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Völkerpsychologie
Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze
Sprache, Mythus und Sitte
Wilhelm Wundt
Erster Band
Die Sprache
Zweite, umgearbeitete Auflage
Erster Teil
Mit 40 Abbildungen im Text
Leipzig
Verlag von Wilhelm Engelmann
1904
Alle Rechte, besonders das der C^bersetzung;, werden vorbehalten.
Vorwort zur ersten Auflage.
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Über Plan und Absicht des vorliegenden Werkes gibt die Ein-
leitung Rechenschaft. Ich kann mich daher an dieser Stelle
auf einige kurze Bemerkungen über mein — wenn ich mich des
Ausdrucks bedienen darf — persönliches Verhältnis zu dem Gegen-
stande beschränken. Sprache, Mythus, Sitte bilden in ihren tatsäch-
lichen Zusammenhängen zunächst den Inhalt bestimmter philolo-
gisch-historischer Arbeitsgebiete; sie nehmen aber zugleich mehr
als andere, dem weiteren Umkreis der Geschichte angehörige Stoffe
Nein direktes psychologisches Interesse in Anspruch. Dieses Ver-
hältnis gibt den genannten Gebieten das Vorrecht, zugleich Grund-
lagen der »Völkerpsychologie« zu sein. Nun könnte es scheinen,
als wenn auch der Psychologie dann am besten gedient wäre, wenn
derjenige, der sich an die völkerpsychologischen Probleme heran-
wagt, die Eigenschaften des Philologen und des Historikers mit
denen des Psychologen verbände. Aus zwei Gründen glaube ich
jedoch, daß dieser Wunsch, vorläufig wenigstens, kaum Aussicht
hat, verwirklicht zu werden. Erstens wird man bei der gegen-
wärtigen Teilung der wissenschaftlichen Arbeit schwerlich erwarten
dürfen, daß der Philologe oder Historiker die Sache in einer den
heutigen Forderungen der psychologischen Wissenschaft genügenden
Weise in Angriff nehmen werde; und vielleicht Vv^ird man ihm dies
nicht einmal verdenken können, da die Aufgaben und, was damit
unvermeidlich verbunden ist, die Gesichtspunkte, mit denen er an
die Probleme herantritt, wesentlich abweichend sind. Sodann aber
kann ich nicht umhin zu glauben, jene Arbeitsteilung, die hier
die psychologische Analyse der Erscheinungen der Psychologie
und nicht der Philologie und Geschichte zuweist, werde in einem
VI Vorwort.
gewissen Maß immer fortdauern, wenn auch, wie zu hoffen ist,
beide Gebiete in Zukunft dadurch einander näher treten mösren,
O 7
daß sich die Philologen und die Historiker mit den Betrachtungs-
weisen der wissenschaftlichen Psychologie mehr befreunden, und
daß sich die Psychologen der Bedeutung der Völkerpsychologie
als einer unentbehrlichen Erkenntnisquelle mehr bewußt werden,
als dies gegenwärtig der Fall ist. Gleichwohl wird die Völker-
psychologie als solche ein Teil der Psychologie bleiben. Denn
wenn der Philologe gewiß mit Recht geltend macht, daß nur der
mit Erfolg in die Kulturwelt des Altertums einzudringen vermag,
der die Elemente der philologischen Methode beherrscht, so wird
doch wohl auch der Psychologe daran festhalten müssen, daß man,
um die verwickelten Erscheinungen der Völkerpsychologie zu ent-
wirren, zuerst durch die exakte Analyse der elementaren Bewußt-
seinsvorgänge, wie sie die Methoden der experimentellen Psycho-
logie vermitteln, den Blick geschärft und die Fähigkeit psycho-
logisch zu denken geübt haben muß.
Wohl gibt es heute selbst noch Psychologen, die das Gebiet
ihrer Betrachtungen grundsätzlich auf diese einfacheren Aufgaben
einschränken möchten; und in der öffentlichen Meinung findet die
gleiche Anschauung gelegentlich in der bedauernden Bemerkung
ihren Ausdruck, die heutige Psychologie sei ganz und gar zur Psy-
chophysik, also zu einem Anhangsgebiet der Physiologie geworden,
und sie sei damit in den Kreis jener Disziplinen hinübergewandert,
die nur für diejenigen ein Interesse besitzen, die sie zu ihrer Spe-
zialität machen. Dies ist nach meiner tiefsten Überzeugung ein
Irrtum, einer jener Irrtümer, die daraus entstehen, daß man einen
vorübergehenden Zustand für das bleibende Wesen eines Dinges
ansieht. Daß die einfacheren Fragen der physiologischen Psycho-
logie bis zu einem gewissen Grade geklärt sein mußten, ehe sich
die wissenschaftliche Arbeit den komplizierteren völkerpsychologi-
schen Problemen zuwenden konnte, ist wohl begreiflich. In dieser
Bedingung liegt aber, wie ich meine, ebensowenig wie in der teil-
weise veränderten Beschaffenheit der Hilfsmittel eine Rechtfertigung
Vorwort. VII
dafür, der Psychologie dauernd ein Gebiet fern zu halten, das seiner
eigensten Natur nach zu ihr gehört, und das, wie man vielleicht
behaupten darf, den wichtigeren und fruchtbareren Teil ihrer Auf-
gaben in sich schließt.
Im Hinblick auf die in den obigen Bemerkungen angedeutete
Scheidung der Standpunkte des Psychologen und des Historikers
versteht es sich übrigens von selbst, daß ich mich in dem folgenden
Werk eines eigenen Urteils über streitige Fragen der Sprach-,
Mythen- und Sittengeschichte, soweit solche rein geschichtlicher
Art sind, enthalte. Nur da, wo sich die historischen Folgerungen
mit psychologischen Hypothesen verbinden oder gar, wie es wohl
zuweilen geschieht, ausschließlich in solchen bestehen, glaube ich
aus dieser Rolle eines unbeteiligten Zuschauers heraustreten zu
dürfen. Ich betrachte demgemäß die geschichtlichen und ethno-
logischen Ergebnisse auf allen hierher gehörigen Gebieten als einen
Stoff, den ich, ebenso wie das Resultat eines Experimentes, als
einen gegebenen anerkennen muß , über dessen psychologische
Natur ich mir aber wohl mit demselben Rechte, mit dem es die
Philologen und Historiker selbst tun, ein Urteil gestatten darf.
