  am- 
leichtesten  teils  solchen  Personen,  denen  das  Schreiben  eine  wenig 
gewohnte  Tätigkeit  ist,  teils  aber  auch  solchen,  die  in  hohem  Grad 
an  die  freie  Rede  gewöhnt  sind.  Nächst  den  des  Schreibens  wenig 
Kundigen  und  den  Imbezillen  sind  daher  die  Redner  die  schlechtesten 
Abschreiber.  In  jeder  Beziehung  am  günstigsten  verhält  sich  hin- 
sichtlich der  möglichst  vollkommenen  Gleichzeitigkeit  aller  bei  der 
Wortapperzeption  beteiligten  Funktionen  das  geübte  Lesen.  Hier 
ist  der  Gesichtssinn  dem  Gehör  wie  den  Lautartikulationen  dadurch 
überlegen,  daß  er  eine  Anzahl  simultan  im  Raum  gegebener 
Vorstellungsobjekte  auch  simultan  zur  Empfindung  bringt.  Bei  ihm 
kann  daher  mit  der  entscheidenden  Begrififsapperzeption  jedesmal 
die  Auffassung  des  zugehörigen  optischen  Wortbildes  vollkommen 
zusammenfallen.  Von  dem  Lesen  gilt  deshalb,  wenn  diese  Bedingung 
vollkommener  Übung  erfüllt  ist,  mehr  als  von  irgendeiner  andern 
Art  der  Sprachfunktion,  daß  bei  ihm  die  Apperzeption  von  Wort 
und  Begriff  einen  einzigen  Akt  bildet').  Deshalb  bietet  auch  das 
Lesen  am  häufigsten  diejenige  Erscheinung  dar,  welche  die  simultane, 
aus  direkten  und  reproduktiven  Elementen  gemischte  Bildung  der 
Wortvorstellungen  am  deutlichsten  zur  Anschauung  bringt:  die 
falsche  Assimilation  und  Apperzeption  der  Worte.  Diese  besteht 
aber,   wie  die  tachistoskopischen  Versuche  lehren,   keineswegs  etwa 


I)  Die  hiermit  eng  zusammenhängende  Tatsache,  daß  zu  Wörtern  verbundene 
Schriftzeichen  in  so  viel  größerer  Zahl  als  unverbundene  simultan  apperzipiert  wer- 
den können,  hat  man  aus  der  bekannten  Erfahrang  zu  erklären  gesucht,  daß  wir 
Wörter  leichter  im  Gedächtnis  bewahren  als  sinnlose  Buchstabenverbindungen.  Nun 
können  die  letzteren  natürlich  auch  schneller  vergessen  werden.  Aber  vor  allen 
Dingen  werden  sie  unvollkommener  oder  gar  nicht  apperzipiert.  weil,  wie  die  oben 
erörterten  tachistoskopischen  Versuche  zeigen,  die  ihre  Assimilation  vermittelnden 
reproduktiven  Elemente  unwirksam  bleiben.  In  der  Regel  fehlt  daher  die  Voraus- 
setzung, unter  der  überhaupt  ein  Vergessen  erst  möglich  wird. 


cy5  Die  Wortbildung. 


darin,  daß  ein  Teil  des  gelesenen  Wortes  ungenau  wahrgenommen 
und,  wie  man  unter  Anwendung  der  bekannten  vulgärpsychologischen 
Interpretation  gemeint  hat,  mittelst  einer  »Vermutung«  ergänzt  wird, 
sondern  der  falsch  gelesene  Bestandteil  wird  wirklich  anders 
gesehen.  Bei  der  Substitution  von  Worte  für  Warte,  von  Fliege 
für  Folge  z.  B.  sieht  man  dort  das  c,  hier  das  2,  Buchstaben,  die  im 
wirklichen  Eindruck  gar  nicht  vorkommen,  ganz  so  unmittelbar  wie 
die  übrigen,  und  wenn  man  über  den  Fehler  aufgeklärt  wird,  so 
erinnert  man  sich  nicht  selten  gerade  dieser  falsch  gelesenen  Buch- 
staben besonders  deutlich.  Ahnlich  verhält  es  sich,  wenn  das  nicht 
existierende  Symbol  in  die  Region  des  indirekten  Sehens  oder  in  eine 
völlig  leere  Stelle  des  Sehfeldes  projiziert  wird.  Daß  übrigens  diese 
Substitution  bei  der  akustischen  Auffassung  der  Worte  eine  ähnliche 
Rolle  spielt,  lehren  die  häufigen  Erfahrungen  über  das  »Verhören«, 
das  dem  Verlesen  offenbar  in  allen  diesen  Beziehungen  analog  ist, 
nur  daß  sich  die  Ergänzungen  meist  nicht  in  ebenso  greifbarer 
Form  nachweisen  lassen. 

Noch  bei  andern  Erscheinungen  im  Gebiete  der  optischen  Wort- 
bilder, die  man  ohne  jede  künstliche  Versuchsvorrichtung  beob- 
achten kann,  tritt  endlich  die  simultane  Natur  des  Vorgangs  der 
Wortapperzeption  oft  überraschend  hervor.  Die  moderne  Typo- 
graphie bringt  es  gelegentlich  zustande,  namentlich  auf  Bücher- 
titeln die  Wörter  durch  die  Unregelmäßigkeit  der  Linienführung 
und  durch  umgebende  Arabesken  gleichsam  künstlich  dem  Auge 
zu  verheimlichen.  Dabei  kann  man  nun  wahrnehmen,  daß  das 
Wort,  nachdem  es  zuerst  unerkannt  geblieben,  plötzlich  und  fast 
blitzartig  vor  dem  Auge  aufleuchtet.  Diese  Beobachtimg  ent- 
spricht ganz  den  Erscheinungen  der  bekannten  Vexierbilder,  bei 
denen  die  Umrißzeichnung  eines  Gegenstandes,  z.  B.  einer  Katze, 
in  irgendeinem  Bild,  etwa  in  dem  Baumschlag  einer  Landschaft, 
angebracht  ist.  Auch  solche  Vexierbilder  leuchten  in  dem  Augen- 
blick, wo  sie  erkannt  werden,  plötzlich  auf  Dabei  sind  aber,  da 
es  sich  um  die  Betrachtung  dauernder  Objekte  handelt,  Augenbe- 
wegungen, die  bei  den  tachistoskopischen  Versuchen  wegen  der 
sehr  kurzen  Dauer  der  Einwirkung  ausgeschlossen  sind,  von  Ein- 
fluß; und  man  kann  zuweilen  beobachten,  daß  die  zufällige  Be- 
wegung entlang  einer  Umrißlinie  des  Vexierbildes  dieses  sofort  er- 


Das  Wort  als  simultane  Vorstellung.  c^y 

scheinen  läßt.  Bei  den  Beobachtungen  mit  einer  Vexierschrift  kann 
man  ferner  nicht  selten  auch  den  Einfluß  wahrnehmen,  den  die 
besondere,  unter  Umständen  willkürlich  herbeizuführende  Disposition 
des  Bewußtseins  auf  die  Erscheinung  ausübt.  So  habe  ich  mich 
jahrelang  an  einem  jetzt  leider  durch  ein  anderes  ersetzten  Firmen- 
schild erfreut,  auf  welchem  ein  Name  mit  so  dicken  Goldbuchstaben 
auf  schwarzem  Grunde  geschrieben  stand,  daß  man  sich  leicht  ein- 
bilden konnte,  man  habe  ein  mit  schwarzen  Buchstaben  auf  Gold- 
grund geschriebenes  Wort  vor  sich.  Machte  man  sich  nun  willkür- 
lich diese  Vorstellung,  so  verschwand  das  Wort  spurlos  aus  der 
Apperzeption,  die  Schrift  wurde  zum  sinnlosen  Ornament,  um 
sofort  wieder  deutlich  aufzutauchen,  wenn  man  zur  umgekehrten 
Vorstellung,  daß  der  Grund  schwarz  und  die  Schrift  golden  sei, 
überging.  Auch  hier  schien  der  Vorstellungswechsel  durch  Augen- 
bewegungen, die  den  wirklichen  oder  vermeintlichen  Buchstaben 
entlang  liefen,  eingeleitet  zu  werden. 

Indem  nun  die  Tatsache,  daß  das  Wort  im  allgemeinen  simul- 
tan apperzipiert  wird,  ohne  weiteres  die  Verschiedenheiten  in  der 
Auffassung  isolierter  und  zu  Worten  verbundener  Schriftzeichen 
erklärt,  die  uns  die  Versuche  mit  dem  Tachistoskop  darbieten,  be- 
weist sie  zugleich,  daß  die  Schriftzeichen  oder  Laute  eines  Wortes 
Merkmale  dieses  einheitlichen  Ganzen  sind.  Sie  sind  aber  Merk- 
male im  psychologischen,  nicht  im  logischen  Sinne:  sie  sind 
nicht  Eigenschaften,  nach  denen  das  Objekt  begrifflich  in  eine 
Klasse  bekannter  Gegenstände  eingeordnet  wird,  sondern  sie  sind 
Gruppen  von  Empfindungselementen,  die  durch  Assoziation  mit 
reproduktiven  Elementen  das  unmittelbare  Wahrnehmungsbild  des 
Objektes  hervorrufen.  Für  unsere  Auffassung  ist  demnach  ein 
Wort  ebenso  eine  einzelne  Vorstellung  wie  der  einzelne  Buchstabe. 
Von  beiden  Arten  der  Vorstellung  können  deshalb  auch  annähernd 
gleich  viele  gleichzeitig  apperzipiert  werden.  Wenn  hier  meist  ein 
kurzes  Wort  noch  ein  wenig  schneller  aufgefaßt  wird,  so  beruht 
das  vermutlich  darauf,  daß  die  einzelnen  Teile  desselben  als  wechsel- 
seitige Assoziations-  und  Assimilationshilfen  wirksam  sind.  Dem 
entspricht  denn  auch  die  weitere,  bei  zeitmessenden  Versuchen  ge- 
fundene Tatsache,  daß  die  Zeit,  in  der  auf  die  Erkennung  eines 
einzelnen   Buchstaben    durch    eine    verabredete    Bewegung    reagiert 

Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  jy 


c'jg  Die  Wortbildung. 


wird,  durchschnittlich  ebenso  groß  oder  eher  etwas  größer  ist  als 
die  Zeit,  in  welcher  die  Reaktion  auf  die  Erkennung  eines  ein- 
facheren, wohlbekannten  Wortes  erfolgt;  und  soweit  ein  Unter- 
schied besteht,  beruht  er  nicht  auf  der  verschiedenen  Zahl,  son- 
dern auf  der  verschiedenen  Verwicklung  der  verglichenen  Vor- 
stellungen, d.  h.  auf  der  größeren  oder  geringeren  Mannigfaltigkeit 
ihrer  Merkmale').  Natürlich  ändern  sich  aber  diese  Bedingungen, 
wenn  Worte  und  Buchstabensymbole  beide  noch  relativ  unbekannte 
Objekte  sind.  So  bedarf  das  Kind  beim  Lesenlernen  vor  allem 
der  Kenntnis  der  einzelnen  Buchstaben,  um  die  ganzen  Worte 
lesen  zu  können,  daher  denn  auch  die  Pädagogik,  obgleich  sie  der 
Buchstabiermethode  entsagt  hat,  doch  wohlweislich  daran  festhält, 
mit  srroßen,  einzeln  deutlich  wahrzunehmenden  Buchstaben  das 
Lesen  beginnen  zu  lassen  und  dann  erst  allmählich  zu  den  klei- 
neren Schriftformen  überzugehen.  Für  das  lesenlernende  Kind  ist 
ein  einzelner  Buchstabe  zunächst  noch  nicht  Merkmal,  sondern  Teil 
des  Wortbildes.  Bei  wachsender  Übung  verändert  sich  dann  die 
Sukzession  der  Apperzeptionen  nur  wenig  in  ihrer  Geschwindig- 
keit, um  so  mehr  aber  in  bezug  auf  den  Umfang  der  Einzelvor- 
stellungen, die  in  einem  einzelnen  Akt  verbunden  werden.  Dies 
kann  allein  dadurch  geschehen,  daß  immer  und  immer  wieder  die 
nämlichen  Wortbilder  einwirken,  und  daß  so  ganz  allmählich  das, 
was  ursprünglich  selbständiger  Bestandteil  einer  zusammengesetz- 
teren Vorstellung  war,  in  ein  Merkmal  derselben  übergeht.  Hierin 
ist  dann  von  selbst  die  Aufforderung  gelegen,  auch  die  Größe  der 
zusammengesetzten  Objekte  zu  vermindern,  damit  sie  leichter  simul- 
tan aufgefaßt  werden  können,  um  so  mehr,  da,  sobald  nur  eine 
zureichende  Anzahl  von  Merkmalen  gegeben  ist,  die  in  der  Wahr- 
nehmung ausfallenden  derart  ergänzt  werden,  daß  sie  sich  von  den 
direkt  empfundenen  nicht  unterscheiden. 


I)  E.  B.  Titchener,   Philos.  Stud.  Bd.  8,  1893,  S.  138  ff.     Physiol.  Psychol.s   m, 

S.  458. 


Psychologische  Analyse  der  Wortassimilationen.  cyg 


5.   Psychologische  Analyse  der  Wortassimilationen. 

Für  die  psychologische  Analyse  der  Wortvorstellungen  sind  vor 
allem  die  Erscheinungen  der  Ergänzung  der  gesehenen  oder  ge- 
hörten Eindrücke  und  die  damit  untrennbar  verbundenen  der  Ver- 
drängung direkter  durch  reproduktive  Elemente  von  wegweisender 
Bedeutung.  Nun  kann  man  unmöglich  annehmen,  daß  solche  Re- 
produktionswirkungen auf  die  ergänzten  Elemente,  bei  denen  sie 
zur  unmittelbaren  Anschauung  kommen,  beschränkt  seien.  Viel- 
mehr nur  deshalb ,  weil  auch  die  andern  Teile  der  Wortvorstellung 
an  ihnen  teilnehmen,  sind  jene  Substitutionen  überhaupt  möglich. 
Damit  ist  zugleich  die  Frage  nach  dem  Übergang  der  Teile  eines 
komplexen  Vorstellungsganzen  in  Merkmale  einer  einheitlich  aufge- 
faßten Einzelvorstellung,  wie  er  z.  B.  beim  Lesenlernen  stattfindet, 
beantwortet.  Je  häufiger  ein  Wortbild  einwirkt,  eine  um  so  stärkere 
Disposition  zu  seiner  Wiedererneuerung  bleibt  zurück.  In  dem 
Augenblick,  wo  durch  direkte  Sinneseindrücke  ein  Komplex  von 
Empfindungen  entsteht,  der  diesen  Dispositionen  oder  auch  nur 
einem  größeren  Teile  derselben  gleich  ist,  werden  daher  die  Dis- 
positionen selbst  zu  aktuellen  Empfindungen,  die  mit  den  durch  den 
äußeren  Eindruck  erweckten  in  eine  einheitliche  Vorstellung  zu- 
sammenfließen. Nun  stehen  aber  die  als  Dispositionen  von  frü- 
heren Eindrücken  her  zurückgebliebenen  Elemente  ebenso  in  man- 
nigfachen Verbindungen  wie  die  direkten  Empfindungen,  und  sie 
werden  in  denjenigen  Verbindungen  am  leichtesten  reproduziert,  in 
denen  sie  am  häufigsten  vorkamen.  Darum  reproduziert  jedes  Wort- 
bild durch  direkte  Assoziation  die  entsprechenden  Elemente  früherer 
Wortbilder  und  durch  indirekte,  nämlich  infolge  der  zwischen  den 
reproduktiven  Elementen  selbst  bestehenden  Assoziationen,  die  mit 
ihnen  in  früheren  Vorstellungen  häufig  verbunden  gewesenen.  Ist 
die  letztere  Assoziation  der  im  neuen  Eindruck  gebotenen  analog, 
so  wird  sie  verstärkt,  und  es  wird  durch  die  so  in  immer  gleicher 
Weise  sich  wiederholende  Verbindung  die  Aussonderung  des  Wort- 
gebildes von  andern  zufällig  begleitenden  mehr  und  mehr  gesichert. 
Mengen  sich  dagegen  infolge  der  sekundären  Assoziationen  repro- 
duktive Elemente  ein,   die  nicht  dem  direkten  Eindruck   angehören, 

37* 


;8o  Die  Wortbildung. 


SO  entstehen  nun  Substitutionen,  die  zu  Sinnestäuschungen,  so- 
genannten »Illusionen-,  im  vorliegenden  Fall  zu  den  Erscheinungen 
des  »Verhörens«  und  »Verlesens«   führen. 

Besitzen  demnach  die  einzelnen  W'ortvorstellungen  durchaus  den 
Charakter  jener  Assimilationsgebilde,  wie  sie  uns  bereits  in  den 
mannigfachen  Formen  reproduktiver  Lautwirkungen  im  vorigen  Ka- 
pitel begegnet  sind,  so  sind  nun  aber  gerade  diese  die  Bildung  der 
Wortv'orstellungen  begleitenden  Assimilationen  wegen  der  zu  Gebote 
stehenden  experimentellen  Beeinflussung  der  Bedingungen  besonders 
günstige  Objekte  für  die  psychologische  Analyse  der  Assimilations- 
vorgänge überhaupt^).  Wir  betrachten  es  als  einen  überall  für  diese 
Analyse  maßgebenden  Grundsatz,  daß  nur  Bewußtseinsvorgänge 
als  wirkliche  psychische  Vorgänge  gelten  können.  Der  Begriff 
der  »Disposition«  ist  daher  lediglich  ein  Hilfsbegrifif,  der  irgendeine 
uns  nur  in  ihren  Wirkungen  auf  die  tatsächlich  beobachteten  Vor- 
gänge gegebene,  abgesehen  von  dieser  Wirkung  aber  völlig  unbe- 
kannte Bedingung  zur  Entstehung  gewisser  psychischer  Erlebnisse 
oder  zur  Abänderung  anderer  bezeichnet.  Hiernach  kann  eine 
Assimilation,  insofern  dieser  Ausdruck  eine  Wirkung  andeutet, 
die  zwischen  direkt  erregten  Empfindungen  und  Dispositionen  aus 
früheren  Eindrücken  stattfindet,  natürlich  selbst  kein  in  der  Form 
der  Disposition  oder  kein  im  > Unbewußten«  sich  ereignender  Vor- 
gang sein;  wie  denn  überhaupt  der  Ausdruck  »unbewußte  Vor- 
gänge« einen  inneren  Widerspruch  in  sich  schließt,  da  der  Begriff 
des  Unbewußten  psychologisch  not%vendig  eben  mit  jenem  Begriff 
der  »Disposition«  zusammenfällt,  die  Disposition  aber  ihre  empirisch 
berechtigte  Bedeutung  nur  darin  hat,  daß  sie  selbst  kein  wirklicher 
psychischer  Vorgang,  sondern  bloß  die  Anlage  zu  einem  solchen  ist. 
Demnach  können  auch  die  Assimilationen  nur  als  Verbindungs- 
prozesse betrachtet  werden  zwischen  Empfindungen,  die  direkt 
durch  äußere  Eindrücke  erregt  werden,  und  solchen,  die  unter  dem 
Einfluß  jener   Dispositionen    entstehen.      Da    die    Disposition   nicht 


^  Es  stehen  ihnen  in  dieser  Beziehung,  was  die  allgemeine  psychologische 
Verwertung  angeht,  nur  noch  die  schon  früher  S.  448)  in  diesem  Sinn  erwähnten 
>umkehrbaren  geometrisch-optischen  Täuschungen«  zur  Seite,  deren  Studium  auch 
hier  wieder  als  ein  einem  ganz  andern  Gebiet  entnommenes,  aber  eben  darum  für 
die  allgemeine  Natur  der  Vorgänge  lehrreiches  Beispiel  empfohlen  werden  kann. 


Psychologische  Analyse  der  Wortassimilationen.  5  8 1 

selbst  ein  psychischer  Vorgang,  sondern  eine  Bedingung-  seiner  Ent- 
stehung ist,  so  vollzieht  sich  aber  natürlich  auch  eine  Assimilation 
zwischen  der  reproduktiven  und  der  direkt  erregten  Empfindung 
immer  erst  in  dem  Moment,  wo  die  Disposition  zur 
aktuellen  Empfindung  wird,  gerade  so  wie  der  äußere  Ein- 
druck nicht  als  physischer  Reiz,  sondern  ebenfalls  erst  als  Emp- 
findung assoziationsfähig  wird.  Wir  nennen  endlich  diese  Asso- 
ziation eine  »Assimilation«,  weil  ihr  in  doppeltem  Sinne  der 
allgemeine  Charakter  der  »Verähnlichung«  zugeschrieben  werden 
kann:  erstens,  insofern  die  direkt  erregten  Empfindungen  ihnen 
ähnliche  oder  oft  mit  ihnen  verbunden  gewesene  wiedererwecken, 
und  zweitens,  weil  diese  aus  Dispositionen  hervorgegangenen  repro- 
duktiven Elemente  selbst  verähnlichend  auf  die  direkten  Empfindun- 
gen zurückwirken.  Die  Assimilation  als  Assoziationsvorgang  ist 
also  stets  eine  wechselseitige:  die  direkten  Empfindungen  wirken 
assimilativ  auf  die  reproduktiven,  und  diese  wirken  ebenso  auf  die 
direkten.  Indem  dabei  weiterhin  auch  noch,  w^ie  oben  erwähnt, 
sekundäre  Assoziationen  der  reproduktiven  Elemente  mit  andern 
eintreten,  die  mit  ihnen  häufig  verbunden  waren,  während  sie  zu 
den  direkten  ursprünglich  außer  Beziehung  standen,  ist  im  all- 
gemeinen jede  einzelne  Wortvorstellung  eine  Resultante 
aus  unabsehbar  vielen  Elementen. 

Der  nächste  und  entscheidende  Charakter  der  Assimilation  be- 
steht hiernach  darin,  daß  sie  eine  simultane  Assoziation  ist. 
Sie  ist  simultan,  weil  die  als  ihr  Produkt  entstehende  Einzel- 
vorstellung in  allen  ihren  Teilen  gleichzeitig  aufgefaßt  wird,  wo- 
durch von  selbst  die  Teile  zu  psychologischen  Merkmalen  in  dem 
oben  bezeichneten  Sinne  werden.  Sie  ist  ferner  eine  Assoziation, 
da  bei  ihr  keine  Verbindungen  anderer  Art  stattfinden,  als  sie  bei 
irgendwelchen  sonstigen  Assoziationen  vorkommen.  Das  Charalderi- 
stische  des  Vorgangs  besteht  bei  ihnen,  wie  bei  allen  Assoziationen, 
darin,  daß  sie  Elementarvorgänge,  nicht  Massenvorgänge  sind. 
Wenn  Herbart  und  die  an  ihn  sich  anschließenden  Sprachpsycho- 
logen solche  Assimilationen  als  Wirkungen  von  »Apperzeptions- 
massen« bezeichnen,  so  ist  daher  dieser  Ausdruck  in  doppelter 
Weise  irreführend:  erstens,  weil  er  diese  Erscheinungen  überhaupt 
von  den  Assoziationen  trennt,  denen  sie  ihrem  ganzen  Wesen  nach 


e82  Die  Wortbildung. 


zugehören;  und  zweitens,  weil  der  ganze  Vorgang  das  gerade  Gegen- 
teil einer  »Massenwirkung«  ist.  Wollen  wir  ihn  uns  irgendwie  aus 
seinen  deutlich  gegebenen  Komponenten  verständlich  machen,  so 
müssen  wir  vielmehr  not\vendig  annehmen,  daß  zu  einer  geläufigen 
Wortvorstellung  eine  unbestimmte  Zahl  elementarer  Dispositionen 
sowohl  in  den  gleichen  wie  in  andern,  irgendwie  ähnlichen  Verbin- 
dungen vorhanden  ist,  und  daß  von  diesen  Dispositionen  eine 
größere  Anzahl  teils  direkt,  durch  übereinstimmende  Empfindungs- 
elemente des  Eindrucks,  teils  indirekt,  durch  ihre  äußere  Verbin- 
dung mit  solchen,  erw'eckt  wird.  Zwischen  den  so  in  Wirksamkeit 
tretenden  Elementen  entsteht  dann  aber  eine  Wechselwirkung,  in- 
folge deren  sich  die  übereinstimmenden  Elemente  assimilieren  und 
die  widerstreitenden  vollständig  eliminiert  werden.  Auf  diese  Weise 
besteht  jede  Assimilation  auch  im  Gebiet  der  Wortvorstellungen  aus 
einer  unabsehbaren  jMenge  elementarer  Gleichheits-  und 
Beruh  runcfsassoziationen. 


6.   Apperzeption  des  Wortes  als  Einzelvorstellung. 

Nachdem  so  die  Bildung  der  Wortvorstellung  in  allen  ihren 
wesentlichen  Eigenschaften  durch  den  Assimilationsprozeß  einge- 
leitet ist,  wird  sie  nun  aber  erst  abgeschlossen  durch  einen  daran 
sich  anschließenden  weiteren  Vorgang,  durch  die  Heraushebung 
der  durch  jene  assoziativen  Prozesse  gebildeten  Einzelvorstellung  aus 
dem  gesamten  Vorstellungsverlauf.  Diesen  letzten  entscheidenden 
Akt  nennen  wir  die  Apperzeption  des  Wortes,  Die  Wortapper- 
zeption, wie  sie  sich  im  Laufe  der  natürlichen  Gedankenbildung 
vollzieht,  besteht  demnach  nicht  in  jenen  assimilativen  Assoziationen 
selbst,  denen  die  psychische  Konstitution  des  Wortes  ihren  Ursprung 
verdankt;  sondern  durch  diese  Assoziationen  wird  immer  nur  das 
Objekt  gegeben,  welches  apperzipiert  werden  kann,  nicht  der  Akt 
der  Apperzeption  selbst.  Dieser  vollzieht  sich  einerseits  als  ein 
Unterscheidungsakt,  der  unter  der  Wirkung  mannigfaltiger  und 
zum  Teil  weit  zurückreichender  Vorerlebnisse  des  Bewußtseins  ent- 
steht. Anderseits  ist  er  von  eigenartigen  subjektiven  wie  objek- 
tiven Symptomen  begleitet.  Subjektiv  wird  das  durch  assimilative 
Assoziation  entstandene  Produkt  unter  den  für  die  Willensvorgänge 


Grund-  und  Beziehungselemente  des  Wortes.  cgi 

charakteristischen  Spannungs-  und  Erregungsgefühlen  Objekt 
der  Aufmerksamkeit.  Dabei  bezeichnet  dieser  Ausdruck  »Aufmerk- 
samkeit« subjektiv  wiederum  nichts  anderes  als  eben  den  Komplex 
der  Gefühle  selber,  während  er  objektiv  auf  die  größere  Klarheit 
und  Deutlichkeit  der  Einzelvorstellung  hinweist,  die  Inhalt  der 
Apperzeption  ist.  Beide  objektive  Eigenschaften  ergänzen  sich  in- 
sofern, als  die  »Klarheit«  die  Hervorhebung  der  einzelnen  Vorstel- 
lung nach  ihrem  spezifischen  Inhalt,  die  »Deutlichkeit«  die  Sonde- 
rung von  andern  Bewußtseinsinhalten  andeutet.  Beide  Eigenschaften 
werden  gewöhnlich  als  »Wirkungen«  der  Aufmerksamkeit  betrachtet, 
obgleich  sie  nur  die  objektiven  Merkmale  der  Aufmerksamkeit  selbst 
sind,  ebenso  wie  die  Spannungs-  und  Erregungsgefühle  deren  sub- 
jektive Symptome. 

Hat  auf  diese  Weise  die  Apperzeption  des  Wortes  die  assoziativ 
vorbereitete  Bildung  der  Worteinheit  vollendet,  so  wirkt  sie  nun 
ihrerseits  wieder  auf  die  Assimilationsprozesse  zurück,  indem  auch 
ihre  Handlungen  Dispositionen  hinterlassen,  welche  die  Wieder- 
erneuerung einer  bestimmten  Worteinheit  in  künftigen  Fällen  unter- 
stützen und  diese  zu  bestimmten  Gesamtrichtungen  des  Bewußtseins 
in  Beziehung  setzen.  So  greifen  hier,  wie  überall  im  geistigen 
Leben,  die  einzelnen  Vorgänge  auf  das  mannigfaltigste  und  in  hin- 
und  rückläufigen  Bewegoingen  wechselseitig  fördernd  ineinander  ein. 
Die  höheren  Stufen  dieser  Vorgänge,  die  apperzeptiven,  sind  aber 
durch  die  vorangehenden,  die  assoziativen,  so  vollständig  vorbereitet, 
daß  sie  ganz  und  gar  als  »psychische  Resultanten«  derselben  er- 
scheinen^). 


III.  Stellung  des  Wortes  in  der  Sprache. 

I.    Grund-  und  Beziehungselemente  des  Wortes. 

In  dem  Verlauf  der  Rede  ist  das  Wort  eine  natürliche  Einheit, 
die  zwar  mit  andern  ähnlichen  Einheiten  in  Beziehungen  und  Ver- 
bindungen steht,  dabei  aber  doch,  wie  das  Glied  einer  Kette,  ein 
Ganzes  für  sich  bildet,    das   allein  schon   einen  bestimmten  Begriff 


')  Vgl.  oben  Kap.  II,  S.  246. 


Die  Wortbildung. 


zum  Ausdruck  bringen  kann.  Bei  dieser  Aussonderung  der  Wort- 
vorstellungen aus  dem  Zusammenhang  der  Rede  gewinnt  nun  der 
schon  bei  dem  Lautwandel  hervorgetretene  funktionelle  Unterschied 
der  Grundelemente  und  der  Beziehungselemente  eine  ent- 
scheidende Bedeutung  (Kap.  IV,  S.  453). 

Grundelemente  nennen  wir  hier  wieder  diejenigen  Lautbestand- 
teile, die  für  den  innerhalb  einer  bestimmten  Wortgruppe  konstant 
bleibenden  Begriff  charakteristisch  sind,  während  die  Beziehungs- 
elemente solche  Bestandteile  umfassen,  durch  die  jener  Begriff 
irgendwie  modifiziert  und  dadurch  zugleich  zu  andern  in  die  Rede 
eingehenden  Worten  in  Beziehung  gebracht  wird.  Da  diese  Be- 
ziehungselemente mit  ähnlich  sinnmodifizierender  Wirkung  in  den 
Abwandlungsformen  anderer  Wörter  ebenfalls  vorkommen,  so  be- 
sitzen auch  sie  eine  relativ  konstante  Bedeutung.  Nur  besteht  diese 
hier  nicht  in  einem  selbständig  zu  denkenden  Begriff,  sondern  in 
einer  begrifflichen  Beziehung,  die  zu  ihrer  realen  Vergegen- 
wärtigung im  Bewußtsein  immer  der  Verbindung  mit  Grundele- 
menten bedarf.  Zugleich  erweist  sich  aber,  wie  schon  früher  be- 
merkt, nicht  selten  die  Grenze  zwischen  Grund-  und  Beziehungs- 
elementen als  eine  fließende,  indem  an  dem  Prozeß  der  sinnmodi- 
fizierenden Änderungen  auch  solche  Elemente  teilnehmen,  die  nach 
ihrer  ursprünglichen  Bedeutung  zu  den  Grundelementen  gehören. 
So  scheiden  sich  in  einer  zusammengehörigen  Reihe  von  Wörtern, 
wie  stehe ^  stehst^  stellt^  stand ^  gestanden  usw.,  ohne  weiteres  die 
angefügten  Suffixe  sowie  das  Präfix  des  Perfektums  als  reine  Be- 
ziehungsbestandteile; dem  steht  der  konsonantische  Anlaut  st  des 
Verbalstammes  als  ein  bei  allen  Abwandlungen  unberührt  bleiben- 
der Grundbestandteil  gegenüber,  während  der  Stammvokal  inner- 
halb beschränkterer  Gruppen  die  Bedeutung  eines  Grundelementes 
hat,  das  aber  für  andere  Wortgruppen  zu  den  Beziehungselementen 
hinübergezogen  wird.  An  diesen  fließenden  Elementen  offenbart  es 
sich  aber  deutlich,  daß  für  das  sprachbildende  Bewußtsein  selbst  das 
Wort  eine  Einheit  bleibt,  das  sich  durch  die  im  Zusammenhang 
der  Rede  liegenden  natürlichen  Bedingungen  in  stabilere  und  vari- 
ablere Elemente  zerlegt,  ohne  daß  sich  zunächst  der  Redende 
dessen  bewußt,  und  ohne  daß  daher  eine  absolute  Trennung  beider 
mösrlich  ist. 


Wurzeln  der  Sprache.  585 


Da  das  Verhältnis  der  Grund-  und  Beziehungselemente  eines 
Wortes  ein  wechselndes  sein  kann,  so  ergeben  sich  hieraus  zugleich 
für  die  Konstitution  der  Wortvorstellung  zwei  Grenzfälle,  deren  Vor- 
kommen und  Verbreitung  mit  charakteristischen  Eigentümlichkeiten 
des  Baues  der  Einzelsprachen  zusammenhängen,  und  auf  die  darum 
hier  nur  im  allgemeinen  hingewiesen  werden  kann.  Der  eine  dieser 
Grenzfälle  wird  durch  Wortgebilde  repräsentiert,  die  nur  aus  Grund- 
elementen, der  andere  durch  solche,  die  nur  aus  Beziehungsele- 
menten bestehen.  Im  ersten  Fall  enthält  das  Wort  bloß  einen 
selbständigen,  für  sich  vorstellbaren  Begriff;  im  zweiten  Fall,  der 
bei  unsern  abstrakten  Partikeln  verwirklicht  ist,  enthält  es  nur  eine 
unbestimmte  Beziehung,  die  isoliert  nicht  vorgestellt  werden  kann. 
Hier  wird  das  Wort  im  allgemeinen  nur  als  Wort  vorgestellt,  als 
geläufiger  Lautkomplex,  der  sich  aber  vermöge  der  gewohnten  be- 
grifflichen Anwendung  mit  einem  Gefühl  verbindet,  das  wahr- 
scheinlich von  andern,  häufig  mit  ihm  verbundenen  Wortvorstel- 
lungen ausgeht,  die  sich  assoziativ  zum  Bewußtsein  drängen.  Wegen 
der  großen  Zahl  solcher  Assoziationen  kommt  in  der  Regel  keine 
einzige  mit  ihrem  objektiven  Inhalt  zur  Geltung.  Bei  der  Einwir- 
kung isolierter  Wörter  ist  daher  der  Bewußtseinszustand,  wie  er  sich 
namentlich  an  den  Assoziations-  und  Gefühlskomponenten  zu  er- 
kennen gibt,  ein  wesentlich  abweichender,  je  nachdem  es  sich  um 
ein  selbständiges  Begrififswort  oder  um  ein  reines  Beziehungswort 
handelt.  Jenes  erweckt,  falls  seine  Bedeutung  bekannt  ist,  neben 
der  Lautvorstellung  immer  auch  eine  mit  den  Grundelementen  as- 
soziierte inhaltlich  bestimmte  Begriftsvorstellung,  die  um  so  an- 
schaulicher ist,  eine  je  konkretere  Bedeutung  das  Wort  hat.  Das 
reine  Beziehungswort  dagegen  erweckt  zunächst  nur  eine  Lautvor- 
stellung, eventuell  mit  zugehörigem  optischen  Wortbild,  an  die 
irgendein  Gefühlseindruck  geknüpft  ist,  der  gelegentlich  durch 
wechselnde  äußere  Wortassoziationen  abgelöst  werden  kann. 

2,   Wurzeln  der  Sprache. 

Die  Tatsache,  daß  im  allgemeinen  jedes  Wort  nach  Laut  wie 
Bedeutunsr  mit  einer  erößeren  oder  kleineren  Anzahl  anderer  Wör- 
ter  zusammenhängt,    hat   auf   die   Betrachtung    der  Sprache    frühe 


e86  Die  Wortbildung;. 


schon  einen  entscheidenden  Einfluß  ausgeübt.  Jenen  Lautbestand- 
teil, in  dem  die  Bedeutungsgemeinschaft  der  Glieder  einer  Wort- 
sippe ihren  Ausdruck  findet,  betrachteten  bereits  die  alten  Sanskrit- 
grammatiker als  das  ursprünglich  »Gesetzte«,  dhätu  [d-£f.ia),  das 
nicht  weiter  Abzuleitende  oder  als  das  »Element«  der  Wortbildung. 
Dem  Vorbild  der  griechischen  Naturphilosophie  folgend,  welche 
die  Prinzipien  oder  Elemente  der  Dinge  bildlich  deren  Wurzeln 
{QiKwi.iaTa)  nannte,  bezeichneten  dann  die  römischen  Philologen 
diese  Grundbestandteile  als  die  »Wurzeln  der  Sprache«.  An  diesen 
Ausdruck,  der  seitdem  stehen  geblieben  ist,  hat  sich  endlich  jenes 
System  botanischer  Bilder  angeschlossen,  das  die  in  dem  Begriff 
der  Wurzel  angedeutete  Vorstellung,  die  Sprache  selbst  sei  ein 
lebendiger  Organismus,  mit  sich  führte.  Aus  der  Wurzel  ließ  man 
durch  den  Hinzutritt  weiterer  Elemente  den  »Wortstamm«  ent- 
springen, aus  dem  endlich  durch  gewisse  näher  determinierende 
Bestandteile  die  wirklichen  Wörter  als  dessen  Verzweigungen  her- 
vorgehen sollten.  Die  geschichtliche  Betrachtung  übertrug  diese 
bildlichen  Bezeichnungen  auch  noch  auf  das  Verhältnis  verschiede- 
ner Sprachen  zueinander.  Nun  wurde  daher  die  Einzelsprache  selbst 
wieder  der  Zweig  eines  allgemeineren  Sprachstammes,  der  schließ- 
lich eine  ihm  vorausgehende  hypothetische  Ursprache  als  seine 
»Wurzel«  forderte.  Dieses  dem  organischen  Leben  entnommene 
Begriffssystem  wurde  freilich  bei  der  Schilderung  der  weiteren 
Schicksale  der  Wörter  und  der  auf  der  Höhe  ihrer  Entwicklung 
angelangten  Sprachen  meist  verlassen,  indem  man  jetzt  einen  Pro- 
zeß der  »Verwitterung«  eintreten  ließ,  so  daß  man  sich  das  Gefüge 
der  Sprache  nun  eigentlich  unter  dem  Bild  einer  Gesteinsmasse 
dachte '). 

Bei  dieser  Vorstellung,  daß  jedes  Wort  eine  seinen  Grundbegriff 
ausdrückende  Wurzel  und  weitere,  zu  ihr  hinzutretende  formale  Ele- 


^)  Curtius,  Griech.  Etymologie, 5  S.  23.  Wenn  Bopp  und  Jakob  Grimm  statt 
dessen  solche  Ausdrücke  wie  »Entartung«,  »Verwilderung«  der  Sprache  gebrauchen, 
so  bleiben  sie  zwar  mehr  im  Bilde,  der  Widerspruch,  daß  eine  durchaus  normale 
und  von  frühe  an  in  die  Entwicklung  eingreifende  Reihe  von  Erscheinungen  als 
etwas  Pathologisches  angesehen  wird,  ist  aber  dabei  um  so  auffälliger.  Max  Müller 
spricht  in  gleichem  Sinne  sogar  von  der  »Pest  der  lautlichen  Korruption«.  (Die 
Wissenschaft  der  Sprache.     Neue  Bearbeitung,   1892,  I,  S.  49.) 


Unterscheidung  von  Sprachtypen  auf  Grund  der  Wurzeltheorie.  cg^ 

mente  enthalte,  konnte  man  nun  aber  nicht  wohl  stehen  bleiben, 
da  die  formalen  Elemente  doch  mutmaßlich  ebenfalls  auf  irgend- 
welche »Wurzeln«  zurückführen  mußten.  So  gelangte  man  zur 
Unterscheidung  zweier  Klassen  von  Wurzeln,  der  Stoff-  und 
Formwurzeln,  oder  der  prädikativen  und  demonstrativen 
(Nenn-  und  Deutewurzeln),  wie  sie  wohl  treffender  G.  Curtius 
nannte.  An  der  Stoff-  oder  prädikativen  Wurzel  sollte  der  einer 
Wortsippe  gemeinsame  Grundbegriff  haften,  auf  die  Formwurzeln 
sollten  die  Formelemente  zurückführen,  die  dem  Wort  seine  be- 
stimmte grammatische  Stellung  anweisen:  »demonstrativ«  wurden 
sie  genannt,  weil  man  annahm,  daß  in  ihnen  stets  ein  Hinweis  auf 
eine  Person  oder  auf  einen  Ort  oder  auf  eine  Richtung  im  Raum 
enthalten  sei"). 