Dabei unterscheidet sich meine psychologische Betrachtung dieser
Dinge von derjenigen der Spezialforscher auf den gleichen Gebieten
natürlich dadurch, daß diesen ohne Zweifel die Tatsachen leichter
und reichlicher zu Gebote stehen, daß dagegen meine Betrachtungs-
weise nach den anderwärts, namentlich nach den innerhalb der
physiologischen Psychologie gewonnenen Ergebnissen orientiert ist,
und daß sie von dem Streben geleitet wird, auf diesem Wege so
weit als möglich die allgemeinen psychologischen Erkenntnisse zu
ergänzen und zu erweitern. Ich habe geglaubt, diesem Standpunkte
vor allem insofern Rechnung tragen zu müssen, als ich meinen Be-
trachtungen nur solche Tatsachen oder — soweit die letzteren
hypothetische Ergänzungen nie ganz entbehrlich machen — nur
solche Voraussetzungen geschichtlicher Art zugrunde legte, die als
gesichert oder durch die übereinstimmende Überzeugung der Sach-
verständigen als zureichend beglaubigt angesehen werden können.
VIII Vorwort.
Ich meinte im Zweifelsfalle lieber auf ein glücklich gewähltes Beispiel
für irgendeine psychologische Gesetzmäßigkeit verzichten, als mich
der Gefahr ungewisser linguistischer, mythologischer oder kultur-
historischer Hypothesen aussetzen zu dürfen. Sollte ich trotzdem
im einzelnen einmal fehlgegriffen haben, so wird das der sach-
kundige Leser, wie ich hoffe, mit der Schwierigkeit des Gegen-
standes entschuldigen.
Ich kann dieses Vorwort nicht schließen, ohne dankbar der Hilfe
zu gedenken, die mir zunächst für den die Sprache behandelnden
ersten Band die sprachwissenschaftliche Literatur, in der wieder die
indogermanistische und germanistische in erster Linie steht, geleistet
hat. Innerhalb der Jahre, in denen ich mich mit den Vorarbeiten
zu diesem Werke beschäftigte, hat sich mir immer mehr die Über-
zeugung aufgedrängt, daß die Sprachwissenschaft von sich aus in
wachsendem Maß einer gründlicheren Vertiefung in die psycho-
logische Seite der Sprachprobleme zugeführt werde. Dieser Um-
stand hat es gefügt, daß vielfach innerhalb der Sprachwissenschaft
selbst schon die einzelnen Tatsachengebiete einer psychologischen
Behandlung um vieles zugänglicher geworden sind, als sie es zu
der Zeit waren, da ich selbst es zum ersten Mal unternahm, mir
die Aufgaben der Völkerpsychologie zurechtzulegen. Es würde zu
weit führen, hier auch nur die wichtigsten Arbeiten zu nennen,
denen ich in dieser Beziehung verpflichtet bin. Ich will mich auf
die drei hauptsächlichsten beschränken. Zunächst verdanke ich
Hermann Pauls »Prinzipien der Sprachgeschichte« mannigfache
Anregungen. Sein Streben, überall die Analyse der sprachlichen
Vorgänge an die Erscheinungen der lebenden Sprache, und hier
wieder das Studium der generellen an das der individuellen Erschei-
nungen anzuknüpfen, kam durchaus einer von mir selbst gehegten
und auf andern Gebieten betätigten Überzeugung entgegen.
Diese Anregungen möchte ich um so rückhaltloser anerkennen,
je mehr ich sowohl in der allgemeinen psychologischen Auffas-
sung, wie infolgedessen zumeist auch in der Interpretation des ein-
zelnen andere Wege einschlagen mußte. Unter den spezielleren
Vorwort. IX
sprachwissenschaftlichen Werken gewährte mir sodann für das weite
Gebiet allgemeiner Sprachvergleichung vor allem Friedrich Müllers
»Grundriß der Sprachwissenschaft« vielfache Förderung. Gerade
die Zurückhaltung, die sich Müller auferlegt hat, indem er sich
überall auf die Zusammenstellung der für die Beurteilung einer
Sprache wesentlichen Tatsachen, der Lautsysteme, Paradigmen,
Sprachproben usw., beschränkte, macht dieses Werk vor andern,
die von vornherein die Erscheinungen nach bestimmten linguistischen
oder psychologischen Hypothesen gruppieren, für den Psychologen
wertvoll. Für das Indogermanische bin ich endlich hauptsächlich
dem »Grundriß der vergleichenden Grammatik der indogermanischen
Sprachen« von K. Brugmann und B. Delbrück für zahlreiche Be-
lehrungen verpflichtet.
Leipzig, im März igoo.
Vorwort zur zweiten Auflage.
Die zweite Auflage dieses Werkes hat weder in der Gesamt-
auffassung noch in der Anordnung des Stoffs wesentliche Ände-
rungen gegenüber der ersten aufzuweisen. Dagegen ist alles ein-
zelne noch einmal sorgfältig durchgearbeitet worden. Manches
hoffe ich durch ergänzende Ausführungen in helleres Licht gesetzt,
anderes durch Berichtigungen und Zusätze verbessert zu haben.
Zweifelhafte oder als irrig erkannte Beispiele wurden beseitigt und
womöglich durch zuverlässigere ersetzt. Im ganzen aber habe ich
auch diesmal geglaubt, mich jeweils auf wenige erläuternde Bei-
spiele beschränken zu dürfen, da es sich ja hier nicht sowohl um
die Mitteilung sprachwissenschaftlichen Materials, das den Sprach-
forschern besser und reicher zu Gebote steht als mir, und das den
Psychologen vielleicht als eine überflüssige Belastung erscheinen
würde, als vielmehr lediglich um die notwendige Exemplifikation
der an der Sprache nachgewiesenen oder wahrscheinlich gemachten
psychischen und psychophysischen Vorgänge handelt. Tiefer greifende
X Vorwort.
Umarbeitungen hat im ersten Teil namentlich das Kapitel über den
Lautwandel, im zweiten die Darstellung der Wortformen und teilweise
die des Satzes erfahren. Für viele kritische Bemerkungen und Be-
richtigungen im einzelnen bin ich den zahlreichen Besprechungen,
die dieses Werk von linguistischer Seite erfahren hat, verpflichtet.
Besonders habe ich den Schriften von B. Delbrück über »Grundfragen
der Sprachforschung« und von L. Sütterlin über »das Wesen der
sprachlichen Gebilde«, die beide aus Anlaß dieses Werkes erschienen
sind, manche Anregungen zu Verbesserungen und Umarbeitungen
entnehmen können, wofür ich diesen Forschern aufrichtig dankbar
bin. Freilich sind diese Verbesserungen, wenn sie als solche anerkannt
werden sollten, nur zu einem kleinen Teil Zugeständnisse, die ich
dem, wie mir scheint, etwas allzu einseitig historischen Standpunkt
der genannten Autoren machen durfte. In der Mehrzahl der Fälle
habe ich mich vielmehr genötigt gesehen, eben einem solchen ein-
seitigen Historismus gegenüber das Recht der psychologischen Be-
trachtung zu wahren und wenn möglich eingehender, als es vielleicht
da und dort in der ersten Auflage geschehen war, zu begründen.
Hoffentlich wird aber der billig denkende Leser nicht verkennen,
daß ich den Wert der Sprachgeschichte darum wahrlich nicht gering
achte, sondern daß ich, wo sie uns zugänglich ist, hier wie überall
im Gebiet der geistigen Vorgänge das geschichtliche Werden der Er-
scheinungen als die Grundlage ansehe, auf der sich erst die psycho-
logische Untersuchung erheben kann. Doch mit der bloßen Ge-
schichte läßt sich, wie ich glaube, ebensowenig wie mit reiner
Psychologie ein tieferes Verständnis der sprachlichen Entwicklungen
gewinnen, sondern beide müssen zu diesem Zweck zusammenwirken.
Für das Gebiet der indogermanischen Sprachgeschichte bin ich in
dieser Beziehung meinem verehrten Kollegen K. Brugmann für viele
berichtigende und ergänzende Bemerkungen zu besonderem Dank
verpflichtet.
Leipzig, im März 1904.
W. Wundt.
Inhalt.
Seite
Einleitung i
I. Aufgaben und Nachbargebiete der Völkerpsychologie. . i
n. Volksgeist und Volksseele 7
ni. Zur Entwicklungsgeschichte der Völkerpsychologie . . 18
IV. Hauptgebiete der Völkerpsychologie 30
Erstes Buch.
Die Sprache.
Erstes Kapitel. Die Ausdrucksbewegungen 37
I. Allgemeine Bedeutung der Ausdrucksbewegungen. . . 37
IL Verhältnis der Ausdrucksbewegungen zu den Gefühlen
und Affekten 43
1. Einfache Gefühlsformen 43
2. Gefühlsverlauf der Affekte 50
3. Innervation der Ausdrucksbewegungen 59
4. Sensorische Rückwirkungen der Ausdrucksbewegungen 70
III. Prinzipien der Ausdrucksbewegungen 74
1. Herbert Spencers physiologische Theorie 74
2. Darwins Prinzip der zweckmäßig assoziierten Gewohnheiten ... 78
3. Versuche einer psychologischen Theorie 85
4. Allgemeinstes psychophysisches Prinzip der Ausdrucksbewegungen 90
IV. ntensi tätsäußerungen der Affekte 91
1. Ausdrucksbewegungen starker Affekte 91
2. Beteiligung einzelner Muskelgebiete an den Intensitätssymptomen 94
3. Vasomotorische Intensitätssymptome 96
V, Qualitätsäußerungen der Affekte loo
1. Gefühle als Grundlagen der Qualitätssymptome 100
2. Mechanismus der mimischen Ausdrucksbewegungen loi
3. Mimische Symptome der Lust- und Unlustgefühle 103
4. Mimische Symptome der Spannungs- und Lösungsgefühle .... HO
5. Theorie der mimischen Ausdrucksbewegungen 112
VI. Vorstellungsäußerungen der Affekte 123
I. Verhältnis der Vorstellungsäußerangen zu den andern Affekt-
symptomen 123
XII Inhalt.
Seite
2. Hauptformen pantomimischer Bewegungen 126
3. Theorie der pantomimischen Bewegungen 128
4. Verbindungen und Übergänge zwischen verschiedenen Ausdrucks-
formen 133
Zweites Kapitel. Die Gebärdensprache 136
I. Die Entwicklungsformen der Gebärdensprache 136
1. Begriff und allgemeine Eigenschaften der Gebärdensprache ... 136
2. Gebärdensprache der Taubstummen 138
3. Gebärdensprache bei den Naturvölkern 145
4. Überlieferte Gebärdezeichen bei den europäischen Kulturvölkern . 147
5. Gebärdezeichen der Zisterziensermünche 151
II. Grundformen der Gebärden 154
1. Psychologische Klassifikation der Gebärden 154
2. Hinweisende Gebärden 157
3. Nachbildende Gebärden 161
4. Mitbezeichnende Gebärden 169
5. Symbolische Gebärden 174
III. Vieldeutigkeit und Bedeutungswandel der Gebärden . . 191
1. Unbestimmtheit der Begriffskategorien 191
2. Begriffsübertragungen und Bedeutungswandel der Gebärden ... 199
IV. Syntax der Gebärdensprache 208
1. Gebärdenfolge der Taubstummen 208
2. Gebärdenfolge der Indianer 214
3. Psychologische Ursachen der Gebärdensyntax 217
V. Psychologische Entwicklung der Gebärdensprache. . . 222
1. Ursprung der Gebärdensprache aus den Ausdrucksbewegungen . . 222
2. Die Gebärde und die Anfänge der bildenden Kunst 229
3. Gebärdensprache und Bilderschrift 233
4. Psychologischer Charakter der Gebärdensprache 242
Drittes Kapitel. Die Sprachlaute 248
I. Stimmlaute imTierreich 248
1. Stimmlaute als Ausdrucksbewegungen 248
2. Allgemeine Entwicklung der Ausdruckslaute 252
3. Tonmodulationen als Ausdrucksformen bei Tieren 255
4. Tonmodulation und Lautartikulation beim Menschen 263
II. Sprachlaute des Kindes 271
1. Stadien der Lautbildung beim Kinde 271
2. Angebliche Worterfindung des Kindes 277
3. Psychophysische Bedingungen der individuellen Sprachentwicklung 292
4. Psychologische Eigenschaften der kindlichen Sprache 298
5. Lautvertauschungen und Lautverstümmelungen in der Kindersprache 302
in. Naturlaute der Sprache und ihre Umbildungen 307
I. Primäre und sekundäre Interjektionen 307
Inhalt. Xni
Seite
2. Wortformen mit Affektbetonung: Vokativ und Imperativ .... 310
3. Naturlaute als Grundbestandteile von Wortbildungen 314
IV. Lautnachahmungen in der Sprache 317
1. Schallnachahmungen und Lautbilder 317
2. Allgemeine Bedeutung der Lautnachahmung 326
3. Lautgebärden zur Bezeichnung der Artikulationsorgane 333
4. Natürliche Lautmetaphern 336
a. Lautmetaphern in den Wörtern für Vater und Mutter .... 339
b. Lautmetaphern in Ortsadverbien und Pronominalformen. . . . 343
c. Korrespondierende Laut- und Bedeutungsvariationen bei Tätig-
keitsbegriffen 346
5. Psychologische Entstehung der Lautgebärden und Lautmetaphern 354
Viertes Kapitel. Der Lautwandel 360
I. Die Lautgesetze in der Sprachwissenschaft 360
1. Das Postulat der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze 360
2. Teleologische Hypothesen über die Ursachen der Lautänderungen 363
3. Annahme physischer und psychischer Momente der Lautentwicklung 367
4. Komplikation der Ursachen des Lautwandels 370
n. Individuelle und generelle Formen der Lautänderung . 372
1. Lautwandel und Lautwechsel 372
2. Spielraum der normalen Artikulationen 376
3. Störungen der Lautbildung 379
a. Lauterschwerungen 380
b. Lautvermengungen 382
c. Wortvermengungen 387
4. Sprachmischungen und Mischsprachen 393
5. Grundformen des generellen Lautwandels 402
m. Assoziative Kontaktwirkungen der Laute 410
1. Regressive und progressive Lautinduktion 410
2. Theorie der Kontaktwirkungen 416
a. Ästhetische, teleologische und psychologische Deutungen . . . 416
b. Psychophysische Theorie der Lautinduktion 422
IV. Assoziative Fernewirkungen der Laute 431
1. Allgemeine Formen assoziativer Fernewirkung 431
2. Grammatische Angleichungen 434
a. Innere grammatische Angleichungen 434
b. Äußere grammatische Angleichungen 435
3. Begriffliche Angleichungen 438
a. Angleichung durch Begriffsverwandtschaft 438
b. Angleichung durch Kontrast der Begriffe 440
c. Komplikationen der Angleichsvorgänge 441
4. Psychologische Theorie der assoziativen Fernewirkungen .... 443
a. Entstehung der Fernewirkungen aus elementaren Assoziationen 443
b. Psychologische Analyse der vier Hauptformen der Lautangleichung 452
5. Physiologische Einflüsse bei den Lautangleichungen 457
XIV Inhalt.