3.    Unterscheidung  von  Sprachtypen  auf  Grund 
der  Wurzeltheorie. 

War  auf  diese  Weise  erst  der  gesamte  Bestand  eines  Wortes 
auf  eine  Verbindung  ursprünglich  bedeutsamer,  nicht  weiter  zer- 
legbarer Lautgebilde  von  bestimmtem  begrifflichen  Werte  zurück- 
geführt, so  lag  es  nun  nahe  genug,  der  hierbei  wahrzunehmenden 
oder  zu  erschließenden  abweichenden  Bildungsweise  der  Wörter 
die  Gesichtspunkte  für  die  Beurteilung  der  Verschiedenheiten  des 
Sprachbaues  überhaupt  zu  entnehmen.  So  gelangte  man  zu  einem 
weiteren,  ursprünglich  dem  biologischen  Gebiet  entlehnten  Begriff: 
zu  dem  des  »Sprachtypus«.  Wie  eine  gewisse  Anordnung  und 
Entwicklungsweise  der  eine  Pflanze  zusammensetzenden  Elementar- 
gebilde, der  Zellen,  einen  Pflanzentypus  ausmacht,  dem  eine  größere 
oder  kleinere  Zahl  einzelner  Pflanzenarten  zugeteilt  werden  kann, 
so  soll  eine  bestimmte  Art  der  Verbindung  und  der  Entwicklung 
der   Sprachwurzeln   den    »Sprachtypus«    konstituieren,  der  natürlich. 


^,1  G.  Curtius,  Zur  Chronologie  der  indogermanischen  Sprachforschung,^  1873, 
S.  21.  W.  von  Humboldt  (Über  die  Verschiedenheiten  des  menschlichen  Sprach- 
baues. Werke,  VI,  S.  Ii6)  hatte  beide  als  »objektive«  und  »subjektive«  Wurzeln 
unterschieden,  weil  die  letzteren,  die  formgebenden  Bestandteile  des  Wortes,  nicht 
von  dem  zu  benennenden  Objekt,  sondern  von  dem  subjektiven  Standpunkt  des 
Redenden  bestimmt  seien. 


588  Die  Wortbildung. 


da  es  sich  in  diesem  Falle  bloß  um  die  Art  der  Ordnung  und 
der  Veränderung  der  Elemente,  nicht  um  ihre  Lautbeschaffenheit 
handelt,  auch  für  Sprachen,  die  ihrem  gesamten  Wortschatze  nach 
voneinander  abweichen,  doch  ein  übereinstimmender  sein  kann.  So 
entstanden  die  Begriffe  des  »isolierenden«  oder  des  »reinen  Wurzel- 
typus«, der  im  Chinesischen  annähernd  verwirklicht  sein  sollte;  des 
»agglutinativen«,  wie  ihn  z.  B.  die  ural-altaischen  Sprachen  darbie- 
ten; des  »polysynthetischen«  oder  »einverleibenden«,  den  man  dem 
Baskischen  und  den  amerikanischen  Sprachen  zuschrieb,  und  bald 
als  eine  Unterart  der  agglutinativen,  bald  als  eine  selbständige 
Form  ansah;  endlich  des  »flektierenden«  Typus,  der  wieder  in 
einen  solchen  der  einsilbigen  Wurzeln  (das  Indogermanische)  und 
in  einen  der  vorwiegend  zweisilbigen  (das  Semitische)  gegliedert' 
wurde').  Diese  »Typen«  bilden,  abgesehen  von  manchen  außerhalb 
des  Schemas  stehenden  Unterschieden,  eine  Entwicklungsreihe,  in 
der  die  reine  Wurzelsprache  als  der  Urzustand  erscheint.  Aus  ihr 
soll  als  eine  nächste  Weiterbildung  der  agglutinierende  Typus  ent- 
standen sein,  der  dann  durch  eine  innigere  organische  Verbindung 
der  Stoff-  und  Formwurzeln  in  den  flektierenden  überging.  Der 
letztere  soll  endlich  durch  den  alsbald  sich  anschließenden  Prozeß 
der  »Verwitterung«  wieder  einer  Rückbildung  Platz  machen,  bei  der 
die  Wörter  abermals  dem  reinen  Wurzelzustand  nahekommen:  so  in 
vielen  modernen  Sprachen,  am  meisten  im  Englischen,  das  nur 
noch  einen  kleinen  Rest  seiner  Flexionselemente  bewahrt  hat^). 


')  übrigens  werden  für  das  Semitische  meist  ebenfalls  ursprünglich  einsilbige, 
sei  es  zwei-,  sei  es  dreikonsonantige  Wurzeln,  wie  qat^  bar  oder  qatl,  brak  postuliert, 
aus  denen  sich  erst  die  zweisilbigen  Wortstämme,  wie  qatal^  barak,  entwickelt  hätten 
(Humboldt,  Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues,  Werke,  VI, 
S.  403  ff.).  Zuweilen  lag  dieser  Forderung  die  freilich  sehr  zweifelhafte  Hypothese 
einer  Urverwandtschaft  zwischen  Indogermanen  und  Semiten  zugrunde.  (Vgl.  Friedr. 
Delitzsch,  Studien  über  indo-germanisch- semitische  Wurzelverwandtschaft,  1873, 
S.  35  if.)  Mehr  noch  haben  in  neuerer  Zeit  die  unverkennbaren  Beziehungen  der  semi- 
tischen zu  den  im  allgemeinen  auf  einsilbige  Wurzeln  zurückführenden  hamitischen 
Sprachen  (Ägyptisch,  Koptisch,  Galla,  Somali  usw.)  die  Annahme  einer  ursprünglich 
monosyllabischen  Natur  der  Wurzeln  auch  für  das  Semitische  nahegelegt. 

2)  Steinthal,  Die  Klassifikation  der  Sprachen,  1850,  S.  7.  Der  erste,  der  diese 
weitverbreitete  Einteilung  aufgestellt  hat,  ist  nach  Steinthals  Angabe  Pott  (in  den 
Jahrbüchern  der  freien  deutschen  Akademie,  i.  Heft,  1848).  Wesentlich  vorgebildet 
ist  sie  aber  schon  bei  Humboldt,  der  namentlich  auch  den  an  sich  sehr  fruchtbaren 
Begriff  der    »Agglutination«    einführte    und    im   Zusammenhange    damit    die    Ansicht 


Unterscheidung  von  Sprachtypen  auf  Grund  der  Wurzeltheorie.  cgo 

Durch  diese  Anwendungen  der  Wurzelzerlegung  der  Wörter  glaubte 
man  die  Voraussetzung  bestätigt  zu  sehen,  daß  die  Wurzeln  nicht 
bloß  Produkte  der  Analyse  des  Wortes,  sondern  daß  sie  ursprüng- 
lich selbständige  Bestandteile  seien,  aus  denen  sich  das  Wort 
durch  eine  zuerst  losere  Aggregation  und  dann  durch  eine  immer 
fester  werdende  Verbindung  gebildet  habe.  Dem  Begriff  des  »Typus« 
sind  jedoch  in  dieser  Anwendung  auf  die  Genealogie  der  Sprachen 
die  Schicksale  nicht  erspart  geblieben,  die  ihm  auf  andern  Gebieten 
widerfuhren^).  So  wenig  es  für  die  wirklichen  Entstehungsbedin- 
gungen einer  chemischen  Verbindung  einen  erklärenden  Wert  hat, 
wenn  man  diese  auf  den  Typus  des  Sumpfgases  (CH^)  zurückführt, 
gerade  so  wenig  gibt  natürlich  der  Begriff  des  »Sprachtypus«  wirk- 
lichen Aufschluß  über  die  Wortbildung  in  einer  Sprache.  Ein  über- 
einstimmender Typus  kann  möglicherweise  auf  übereinstimmende 
Gesetze  der  Wortbildung  hinweisen ;  diese  Gesetze  zu  finden  ist  aber 
in  jedem  einzelnen  Fall  eine  besondere  Aufgabe.  Ob  eine  Sprache 
in  der  Stufenleiter  der  Wortbildungsprozesse  dem  Anfang  oder  einem 
späteren  Stadium  angehört,  das  ist  daher  immer  nur  aus  der  um- 
fassenden Kenntnis  ihrer  Vorgeschichte  mit  Sicherheit  zu  erschließen. 
Sonst  könnte  z.  B.  das  Englische  beinahe  ebensogut  wie  das  Chine- 
sische dem  Typus  einer  Wurzelsprache  zugezählt  werden.  In  der 
Tat  gilt  bei  den  Kennern  der  chinesischen  Sprachgeschichte  das 
Dogma  von  der  primitiven  Wurzelsprache  gegenwärtig  als  unhaltbar, 
da  diese  Sprache  ebensowohl  die  Spuren  ursprünglicher  und  wieder 
verloren  gegangener  Formenbildung  wie  in  der  Umgangssprache 
die  Neigung  zu  zusammengesetzten  Wortbildungen  zeigt ^).  Der 
Gedanke,  daß  eine  einzelne  Sprache  Jahrtausende  hindurch  auf  einer 
primitiven  Entwicklungsstufe  stehen  geblieben  sei,  hatte  ohnehin 
von  vornherein  nur  geringe  psychologische  Wahrscheinlichkeit,  am 
wenigsten  für   eine  Sprache  von  so  hoher  begrifflicher  Ausbildung 


ent\vickelte ,  daß  ein  monosyllabischer  Zustand  den  Ausgangspunkt  aller  Sprach- 
entwicklung gebildet  habe.  (Über  die  Verschiedenheit  des  menschl.  Sprachbaues, 
§  25,  Werke,  VI,  S.  382  ff.) 

^)  Vgl.  meine  Logik,^  II,   i,  S.  55  ff. 

2)  W.  Grube,  Die  sprachgeschichtliche  Stellung  des  Chinesischen,  1881,  S.  18. 
Dasselbe  gilt  für  die  andern  in  ihrer  Struktur  dem  Chinesischen  verwandten  mono- 
syllabischen Sprachen  Ostasiens.  Vgl.  Conrady,  Eine  indo-chinesische  Kausativ- 
Denominativbildung,  1896,  Einl. 


590 


Die  Wortbildunff. 


wie  das  Chinesische.  Nicht  minder  begegnet  aber  die  Typentheorie 
in  ihrer  Anwendung  auf  die  sogenannten  agglutinativen  Sprachen 
berechtigten  Bedenken.  Deren  Abgrenzung  von  den  Flexionssprachen 
erweist  sich  als  eine  willkürliche,  für  die  sich  entscheidende  Merk- 
male nicht  auffinden  lassen :  der  wesentliche  Unterschied  zwischen 
beiden  scheint  schließlich  darin  zu  bestehen,  daß  die  agglutinierenden 
Sprachen  reichere  und  zusammengesetztere  Flexionsformen  besitzen, 
weil  sie  die  einzelnen  Begriffe  konkreter,  unmittelbar  ausgestattet 
mit  einer  Menge  einzelner  Nebenbestimmungen  denken"). 

Noch  undurchführbarer  erweist  sich  ein  anderer  Gesichtspunkt, 
der,  an  die  Unterscheidung  von  Stoff-  und  Formelementen  an- 
knüpfend, in  der  klaren  Sonderung  dieser  Elemente  einen  Maßstab 
sieht,  an  dem  die  Ent^vicklung  einer  Sprache  gemessen  werden 
könne.  Wo  eine  solche  Sonderung  überhaupt  nicht  zu  bestehen 
scheint,  wo  also  die  Sprache  den  gleichen  Bestandteilen  bald  einen 
selbständigen  Begriffsinhalt  gibt,  bald  sie  bloß  zum  Ausdruck  von 
Begriffsbeziehungen  gebraucht,  da  gelten  die  Sprachen  als  »völlig 
formlos«.  Ihnen  werden  dann  die  zu  einer  durchgängigen  Scheidung 
jener  Elemente  hindurchgedrungenen  eigentlichen  Flexionssprachen, 
das  Indogermanische  und  Semitische,  als  die  »reinen  Formsprachen« 
gegenübergestellt.  Zwischen  diesen  beiden  Extremen  sollen  sich 
die  andern  Sprachen,  z.  B.  die  » agglutinativen  <;,  als  solche  be- 
wegen, die  der  Formlosigkeit  noch  nicht  entsagt  haben,  in  denen 
aber  doch  ein  gewisses  Streben  nach  Formbildung  erkennbar  sei. 
Neben  diesem  formalen  Gesichtspunkt  wird  übrigens  auch  ein  innerer, 
begrifflicher  zur  Geltung  gebracht,  indem  man  »formlos«  eine 
Sprache  nennt,  wenn  in  ihr  die  konkrete  sinnliche  Anschauung  vor- 
waltet und  abstrakte  Begriffsverhältnisse  nicht  zum  Ausdruck  kommen. 
Diese  beiden  Merkmale  werden  endlich  dadurch  zueinander  in 
Beziehung  gesetzt,  daß  man  die  begrifflichen  Eigenschaften  der 
»inneren«,   die   formalen  der   »äußeren  Sprachform«    zuweist,  wobei 


')  Vgl.  O.  Böthlingk,  L'ber  die  Sprache  der  Jakuten.  (Middendorffs  Reise  in 
den  äußersten  Norden  und  Osten  Sibiriens,  III.  185 1,  Einleitung.  Für  die  ameri- 
kanischen Sprachen  weist  aus  ähnlichen  Gründen  Fr.  Lieber  die  Ausdrücke  >agglu- 
tinativ«  und  »polysynthetisch«  zurück  (American  Langiiages.  in  Schoolcraft,  Ethno- 
logical  Researches,   185 1,  IT,  p.  346  ff.) 


Unterscheidung  von  Sprachtypen  auf  Grund  der  Wurzeltheorie.  cgi 

sich  äußere  und   innere   Sprachform   ungefähr  wie  Leib   und  Seele 
zueinander  verhalten  sollen. 

Den  ersten  Anstoß  zur  Entwicklung  dieser  eigentümlichen  Ideen 
hat  W.  von  Humboldt  durch  seine  Unterscheidung  von  »Stoff-« 
und  »Formelementen«  der  Sprache  gegeben.  Ihre  Anwendung  auf 
die  Unterscheidung  der  Sprachtypen  ist  hauptsächlich  das  Werk 
Steinthals').  Daß  dadurch  das  Verständnis  der  genetischen  Verhält- 
nisse der  Sprachen  gefördert  worden  sei,  läßt  sich  kaum  behaupten. 
Wohl  aber  ist  der  schablonenhafte  Gegensatz  von  Form  und  Form- 
losigkeit schon  bei  Steinthal  selbst  und  mehr  noch  bei  seinen  Nach- 
folgern zu  einer  leeren  Formel  geworden,  mit  der  man  über  die 
wirklichen  psychologischen  Unterschiede  der  Erscheinungen  hinweg- 
gingt). Diese  ganze  Auffassung  erregt  schon  dadurch  Bedenken, 
daß  dabei  der  Begriff  der  »Form«  in  zwei  ganz  verschiedenen  Be- 
deutungen auftritt,  die  durchaus  willkürlich  in  Beziehung  gesetzt  sind. 
Einmal  soll  die  Formlosigkeit  gewisser  Sprachen  darin  bestehen, 
daß  sich  in  ihnen  Form  und  Stoff  nicht  geschieden  haben;  sodann 
aber  darin,  daß  sie  nicht  zu  einer  deutlichen  Ausbildung  der  gramma- 
tischen Begriffsverhältnisse  gelangt  sind.  Nun  entsprechen  die  Stoff- 
bestandteile des  Wortes  nach  ihrer  begrifflichen  Bedeutung  dem,  was 
wir  oben  »Grundelemente«,  die  grammatische  Form  entspricht  dem, 
was  wir  »Beziehungselemente«  genannt  haben.  Dabei  hat  sich  jedoch 
gezeigt,  daß,  sobald  man  von  der  durchaus  hypothetischen   realen 


1)  Vgl.  besonders  Klassifikation  der  Sprachen,  S.  72  ff.,  Charakteristik  der  haupt- 
sächlichsten Typen  des  menschlichen  Sprachbaues,  1860,  S.  312  ff.,  und  an  vielen 
andern  Orten. 

2)  Deutliche  Belege  hierzu  bieten  Misteiis  Neubearbeitung  der  >Typen  des 
Sprachbaues«,  1893,  und  Fr.  Müllers  sonst  so  verdienstlicher  »Grundriß  der  Sprach- 
wissenschaft«, wo  der  Nachteil  nur  deshalb  weniger  hervortritt,  weil  sich  das  Werk 
grundsätzlich  auf  die  Mitteilung  der  hauptsächlichsten  sprachlichen  Tatsachen  be- 
schränkt. Wie  sehr  aber  bei  dem  Urteil  über  »Form«  oder  »Formlosigkeit«  statt 
fester  Kriterien  oft  nur  unbestimmte  Eindrücke  eine  Rolle  spielten,  erhellt  z.  B.  aus 
einer  Bemerkung  Steinthals,  wo  er  die  Bildung  von  Verbalformen  in  den  Sprachen 
der  Burjäten  und  Kalmücken  damit  zurückweist,  daß  dabei  nur  selbständige  Pro- 
nomina und  Verhältniswörter  mit  Hilfe  von  Abkürzungen  der  rohesten  Art  »agglu- 
tiniert«  worden  seien  (Charakteristik,  S.  323  Anm.l.  Als  ob  man  sich  die  indo- 
germanischen Flexionsformen  wesentlich  anders  entstanden  dächte!  Daß  aber  die 
Abkürzungen  bei  den  Burjäten  und  Kalmücken  von  »rohester  Art«  seien,  ist  schwer- 
lich anders  als  eben  wieder  damit  zu  motivieren,  daß  ihre  Sprachen  von  vornherein 
zu  »formlosen«  degradiert  werden. 


cg2  Die  Wortbildung. 


Existenz  von  »Wurzeln«  verschiedener  Gattung  absieht  und  lediglich 
die  tatsächlich  gegebenen  Wortgebilde  ins  Auge  faßt,  die  Scheidung 
zwischen  jenen  Grund-  und  Beziehungselementen  auch  in  den  so- 
genannten Formsprachen  eine  fließende  ist  (S.  584).  Auf  der  andern 
Seite  gibt  es  überhaupt  keine  Sprache,  wo  dies  Verhältnis  nicht  in 
den  vorhandenen  Wortbildungen  zum  Ausdruck  käme.  Vollends 
der  Grad  der  begrifflichen  Ausbildung  einer  Sprache  steht  im  all- 
gemeinen zu  der  Zahl  der  in  ihr  verwendeten  formalen  Elemente 
insofern  in  einem  gegensätzlichen  Verhältnis,  als  eine  konkretere 
Form  des  Denkens  natürlich  mannigfaltigere  Beziehungsformen  der 
Begriffe  verlangt  als  eine  abstraktere,  in  der  dieselben  auf  wenige 
Grundverhältnisse  reduziert  sind.  Für  diese  allgemeineren  Grund- 
verhältnisse pflegen  dann  selbstverständlich  wieder  in  der  konkreteren 
Sprachform  keine  besonderen  Ausdrucksmittel  vorhanden  zu  sein. 
So  kommt  es,  daß  man  nach  diesen  Kennzeichen  der  »inneren 
Sprachform«  eine  Sprache  bald  deshalb  »formlos«  nennt,  weil  sie 
an  Formen  reicher,  bald  aber  auch  deshalb,  weil  sie  an  Formen 
ärmer  ist  als  eine  sogenannte  Formsprache.  In  Wahrheit  gibt  es 
eben  eine  formlose  Sprache  überhaupt  nicht,  und  der  Begriff  einer 
solchen  steht  psychologisch  ungefähr  auf  gleicher  Linie  wie  der 
einer  Sprache  ohne  logisch -grammatische  Kategorien  oder  einer 
solchen,  die  sich  bloß  aus  Wörtern  oder  einzelnen  Vorstellungs- 
symbolen und  nicht  aus  Sätzen  zusammensetzte,  —  eine  Voraus- 
setzung, die  nicht  einmal  für  die  Gebärdensprache  zutrifil^).  Die 
charakteristischen  Unterschiede  der  verschiedenen  Sprachformen 
stehen  aber  in  so  unmittelbarem  Zusammenhang  mit  dem  Aufbau 
des  Satzes,  daß  die  Formen  der  Wortbildung  immer  nur  ergän- 
zende Kriterien  für  dieselben  abgeben  können;  noch  weniger  sind 
daher  solche  aus  der  Unterscheidung  der  ohnehin  hypothetischen 
Wurzelformen  zu  entnehmen. 


4.   Reale  Bedeutung  der  Sprachwurzeln. 

Wie  sich  die  Anwendung  der  Wurzeltheorie  zur  Erklärung  der 
Verschiedenheiten  des  Sprachbaues   als  undurchführbar  erweist,    so 


')  Vgl.  oben  Kap.  II,  S.  208  ff. 


Reale  Bedeutung  der  Sprachwurzeln.  cq-' 

begegnet  nun  auch  innerhalb  der  einzelnen  Sprachgebiete  die  An- 
nahme, daß  die  Wurzeln  die  ursprünglichen,  noch  unverbundenen 
oder  unentwickelten  Wortgebilde  selbst  seien,  unüberwindlichen 
Schwierigkeiten.  Zunächst  gibt  es  ja  nicht  bloß  Wurzeln,  die  bis  zu 
der  einer  ganzen  Sprachfamilie  gemeinsamen  hypothetischen  Grund- 
sprache zurückzuverfolgen,  sondern  auch  andere,  die  jedem  der  aus 
ihr  hervorgegangenen  Sprachzweige  für  sich  eigen  sind,  also  z.  B. 
neben  den  indogermanischen  auch  indische,  griechische,  lateinische, 
germanische.  Wollte  man  diesen  Sonderwurzeln  ebenfalls  eine  einst- 
malige reale  Existenz  zugestehen,  so  müßte  man  entweder  voraus- 
setzen, die  sogenannte  »Wurzelperiode«  sei  bei  der  Trennung  in 
Einzelsprachen  noch  nicht  vorüber  gewesen,  was  mit  der  Tatsache, 
daß  nicht  bloß  Wurzeln,  sondern  auch  Wortformen  aus  der  gemein- 
samen Grundsprache  in  ihre  Töchtersprachen  übergingen,  unverein- 
bar ist;  oder  man  müßte  annehmen,  der  Trieb  neue  Wurzeln  zu 
bilden  habe  auch  nach  der  ursprünglichen  Wurzelperiode  partiell 
noch  eine  längere  Zeit  fortgedauert').  Nun  ist  klar,  daß  eine 
solche  inmitten  bereits  bestehender  Wortbildungen  eingetretene  Neu- 
schöpfung unmöglich  in  der  Produktion  isolierter  Wurzeln  bestehen 
könnte,  sondern  daß  sie  nur  in  derselben  Form  denkbar  wäre,  in 
der  noch  gegenwärtig  in  der  Sprache  Neuschöpfungen  vorkommen: 
also  in  der  Form  neuer  Wörter,  wobei  die  Wurzel  von  Anfang 
an  bloß  als  Bestandteil  eines  wirklichen  Wortes  existierte.  Dann 
ist  aber  wieder  nicht  einzusehen,  warum  nicht  in  ähnlicher  Weise 
in  der  Ursprache  die  Wurzeln  entstanden  sein  sollten.  So  hat  denn 
auch  die  Mehrzahl  der  Sprachforscher  jene  Annahme  einer  Identität 
der  Wurzel  mit  dem  Wort  auf  die  Ursprache,  also  z.  B.  die  indo- 
germanische Grundsprache,  eingeschränkt,  womit  freilich,  da  es 
nun  einmal  Wörter  gibt,  die  auf  Sonderwurzeln  zurückführen,  die 
Schwierigkeit  gegeben  ist,  daß  man  eigentlich  zweierlei  Wurzeln 
annehmen  müßte,  solche  von  realer  Bedeutung,  und  andere,  die 
bloß   als  Resultate   grammatischer  Analyse  anzusehen   sind^).     Eine 


1)  Vgl.  G.  Curtius,  Griechische  Etymologie, ^   S.  45  ff. 

2)  Die  Hauptvertreter  einer  solchen  beschränkten  Realität  der  ursprünglichen 
Wurzeln,  wie  Heyse  (System  der  Sprachwissenschaft,  S.  in  ff.),  Steinthal  (Zeitschr. 
für  Völkerpsychologie  II,  S.  461  ff'.)  und  die  ihnen  folgende  Majorität  der  neueren 
Linguisten,  haben  freilich  diesem  Bedenken  keine  Rücksicht  geschenkt. 

Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  ^8 


594 


Die  Wortbildung:. 


letzte,  psychologisch  betrachtet  nicht  die  kleinste  Schwierigkeit  be- 
reitet endlich  die  logische  Stellung  der  durch  die  Wurzelanalyse 
gefundenen  Begi'ifFe.  Diese  Analyse  ergibt  nämlich  fast  durchgängig 
für  die  Wurzeln  solche  Begriffe,  die  eine  Tätigkeit,  einen  Vorgang 
oder  Zustand  ausdrücken,  also  Verbalbegrifife.  Als  bloßes  Ergebnis 
logisch-grammatischer  Analyse  betrachtet  ist  dies  Resultat  begreif- 
lich. Denn  es  ist  selbstverständlich,  daß  die  einer  Wurzel  zu- 
kommende begriftliche  Bedeutung  allgemeiner  sein  muß  als  die  aller 
der  Wörter,  in  die  sie  eingeht.  Zustands-  und  Eigenschaftsbegriffe 
sind  aber  stets  allgemeiner  als  Gegenstandsbegriffe,  und  zugleich 
stehen  die  beiden  ersteren  wieder  in  dem  Verhältnis  zueinander, 
daß  die  Eigenschafts-  immer  leicht  in  Zustandsbegriffe  übergeführt 
werden  können,  während  das  Umgekehrte  nicht  zutrifft.  So  kann 
man  den  Eigenschaften  ""grün',  ""groß',  *^gut'  usw.  Begriffe  wie  *^grün 
sein',  *^groß  sein',  'gut  sein'  usw.  substituieren;  bei  'gehen',  'laufen', 
'liegen'  u.  dgl.  ist  aber  der  umgekehrte  Ersatz  nicht  möglich.  Stellt 
man  daher  die  Frage,  welcher  Begriff  der  einer  bestimmten  Wort- 
sippe gemeinsame  sei,  so  muß  sich  mit  innerer  Notwendigkeit  in 
der  Mehrzahl  der  Fälle  ein  Verbalbegriff  ergeben.  Sind  die  Wurzeln 
ursprüngliche  Wörter,  nicht  bloß  Produkte  der  Abstraktion,  so  muß 
aber  dies  vom  Standpunkt  der  logischen  Analyse  aus  begreifliche 
Ergebnis  natürlich  ebenfalls  eine  reale  Bedeutung  haben.  Diese  ist 
jedoch  im  vorliegenden  Falle  schlechterdings  unbegreiflich.  Denn 
man  kann  sich  unmöglich  denken,  der  Mensch  habe  irgend  einmal 
bloß  in  Verbalbegriffen  gedacht.  Das  Umgekehrte,  daß  er  bloß  in 
gegenständlichen  Vorstellungen  gedacht  habe,  könnte  man  nach 
den  psychologischen  Eigenschaften  viel  eher  verstehen;  und  in  der 
Tat  finden  sich  sehr  deutliche  Spuren  eines  solchen  Zustandes  nicht 
nur  in  der  Sprechweise  des  Kindes,  sondern  auch  in  zahlreichen 
wirklich  existierenden  Sprachen,  die  einen  ursprünglicheren  Zustand 
begrifflicher    Entwicklung     bewahrt     haben').       Nichtsdestoweniger 


I)  Die  Belege  hierzu  ergeben  sich  vor  allem  aus  der  gesamten  Form  des  Denkens, 
wie  sie  in  der  Bildung  der  Wort-  und  Satzformen  sich  ausprägt.  (Vgl.  unten  Kap.  VI 
und  Vn,  und  bes.  Kap.  VIT,  Nr.  VIII.)  Die  Wurzelanalyse  selbst  ist  hier  ein  ganz 
und  gar  trügerisches  Hilfsmittel.  Da  der  Verbalbegriff  seiner  Natur  nach  allgemeiner 
ist  als  irgendein  ihm  verwandter  Gegenstandsbegriff  ('schneiden'  z.  B.  allgemeiner 
als  'Messer'),  so  wird  man,   wenn  eine   Wortsippe   ein   und   dasselbe   Gntndelement 


Reale  Bedeutung  der  Sprachwurzeln.  ege 

haben  schon  die  alten  Sanskritgrammatiker  den  Schritt  getan,  von 
jenem  Ergebnis  der  Wortanalyse  auf  die  verbale  Natur  der  Ur- 
wörter  zu  schließen ;  und  die  neuere  Sprachwissenschaft  ist  ihnen  in 
der  Mehrzahl  ihrer  Vertreter  gefolgt,  wenngleich  dieser  Bestandteil 
der  Wurzeltheorie  eine  weniger  allgemeine  Aufnahme  fand,  da  viel- 
fach neben  den  Verbal-  auch  reine  Nominalwurzeln  anerkannt 
werden.  Immerhin  bleibt  das  Ergebnis  bestehen,  daß  auch  dann, 
wie  die  Durchsicht  eines  jeden  auf  Wurzeln  zurückgehenden  etymo- 
logischen Wörterbuchs  zeigt,  die  Verbal  wurzeln  eine  enorme  Majori- 
tät besitzen. 

Da  man  sich  allen  diesen  Bedenken  wohl  nicht  ganz  verschließen 
kann,  so  ist  in  der  neueren  Sprachwissenschaft  allmählich  ein  zwie- 
spältiger Zustand  eingetreten.  Die  Wurzeln  beginnen  eine  Art 
»verschämter«  Existenz  zu  führen,  im  starken  Gegensatze  zu  den 
weitläufigen  Erörterungen,  die  ihnen  die  vorausgegangene  Zeit  zu 
widmen  pflegte.  Man  bedient  sich  ihrer,  um  den  gemeinsamen 
Ursprung  einer  Wortsippe  aufzuzeigen  oder  auf  den  gemeinsamen 
Wortschatz  der  zu  einer  Sprachfamilie  vorauszusetzenden  Grund- 
sprache zurückzuschließen.  Aber  die  Frage  ihrer  realen  Existenz 
bleibt  in  der  Regel  unberührt  —  ein  beredtes  Schweigen,  in  dem 
sich  der  herrschende  Zustand  des  Zweifels  deutlich  zu  erkennen 
gibt.  Dabei  fehlt  es  freilich  noch  immer  nicht  an  Hinweisungen 
auf  eine  halb  mythische  »Wurzelperiode«,  die,  weil  sie  der  wirk- 
lichen Entwicklung  der  Sprache  vorangegangen  sei,  innerhalb  dieser 
nicht  weiter  in  Betracht  komme  —  ein  letzter  Nachklang  der  Ideen 
der  Romantik,  die  mit  Fr.  Schlegel  in  den  Wurzeln  eine  göttliche 
Offenbarung  erblickte,  welcher  dann  die  Entwicklung  der  wirklichen 
Sprache  als  ein  Werk  menschlicher  Vernunft  gefolgt  sei'). 


enthält,  immer  geneigt  sein,  dieses  durch  einen  VerbalbegrifF  zu  übersetzen.  Dies 
beweist  wiederum,  daß  die  Ausziehung  der  Wurzeln  nicht  dazu  dienen  kann,  das 
ursprüngliche  Begriffssystem  einer  Sprache  zu  ermitteln,  und  indirekt  also,  daß  die 
Wurzeln  nicht  die  Urwörter  der  Sprache  sind;  es  beweist  aber  nicht,  wie  P.W.  Schmidt 
meint,  daß  wirklich  auch  viele  Naturvölker  ursprünglich  fast  in  nichts  als  in  Verbäl- 
wurzeln  gesprochen  haben.  (P.  W.  Schmidt,  Mitteil,  der  anthropologischen  Gesellsch. 
in  Wien,  Bd.  33,   1903,  S.  373). 

^)  Dem  skeptischen  Standpunkt  der  heutigen  Sprachwissenschaft  hinsichtlich  der 
Wurzeln  geben  die  Betrachtungen,  mit  denen  Brugmann  die  Einleitung  seines  Grund- 
risses  schließt,   einen   bezeichnenden  Ausdruck   (Grundriß   der   vergl.  Grammatik  der 

38* 


5q6  Die  Wortbildung. 


Nun  mag  sich  die  Sprachwissenschaft  mit  der  Fiktion  einer 
solchen  Wurzelperiode  als  einem  Grenzbegrifif,  der  für  sie  nicht 
weiter  Gegenstand  der  Untersuchung  sei,  allenfalls  beruhigen,  — 
die  psychologische  Betrachtung  kann  das  natürlich  nicht  tun.  Für 
sie  steht  aber  diese  Frage  im  engsten  Zusammenhang  mit  einer 
weiteren:  mit  der  nach  dem  Verhältnis  des  Wortes  zum  Satze. 
Ist  das  Wort  früher  als  der  Satz,  ist  dieser,  ebenso  wie  wir  ihn  in 
der  gegenwärtigen  Sprache  aus  Wörtern  zusammensetzen,  von  An- 
fang an  eine  Verbindung  von  Wörtern,  so  wird  der  Annahme  kaum 
zu  entgehen  sein,  daß  »Wurzeln«  irgendwelcher  Art,  seien  es  die- 
jenigen, die  heute  die  Wortanalyse  nachweist ,  seien  es  andere ,  die 
ihnen  vorausgingen,  die  Urwörter  gewesen  seien.  Denn  dies  kann 
auf  Grund  der  Wortanalyse  nicht  bezweifelt  werden,  daß  im  allge- 
meinen das  Wort  ein  zusammengesetztes  Gebilde  ist.  Ist  also  das 
Wort  ursprünglich  ein  isoliertes  Gebilde,  das  sich  erst  nachher 
mit  andern  Wörtern  zum  Aufbau  von  Sätzen  verbindet,  so  ist  der 
Schluß  kaum  zu  umgehen,  daß  auch  die  Bestandteile  des  Wortes 
ursprünglich  isoliert  existiert  haben.  Ist  dagegen  der  Satz  früher 
als  das  Wort,  ist  demnach  dieses  erst  aus  der  Zerlegung  des  Satzes 
in  seine  Bestandteile  hervorgegangen,  dann  sind  unter  allen  Um- 
ständen auch  die  Elemente  des  Wortes  keine  ursprünglich  isolierten 
Gebilde,  und  es  lassen  sich  nun  mannigfache  Wege  denken,  auf 
denen  sich  durch  Wechselwirkung  verschiedener  Satzteile  und  durch 
den  Einfluß  verschiedener  Sätze  aufeinander  das  Wort  als  relativ 
selbständig  gewordener  Teil  der  Rede  ausgeschieden  hat.  Auf  diese 
Weise  steht  die  Frage  nach  der  realen  Bedeutung  der  Wurzel  be- 
reits mit  der  andern  nach  dem  Verhältnis  von  Wort  und  Satz  in 
direkter  Beziehung.     (Vgl.  unten  5.) 

Für  den  Standpunkt  der  Wortanalyse  reduziert  sich  aber  der 
Begriff  der  Wurzel,  wenn  wir  von  allen  an  ihn  geknüpften  ge- 
schichtlich   unerweisbaren     und    psychologisch    unwahrscheinlichen 


indogerm.  Sprachen,  I,  S.  17  f.;.  Noch  charakteristischer  ist  es  wohl,  daß  in  H.  Pauls 
»Prinzipien  der  Sprachgeschichte«  das  Wort  »Wurzel«  überhaupt  kaum  vorkommt. 
Nicht  unerwähnt  darf  übrigens  bleiben,  daß  schon  vor  langer  Zeit  der  alte  Sprach- 
meister A.  F.  Pott  trotz  seines  >Wurzelwörterbuchs«  die  Auffassung  vertreten  hat, 
die  Wurzeln  seien  bloße  grammatische  Abstraktionen,  ohne  dabei  freilich  der  An- 
nahme einer  realen  Bedeutung  der  Wurzeln  ganz  zu  entsagen  [Pott,  Etymologische 
Forschungen,^  11,  i,  1S61,  S.  193  ff.). 


Reale  Bedeutung  der  Sprachwurzeln.  eg^ 

Hypothesen  absehen,  auf  die  Tatsache,  daß  es  Lautkomplexe 
gibt,  die  unverändert  durch  eine  Reihe  von  Wörtern  ver- 
folgt werden  können.  Dieser  reine  Konstitutionsbegriff  ist 
natürlich  sehr  wohl  mit  der  Voraussetzung  vereinbar,  daß  isolierte 
Wurzeln  überhaupt  niemals  in  der  Sprache  vorhanden  waren,  da 
Wortreihen,  die  einen  übereinstimmenden  Lautkomplex  enthalten, 
immer  dann  entstehen  werden,  wenn  ein  übereinstimmender  Grund- 
begriff die  Reihe  verbindet,  ähnlich  wie  wir  das  noch  heute  bei 
neuen  Wortschöpfungen  und  bei  der  Entstehung  von  Lautanalogien 
beobachten.  Dabei  mag  es  geschehen,  daß  ein  einzelnes  Wort 
früher  ist  als  andere,  die  durch  gleichzeitige  Begriffs-  und  Laut- 
assoziation nach  ihm  sich  bildeten;  es  kann  aber  auch  sein,  daß 
Wörter  von  übereinstimmendem  Lautcharakter  unabhängig  vonein- 
ander aus  den  nämlichen  ursprünglichen  Beziehungen  zwischen  Laut 
und  Bedeutung  heraus  entstanden.  Überall,  wo  es  sich  um  ur- 
sprüngliche Wortschöpfungen  handelt,  sind  selbstverständlich  nur 
Vermutungen  darüber  möglich,  ob  das  eine  oder  andere  wirklich 
stattgefunden  habe.  Bei  der  Ungeheuern  Bedeutung,  die,  wie  die 
Erscheinungen  des  Lautwandels  gezeigt  haben,  den  Lautassozia- 
tionen von  frühe  an  in  der  Sprache  zukommt,  und  bei  der  großen 
Übereinstimmung  der  als  Wurzeln  betrachteten  Lautkomplexe  wird 
man  aber  als  die  Regel  annehmen  dürfen,  daß  die  Bildung  einer 
Gruppe  verwandter  Wörter  zunächst  von  einem  einzelnen  Wort  aus- 
ging; worauf  dann,  nachdem  erst  eine  geringe  Anzahl  weiterer 
Wortbildungen  entstanden  war,  jedes  der  so  gebildeten  neuen  Wörter 
selbst  wieder  zum  Mittelpunkt  von  Assoziationen  werden  konnte, 
durch  die  sich  der  Geltungsbereich  einer  und  derselben  Wurzel  er- 
weiterte'). 


^)  Gegenüber  den  hier  geäußerten  Einwänden  gegen  die  Annahme  einer  Wurzel- 
periode der  Sprache  ist  neuerdings  sowohl  von  Delbrück  (Grundfragen  der  Sprach- 
forschung, S.  113  f.)  wie  von  Sütterlin  (Das  Wesen  der  sprachlichen  Gebilde,  S.  56  ff.) 
der  Versuch  gemacht  worden,  diese  wiederum  als  eine  berechtigte  nachzuweisen.  Ich 
habe  mich  von  der  Haltbarkeit  der  Gründe,  die  diese  Forscher  beibringen,  nicht  über- 
zeugen können.  Zunächst  beruhen  dieselben  auf  dem  bekanntlich  nicht  einwandfreien 
methodologischen  Grundsatz:  eine  Annahme,  deren  Unrichtigkeit  nicht  mit  absoluter 
Sicherheit  nachzuweisen  sei,  könne  als  erlaubt  zugelassen  werden.  Nun  läßt  sich 
aber  über  vorhistorische  Zustände  der  Sprache  natürlich  nichts  mit  absoluter  Sicher- 
heit aussagen.    Von  diesem  Standpunkt  aus  würde  sich  also  jede  beliebige  Hypothese 


cq8  Die  Wortbildung. 