Seite
V. Laut- und Begriffsassoziationen bei Wortentlehnungen. . 459
1. Hauptformen der Wortentlehnung 459
2. Wortentlehnungen mit reiner Lautassoziation 461
3. Wortentlehnungen mit Begriffsassoziationen 464
a. Wortassimilationen mit begrifflichen Nebenwirkungen 466
b. Wortassimilationen mit Begriffsumwandlungen 469
4. Beziehungen der Wortentlehnungen zu den anderen assoziativen
Femewirkungen 471
"VI. Regulärer stetiger Lautwandel 473
1. Allgemeine Bedingungen des regulären Lautwandels 473
2. Einfluß der Naturumgebung 478
3. Mischungen und Berührungen der Völker 481
4. Einflüsse der Kultur 484
5. Tempo der Rede und Wortbetonung 488
a. Allgemeine Wirkungen der Artikulationsgeschwindigkeit. . . . 488
b. Vokalkontraktionen und Lautschwächungen 491
c. Lautänderungen der Verschlußlaute 493
d. Lautänderungen unter Einfluß des Akzentwechsels 507
6. Zur Theorie des regulären Lautwandels 511
a. Physische, psychophysische und psychische Hypothesen .... 511
b. Der reguläre Lautwandel als resultierende Wirkung der singu-
lären Lautänderungen 517
VII. Allgeraeiner Rückblick auf die Vorgänge des Lautwandels 526
Fünftes Kapitel. Die Wortbildung 530
I. Psychophysische Bedingungen der Wortbildung 530
1. Zentrale Störungen der Wortbildung 530
2. Hypothesen über die physischen Substrate der Wortbildung . . . 535
3. Unzulänglichkeit der Lokalisationshypothesen 538
4. Physiologische und pathologische Amnesie 540
5. Erscheinungen der Paraphasie 544
6. Psychophysisches Prinzip der Funktionsübung 547
7. Psychologische Deutung der zentralen Sprachstörungen 550
II. Psychologie der Wortvorstellungen 557
1. Psychische Struktur der Wortvorstellungen 557
2. Tachistoskopische Methode 564
3. Erscheinungen bei kurz dauernder Einwirkung von Wortbildern . 569
4. Das Wort als simultane Vorstellung 573
5. Psychologische Analyse der Wortassimilationen 579
6. Apperzeption des Wortes als Einzelvorstellung 582
in. Stellung des Wortes in der Sprache 583
1. Grund- und Beziehungselemente des Wortes 583
2. Wurzeln der Sprache 585
3. Unterscheidung von Sprachtypen auf Grund der Wurzeltheorie . . 587
4. Reale Bedeutung der Sprach wurzeln 592
Inhalt. XV
Seite
5. Wort und Satz 599
6. Ursachen der Wortsonderung 603
IV. Neubildungvon Wörtern 606
1. Volkstümliche Neubildungen 606
2. Gelehrte Neubildungen 612
V. Wortbildung durch Lautverdoppelung 618
1. Allgemeine Formen der Lautverdoppelung 618
2. Bedeutungsarten der Lautverdoppelung 623
a. Verdoppelung zum Ausdruck sich wiederholender Vorgänge . . 623
b. Verdoppelung bei Kollektiv- und Mehrheitsbegriffen 625
c. Verdoppelung zur Steigerung von Eigenschaftsbegriffen .... 627
d. Verdoppelung als Steigerungsform der Verbalbegriffe 628
3. Psychologisches Schema der Verdoppelungsformen 632
4. Psychologische Theorie der Verdoppelungsformen 634
VI. Wortbildung durch Zusammensetzung 642
1. Begriff und Hauptformen der Wortzusammensetzung 642
2. Sprachliche Formen der Wortzusammensetzung 648
3. Laut- und Bedeutungsänderungen der Komposita 653
4. Theorie der Wortzusammensetzung und Wortverschmelzung ... 657
VII. Ursprüngliche Wortbildung 661
1. Verhältnis der urspünglichen zu den sekundären Wortbildungen . 661
2. Wortbildungen bei der Entstehung neuer Sprachen aus voran-
gegangenen 664
Einleitung.
I. Aufgaben und Nachbargebiete der Völkerpsychologie.
Die Psychologie in der gewöhnlichen und allgemeinen Bedeutung
dieses Wortes sucht die Tatsachen der unmittelbaren Erfahrung,
wie sie das subjektive Bewußtsein uns darbietet, in ihrer Entstehung
und in ihrem wechselseitigen Zusammenhang zu erforschen. In diesem
Sinn ist sie Individualpsychologie. Sie verzichtet durchgängig
auf eine Analyse jener Erscheinungen, die aus der geistigen Wechsel-
wirkung einer Vielheit von Einzelnen hervorgehen. Eben deshalb
bedarf sie aber einer ergänzenden Betrachtung, die wir der Völker-
psychologie zuweisen. Demnach besteht die Aufgabe dieses Teil-
gebiets der Psychologie in der Untersuchung derjenigen psychi-
schen Vorgänge, die der allgemeinen Entwicklung mensch-
licher Gemeinschaften und der Entstehung gemeinsamer
geistiger Erzeugnisse von allgemeingültigem Werte zu-
grunde liegen.