Nach  allem  dem  ist  klar,  daß  der  Begrifif  des  »Elementes« 
eigentlich  dasjenige  ist,  was  das  Wort  »Wurzel«  mit  einem  irre- 
führenden Bilde  bezeichnet.  Die  Wurzeln  sind  Wortelemente, 
letzte  Bestandteile,  zu  denen  die  Wortanalyse  führt,  die  aber  un- 
mittelbar nur  in  den  aus  solchen  Elementen  zusammengesetzten 
Wortgebilden  nachweisbar  sind.  Sie  sind,  im  Unterschiede  von 
den    Lautelementen,    diejenigen    Lautbestandteile,    welche    den    in 


rechtfertigen  lassen.  An  die  Stelle  jenes  Grundsatzes  sollte  vielmehr,  wie  ich  meine, 
hier  der  andere  treten:  zulässig  ist  eine  Annahme,  wenn  sie  sowohl  geschichtlich 
wie  psychologisch  wahrscheinlich  ist.  Nun  kann  man  möglicherweise  über  die  ge- 
schichtliche Wahrscheinlichkeit  einer  Wurzelperiode  streiten.  Wenn  man  es  für 
erlaubt  hält,  in  der  Geschichte  überhaupt  von  psychologischer  Wahrscheinlichkeit 
zu  abstrahieren,  so  mag  es  ja  denkbar  sein,  daß  im  Urzustand  der  Mensch  bei  der 
Bildung  der  Sprache  genau  den  entgegengesetzten  Weg  von  dem  eingeschlagen 
habe,  den  der  Sprachforscher  heute  bei  der  Wortanalyse  einschlägt,  indem  er  aus 
den  von  diesem  gefundenen  bedeutsamen  Elementen  synthetisch  die  Wörter  zu- 
sammensetzte. Nur  steht  freilich  selbst  geschichtlich  diese  Hypothese  deshalb  in 
der  Luft,  weil  man  zugeben  muß,  daß  die  heute  nachzuweisenden  Wurzeln  möglicher- 
weise gar  nicht  die  ursprünglichen  sind,  sondern,  wie  Brugmann  andeutet,  vielleicht 
samt  und  sonders  sogleich  in  Wortzusammensetzungen  entstanden,  die  sich  nach 
Analogie  vor  ihnen  dagewesener  Zusammensetzungen  bildeten  (Brugmann,  Grundriß, 2 
I,  S.  32  f.).  Damit  ist  natürlich  der  Einwand  der  einzelsprachlichen  Wurzeln  aus 
der  Welt  geschafft.  Aber  es  ist  auch  jeder  historische  Grund  hinfällig  geworden, 
der  überhaupt  noch  für  eine  Wurzelperiode  der  Sprache  eintreten  könnte.  Denn 
wenn  möglicherweise  keine  einzige  der  heute  aufzufindenden  Wurzeln  wirklich  jemals 
eine  reale  Wurzel  gewesen  ist,  woraus  sollen  wir  dann  noch  die  geschichtliche 
Wahrscheinlichkeit  entnehmen,  daß  es  überhaupt  isolierte  Wurzeln  gegeben  habe? 
In  Wahrheit  ist  hierdurch  die  Frage  vollständig  vom  historischen  auf  das  psycho- 
logische Gebiet  verwiesen.  Denn  wenn  die  angeblichen  realen  Urwurzeln  historisch 
nicht  mehr  nachweisbar  sind,  so  ist  der  Beweis  für  eine  ursprüngliche  Wurzelperiode 
nur  noch  dadurch  zu  führen,  daß  man  sie  als  psychologisch  wahrscheinlich  nach- 
weist. Davon  trifft  aber,  wie  oben  gezeigt  wurde,  das  Gegenteil  zu.  Auch  geben 
sich  die  Sprachforscher,  die  für  die  primitive  Wurzelperiode  eintreten,  nicht  einmal 
die  Mühe,  eine  solche  psychologische  Wahrscheinlichkeit  zu  begründen,  sondern  sie 
begnügen  sich  in  der  Regel  mit  der  Versicherung,  daß  diese  Annahme  eine  »bequeme« 
oder  mindestens  eine  »unschädliche«  sei.  (Delbrück  a.  a.  O.  S.  120.)  Doch  abge- 
sehen davon,  daß  wissenschaftliche  Hypothesen  nicht  an  dem  Maßstabe  der  Bequem- 
lichkeit, sondern  an  dem  der  Wahrscheinlichkeit  gemessen  werden  sollten,  scheint 
es  mir  mindestens  unschädlicher,  wenn  man  den  Wurzeln  auch  in  der  Geschichte 
der  Sprache  keine  andere  Bedeutung  beimißt  als  diejenige,  die  sie,  soweit  sie  sich 
überhaupt  verfolgen  lassen,  immer  besessen  haben,  nämlich  den  von  bedeutsamen 
Wortbestandteilen,  statt  auf  Grund  grammatischer  Abstraktionen  eine  Urperiode  der 
Sprache  zu  konstruieren,  die  weder  historisch  nachweisbar  noch  psychologisch  wahr- 
scheinlich ist. 


Wort  und  Satz. 


599 


einer  Reihe  bedeutungsverwandter  Wörter  vorkommenden  Begriffs- 
elementen  entsprechen.  Da  es  nun  eine  doppelte  Art  der  Bedeu- 
tungsverwandtschaft gibt,  die  zwei  Wörter  verbinden  kann,  eine 
solche,  die  auf  den  eigentlichen  Begriffsinhalt  geht,  und  eine  andere, 
welche  die  Beziehungen  zu  den  sonst  in  der  Rede  vorkommenden 
Begriffen  hervorhebt,  so  sind  naturgemäß  auch  zwei  Arten  von 
Wortelementen  möglich:  Grundelemente  und  Beziehungs- 
elemente. Die  so  definierten  Wortelemente  sind  aber  selbst- 
verständlich nur  Elemente  der  gegebenen  Wortvorstellun- 
gen; die  Frage,  wie  das  Wort  entstanden  sei,  bleibt  davon 
unberührt.  Die  Annahme  einer  »Wurzelperiode«  ist  daher  ein 
Phantasiegebilde ,  das  weder  in  den  Erscheinungen  der  wirklichen 
Sprache  eine  Stütze  findet,  noch  mit  dem,  was  uns  sonst  die 
natürliche  psychologische  Entwicklung  des  Menschen  lehrt,  in  Ein- 
klang zu  bringen  ist.  Vielmehr  wird  man  diese  »Wurzelperiode« 
ruhig  zusammen  mit  der  Annahme  eines  goldenen  Zeitalters,  einer 
vollkommenen  Urreligion  und  mit  andern  ähnlichen  Vorstellungen 
in  das  Grab  vorwissenschaftlicher  Mythenbildungen  versenken  dür- 
fen. »Im  Anfang  war  das  Wort«  —  dieser  Eingang  des  Johannes- 
evangeliums in  Luthers  Übersetzung  läßt  sich  in  seiner  buch- 
stäblichen Bedeutung  auf  diese  Frage  anwenden.  Man  kann  ihn 
aber  auch  hier  in  jenem  weiteren  Sinne  verstehen,  iu  dem  ihn 
dereinst  Fichte  sinnig  interpretiert  hat:  als  Ausdruck  des  Gedankens 
nämlich,  daß  die  Dinge  von  Anfang  an  so  sind  wie  sie  sind,  Mo- 
mente einer  unaufhaltsamen  Entwicklung,  nicht  Erzeugnisse  einer 
wunderbaren,  dem  wirklichen  Weltlauf  vorausgehenden  Schöpfung*). 


5.   Wort  und  Satz. 

Die  alte  Vorstellung,  der  Satz  werde  aus  ursprünglich  selbständig 
existierenden  Wörtern  zusammengefügt,  kann  heute  wohl  in  der 
wissenschaftlichen  Grammatik  als  beseitigt  gelten.  Sie  ist  hier  der 
ihr  verwandten  Ansicht  der  alten  Stoiker,  das  Wort  selbst  sei  eine 
Verbindung    von   Silben    und    Buchstaben ,    allmählich    nachgefolgt. 


^)  J.  G.  Fichte,   Anweisung  zum   seligen  Leben,    1806,  6.  Vorlesung.     Werke  V, 
S.  477  ff. 


6oO  Die  Wortbildung. 


In  der  lebendigen  Sprache  existieren,  wie  H.  Paul  mit  Recht  hervor- 
hebt, noch  jetzt  vielfach  die  Grenzen  nicht,  welche  die  Schriftsprache 
zwischen  den  einzelnen  Wörtern  festsetzt").  Vollends  wo  die  lite- 
rarische Fixierung  mangelt,  da  beruht  die  Scheidung  von  Wort  und 
Satz  vielfach  erst  auf  der  Willkür  des  Sprachforschers.  Bei  den 
Sprachen,  die  dem  sogenannten  »agglutinativen  Typus«  angehören, 
scheitert  nicht  selten  eine  solche  Scheidung  tatsächlich  daran,  daß 
ein  Ganzes  nach  dem  Zusammenhang  seiner  Teile  als  ein  einziges 
Wort  aufgefaßt  werden  kann,  während  es  doch  nach  seinem  Ge- 
dankeninhalt auf  den  vollen  Wert  eines  Satzes  Anspruch  machen 
darf.  So  drückt  das  türkische  Verbum  nicht  bloß  Aktivum,  Passi- 
vum  und  Zeitbestimmungen  der  Handlung,  sondern  auch  reflexive, 
kausative,  iterative  Beziehungen  durch  charakteristische  Lautelemente 
aus,  die  mit  dem  Verbalstamm  verbunden  werden.  Wenn  z.  B.  der 
Gedanke  "^ich  veranlasse  euch,  euch  gegenseitig  zu  lieben'  durch 
eine  einzige  Verbalform  wiedergegeben  werden  kann,  so  sehen  wir 
hier  die  Grenzen  der  Worteinheit  mindestens  viel  weiter  gezogen, 
als  es  in  unseren  europäischen  Kultursprachen  möglich  ist.  Oder 
wenn  ein  Delaware-Indianer  den  Satz  'er  kommt  mit  dem  Kahn 
und  holt  uns  über  den  Fluß'  in  einer  Wortverbindung  ausdrückt, 
die  mit  dem  Verbalstamm  beginnt  und  mit  dem  zugehörigen  Per- 
sonalpronomen endet,  so  dokumentiert  sich  dadurch  wiederum  ein 
solches  Gebilde  als  ein  einziges  Wort.  Dennoch  enthält  es  den  in 
einem  Satz  auszudrückenden  Gedanken  mit  allen  seinen  Neben- 
bestimmungen. Worteinheit  und  Satzeinheit  fallen  also  hier  voll- 
ständig zusammen.  In  einem  allerdings  sehr  viel  geringeren  Grade 
besteht  ein  analoger  Unterschied,  wie  wir  ihn  zwischen  solchen 
»agglutinativen«  Sprachformen  und  unsern  Flexionssprachen  beob- 
achten ,  auch  noch  zwischen  den  älteren  und  jüngeren  Formen  der 
letzteren.  Namentlich  das  Sanskrit,  bis  zu  einem  gewissen  Grad 
aber  auch  das  Griechische,  Lateinische,  Gotische  vermögen  mannig- 
fache Beziehungen  der  Begriffe  durch  Suffixe  des  Nomens  und 
Verbums  auszudrücken,  für  die  wir  besonderer  Wörter,  der  Präpo- 
sitionen, Personalpronomina  und  Hilfszeitwörter,  bedürfen.  Dadurch 
erscheint  der  Satz  beim  Übergang  von  den  älteren  zu  den  jüngeren 


H.  Paul,  Prinzipien  der  Spracligescliichte,3  S.  iio  ff. 


Wort  und  Satz.  ^qi 


Sprachformen  weit  mehr  in  Einzelwörter  gegliedert,  und  die  dem 
Verbum  dereinst  innewohnende  Fähigkeit,  Ausdruck  eines  einzigen 
Gedankens,  also  Wort  und  Satz  zugleich  zu  sein,  ist  allmählich 
verloren  gegangen.  Das  lateinische  amavi  ist  Wort  und  Satz  zu- 
gleich. Der  Romane  löst  diesen  Gedanken  in  die  drei  Wörter 
auf:  ego  habeo  amatiini^  fai  ainie.  Wenn  wir  demnach  einerseits 
Sprachen  von  einer  sichtlich  primitiveren  Entwicklungsform  mit  aus- 
gebildeteren Sprachen,  und  wenn  wir  anderseits  die  früheren  Stufen 
einer  und  derselben  Sprache  mit  ihren  späteren  vergleichen,  so  er- 
weist sich  überall  die  Scheidung  der  Redeteile  als  derjenige 
Vorgang,  der  das  Wort  aus  dem  Ganzen,  zu  dem  es  gehört,  dem 
Satz,  allmählich  loslöst,  ihm  eine  relativ  größere  Selbständigkeit 
verleiht  und  mit  seiner  selbständigen  Bedeutung  zugleich  seine  gram- 
matische Form  fixiert. 

Diesem  Verhältnis  des  Wortes  zum  Satze  entspricht  nun  durch- 
aus die  Stellung,  die  beide  nach  der  unmittelbaren  psychologischen 
Beobachtung  in  dem  Verlauf  unserer  Vorstellungen  einnehmen. 
Wenn  uns  oben  die  Versuche  über  Wort-  und  Satzapperzeption 
gelehrt  haben,  daß  zunächst  das  einzelne  Wort  als  ein  Ganzes  auf- 
gefaßt wird,  so  ist  nicht  zu  vergessen,  daß  sich  solche  Experimente 
immer  nur  auf  Individuen  beziehen,  die  an  ein  das  Ganze  des 
Satzes  in  seine  Bestandteile  gliederndes  Denken  und  an  isolierte 
Wortvorstellungen  gewöhnt  sind.  Die  Art,  wie  sich  hier  das  Wort 
als  Einzelvorstellung  aus  dem  Satze  abhebt,  ist  daher  durch  diese 
durch  Tradition  und  früh  erworbene  Übung  längst  gewonnenen 
Scheidungen  bestimmt.  Anders  natürlich  bei  dem  Naturmenschen, 
in  dessen  Denken  das  Wort  überhaupt  kein  fest  sich  abgrenzendes 
Gebilde  ist,  sondern  nur  der  Satz  durch  den  sicher  ausgeprägten 
Abschluß  des  Gedankeninhalts  als  eine  bestimmte  Einheit  erscheint. 
Bei  ihm  dominiert  dieses  Ganze.  Von  den  Einzelvorstellungen,  die 
in  dasselbe  eingehen,  mögen  einzelne,  namentlich  solche,  die  sich 
auf  bestimmte,  in  der  Wahrnehmung  gegebene  Gegenstände  be- 
ziehen, bereits  fester  umgrenzt  sich  abheben,  andere,  besonders 
Raum-  und  Zeitbestimmungen,  die  Arten  der  Tätigkeit  und  des 
Verhaltens  der  Gegenstände,  bleiben  fest  mit  den  sie  tragenden 
Hauptvorstellungen  verbunden.  Aber  auch  bei  jenen  relativ  isolier- 
bareren  gegenständlichen    Inhalten    bleibt    die    Beziehung    zu    dem 


6o2  ^16  Wortbildung. 


Ganzen,  dem  sie  angehören,  eine  so  unmittelbare,  daß  jeweils  das 
Einzelne  nur  in  seiner  konkreten  Verbindung  mit  dem  Ganzen  dem 
Bewußtsein  gegenwärtig  ist.  Auf  solche  Weise  bildet  der  Satz 
nicht  minder  eine  Vorstellungseinheit  wie  das  Wort;  ja  er  ist  diesem 
gegenüber  insofern  die  ursprünglichere,  als  der  in  dem  Satz  aus- 
gedrückte Inhalt  auf  jeder  Stufe  des  Denkens  gegenüber  anderen 
ähnlichen  Inhalten  ein  scharf  abgegrenztes  Ganzes  ist,  während  das 
einzelne  Wort  mehr  oder  weniger  innig  mit  den  andern  Bestand- 
teilen verbunden  sein  kann,  so  daß  es,  je  nach  den  in  der  über- 
lieferten Sprachform  gegebenen  Verhältnissen,  bald  sich  deutlich 
von  jenen  sondert,  bald  mit  einzelnen  unter  ihnen  oder  selbst  mit 
dem  Ganzen  zu  einer  untrennbaren  Einheit  zusammenfließt.  Be- 
zeichnen wir  den  dem  Satz  entsprechenden  Bewußtseinsinhalt  als 
eine  Gesamtvorstellung,  so  bildet  demnach  jedes  Wort  des 
Satzes  eine  Einzelvorstellung,  der  in  jener  eine  bestimmte 
Stellung  zukommt,  indem  sie  mit  den  übrigen  in  die  gleiche  Ge- 
samtvorstellung eingehenden  Einzelvorstellungen  in  Beziehungen 
und  Verbindungen  gesetzt  ist.  Dieses  Verhältnis  an  sich  ist  ein 
der  Sprache  auf  allen  Stufen  und  in  allen  Formen  ihrer  Entwick- 
lung unausbleiblich  zukommendes.  Nur  die  Festigkeit  der  Verbin- 
dungen ist  eine  außerordentlich  abweichende,  so  daß  dadurch  bald 
Wort-  und  Satzeinheit  fast  ununterscheidbar  zusammenfließen,  bald 
scharf  gegliedert  einander  gegenüberstehen.  Aber  selbst  diese 
Unterschiede  der  Sprachformen  ermäßigen  sich  in  der  lebendigen 
Rede,  indem  hier  die  Verbindung  zu  einem  Ganzen,  die  dem  natür- 
lichen Primat  des  Satzes  entspricht,  immer  wieder  zur  Vorherrschaft 
gelangt. 

Leicht  kann  man  sich  übrigens  von  diesem  Verhältnis  der  die 
Satzinhalte  bildenden  Gesamtvorstellungen  zu  den  durch  die  Worte 
repräsentierten  Einzelvorstellungen  bei  aufmerksamer  Selbstbeobach- 
tung während  der  Rede  überzeugen.  In  dem  Moment,  wo  ich 
einen  Satz  beginne,  steht  das  Ganze  desselben  bereits  als  eine  Ge- 
samtvorstellung in  meinem  Bewußtsein.  Dabei  pflegt  diese  aber 
nur  in  ihren  Hauptumrissen  einigermaßen  fester  geformt  zu  sein; 
alle  ihre  Bestandteile  sind  zunächst  noch  dunkel  und  heben  sich 
erst  in  dem  Maße,  als  sie  sich  zu  klaren  Vorstellungen  verdichten, 
als   Einzelworte   ab.      Der  Vorgang   gleicht  ungefähr  dem   bei    der 


Ursachen  der  Wortsonderung.  503 

plötzlichen  Erleuchtung  eines  zusammengesetzten  Bildes,  wo  man 
zuerst  nur  einen  ungefähren  Eindruck  vom  Ganzen  hat,  dann  aber 
sukzessiv  die  einzelnen  Teile,  immer  in  ihrer  Beziehung  zum  Gan- 
zen, ins  Auge  faßt.  Übrigens  ist  die  alltägliche  Erfahrung,  daß 
der  Redende  einen  zusammengesetzten  Satz  richtig  von  Anfang 
bis  zu  Ende  durchführen  kann,  ohne  vorher  über  ihn  irgendwie 
reflektirt  zu  haben,  offenbar  nur  aus  diesem  Verhältnis  erklärlich. 
Diese  Tatsache  würde  absolut  unverständlich  sein,  wenn  wir  mosaik- 
artig aus  einzelnen  zuerst  isolierten  Wortgebilden  den  Satz  zusammen- 
fügen müßten. 


6.   Ursachen  der  Wortsonderung. 

Wenn  wir  das  Wort  als  eine  »Einzelvorstellung«  bezeichnen 
und  diese  dem  Satz  als  einer  sie  enthaltenden  Gesamtvorstellung 
gegenüberstellen,  so  gewinnt  dieses  Verhältnis  seine  Bedeutung  für 
die  Entwicklung  des  sprechenden  Denkens  wesentlich  dadurch,  daß 
hierbei  notwendig  das  beschränktere  und  abhängige  aus  dem  um- 
fassenderen und  bestimmenden  Gebilde  hervorgehen  mußte.  Noch 
erhebt  sich  jedoch  die  Frage  nach  dem  Wie  dieses  Geschehens, 
nach  den  Bedingungen,  die  dem  einzelnen  Wort  allmählich  eine 
größere  Selbständigkeit  und  für  sich  allein  schon  einen  Begrififswert 
sichern.  Nur  einer  dieser  Bedingungen  wurde  bereits  gedacht:  näm- 
lich der  Assoziationen,  in  die  ein  einzelnes  Wort  mit  dem  gleichen, 
in  irgendeinem  andern  Satzganzen  vorkommenden  treten  muß,  sobald 
die  entsprechenden  Gesamtvorstellungen  infolge  der  Erinnerungs- 
vorgänge in  hinreichende  Berührung  kommen,  um  aufeinander  ein- 
wirken zu  können  (S.  579  f].  Hiermit  ist  aber  doch  nur  die  vor- 
bereitende Bedingung  zur  Isolierung  des  Wortes  gegeben;  die  tiefer 
liegenden  Ursachen  des  Vorgangs  sind  dadurch  noch  nicht  aufge- 
deckt. Denn  es  ist  allerdings  selbstverständlich,  daß  sich  irgendeine 
Vorstellung  nur  dann  von  andern  isolieren  kann,  wenn  sie  in  wech- 
selnden Verbindungen  mit  diesen  vorkommt,  gerade  so  wie  ein 
Gegenstand  im  Raum  erst  durch  seine  Bewegung  als  ein  von  seiner 
Umgebung  trennbarer  erscheint.  Diese  allgemeine  Assoziations- 
ursache kann  jedoch  ihre  Wirkungen  nur  zustande  bringen,  weil  der 
einzelnen    Wortvorstellung    von    vornherein    gewisse    Eigenschaften 


()0A  Die  Wortbildung. 


anhaften,  vermöge  deren  sie  überhaupt  isolierbar  ist.  Dies  aber 
beruht  auf  Bedingungen,  die  mit  der  Konstitution  der  Gesamtvor- 
stellungen sowohl  wie  der  Einzelvorstellungen  zusammenhängen 
müssen.  Nun  ist  das  Denken  und  seine  Äußerung  in  der  Sprache 
keine  bloß  assoziative  Aneinanderreihung.  Solches  würde  allenfalls 
denkbar  sein,  wenn  der  Satz  eine  bloße  Verbindung  von  Wörtern 
wäre,  und  nicht  vielmehr  das  Wort  selbst  aus  dem  Satze  seinen 
Ursprung  nähme.  Da  aber  das  Ganze  des  Gedankens  das  Primäre 
ist,  so  kann  auch  das  primum  movens  für  die  Isolierung  der  einzelnen 
Wortvorstellungen  nur  in  den  psychischen  Kräften  liegen,  die  eine 
Zerlegung  jener  Gesamtvorstellung  in  ihre  Teile  herbeiführen.  Diese 
Kräfte  müssen  mit  denen  der  Konstitution  der  Gesamtvorstellung 
selbst  zusammenhängen;  sie  können  ihr  nicht  durch  äußere  zufällige 
Einwirkungen,  z.  B.  durch  die  Assoziation  ihrer  einzelnen  Wort- 
bestandteile mit  denen  anderer  ähnlicher  Gebilde,  zufließen.  Viel- 
mehr wird  letzteres  immer  nur  eine  äußere  Bedingung  bleiben,  durch 
welche  die  in  der  Natur  der  Gesamtvorstellung  als  eines  einheitlichen, 
aber  zusammengesetzten  Gedankens  liegenden  inneren  Bedingungen 
zur  Wirkung  kommen.  Gerade  diese  Einheit  einer  Gesamtvorstellung 
ist  es  nun,  die  sich  auf  keine  Weise  als  eine  bloße  Summe  von 
Assoziationen  begreifen  läßt.  Sicherlich  haben  diese  erst  das  Material 
bereit  stellen  müssen,  das  zur  Entstehung  auch  der  einfachsten,  in 
einem  Satz  auszusprechenden  Gesamtvorstellung  erforderlich  ist. 
Gleichwohl  ist  die  Verbindung  der  in  der  Sinneswahrnehmung  nur 
äußerlich  assoziierten  Objekte  zu  einem  Ganzen,  dessen  einzelne 
Teile  in  bestimmte  Beziehungen  wechselseitiger  Zugehörigkeit  oder 
Abhängigkeit  gesetzt  werden,  ebensowenig  ein  bloßer  Assoziations- 
akt, wie  die  willkürliche  Richtung  der  Aufmerksamkeit  auf  irgend- 
welche Gegenstände  der  Wahrnehmung,  unter  absichtlicher  Vernach- 
lässigung anderer,  oder  die  willkürliche,  aus  einem  bestimmten 
bevorzugten  Motiv  entspringende  äußere  Handlung  eine  bloße 
Assoziation  ist.  Alle  diese  Vorgänge  würden  ohne  die  mannig- 
faltigsten Assoziationen  nicht  möglich  sein.  Sie  setzen  aber  außer- 
dem resultierende  psychische  Wirkungen  voraus,  welche  die  gesamte 
psychische  Anlage  und  Vergangenheit  des  Subjektes  zu  ihrer  Grund- 
lage haben.  Infolgedessen  erfolgt  jede  Apperzeption  einer  Ge- 
samtvorstellung-  sowohl   wie  der  aus  dieser  sich  ablösenden  Einzel- 


Ursachen  der  Wortsonderung.  5o=j 

Vorstellungen  auf  Grund  bestimmter  Willensmotive,  die  aus  der 
Wechselwirkung  der  zunächst  sich  bietenden  Assoziationen  mit  jener 
psychischen  Anlage  hervorgehen. 

Dieses  Verhältnis  bringt  für  die  Analyse  der  Vorgänge  des 
Denkens  und  Sprechens  die  doppelte  Aufgabe  mit  sich:  einerseits 
die  Assoziationsbedingungen  nachzuweisen,  die  einem  gegebenen 
Gedankenzusammenhang  zugrunde  liegen;  anderseits  die  Apperzep- 
tionsmotive aufzufinden,  die  in  Verbindung  mit  den  Assoziationen 
die  wirkliche  Konstitution  der  Denkakte  erklären. 

Diese  doppelte  Aufgabe  erledigt  sich  nun  bei  dem  vorliegenden 
Problem  wegen  des  engen  Zusammenhangs,  in  dem  hier  die  Asso- 
ziations-  und  die  Apperzeptionsbedingungen  stehen,  in  der  denkbar 
einfachsten  Weise.  Assoziativ  wird  die  Isolierung  des  einzelnen 
Wortes  dadurch  vermittelt,  daß  das  gleiche  Wort  auch  in  andern 
Gesamtvorstellungen  in  veränderten  Umgebungen  vorkommt.  Daß 
dies  der  Fall  ist,  hat  aber  wieder  seinen  Grund  in  den  apperzeptiven 
Beziehungen,  in  die  in  jedem  einzelnen  Fall  die  Teile  des  Ge- 
dankens zueinander  treten,  Beziehungen,  die,  assoziativ  vorbereitet, 
erst  in  hinzutretenden  Akten  willkürlicher  Verknüpfung  endgültig 
vollzogen  werden.  Hiernach  läßt  sich  der  ganze  Vorgang  der  Wort- 
isolierung auf  eine  Reihenfolge  von  vier  Prozessen  zurückführen. 
Voran  steht  eine  Assoziation  von  direkten  Empfindungs-  und  von 
Erinnerungselementen:  das  ursprüngliche  Vorstellungssubstrat 
des  Gedankens.  Aus  ihm  entsteht  auf  zweiter  Stufe  durch  einen 
Apperzeptionsakt,  der  gewisse  Wahrnehmungsmotive  vor  andern 
bevorzugt  und  das  Ganze  gegen  andere  Bewußtseinsinhalte  abschließt, 
die  Bildung  der  Gesamtvorstellung.  Darauf  folgt  in  dritter 
Linie  eine  Reihe  sekundärer  Assoziationen  übereinstimmen- 
der Bestandteile  verschiedener  Gesamtvorstellungen,  infolge  deren 
sich  solche  übereinstimmende  Teile  deutlicher  von  andern  abheben, 
mit  denen  sie  wechselnder  verbunden  sind.  Hierzu  kommt  endlich 
als  letzter  Apperzeptionsakt  die  willkürliche  Isolierung  dieser  durch 
Gleichheitsassoziationen  gehobenen  Elemente  zu  selbständigen  Einzel- 
vorstellungen. 

Von  diesen  vier  Prozessen  gehört  der  erste,  die  Assoziation  der 
Wahrnehmungs-  und  Erinnerungselemente,  einer  der  Sprache  voraus- 
gehenden Bewußtseinsentwicklung  an.    Der  zweite,  die  Apperzeption 


6oÖ  Die  Wortbildung. 


der  Gesamtvorstellung,  kann  zwar  auch  als  ein  Akt  sprachlosen 
Denkens  vorkommen,  und  es  geschieht  dies  tatsächlich  fortwährend 
in  den  \''orgängen  sogenannter  Phantasietätigkeit.  Überall  aber,  wo 
der  Trieb  nach  Mitteilung  des  selbsttätig  Erfaßten  an  Andere  hinzu- 
tritt, da  entsteht  notwendig  irgendeine  äußere  Reaktion,  welche  diese 
Apperzeption  als  natürliche  Ausdrucksbewegung  begleitet.  Eine 
solche  Reaktion  besteht,  sobald  die  Gesamtvorstellung  verwickelter 
wird,  in  einer  Folge  von  Bewegungen,  also,  falls  die  Bedingungen 
zur  Entstehung  der  Lautsprache  gegeben  sind,  in  einer  Folge  von 
Lautartikulationen.  Hiermit  wird  die  Gesamtvorstellung  selbst,  und 
in  weiterer  Folge  jede  aus  ihr  durch  die  anschließenden  Assoziations- 
und Apperzeptionsprozesse  sich  loslösende  Einzelvorstellung  zu  einer 
mehrfachen  Komplikation.  Zunächst  verbindet  sich  der  kon- 
krete Anschauungsinhalt  mit  der  akustischen  sowie  mit  der  motori- 
schen Wortvorstellung,  wobei  die  erstere  beim  Hören  des  Ge- 
sprochenen, die  letztere  beim  eigenen  Sprechen  über^viegt;  und 
dazu  kommen  dann  noch  als  inkonstantere  und  qualitativ  wech- 
selndere die  optischen  und  graphischen  Bestandteile  der  Komplika- 
tion.   (Vgl  oben  S.  557  ff.) 


IV.  Neubildung  von  Wörtern. 

I.    Volkstümliche  Neubildungen. 

Wenn  die  psychischen  Kräfte,  die  in  irgendeiner  entlegenen 
Urperiode  der  Sprache  artikulierte  Laute  zu  Wörtern  vereinigt  haben, 
keine  anderen  sind  als  diejenigen,  die  heute  noch  das  Leben  der 
Sprache  beherrschen,  so  erscheint  es  als  eine  naheliegende  Folge- 
rung, daß  auch  die  Urschöpfung  der  Wörter  kein  seit  langer  Zeit 
zum  Stillstand  gekommener,  sondern  daß  er  ein  sich  fortwährend 
in  der  lebenden  Sprache  wiederholender  Prozeß  sei,  gerade  so  wie 
sich  in  den  Fortpflanzungsvorgängen  der  Organismen  immer  wieder 
unter  unsern  Augen  deren  Schöpfung  erneuert.  Immerhin  muß 
ebendiese  Analogie  zur  Vorsicht  vor  einer  etwaigen  ünterschätzung 
der  jedenfalls  abweichenden  Bedingungen  ursprünglicher  Neuschöp- 
fung mahnen.  Ist  auch  die  Kraft  fortwährender  Wiederemeuerung 
und  zweckmäßisrer    Umwandluno-   in   der  organischen   Natur  unzer- 


Volkstümliche  Neubildungen.  607 


störbar,  solange  das  Leben  selbst  besteht,  so  sind  doch  allem  An- 
scheine nach  die  Bedingungen  einer  ersten  Erzeugung  organischer 
Wesen  auf  unserer  Erde  entweder  für  immer  dahin  oder  in  Grenzen 
eingeschränkt,  die  bis  jetzt  ihre  sichere  Nachweisung  unmöglich 
gemacht  haben.  Gerade  so  wird  man  erwarten  dürfen,  daß  die 
Neuschöpfung  von  Wörtern  in  späteren  Perioden  der  Sprache  nicht 
dasselbe  Phänomen  mehr  ist  wie  die  ursprüngliche,  da  auf  jene 
alles,  was  bis  dahin  in  der  Sprache  schon  feste  Gestalt  'gewonnen 
hat,  bestimmend  einwirkt.  Darum  ist  nun  aber  auch  die  Analogie 
mit  der  organischen  Natur  in  diesem  Fall  höchstens  für  den  End- 
erfolg, nicht  für  dessen  nähere  Ursachen  zutreffend.  In  der  orga- 
nischen Welt  sind,  soviel  wir  vermuten  dürfen,  die  äußeren  Be- 
dingungen für  eine  »generatio  spontanea«  wesentlich  andere  geworden. 
Bei  der  Sprache  haben  sich  die  inneren  Bedingungen  verändert, 
die  dem  nie  erlöschenden  Trieb  der  Wortbildung  seine  Richtung 
geben.  Namentlich  hat  hier  die  Ausbildung  der  vorhandenen  Sprache 
die  wortbildenden  Prozesse  für  alle  Folgezeit  auf  ein  verhältnismäßig- 
enges  Gebiet  von  Ergänzungen  des  Wortschatzes  eingeschränkt  — 
naturgemäß  auf  ein  um  so  engeres,  je  vollständiger  die  überlieferte 
Sprache  allen  Bedürfnissen  bereits  entgegenkommt.  Darum  ist  hier 
allerdings  zu  erwarten,  daß  mit  fortschreitender  Entwicklung  die 
Quellen  der  Neubildung  mehr  versiegen,  nicht  weil  es  an  den 
Kräften  fehlte,  die  sie  aus  dem  Mutterboden  der  Sprache  hei-vor- 
locken  könnten,  wohl  aber  weil  die  Anlässe,  die  zur  Äußerung 
dieser  Kräfte  treiben,  seltener  werden.  Gleichwohl  ist  es  für  das 
Problem  der  Wortbildung  von  Interesse,  jenen  vereinzelten  Fällen 
einer  wirklichen  Neuschöpfung  von  Wörtern,  die  sich  noch  in  der 
heutigen  Sprache  ereignen,  nachzugehen.  So  beschränkt  sie  sein 
mögen,  so  bieten  sie  doch  den  einzigen  Fall,  wo  der  Vorgang  der 
Wortschöpfung  der  unmittelbaren  Beobachtung  einigermaßen  zu- 
gänglich ist. 

Viele  Neubildungen  gehen  von  frühe  an  in  den  allgemeinen 
Sprachschatz,  wenn  auch  zunächst  nur  in  den  eines  beschränkten 
Bevölkerungskreises,  über.  Sie  mögen  individuellen  Ursprungs  sein; 
aber  ihr  Urheber  verbirgt  sich  unserer  Nachforschung,  denn  rasch, 
wie  sie  entstanden,  werden  sie  von  der  Gemeinschaft  aufgenommen 
und  weiter  getragen.    Solche  »volkstümliche  Neubildungen«  kommen 


6o8  I^ie  Wortbildung. 


in  jeder  Sprache  vor,  wenn  sie  auch  in  den  Kultursprachen  hinter 
den  »gelehrten  Neubildungen«  und  den  aus  dem  gleichen  Trieb 
nach  Erweiterung  des  Wortschatzes  hervorgehenden  Entlehnungen 
stark  zurücktreten").  Schon  um  dieser  Beschränkung  willen  wird 
man  von  vornherein  nicht  erwarten  dürfen,  daß  diese  Erscheinungen 
für  das  Problem  der  Wortbildung  überhaupt  von  entscheidender 
Bedeutung  seien.  Nichtsdestoweniger  sind  sie  geeignet,  auf  gewisse 
Seiten  dieses  Problems,  namentlich  auf  die  Abhängigkeit  neu  sich 
bildender  Wörter  voneinander  und  von  dem  schon  vorhandenen 
Wortschatz  einiges  Licht  zu  werfen. 

Wir  können  wohl  am  ehesten  die  volkstümliche  Neubildung  zu 
ihrer  Quelle  verfolgen,  wenn  wir  der  Art  und  Weise  nachgehen, 
wie  sich  jene  Arten  von  »Slang«  oder  »Jargon«"^)  bilden,  die  überall 
da  entstehen,  wo  eine  Anzahl  von  Menschen  im  täglichen  Bei- 
sammensein besonderen  Lieblingsinteressen  oder  fortwährend  geübten 
Beschäftigungen  nachgeht.  Diese  Bedingung  führt  von  selbst  die 
Neigung  mit  sich,  die  Objekte  der  besonderen  Interessensphäre  auch 
dadurch  nach  außen  abzuschließen,  daß  für  sie  neue,  von  den  sonst 
gebrauchten  abweichende  Wörter  geschaffen  werden.  Tritt  das 
Streben  hinzu,  die  Gegenstände  der  Unterhaltung  vor  Andern  zu 
verhüllen,  so  kann  dadurch  die  Ausbildung  einer  solchen  Sonder- 
sprache noch  mehr  gefördert  werden;  immerhin  ist  das  ein  sekun- 
däres Motiv,  das  in  sehr  vielen  Fällen  gar  nicht  in  Betracht  kommt. 
Mögen  nun  auch  solche  Sondersprachen  vielfach  mit  der  Neuent- 
stehung irgendwelcher  geselliger  Kreise  aufkommen  und  mit  ihnen 
wieder  verschwinden,  so  haben  sie  es  doch  in  einzelnen  Fällen,  wo 
die  Bedingungen  ihrer  Befestigung  und  Verbreitung  günstig  waren, 
zu  größerer  räumlicher  und  zeitlicher  Ausdehnung  gebracht:    so  in 


i)  Charakteristisch  hierfür  ist  es,  daß  z.  B.  in  dem  Werke  von  A.  Darmesteter, 
De  la  creation  de  mots  nouveaux  dans  la  langue  frangaise,  1877,  volkstümliche 
Neubildungen  eine  ganz  verschwindende  Rolle  spielen,  gegenüber  den  gelehrten 
Neubildungen  und  den  zur  Neubildung  in  dem  hier  gemeinten  Sinne  gar  nicht  zu 
rechnenden  Entlehnungen,  Ableitungen  und  Bedeutungsübertragungen,  die  in  jenem 
weitesten  Umfang,  in  dem  Darmesteter  den  Begriff  faßt,  sämtlich  als  »mots  nouveaux< 
bezeichnet  werden. 

2)  Die  deutsche  Sprache  hat  dafür  keinen  bezeichnenden  Ausdruck,  abgesehen 
von  dem  ausschließlich  für  die  Gaunersprache  gebrauchten  Kompositum  'Rotwelsch 
und  dem  analogen,  jede  unverständliche  Sprechweise  bezeichnenden  'Kauderwelsch'. 


Volkstümliclie  Neubildungen.  5oq 


der  Gaunersprache,  der  Soldatensprache,  der  Studentensprache,  der 
Handwerksburschensprache.  Daran  schließen  sich  als  beschränktere 
Erscheinungen  die  Jargons  gewisser  anderer  Berufskreise,  wie  der 
Kutscher,  der  Küfer,  der  Kellner  usw.,  oder  bestimmter  Geselligkeits- 
kreise, wie  der  Spieler,  der  Kegler  und  in  neuester  Zeit  besonders 
der  Radler.  Manche  dieser  Sondersprachen  entlehnen  voneinander, 
und  viele  ihrer  Ausdrücke  sind  verstümmelte  Lehnwörter.  So  hat 
die  Gaunersprache  vieles  dem  Hebräischen,  die  Studentensprache 
manches  dem  Lateinischen  entnommen  oder  diesem  und  den  ihm 
entlehnten  Fremdwörtern  angeglichen.  Einzelne  Ausdrücke  endlich 
sind  aus  dem  einen  dieser  Idiome  in  das  andere  übergegangen: 
namentlich  das  verbreitetste  und  älteste  derselben,  die  Gaunersprache, 
hat  so  die  Kellner-,  Soldaten-  und  Studentensprache  mit  Wörtern 
versorgt.  In  allen  diesen  Sondersprachen  kommen  übrigens  auch 
zahlreiche  Bestandteile  vor,  die  nicht  wirkliche  Neubildungen,  sondern 
bloße  Bedeutungsübertragungen  sind.  Stark  wirkt  in  solchen  Fällen 
außerdem  die  absichtliche  Erfindung  mit,  so  daß  dadurch  die  Er- 
scheinungen für  die  vorliegende  Frage  im  allgemeinen  belanglos 
werden '). 