Indem die Völkerpsychologie den Menschen in allen den Be-
ziehungen, die über die Grenzen des Einzeldaseins hinausreichen und
auf die geistige Wechselwirkung als ihre allgemeine Bedingung
zurückführen, zu ihrem Gegenstande nimmt, bezeichnet nun aber
freilich jener Name nur unvollständig ihren Inhalt. Der Einzelne
ist nicht bloß Mitglied einer Volksgemeinschaft. Als nächster
Kreis umschließt ihn die Familie; durch den Ort, den Geburt und
Lebensschicksale ihm anweisen, steht er inmitten noch anderer,
mannigfach sich durchkreuzender Verbände, deren jeder wieder von
der erreichten besonderen Kulturstufe mit ihren Jahrtausende alten
Errungenschaften und Erbschaften abhängt. Alles das wird durch
Wandt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. j
2 Einleitung.
den Ausdruck »Völkerpsychologie« natürlich nur unvollkommen an-
gedeutet, und es könnte darum vielleicht sinngemäßer scheinen, der
individuellen eine »soziale« Psychologie gegenüberzustellen. Doch
würde diese Bezeichnung wiederum wegen der Bedeutung, die man
dem Begriff der »Gesellschaft« innerhalb der sogenannten Gesell-
schaftswissenschaften bereits angewiesen hat, Mißverständnissen be-
gegnen können. Auch ist das Volk jedenfalls der wichtigste der
Lebenskreise, aus denen die Erzeugnisse gemeinsamen geistigen
Lebens hervorgehen. Wir werden daher den Namen »Völker-
psychologie« hier um so mehr beibehalten können, als er in
einem dem hier angewandten annähernd entsprechenden Sinne nun
einmal eingeführt ist. Allerdings pflegt man dabei, von der un-
mittelbaren Bedeutung des Wortes ausgehend, mit diesem Namen
noch einen spezielleren Begriff zu verbinden, indem darunter eine
Charakteristik der geistigen Eigentümlichkeiten der einzelnen
Rassen und Völker verstanden wird. In der Tat ist eine nach
diesem Plan ausgeführte psychische Ethnologie neben Sprach-
wissenschaft, Mythen- und Sittengeschichte eine unentbehrliche
Grundlage der Völkerpsychologie. Zugleich teilt sie aber mit diesen
historischen Hilfsgebieten die Eigenschaft, daß sie sich selbst hin-
wiederum überall auf die allgemeinen Gesetze des geistigen Zu-
sammenlebens, also auf das Forschungsgebiet, das wir hier der
Völkerpsychologie vorbehalten, angewiesen sieht. Diesem Verhältnis
läßt sich zweckmäßig wohl dadurch Ausdruck geben, daß man
jenen psychischen Teil der Ethnologie als eine spezielle Völker-
psychologie der allgemeinen gegenüberstellt, mit der sich die
folgende Betrachtung beschäftigen soll.
Ein wesentlich anderer Gesichtspunkt ist dagegen für die Ab-
grenzung der historischen Disziplinen gegenüber der Völkerpsy-
chologie maßgebend. Natürlich gehören die völkerpsychologischen
Erscheinungen, insofern sie an der allgemeinen geschichtlichen Ent-
wicklung der Menschheit teilnehmen, sämtlich auch zum Inhalt der
Geschichte. Aber während die letztere den ganzen Umfang der
physischen und geistigen Bedingungen ins Auge faßt, aus denen
diese Entwicklung entspringt, um sie danach in ihrem tatsächlichen
Verlaufe zu schildern, zergliedert die Völkerpsychologie dieselbe
lediglich mit Rücksicht auf die in ihr hervortretenden psychologischen
Aufgaben und Nachbargebiete der Völkerpsychologie.
Zusammenhänge und Gesetze. Sie verhält sich also annähernd
ähnlich zur Völkergeschichte, wie die Individualpsychologie zur
historischen Biographie. Insbesondere auf jenen Gebieten der
Geistesgeschichte, die sich, wie Sprach-, Mythen- und Sitten-
geschichte, mit dem Inhalt der Völkerpsychologie am nächsten be-
rühren, scheiden sich deshalb die Aufgaben ziemlich scharf schon
nach dem äußeren Merkmal, daß die Erscheinungen von dem
Augenblick an der Geschichte zufallen, wo sie unmittelbar durch
das persönliche Eingreifen Einzelner zustande kommen.
Darum gehört die Geschichte der geistigen Erzeugnisse in
Literatur, Kunst und Wissenschaft nicht zur Völkerpsychologie.
Denn es ist die Hauptaufgabe der Geschichte auf allen diesen
Gebieten, das Zusammenwirken der Natur- und Kulturbedingungen
sowie der psychischen Anlagen der Völker mit der persönlichen
Begabung und Betätigung Einzelner in ihrem inneren Zusammen-
hange verständlich zu machen. Insoweit bei der Lösung dieser
Aufgabe psychologische Momente von allgemeinerer Natur zur
Geltung kommen, sind es mehr solche, die der psychischen Ethno-
logie als der allgemeinen Völkerpsychologie angehören. Von den
Gebieten der allgemeinen Kulturgeschichte ist es aber besonders die
Urgeschichte, mit der sich jene berührt. Auch von ihr wird sie
jedoch durch die abweichende Richtung ihrer Interessen geschieden.
Die Urgeschichte hat ihren Blick der Geschichte zugewandt: die
Zeugnisse, die Sprache, Mythen und sonstige Volksüberlieferungen
an die Hand geben, sucht sie, ebenso wie physische und geo-
graphische Merkmale, zu verwerten, um die Geschichte über die
durch die historischen Zeugnisse gesteckten Grenzen hinaus zu er-
gänzen. Die Völkerpsychologie hat dagegen ihr Augenmerk auf die
psychologische Gesetzmäßigkeit des Zusammenlebens selber ge-
richtet. Die lokalen und nationalen Unterschiede seiner Gestaltung
sind ihr gleichgültig, insoweit sie nicht in irgendeiner Weise auf
jene Gesetzmäßigkeit Licht werfen. So kann für sie eine konkrete
Sprachform von Interesse sein, weil sich in ihr gewisse allgemein
menschliche Gesetze der Sprachentwicklung in charakteristischer
Weise äußern. Doch dies Interesse hört auf, sobald etwa eine solche
Form als Merkmal einstigen Zusammenhangs verschiedener Völker
benützt wird, ein Punkt, wo nun umgekehrt die Erscheinung für den
A Einleitung.