Wie  aus  diesen  Sondersprachen  einzelne  Wörter  in  die  Volks- 
sprache übergehen  können,  so  sind  nun  ohne  Zweifel  überall  Neu- 
bildungen ursprünglich  in  irgendeinem  beschränkten  Kreis  entstan- 
den, um  dann  zuerst  in  den  nächsten  Dialekt  und  endlich  aus  diesem 
durch  mündliche  Mitteilung  oder  durch  die  Literatur  in  weitere 
Kreise  zu  dringen.  In  der  Regel  ist  aber  die  Existenz  einer  Neu- 
bildung erst  festzustellen,  nachdem  diese  Ausbreitung  bereits  ein- 
getreten ist.  So  zeigt  die  deutsche  Schriftsprache  in  jeder  ihrer 
Perioden  zahlreiche  Neubildungen.  In  der  älteren  Zeit  sind  sie 
von  dialektischen  Übertragungen  und  assimilierten  Fremdwörtern 
nicht  immer  sicher  zu  scheiden.     In  der  neuhochdeutschen  Periode 


I)  über  die  Gaunersprache  vgl.  Ave-Lallemant,  Das  deutsche  Gaunertum,  III., 
1862,  über  die  Studentensprache  F.  Kluge,  Deutsche  Studentensprache,  1895.  Über 
die  Gesamtheit  dieser  Sondersprachen  handelt  F.  Kluge,  Rotwelsch-Quellen  und  Wort- 
schatz der  Gaunersprache  und  der  verwandten  Geheimsprachen,  Bd.  i,  1901.  Gauner- 
und  Studentensprache  können  als  Vertreterinnen  verschiedener  Typen  gelten,  insofern 
die  erstere  den  Charakter  einer  Geheimsprache,  die  letztere  zum  großen  Teil  den 
einer  scherzhaften  Verwelschung  der  gewöhnlichen  Sprache  hat. 

W  un  dt,  Völkerpsychologie  I,  I.     2.  Aufl.  39 


5io  Die  Wortbildung. 


besitzen  wir  aber  ein  ziemlich  sicheres  Kennzeichen  ihres  Ursprungs 
in  ihrem  lautlichen  Zusammenhang  mit  andern,  altüberkommenen 
oder  mindestens  vorher  eingebürgerten  Wortbildungen.  Darin  liegt 
zugleich  ein  Beweis  dafür,  daß  solche  Neubildungen  nicht  außer 
allem  Zusammenhang  mit  dem  sonstigen  Wortschatz  entstehen, 
sondern  daß  sie  sich  an  diesen  und  dabei  fast  immer  an  ganz  be- 
stimmte laut-  und  bedeutungsverwandte  Wörter  anlehnen.  Ferner 
sind  die  neugebildeten  Wörter,  wenigstens  soweit  sie  jüngeren  Ur- 
sprungs sind,  in  ihrer  Mehrzahl  Verba.  Dies  hängt  mit  der  andern 
Eigenschaft  zusammen,  daß  sie  meist  den  Charakter  der  »Laut- 
gebärden« und  »Lautmetaphern«  besitzen.  Als  solche  sind  diese 
Neubildungen  bereits  an  einer  früheren  Stelle  als  Zeugnisse  unmit- 
telbarer Beziehungen  zwischen  Laut  und  Bedeutung  besprochen 
worden").  Die  gleiche  Beziehung  ist  es  nun  natürlich  auch,  die  für 
den  nämlichen  Vorgang,  wenn  man  ihn  unter  dem  Gesichtspunkt 
eines  Wortbildungsprozesses  betrachtet  in  vorderster  Linie  steht. 
Gerade  die  »Grundelemente«  des  Wortes  sind  es,  die  auf  solche 
Weise  durch  eine  unmittelbare  Assoziation  der  Vorstellung  mit  der 
Lautbewegung  zustande  kommen,  und  die  dem  Wort  um  so  mehr 
den  Charakter  der  Neubildung  verleihen,  je  weniger  jene  Assoziation 
mit  schon  vorhandenen,  die  nämlichen  oder  verwandte  Begriffe  aus- 
drückenden Lautgebilden  mitwirkt. 

Hier  kommen  nun  aber  zu  der  Beziehung  zwischen  Laut  und 
Vorstellung  zwei  weitere  Momente  hinzu,  die  eigentlich  erst  den 
Prozeß  in  den  Bereich  der  Wortbildung  erheben.  Das  erste  ist 
die  Assoziation  der  Grundelemente  des  Wortes  mit  denen  anderer 
Wörter,  die  jenem  nach  Laut  wie  Bedeutung  verwandt  sind;  das 
zweite  die  Assoziation  der  Beziehungselemente  mit  den  in  andern 
Wortgebilden  von  übereinstimmender  Stellung  enthaltenen  und  die 
assoziative  Angleichung  an  diese.  Vermöge  der  ersten  Assoziation 
läßt  sich  beinahe  jede  Neubildung  in  eine  Reihe  verwandter  Wort- 
bildungen eingliedern,  unter  denen  einzelne  meist  nachweislich  älteren 
Ursprungs  sind  als  andere,  so  daß  mit  größter  Wahrscheinlichkeit 
einerseits  eine  Art  Attraktion  der  älteren  Form  auf  die  jüngere, 
anderseits    aber    auch    eine    durch    die   nebenhergehende    onomato- 


^)  Vgl.  Kap.  m,  S.  317  ff. 


Volkstümliche  Neubildungen.  5  1 1 


poetische  Assoziation  bedingte  Variation  des  Lautes,  die  den  Unter- 
schied von  jenem  attrahierenden  Wortgebilde  herbeiführte,  zustande 
kam.  In  vielen  Fällen  mögen  es  aber  auch  mehrere  Wörter  von 
verwandtem  Lautinhalt  gewesen  sein,  welche  die  attrahierende  Wir- 
kung ausübten.  Solche  Wortreihen  durchweg  neueren  Ursprungs, 
jedoch  meist  von  etwas  verschiedenem  Alter  der  einzelnen  Glieder 
sind  z.  B.  baumeln^  bammeln,  bimmeln,  bummeln,  bambcln,  pampeln, 
bangein,  ferner:  flattern,  flittern  (häufiger  als  Substantiv  Flitter), 
flirren,  flintern,  flispern,  flunkern,  flüsteryi;  sodann:  knai^ren,  knurren, 
knirren,  knirschen,  knistern,  knattern,  knittern  usw.  Wie  man  sieht, 
sind  die  Verwandtschaften  bald  enger  bald  weiter,  und  es  läßt  sich 
daher  kaum  die  Grenze  bestimmen,  wo  zwischen  Wörtern  einer 
solchen  Reihe  noch  mit  Sicherheit  eine  Assoziation  angenommen 
werden  darf,  und  wo  nicht  mehr.  So  ist  es  wohl  zweifellos,  daß 
z.  B.  baumeln,  bammeln,  bimmeln,  bummeln  zusammenhängen, 
während  man  es  zweifelhaft  lassen  muß,  ob  bangein  und  andere 
ähnliche  noch  zur  selben  Gruppe  gehören.  Wo  aber  ein  Zu- 
sammenhang anzunehmen  ist,  da  fällt  auch  jedesmal  die  doppel- 
seitige Wirkung  einerseits  des  vorhandenen  Wortes,  anderseits 
der  neuen  Vorstellung,  die  auf  jenes  modifizierend  einwirkt,  in 
die  Augen.  So  ist  nach  den  literarischen  Befunden  unter  den 
Wörtern  der  ersten  der  obigen  Reihen  baumeln  das  älteste.  Es 
läßt  sich  als  eine  Lautgebärde  für  eine  hin-  und  herschwingende 
Bewegung  deuten,  auf  deren  Gestaltung  außerdem  wohl  die  Asso- 
ziation mit  dem  Worte  Baum  eingewirkt  hat:  ein  an  einem  Baum 
aufgehängter  Gegenstand  'baumelt'').  Auf  die  schwingende  Be- 
wegung der  Glocke  übertragen  trat  sodann  die  Vorstellung  des 
Baumes  zurück,  während  zugleich  der  Besonderheit  des  Glockentons 
der  Doppelvokal  widerstrebte:  so  entstand  durch  onomatopoetische 
Lautvariation  das  Wort  bammeln,  und  dieses  modifizierte  sich  wieder, 
auf  den  Klang  eines  kleinen  Glöckchens  übertragen,  zu  bimmeln. 
Als  ein  letztes  Gebilde  dieser  Wortreihe  ist  endlich,  sei  es  direkt 
aus  baumeln  oder  aus  bammeln,  in  der  Studentensprache  das  Wort 
bummeln  entstanden,  als  onomatopoetisches  Wort  für  'Spazieren- 
gehen', und  in  weiterer  Übertragung  für  'müßiggehen'. 

')  Vgl,  die   in    dieser    (übrigens    hypothetischen)    Ableitung   von   Baum   überein- 
stimmenden Bemerkungen  vor  Grimm,  Kluge  und  Paul  in  ihren  Wörterbüchern. 

39* 


5i2  Die  Wortbildung. 


Hiernach  sind  derartige  Neubildungen  im  allgemeinen  die  Er- 
zeugnisse einer  dreifachen  Assoziation.  Erstens  wirkt  meist  ein  be- 
reits vorhandenes  Wort,  mag  es  nun  selbst  schon  onomatopoetisch 
sein  oder  nicht,  assimilierend  auf  das  neu  entstehende.  Zweitens 
wird  dieses  durch  eine  Assoziation  zwischen  der  Vorstellung,  die 
es  bedeutet,  und  einer  dieser  entsprechenden  Lautgebärde  onoma- 
topoetisch beeinflußt.  Drittens  reiht  es  sich  durch  eine  von  ver- 
wandten Wortformen  ausgehende  Massenassoziation,  eine  »äußere 
grammatische  Angleichung«  (S.  435),  einer  bestimmten,  seiner  Stel- 
lung im  Satz  entsprechenden  Wortklasse  an.  Von  diesen  drei 
Assoziationen,  die  sich  sämtlich  im  allgemeinen  simultan,  also  wie- 
der in  der  Form  der  Assimilation  vollziehen,  kann  die  erste  mög- 
licherweise ganz  fehlen:  dann  liegt  eine  Urschöpfung  im  engeren 
Sinne  vor,  eine  solche,  bei  der  die  Grundelemente  des  Wortes  nur 
durch  die  direkte  Wirkung  des  Gegenstandes  auf  die  Lautgebärde 
entstehen.  Durch  die  dritte  der  genannten  Assoziationen,  aus  der 
die  Bildung  der  Beziehungselemente  hervorgeht,  wird  aber  ein  sol- 
ches, losgelöst  von  allen  bereits  bestehenden  Wortstämmen  entstan- 
denes Wort  dem  allgemeinen  Organismus  der  Sprache  eingegliedert 
und  dadurch  fähig,  seinerseits  neue  Bildungen  teils  durch  Ablei- 
tungen, teils  durch  die  oben  erörterten  Variationen  der  onomato- 
poetischen'Wirkung  hervorzurufen.  Durch  solche  Variationen  stehen 
zugleich  diese  Neubildungen  in  unmittelbarer  Beziehung  zu  Erschei- 
nungen, die  in  die  Urzeiten  der  Wortbildung  zurückreichen,  und 
deren  wir  früher  bei  der  sogenannten  »Wurzelvariation«  als  ältester 
geschichtlicher  Zeugnisse  der  Sprache  für  eine  innere  Beziehung 
zwischen  Laut  und  Bedeutung  gfedacht  haben'). 


2.    Gelehrte  Neubildungen. 

Von  den  volkstümlichen  unterscheiden  sich  die  gelehrten  Neu- 
bildungen schon  nach  ihrem  äußeren  Eindruck  dadurch,  daß  sie 
den  Charakter  willkürlicher  Erfindungen  an  sich  tragen  und  daher 
viel  bestimmter  auf  einen  individuellen  Ursprung  hinweisen.  In  der 
Tat  ist  hier  der  Schöpfer  eines  neuen  Wortes  in  sehr  vielen  Fällen 


Vgl.  oben  Kap.  HI,  S.  346  ff. 


Gelehrte  Neubildungen.  5  j  -i 


in  einer  bestimmten  literarischen  Persönlichkeit  direkt  aufzufinden. 
Jenes  Merkmal  der  willkürlichen  Erfindung  entsteht  aber  hauptsäch- 
lich deshalb,  weil  die  gelehrte  Neubildung  ohne  gelehrte  Beschäfti- 
gung, speziell  ohne  die  Kenntnis  einer  fremden  Literatur  und  Sprache 
ganz  undenkbar  ist.  Hieraus  entspringt  ein  wesentlicher  Unterschied 
gegenüber  der  volkstümlichen  Neubildung.  Diese  schöpft  nur  aus 
der  eigenen  Muttersprache,  jene  betätigt  sich  in  der  Übertragung 
fremden  Sprachgutes  in  die  Muttersprache.  Eine  solche  Übertragung 
kann  nun  aber  auf  zwei  Wegen  geschehen:  durch  die  in  anderem 
Zusammenhang  schon  besprochene  Assimilation  der  Fremdwörter"), 
und  durch  wörtliche  Übersetzung.  Die  Assimilation  der  Fremd- 
wörter kann  sowohl  auf  dem  volkstümlichen  wie  auf  dem  gelehrten 
Wege  stattfinden.  Das  erstere  pflegt  in  den  älteren,  das  letztere  in 
den  jüngeren  Perioden  der  Sprache  zu  geschehen.  Zur  Vermehrung 
des  Wortschatzes  trägt  sie  natürlich  sehr  vieles,  und  im  allgemeinen 
wohl  mehr  bei  als  die  Übersetzung.  Doch  eine  eigentliche  Neu- 
bildung ist  sie  nicht.  Ihrem  psychologischen  Charakter  nach  fällt 
sie  vielmehr  durchaus  mit  der  Dialektübertragung  oder  mit  der 
Aufnahme  eines  einem  beschränkten  Berufskreis  entstammenden 
Wortes  in  den  allgemeinen  Sprachschatz  zusammen. 

Jedes  Kulturvolk,  das  seine  Wissenschaft  und  Kunst  nicht  zum 
wesentlichsten  Teil,  namentlich  soweit  eine  Vermittlung  durch  lite- 
rarische Denkmäler  in  Frage  kommt,  aus  sich  selbst  erzeugte,  son- 
dern gewisse  Grundlagen  von  andern  in  der  Kultur  vorangegangenen 
Völkern  überkam,  hat  nun  aber  durch  die  willkürliche  sprach- 
bildende Tätigkeit  einzelner  Schriftsteller  den  für  das  wissenschaft- 
liche Denken  und  seine  einzelnen  Gebiete  erforderlichen  Wortvorrat 
bereichert.  Diese  Tätigkeit  ist  im  wesentlichen  überall  von  über- 
einstimmender Art.  Die  römischen  Autoren,  die  in  Anlehnung  an 
die  Griechen  eine  philosophische  Terminologie  aus  rein  lateinischen 
Wörtern  herstellten,  sind  dabei  nicht  anders  verfahren  als  die  Deut- 
schen, als  sie  von  den  Zeiten  des  Notker  Labeo  und  des  sprach- 
gewaltigen Meisters  Eckhardt  an  bis  herab  auf  Leibniz  und  Christian 
Wolff  den  lateinischen  Sprachschatz  zu  neuen  deutschen  Wortbil- 
dungen  verwerteten.      Unter    ihnen    nimmt   Leibniz    eine    führende 


Vgl.  Kap.  IV,  S.  459  ff- 


6i4  Die  Wortbildung. 


Stellung  ein.  Hatten  die  Früheren  von  Fall  zu  Fall  dem  Bedürfnis, 
das  fremde  Wort  in  einem  ihren  Volksgenossen  verständlichen 
Ausdruck  wiederzugeben,  zu  genügen  gesucht,  so  war  es  Leibniz, 
der  in  seinen  »Unvorgreiflichen  Gedanken  betreffend  die  Ausübung 
und  Verbesserung  der  teutschen  Sprache«  (1697)  zum  ersten  Male 
mit  klarer  Besonnenheit  über  die  Grundsätze,  nach  denen  solche 
Neubildungen  auszuführen  seien,  Rechenschaft  gab").  Das  Verdienst 
der  Durchführung  des  von  ihm  aufgestellten  Programms  gebührt 
Wolff  und  seiner  Schule:  hier,  auf  dem  Boden  der  willkürlich  plan- 
mäßigen Erfindung  und  Bereicherung  der  Sprache,  lag  das  Feld, 
auf  dem  das  Zeitalter  der  Verstandesaufklärung  zum  Teil  sein  Bestes 
geleistet  hat^).  Der  Philosophie  sind  die  andern  Wissenschaften 
langsamer  gefolgt,  —  mit  zwei  Ausnahmen:  der  Jurisprudenz  und 
der  Medizin.  In  der  Medizin  fehlten  hinreichend  präzise  Ausdrücke 
für  die  neueingeführten  Begriffe  in  dem  heimischen  Sprachschatze 
gänzlich.  Eher  kann  man  sich  wundern,  daß  die  Rechtswissen- 
schaft die  reiche  altdeutsche  Rechtssprache  der  Vergessenheit  über- 
antwortete, um,  von  verschwindenden  Ausnahmen  abgesehen,  ihr 
gesamtes  Begriffssystem  aus  Fremdwörtern  aufzubauen.  Die  deutsche 
Jurisprudenz  bildet  dadurch  einen  merkwürdigen  Gegensatz  zur 
deutschen  Philosophie.  Diese  hat  zunächst  zu  ihrem  eigenen,  dann 
aber  mehr  und  mehr  zum  allgemeinen  Gebrauch  der  deutschen 
Sprache  eine  Fülle  neuer  Wörter  für  Begriffe  zugeführt,  für  die 
es  ursprünglich  ganz  an  geeigneten  Ausdrücken  fehlte.  Die  Rechts- 
wissenschaft hat  umgekehrt  die  deutsche  Sprache  einer  Fülle  eigen- 
artiger Wortbildungen  beraubt,  um  ihr  dafür  ein  fremdes,  großen- 
teils der  Masse  des  Volkes  unverständlich  bleibendes  Sprachgut  mit- 
zuteilen. An  sich  war  das  keine  notwendige  Folge  der  Aufnahme 
des  fremden  Rechtes.  War  doch  umgekehrt  in  der  Philosophie 
gerade  durch  die  Aufnahme  fremder  Ideen  das  Bedürfnis  erwacht, 
den  Schatz  der  eigenen  Muttersprache  durch  Neubildungen  zu  ver- 
mehren. Es  mußten  besondere  Bedingungen  hinzukommen,  der 
erbitterte    Kampf   gegen    das    alte    Recht,    die    geflissentliche    Ab- 


1)  Leibniz'  Deutsche  Schriften,   herausg.  von  G.  E.  Guhrauer,   I,   1838,  S.  440  fF. 

2)  Vgl.   hierzu    H.  Rückert,    Geschichte    der    Neuhochdeutschen    Schriftsprache, 
1875,  II,  S.  308  ff. 


Gelehrte  Neubildungen.  5  j  c 


Schließung  des  gelehrten  Juristenstandes,  um  diesen  Erfolg  herbei- 
zuführen. Im  Gegensatze  hierzu  waren  Leibniz  und  die  Auf  klärungs- 
philosophen, denen  wir  die  letzte  große  Bereicherung  unserer  Sprache 
durch  gelehrte  Neubildungen  verdanken,  vielmehr  eifrig  bemüht, 
die  Errungenschaften  der  in  der  wissenschaftlichen  Kultur  fortge- 
schritteneren Nationen  dem  eigenen  Volke  nutzbar  zu  machen. 
Diese  Verhältnisse  zeigen  zugleich  deutlich,  daß  zu  der  nie  er- 
löschenden Regsamkeit  des  sprachschöpferischen  Triebes  doch  noch 
besondere  Ursachen  hinzutreten  müssen,  um  der  gelehrten  Sprach- 
schöpfung ein  so  reiches  und  fruchtbares  Feld  zu  eröffnen,  wie  es 
in  der  Zeit  von  der  Mitte  des  17.  bis  zu  der  des  18.  Jahrhunderts 
geschah.  Solche  Ursachen  lagen  eben  hier  in  der  Aufnahme  zahl- 
reicher neuer  Begriffe  in  eine  für  die  Zwecke  der  Wissenschaft  noch 
wenig  ausgebildete  Sprache,  verbunden  zugleich  mit  dem  Streben, 
jene  Begriffe  allgemein  zugänglich  zu  machen.  Daß  dieses  Streben 
von  der  Philosophie  als  der  allgemeinsten  Wissenschaft  ausging, 
war  von  besonderer  Bedeutung.  Denn  die  von  ihr  geprägten  Be- 
griffe stellten  sich  gerade  um  ihrer  Allgemeinheit  willen  sofort  auch 
dem  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  zur  Verfügung.  So  gingen 
Wörter  wie  Gewissen,  Bewußtsein,  Vorstellung,  Entwicklung,  Folge- 
rung, Mitleid,  Selbstgefühl,  Selbstsucht  und  viele  andere  mit  oft 
wunderbarer  Schnelligkeit  aus  der  wissenschaftlichen  in  die  allge- 
meine Sprache  über. 

Der  Vorgang  dieser  gelehrten  Neubildung  besteht  nun  überall 
in  dem  nämlichen  Prozeß  einer  bald  vollkommen  wortgetreuen, 
bald  etwas  freieren,  dem  Geist  der  eigenen  Sprache  und  eingeübter 
Sprachgewohnheiten  Rechnung  tragenden  Übersetzung.  In  dieser 
Beziehung  ist  es  bezeichnend,  daß  durchweg  die  Neubildungen  um 
so  treuere  Übersetzungen  sind,  einer  je  älteren  Zeit  sie  angehören. 
Die  noch  wenig  ausgebildete  Sprache  läßt  sich  leichter  einem  von 
außen  auf  sie  geübten  Zwang  unterwerfen,  und  fremdartige  Neu- 
bildungen üben  sich  leichter  ein,  weil  sie  geringere  aus  dem  vor- 
handenen Wortbestand  ihnen  erwachsende  Widerstände  zu  überwin- 
den haben.  Man  nehme  z.  B.  einige  der  Übertragungen  Notkers 
wie  Gewissen  für  conscientia^  unendlicJi  für  infinitiis^  begreifen  [tim- 
begreifen  =  imigreifen]  für  comprehendere^  sinnig  für  sensibilis^  Un- 
teres   für    Subjectiini    u.   a,,    gegenüber    den    freien    Übertragungen 


6i6  Die  Wortbildung. 


Wolfifs,  wie  conscientia  in  Beicußtscin^  idea  in  Vorstellung^  proportio 
in  Verhältnis^  propositio  major  und  vihior  (im  Schluß)  in  Obersatz 
und   Untersatz  u.  a. 

Gelehrte  Neubildungen  dieser  Art  erfolgen,  wie  schon  diese 
Beispiele  zeigen,  fast  allgemein  auf  dem  Wege  der  Wortzusammen- 
setzung. Wo  das  nicht  der  Fall  ist,  wo  etwa  irgendein  einfaches 
Wort  der  eigenen  Sprache  auf  einen  neuen  Begrift"  angewandt  wird, 
wie  Grund  für  ratio^  Kraft  für  vis,  Recht  {üx  jus  usw.,  da  handelt 
es  sich  nicht  mehr  um  wahre  Neubildungen,  sondern  um  spezielle 
Fälle  des  Bedeutungswandels,  die  aber  allerdings  gerade  hier,  wo 
sie  auf  willkürlichen  mid  sehr  weitgehenden  Begriffsänderungen  be- 
ruhen, in  ihrem  Erfolg  oft  sehr  nahe  an  eine  Neubildung  angrenzen 
können^).  Die  eigentliche,  auf  der  Zusammensetzung  des  neuen 
Wortes  aus  bereits  vorhandenen  Wortbestandteilen  beruhende  Neu- 
bildung erscheint  nun  um  so  mehr  als  eine  gebundene  Tätigkeit, 
je  mehr  sie  sich  bemüht,  eine  vollkommen  treue  Übersetzung  zu 
sein.  Schöpferisch  ist  diese  Tätigkeit  nur  in  dem  Sinne,  daß  sie 
überhaupt  die  bisher  in  der  eigenen  Sprache  selbständig  existie- 
renden Wörter  zu  einem  Ganzen  zusammensetzt.  Als  Cicero,  der 
in  der  römischen  Literatur  durch  seine  Bemühungen  um  die  philo- 
sophische Terminologie  ungefähr  eine  ähnliche  Stellung  einnimmt 
wie  in  der  unsern  Leibniz  und  Wolff,  das  in  der  stoischen  Philo- 
sophie entstandene  Wort  ovreiör^oig  in  conscientia  übertrug,  sub- 
stituierte er  Silbe  für  Silbe  dem  griechischen  das  entsprechende 
lateinische  Wort;  und  als  Notker  wiederum  conscientia  in  das  deut- 
sche Gezi'issen  {geu'izeda)  übersetzte,  verfuhr  er  genau  ebenso:  denn 
zu  seiner  Zeit  woirde  das  Präfix  ge-  noch  ganz  im  Sinne  des  Zu- 
sammenseins, Gewisseti  also  =  Mitwisse7i.,  empfunden.  Als  dann 
aber  Wolff  später  nach  einem  Ausdruck  suchte,  der  den  allgemei- 
neren Begriff  der  conscientia  frei  von  der  moralischen  Nebenbedeu- 
tung wiedergebe,  da  erfand  er  die  freiere  Übersetzung  Beivufitsein, 
auf  die  wohl  die  Assoziation  mit  dem  Präfix  des  verwandten  Wortes 
Begriff  von  Einfluß  war,  und  diese  Scheidung  wirkte  nun  derart 
auf  die  ursprüngliche  Übertragung  zurück,  daß  das  Wort  Gezuissen 
ausschließlich  die  moralische,  Bewußtsein   ebenso  ausschließlich  die 


^)  Vgl.  Kap.  \T[I,  Xr.  V  ,'Singulärer  Bedeutungswander. 


Gelehrte  Neubildungen.  6 1  7 


allgemeinere  psychologische  Bedeutung  annahm.  So  hatte  hier  die 
zweimalige  Übertragung  der  entlehnenden  Sprache  einen  Vorzug 
vor  ihrem  Vorbild  und  vor  den  aus  ihr  schöpfenden  Töchtersprachen 
gegeben,  in  denen  eine  solche  Differenzierung  noch  heute  nicht 
eingetreten  ist'). 

Der  allgemeine  Charakter  der  gelehrten  Neubildung,  als  einer 
willkürlich  und  planmäßig  und  dabei  doch  an  ein  fremdes  Vorbild 
gebundenen  Tätigkeit,  bringt  es  mit  sich,  daß  sie  uns  über  die 
Vorgänge  der  natürlichen  Wortbildung  keine  näheren  Aufschlüsse 
zu  geben  vermag.  Was  sie  mit  dieser  verbindet,  das  ist  nur  der 
Vorgang  der  Wortzusammensetzung,  bei  dem  sie  aber  wieder  nur 
den  allgemeinen  Gesetzen  folgt,  die  auch  für  die  außerhalb  ihres 
Gebietes  stattfindenden  analogen  Verbindungsprozesse  gelten.  Diese 
Analogie  wird,  abgesehen  von  den  sonst  geläufigen  Zusammen- 
setzungen, äußerlich  schon  dadurch  bedingt,  daß  die  Vorlage,  nach 
der  die  Neubildung  erfolgt,  selbst  ein  zusammengesetztes  Wort- 
gebilde zu  sein  pflegt.  Dabei  ist  die  Vorlage  entweder  eine  ge- 
lehrte Neubildung  gleicher  Art,  wie  in  dem  obigen  Beispiel  das 
zwischen  der  Gwelörjaig  und  dem  Gewissen  in  der  Mitte  liegende 
conscientia\  oder  sie  stimmt  mit  den  allgemeinen  Wortzusammen- 
setzungen der  Sprache  überein,  sei  es  daß  sie  als  solche  in  der 
Volkssprache  sich  gebildet  hat,  oder  daß  sie  wiederum  eine  gelehrte 
Neubildung  ist,  die  jedoch  im  Geiste  der  allgemeinen  Verbindungs- 
gesetze erfolgte  und  darum  enger  als  bei  den  Übertragungen  auf 
ein  fremdes  Sprachgebiet  an  die  sonstigen  Erscheinungen  der 
Wortkomposition  sich  anlehnt.  So  ist  das  Wort  oweiörjoig  selbst 
zwar  wahrscheinlich  die  Erfindung  eines  einzelnen  Philosophen;  aber 
es  steht  mit  andern  ähnlichen,  der  allgemeinen  Sprache  geläufigen 
Zusammensetzungen,  speziell  mit  ovvolÖu  (mitwissen,  conscius  sum), 
in  enger  Verbindung.  So  fließen  hier  an  ihrem  Ursprung  die  ge- 
lehrten Neubildungen  und  die  allgemeinen  Vorgänge  der  Wortbil- 
dung durch  Zusammensetzung  bereits  vorhandener  Wörter  ganz 
und  gar  ineinander.     Darum   sind   aber  die  Neubildungen  zugleich 


1)  Viele  Einzelheiten  zur  Geschichte  dieser  Neubildungen  bietet  R.  Eucken  in 
seiner  verdienstlichen  Geschichte  der  philosophischen  Terminologie  im  Umriß,  1879, 
manche  Ergänzungen  dazu  für  das  deutsche  Sprachgebiet  das  Grimmsche  Wörterbuch. 


6i8  Die  Wortbildung. 


sprechende  Zeugnisse  für  den  Einfluß,  den  fortwährend  die  indi- 
viduelle Sprachschöpfung  auf  die  Gemeinschaft  ausübt,  einen  Ein- 
fluß, der  sonst  leicht  der  Beobachtung  entgeht,  hier  jedoch  durch 
seinen  Zusammenhang  mit  Bedürfnissen,  die  ursprünglich  auf  dem 
engeren  Gebiet  der  wissenschaftlichen  Sprache  erwachsen  sind,  in 
bestimmten  Literaturdenkmälern  erhalten  blieb. 


V.  Wortbildung  durch  Lautverdoppelung. 

I.    Allgemeine  Formen  der  Lautverdoppelung. 

Der  einfachste  Fall  einer  Verbindung  artikulierter  Laute  zu  einem 
Ganzen,  das  durch  diese  Verbindung  eine  ihm  eigene,  den  Teilen 
selbst  noch  nicht  oder  mindestens  nicht  in  dieser  Begrififsfärbung 
zukommende  Bedeutung  gewinnt,  ist  die  Laut  Wiederholung.  Sie 
läßt  sich  einerseits  als  die  primitivste  Form  der  Wortbildung  über- 
haupt auffassen,  als  eine  Form,  die  eben  erst  an  der  Grenze  liegt, 
wo  der  artikulierte  Laut  in  das  Wort  übergeht,  und  die  mit  den 
einfachsten  Mitteln  zustande  kommt.  Anderseits  gehört  aber  doch 
auch  dieser  Vorgang  schon  den  Erscheinungen  der  Wortbildung 
durch  Zusammensetzung  an,  und  er  geht  in  eine  wirkliche  Wort- 
zusammensetzung über,  wenn  die  Laut-  zur  Wortwiederholung 
wird.  Nun  treten  im  allgemeinen  solche  Wortwiederholungen  auf 
einer  späteren  Stufe  sprachlicher  Entwicklung  für  die  nämlichen 
Begriffsmodifikationen  ein,  die  unter  andern  Bedingungen  auch 
durch  die  bloße  Lautwiederholung  ausgedrückt  werden  können,  so 
daß  sich  also  beide  als  gleichartige  Vorgänge  zu  erkennen  geben. 
Nur  gehört  die  Lautwiederholung  den  ersten  Anfängen  der  Wort- 
bildung an,  während  die  Wortwiederholung  eine  bereits  vollendete 
Wortbildung  voraussetzt.  Ähnlich  ist  das  Verhältnis  zwischen  zwei 
andern  Formen  der  gleichen  Erscheinung:  zwischen  der  vollen 
Wiederholung  oder  »Gemination«  und  der  bloß  partiellen  oder 
»Reduplikation«  ^}.     Die  erstere   ist  hier  wieder  die  ursprünglichere 


')  Weitere  Einteilungen  dieser  Formen,  namentlich  der  Reduplikation,  gibt 
A.  F.  Pott  in  seiner  Schrift:  Doppelung  (Reduplikation,  Gemination)  als  eines  der 
wichtigsten  Bildungsmittel  der  Sprache,  1862,  S.  16  ff.  Sie  können  hier,  weil  sie 
zumeist  bloß  lautgeschichtliches  Interesse  haben,  unerörtert  bleiben. 


Allgemeine  Formen  der  Lautverdoppelung.  6lQ 

Form,  die  direkt  in  die  abgekürzte  der  Reduplikation  unter  dem 
Einfluß  der  Beschleunigung  des  Redeflusses  und  infolge  der  durch 
diese  sich  einstellenden  Assimilationen  und  Dissimilationen  der  Laute 
übergehen  kann.  Außerdem  ist  es  aber  auch  möglich,  daß,  nach- 
dem erst  einmal  überhaupt  reduplizierte  Formen  entstanden  sind, 
solche  nun  durch  gleichgerichtete  Laut-  und  Bedeutungsassimi- 
lationen auf  andere  Wörter  übertragen  werden.  Durch  diese  Ein- 
flüsse kann  die  Reduplikation  schließlich  bis  zur  Unkenntlichkeit 
verwischt  werden.  So  findet  sich  im  Lat.  in  Wörtern  wie  pupiigi^ 
spopondi^  momordi^  murmurare  noch  die  volle  Wiederholung,  in 
andern  wie  reppuli  (für  *repepuli],  reppcri  (für  *repeperi)  ist  sie 
fast  völlig  verloren  gegangen;  in  der  Mitte  stehen  die  im  Indoger- 
manischen weitverbreiteten  Reduplikationsformen  wie  didtü/^ii,  dedi, 
ceculi^  credidi  usw. ').  Für  die  psychologische  Betrachtung  der 
Verdoppelungserscheinungen  haben  diese  lautgeschichtlichen  Modi- 
fikationen im  allgemeinen  keine  Bedeutung.  Dagegen  ist  die  Frage, 
ob  es  sich  in  einem  gegebenen  Fall  um  eine  Laut-  oder  um  eine 
Wortwiederholung  handelt,  insofern  von  erheblichem  Interesse,  als 
nur  diejenige  Wiederholung  eines  Lautes,  die  diesem  überhaupt  erst 
einen  Begriffsinhalt  verleiht,  ein  Wortbildungsprozeß  im  eigent- 
lichsten Sinne  zu  nennen  ist,  während  die  volle  Wortwiederholung 
immer  nur  einen  schon  vorhandenen  Begriff  in  seiner  Bedeutung 
modifizieren  kann. 

Daß  nun  die  Lautwiederholung  als  ein  Vorgang  ursprünglicher 
Wortbildung  möglich  ist,  das  bezeugt  schon  die  Sprache  des  Kindes. 
Sowohl  die  aus  Naturlauten  gebildeten  Wörter  wie  Papa  und  Mama^ 
wie  zumeist  auch  die  gewöhnlichen  Onomatopoetica,  waiiiuau^  hop- 
hop  u.  a.,  haben  nur  als  Wiederholungsformen  die  Bedeutung  voll- 
ständiger Wörter.  Pa  und  Ma  oder  ivaii  und  Jiop  empfinden  wir 
nicht  als  die  ursprünglicheren  Wörter,  aus  denen  jene  gebildet  sind. 


')  Die  Lautassimilation  kann  übrigens  auch,  wie  gerade  das  L.ateinische  lehrt, 
durch  Angleichung  der  Vokallaute  (regressive  Assimilation)  eine  abgeschwächte  Re- 
duplikation wieder  der  vollen  Wiederholung  näher  bringen :  hierher  gehören  unter 
den  obigen  Beispielen  pupugi^  spopondi,  momordi,  denen  im  altlateinischen  pepugi, 
ipepondi,  memordi  gegenüberstehen.  Hier  scheint  also,  wenn  wir  die  volle  Wieder- 
holung aus  allgemeinen  Gründen  als  das  Primäre  ansehen,  eine  Art  rückläufiger  Be- 
wegung unter  dem  Einfluß  der  Klangassoziation  eingetreten  zu  sein.  Vgl.  Lindsay, 
Die  lateinische  Sprache,   1897,  S.  570,  578. 


520  Die  Wortbildung. 


sondern  höchstens  als  abgekürzte  Formen,  als  welche  sie  von  größer 
gewordenen  Kindern  oder  von  Erwachsenen  gelegentlich  gebraucht 
werden.  Schwieriger  läßt  sich  natürlich  bei  den  ausgebildeten  For- 
men der  Lautsprache  entscheiden,  ob  eine  Verdoppelungserscheinung 
eine  ursprüngliche,  wortbildende  Lautwiederholung,  oder  ob  sie  eine 
Wortwiederholung  ist.  Denn  wenngleich  Sprachen,  die,  wie  die 
ozeanischen  und  das  Japanische,  besonders  reich  an  Verdoppelungen 
sind,  unter  diesen  immer  auch  solche  darbieten,  bei  denen  das  ein- 
fache Lautgebilde  selbst,  aus  dessen  Wiederholung  ein  Wort  von 
bestimmter  Bed'eutung  entsteht,  nicht  als  Wort  vorkommt,  so  ist 
natürlich  die  Möglichkeit,  daß  es  dereinst  einmal  als  solches  existiert 
habe  und  erst  unter  dem  Einflüsse  jener  Neigung  zur  Reduplikation 
verloren  gegangen  sei,  niemals  mit  Sicherheit  auszuschließen.  Im- 
merhin wird  man  da,  wo  der  onomatopoetische  Charakter  eines 
Wortes  seine  Bedeutung  eng  mit  der  Lautwiederholung  verbindet, 
in  dieser  eine  ursprüngliche  Form  vermuten  dürfen.  In  der  Sprach- 
wissenschaft ist  man  allerdings  geneigt,  auch  solche  mutmaßlich 
ursprüngliche  Verdoppelungsformen  als  »Wurzel  Wiederholungen « 
aufzufassen,  also  die  Grundbedeutung  in  die  nicht  wiederholte  Form 
zu  verlegen'].  Doch  gründet  sich  diese  Annahme  bloß  auf  die  all- 
gemeine Hypothese  einer  realen  Präexistenz  der  Wurzeln  sowie  auf 
die  Tatsache,  daß  in  andern  Fällen  die  Wiederholung  Lautgebilde 
trifft,  die  selbst  schon  eine  bestimmte  Wortbedeutung  besitzen. 
Hieraus  läßt  sich  aber  kein  Schluß  auf  alle  andern  Fälle  ziehen, 
und  da  in  jenen  Sprachen  ohnehin  zweisilbige  Wortstämme,  die 
nicht  weiter  zerlegbar  sind,  nicht  selten  auftreten,  so  ist  es  durch- 
aus nicht  unmöglich,  daß  sich  unter  den  letzteren  auch  Redupli- 
kationsformen vorfinden.  Dies  ist  namentlich  bei  den  der  Kinder- 
sprache analogen  Erscheinungen  wahrscheinlich,  wie  bei  der  Be- 
zeichnung von  Vater  und  Mutter  oder  bei  onomatopoetischen  Bil- 
dungen. Ebenso  spricht  hierfür  die  Tatsache,  daß  in  diesen  Fällen, 
wie  besonders  für  das  Japanische  feststeht,  zwischen  der  Kinder- 
sprache und  der  allgemeinen  Sprache  eine  ziemlich  umfangreiche 
Gemeinschaft  des  Wortschatzes  vorhanden  ist.    Im  Hinblick  auf  diese 


^)  Vgl.  H.  C.  von  der  Gabelentz,  Die  melanesischen  Sprachen,  I,  S.  19,  II,  S.  15. 
(Abh.  der  kgl.  sächs.  Ges.  der  Wiss.,  Phil.-hist.  Kl.  HI,   1861,  und  YU,   1879.) 