Geschichtsforscher ihren Hauptwert gewinnt. Dieses Verhältnis ergibt
sich eben mit Notwendigkeit daraus, daß die Völkerpsychologie nichts
anderes sein will als eine Erweiterung und Fortsetzung der Psycho-
logie auf die Phänomene gemeinsamen Lebens.
In dieser Aufgabe liegt nun aber zugleich ein Grund dafür, daß
ihre Abgrenzung gegen die historischen Nachbargebiete niemals
eine absolute sein kann. Denn der Punkt, wo die Einflüsse indi-
vidueller Willensbetätigung beginnen oder aufhören, bleibt nicht
selten unbestimmbar; vor allem aber bilden die Wechselwirkungen
zwischen den Individuen und der Gemeinschaft selbst wesentliche
Faktoren der völkerpsychologischen Entwicklungen. Dies erhellt
schon daraus, daß das geistige Leben einer Gemeinschaft schließlich
doch nur aus dem Leben der Einzelnen besteht, die ihr angehören,
und daß daher alle die geistigen Erzeugnisse, die wir auf die
Gemeinschaft als solche zurückführen, wenn sie auch ohne das
Zusammenleben und seine Wechselwirkungen nicht möglich sein
würden, doch in den individuellen Eigenschaften ihre letzte Quelle
haben. Gleichwohl gibt es zwei Merkmale, an denen das, was
wir im Leben eines Volkes ein »gemeinsames« Erzeugnis nennen,
von einer individuellen Schöpfung prinzipiell stets zu unterscheiden
ist. Das erste besteht darin, daß an jenem unbestimmt viele
Glieder einer Gemeinschaft in einer Weise mitgewirkt haben, welche
die Zurückführung auf bestimmte Individuen ausschließt. Das zweite
ist dies, daß die gemeinsamen Erzeugnisse in ihrer Entwicklung
zwar mannigfache, zumeist geschichtlich bedingte Unterschiede dar-
bieten, trotz dieser Mannigfaltigkeit aber gewisse allgemeingültige
Entwicklungsgesetze erkennen lassen; und diese sind es dann,
in deren Auffindung die Völkerpsychologie ihre letzte und wichtigste
Aufgabe sieht.
Neben Ethnologie und Geschichte liegt endlich noch ein drittes
Gebiet, das mit der Völkerpsychologie sich berührt: die Sozio-
logie. Die Frage, was die Soziologie sei, welche Stellung sie
innerhalb der sonstigen, die gesellschaftliche Existenz des Menschen
voraussetzenden Arbeitsgebiete zu übernehmen habe, ist freilich
noch eine umstrittene. Ihre Aufgabe läßt sich daher vorläufig aus
ihr selbst nicht entnehmen, da sie noch nicht oder mindestens
nicht in einer anerkannten Form existiert. So bleibt denn nichts
Aufgaben und Nachbargebiete der Völkerpsychologie. e.
anderes übrig, als umgekehrt nach den Bedürfnissen zu fragen, die
sich von bestimmten, bereits vorhandenen Wissensgebieten aus im
Sinn einer allgemeineren, deren eigene Grenzen überschreitenden
Gesellschaftswissenschaft erheben. Unter diesem Gesichtspunkt ist
nun wohl vor allen Dingen festzuhalten, daß die Soziologie, wenn
man sie nach dieser Bedürfnisfrage bemißt, keine philosophische
Wissenschaft ist, so oft auch der Versuch gemacht wurde, sie als
eine solche aufzufassen. In Wahrheit ist die philosophische Sozio-
logie von Auguste Comte und Herbert Spencer an bis auf die
neuesten ähnlichen Versuche durchaus nichts anderes als eine Ge-
schichtsphilosophie unter neuem Namen. Denn es ist ja selbst-
verständlich , daß die Geschichtsphilosophie immer zugleich eine
Philosophie der menschlichen Gesellschaft sein muß, daß sich aber
diese eben wegen des allgemeinen Zusammenhanges, in den die
philosophische Betrachtung die gesellschaftlichen Erscheinungen
bringt, stets zu einer philosophischen Beleuchtung der geschicht-
lichen Entwicklung der Menschheit erweitern wird. Ganz abseits
von einer solchen philosophischen liegt jedoch die empirische Auf-
gabe , die gesellschaftlichen Erscheinungen in ihrem gesamten Zu-
sammenhang und mit Rücksicht auf die Beziehungen, in denen sie
zueinander stehen, zu beschreiben und auf ihre Bedingungen zurück-
zuführen. Die Soziologie in diesem Sinn ist eine Zustandsschil-
derung der Gesellschaft innerhalb bestimmter zeitlicher und
räumlicher Grenzen. Sie steht einerseits mit der Geschichte, ander-
seits mit den einzelnen sozialen Wissenschaften, Rechts-, Wirt-
schafts-, Staatslehre, in enger Verbindung. Ihre Aufgaben greifen teils
in alle diese Einzelgebiete ein, teils bringt sie in der Untersuchung
der Verhältnisse der verschiedenen Faktoren des gesellschaftlichen
Lebens zueinander eine neue und eigenartige Aufgabe hinzu. Für
diese bietet vornehmlich die Statistik der Bevölkerungserscheinungen
das erforderliche Material. Von der Geschichte scheidet sich eine
solche empirische Soziologie dadurch, daß jene die ganze Aufein-
anderfolge der Zustände samt den Ereignissen, die den Wechsel der
Zustände herbeiführten, zu ihrem Objekt hat, während diese ge-
wissermaßen Querschnitte durch einzelne Stellen dieses fortan sich
verändernden organischen Ganzen zu legen sucht. Dabei kon-
zentriert sich wiederum naturgemäß das vor\valtende soziologische
6 Einleitung.
Interesse auf gewisse, auch historisch besonders bedeutsame Epo-
chen, unter denen die Zustände der Gegenwart um so mehr im
Vordergrund stehen, als für sie allein die Hilfsmittel der statistischen
Methode ausgebildet genug sind, um die Ergebnisse einer gewissen
Exaktheit nahe zu bringen^). Nun ist es klar, daß eine em-
pirische Soziologie in diesem Sinn in dem Maße, als sie von den
ihr zunächst obliegenden deskriptiven Aufgaben zu einer Interpreta-
tion der Erscheinungen fortschreiten will, nach manchen, die physische
Seite des Zusammenlebens betreffenden Richtungen mit gewissen
Teilen der Naturwissenschaft, nach andern mit der Individual- und
Völkerpsychologie in Konnex treten wird. Aber diese psychologi-
schen wie jene naturwissenschaftlichen Gebiete können dabei nur
als Hilfsdisziplinen einer solchen die gesellschaftlichen Verhältnisse
interpretierenden Soziologie gedacht werden. Dagegen ist es völlig
unfaßbar, wie etwa umgekehrt die Soziologie eine Grundlage, sei
es der Psychologie überhaupt, sei es insbesondere der Völkerpsy-
chologie werden sollte. Wenn daher behauptet worden ist, die hier
der Völkerpsychologie zugewiesene Aufgabe sei eigentlich das recht-
mäßige Eigentum einer zukünftigen Soziologie, oder diese müsse
mindestens erst gefestigt sein, ehe sich daran denken lasse, nun von
ihr aus zu einer ihr untergeordneten sozialen Psychologie zu ge-
langen, so zeigen diese Äußerungen, daß man weder von dem,
was allenfalls eine Soziologie, noch von dem, was die Völkerpsy-
chologie zu leisten hat, eine klare Vorstellung besitzt. Hinsichtlich
der Soziologie mag das angesichts der noch bestehenden Unsicher-
heit ihres Programms entschuldbar sein. Nicht so für die Völker-
psychologie, wo in den allgemein menschlichen Erzeugnissen, be-
sonders in Sprache, Mythus und Religion, Sitte und Kultur, die
^) Vgl. über diese Aufgaben der Soziologie neben und über den einzelnen Ge-
sellschaftswissenschaften, -wie Ethnologie, Bevölkerungslehre, Staatswissenschaft, die
Ausführungen in meiner Logik ~ Bd. 2, 2, S. 436 ff. Mit der Beschränkung, daß die
philosopische Soziologie gemeint sei, stimme ich ganz der These Paul Barths
zu, daß Soziologie und Geschichtsphilosophie eins und dasselbe sind (Paul Barth,
Die Philosophie der Geschichte als Soziologie, Bd. i, 1897, S. 10 ff.). Aber die
These verliert, wie ich meine, ihr Recht, wenn man den Begriff der Soziologie im
Sinne einer empirischen Gesellschaftswissenschaft auffaßt: dann gehört diese ebenso-
wenig wie die Geschichte zur Philosophie, sondern ist höchstens neben der Geschichte
als eine Grundlage der Geschichtsphilosophie anzuerkennen.
Volksgeist und Volksseele.
Probleme überall bereit liegen und schon auf Grund der allgemeinen
Ergebnisse, die uns die experimentelle Psychologie an die Hand
gibt, zu einer psychologischen Analyse und Interpretation heraus-
fordern.
II. Volksgeist und Volksseele.
Geist und Seele sind Wechselbegrifife, deren Bedeutungsentwick-
lung, wenn sie auch erst einer späteren Zeit angehört, dennoch bis
in das mythologische Denken zurückreicht. Geister, nicht Seelen,
nennt der Aberglaube noch heute die körperlos, aber gleichwohl
materiell gedachten Schatten der Verstorbenen oder jene höheren
Wesen, von denen er annimmt, sie seien nie an einen körperlichen
Leib gebunden gewesen. Die Seele gilt ihm zwar auch als ein be-
sonderes Wesen, das beim Tode den Körper verlasse; doch sobald
dies geschehe, entschwinde sie zugleich der sinnlichen Anschauung.
Wo sie in dieser bleibt, da wird sie eben zum Geiste. Darum ist
die Seele für den Volksglauben nur in ihrer Gebundenheit an den Leib
der Erfahrung zugänglich. Getrennt von ihm existiert sie nur in einer
überirdischen Welt. Die Geister dagegen sind Wesen, die ebensowohl
in der Umgebung der Lebenden, wie jenseits derselben ein selbständiges
Dasein führen.
Diese Unterscheidungen des mythologischen Denkens wirken
deutlich noch in dem uns geläufigen wissenschaftlichen Gebrauch der
Begriffe nach. Vom Geist und von geistigen Vorgängen reden wir
überall da, wo an irgendwelche Beziehungen zur körperlichen Natur
nicht gedacht, oder wo geflissentiich von ihnen abgesehen wird. Bei
der Seele und den seelischen Vorgängen sind uns dagegen stets
zugleich die Beziehungen zum physischen Leben gegenwärtig. Darum
übersetzen wir mit gutem Recht das Wort Psychologie durch »Seelen-
lehre«, während wir den Naturwissenschaften die »Geisteswissen-
schaften« gegenüberstellen. Die Psychologie kann nun unmöglich an
den Beziehungen des Seelenlebens zum körperlichen Sein vorüber-
gehen. Denn empirisch ist uns die Seele überhaupt in einem
Zusammenhang von Erfahrungen gegeben, die zu ihrem Zustande-
kommen einen physischen Organismus von gewissen Eigenschaften
8 Einleitung.
fordern. Diese Beziehung zur Naturseite der Erscheinungen gilt
zwar auch für die sämtlichen sogenannten Geisteswissenschaften.
Aber da bei ihnen doch bald mehr, bald weniger diese Naturseite
außer Betracht bleibt, so scheint es berechtigt, eine solche Rücksicht-
nahme auf physische Bedingungen und Wirkungen hier nur still-
schweigend hinzuzudenken, um die Beziehungen zu dem geistigen
Leben als das allen diesen Gebieten gemeinsame und sie von der
Naturforschung scheidende Merkmal zu betonen. Wie die Psycho-
logie überhaupt, so hat es daher auch die Völkerpsychologie, in-
sofern die für jene maßgebenden Bedingungen notwendig für sie
gleichfalls gelten, mit der Seele, nicht mit dem Geist in der diesen
unterscheidenden Bedeutung des Wortes zu tun. Nur greift sie die
besonderen Erscheinungen heraus, die an die Bedingungen des
menschlichen Zusammenlebens- gebunden sind. Sie wird daher
sinngemäß eine »Lehre von der Volksseele« zu nennen sein. Vom
»Volksgeiste« werden wir dagegen, wie es auch der Sprachgebrauch
bestätigt, dann reden können, wenn es sich um eine Charakteristik
der geistigen Eigentümlichkeiten eines bestimmten Volkes oder ver-
schiedener Völker handelt. Eine solche Untersuchung würde dem-
nach nicht der eigentlichen Völkerpsychologie, sondern einer
Charakterologie der Völker oder dem psychologischen Teil der
Ethnologie zufallen.