Allgemeine  Formen  der  Lautverdoppelung.  521 

Verhältnisse  hat  man  wohl  auch  die  Verdoppelungsformen  überhaupt 
als  ursprüngliche  Entlehnungen  aus  der  Kindersprache  angesehen. 
Die  Verfolgung  dieser  Erscheinungen  in  solchen  Sprachgebieten,  in 
denen  sie  eine  weitere  Verbreitung  besitzen,  läßt  aber  diese  Annahme 
als  unhaltbar  erscheinen.  Hier  sind  die  psychologischen  Motive,  die 
zur  Bildung  der  Verdoppelungsformen  führen,  offenbar  von  so  all- 
gemeingültiger Art,  daß  man  unmöglich  voraussetzen  kann,  jene 
seien  nur  beim  Kinde  wirksam  gewesen.  Wortbildungen  wie  lat. 
volvo,  griech.  7tii.i7tlrji.ii,  hebr.  ^alal  u.  a.  für  ein  ursprüngliches 
Eigentum  der  Kindersprache  zu  halten,  dazu  liegt  offenbar  nicht 
der  geringste  Grund  vor.  Dies  schließt  natürlich  nicht  aus,  daß  die 
kindliche  Sprache,  wie  zu  onomatopoetischen  Bildungen  überhaupt, 
so  besonders  auch  zu  solchen  Verdoppelungsformen  neigt,  und  daß 
daher  manche  derselben  ihr  entstammen  werden.  Auch  erklärt  es 
sich  hieraus  wohl,  daß,  wenn  in  der  allgemeinen  Sprache  nur  spär- 
liche Reste  von  Verdoppelungen  existieren,  wie  z.  B.  im  Deutschen, 
solche  vorzugsweise  der  Kindersprache  angehören^).  Wie  man  nun 
aber  auch  im  einzelnen  Fall  die  Erscheinungen  deuten  möge,  ob  als 
Übergang  aus  der  Sprache  des  Kindes  in  die  seiner  Umgebung 
oder  als  eine  ursprüngliche  Eigentümlichkeit  der  Volkssprache,  die 
mit  ihrem  Reichtum  an  onomatopoetischen  Wörtern  zusammen- 
hängt, —  jedenfalls  ist  danach  die  weitere  Analogie  nicht  abzu- 
weisen, daß  die  Verdoppelungsform  in  vielen  Fällen  nicht  das  ab- 
geleitete, sondern  das  ursprüngliche  Wort  ist^). 

Wo    die    Lautwiederholung    mit    Wahrscheinlichkeit    als     eine 


1)  Vgl.  Ed.  WölffHn,  Zeitschr.  f.  deutsche  Wortforschung,  Bd.  i,   1901,  S,  263  fF. 

2)  Zu  den  nur  in  Wiederholungsformen  vorkommenden  Wörtern  gehören, 
neben  den  in  Kap.  III,  S.  299  Anm.  angeführten  Beispielen  aus  dem  Japanischen,  die 
zumeist  der  Kindersprache  und  der  allgemeinen  Sprache  gemeinsam  sind,  aus  mela- 
nesischen  Dialekten  Wörter  wie  rere  fürchten,  caca  hassen,  rairai  sehen  u.  a. 
'v.  d.  Gabelentz  a.  a.  O.  I,  S.  17  ff.,  Fidschisprache).  In  andern  Fällen  kommen  frei- 
lich in  diesen  Sprachen  auch  einfache  Formen  vor,  aus  deren  Wiederholung  wohl 
erst  die  reduplizierten  entstanden  sind,  z.B.  Tonga  7uä  Bein,  Maori  wäwä,  oder 
Tahiti  toto  Blut  wahrscheinlich  redupl.  von  to  dem  Namen  eines  saftreichen  Baumes 
von  Banksisland  (P.  W.  Schmidt,  Mitteil,  der  anthropol.  Ges.  in  Wien,  Bd.  33,  1903, 
S.  371  f.).  Jedenfalls  hat  aber  in  vielen  dieser  Sprachen,  zunächst  wohl  durch  ein- 
zelne onomatopoetische  Bildungen  und  durch  die  affektvoUe  Rede  begünstigt,  die 
Lautwiederholung  so  überhandgenommen,  daß  sich  die  ursprünglichen  einfachen 
Formen  meist  überhaupt  nicht  mehr  nachweisen  lassen. 


()22  Die  Wortbildung. 


ursprüngliche  Wortbildung  zu  betrachten  ist,  da  können  nun  die 
aus  ihr  her\-orgehenden  Wörter  den  verschiedensten  Begrififsgebieten 
angehören,  wie  sich  das  namentlich  in  den  an  Reduplikationsformen 
reicheren  Sprachen  zeigt.  Eine  gewisse  Bevorzugung  scheint  aber 
allerdings  auch  hier,  wie  in  der  Kindersprache,  teils  den  Gegen- 
ständen der  häufigsten  und  vertrautesten  Umgebung,  teils  allen  den 
Vorstellungen  zuteil  zu  werden,  die  durch  ihre  Beschafifenheit  zu 
einer  Wiederholung  des  Lautes  herausfordern.  In  ersterer  Beziehung 
ist  bemerkenswert,  daß  in  den  Sprachen  der  Natur\-ölker  nicht  bloß 
Vater  und  Mutter,  sondern  sehr  häufig  auch  die  Teile  des  eigenen 
Leibes,  wie  Hand.  Fuß,  Auge,  durch  Doppelwörter  ausgedrückt 
werden,  wobei  freilich  wohl  der  Umstand  mitgewirkt  hat,  daß  diese 
Organe  doppelt  vorhanden  sind.  Dies  ist  aber  ein  Motiv,  das  be- 
reits in  den  Umkreis  der  auch  bei  der  Wortwiederholung  und  Re- 
duplikation wirksamen  Bedingungen  fällt.  Hier  nämlich  kann  als 
der  allgemeine,  alle  späteren  und  jedenfalls  auch  einen  großen  Teil 
der  ursprünglichen  Verdoppelungserscheinungen  erzeugende  Antrieb 
die  Wiederholung  oder  Verstärkung  des  Eindrucks  an- 
gesehen werden,  die  entweder  direkt  aus  den  Eigenschaften  des 
Wahmehmungsinhaltes  entspringt  oder  diesem  durch  das  subjektive 
gehobene  Gefühl  des  Sprechenden  beigelegt  wird.  Beide  Motive 
fließen  insofern  zusammen,  als  der  objektive  Eindruck  die  in  seiner 
Benennung  sich  ausdrückende  Reaktion  immer  erst  durch  das  Me- 
dium irgendeiner  Gefühlserregung  auslöst.  Aber  diese  wird  doch 
im  allgemeinen  da  eine  geringere  Rolle  spielen,  wo  der  Eindruck 
schon  durch  seine  eigene  Beschaffenheit  zur  Lautwiederholung  her- 
ausfordert. In  der  Tat  haben  sich  daher  auch  nur  für  solche  ob- 
jektiv motivierte  Begriffsmodifikationen  die  Verdoppelungen  als  all- 
gemeine und  unter  analogen  Bedingungen  oft  wiederkehrende 
Erscheinungen  der  Sprache  durchgesetzt,  während  die  bloß  durch 
das  subjektive  Gefühl  erregten  unregelmäßiger  vorkommen^). 


''  Daß  Lant-  und  Wortwiederholungen  irgendeine  Art  von  Verstärkung  des 
Eindrucks  hervorbringen,  ist  schon  den  alten  Grammatikern  und  Rhetorikern  begreif- 
licherweise nicht  entgangen.  Ebenso  hat  Pott  in  seinem  obenerwähnten ,  diese 
Erscheinungen  auf  breitester  sprachvergleichender  Grundlage  behandelnden  Werke 
dieses  Moment  als  das  entscheidende  her\-orgehoben  'a.  a.  O.  S.  22  :  und  unter  dem 
gleichen   Gesichtspunkt   wurden   von   Fr.  Müller    die    Verdoppelungserscheinungen  in 


Bedeutungsarten  der  Lautverdoppelung.  623 


2.    Bedeutungsarten  der  Lautverdoppelung. 

a.    Verdoppelung  zum  Ausdruck  sich  wiederholender  Vorgänge. 

Das  nächste,  durch  den  Eindruck  selbst  am  unmittelbarsten  sich 
aufdrängende  Motiv  zur  Lautwiederholung  ist  offenbar  da  gegeben, 
wo  das  Wort  Schalleindrücke  wiedergibt,  die  sich  selbst 
wiederholen.  Diese  direkte  onomatopoetische  Verwendung  der 
Verdoppelung  ist  zugleich  diejenige,  die  mit  dem  geringsten  Maß 
subjektiver  Gefühlssteigerung  möglich  ist,  weil  es  einer  solchen  gar 
nicht  bedarf,  um  in  der  Wiederholung  eine  unmittelbare  Wieder- 
gabe des  Eindrucks  zu  erkennen.  Die  direkte  onomatopoetische 
Verdoppelung  ist  daher  gleichzeitig  eine  der  frühesten  und  der 
spätesten  unter  diesen  Erscheinungen,  so  daß  die  hierher  zu  zäh- 
lenden Wörter  zum  Teil  in  die  Anfänge  der  Wortbildung  zurück- 
reichen, ebenso  aber  auch  zu  dem  jüngsten  Sprachgut  gehören, 
das  unter  seinen  durchweg  onomatopoetischen  Bildungen,  wo  immer 
sich  die  Gelegenheit  bietet,  Lautverdoppelungen  enthält.  Darum 
ist  diese  Form  selbst  in  den  Kultursprachen  verhältnismäßig  noch 
am  reichlichsten  vertreten  geblieben.  Hierher  gehört  zunächst  die 
Bezeichnung  gewisser  Tiere  nach  ihrer  Stimme,  die  jedoch,  ab- 
gesehen von  der  Kindersprache,  wo  sie  in  weiterem  Umfang  vor- 
kommt, in  der  Regel  auf  gewisse  Vogelnamen  beschränkt  ist:  so 
in  Wörtern  wie  turtiir  Turteltaube,  nkda  Eule,  cuculhis  Kuckuck, 
sanskr.  kihi  Holzhäher,  pers.  bülbül  Nachtigall  usw.  Daran  schließen 
sich  als  eine  zweite,  noch  verbreitetere  Klasse  von  Wörtern  solche 
für  Geräusche,  die  sich  wiederholen,  wie  murmurare  murmeln, 
a.)M\aC.Etv  laut  schreien,  lalayri  Geschwätz,  Xalslv  lallen  usw."). 

Von  der  direkten  onomatopoetischen  Verdoppelung  führt  nun  ein 
kleiner  Schritt  zu  solchen  Lautwiederholungen,  die  irgendeinen  andern, 
nicht  vom  Gehör,  sondern  meist  vom  Gesichtssinn  wahrgenommenen. 


den  polynesischen  und  malaiischen  Sprachen  in  gewisse  Gruppen  geordnet  (Reise 
der  Fregatte  Novara,  Linguist.  Teil,  1867,  S.  300,  325  ff.,  und  Grundriß  der  Sprach- 
wissenschaft n,  2,  S.  12,  loi  ff.).  Doch  ist  von  diesen  Autoren  weder  auf  die  psy- 
chologische Interpretation  der  Erscheinungen  noch  auf  die  Frage  der  genetischen 
Beziehungen  der  einzelnen  Fälle  näher  eingegangen  worden. 
^]  Vgl.  oben  Kap.  IH,  S.  298  fif. 


624  I^i^  Wortbildung, 


sich  wiederholenden  Vorgang  ausdrücken.  Dahin  gehört  ein 
große  Zahl  jener  in  anderm  Zusammenhang  ebenfalls  schon  betrach- 
teten Fälle  indirekter  Onomatopöie,  die  sich  ohne  weiteres  daraus 
erklären,  daß  die  letztere  in  Wahrheit  niemals  Lautnachah- 
mung, sondern  eine  durch  den  wahrgenommenen  Vorgang  oder 
Gegenstand  erregte  Lautgebärde  ist.  Dahin  gehören  Wörter  wie 
volvo  wälze,  7tif^i7tXrj(.iL  fülle,  iJ.if.ieofj,ai  ahme  nach  u.  a.,  denen  sich 
eine  Fülle  analoger  Bildungen  in  den  Sprachen  anderer  Kultur- 
völker und  besonders  der  Naturvölker  anschließt.  In  den  zweisil- 
bigen Verbalstämmen  der  semitischen  Sprachen  erscheint  diese  Re- 
duplikationsform als  Wiederholung  des  zweiten  Stammkonsonanten, 
eine  Lautvariation,  die  meist  den  ursprünglichen  Verbalbegriff  so 
verändert,  daß  dadurch  die  Vorstellung  einer  Wiederholung  der  in 
jenem  ausgedrückten  Tätigkeit  entsteht.  So  im  Hebräischen  in 
Wortpaaren  wie  den  folgenden:  gasaJi  schneiden  und  gasas  sche- 
ren, galaJi  wegziehen  und  galal  wälzen,  gar  ah  ziehen  und  garar 
sägen,  salah  sich  beugen  und  salal  schwanken,  lakah  ergreifen  und 
lakak  lecken').  Analoge  Beispiele  finden  sich  in  andern  Sprachen, 
namentlich  in  denen  der  Naturvölker,  häufig  als  vollständige  Laut- 
oder Wortwiederholungen,  z.  B.  im  Mpongwe  (westafrik.)  tyotyo 
hüpfen,  sazasaza  hin  und  her  überlegen,  im  Fidschi  kacikaci  öfter 
rufen,  ridorido  hüpfen,  kerekere  betteln  (Verdoppelung  von  kere 
bitten),  im  Japanischen  pozupozu  es  regnet,  batabata  er  läuft  usw. 
Eine  charakteristische  Modifikation  kann  diese  im  weiteren  Sinn 
onomatopoetische  Reduplikation  erfahren,  wenn  der  sich  wieder- 
holende Vorgang  einen  Wechsel  darbietet,  der  nun  in  einer  analo- 
gen Lautvariation  seinen  Ausdruck  findet.  Hierher  gehören  viele 
sprachliche  Neubildungen,  die  sich  in  der  Regel  an  irgendwelche 
bekannte  Wörter  anlehnen,  z.  B.  im  Deutschen  Zickzack^  Wirr- 
warr (franz.  pcle-mele]^  Schnickschnack^  Krimskrams^  Wischiwaschi^ 
Klingklang^  Mischmasch^  Schurrmurr^  Holterpolter^  Larifari^  Hokus- 
pokus (letzteres  in  Anlehnung  an  die  Formel  des  Meßopfers  hoc  est 
corpus  wahrscheinlich  zuerst  als  Mönchswitz  entstanden).  Dem  reihen 
sich  an  aus  fremden  Sprachgebieten:  Mandschu  debadaba  durch- 
einander,   schorschar  Geräusch  des  Windes,  pektepakta  im  Gehen 


Vgl.  Kap.  m,  S.  348  flf. 


Bedeutungsarten  der  Lautverdoppelung.  52  e 

wanken,  japanisch  kainbagamba  Unsinn  schwatzen  u.  ä.  Eine  be- 
sondere Form  solcher  Reduplikation  mit  Lautänderung  findet  sich 
in  den  ozeanischen  Sprachen,  darin  bestehend,  daß  ein  Wort  un- 
verändert, aber  mit  stärkerer  Betonung  wiederholt  wird,  z.  B.  im 
Dajak  tendä-tendä  zuweilen  anhalten.  Daneben  kommen  dann  aber 
in  analogem  Sinn  auch  qualitative  Lautvariationen  vor,  z.  B.  in  der 
gleichen  Sprache  bilang- balang  überallhin  zerstreut  sein,  galang- 
gilang  sich  hin-  und  herdrehen.  Besonders  bezeichnend  sind  diese 
mit  Akzent-  oder  Lautänderung  erfolgenden  Wiederholungen  da, 
wo  neben  ihnen  die  unveränderte  Wiederholung  vorkommt,  und 
wo  nun  beide  meist  gegensätzliche  Variationen  der  Bedeutung  aus- 
drücken. So  im  Dajak  neben  tendä-tendä  zuweilen  anhalten  tendä- 
tendä  oft  anhalten.  Auch  in  den  obenerwähnten  volkstümlichen 
Neubildungen  unserer  Kultursprachen  findet  sich  zu  solchen  Varia- 
tionen von  Laut  und  Bedeutung  manches  Analoge.  Aber  während 
sie  hier  nur  sporadisch  in  die  allgemeine  Sprache  eindringen,  ge- 
hören sie  in  den  Sprachen  vieler  Völker  zu  den  regelmäßigen  Aus- 
drucksmitteln ^). 

b.   Verdoppelung  bei  Kollektiv-  und  Mehrheitsbegriffen. 

An  die  Verwendung  der  Verdoppelung  zum  Ausdruck  eines  sich 
wiederholenden  Vorgangs  schließen  sich  verschiedene  andere  Be- 
deutungen der  gleichen  Bildung  an,  deren  psychologische  Verwandt- 
schaft mit  jenem  natürlichen  onomatopoetischen  Ausgangspunkt 
im  allgemeinen  unschwer  zu  erkennen  ist.  Den  nächsten  Übergang 
bietet  hier  die  Bezeichnung  einer  Mehrheit  von  Gegenständen. 
Besonders  verbreitet  ist  diese  kollektive  Bedeutung  der  Reduplikation 
in  den  malaiischen,  polynesischen  und  den  ostasiatischen,  aber  auch 
in  den  amerikanischen  Sprachen.  So  bedeutet  im  Malaiischen 
poehon  Baum,  poelion-poehon  Wald,  im  Dakota  runa  Mann,  runa- 
runa  Volk.  Im  Chinesischen  werden  die  unbestimmten  Kollektiva, 
im  Japanischen  außerdem  auch  die  Plurale  des  Personenbegriffs 
durch  ebensolche  Wiederholungen  ausgedrückt:    so  chines.  zit  Tag, 


')  Die   obigen    wie    die    folgenden   Beispiele    sind    großenteils    dem    erwähnten 
Werke   von   Pott    über  Doppelung   (vgl.   bes.    S.  131  ff.),    sowie    den   Arbeiten    von 
Fr.  Müller,  H.  C.  von  der  Gabelentz  und  Humboldts  Kaw-Werk  entnommen. 
Wundt,  Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  »q 


026  Die  Wortbildung. 


zit-zit  täglich,  si-si  allezeit,  gin-gin  jeder  Mensch,  jen-jen  viele 
Schwalben,  Japan,  ono  einer,  ono-ono  mehrere.  Analoge  kollektive 
wechseln  mit  exklusiven  Begriffsänderungen  in  den  ozeanischen 
Sprachen  bei  der  Wiederholung  der  Zahlwörter:  so  im  Fidschi  aus 
tolu  drei  tolu-toliL  alle  drei,  dagegen  aus  dua  eins  dua-dua  der  ein- 
zige, einer  allein.  An  die  erstere  Form  schließt  sich  unmittelbar 
die  Wiederholung  als  allgemeiner  Ausdruck  des  Plurals.  Sie  findet 
sich  teils  als  volle  Wiederholung  teils  als  bloße  Reduplikation  zu- 
weilen in  den  ural-altaischen ,  in  einigen  ozeanischen  und  ameri- 
kanischen Sprachen,  jedoch  im  ganzen  selten,  da  meist,  wo  sich 
spezifische  Pluralsuffixe  nicht  ausgebildet  haben,  die  Mehrzahl  ent- 
weder ganz  unbezeichnet  bleibt  oder  durch  den  Zusatz  eines  be- 
sonderen Wortes  von  der  Bedeutung  VieF  oder  "^Menge'  ausgedrückt 
wird.  Viel  spärlicher  ist  die  Wiederholung  in  dieser  Anwendung 
auf  Gegenstandsbegriffe  in  den  indogermanischen  und  semitischen 
Sprachen,  und  wo  sie  vorkommt,  da  scheint  sie  eine  sekundäre, 
durch  Lautassimilation  oder  durch  verbale  Ableitung  entstandene 
Erscheinung  zu  sein.  So  ist  lat.  inanima  (franz.  inamelle)  aus 
*madinä^  zusammengesetzt  aus  dem  Stamm  viad-  (zu  madeo  feucht 
sein)  und  dem  Suffix  -inä^  entstanden.  Deutsch  Zitze  ^  ahd.  tutta^ 
mhd.  tüttel^  franz.  (aus  dem  German.  entlehnt)  tettc^  sind  wahrschein- 
lich ebenfalls  verbale  Ableitungen. 

Von  dem  Substantivum  geht  die  Verdoppelung  in  der  gleichen 
Bedeutung  auf  das  Adjektivum  um  so  leichter  über,  je  weniger 
beide  Formen  des  Nomen  auf  primitiveren  Sprachstufen  sicher  ge- 
schieden werden.  Diesem  Stadium  des  Ineinanderfließens  der  Be- 
griffe entspricht  eine  in  den  polynesischen  Sprachen  vorkommende 
Verdoppelungsform  der  Adjektiva,  die  sich  unmittelbar  an  den  Ge- 
brauch zur  Bezeichnung  eines  Kollektivbegriffs  oder  einer  Mehrheit 
anschließt:  sie  besteht  darin,  daß  das  einem  Substantiv  beigefügte 
Adjektiv  eine  reduplizierte  Form  annimmt,  um  dem  Substantiv  selbst 
eine  plurale  Bedeutung  zu  geben,  z.  B.  im  Tahit.  c  taata  inaitai 
ein  guter  Mann,  e  taata  maitatai  einige  gute  Männer.  Indem  hier 
der  Gegenstand  und  seine  Eigenschaft  in  enger  Verbindung  gedacht 
sind,  kann  die  Reduplikation  zunächst  als  Ausdruck  der  Mehrheit 
für  das  Adjektiv  selbst  angesehen  werden.  Es  ist  die  mehrmals 
wahrgenommene  Eigenschaft,   die  vor   allem   apperzipiert,    und   mit 


Bedeutungsarten  der  Lautverdoppelung.  627 

der  dann  unmittelbar  auch  die  Vorstellung  einer  Mehrheit  von  Gegen- 
ständen assoziiert  wird. 

c.    Verdoppelung  zur  Steigerung  von  Eigenschaftsbegriffen. 

In  der  Anwendung  auf  den  Eigenschaftsbegriff  liegt  nun  zugleich 
das  Motiv  für  eine  weitere  Variation  der  Bedeutung:  die  Verdoppe- 
lung gibt  den  verstärkten  Eindruck  wieder,  den  die  Wahrnehmung 
der  Eigenschaft  auf  den  Redenden  macht,  und  damit  wird  sie  zum 
Ausdruck  einer  auch  objektiv  größeren  Intensität  der  Eigenschaft 
selbst.  Was  bei  dem  Mehrheitsausdruck  als  sinnliches  Bild  eines 
extensiven  Wachstums  galt,  das  wandelt  sich  also  nun  in  ein  solches 
für  eine  intensive  Steigerung  um.  Dabei  spielt  aber  offenbar 
der  Gefühlsfaktor  eine  größere  Rolle.  Denn  während  die  Unter- 
scheidung von  Einheit  und  Mehrheit,  Einzelbegriff  und  KoUektivum 
wesentlich  Sache  der  objektiven  Anschauung  ist,  beruht  die  Wert- 
abstufung der  Eigenschaften  nicht  bloß  auf  dem  Gegenstand  selbst, 
sondern  mehr  noch  auf  dem  subjektiven  Eindruck,  den  er  hervor- 
bringt. Dies  spricht  sich  auch  darin  aus,  daß  solche  komparative 
und  Superlative  Verwendungen  der  Verdoppelung  am  allermeisten 
bei  Eigenschaften  vorkommen,  die  mit  irgendeiner  subjektiven  Ge- 
fühlserregung verbunden  sind.  Neben  ""groß'  und  ""klein'  sind  es 
daher  hauptsächlich  die  moralischen  und  ästhetischen  Qualitäten  ""gut", 
"^schlecht",  ""schön"  u.  dgl,  für  die  sich  diese  Art  der  Steigerung  teils 
von  frühe  an  findet,  teils  aber  auch  in  den  Kultursprachen  erhalten 
bleibt.  So  gebraucht  noch  heute  die  naive  Erzählung,  wie  sie  etwa 
das  Märchen  anwendet,  mit  Vorliebe  die  sinnlich  lebendigere  Stei- 
gerung durch  die  Wiederholung  des  Eigenschaftswortes:  *"ein  reicher 
reicher  Mann"*  u.  dgl.  Sodann  ist  diese  Form  der  natürliche  Aus- 
druck verstärlcter  Affektbetonung,  und  bei  Völkern  von  lebhaftem 
Temperament  ist  sie  daher  häufig  zu  finden:  so  im  Italienischen 
in  Ausdrücken  wie  alto  alto^  tjitti  tutti^  hello  bellissimo^).  In  den 
Sprachen  mancher  Naturvölker  haben  sich  aber  die  Verdoppelungs- 
formen   über    alle    möglichen  Eigenschaftsbegriffe    ausgedehnt.     So 


I)  überhaupt  sind  die  romanischen  Sprachen  reich  an  Verdoppelungen,  die 
wohl  teils  von  Eigenschaftsbegriffen  ausgegangen,  teils  aber  auch  aus  der  Kinder- 
sprache aufgenommen  sind,  wie  franz.  bonbon  (von  bon)^  joujou  Spielzeug  (von  jotier), 
cocotte  lyon  coq^  also  eigentl.  'Hühnchen'],  und  viele  Kosewörter. 

40* 


628  Die  Wortbildung. 


ist  sie  besonders  im  Polynesischen,  unterstützt  durch  die  allgemeine 
Neigung  zur  Lautwiederholung,  in  den  Ausdruck  zahlreicher  Eigen- 
schaften übergegangen.  Immerhin  bleiben  auch  hier  solche  bevor- 
zugt, die  sich  in  bestimmten  Gegensätzen  entwickelt  haben:  so  im 
Hawaii  cle-cU  schwarz,  kco-kco  weiß,  Wörter,  die  überhaupt  nur 
als  Lautwiederholungen  vorkommen.  Wo  die  Verdoppelung  in 
einen  Gegensatz  zu  dem  einfachen  Worte  tritt,  da  kann  sie  dann 
bald  eine  Steigerung,  bald  irgendeine  durch  stärkere  Gefühlswirkung 
ausgezeichnete  qualitative  Modifikation  der  Eigenschaft  ausdrücken. 
So  bedeutet  ebenfalls  im  Haw^i  ula  rot,  ula-ula  purpurrot.  Endlich 
können  aber  auch  nebeneinander  verschiedene  derartige  Modifika- 
tionen einer  Eigenschaft  durch  wechselnde  Betonung  des  einen 
Wiederholungswortes  bezeichnet  werden,  nach  Analogie  der  ono- 
matopoetischen Bildungen  mit  Lautvariation.  So  bedeutet  für  den 
Dajaken  gila-gila  (mit  ausschließlicher  Betonung  des  zweiten  Wortes) 
ein  wenig  dumm,  gila-gila  imit  doppelter  Betonung)  sehr  dumm, 
ganz  mit  den  in  der  gleichen  Sprache  vorhandenen  Variationen  des 
iterativen  Verbalbegrifts  übereinstimmend  (s.  oben  S.  625). 

d.    Verdoppelung  .als  Steigerungsform  der  Verbalbegriffe. 

Ähnliche  Anwendungen  der  Verdoppelung,  wie  sie  im  Gebiet 
der  Nominalbegrifte  unter  dem  Einflüsse  der  Grad-  und  Wert- 
abstufung vorkommen,  finden  sich  schließlich  beim  \'erbum,  von 
dessen  onomatopoetischen  Reduplikationen  wir  oben  als  den  ein- 
fachsten Beispielen  dieser  ganzen  Erscheinung  ausgegangen  sind. 
Der  stärkeren  Betonung  der  Eigenschaft  liegt  hier  am  nächsten  der 
Ausdruck  der  gesteigerten  Tätigkeit  durch  vollständige  oder 
verkürzte  Verdoppelung  des  Verbalstammes.  Auch  er  findet  sich 
als  einfache  Wortwiederholung  in  der  Erzählung,  im  imperativen 
Zuruf,  w\q.  'eile  eile\  'komm  komm',  wo  er  sich  zugleich  an  die 
iterative  Verwendung  der  gleichen  Redeform  anlehnt  und  nicht 
selten  wohl  ein  Inrensivum  und  Iterati\-um  zugleich  ist.  Im  Indo- 
germanischen sind  in  den  älteren,  formenreicheren  Sprachen  gerade 
bei  den  am  häufigsten  gebrauchten  Tätigkeitsbegriften  reduplizierte 
Formen  allgemeingültig  geworden:  so  im  Griech.  ri'd-rui  stelle, 
öidioiu  gebe,  Wortbildungen,  die  wohl  als  ursprüngliche  Intensiva 
aufzufassen  sind,    welche    durch  den  häufigen   Gebrauch   allmählich 


Bedeutungsarten  der  Lautverdoppelung.  629 

den  ihnen  anhaftenden  gesteif^erten  Gefühlston  eingebüßt  haben. 
Weitverbreitet  und  /Aini  Teil  als  nochmalige  verstärkende  Ver- 
doppelungen schon  vorhandener  Wicderhf>lungsformen  finden  sich 
aber  solche  Intensiva  in  den  malaio-polyncsischen  und  andern  durch 
ihre  Neigung  zur  Lautverdoppelung  ausgezeichneten  Sprachen,  So 
bedeutet  im  Samoa  taba  sprechen,  tabataba  schreien,  Maori  kai  essen, 
kakai  fressen,  Malaiisch  tanis  weinen,  tanis  menänis  heftig  weinen, 
bcr-njäla  brennen,  bcr-njala-njäla  stark  brennen.  Dabei  treten  zu- 
gleich an  die  Stelle  der  intensiven  Bedeutung,  wahrscheinlich  unter 
Anwendung  von  Betonungsdifferenzen,  andere  Modifikationen  des 
Begriffs,  die  durchaus  den  im  gleichen  Sprachgebiet  vorkommen- 
den Variationen  bei  der  Verdoppelung  des  Nomens  analog  sind, 
wie  z.  B.  im  Dayak  mamukul  schlagen,  mamuku-mukul  heftig 
schlagen.  Eine  eigentümliche,  für  das  Ineinanderfließen  der  Nominal- 
und  Verbalbegriffe  charakteristische  Anwendung  zeigen  endlich  die 
polynesischen  Sprachen,  indem  an  die  Stelle  der  intensiven  eine 
simultane  Bedeutung  tritt,  die  Verdoppelung  also  eine  von  meh- 
reren gemeinschaftlich  vollführte  Handlung  bezeichnet:  .so  Samoa 
moe  schlafen,  momoe  mit  jemand  zusammen  schlafen,  Tong.  Jioro 
rennen,  Jiohoro  mit  jemand  um  die  Wette  rennen. 

In  einer  gewissen  Beziehung  zu  den  intensiven  Steigerungen  des 
Verbalbegriffs  durch  Reduplikation  stehen  vielleicht  auch  die  in 
manchen  Sprachen  vorkommenden  intensiven  Lautsteigerungen,  in 
denen  die  energischere  Tätigkeit,  manchmal  mit  noch  andern,  beson- 
ders kausativen  Begriffsmodifikationen,  durch  eine  Lautverstär- 
kung ausgedrückt  wird.  Hierher  gehören  Formen  wie  im  Deutschen 
schmücken  aus  schmiegen^  bücken  aus  biegen^  stecken  aus  stechen  u.  a. 
Man  pflegt  diese  Formen  als  Produkte  einer  Lautassimilation  des 
n-Suffixes  an  den  Wurzelauslaut  anzusehen,  wodurch  Stämme  auf 
//,  kk^  tt  entstanden  seien '].  Aber  diese  Lautassimilation  schließt 
offenbar  nicht  aus,  daß  auf  ihre  Richtung  zugleich  die  Bedeutungs- 
änderung des  Grundbegriffs  von  Einfluß  gewesen  sei.  In  der  Tat 
spricht  hierfür  nicht  bloß  der  Umstand,  daß  hier  Laut-  und  Be- 
griffsverstärkung überall   einander  parallel  gegangen    sind,   sondern 


I)  Wilmanns,   Deutsche  Grammatik,  II,   1899,  S.  86  f.     Dazu  Brugmann,  Grund- 
riß, 1,2  S.  817  f..  und  n,  S.  978. 


530  I^is  Wortbildung. 


besonders  auch  die  Tatsache,  daß  sich  dieser  Vorgang  dann  auf 
andere  Stämme  übertragen  hat,  bei  denen  jene  Lautassimilation 
nicht  mitwirkte,  und  wo  nun  wiederum  Intensiva  und  Iterativa  aus 
solcher  Lautverstärkung  hervorgegangen  sind.  So  ist  zu  dem  aus 
einem  Fremdwort,  dem  lat.  plaga  'Schlagt  =  Plage^  übernommenen 
Verbum  plagai  erst  in  neuhochdeutscher  Zeit  das  Intensivum  placken 
entstanden,  bei  dem  doch  wohl  der  Gefühlston  des  gesteigerten 
Explosivlautes  wirksamer  gewesen  sein  wird  als  die  etwaigen  ent- 
fernten Lautassoziationen  zu  bücken^  stecken  u.  dgl.  Wenn  aber  die 
Lautverstärkung  in  jenem  Falle  für  sich  allein  schon  diesen  Effekt 
hat,  so  ist  nicht  einzusehen,  warum  sie  ihn  nicht  auch  da  äußern 
sollte,  wo  ihr  außerdem  noch  eine  assimilative  Kontaktwirkung  der 
Laute  zu  Hilfe  kommt  ^). 

Dem  Ausdruck  der  intensiven  Steigerung  durch  reduplizierte 
Verbalformen  geht  endlich  noch  eine  analoge  extensive  Bedeutung 
der  gleichen  Formen  parallel.  Diese  können  nämlich  in  gewissen 
Sprachgebieten  auch  einen  kontinuativen  oder  durativen  Sinn 
annehmen.  Hierher  gehören  Verba  wie  gigno  erzeuge,  sisto  mache 
stehen,  naiupaivio  leuchte,  oder  auf  semitischem  Gebiet  kalal  um- 
geben zu  kalah  ein  Ende  machen,  schließen,  damam  stumm  sein 
zu  datnah  schweigen  u.  a.,  Formen,  die  den  Begriff  einer  dauernden 
Handlung  oder  eines  bleibenden  Zustandes  mehr  oder  minder  deut- 
lich enthalten.  Es  ist  aber  bemerkenswert,  daß  diese  kontinuative 
Bedeutung,  so  nahe  sie  auch  begrifflich  der  überall  verbreiteten 
iterativen  zu  liegen  scheint,  doch  in  ihrer  Ausbreitung  beschränkt 
ist,    da    sie    außerhalb    der   indogermanischen  und  der   semitischen 


^)  G.  Gerland,  Intensiva  und  Iterativa,  1869,  glaubt  zwischen  diesen  verschie- 
denen Formen  der  Lautverstärkung  noch  weitere  psychologische  Beziehungen  an- 
nehmen zu  können,  wonach  allgemein  das  Intensivum  die  höhere,  das  Iterativum  die 
niedrige  Entwicklungsform  darstelle.  Seine  Beispiele  aus  dem  Sanskrit  und  Grie- 
chischen scheinen  mir  jedoch  der  Reduplikation,  nicht  der  Intensivbildung  anzu- 
gehören. Wenn  er  ferner  in  dem  Iterativum  eine  bloß  gefühlsmäßige,  in  dem  In- 
tensivum eine  »gedankliche«  Verstärkung  des  Begriffs  sieht,  so  ist  diese  Unter- 
scheidung jedenfalls  willkürlich,  da  das  Intensivum  auf  einer  ähnlichen  im  Laut 
ausgedrückten  Gefühlsbetonung  beruht  wie  das  Iterativum.  Der  einzige  psycholo- 
gische Unterschied  liegt  wohl  darin,  daß  die  Lautwiederholung  noch  viele  andere 
Begriffsvariationen  ausdrücken  kann,  während  die  Intensivbildung  auf  die  intensive 
Steigerung  des  Verbalbegriffs  und  die  mit  ihr  assoziativ  verbundenen  Begriffsmodi- 
fikationen beschränkt  bleibt. 


Bedeutungsarten  der  Lautverdoppelung.  63 1 

Sprachen  kaum  vorkommt.  Von  diesen  beiden  Gebieten  ist  es 
wieder  besonders  das  semitische,  welches  neben  den  iterativen 
kontinuative  Verbalstämme  mit  Wiederholungen  der  Endkonsonanten 
ausgebildet  hat.  Im  Indogermanischen  aber  hat  sich  wahrscheinlich 
an  diese  intensiven  und  kontinuativen  Formen  eine  Ausdehnung  der 
Verdoppelungserscheinungen  angeschlossen,  die,  abgesehen  von  ihrer 
weit  engeren  Begrenzung,  mit  dem  verschwenderischen  Gebrauch 
solcher  Bildungen  innerhalb  der  malaio-polynesischen  Sprachen  eine 
gewisse  Ähnlichkeit  hat,  indem  in  einer  größeren  Anzahl  von  Verbal- 
stämmen Lautverdoppelungen  vorkommen,  die  nach  ihrer  Bedeutung 
zu  keinem  der  bisher  erörterten  Anwendungsgebiete  gehören').  Hier 
mögen  teils  Lautassoziationen  (Analogiebildungen)  wirksam  gewesen 
sein,  teils  mögen  auch  gelegentliche  Motive  subjektiver  Gefühls- 
betonung einen  Einfluß  ausgeübt  haben.  Von  allen  diesen  in  einer 
frühern  Periode  der  Sprachentwicklung  sichtlich  reicheren  Wieder- 
holungsformen hat  sich  im  Indogermanischen  eine  noch  erhal- 
ten, die  wiederum  vollständig  dem  psychologischen  Zusammenhang 
dieser  Bildungen  sich  einfügt.  Dies  ist  die  Reduplikation  als  Aus- 
druck der  vollendeten  Handlung.  So  in  den  Perfektformen 
yeyova,  TEiqarpa,  XeXoicpa^  cecidi^  credidi,  memini^  dedi^  got.  haihait 
zu  haitan  heißen,  lailaik  zu  laikan  springen  u.  a.  Gewiß  ist  diese 
den  indogermanischen  Sprachen  eigentümliche  Verwendung  der 
Reduplikation  nicht  als  eine  besondere,  innerhalb  dieser  Sprachen 
entstandene  »Erfindung«  zu  deuten.  Ebensowenig  wird  man  sie 
aber  wegen  der  Spuren  früher  vorhandener,  dem  Verbalstamm  als 
solchem  eigener  Reduplikationen  bloß  als  einen  zufälligen  Rest  einer 
dereinst  allgemeineren  Ausdrucksform  ansehen  dürfen.  Vielmehr  ist 
es  unverkennbar,  daß  diese  besondere  Bedeutung  der  Verdoppelung 
durchaus  der  allgemeinen  Richtung  angehört,  in  der  sich  überhaupt 
Laut-  und  Wortwiederholungen  in  der  Sprache  entwickelt  haben. 
Liegt  auch  diese  letzte  Modifikation  dem  ursprünglichen,  ohne 
weiteres  verständlichen  sinnlichen  Ausgangspunkt  ferner,  so  ist  doch 
bei  der  Würdigung  dieses  Umstandes  nicht  zu  vergessen,  daß  die 
Verbalform,  für  die  hier  schließlich  die  Verdoppelung  kennzeichnend 


^)  Vgl.  die  Übersicht  solcher  reduplizierter  Formen  auf  indogermanischem  Sprach- 
gebiet bei  Brugmann,  Grundriß,  ü,  S.  845  ff. 


632  Die  Wortbildung. 


wurde,  selbst  allmählich  ihre  Bedeutung  verändert  hat.  Wie  die 
Verbalformen  überhaupt  ursprünglich  mehr  die  objektiven  zeitlichen 
Eigenschaften  der  Vorgänge  und  Zustände  als  das  subjektive  Ver- 
hältnis des  Redenden  zu  ihnen  ausdrücken,  so  liegt  insbesondere 
auch  die  Bedeutung  des  Perfektums  darin,  daß  es  den  aus  einer 
vorangegangenen  Handlung  folgenden  dauernden  Zustand  bezeich- 
net^). Dadurch  erscheint  es  aber  von  der  Vorstellung  der  stetigen 
Dauer  nur  noch  durch  eine  schmale  Linie  geschieden.  Nachdem 
nun  durch  eine  weitere  Begrififsverschiebung  in  dem  Perfektum  selbst 
jene  ursprünglich  nur  als  Nebenvorstellung  enthaltene  Beziehung  auf 
die  Vergangenheit  zum  HauptbegrifF  geworden,  ist  allerdings  gerade 
diese  Anwendung  der  Lautwiederholung  von  ihren  sonstigen  Formen 
am  weitesten  entfernt  und  eben  deshalb  wieder  von  beschränkter 
Verbreitunof. 


3.   Psychologisches  Schema  der  Verdoppelungsformen. 

Blicken  wir  hiernach  auf  die  ganze  Reihe  der  Verdoppelungs- 
formen zurück,  so  scheiden  sich  zunächst  solche  Anwendungen,  die 
allen  Stufen  und  Richtungen  des  Denkens  gemeinsam  angehören, 
von  andern,  die  Produkte  einer  spezifisch  gearteten,  nicht  allgemein 
gewordenen  Denkweise  sind.  Zu  den  ersteren  gehören  zwei  Er- 
scheinungen, die  sich  wohl  in  allen  Sprachen  der  Erde,  und  die 
sich  von  den  ältesten  Formen  bis  zu  den  jüngsten  Neuschöpfungen 
vorfinden.  Die  eine  ist  der  Ausdruck  sich  wiederholender  Schall- 
eindrücke und  anderer  äußerer  Vorgänge  durch  sich  wiederholende 
Laute:  sie  fällt  augenscheinlich  mehr  der  Vorstellungsseite  der 
Wortverbindung  zu.  Die  andere  ist  die  stärkere  Betonung  einer 
Eigenschaft  oder  einer  Handlung  durch  Laut-  und  Wortwieder- 
holung: in  ihr  kommt  offenbar  mehr  die  Gefühlsseite  des  Bewußt- 
seins zum  Ausdruck.  Von  diesen  ursprünglich  gemeinsamen  und 
fortan  gemeinsam  bleibenden  Ausgangspunkten  aus  sondern  sich 
nun  die  weiteren  Anwendungen  nach  verschiedenen  Richtungen. 
Auf  der  einen  Seite  tritt  uns  in  einer  großen  Anzahl  von  Sprachen 
die  Neigung  entgegen,    die  Lautwiederholung  zur  Bezeichnung  von 


")  Vgl.  Kap.  VI,  Nr.  V. 


Psychologisches  Schema  der  Verdoppelungsformen.  633 

Gegenständen  anzuwenden,  die  sich  in  der  Wahrnehmung  wieder- 
holen, also  zur  Bildung  von  Kollektiv-  und  Mehrheitsbegriffen. 
Von  diesen  ist  wieder  der  Ausdruck  von  Kollektivbegriffen  der  ver- 
breitetere  und  wahrscheinlich  auch  der  ursprünglichere.  Auf  der 
andern  Seite  überträgt  sich  das  Ausdrucksmittel  der  Wiederholung 
von  der  Vorstellung  eines  sich  wiederholenden  auf  die  eines  dauern- 
den Vorgangs,  und  von  diesem  endlich  innerhalb  eines  engeren 
Sprachgebiets  auf  die  einer  abgeschlossenen  Handlung.  In  der 
ersten  dieser  beiden  Reihen  bewegt  sich  demnach  die  Anwendung 
der  Verdoppelungsformen  im  Gebiet  der  Nominal-,  in  der  zweiten 
in  dem  der  Verbalbegriffe.  Die  erste  Reihe  umfaßt  die  ungeheure 
Mehrzahl  der  allerverschiedensten  Sprachen,  die  zweite  scheint  sich 
auf  das  semitische  und  indogermanische  Sprachgebiet  zu  beschränken. 
Dabei  ist  aber  im  Semitischen  die  Lautwiederholung  nur  bis  zum 
Ausdruck  des  dauernden  Vorgangs  gelangt.  Den  Schritt  von  da 
zur  vollendeten  Handlung,  für  welche  das  Semitische  andere,  seinem 
allgemeinen  Charakter  konforme  Ausdrucksmittel  besitzt,  haben  nur 
die  indogermanischen  Sprachen  zurückgelegt.  Die  ganze  Entwick- 
lung läßt  sich  demnach  in  dem  folgenden  Schema  übersehen.  Die 
mittlere  Reihe  desselben  enthält  die  allgemeingültigen  Anwendungs- 
formen. Links  und  rechts  befinden  sich  die  beiden  Sonderentwick- 
lungen, die  sich  übrigens  nach  dem  früher  Bemerkten  nicht  völlig 
ausschließend  zueinander  verhalten,  da  sich  namentlich  die  Anwen- 
dung der  Reduplikation  auf  Kollektivbegriffe  in  vereinzelten  Spuren 
auch  auf  indogermanischem  und  semitischem  Gebiet  vorfindet. 

Sich  wiederholende  Vorgänge 
(Wiederholung   als  objektive  Ausdrucksform) 

I 

Steigerung  der  Eigenschaften  und  Tätigkeiten 

(Wiederholung  als  Ausdruck  der  subjektiven  Gefühlserregung) 

Kollektive  Mehrheit  Dauernder  Vorgang 

I  I 

Plurale  Mehrheit  Vollendeter  Vorgang 


5^4  I^i^  Wortbildung. 


4.   Psychologische  Theorie  der  Verdoppelungserscheinungen. 

Das  zuletzt  entworfene  Schema  gibt  zunächst  nur  über  die 
größere  oder  geringere  Allgemeingültigkeit  der  einzelnen  Verdop- 
pelungserscheinungen sowie  über  ihre  abweichende  Ausbreitung 
Rechenschaft.  Gleichwohl  legt  es  unmittelbar  die  Frage  nahe,  in- 
wieweit die  in  ihm  angedeutete  nähere  Beziehung  einzelner  Formen 
von  beschränkterer  zu  andern  von  weiterer  Verbreitung  auf  eine 
genetische  Beziehung  zurückzuführen  sei.  Ist  etwa  die  Lautwieder- 
holung als  Ausdruck  des  sich  wiederholenden  Vorgangs,  wie  sie 
extensiv  die  allgemeinste  ist,  die  neben  allen  andern  Formen  immer 
wiederkehrt,  zugleich  deren  gemeinsame  Wurzel?  Oder,  wenn  sich 
dies  nicht  bestätigen  sollte,  lassen  sich  wenigstens  zwischen  einzel- 
nen Gliedern  der  durch  das  Schema  veranschaulichten  drei  Ent- 
wicklungsreihen irgendwelche  Verbindungen  auffinden? 

Auf  geschichtlichem  Wege  ist  diese  Frage  nicht  zu  beantworten. 
Zwar  sind  in  einzelnen  Fällen  gewisse  Reduplikationserscheinungen 
in  der  Sprache  im  Laufe  ihrer  Entwicklung  geschwunden,  und 
andere,  namentlich  solche,  die  dem  Gebiet  der  Wortwiederholung 
angehören,  sind  neu  entstanden.  Aber  so  weit  wir  auch  in  einer 
bestimmten  Sprache  mittels  der  historischen  Zeugnisse  zurückgehen 
mögen,  die  ihr  eigentümlichen  Verdoppelungsarten  scheinen  von 
Anfang  an  vorhanden  zu  sein,  darunter  selbst  diejenigen  vom  be- 
schränktesten Vorkommen,  wie  z.  B.  die  Anwendung  für  die  Be- 
zeichnung des  Plurals  in  den  polynesischen  und  manchen  amerika- 
nischen, und  die  andere  für  den  Ausdruck  der  vergangenen  Zeit 
in  den  indogermanischen  Sprachen.  Unsere  Vermutungen  über 
etwaige  genetische  Zusammenhänge  sind  darum  hier  ganz  auf  den 
Weg  der  psychologischen  Untersuchung  hingewiesen.  Eine  be- 
stimmte Anwendungsform  wird  immer  dann  als  eine  später  entstan- 
dene und  aus  einer  andern  hervorgegangene  anzusehen  sein,  wenn 
sie  diese  als  die  Vorbedingung  der  ihr  eigentümlichen  Bedeutungs- 
entwicklung voraussetzt. 

Unter  diesem  Gesichtspunkt  betrachtet  erscheinen  zunächst  die 
beiden,  durch  ihre  Ausbreitung  über  alle  möglichen  Sprachgebiete 
ausgezeichneten,     die    Mittelreihe    obigen    Schemas    einnehmenden 


Psychologische  Theorie  der  Verdoppelungserscheinungen.  635 

Formen  als  zwei  genetisch  voneinander  unabhängige  Erscheinungen, 
die  auf  gleich  ursprüngliche  Eigenschaften  des  menschlichen  Be- 
wußtseins zurückweisen,  und  von  denen  es  sich  deshalb  kaum  mit 
Sicherheit  bestimmen  läßt,  ob  die  eine  vor  der  andern  gewesen 
sei.  Um  so  deutlicher  tritt  in  den  psychologischen  Bedingungen 
ein  bestimmter  Gegensatz  hervor.  Die  Lautwiederholung  als  Aus- 
druck sich  wiederholender  Vorgänge  ist  eine  so  unmittelbar  in  den 
Beziehungen  des  objektiven  Eindrucks  zu  der  ihn  nachbildenden 
Lautgebärde  begründete  Erscheinung,  daß  diese  onomatopoetische 
Verdoppelung  begreiflicherweise  nicht  nur  die  größte  Verbreitung 
hat,  sondern  daß  sie  auch  allem  Anscheine  nach  die  ursprünglichste 
Form  der  sogenannten  Lautnachahmung  selbst  ist.  Sie  ist  aber 
als  Lautgebärde  zunächst  objektiv  bedingt:  der  Beschaffenheit  des 
Eindrucks  folgt  unmittelbar  die  ihn  nachbildende  Lautbewegung, 
ohne  daß  dazu  eine  andere  Gefühlserregung,  als  wie  sie  bei  jeder 
Sprachäußerung  stattfindet,  vorauszusetzen  wäre.  Für  ihre  Ursprüng- 
lichkeit spricht  auch  der  Umstand,  daß  gerade  diese  Anwendungs- 
form am  häufigsten  als  reine  Lautwiederholung  vorkommt, 
demnach  als  ein  Vorgang,  der  selbst  erst  ein  Wortgebilde  hervor- 
bringt. Bezeichnen  wir  den  einzelnen  Laut  mit  w,  den  Einzelvor- 
gang, aus  dessen  Wiederholung  sich  eine  irgendwie  rhythmische 
Reihe  zusammensetzt,  mit  v^  so  werden  die  Vorgänge  v  und  die 
ihnen  folgenden  Lautgebärden  n  zunächst  derart  sich  assoziieren, 
daß  sie  eine  Komplikation  «  n  n  n  .  .  [v  v  v  .  .)  von  unbestimmter 
Begrenzung  bilden.  Zu  diesem  rein  assoziativen  Prozeß  tritt  dann 
als  entscheidendes,  den  Übergang  in  die  eigentliche  Sprachgebärde 
bezeichnendes  Moment  die  jene  verschiedenen  Bewegungsakte  zu- 
sammenfassende Apperzeption,  die  wesentlich  dadurch  ermöglicht 
wird,  daß  die  Reihe  z)  als  eine  Folge  von  Zustandsänderungen  eines 
und  desselben  Gegenstandes  o  sich  abspielt,  daher  auch  diese  zu- 
sammenfassende Apperzeption  an  die  Vorstellung  o  gebunden  bleibt. 
Die  Apperzeption  von  o  als  dominierender  Vorstellung  wirkt  nun 
aber  derartig  hemmend  auf  die  Reihe  der  Lautassoziationen  nnnn..^ 
daß  die  einfache  Wiederholung  n  «,  die  sich  dann  eventuell  noch  zu 
verkürzten  Formen  verdichten  kann,  als  einziger  Lautinhalt  der  Wort- 
komplikation zurückbleibt.     Diese  gewinnt  so  die  endgültige  Form: 

n  n  0  [v  V  V  .  .). 


636  Die  Wortbildung. 


Wesentlich  anders  verhält  es  sich  mit  der  zweiten  allgemeinen 
Anwendung  der  Verdoppelung,  mit  dem  Ausdruck  intensiv  ge- 
steigerter Eigenschaften  oder  Tätigkeiten.  Hier  ist  in  dem 
objektiven  Eindruck  als  solchem  nichts  enthalten,  was  unmittelbar 
zu  einer  zeitlichen  Wiederholung  des  Lautes  herausfordern  könnte. 
Dieser  Mangel  einer  direkten  objektiven  Beziehung  spricht  sich  auch 
darin  aus,  daß  diese  Form  der  Reduplikation  ebensowohl  durch 
bleibende  Eigenschaften  der  Dinge  wie  durch  Vorgänge  oder 
Handlungen  ausgelöst  wird.  Es  ist  daher  augenfällig,  daß  hier 
nur  das  subjektive  Gefühl  das  Mittelglied  bilden  kann,  das  die 
Intensitätssteigerung  in  diese  extensive  Form  überträgt.  Wiederum 
gehört  nun  schon  innerhalb  der  bloßen  Affektäußerungen  die  Wie- 
derholung der  Bewegung  zu  den  geläufigsten  Ausdrucksmitteln  der 
gesteigerten  Gefühlserregung.  Sie  wird  zu  dem  natürlichsten  Aus- 
drucksmittel insbesondere  dann,  wenn  sich,  wie  das  beim  Übergang 
in  die  Sprachäußerung  regelmäßig  geschieht,  die  Ausdrucksbewe- 
gungen ermäßigen,  so  daß  die  direkteste  Ausdrucksform  des  er- 
höhten Gefühls,  die  durch  einfache  Steigerung  der  Bewegungsinten- 
sität, hinwegfällt.  Immerhin  bleibt  es  für  diese  indirektere  Beziehung 
der  Wiederholungsform  zum  Gefühlsausdruck  bezeichnend,  daß,  im 
Unterschiede  von  der  vorigen  objektiven  Entstehungsform,  noch 
andere  Arten  der  verstärkten  Betonung  des  Lautes  für  die  Ge- 
ühlssteigerung  eintreten  können:  so  namentlich  die  in  manchen 
Sprachen  entstandenen  Intensivbildungen.  Bezeichnen  wir  demnach 
irgendeinen  Eindruck,  der  in  der  Vorstellung  ebensowohl  an  einen 
äußeren  Vorgang  wie  an  eine  wahrgenommene  Eigenschaft  gebun- 
den sein  kann,  mit  ^,  so  wird,  wenn  mit  diesem  relativ  gefühlsfreien 
Eindruck  e  eine  Lautbezeichnung  n  zu  einer  Wortkomplikation  ;/  e 
verbunden  war,  der  gefühlsstarke  Eindruck  g  e  nun  eine  reagierende 
Lautgebärde  herausfordern,  die  in  irgendeiner  Steigerung  des  Lautes  n 
besteht.  Von  den  hierbei  möglichen  und  zum  Teil  wirklich  vor- 
kommenden Formen  der  Lautverstärkung  gewinnt  dann  aber  unter 
dem  Einfluß  der  die  sprachlichen  Vorgänge  begleitenden  AfTekt- 
ermäßigung  die  Verdoppelung  vor  den  andern,  wie  Lautverstärkung, 
Tonerhöhung  oder  Tonverlängerung,  das  Übergewicht.  Dazu  mag 
die  bereits  geläufige  Anwendung  in  sonstigen,  durch  den  objektiven 
Eindruck    selbst    geforderten  Bedeutung-en ,    wie   Wiederholunsf  von 


Psychologische  Theorie  der  Verdoppelungserscheinungen.  6^7 

Vorgängen,  Mehrheit  von  Gegenständen,  durch  assoziative  Über- 
tragung mitwirken.  Dies  läßt  sich  um  so  mehr  mit  Wahrscheinlich- 
keit annehmen,  als  bei  dem  Ausdruck  der  Steigerung  der  Laut  w, 
schon  ehe  er  verdoppelt  wird,  im  allgemeinen  eine  bestimmte  Wort- 
bedeutung besitzen  muß.  Der  sich  wiederholende  Vorgang  kann 
ja  eventuell  primär  als  ein  solcher  gegeben  sein;  die  gesteigerte 
Eigenschaft  ist  aber  nicht  wohl  möglich,  ohne  daß  die  einfache 
Eigenschaft  schon  zuvor  unterschieden  wurde.  Dem  entspricht  es, 
daß  in  der  Tat  diese  auf  die  subjektive  Gefühlsbetonung  zurück- 
gehenden Verdoppelungserscheinungen  in  der  Regel  als  Wort  Ver- 
doppelungen, nicht,  wie  die  vorige  Klasse,  als  bloße  Lautwieder- 
holungen vorkommen.  In  diesem  Sinne  wird  man  daher  immerhin 
diese  Anwendungsform  als  die  relativ  spätere  und  in  bedingter  Weise, 
nämlich  eben  mit  Rücksicht  auf  den  assoziativen  Einfluß  der  schon 
vorhandenen  Wiederholungsformen,  auch  als  eine  abhängige  Er- 
scheinung betrachten  dürfen.  Diese  Abhängigkeit  erstreckt  sich 
aber  nicht  auf  die  Grundbedingungen  des  Vorganges,  die  vielmehr 
hier  ebenso  selbständig  und  eigenartig  sind,  wie  bei  der  frequenta- 
tiven  Bedeutung  der  Verdoppelung.  Bezeichnen  wir,  wie  oben,  mit 
n  £  die  ursprüngliche  Wortkomplikation,  so  wird  daher,  sobald  der 
intensive  Gefühlston  g  hinzutritt,  zunächst  wiederum  mit  Rücksicht 
auf  das  einheitliche  Objekt  0,  auf  das  der  Eindruck  wie  die  von 
ihm  ausgehende  Gefühlserregung  zurückbezogen  wird,  das  Produkt 
g  e  mit  diesem  Objekt  durch  die  Apperzeption  zusammengefaßt, 
während  zugleich  das  hinzugetretene  Element  g  zur  Wiederholung 
von  n  antreibt,  so  daß  die  ganze  Wortkomplikation  die  Form  an- 
nimmt : 

n  11  0  (ge). 

Von  den  beiden  durch  die  linke  und  rechte  Seite  des  Schemas 
(S.  633)  dargestellten  Sonderentwicklungen  schließt  sich  nun  jede 
an  diese  allgemeingültigen  Grundformen  an,  jede  aber  doch  wieder 
in  wesentlich  verschiedener  Weise.  So  sind  die  fast  durchweg  den 
Sprachen  primitiver  Kulturvölker  angehörenden  nominalen  Ver- 
doppelungsformen unmittelbar  dem  ersten,  objektiven  Typus 
verwandt.  Dennoch  kann  auch  hier  aus  dieser  Verwandtschaft  noch 
nicht  geschlossen  werden,    daß   sie  aus   ihm   hervorgegangen  seien, 


638  Die  Wortbildung. 


sondern  man  wird  nur  annehmen  können,  daß  die  Motive  der  Ent- 
stehung teihveise  übereinstimmten.  Diese  Übereinstimmung  liegt 
eben  darin,  daß  es  sich  in  beiden  Fällen  um  eine  objektive 
Wiederholung  handelt:  dort  um  eine  Wiederholung  eines  Vor- 
gangs, hier  um  die  Wiederholung  mehrerer  Objekte  der  Apper- 
zeption von  übereinstimmender  Beschaffenheit.  Darin  ist 
aber  auch  bereits  der  wesentliche  Unterschied  beider  Fälle  aus- 
gesprochen: dort  beruht  die  Wiederholung  auf  dem  objektiven  \'or- 
gang  selbst,  hier  auf  der  subjektiven  Aufeinanderfolge  mehrerer 
Apperzeptionen  des  gleichen  Gegenstandes.  Die  nächstliegende  und 
verbreitetste  Art  einer  solchen  Zusammenfassung  ist  die  einer  Z wei- 
he it  regelmäßig  verbundener  Objekte,  wie  sie  vor  allem  der  mensch- 
liche Körper  selbst  darbietet:  der  Augen.  Hände,  Brüste  usw.  Es 
ist  diejenige  Form  der  innerhalb  dieser  objektiv  gerichteten  Reihe 
entstandenen  Ausdrucksweisen  eines  Kollektivbegrififs,  die  allein,  wie 
es  scheint,  auch  auf  die  der  rechten  Seite  unseres  Schemas  ange- 
hörigen  Sprachen  in  gewissem  Grad  übergegriffen  hat.  Der  duale 
Kollektivbegriff  wird  hier  einfach  durch  die  in  ihrem  Laut-  wie  Be- 
griffsbestandteil zweigliedrige  Komplikation  n  n  [o  ö)  ausgedrückt. 
In  diesem  von  vornherein  die  einfache  Reduplikation  herausfordern- 
den Ausgangspunkt  Hegt,  neben  dem  Übergang  vom  Objekt  auf 
die  subjektive  Wiederholung  der  Apperzeption,  zugleich  der  wesent- 
liche Unterschied  von  der  allgemeinen  onomatopoetischen  Wieder- 
holungsform; und  da  diese  Anwendung  auf  Objekte  gerade  in  den 
durch  reichliche  Anwendung  von  Laut-  und  Wortwiederholungen 
ausgezeichneten  Sprachen  vorkommt,  so  mag  diesem  Umstände  wohl 
ein  mitwirkender  Einfluß  auf  die  Bildung  zweigliedriger  Formen  in 
andern  Fällen  zukommen.  Anderseits  konnte  aber  auch  der  so  ge- 
bildete zweigliedrige  Kollektivausdruck  durch  eine  Ausdehnung  des 
objektiven  Gliedes  der  Komplikation  auf  mehrgliedrige  Begriffe  über- 
gehen, wobei  sich  dann  freilich,  um  die  Vorstellung  der  Einheit  zu 
bewahren,  noch  eine  weitere  Veränderung  vollziehen  mußte,  die 
jedenfalls  bei  den  dualen  Begriffen  schon  vorgebildet  ist,  wegen  der 
leichten  Vereinigung  der  Zweiheit  zu  einer  Einheit  aber  noch  zurück- 
tritt. Dieser  Vorgang  besteht  darin,  daß,  je  mehr  Glieder  das 
Kollektivum  umfaßt,  um  so  mehr  ein  einzelnes  dieser  Glieder  als 
repräsentative  Vorstellung  über  die  andern  dominiert,  während 


Psychologische  Theorie  der  Verdoppelungserscheinungen.  63 Q 

diese  in  dem  unbestimmten  Eindruck  der  Vielheit  nur  dunkler  vor- 
gestellt werden :  so  z.  B.  wenn  der  Begriff  'Baum''  durch  Verdoppe- 
lung in  das  unbestimmte  KoUektivum  ""Wald'  umgewandelt  wird. 
Wir  können  uns  demnach  die  Konstitution  der  einem  solchen  All- 
gemeinbegriff entsprechenden  Wortkomplikation  symbolisch  veran- 
schaulichen durch  die  Form: 

n  n  0  [0  o  0  o  .  .  .)^ 

wo  die  fest  assoziierten,  aber  dunkler  vorgestellten  Objekte  o  in  der 
Klammer  enthalten  sind,  das  deutlich  apperzipierte  repräsentative 
Objekt  aber  zunächst  mit  dem  Lautbilde  n  n  verbunden  ist.  Das 
psychologische  Verhältnis  dieser  pluralen  zu  den  dualen  Kollektiv- 
begriffen macht  es  zugleich  in  hohem  Maße  wahrscheinlich,  daß 
hier  die  verwickeitere  aus  der  einfacheren  Form  wirklich  hervor- 
gegangen ist,  d.  h.  daß  sich  die  Anwendung  der  Reduplikation  auf 
umfassendere  KoUektiva  in  den  betreffenden  Sprachgebieten  erst 
unter  dem  assoziativen  Einflüsse  der  dualen  Formen  gebildet  hat. 
Analog  scheint  sich  dann  der  in  seltenen  Fällen  zur  Ausbildung 
gelangte  Ausdruck  des  reinen  Plurals  durch  Wortverdoppelung  an 
die  so  gebildeten  umfassenderen  KoUektiva  angelehnt  zu  haben. 
Der  Übergang  konnte  hier  leicht  erfolgen,  indem  sich  die  bei  dem 
KoUektivum  vorherrschende  repräsentative  Vorstellung  verdunkelte. 
Dies  würde  eine  Art  Rückbildung  der  vollständigeren  Wortkompli- 
kation 11110  [000..)  zu  1111  [000. .)  bedeuten.  Doch  bleibt  auch 
die  MögUchkeit,  daß  sich  die  duale  Form  nn[od)  direkt  durch 
Vermehrung  der  objektiven  Assoziationsglieder  zur  pluralen  erweitert 
habe,  oder  daß  an  verschiedenen  Orten  beide  Vorgänge,  die  Rück- 
bildung des  zusammengesetzten  KoUektivums  zum  Plural  und  die 
Erweiterung  des  dualen  zum  Plural,  stattfanden. 

Eine  ähnUche  Beziehung,  wie  nach  der  Seite  der  Gegenstands- 
begriffe zwischen  dem  sich  objektiv  wiederholenden  Vorgang  und 
der  subjektiven  Wiederholung  der  Apperzeption  von  Objekten, 
findet  sich  nun  auf  der  Seite  der  Verbalbegriffe  zwischen  jenem 
und  dem  dauernden  Vorgang.  Auch  hier  haben  wir  keinen 
Anlaß  anzunehmen,  die  zweite  sei  aus  der  ersten,  verbreiteteren 
Form  hervorgegangen ,  oder  diese  habe  auf  jene  anders  als  durch 
die  Macht  der  assoziativen  Formübertragung   eingewirkt,    vermöge 


640  Die  Wortbildung. 


deren  eine  häufig  gebrauchte  Form  durch  ihre  Einübung  überhaupt 
vor  andern  möglichen  Ausdrucksweisen  der  gleichen  Vorstellung 
begünstigt  ist.  Dies  schließt  aber  natürlich  nicht  aus,  daß  die  vom 
Vorstellungsinhalt  ausgehenden  Motive  hier  so  gut  wie  bei  der  Ent- 
wicklung der  Reduplikation  zu  einer  rein  intensiven  Ausdrucksform 
vollkommen  selbständige  gewesen  sind.  In  der  Tat  fordert  der 
dauernde  Vorgang,  ganz  abgesehen  von  einer  möglichen  Anlehnung 
an  rhythmisch  sich  wiederholende  Vorgänge,  schon  durch  die  Eigen- 
schaft der  längeren  Dauer,  gegenüber  der  rasch  vorübergehenden 
Bewegung,  zu  einer  Verstärkung  des  Ausdrucks  heraus,  die  in  der 
Lautwiederholung  ihren  einfachsten  sprachlichen  Ausdruck  findet. 
Ein  objektives  und  ein  subjektives  Moment  können  sodann  zu- 
sammenwirken, um  diese  Ausdrucksform  zu  begünstigen.  Objektiv 
ist  es,  wie  bei  den  Mehrheitsbegriffen,  die  Wiederholung  der  Apper- 
zeption des  gleichen  Geschehens,  welche  der  sich  fortsetzende  Vor- 
gang veranlaßt.  Subjektiv  erzeugt  der  dauernde  Vorgang  im  all- 
gemeinen eine  stärkere  Gefühlserregung.  Fassen  wir  demnach  alle 
diese  Momente  in  der  symbolischen  Formel 

n  n  g  [d  v) 

zusammen,  in  der  n  und  v  wieder  im  gleichen  Sinne  wie  oben 
angewandt  sind,  d  aber  die  Eigenschaft  der  Dauer  und  g  die  durch 
dv  bewirkte  Gefühlsbetonung  bedeutet,  so  ist  die  Beziehung  dieser 
Komplikation  zu  den  intensiven  und  kollektiven  Verdoppelungsformen 
augenfällig.  Zugleich  erkennt  man  jedoch  die  Eigenart  derselben, 
die  es  durchaus  verbietet,  sie  etwa  mittels  einer  hier  so  verfüh- 
rerisch winkenden  logischen  Interpretation  aus  der  iterativen  Form 
ableiten  zu  wollen.  Letzteres  ist  schon  deshalb  unmöglich,  weil 
von  Vergleichungen ,  Verallgemeinerungen  und  ähnlichen  intellek- 
tuellen Prozessen  selbstverständlich  nicht  die  Rede  sein  kann.  Viel- 
mehr ist  die  Entwicklung  einer  Form  aus  einer  andern  immer  nur 
insoweit  möglich,  als  sie  durch  einfache  und  vollkommen  unwill- 
kürlich wirkende  assoziative  und  apperzeptive  Bedingungen  herbei- 
geführt wird. 

Anders  verhält  es  sich  mit  der  letzten  in  diese  Reihe  gehörigen 
Anwendung  der  Reduplikation:  mit  dem  den  indogermanischen 
Sprachen  eigenen  Ausdruck  der  vergangenen  Zeit.     Hier  ließe 


Psychologische  Theorie  der  Verdoppelungserscheinungen.  54 1 

sich  kaum  einsehen,  in  welcher  Weise  eine  solche  Beziehung  durch 
ursprüngliche  Apperzeptions-  oder  Gefühlsmotive  entstanden  sein 
könnte.  Dagegen  wird  diese  Form  ohne  weiteres  verständlich,  wenn 
wir  zunächst  von  der  durativen  Bedeutung  der  Verdoppelung 
ausgehen.  In  der  die  letztere  bezeichnenden  Verbindung  nng{dv) 
wird  sich  zunächst,  wie  überall,  wo  nicht  besondere  Motive  zu 
seiner  Erhaltung  gegeben  sind,  das  Gefühlselement  g  durch  häufigen 
Gebrauch  abschwächen.  Dafür  kann  sich  aber  in  der  Vorstellungs- 
verbindung {dv)  als  ein  neuer  Bestandteil  die  in  d  zunächst  nur 
dunkel  vorgestellte  Beziehung  auf  den  Anfang  des  wahrgenommenen 
objektiven  Vorgangs  aussondern.  Dies  wird  um  so  eher  geschehen, 
je  mehr  sich  überhaupt  die  Zeitvorstellungen  ausbilden  und  infolge- 
dessen die  verschiedenen  zeitlich  vorgestellten  Ereignisse  nach  den 
Zeitstufen  Vergangenheit,  Gegenwart,  Zukunft  orientiert  werden. 
Heftet  sich  so  an  die  Vorstellung  der  dauernden  Handlung  die  darin 
enthaltene  Nebenvorstellung  eines  teilweise  bereits  in  der  Ver- 
gangenheit liegenden  Vorgangs,  so  kann  nun  die  weitere  Entwicklung 
in  der  gewöhnlichen  Form  assoziativer  Verschiebungen  erfolgen, 
indem  diese  Nebenvorstellung  immer  mehr  in  den  Blickpunkt  des 
Bewußtseins  tritt,  indes  die  anfängliche  Hauptvorstellung  dunkler 
wird  und  schließlich  ganz  verschwindet.  Deuten  wir  das  Element 
der  Vergangenheit  durch  p  an,  so  vollzieht  sich  also  die  Reihe  der 
Wandlungen  von  nng  [dv]  durch  nn[dpv\  nn[pdv)  in  nn[pv). 
Hiernach  sind  die  in  dem  obigen  Schema  (S.  633)  auseinander- 
gehenden Entwicklungsreihen  in  ihren  beiden  Ausgangspunkten,  in 
dem  Ausdruck  einer  Zw eiheit  verbundener  Vorstellungen  einerseits 
und  eines  dauernden  Vorgangs  anderseits,  aller  psychologischen 
Wahrscheinlichkeit  nach  selbständige,  jedesmal  durch  eigenartige 
psychische  Motive  entstandene  Formen,  wenn  auch  in  beiden  Fällen 
der  bereits  geläufige  Gebrauch  der  Reduplikation  in  den  allgemein- 
gültigen Erscheinungen  der  mittleren  Reihe  begünstigend  eingewirkt 
haben  mag.  Dagegen  ist  nicht  minder  wahrscheinlich  die  plurale 
Verdoppelung  aus  der  dualen,  die  perfektive  aus  der  durativen 
hervorgegangen.  Wenn  dann  weiterhin  diese  beiden  Reihen  durch- 
gängig sich  ausschließen,  so  daß  bei  den  Völkern,  bei  denen  die 
durative  und  die  perfektive  Bedeutung  zur  Entwicklung  gelangte, 
die    duale    bis    auf    spärliche    Reste    und    die    plurale    ganz    fehlt, 

Wundt    Völkerpsychologie  I,  i.     2.  Aufl.  41 


5i2  Die  Wortbildung. 


während  umgekehrt  da,  wo  die  letzteren  eine  hervorragende  Rolle 
spielen,  jene  ersteren  nicht  vorkommen,  so  ist  dieser  Unterschied 
sichtlich  auf  verschiedene  Richtungen  des  Denkens  zurückzuführen. 
Greifen  die  Verdoppelungserscheinungen  hauptsächlich  auf  Nominal- 
formen über,  so  herrscht  eine  gegenständliche  Form  des  Denkens. 
Bewegen  sich  jene  vorwiegend  innerhalb  der  Verbalbildungen,  so 
tritt  darin  eine  zuständliche  Form  desselben  in  die  Erscheinung. 
Wir  werden  in  den  folgenden  Kapiteln  sehen,  daß  der  tiefgreifende 
Unterschied  dieser  Richtungen  noch  in  zahlreichen  andern  Erschei- 
nungen bei  der  Bildung  der  Wortformen  sowie  in  der  Satzbildung 
zutage  tritt'). 


VI.  Wortbildung  durch  Zusammensetzung. 

I.    Begriff  und  Hauptformen  der  Wortzusammensetzung. 

Kann  auch  die  Wortwiederholung  ihrer  allgemeinen  Natur  nach 
als  der  besondere  Fall  von  Wortzusammensetzung  betrachtet  werden, 
wo  sich  ein  Wort  mit  sich  selber  verbindet,  so  pflegt  man  doch 
unter  einem  »Kompositum«  in  der  Regel  nur  eine  Wortverbin- 
dung aus  ungleichen  Bestandteilen  zu  verstehen.  Diese 
Scheidung  ist  insofern  gerechtfertigt,  als  durch  die  Lautwiederholung 
selbst  erst  ein  einfaches  Wort  entsteht,  während  die  volle  Wort- 
wiederholung nur  die  stärkere  Hervorhebung  eines  schon  vorhan- 
denen Wortes  ist,  also  keine  neue  Wortbildung  darstellt.  Überdies 
umfaßt  die  Verbindung  ungleicher  Bestandteile  nicht  nur  ein  viel 
weiteres  Gebiet  von  Erscheinungen,  sondern  sie  besitzt  auch  eine 
ungleich  tiefer  in  das  gesamte  Leben  der  Sprache  eingreifende  Be- 
deutung. 

Jede  Wortzusammensetzung  entspringt  aus  Motiven,  die  der  Zu- 
sammenhang der  Rede  mit  sich  führt.  Aus  der  äußeren  Berührung 
der  Wörter  im  Satze  kann  jedoch  eine  engere  Verbindung  nur  dann 
hervorgehen,  wenn  zugleich  eine  innere  Affinität  die  Wörter  zu- 
sammenführt. Demnach  durchkreuzen  sich  bei  der  Bildung  eines 
Kompositums    ein     analytischer    und    ein     synthetischer    Vorgang. 


')  Vgl.  Kap.  VI  und  VII. 


Begriff  und  Hauptformen  der  Wortzusammensetzung.  543 

Analytisch  entsteht  ein  zusammengesetztes  Wort,  indem  es  als 
syntaktisches  Gefüge  aus  dem  Ganzen  eines  Satzes  sich  aussondert. 
Synthetisch  bildet  es  sich,  indem  seine  Bestandteile  eine  festere 
Verbindung  miteinander  eingehen  und  dadurch  von  den  übrigen 
Wörtern  des  Satzes  als  ein  neues  Wortganzes  sich  scheiden.  Diese 
Verhältnisse  machen  es  begreiflich,  daß  man  bald  das  analytische, 
bald  das  synthetische  Moment  in  den  Vordergrund  stellte,  je  nach- 
dem entweder  der  Satz  oder  das  Wort  als  das  ursprünglichere 
sprachliche  Gebilde  betrachtet  wurde").  Da  die  Sprachwissenschaft 
in  der  Regel  dem  Worte  den  Vorzug  einräumte,  so  war  aber  der 
synthetische  Gesichtspunkt  der  vorherrschende.  Demgemäß  wurde 
das  Kompositum  meist  als  ein  durch  willkürliche  Vereinigung  seiner 
Teile  entstandenes  Gebilde  behandelt,  nach  dessen  psychologischen 
Entstehungsbedingungen  nicht  weiter  gefragt  wurde.  Vielmehr  be- 
gnügte man  sich  mit  der  Feststellung  der  zwischen  den  Gliedern 
des  Kompositums  bestehenden  logischen  und  grammatischen 
Verhältnisse,  um  dann  darauf  etwa  eine  Klassifikation  der  Wort- 
zusammensetzungen zu  gründen.  So  werden  denn  Verbindungen  der 
Koordination,  der  Über-  und  Unterordnung,  der  attributiven,  ad- 
verbialen, objektiven  Bestimmung,  der  Kasusverhältnisse  usw.  unter- 
schieden^]. 


^)  Den  analytischen  Gesichtspunkt  betonen  bereits  Brugmann,  Grundriß  II,  S.  3  ff., 
sowie  Paul,  Prinzipien,3  S.  301  ff. 

2)  Vgl.  L.  Tobler,  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie  und  Sprachwissenschaft,  V, 
1868,  S.  205  ff.  A.  Darmesteter,  Traite  de  la  formation  des  mots  composes  dans 
la  langue  frangaise,  1875.  (Bibl.  de  l'ecole  des  hautes  etudes,  Fase.  19.)  Auch  bei 
Paul  Prinzipien, 3  S.  302  ff.)  ist  für  die  Gruppierung  der  Beispiele  das  logisch-gram- 
matische Schema  maßgebend,  ohne  daß  er  es  jedoch,  wie  besonders  Darmesteter 
in  seiner  als  Stoffsammlung  sehr  lehrreichen  Arbeit,  zur  Grundlage  der  ganzen 
Betrachtung  macht.  Dagegen  hebt  Brugmann  gerade  mit  Rücksicht  auf  die  Ent- 
stehung des  Kompositums  durch  syntaktische  Isolierung  mit  Recht  hervor,  für  die 
Frage  der  Entstehung  sei  das  Verhältnis  der  Glieder  ohne  Bedeutung,  überhaupt 
aber  seien  die  Grenzen  zwischen  syntaktischer  Verbindung  und  Wortzusammen- 
setzung, ebenso  wie  auf  der  andern  Seite  die  zwischen  Kompositum  und  Simplex, 
fließende  (a.  a.  O.  S.  4  f.).  Einen  Versuch,  die  logische  Klassifikation  der  Komposita 
durch  eine  psychologische  Betrachtung  zu  ergänzen,  hat  wohl  zuerst  Tobler  gemacht. 
Aber  das  Assoziationsschema,  das  er  zugrunde  legt  (s.  a.  a.  O.  S.  220  f.),  ist,  ab- 
gesehen davon,  daß  eine  ausschließliche  Zurückführung  auf  Assoziation  hier  über- 
haupt nicht  ausreicht,  ungenügend,  und  Tobler  selbst  ist  daher  von  dem  Versuch, 
seine  logische  Klassifikation  mit  seinem  psychologischen  Schema  in  Beziehung  zu 
setzen,  wenig  befriedigt. 

41* 


644  ^i^  Wortbildung. 


Wenn  nun  die  Entstehung  eines  jeden  Kompositums  im  allge- 
meinen einen  analytischen  und  einen  synthetischen  Vorgang  vor- 
aussetzt, so  ist  damit  ebenso  eine  rein  willkürliche  wie  eine  zufällige 
Entstehung  desselben  ausgeschlossen.  Willkürlich  kann  es  nicht 
zusammengefügt  sein,  da  es  aus  dem  syntaktischen  Gefüge,  in  dem 
es  einem  größeren  Vorstellungszusammenhang  angehörte,  von 
selbst  vermöge  der  Beziehung  seiner  Glieder  sich  ausschied.  Zu- 
fällig kann  es  nicht  entstanden  sein,  da  zu  jener  Zerlegung  der 
Gesamtvorstellung  eine  durch  die  Affinität  der  Bestandteile  ver- 
mittelte engere  Verbindung  hinzutreten  mußte.  Beides,  der  ana- 
lytische und  der  synthetische  Prozeß ,  setzt  also  bestimmte  psy- 
chische Motive  voraus:  Motive  der  Sonderung  von  der  im 
ganzen  Inhalt  des  Satzes  ausgedrückten  Gesamtvorstellung  einer- 
seits, und  Motive  der  Verbindung  der  sich  aussondernden  Bestand- 
teile anderseits.  Wird  als  ein  solches  Motiv  gelegentlich  dies  an- 
geführt, daß  Wörter,  die  ursprünglich  mit  gesonderten  Akzenten 
gesprochen  wurden,  einen  gemeinsamen  Akzent  erhielten,  so  ist 
das  offenbar  selbst  nur  eine  äußere  Wirkung  der  bereits  einge- 
tretenen Verbindung,  nicht  deren  Ursache,  wie  denn  ja  auch  das 
allmähliche  Schwinden  des  Akzents  von  dem  in  der  Betonung  sich 
unterordnenden  Wortbestandteil  die  verschiedensten  Gradabstufungen 
zeigt,  die  der  zunehmenden  Innigkeit  der  Verbindung  parallel  gehen. 
Können  die  wirklichen  Motive  der  Verbindung  nicht  in  dem  die 
Wörter  umfassenden  Satzganzen,  sondern  nur  in  den  Bestandteilen 
selbst,  die  sich  verbinden,  gesucht  werden,  so  kann  aber  die  Fest- 
stellung des  logischen  Verhältnisses,  in  dem  die  Kompositions- 
glieder zueinander  stehen,  zu  einer  solchen  Erkenntnis  nicht  das 
allergeringste  beitragen.  Irgendwelche  Wörter,  die  einander  nicht 
völlig  disparat  gegenüberstehen,  lassen  sich  natürlich  immer  in  eine 
logische  Beziehung  bringen.  Die  Verhältnisse  der  Über-,  Unter-, 
Nebenordnung,  der  Beziehung  des  Subjekts  zu  seiner  Eigenschaft 
oder  Tätigkeit,  sie  sind  überall  anwendbar,  mögen  nun  solche 
Wörter  unabhängig  nebeneinander  vorkommen  oder  Bestandteile 
eines  Kompositums  bilden.  Eben  darum  aber  sagen  sie  über  die 
psychologischen  Motive,  die  diese  Verbindung  zustande  brachten, 
nichts  aus. 

Wollen  wir  uns  die  Entstehungsbedingungen  der  Wortzusammen- 


Begriff  und  Hauptformen  der  Wortzusammensetzung.  645 

Setzung  näher  vergegenwärtigen,  so  werden  wir  daher  besser  tun, 
solche  Verschiedenheiten  der  einzelnen  Erscheinungen  ins  Auge  zu 
fassen,  die  direkt  auf  besondere  Eigentümlichkeiten  jener  analy- 
tischen und  synthetischen  Vorgänge  hinweisen,  die  allen  diesen 
Bildungen  zugrunde  liegen  müssen.  Hier  zeigt  sich  nun  vor  allem, 
daß  diese  Vorgänge  von  anscheinend  entgegengesetzter,  aber  doch 
sich  ergänzender  Richtung  in  den  einzelnen  Fällen  in  sehr  verschie- 
denem Grad  an  der  Entstehung  eines  gegebenen  Produktes  be- 
teiligt sein  können.  Auf  der  einen  Seite  begegnen  uns  Komposita, 
die  unmittelbar  so  wie  sie  sind  aus  einem  Satze  losgelöst  scheinen, 
so  daß  sie  uns  fast  als  reine  Produkte  syntaktischer  Gliederung  mit 
verhältnismäßig  geringer  Begleitwirkung  verbindender  psychischer 
Kräfte  entgegentreten.  Auf  der  anderen  Seite  finden  sich  nicht 
minder  häufig  Komposita,  deren  Teile  so,  wie  sie  in  das  neugebildete 
Wort  eingehen,  unmöglich  als  ursprünglich  selbständige  Wortgebilde 
in  einem  Satze  vorgekommen  sein  können,  wo  also  diese  Teile 
mehr  oder  minder  starke  Dislokationen  und  Formveränderungen 
durch  die  zwischen  ihnen  tätige  psychische  Affinität  erfahren  haben 
müssen:  hier  handelt  es  sich  daher  offenbar  um  Erscheinungen,  bei 
denen  der  synthetische  Teil  des  Prozesses  weit  über  den  analyti- 
schen überwiegt.  Dazu  kommt  endlich  noch  eine  dritte  Reihe  von 
Formen,  bei  denen  die  Entstehungsorte  der  Teile  des  Kompositums 
sichtlich  noch  weiter  entfernt  liegen,  indem  aller  Wahrscheinlichkeit 
nach  der  eine  dieser  Teile  ursprünglich  gar  nicht  der  Gesamtvor- 
stellung angehörte,  aus  der  sich  der  den  Hauptbegriff  tragende 
Teil  ausgesondert  hat,  sondern  irgendwelchen  ganz  anderen  Satz- 
verbindungen, aus  denen  er  infolge  gewisser  Assoziationsmotive 
von  jenem  Hauptbegriff  attrahiert  wurde.  Hier  überwiegt  also  der 
synthetische  Teil  des  Prozesses  noch  mehr  als  im  vorigen  Fall,  da 
sich  der  analytische  ganz  und  gar  auf  die  Ausscheidung  eines  ein- 
fachen Wortes  beschränkt,  darüber  hinaus  aber  gar  nichts  zur  Bil- 
dung der  zusammengesetzten  Form  beiträgt.  Wir  können  uns  die 
drei  Fälle  durch  das  folgende  Schema  veranschaulichen,  in  welchem, 
um  den  Erörterungen  der  folgenden  Kapitel  über  die  Gesetze 
der  Satzgliederung  nicht  vorzugreifen,  die  durch  die  Zerlegung 
der  Gesamtvorstellung  G  entstehenden  einzelnen  Wortbestandteile 
a^  b^  c^  d  .  .  .    des    Satzes    vorläufig    einander    einfach    koordiniert 


646  Die  Wortbildung. 


werden  sollen.  Das   resultierende  Kompositum  ist  jedesmal   durch 
C  angedeutet. 

Typus  I  Typus  II  Typus  ni 

G  G  CG 


M    I    I    M   I  I   I    1    I    I    i    I  i    I    I      M    I    I   I    I    I 

a  b  c  d  e  f  g  a  b  c  d  e  f  g  7?i         a  b  c  d  e  f  g 

U  I I  ! I 

c  c  c 

Hiernach  läßt  sich,  nach  Analogie  der  bei  den  Lautinduktionen 
(Kap.  IV,  S.  405  f.)  eingeführten  Benennungen  der  Typus  I  kurz  als 
eine  Komposition  durch  assoziative  Kontakt  Wirkung, 
der  Typus  II  als  eine  solche  durch  assoziative  Nahewirkung, 
der  Typus  III  aber  als  eine  solche  durch  assoziative  Ferne- 
wirkung bezeichnen. 

Als  Beispiele  für  das  Verhältnis  der  Typen  I  und  II  können 
das  französische  Wort  pourboire  und  das  den  gleichen  Begriff  aus- 
drückende deutsche  Trinkgeld  dienen.  Beide  weisen  nicht  nur 
grammatisch,  sondern  vor  allem  auch  psychologisch  auf  einen 
abweichenden  Ursprung  hin.  Zugleich  können  aber  die  psycho- 
logischen Unterschiede  aus  den  grammatischen  nicht  abgeleitet, 
sondern  höchstens  indirekt  erschlossen  werden.  Das  deutsche  Kom- 
positum hat  sich  hier  offenbar  unter  der  assimilierenden  Wirkung 
anderer,  älterer  Komposita  ähnlicher  Art,  wie  Wergeid,  Handgeld^ 
Mietgeld ^  Pachtgeld  usw.,  gebildet,  Assoziationen,  die  unter  dem 
Einfluß  der  Verbindung  der  Vorstellungen  ''Geld'  und  'trinken' 
wirksam  wurden.  Diese  Verbindung  selbst  ist  aber  durchaus  keine 
unmittelbare,  wie  das  schon  die  grammatische  Umbildung  des  attri- 
butiven Bestandteils  verrät.  Auch  gibt  es  keine  Satzfügung,  in  der 
diese  Verbindung  vorkommen  könnte:  in  solchen  ist  allenfalls  ein 
'Geld  zum  Trinken',  aber  kein  'Trinkgeld'  möglich.  Wesentlich 
anders  verhält  sich  das  französische  pourboire.  Zwar  sind  auch  hier 
Assoziationen  mit  andern  aus  der  Präposition  pojir  gebildeten  7.\\'s,-a.vs\- 
vaQrvs&\.z\xrvgQn,' \\\e.po2irpoint^  pourpreiidre^  pours2iivre  u.  a.,  denkbar. 
Doch  da  diese  Komposita  nicht  nur  in  den  hinzugefügten  Wort- 
bestandteilen, sondern  auch  in  den  Bedeutungen  der  Präposition 
selbst  weit  auseinandergehen,  so  können  solche  Wörter  kaum  anders 
als  durch  Lautassoziation,    nicht,    wie    bei    dem    deutschen  Worte, 


Begriff  und  Hauptformen  der  Wortzusammensetzung.  647 

durch  einen  gemeinsamen  Hauptbegriff  auf  die  Verbindung  gewirkt 
haben.  Wohl  aber  trägt  das  französische  Kompositum  deutlich  die 
Spuren  der  unmittelbaren  Entstehung  aus  dem  Satze  an  sich;  ja 
vielleicht  ist  es  selbst  ursprünglich  nichts  anderes  als  ein  lückenhafter 
Satz  gewesen.  Nachdem  hunderte  von  Malen  der  Geber,  der  eine 
Dienstleistung  vergüten  wollte,  dem  Beschenkten  durch  ein  'pour 
boire'  den  Zweck  der  Gabe  angedeutet  hatte,  wurde  dieser  unvoll- 
ständige Satz,  der  in  der  Handlung  des  Gebens  seine  pantomimische 
Ergänzung  fand,  in  dem  Augenblicke  zum  Wort,  wo  er  als  selbstän- 
diges Ganzes  in  irgendeinen  andern  Satz  als  dessen  Subjekt  oder 
Objekt  eintrat.  Dieser  Ursprung  bringt  es  dann  auch  mit  sich,  daß 
das  Ganze  noch  fortan  ebensowohl  als  eine  Verbindung  zweier 
Wörter  in  einem  beliebigen  andern  Zusammenhang  wie  als  ein  ein- 
ziges substantivisches  Wort  vorkommen  kann. 

Beispiele  für  das  Verhältnis  der  Typen  II  und  III  zueinander 
sind  einerseits  Komposita  wie  Trinkgeld  oder  die  ihm  ähnlichen 
Dornstrauch^  Äpfelbaimi^  Kirchturm  usw.  und  anderseits  solche  wie 
Hirschkäfer,  Leberfleck,  Blutbuche,  Rittersporn  und  andere.  Jede 
Zusammensetzung  der  ersteren  Art  enthält  zwei  Vorstellungen,  die 
der  Wahrnehmung  des  Gegenstandes  oder  der  Handlung  gleichzeitig 
angehören,  und  die  daher  beide  in  der  ursprünglichen  Gesamtvor- 
stellung und  ihrer  Zerlegung  im  Satze  gegeben  waren.  Die  Ent- 
stehung des  Kompositums  beruht  also  hier  ganz  auf  einer  unmittel- 
baren Wahrnehmungsassoziation.  Der  Hirschkäfer  dagegen  war 
zunächst  nur  als  Käfer  mit  einigen  nicht  benannten  spezifischen 
Merkmalen  in  der  Anschauung  gegeben.  Diese  Merkmale  aber,  die 
hornigen  Mandibeln  mit  ihren  zweizinkigen  Spitzen,  er\veckten  das 
einer  Reihe  anderer  Gesamtvorstellungen  zugehörige  Bild  des  Hirsches, 
das  nun  sekundär  mit  der  Vorstellung  des  Käfers  assoziiert  wurde. 
Hier  liegt  also  der  Bildung  des  Kompositums  zugleich  eine  Er- 
innerungsassoziation zugrunde.  Ist  es  in  diesen  wie  in  den  andern 
angeführten  Beispielen  eine  dem  Hauptbegriff  hinzugefügte,  ihn  näher 
determinierende  Nebenvorstellung,  die  aus  einer  außerhalb  liegenden 
Vorstellungsverbindung  attrahiert  wird,  so  kann  nun  aber  auch  das 
Verhältnis  sich  umkehren,  indem  der  assoziativ  hinzutretende  Be- 
standteil zur  Hauptvorstellung  und  der  direkte  Wahrnehmungsinhalt 
zur  Nebenvorstellung  wird :   so  in  dem   in  der  gleichen  Bedeutung 


648  Die  Wortbildung. 


gebrauchten  franz.  cerf  volant^  wo  die  Vorstellung  des  Hirsches  als 
assimilative  Erinnerungsassoziation  im  Vordergrund  steht,  an  die  nun 
das  in  der  Wahrnehmung  gegebene  Bild  der  Flügel  als  Nebenvor- 
stellung sich  anschließt^). 

2.    Sprachliche  Formen  der  Wortzusammensetzung. 

Gegenüber  den  soeben  erörterten  drei  Haupttypen  der  Wort- 
komposition, die  auf  innere  Motive  der  Assoziation  und  Apperzeption 
zurückführen,  dabei  aber  mit  den  verschiedensten  grammatischen 
Formen  der  Wortverbindung  zusammenbestehen  können,  besitzen 
nun  diese  äußeren  Formen  selbst  zwar  ein  grammatisches,  aber  nur 
indirekt  ein  psychologisches  Interesse:  insofern  nämlich,  als  die 
sprachliche  Form  immerhin  unter  Umständen  auf  die  psychischen 
Motive  zurückschließen  läßt.  Namentlich  pflegen  die  Verschieden- 
heiten der  Verbindungsweise  für  das  Vorwalten  bald  mehr  des  ana- 
lytischen bald  mehr  des  synthetischen  Teils  dieser  Wortbildungs- 
prozesse kennzeichnend  zu  sein"). 

')  Auf  die  eigentümlichen  Verschiedenheiten  der  hier  zugrunde  liegenden  Asso- 
ziationsweisen hat  zuerst  O.  Dittrich  aufmerksam  gemacht  (Gröbers  Zeitschrift  für 
romanische  Philologie,  XXII,  1898,  S.  441)  und  darauf  die  Haupteinteilungen  seiner 
Übersicht  der  neufranzösischen  Komposita  gegründet,  indem  er  die  Komposita  über- 
haupt in  »Erkennungsnamen«  und  »Erinnerungsnamen«  unterscheidet.  In  der  weiteren 
Fortführung  seiner  Untersuchungen,  deren  Veröffentlichung  noch  aussteht,  hat  der 
Verf.,  wie  ich  einer  brieflichen  Mitteilung  desselben  entnehme,  statt  dessen  die  Aus- 
drücke >Cbereinstimmungs-«  und  »Abweichungsnamen«  vorgezogen,  weil  bei  ihnen 
das  Verhältnis  zu  den  dominierenden  Merkmalen  unmittelbarer  hervortritt.  Hiemach 
würde  ein  Wort  wie  'Hirschkäfer'  als  ein  Übereinstimmungs-,  'cerf  volant'  dagegen 
als  ein  Abweichungsname  zu  bezeichnen  sein. 

2)  Über  die  grammatischen  Verhältnisse  der  Wortzusammensetzung  und  die 
hieraus  sich  ergebenden  Unterformen  dieses  Prozesses,  die  »Worteinung«  und  »Uni- 
verbierung«,  vgl.  Brugmann,  Kurze  vergl.  Grammatik,  S.  287  ff.  Die  »Worteinung« 
besteht  darin,  daß  sich  ein  syntaktischer  Verband  bildet,  dessen  Bestandteile  durch 
die  einheitliche  Gesamtvorstellung,  in  die  sie  eintreten,  begrifflich  modifiziert  werden, 
z.  B.  Landesverrat,  Erstgeborner,  auslesen,  abkaufen  u.  ä.  »Univerbierung«  wird  es 
genannt,  wenn  Worte  gewohnheitsmäßig  verbunden  sind,  ohne  aber  eine  Begriffs- 
einheit zu  bilden,  z.  B.  homer.  o\/.6v-6e  'nach  Hause',  'i-cpBoov  'ich  trug'  u.  a. 
Psychologisch  gehen  diese  Formen  ohne  scharfe  Grenze  ineinander  über,  da  sich 
an  die  einmal  gebildete  Verschmelzung  leicht  auch  im  zweiten  Fall  Laut-  oder 
Akzentänderungen  sowie  Bedeutungsänderungen  anschließen.  Vgl.  hierzu  noch  Brug- 
mann, Ber.  der  sächs.  Ges.  1900,  S.  359  ff-,  und  H.  Paul,  Indogermanische  Forschun- 
gen, Bd.  14,  S.  250  ff. 


Sprachliche  Formen  der  Wortzusammensetzung.  649 

Hierher  gehört  vor  allem  die  Erscheinung,  daß  es  einerseits 
Komposita  gibt,  in  denen  sowohl  die  Teilbegriffe  selbst  wie  die 
Beziehungen,  in  denen  sie  stehen,  in  einer  Form  ausgedrückt  sind, 
in  der  sie  schon  vor  ihrer  Verbindung  zu  einem  Kompositum  in 
einem  Satze  vorkommen  können;  während  in  andern  Fällen  irgend 
etwas,  sei  es  auch  nur  ein  Flexionselement,  hinzugefügt  werden 
muß,  um  die  Art  der  Verbindung  der  Einzelbegriffe  vollständig  zum 
Ausdruck  zu  bringen.  Im  ersten  Fall  kann  also  das  Kompositum 
einfach  durch  festere  Verbindung  zweier  aus  der  Satzzerlegung  ent- 
standener Worte  entstehen:  so  in  JiogytovQoi^  respublica^  quamobrem^ 
bienJiaireux ^  Gottesgericht  usw.  Im  zweiten  Fall  gehen  gewisse 
Wortelemente  verloren,  oder  es  finden  Umstellungen  der  Worte 
statt,  lauter  Erscheinungen,  die  auf  hinzutretende  synthetische  Vor- 
gänge hinweisen:  so  in  OilirtTtog  für  cpLlCov  %jtJtovg^  timbre-poste 
für  timbre  de  poste^  Vaterhaus  für  Vaters  Haus^  Trinkgeld  für 
Geld  zum  Trinken  usw.  Indem  man  in  dieser  Hinweglassung  gram- 
matischer Verbindungsglieder  ein  wesentliches  Merkmal  dafür  sah, 
daß  aus  der  Zusammensetzung  ein  neues  Wort  hervorgehe,  wurde 
das  Vorhandensein  einer  solchen  »Ellipse«  geradezu  als  das  Krite- 
rium der  eigentlichen  Wortkomposition  angesehen,  und  jeder  Fall, 
wo  jene  fehlt,  als  eine  bloße  »Juxtaposition«  betrachtet^).  Dabei 
wird  aber  nicht  berücksichtigt,  daß  die  Festigkeit  der  Verbindung 
und  das  durch  diese  erzeugte  Gefühl  der  Worteinheit  hier  genau 
im  selben  Maße  vorhanden  sein  kann  wie  dort.  Dem  gegenüber 
ist  die  etwaige  grammatische  Umbildung  um  so  mehr  ein  relativ 
gleichgültiger  Umstand,  als  in  beiden  Fällen  die  in  dem  Ganzen 
enthaltenen  Einzelvorstellungen,  solange  nicht  weiter  greifende 
Laut-  und  Begriffsumwandlungen  eintreten,  gleich  deutlich  unter- 
schieden werden:  in  timbre-poste  ebensogut  wie  in  timbre  de  poste^ 
in  Vaterhaus  wie  in  Vaters  Haus.  Auch  zeigen  Beispiele  wie  chef 
d'oßiivre^  Gottesgericht  und  ähnliche,  daß  die  Beibehaltung  der  selb- 
ständigen grammatischen  Form  häufig  wohl  nur  die  Wirkung  einer 
durch  den  Fluß  der  Rede  herbeigeführten  Lautdissimilation,  nicht  ein 
Produkt  geringerer  Festigkeit  der  Verbindung  ist.  Vollends  nichts- 
sagend  und   irreführend  ist  es,   wenn  man  jene  den   synthetischen 


I)  Darmesteter,  Formation  des  mots  composes,  p.  10. 


5 CO  Die  Wortbildung. 


Prozeß  der  Wortkomposition  begleitende  Einschmelzung-  von  Wort- 
elementen als  »elliptische«  Redeform  bezeichnet.  Die  Übertragung 
rhetorischer  Figuren  auf  die  natürliche  Sprachbildung  ist  immer 
eines  der  unglücklichsten  Interpretationsmittel,  weil  es  sich  in  allen 
solchen  Fällen  nur  um  eine  zufällige  äußere  Ähnlichkeit  handelt, 
die  aus  ganz  verschiedenen  inneren  Ursachen  hervorgeht.  Die 
rhetorische  Bedeutung  der  »Ellipse«  liegt  bekanntlich  in  der  Hin- 
weglassung  solcher  Teile  der  Rede,  die  in  dem  gewöhnlichen 
Ausdruck  der  Gedanken  unentbehrlich  sind.  Bei  den  sogenannten 
Ellipsen  der  Wortkomposition  ist  aber  umgekehrt  gerade  das  durch 
Zusammenziehung  der  Laute  und  der  grammatischen  Formelemente 
gewonnene  Ganze  in  der  Weise  stellvertretend  für  den  Begriff  ge- 
worden, daß  im  Ausdruck  keine  Lücke  empfunden  wird.  Wollte 
man  als  vollständiges  Wort  nur  ein  solches  anerkennen,  das  den 
ganzen  Begriff  unverkürzt  enthielte,  so  müßte  man  auch  jedes  Sim- 
plex eine  »Ellipse«  nennen.  Ist  es  doch  immer  nur  ein  einzelnes 
dominierendes  Merkmal,  von  dem  die  Benennung  des  Gegenstandes 
ausgeht.  Diese  ursprünglichen  sprachbildenden  Vorgänge  mit  den 
sekundären  Erscheinungen,  wie  sie  in  der  Kunstform  der  Rede 
beobachtet  werden,  und  wie  sie  eben  erst  auf  Grund  jener  voran- 
gegangenen Entwicklungen  möglich  sind,  zusammenzuwerfen,  kann 
daher  nur  zu  einer  völligen  Verwirrung  der  psychologischen  Auf- 
fassung führen. 

Wie  es  für  den  allgemeinen  Charakter  eines  Wortkompositums 
gleichgültig  ist,  ob  ein  die  Teile  verknüpfender  Beziehungsausdruck 
mit  in  dasselbe  eingeht  oder  nicht,  so  können  nun  auch  die  Vor- 
stellungen selbst,  die  miteinander  verbunden  werden,  nach  ihrer 
logischen  Bedeutung  den  verschiedensten  Begriffsformen  angehören, 
ohne  daß  dadurch  die  psychologische  Natur  der  Verbindungsvor- 
gänge wesentlich  alteriert  wird.  Ob  z.  B.  eine  Eigenschaft  durch 
eine  gegenständliche  Vorstellung  determiniert  ist,  wie  in  vogelfrei^ 
steinreich^  ehrgeizig^  lehrreich^  oder  ob  ein  Gegenstands-  durch  einen 
Eigenschaftsbegrifif  ergänzt  wird,  wie  in  Festland^  Freigeist^  Groß- 
vater^ Rotkehlchen^  oder  ob  statt  dessen  zwei  Adjektiva  oder  zwei 
Substantiva  sich  wechselseitig  ergänzen  oder  beschränken,  wie  in 
schwarzzveiß^  dunkelrot^  lauwarm^  Hausmann^  ScJineeberg^  Fingerhut^ 
Windmühle^  —  alle  diese  und   ähnliche  Unterschiede    sind   für   die 


Sprachliche  Formen  der  Wortzusammensetzung.  6^1 

psychologische  Seite  der  Erscheinung  ohne  Bedeutung;  oder  soweit 
es  sich  hier  um  psychologische  Unterschiede  handelt,  greifen  diese 
direkt  in  die  Verhältnisse  der  allgemeinen  Begrififsformen  ein,  ohne 
daß  andere  Gesichtspunkte  als  die  überhaupt  für  die  Kategorien  und 
ihre  Umwandlungen  maßgebenden  in  Betracht  kommen"). 

Eine  andere  Frage,  die  bei  der  üblichen  logischen  Behandlung 
gewöhnlich  in  den  Vordergrund  gestellt  wird,  die  nämlich,  ob  das 
in  .dem  Kompositum  gegebene  Begriffsverhältnis  als  ein  einfach 
attributives  oder  als  ein  solches  von  Art  und  Gattung  aufzufassen 
sei,  ob  es  räumliche,  zeitliche,  objektive,  possessive  Bestimmungen, 
oder  den  Gedanken  an  einen  Grund,  einen  Zweck,  ein  Mittel,  einen 
Grad  usw.  enthalte  —  diese  Frage  ist  schon  logisch  von  verhältnis- 
mäßig geringem,  psychologisch  aber  von  gar  keinem  Wert.  Denn 
logisch  betrachtet  sind  natürlich  alle  überhaupt  möglichen  Begriffs- 
verhältnisse und  Beziehungsformen  der  Begriffe  auch  zwischen  den 
Gliedern  eines  Kompositums  möglich;  und  psychologisch  bietet 
wiederum  keines  dieser  Verhältnisse  irgendwelche  Eigentümlichkeiten 
dar,  wie  denn  ja  auch  die  logische  Beziehung  der  Begriffe  niemals 
eine  direkte  Ursache  der  Verbindung  ist.  Vielmehr  beruht  diese 
stets  nur  auf  der  Assoziation,  die  sich  zwischen  den  in  den  Bestand- 
teilen des  Kompositums  ausgedrückten  Vorstellungen  gebildet  hat, 
und  auf  Grund  deren  dieses  Assoziationsprodukt  in  der  Apperzep- 
tion zu  einem  einzigfen  Vorstellungsinhalt  verbunden  wird.  Ein 
unmittelbares  Zeugnis  für  diese  Unabhängigkeit  der  psychologischen 
Entstehung-    von    dem    logischen    Verhältnis    der    Besrriffe    ist    die 


i)  Das  Allgemeine  über  diese  Verhältnisse  der  Begriffsformen  und  über  die 
auch  bei  der  Wortzusammensetzung  eine  Rolle  spielenden  kategorialen  Umwand- 
lungen der  Begriffe  wird  bei  dem  Bedeutungswandel  (Kap.  VIII]  erörtert  werden. 
Die  nähere  Anwendung  der  aus  der  psychologischen  Natur  der  Begriffsformen  sich 
ergebenden  Verhältnisse  auf  die  Erscheinungen  der  Wortkomposition  muß  aber  hier 
außer  Betracht  bleiben,  da  dieses  Problem  mit  den  besonderen  Ausdrucksformen 
der  einzelnen  Sprachen  so  eng  zusammenhängt,  daß  es  ganz  und  gar  der  speziellen 
Sprachpsychologie  zufällt.  In  dieser  ist  es  bisher  durch  die  ausschließlich  logische, 
psychologisch  völlig  ergebnislose  Behandlung  der  Erscheinungen  leider  beeinträchtigt 
worden.  Einen  anerkennenswerten  Anfang  einer  grammatisch-psychologischen  statt 
der  sonst  bevorzugten  grammatisch-logischen  Analyse  hat  für  das  französische  Sprach- 
gebiet O.  Dittrich  gemacht  in  seinen  »Untersuchungen  über  Wortzusammensetzung 
auf  Grund  der  neufranzösischen  Schriftsprache«,  in  Gröbers  Zeitschrift  für  romanische 
Philologie,  XXII,   1898,  S.  305  ff.,  XXIII,   1899,  S.  288  ff. 


5c 2  Die  Wortbildung. 


Tatsache,  daß  in  verschiedenen  Sprachen  ein  und  derselbe  Begriff 
durch  Komposita  ausgedrückt  sein  kann,  die  nach  ihrer  gramma- 
tischen Bildung  wie  nach  ihrer  psychischen  Entwicklung  völlig  von- 
einander abweichen,  während  beiderlei  Unterschiede  in  gar  keiner 
direkten  Beziehung  zueinander  stehen.  Einen  Beleg  hierzu  bilden  die 
oben  bereits  erläuterten  gleichbedeutenden  Wörter  Trinkgeld  und 
poiirboire.  Gerade  im  Gebiet  der  Komposita  zeigt  es  sich  eben  klar, 
daß  ein  und  derselbe  Begriff  nicht  bloß  in  außerordentlich  verschie- 
dener Weise  ausgedrückt  werden  kann,  sondern  daß  auch  die  Art 
dieses  Ausdrucks  jedesmal  sowohl  von  der  eigentümlichen  Richtung 
des  Denkens  wie  von  der  Beschaffenheit  der  vorhandenen  Ausdrucks- 
mittel abhängt.  Die  deutsche  Sprache,  die  eine  große  Freiheit  in  der 
Erzeugung  der  Wortkomposita  überhaupt  und  namentlich  auch  in  der 
Verbindung  solcher  Wörter  besitzt,  die  der  gleichen  Begriffsklasse 
angehören,  ist  fähig,  einen  neuen  Gegenstandsnamen  einfach  dadurch 
zu  bilden,  daß  sie  zwei  schon  vorhandene  Substantiva,  die  sich  in 
dem  neuen  Begriff  irgendwie  begegnen,  aneinander  Rigt,  oder  auch 
daß  sie  einen  Eigenschafts-  mit  dem  geeigneten  Gegenstandsnamen 
unmittelbar  vereinigt.  Ähnlich  bildet  sie  neue  Eigenschaftswörter 
durch  Verbindung  bereits  vorhandener  mit  Gegenstandsbegriffen, 
mit  denen  die  Eigenschaft  in  irgendeiner  Beziehung  stehend  gedacht 
wird.  Dadurch  gewinnt  das  deutsche  Kompositum  den  Charakter 
eines  frei  nach  den  jedesmaligen  Zwecken  zusammengesetzten  Ganzen, 
dessen  Teile  aus  beliebigen  unabhängigen  Sätzen  ausgesondert  und 
neu  verbunden  sein  können,  oder,  wenn  sie  in  einem  und  demselben 
Satze  vorkamen,  durch  andere  Satzbestandteile  voneinander  gesondert 
waren.  Ähnliche  Eigenschaften  wie  die  deutschen  zeigen  auch  die 
griechischen  Komposita.  Anders  verhalten  sich  die  der  romanischen 
Sprachen,  denen  schon  das  Lateinische  darin  vorausging,  daß  in 
ihm  viele  Verbindungen  aus  einer  einfachen  Folge  von  Wörtern 
entstanden,  die  sich  durch  häufiges  Zusammentreffen  im  Satze  in 
dieser  Verbindung  befestigt  hatten,  wie  respiiblica^  senatusconsultum^ 
jusjiirandum  und  ähnliche.  Diesen  Charakter  einer  bloßen  Aus- 
scheidung aus  dem  Satze  haben  in  überwiegendem  Maß  auch  die 
französischen  Komposita  wie  chef  d'oßuvre^  plafond^  to7ijours  (wobei 
ja  die  Unterscheidung  von  plat  fo?id  und  tous  jours  bloß  in  der 
Schrift,   nicht  in  der  Aussprache  existiert),   maltraiter^  malheiireiLX ^ 


Laut-  und  Bedeutungsänderungen  der  Komposita.  653 

pourboire  usw.  Wo  das  nicht  der  Fall  ist,  da  gehört  die  Verbindung 
in  der  Regel  einer  früheren  Stufe  der  Sprachentwicklung  an,  und 
die  so  entstandenen  Wörter  fallen  für  das  heutige  Sprachbewußt- 
sein dem  Gebiet  ursprünglicher  Wortbildung  zu ').  Bei  der  Bildung 
des  deutschen  Kompositums,  wie  sie  noch  heute  fortwährend  be- 
obachtet werden  kann,  überwiegt  also  das  synthetische,  bei  der 
Bildung  des  neufranzösischen  Kompositums  das  analytische  Moment. 
In  Wahrheit  sind  aber  beide  Vorgänge,  die  Ausscheidung  aus  dem 
Ganzen  des  Satzes  und  die  selbständige  Verbindung  der  Teile, 
zwei  Faktoren  des  Prozesses,  die  niemals  fehlen,  und  von  denen 
nur  je  nach  den  besonderen  Bedingungen  bald  der  eine,  bald  der 
andere  überwiegend  zum  Ausdruck  kommt.  Eine  eigentümliche 
Nachwirkung  des  analytischen  Ursprungs  der  Komposita  hat  sich 
übrigens  auch  die  deutsche  Sprache  darin  bewahrt,  daß  sie  die 
mit  Präpositionen  gebildeten  verbalen  Zusammensetzungen  im  Satze 
selbst  wieder  je  nach  den  Bedingungen  der  syntaktischen  Ver- 
bindung in  ihre  Bestandteile  sondert,  sofern  überhaupt  die  in  das 
Kompositum  eingehende  Präposition  noch  in  ihrem  selbständigen 
Begrififswert  erhalten  geblieben  ist:  so  in  aufstehen  und  ich  stehe  auf 
ablegen  und  ich  lege  ab^  vortragen  und  ich  trage  vor  usw.  Mag 
aber  auch  durch  diese  Eigenschaft  das  Bewußtsein  der  besonderen 
Bedeutung  der  Teile  mehr  erhalten  bleiben  als  in  den  Fällen  un- 
verrückbarer Zusammenfügung :  an  der  Tatsache,  daß  solche  Wörter 
im  vollen  Sinne  des  Wortes  Komposita  sind,  kann  diese  Eigenschaft 
nichts  ändern.  Sie  geht  auch  da  in  den  Wortverbindungen  nicht 
verloren,  wo  jene  Sonderung  erfolgt,  weil  dieser  Vorgang  vielmehr 
als  eine  Einschaltung  anderer  Satzbestandteile  in  den  Zusammenhang 
des  Wortes  denn  als  eine  wirkliche  Zerlegung  des  letztern  in  seine 
Teile  empfunden  wird. 


3.    Laut-  und  Bedeutungsänderungen  der  Komposita. 

Ungleich  wichtiger  als  diese  äußeren  sprachlichen  Unterschiede, 
die  den  bei  der  Wortkomposition  stattfindenden  psychischen  Prozeß 
der  Vorstellungsverbindung  nicht  wesentlich  berühren,  sind  für  diesen 


')  Vgl.  unten  Nr.  VII,  2. 


654  ^i^  Wortbildung. 


letzteren  die  Laut-  und  die  sie  begleitenden  Begriffsumwandlungen 
der  Wortzusammensetzungen.  Hier  greifen  beide  Momente,  Laut- 
und  Begriffswandel,  durchweg  derart  ineinander  ein,  daß  sie  sich 
wechselseitig  verstärken,  und  daß  daher  meist  schwer  zu  entscheiden 
ist,  welches  das  primäre  gewesen  sei.  Dabei  folgen  natürlich  Laut- 
und  Begriffswandel  den  für  sie  gültigen  allgemeinen  Gesetzen,  deren 
Erörterung  nicht  hierher  gehört').  Hier  ist  nur  hervorzuheben,  daß 
die  Wortzusammensetzung  ein  Vorgang  ist,  der  bei  den  in  sein 
Bereich  fallenden  Wortgebilden  die  Laut-  wie  Bedeutungsänderungen 
nicht  selten  zu  beschleunigen  scheint.  Indem  sich  die  Bestandteile 
des  Kompositums  zu  einer  neuen  Worteinheit  verbinden,  kann  ihnen 
der  Zusammenhang  mit  den  selbständigen  Wörtern,  mit  denen  sie 
ursprünglich  identisch  sind,  nach  Laut  wie  Begriff  verloren  gehen; 
oder  es  kann  auch  ein  Wort  in  einem  Kompositum  fortbestehen, 
das  für  sich  allein  außer  Gebrauch  gekommen  ist.  Auf  diese  Weise 
ist  die  Entwicklung  der  Wortzusammensetzung  allgemein  dahin  ge- 
richtet, daß  die  zuerst  loser  verbundenen  und  in  ihrer  isolierten 
Bedeutung  noch  leicht  erkennbaren  Bestandteile  des  Kompositums 
immer  fester  sich  verbinden,  bis  sie  schließlich  zu  einer  Worteinheit 
zusammengeflossen  sind,  die  unmittelbar  überhaupt  nicht  mehr  als 
Kompositum  erkennbar,  sondern  erst  auf  Grund  der  Sprachgeschichte 
als  ein  solches  nachzuweisen  ist.  Dieser  Prozeß  kann  sich  aber  an 
den  verschiedenen  Wortzusammensetzungen  einer  Sprache  in  sehr 
verschiedener  Zeit  vollziehen,  da  er  von  mancherlei  inneren  wie 
äußeren  Bedingungen  abhängt:  von  der  Einheitlichkeit  der  durch 
die  Verbindung  entstehenden  Vorstellung  einerseits,  und  von  den 
Vorgängen  des  Laut-  und  Begriffswandels  sowie  von  der  Erhaltung 
und  der  relativen  Geläufigkeit  der  einzelnen  Wortbestandteile  ander- 
seits. 

Überblickt  man  die  ganze  Reihe  der  Veränderungen,  die  auf 
solche  Weise  das  einzelne  Kompositum  von  seiner  ersten  Bildung  als 
Niederschlag  aus  dem  Satze  an  bis  zum  völligen  Untergang  seiner 
Bestandteile  in  der  neuen  Worteinheit  erfahren  kann,  so  lassen  sich 
dieselben  nach  der  Wirkung-  der  ansredeuteten  Bedingungen  auf  die 


^)  Rücksichtlich    des    Lautwandels    vgl.    Kap.  IV,    über    den    Bedeutungswandel 
Kap.  Yin. 


Laut-  und  Bedeutungsänderungen  der  Komposita.  ()e.e 

Festigkeit  der  Verbindung  in  die  drei  Stadien  der  Agglutination, 
der  partiellen  Verschmelzung  und  der  totalen  Verschmelzuno- 
unterscheiden. Natürlich  sind  aber  diese  Stadien  nicht  scharf  geschie- 
den, sondern  es  finden  sich  die  mannigfachsten  Übergänge  zwischen 
ihnen.  Auch  läßt  sich  nur  in  verhältnismäßig  seltenen  Fällen  an 
einem  einzelnen  Kompositum  der  Entwicklungsprozeß  durch  alle 
drei  Stadien  gleichmäßig  verfolgen.  Dagegen  treten  uns  unter 
den  gleichzeitig  vorhandenen  Kompositis  einer  Sprache  regelmäßig 
Repräsentanten  einer  jeden  Gruppe  und  ihrer  Übergangsstufen  ent- 
gegen^). 

So  begegnen  uns  in  jenen  zahlreichen  Kompositis  der  deutschen 
Sprache,  die  sich  fortwährend  neu  bilden,  um  dem  Bedürfnis  irgend 
neuer  Begrififsverbindungen  zu  genügen,  ausgeprägte  Beispiele  der 
Agglutination.  Man  denke  an  Wörter  wie  Landrecht^  Eiseiibalm^ 
Dampfschiffe  Tmifstein^  Regieningsrat^  Reichsgericht  ws^n .  Partielle 
Verschmelzungen  können  sodann  wieder  in  verschiedenen  Formen 
vorkommen.  In  der  einfachsten  Weise  gehen  sie  aus  den  Aggluti- 
nationen dann  hervor,  wenn  der  Lautbestand  des  Wortes  ungeändert 
bleibt,  die  Bedeutung  des  Kompositums  sich  aber  derart  gegenüber 
derjenigen  seiner  Bestandteile  geändert  hat,  daß  die  begrifflichen 
Inhalte  der  letzteren  durch  den  völlig  abweichenden  Begriff  des 
Kompositums  verdunkelt  werden,  so  daß  dieses  nun  als  ein  einheit- 
liches Wort  aufgefaßt  wird,  bei  dem  die  Vorstellungen  der  Teile 
nur  noch  schwach,  nicht  anders  als  dies  bei  zufälligen  Lautähnlich- 
keiten der  Wörter  geschieht,   anklingen.     Dahin  gehören  Beispiele 


^)  Vielleicht  ist  es  nicht  unnütz,  ausdrücklich  zu  bemerken,  daß  man  bei  der 
»Agglutination  der  Wortvorstellungen  €  in  dem  hier  gebrauchten  Sinn  ebensowenig 
an  die  sogenannten  >agglutinativen  Sprachen«,  wie  bei  der  partiellen  oder  totalen 
Verschmelzung  an  den  Verschmelzungsbegriff  der  Herbartschen  Psychologie  zu  denken 
hat.  Was  das  erstere  betrifft,  so  wird  das  hier  obwaltende  Verhältnis  wohl  zu- 
reichend durch  die  Bemerkung  gekennzeichnet,  daß  die  Wörter  einer  »agglutinativen 
Sprache«  überhaupt  nicht  Agglutinationen  von  Vorstellungen,  sondern  ursprüngliche 
Wortbildungen,  also  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  früh  eingetretene  Wortverschmel- 
zungen sind,  gerade  so  wie  die  Wortformen  unserer  Flexionssprachen,  von  denen 
sie  sich  überhaupt  nur  durch  ihren  in  vielen  Fällen  komplizierteren  Aufbau  unter- 
scheiden. Der  Herbartsche  Verschmelzungsbegriff  endlich  gehört  ganz  und  gar  der 
transzendenten  Vorstellungsmechanik  seiner  Psychologie  an  und  hat  daher  mit  dem 
hier  angewandten  empirischen  Begriff  keine  anderen  Berührungen  als  diejenigen,  die 
aus  der  allgemeinen  Bedeutung  des  Wortes  »Verschmelzung«  hervorgehen. 


656  Die  Wortbildung. 


wie  jahrlässig  urspr.  =  'fahren  lassend',  anspielen  eigtl.  'den  An- 
fang- im  Spiel  machen',  Vorgang  'was  vorher  geht'  u.  a.  Mehr  noch 
nähert  sich  die  Verbindung  einer  totalen  Verschmelzung,  wenn  der 
eine  Bestandteil  des  Kompositums  entweder  vollständig  aus  der 
lebenden  Sprache  verschwunden  oder  lautlich  derart  verändert  ist, 
daß  dadurch  seine  selbständige  Bedeutung  verdunkelt  wurde:  so  in 
Wörtern  wie  Vormund^  wo  das  Wort  'Mund'  im  Sinne  von  Schutz 
außer  Gebrauch  gekommen,  Junker  =  mhd.  'jungherre',  wo  das 
Teilwort  'Herr'  zu  einem  suffixähnlichen  Bestandteil  geworden  ist, 
ferner  Herzog  aus  'her'  =  Heer  und  '-zöge'  (zusammenhängend  mit 
'ziehen')  =  Führer,  ein  Wort,  dessen  beide  Teile  sich  in  ihrer  Be- 
deutung verdunkelt  haben.  Am  häufigsten  kommen  endlich  solche 
partielle  Verschmelzungen  in  der  Form  vor,  daß  ein  einzelner  Be- 
standteil seine  Selbständigkeit  ganz  verliert  und  vollständig  zu  einem 
Ableitungssuffix  oder  -präfix  wird.  Hier  fließen  dann  ursprüngliche 
Wortzusammensetzung  und  spätere  Wortableitung  oft  ununterscheid- 
bar  zusammen,  und  indem  die  Anwendung  solcher  Elemente  zu 
Ableitungen  weitere  Kreise  zieht,  wird  deren  ursprüngliche  Bedeutung 
vollends  verflüchtigt.  Dahin  gehören  im  Deutschen  unsere  zahl- 
reichen Wortbildungen  auf  -heit^  hd,  heit^  agot.  haichis  'Art  und 
Weise',  wie  Schönheit^  Klugheit^  Tapferkeit  usw.,  ferner  die  Präfix- 
bildungen mit  ver-  =  vor-,  er-  =  ur-,  ge-  =  ga-  (laut-  und  begrififs- 
verwandt  mit  dem  lat.  con-),  be-  =  Jimbe-  (um),  also  Wörter  wie 
verstellen,  erblicken,  Gemahl,  Begriff  u.  a.  In  solchen  partiellen 
Verschmelzungen  und  sie  begleitenden  Prozessen  der  Laut-  und  Be- 
deutungsänderung bereitet  sich  die  letzte  Stufe  dieser  Verbindungen, 
die  totale  Verschmelzung,  vor.  Bei  ihr  angelangt  ist  das  Wort 
ein  vollkommen  einheitliches  geworden  und  von  einem  Simplex 
nicht  mehr  zu  unterscheiden.  Dahin  gehören  Wörter  wie  Heirat, 
einst  ein  Kompositum  aus  ahd.  Mwo,  hiwa  (Gatte,  Gattin)  und  rat, 
welches  letztere  in  einem  an  den  Begriff  des  'zusammenlesens', 
'verbindens'  erinnernden  Sinne  sich  noch  in  Wörtern  wie  'Vorrat', 
'Hausrat'  erhalten  hat;  ferner  Leichnam  mhd.  lichname  ahd.  lihhi- 
namo  aus  ^liJihin  =  Körper  und  hämo  =  Gewand  (noch  erhalten 
in  'Hemd');  Gesinde  von  mhd.  sint  Weg,  also  urspr.  im  Sinne  von 
'Gefolgschaft'  (eines  Fürsten),  und  viele  andere. 


Theorie  der  Wortzusammensetzung  und  Wortverschmelzung.  557 


4.  Theorie  der  Wortzusammensetzung  und  Wortverschmelzung. 

Die  allgemeinen  Vorgänge  der  Wortkomposition,  wie  sie  unab- 
hängig von  besonderen,  in  der  überlieferten  Form  der  Sprache  be- 
gründeten Bedingungen  überall  wiederkehren,  lassen  sich  haupt- 
sächlich aus  zwei  Reihen  von  Tatsachen  erschließen:  erstens  aus 
den  konstanten  Bedingungen ,  die  jede  Bildung  eines  zusammen- 
gesetzten Wortes  begleiten;  und  zweitens  aus  den  psychischen 
Eigenschaften,  die  ein  Kompositum  im  Verhältnis  zu  seinen  Be- 
standteilen darbietet.  In  ersterer  Beziehung  bildet  die  Entstehung 
der  Wortzusammensetzung  nur  einen  Spezialfall  der  Wortbildung 
überhaupt.  Von  den  Neuschöpfungen  unterscheidet  sich  aber  die 
Wortzusammensetzung  in  dem  Bedeutungsinhalt  der  Wortkom- 
plikation dadurch,  daß  zunächst  nicht  ein  einziger  Begriff,  sondern 
mindestens  eine  Zweiheit  von  Begriffen  in  den  Blickpunkt  des 
Bewußtseins  tritt;  hinsichtlich  der  Lautbestandteile  darin,  daß 
nicht  ein  neues  Lautzeichen  den  Eindruck  des  Objektes  wiedergibt, 
sondern  daß  der  vorhandene  Wort  vor  rat  hierzu  verwendet  wird. 
Dabei  können  dann  die  verbundenen  Begriffe  entweder  beide  dem 
Geg-enstande? selbst  entstammen:  so  bei  dem  ersten  und  zweiten 
Typus  der  Wortbildung ;  oder  einer  derselben  kann  durch  die  Asso- 
ziation mit  einer  fernliegenden,  aber  irgendwie  ähnlichen  Vorstellung 
erzeugt  werden :  so  bei  dem  dritten  der  oben  (S.  646)  unterschiedenen 
Typen.  Unter  ihnen  steht  der  erste  Typus  vermöge  seines  unmittel- 
baren Ursprungs  aus  einer  syntaktischen  Verbindung  dem  einfachen 
Wort  näher  als  der  zweite  und  dritte.  Dies  kommt  in  der  Struktur 
des  Kompositums  darin  zum  Ausdruck,  daß  der  eine  Wortbestand- 
teil eine  für  den  Begriff  relativ  gleichgültige  Nebenvorstellung  sein 
kann,  die  dann  erst  durch  ihre  Assoziation  mit  weiteren  begleitenden 
Vorstellungen  den  Begriff  determiniert.  In  solchen  Fällen  gehört 
dann  das  eine  der  dominierenden  Merkmale  eigentlich  immer  einer 
solchen  stillschweigend  assoziierten  Vorstellung  an,  und  der  be- 
treffende Bestandteil  des  Kompositums  hat  nur  die  Funktion  einer 
Assoziationshilfe  zur  Erweckung  dieser  Vorstellung.  So  ist  in  dem 
franz.  pourboire  die  Vorstellung  des  Geldstücks,  die  zu  den  Be- 
griffsbestandteilen   gehört,    in   der  Präposition  poiir  durch    eine    nur 

Wundt,  Völkerpsychologie  I,   i.     2.  Aufl.  42 


5c 8  Die  Wortbildung. 


andeutend  vorhandene  Hinweisung-  auf  die  Handlung  des  Gebens 
ersetzt.  In  dem  Ausdruck  -»un  vivc-la-joie<-^  für  einen  immer  ver- 
gnügten Menschen  genügt  der  Artikel,  um  der  ganzen  Phrase  die 
Beziehung  auf  eine  Person  mitzuteilen  usw.  ^). 

Dem  gegenüber  bieten  nun  die  Verbindungen  des  zweiten 
Typus  insofern  die  einfachsten  Verhältnisse  dar,  als  sich  hier  die 
bei  der  Bildung  des  zusammengesetzten  Wortes  stattfindenden 
Assoziationen  ganz  innerhalb  der  unmittelbar  gegebenen 
Wahrnehmungsinhalte  bewegen.  Sieht  jemand  einen  Strauch, 
der  nach  einem  vorherrschenden  Merkmal  bereits  den  Namen  Dorn 
führt,  und  bemerkt  er  außerdem,  daß  dieser  Strauch  weiße  Blüten 
trägt,  so  verbinden  sich  durch  eine  direkte  Wahrnehmungsassoziation 
die  beiden  Merkmale  in  dem  neuen  Namen  Weißdorn.  Oder  sieht 
jemand  einen  Baum  und  erkennt  dessen  Früchte  als  Äpfel,  so 
bildet  er  unmittelbar  aus  beiden  Teilvorstellungen  den  Namen 
Apfelbaum .,  usw.  Dagegen  gestalten  sich  bei  dem  dritten  Typus 
die  Verhältnisse  wiederum  durch  hinzutretende  assoziative  Bedin- 
gungen verwickelter.  Nur  schließen  sich  hier  die  Hilfsassoziationen 
nicht  erst  an  einen  gegebenen  Bestandteil  des  Kompositums  an, 
sondern  sie  gehen  der  Bildung  des  letzteren  voraus.  Ist  die  Hilfs- 
assoziation im  ersten  Fall  eine  Berührungsassoziation,  durch  welche 
Vorstellungen  geweckt  werden,  die  innerhalb  der  gleichen  Gesamt- 
vorstellung liegen,  selbst  aber  unbenannt  bleiben,  so  ist  sie  im 
zweiten  Fall  eine  im  allgemeinen  aus  gleichen  und  sich  berührenden 
Elementen  zusammengesetzte  Erinnerungsassoziation.  Indem  durch 
diese  ein  in  eine  ganz  andere  Gesamtvorstellung  gehörender  Begriff 
reproduziert  wird,  geht  nun  der  letztere  zusammen  mit  der  ihm 
zugehörenden  Lautvorstellung  in  das  Kompositum  ein.  So  kann 
ein  Weib  durch  sein  Aussehen  oder  durch  sein  Betragen  an  männ- 
liche Eigenschaften  erinnern,  und  die  Wirkung  dieser  Assoziation 
kann  in  dem  Wort  Manmveib  ihren  Ausdruck  finden.  Eine  Mutter, 
die  ihre  Kinder  mißhandelt,  erinnert  an  die  dem  Raben  nachgesagte 
Vernachlässigung  seiner  Jungen,  und  wiederum  entsteht  durch  die 
Assoziation   des    gegenwärtigen   Eindrucks   mit  jenem   Erinnerungs- 


^)  Darmesteter  verzeichnet  zahlreiche  diesem  ähnliche  Beispiele,  vgl.  besonders 
p.  206,  210. 


Theorie  der  Wortzusammensetzung  und  Wortverschmelzung.  65g 

bilde  das  Wort  Rabenmutter ^  usw.  ^).  Auf  diese  Weise  können 
durch  die  Erinnerungsassoziationen  Komposita  entstehen ,  die  ganz 
verschiedenartige  Gegenstände,  falls  sie  eben  nur  in  irgendeinem 
Merkmal  eine  Beziehung  darbieten,  in  Verbindung  bringen.  Hier 
ist  daher  speziell  für  die  Komposita  der  Ort  des  Ursprungs  so- 
genannter »Metaphern  der  Sprache«,  bei  denen  man  sich  freilich 
stets  gegenwärtig  halten  muß,  daß  sie  unmittelbar  in  der  Regel 
nicht  als  Metaphern,  sondern  als  wirkliche  Ähnlichkeiten  empfun- 
den werden^).  Abgesehen  von  den  abweichenden  Assoziations- 
motiven, die  so  die  drei  typischen  Formen  der  Wortzusammen- 
setzung auszeichnen,  gestaltet  sich  nun  aber  jener  weitere  Verlauf 
der  Vorgänge ,  bei  dem  die  gebildete  Verbindung  die  einzelnen, 
oben  unterschiedenen  Stufen  der  Agglutination,  der  partiellen 
und  der  totalen  Verschmelzung  durchläuft ,  im  wesentlichen 
in  übereinstimmender  Weise.  Wenden  wir  die  früher  (S.  559)  ge- 
brauchten symbolischen  Bezeichnungen  für  die  Wortkomplikationen 
im  allgemeinen  auch  auf  den  speziellen  Fall  der  Wortkomposition 
an,  so  besteht  von  vornherein  die  Eigentümlichkeit  dieser  in  der 
Wirksamkeit  zweier  Vorstellungen  i\  und  v^^  die  entweder  von 
vornherein  zu  einer  einzigen  Vorstellung  C  gehören  (2.  Typus), 
oder  durch  ansfereffte  Hilfsassoziationen  in  verschiedener  Weise  in 
dieselbe  aufgenommen  werden  (i.  und  3.  Typus).  Mit  v^  und  v^ 
komplizieren  sich  sodann  die  ihnen  assoziierten  Wortgebilde  n^ 
und  n^ ;  daher  die  gesamte  Wortkomplikation  des  Kompositums, 
wenn  wir  von  den  Elementen  m  und  0,  die  hier  keine  wesentliche 
Rolle  spielen,  abstrahieren,  ausgedrückt  werden  kann  durch  die 
symbolische  Formel: 

Der  Inhalt  dieser  Komplikation  erfährt  dann  stetige  Veränderungen, 
indem  zunächst  v^  v^  gegenüber  C  zurücktritt,  während  sich  gleich- 
zeitig ;/j  «2  fester  verbinden,  so  daß  die  Komplexion  [n ^  ;/J  C 
übrigbleibt.  Davon  führt  ein  letzter  Schritt  zu  einer  Verschmel- 
zung der  Wortgebilde  n^   und  11^  selbst,  so  daß  der  Endpunkt  der 


1)  Vgl.  dazu  auch  die  oben  S.  647  angeführten  Beispiele. 

2)  Vgl.  in  Kap.  VIII,  Nr.  V  die  allgemeinen  Bemerkungen  über  die  Metaphern 
der  Sprache. 

42* 


56o  Die  Wortbildung. 


ganzen  Entwicklung  in  einem  Produkt  n  C  besteht,  d.  h.  in  einem 
Wort,  das  ganz  und  gar  den  psychologischen  Charakter  eines 
Simplex  angenommen  hat.  Nennen  wir  diesen  Vorgang,  um  die 
Rolle  anzudeuten,  die  bei  ihm  der  die  Einzelvorstellungen  in  ein 
Ganzes  zusammenfassenden  Apperzeption  zukommt,  eine  apper- 
zeptive  Synthese,  so  bezeichnen  demnach  Assoziation, 
Agglutination  und  Verschmelzung  die  drei  Stufen  dieses 
apperzeptiven  Prozesses.  Dabei  macht  sich  nun  zugleich  eine  for- 
male Gesetzmäßigkeit  geltend,  durch  die  sich  dieser  Vorgang  wesent- 
lich von  den  bloßen  Assoziationsvorgängen  unterscheidet.  Diese 
Gesetzmäßigkeit  besteht  darin,  daß  jedes  Produkt  der  Agglutination 
als  ein  zweigliedriges  Ganzes  erscheint.  Dies  bewährt  sich 
auch  da  noch ,  wo  drei-  oder  mehrgliedrige  Komposita  gebildet 
werden,  indem  sich  solche  stets  als  zweigliedrige  Verbindungen 
höherer  Stufe  darstellen,  in  denen  zuerst  zwei  Teile  a  und  b  an- 
einander gebunden  sind,  dann  an  diese  zusammen  ein  drittes  Glied 
c  oder  eine  Verbindung  zweier  weiterer  Glieder  c  d  usw.,  also  nach 
dem  Schema: 

[a  b  c)     oder    [a  b  c  d)     oder     [a  b  c  d)     usw. 

So  in  Verbindungen  wie  Großvaterstuld^  ReidisgericJitssciiatspräsidcnt^ 
Stadtverordnctc7isitziingssaal  u.  dgl.  Es  gibt  schlechthin  keine 
Wortzusammensetzung,  die  sich  diesem  formalen  Gesetz  apper- 
zeptiver  Vorstellungsverbindungen  entzieht.  Selbst  die  kompli- 
zierten und  künstlichen  Wortgebilde  der  chemischen  Terminologie 
ordnen  sich  ihm  unter.  Mag  man  sich  auch  im  Räume  die  chemi- 
schen Moleküle  nach  drei  Dimensionen  zusammengefügt  vorstellen, 
die  Sprache  und  das  Denken,  die  in  der  einen  Dimension  der 
Zeit  die  Teile  des  Wortes  verbinden,  können  eine  solche  Zusammen- 
fügung immer  nur  in  einer  einzigen  fortschreitenden  Richtung  er- 
zeugen; und  das  Wort  kann  nur  dadurch  ein  Ganzes  bilden,  daß 
jeder  Teil  mit  jedem  andern  verbunden  ist,  was  eben  durch  jene 
Gliederung  erreicht  wird.  Hierin  zeigt  aber  das  Kompositum  die 
nämliche  Abhängigkeit  von  den  Bedingungen  der  zusammenhän- 
genden Rede  und  infolgedessen  die  nämliche  Gesetzmäßigkeit  der 
Struktur ,    die    wir    als    bestimmend   für  den  Aufbau  des  Satzes 


Verhältnis  der  ursprünglichen  zu  den  sekundären  Wortbildungen.  56  j 

kennen  lernen  werden.  Es  bewährt  so  in  seiner  synthetischen 
Struktur  die  nämliche  Beziehung  zum  Ganzen  des  Satzes,  die  sich 
in  seiner  analytischen  Entstehungsweise  aus  diesem  zu  erkennen  gab. 


VII.  Ursprüngliche  Wortbildung. 

I.   Verhältnis  der  ursprünglichen  zu  den  sekundären 
Wortbildungen. 

Ursprüngliche  Wortbildung  und  Neuschöpfung  von  Wörtern  sind 
wesentlich  verschiedene  und  in  mancher  Beziehung  einander  ent- 
gegengesetzte Vorgänge.  Die  Neuschöpfung  gehört  der  Gegenwart 
oder  einer  nahen  Vergangenheit  an;  die  ursprüngliche  Wortbildung 
ist  der  erste  überhaupt  auffindbare  Anfang  des  Wortes  in  den 
unserer  Beobachtung  gegebenen  Sprachen  und  Sprachfamilien.  Die 
Neubildung  steht  also  unter  dem  Einfluß  einer  bereits  ausge- 
bildeten Sprache,  und  es  sind  überdies  stets  besondere,  wegen  ihrer 
eigenartigen  Beschaffenheit  in  der  Regel  leicht  nachweisbare  Motive, 
die  zu  ihr  geführt  haben.  Die  Bedingungen  der  ursprünglichen 
Wortbildungen  sind  uns  dagegen  vollkommen  dunkel:  ob  diese  aus 
den  Trümmern  anderer  vor  ihr  dagewesener  Sprachformen,  ob  sie 
ganz  oder  teilweise  aus  der  Mischung  verschiedener  Idiome  ent- 
standen, ob  sie  völlige  Neuschöpfungen  waren,  alles  dies  ist  uns 
unbekannt.  Und  auch  wenn  wir  mehr  von  der  Urgeschichte  der 
Wörter  wüßten,  würde  es  schwerlich  ausreichen,  um  darauf  be- 
gründete Vermutungen  über  die  psychischen  Motive  jener  im  An- 
fang der  Sprachgeschichte  liegenden  Vorgänge  zu  gründen.  Dies 
ist  zugleich  der  Punkt,  in  welchem  sich  die  ursprüngliche  Wort- 
bildung von  der  Wortbildung  durch  Zusammensetzung  unterscheidet. 
Da  diese  überall  in  der  Komposition  bereits  vorhandener  Wörter 
besteht,  so  sind  im  allgemeinen  in  den  sprachlichen  Erscheinungen 
selbst  schon  zureichende  Hinweise  auf  ihre  psychischen  Bedin- 
gungen enthalten;  und  da  überdies  die  Bildung  solcher  Formen 
durchweg  einer  späteren  Zeit  angehört,  so  sind  auch  die  äußeren 
kulturhistorischen  Momente,  die  sie  veranlaßt  haben,  leichter  zu  er- 
gründen. Nur  die  Lautwiederholungen  machen  davon  eine  Aus- 
nahme,  insofern   sie  vielfach  schon  dem  Gebiet  der  ursprünglichen 


502  Die  Wortbildung. 


Wortbildung  zugehören.  Hier  ist  aber  wiederum  der  Vorgang  selbst 
so  offenkundig ,  und  auch  die  Motive ,  die  bei  ihm  wirksam  sein 
können,  sind  von  so  einfacher  und  allgemeingültiger  Art,  daß  dies 
eben  als  ein  Fall  betrachtet  werden  kann ,  wo  sich  uns  das  Ge- 
heimnis ursprünglicher  Wortbildung  wegen  der  seltenen  Einfachheit 
der  Form  wie  der  Bedingungen  des  Vorgangs  ausnahmsweise  deut- 
lich enthüllt. 

In  allen  andern  Fällen  scheinen  bei  |der  ursprünglichen  Wort- 
bildung zwei  wesentlich  verschiedene,  bald  ineinander  eingreifende, 
bald  getrennt  voneinander  stattfindende  Prozesse  beteiligt  gewesen 
zu  sein,  die  aber  beide  bereits  die  Existenz  bedeutsamer  Lautkom- 
plexe voraussetzen.  Der  eine  besteht  in  einer  den  ältesten  Sprach- 
formen bereits  angehörenden  Wortzusammensetzung,  die  in 
ihrer  Bildungsweise  im  wesentlichen  der  noch  in  der  heutigen 
Sprache  vor  sich  gehenden  Bildung  der  Komposita  entsprach.  Der 
zweite,  wenigstens  in  seinen  ausgeprägteren  Formen  auf  engere 
Sprachgebiete  beschränkte,  besteht  in  Klangvariationen  eines 
in  bestimmter  Bedeutung  gebrauchten  Lautgebildes  mit  der  Wirkung 
einer  entsprechenden  Variation  der  Bedeutung.  Diese  zweite  Form 
nähert  sich  in  ihrer  unmittelbaren  sinnlichen  Bedeutsamkeit  einiger- 
maßen der  Lautwiederholung  und  den  sonstigen  onomatopoetischen 
Bildungen.  Hierher  gehören  die  früher  als  Beispiele  solcher  Erschei- 
nungen erwähnten  Klang-variationen  des  semitischen  Verbums,  sowie 
die  davon  wesentlich  wieder  abweichenden,  besonders  in  den  mono- 
syllabischen Sprachen  Ostasiens  vorkommenden  Abstufungen  der 
Tonhöhe  oder  des  sogenannten  »Tonakzentes« ,  die  möglicherweise 
aus  einer  weitgehenden,  namentlich  die  sinnmodifizierenden  Elemente 
der  Wörter  ergreifenden  Lautverschmelzung  hervorgegangen  sind'). 
Von  beiden  Formen  ist  die  Wortkomposition  jedenfalls  die  weitaus 
allgemeinere ;  vielleicht  ist  sie  auch  die  ältere.  Doch  über  die  Vor- 
gänge der  ursprünglichen  Wortkomposition  ist  es  nur  selten  mög- 
lich mit  zureichender  Wahrscheinlichkeit  Rechenschaft  zu  geben. 
Mag  es  auch  ziemlich  sicher  sein,  daß  Wörter  wie  rid-iq^iL,  öidcof.ii 
dereinst  Komposita  aus  dem  Verbalstamm  und   einem   Pronominal- 

I)  L.Ewald,  Grammatik  der  Tai  oder  Siamesischen  Sprache,  i88l,  S.  20  ff. 
Vgl.  oben  Kap.  IV,  S.  486,  und  hinsichtlich  der  Klangvariationen  des  Semitischen 
Kap.  in,  S.  349  f. 


Verhältnis  der  ursprünglichen  zu  den  sekundären  Wortbildungen.  66  ^ 

Clement  f.ii  gewesen  sind,  und  daß  dieses  Element  mit  den  selb- 
ständigen Pronominalformen  der  ersten  Person  i^iov,  f.ioi,  f.t€  zu- 
sammenhängt, so  führt  doch  selbst  in  Sprachen  von  so  großem,  eine 
ursprünglichere  Stufe  der  Wortbildung  verratendem  Formenreichtum 
wie  dem  Sanskrit  und  dem  Griechischen  der  Versuch  einer  analogen 
Analyse  der  sonstigen  Wortformen  auf  das  Gebiet  unsicherer  Hypo- 
thesen, die  natürlich  nicht  zu  Grundlagen  psychologischer  Folge- 
rungen genommen  werden  dürfen.  Daß  in  Wörtern  wie  Ivoifxi, 
/.voaif-ii,  IvaoiuL  usw.  der  an  gleicher  Stelle  wiederkehrende  /-Laut 
eine  konstante  Beziehung  zu  dem  in  diesen  Formen  ruhenden 
Begriff  des  Wunsches  hat,  ist  ja  zweifellos.  Doch  welchen  Ursprung 
dieses  z  haben  mag,  das  wird  vielleicht  niemals  mehr  mit  Sicherheit 
zu  ermitteln  sein.  Jedenfalls  aber  geht  diese  Frage  als  solche  nicht 
die  Psychologie  an,  sondern  {die  Sprachgeschichte;  und  erst  wenn 
die  letztere  zu  einem  hinreichend  sicheren  Resultat  gelangt  wäre, 
würde  es  auch  an  der  Zeit  sein,  die  psychischen  Prozesse  zu  unter- 
suchen, die  bei  der  Bildung  eines  solchen  Wortes  wirksam  waren. 
Hier  trennen  sich  demnach,  wie  überall,  wo  es  sich  um  Probleme 
der  Urgeschichte  handelt,  die  psychologischen  und  die  historischen 
Aufgaben;  und  nahezu  verhält  es  sich  so,  daß  die  Probleme  des 
Psychologen  da  beginnen,  wo  die  des  Historikers  aufhören.  Diese 
Lage  würde  vielleicht  schlimmer  sein,  als  sie  wirklich  ist,  wenn 
nicht  die  Psychologie  ihrerseits,  allen  zum  Teil  nach  entgegen- 
gesetzter Richtung  gehenden  Tendenzen  der  Sprachgeschichte  gegen- 
über, auch  hier  den  Gesichtspunkt  zur  Geltung  bringen  müßte,  daß 
die  Grundeigenschaften  der  menschlichen  Natur  die  gleichen  ge- 
blieben sind,  solange  der  Mensch  überhaupt  im  sprachfähigen  Zu- 
stand existiert  hat.  Sowenig  die  Gesetze  der  Blutbildung  und 
Blutbewegung  im  heutigen  menschlichen  Körper  andere  sind  als  in 
dem  des  Urmenschen,  gerade  so  wenig  werden  auch  die  allgemeinen 
Gesetze  der  Bildung  der  Vorstellungen,  der  Gefühle  und  Willens- 
vorgänge andere  geworden  sein,  seit  solche  psychische  Inhalte  über- 
haupt durch  Sprachlaute  oder  Gebärden  geäußert  wurden.  Nicht 
als  ob  in  der  Beschaffenheit  der  Vorgänge  und  [in  der  Art  sie  zu 
äußern  nicht  gewaltige  Umwandlungen  vor  sich  gegangen  wären. 
Aber  diese  müssen  sich  doch  innerhalb  der  Grenzen  [bewegen,  in 
denen  dies   die   allcfemeinen   Eisfenschaften   des  Menschen   und    die 


664  ^^^  Wortbildung. 


Entwicklung,  die  das  menschliche  Bewußtsein  tatsächlich  erkennen 
läßt,  psychologisch  verständlich  machen.  Darum  ist  nie  zu  ver- 
gessen, daß  es  neben  der  unhistorischen  Anschauung  der  Auf- 
klärungszeit, die  den  Menschen  für  absolut  unveränderlich  hielt,  noch 
eine  zweite,  entgegengesetzte  Art  unhistorischer  Auffassung  gibt: 
die  der  Romantik,  die  gerade  der  Sprach v\issenschaft  aus  der  Zeit 
ihres  Ursprungs  vielfach  noch  anhaftet,  —  die  Meinung  nämlich, 
daß  der  Mensch  irgend  einmal  seine  Natur  Gänzlich  geändert  habe. 


2.    Wortbildungen  bei  der  Entstehung  neuer  Sprachen 
aus  vorangegangenen. 

Ist  es  auch  unmöglich,  über  die  inneren  und  äußeren  geschicht- 
lichen Bedingungen  Rechenschaft  zu  geben,  unter  denen  die  ur- 
sprüngliche Wortbildung  dereinst  in  den  großen  Sprachfamilien,  die 
wir  heute  unterscheiden,  und  in  denen  sich  ein  gemeinsamer  Wort- 
schatz nachweisen  läßt,  erfolgt  ist,  so  gibt  es  doch  ein  Gebiet  von 
Erscheinungen,  das  gewissermaßen  ein  mittleres  genannt  werden 
kann  zwischen  jenen  beiden  Vorgängen,  die  entgegengesetzten  Perio- 
den der  Sprachgeschichte  angehören:  zwischen  der  ursprünglichen 
Wortbildung  und  der  gegenwärtigen  Neuschöpfung.  Das  sind  die 
Wortbildungen,  die  in  die  Periode  der  Entstehung  einer  solchen 
Sprache  fallen,  die  selbst  aus  einer  vorangegangenen  die  Grundlagen 
ihres  W^ortschatzes  übernommen  hat.  Die  schlagendsten  Beispiele 
bieten  hier  die  heutigen  romanischen  Sprachen.  Ihre  Wörter 
stehen  zwischen  Neubildimgen  und  Umwandlungen  in  gewissem 
Sinne  mitteninne.  Sprachgeschichtlich  betrachtet  sind  sie  freilich 
ebensogut  lautgesetzliche  Änderungen  lateinischer  oder  teilweise  auch 
germanischer  Wörter  und  Wortverbindungen,  wie  die  neuhoch- 
deutschen Wörter,  wo  sie  nicht  neu  entstanden  oder  entlehnt  wurden, 
aus  althochdeutschen  her\'orgegangen  sind.  Aber  der  Prozeß  hat 
bei  den  romanischen  Sprachen  dadurch  sein  besonderes  Gepräge 
empfangen,  daß  sich  die  neue  Sprache  aus  Volksdialekten  entwickelte, 
die  durch  Sprachmischungen  starke  Veränderungen  erfuhren  und 
sich  längere  Zeit  ohne  literarische  Überlieferung  fortbildeten.  Nun 
ist  es  durchaus  nicht  immöglich,  daß,  wo  in  älterer  Zeit  Trennungen 
verwandter   Sprachen    stattfanden,   z.  B.    der  verschiedenen   Zweige 


Wortbildungen  bei  der  Entstehung  neuer  Sprachen  aus  vorangegangenen.     665 

der  indogermanischen  Familie,  ähnliche  Bedingungen  obgewaltet 
haben;  ja  es  bleibt  nicht  ausgeschlossen,  daß  das  Indogermanische 
selbst  dereinst  in  einer  noch  graueren  Vorzeit  auf  dieselbe  Weise 
auf  der  Grundlage  irgendwelcher  vorher  vorhandener  Sprachen  ent- 
standen sei.  Doch  von  der  Nachweisung  eines  solchen  Vorgangs 
oder  gar  von  der  Ableitung  einzelner  sprachlicher  Erscheinungen 
aus  ihm  kann  niemals  die  Rede  sein,  weil  jene  Annahme  einer  indo- 
germanischen Ursprache  selbst  die  Grenze  bezeichnet,  bis  zu  der 
äußerstenfalls  die  prähistorische  Forschung  mit  ihren  Rückschlüssen 
vordringen  kann. 

Dagegen  besteht  der  Wortschatz  der  romanischen  Sprachen,  so- 
weit er  sich  auf  das  Lateinische  zurückführen  läßt,  teils  aus  direkten 
Derivaten  lateinischer  Wörter,  die  sich  mehr  oder  minder  stark  in 
ihrem  Lautbestand  verändert  haben,  teils  aus  Wörtern,  die  sich  ety- 
mologisch als  ehemalige  Komposita  erweisen,  welche  zu  vollkommen 
einheitlichen  Bildungen  verschmolzen  sind.  Lautverändemng  und 
Wortverschmelzung  haben  also  hier  zusammengewirkt,  um  das  neue 
Wort  von  seinem  ursprünglichen  Zustande  so  weit  zu  entfernen,  daß 
es  wie  ein  vollkommen  einfaches  und  ursprüngliches  erscheint.  So  ' 
in  Wörtern  wie  franz.  prbne  von  präconium^  bcnir  von  bencdicere^ 
coiicJicr  von  collocare^  riiser  von  rccusare^  prccJier  von  prädicare,  chamn 
von  qiiisqne  unus^  ferner  in  zahlreichen  Partikeln  wie  tot  von  tot  cito 
ici  von  ecce  hic^  dans  von  de  intus  ^  selon  von  sub  longum^  ainsi 
von  acque  sic^  dont  von  de  unde^  coninie  von  qtiomodo^  or  von  ad 
hora  usw. ').  Nicht  selten  kann  so  die  mit  dem  Lautwandel  zu- 
sammenwirkende Lautverstümmelung  eine  Grenze  erreichen,  bei  der 
der  Ursprung  des  Wortes  unsicher  wird.  Namentlich  gilt  dies  in 
solchen  Fällen,  wo  die  Wortkompositionen  offenbar  syntaktische 
Verbindungen  waren,  die  sich  allmählich  durch  häufiges  Zusammen- 
treffen befestigten  und  dadurch  in  der  Volkssprache  zu  unlösbaren 
Einheiten  verschmolzen.  Dahin  gehören  die  aus  zwei  selbständigen 
Wörtern  zusammengewachsenen  Partikeln,  gelegentlich  aber  auch 
Wörter,  die  in  der  modernen  Sprache  zu  Substantiven  geworden 
sind,    wie    das   Italien,    noja^    franz.    ennui^    aus   in   odio,    das    seine 


^)  Vgl.  Diez,  Etymolog.  Wörterb.  der  roman.  Sprachen. ^  Darmesteter,  For- 
mation des  mots  composes.  Meyer-Lübke,  Grammatik  der  romanischen  Sprachen, 
I,  S.  520  ff.  und  an  andern  Stellen. 


666  Die  Wortbildunc 


charakteristische  Bedeutung  wohl  erst  in  dem  Zusammenhang  der 
Phrase  '-»est  viiJii  in  odio<'  im  Sinne  von  tacdct  me  *^es  verdrießt 
mich"*  gewonnen  hat ').  In  andern  Fällen  liegt  jedoch  der  Wort- 
bildung ein  bereits  vorhandenes  Wort  zugrunde,  das  in  seiner  Ur- 
sprungsform noch  deutlich  aus  mehreren  Wörtern  zusammengesetzt, 
in  seinem  Endprodukt  aber  zu  einer  völlig  unzerlegbaren  Worteinheit 
verschmolzen  ist.  Die  beiden  Formen  der  Entstehung  zusammen- 
gesetzter Wörter,  die  aus  den  syntaktischen  Gliedern  eines  Satzes, 
und  die  aus  der  Assoziation  mit  außerhalb  liegenden  Vorstellungen, 
welche  uns  bei  der  Neubildung  der  Komposita  begegnet  sind,  kehren 
also  auch  hier  wieder  (S.  646).  Wo  immer  aber  solche  Wörter,  die 
der  Zusammensetzung  ihren  Ursprung  verdanken,  in  der  Sprache 
zu  einheitlichen  Laut-  und  Begriffsgebilden  verschmelzen,  überall 
folgt  die  Wortkomposition  denselben  Gesetzen,  die  wir  heute  noch 
in  der  Sprache  beobachten.  Die  Glieder,  die  das  Kompositum 
bilden,  lösen  infolge  der  festeren  Verbindung,  in  die  sie  treten,  aus 
dem  Ganzen  des  Satzes  sich  ab,  um  dann  in  der  gleichen  Ver- 
bindung in  andere  syntaktische  Fügungen  einzugehen;  und  sie 
schließen  sich  daher  nach  dem  nämlichen  Gesetze  dualer  Gliederung 
aneinander,  das  die  syntaktische  Verbindung  der  Teile  des  Satzes 
selber  beherrscht. 

Hiernach  liegt  nicht  die  geringste  Wahrscheinlichkeit  vor  anzu- 
nehmen, daß  in  irgendeiner  Periode  der  Sprache  die  Wortbildung 
auf  wesentlich  anderen  Wegen  erfolgt  sei,  als  auf  denen  wir  sie 
noch  heute  vor  sich  gehen  sehen.  Dieser  Wege  gibt  es  nach 
allem  Vorangegangenen  hauptsächlich  zwei:  die  Neuschöpfung  von 
Wörtern  und  die  Verbindung  vorhandener  Wörter  zu  neuen,  immer 
fester  verschmelzenden  Worteinheiten.  Die  Neuschöpfung  wird 
durch  die  Eigenart  des  Eindrucks  in  ihrer  Abweichung  vom  Vor- 
handenen und  zugleich  durch  Assoziationen  mit  bereits  bestehenden 
Wortgebilden  im  Sinne  der  Angleichung  an  dieselben  bestimmt. 
Bei  der  Wortkomposition  ist  die  Verbindung  der  Bestandteile  im 
Satze  und  die  unter  dem  Einfluß  der  oben  geschilderten  Assoziations- 
und Apperzeptionsbedingungen  immer  fester  werdende,  durch  den 
gleichzeitigen  Laut-  und   Bedeutungswandel   begünstigte  Verschmel- 


I)  Diez  a.  a.  O.  S   224. 


Wortbildungen  bei  der  Entstehung  neuer  Sprachen  aus  vorangegangenen.     667 

zung  maßgebend.  Beide  Vorgänge  setzen  aber  bereits  vorhandene 
Wortbildungen  voraus.  Auch  die  prähistorische  Untersuchung,  die 
aus  den  Zeugnissen  der  überlieferten  Sprache  ihre  Rückschlüsse 
macht,  kann  daher  immer  nur  bis  zu  Anfangszuständen  zurückgehen, 
für  die  jene  Voraussetzung  gilt.  Die  Frage,  wie  etwa  der  Mensch 
sich  verhalten  mochte,  als  es  noch  keine  Vorbilder  gab,  nach  denen 
er  Neuschöpfungen  vornehmen,  und  keine  Wortgebilde,  aus  denen 
er  neue  Verbindungen  zusammenfügen  konnte,  gehört  deshalb  ebenso- 
wenig in  die  Sprachgeschichte,  wie  der  erste  Ursprung  des  Menschen 
in  die  allgemeine  Geschichte  der  Menschheit.  Die  psychologische 
Betrachtung  der  Sprache  kann  allerdings  dieser  Frage  nicht  ganz 
aus  dem  Weg-e  g-ehen.  Aber  auch  sie  wird  dieselbe  erst  am  Schluß 
aller  der  Untersuchungen  erheben  können,  die  ihre  eigentliche  Auf- 
gabe ausmachen,  und  die  sich  selbstverständlich  immer  nur  auf 
Tatsachen  beziehen,  die  andere,  ihnen  im  allgemeinen  gleichartige 
Tatsachen  zu  ihrer  Voraussetzung-  haben'). 


i)  Auf   das  Ursprungsproblem   wird    demnach   das  Schlußkapitel   dieses   Werkes 
(Kap.  IX)  zurückkommen. 


Druck  von  Breitkopf  &  Hiirtel  in  Leipzig. 


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