Nicht selten hat man freilich gegen die Berechtigung einer Völker-
psychologie Bedenken erhoben, die eben an jene Vorstellungen
anknüpfen, von denen die Unterscheidung der Begriffe Seele und
Geist ursprünglich ausgegangen ist. »Wenn wir eine Seele als
Substrat der geistigen Lebensäußerungen eines Individuums voraus-
setzen«, sagt man, »so entspricht das ebenso dem Gebundensein
dieser Lebensäußerungen an einen bestimmten physischen Körper,
wie der Unmöglichkeit, aus den Eigenschaften des letzteren die
seelischen Vorgänge abzuleiten. Wo aber soll eine Volksseele
ihren Sitz haben? So wenig es einen einzigen einheitlichen Volks-
körper gibt, ebenso undenkbar erscheint ein einheitliches Substrat
des gemeinsamen geistigen Lebens. Wie vielmehr der Volkskörper
aus nichts anderem als aus den Körpern aller einzelnen Volks-
genossen besteht, gerade so löst sich die sogenannte Volksseele ohne
Rest in die Summe der Einzelseelen auf, die diesen Volksgenossen
Volksgeist und Volksseele.
angehören. Sie ist ein Geschöpf der mythologischen Phantasie, keine
Wirklichkeit. «
Es ist jedoch augenfällig, daß diejenigen, die diese Einwände
erheben, selbst in jener mythologischen Vorstellungsweise befangen
sind, die sie hinter dem Ausdruck Volksseele verborgen wähnen.
Der Begriff »Seele« ist für sie so untrennbar an die Vorstellung
eines substantiellen, mit einem eigenen Körper ausgestatteten Wesens
geknüpft, daß ihnen jeder Wortgebrauch, der ihm diese Bedeutung
raubt, für unerlaubt gilt. Da die Völkerpsychologie nicht der ge-
eignete Ort ist, um an metaphysischen Hypothesen Kritik zu üben,
so können wir uns hier mit dem Hinweis begnügen, daß, wie wichtig
auch im metaphysischen Interesse die Frage nach der Bedeutung
des Begriffs einer substantiellen Seele sein mag, die empirische
Psychologie als solche an dieser Frage gänzlich unbeteiligt bleibt.
Denn wie man auch über die Notwendigkeit denkt, zu dem Ge-
samtinhalt dessen, was wir das seelische Leben nennen, eine
transzendente Substanz als Trägerin vorauszusetzen, gewiß ist, daß
wir es in der Erfahrung niemals mit einer solchen zu tun haben,
und daß, wo man etwa über diesen Punkt anders dachte, die
Voraussetzungen über die Seelensubstanz entweder sich als unnütze
metaphysische Ornamente erwiesen oder zu zweifelhaften, wenn
nicht direkt der Erfahrung widerstreitenden Folgerungen führten.
Für die empirische Psychologie kann die Seele nie etwas anderes
sein als der tatsächlich gegebene Zusammenhang der psychischen
Erlebnisse, nichts, was zu diesen von außen oder von innen hinzu-
kommt.
Aus allem dem folgt, daß der Begriff »Seele« keine andere
empirische Bedeutung haben kann als die, den Zusammenhang der
unmittelbaren Tatsachen unseres Bewußtseins oder, wie wir diese der
Kürze wegen nennen wollen, der »psychischen Vorgänge« selbst zu
bezeichnen. Natürlich kann auch die Völkerpsychologie den Seelen-
begriff nur in diesem empirischen Sinne gebrauchen; und es ist ein-
leuchtend, daß in ihm die »Volksseele« genau mit demselben Recht
eine reale Bedeutung besitzt, wie die individuelle Seele eine solche
für sich in Anspruch nimmt. Die geistigen Erzeugnisse, die durch
das Zusammenleben der Glieder einer Volksgemeinschaft entstehen,
sind nicht minder tatsächliche Bestandteile der Wirklichkeit wie die
1 o Einleitung.
psychischen Vorgänge innerhalb des Einzelbewußtseins. Sic sind
allerdings nichts, was jemals außerhalb individueller Seelen vor sich
gehen könnte. Aber wie nicht die psychischen Elemente im iso-
lierten Zustande, sondern ihre Verbindungen und die hieraus ent-
springenden Produkte das bilden, was wir eine Einzelseele nennen,
so besteht die Volksseele im empirischen Sinne nicht aus einer
bloßen Summe individueller Bewußtseinseinheiten, deren Kreise sich
mit einem Teil ihres Umfangs decken; sondern auch bei ihr
resultieren aus dieser Verbindung eigentümliche psychische und
psychophysische Vorgänge, die in dem Einzelbewußtsein allein
entweder gar nicht oder mindestens nicht in der Ausbildung ent-
stehen könnten, in der sie sich infolge der Wechselwirkung der
Einzelnen ent\vickeln. So ist die Volksseele ein Erzeugnis der
Einzelseelen, aus denen sie besteht: aber diese sind nicht minder
Erzeugnisse der Volksseele, an der sie teilnehmen. Es wiederholt
sich hier, was bei solchen Begriftsbildungen, die nicht bestimmte Ob-
jekte, sondern ver\vickelte Verbindungen und Beziehungen von Tat-
sachen ausdrücken, zumeist geschieht: die Begriffe erfahren je nach
den Gebieten ihrer Anwendung notwendige Modifikationen. Ahnlich
wie wir kein Bedenken tragen, den Staat einen »Organismus« zu
nennen, ohne zu übersehen, daß dem Begriff in dieser neuen Bedeu-
tung nicht alle Merkmale zukommen, die seiner ursprünglichen An-
wendung auf lebende organische Einzelwesen eigen sind, und daß
er dagegen dort Merkmale annimmt, die ihm hier fehlen, — ähn-
lich verhält es sich mit der »Volksseele«. Der individuellen Seele
gegenüber bezeichnet sie sowohl eine Erweiterung wie eine Ver-
engerung des Begriffs: eine Erweiterung, da bei dieser Übertragung
gewisse Begriffselemente, namentlich die der Einzelseele anhaftende
Beziehung auf einen physischen Einzelorganismus, verloren gehen;
eine Verengerung, indem sich aus dem Zusammenleben vieler In-
dividuen besondere Bedingungen und Eigenschaften ergeben. Hier-
her gehört namentlich die Beschränkung der völkerpsychologisch
bedeutsamen psychischen Leistungen auf bestimmte Seiten des gei-
stigen Lebens, sowie die Tatsache, daß die völkerpsychologischen
Ent^vicklungen das individuelle Leben überdauern, dabei aber doch,
da sie durchaus von den psychischen Eigenschaften der Einzelnen
getragen sind, mit dem Wechsel der Generationen eigenartige Ver-
Volksgeist und Volksseele.
änderungen erfahren, die prinzipiell jeder Vergleichbarkeit mit dem
individuellen Seelenleben entrückt sind. Besonders diese Kontinuität
psychischer Entwicklungen bei fortwährendem Untergang ihrer in-
dividuellen Träger ist es, die als ein der Volksseele spezifisch zu-
gehörendes Merkmal angesehen werden kann.
Das Verhältnis der Einzelseele zur Volksseele, wie es in allen
diesen Eigenschaften zum Ausdruck kommt, bedingt nun aber not-
wendig auch eine gewisse Beschränkung des in dem zweiten dieser
Begriffe zusammengefaßten empirischen Tatbestandes und damit
eine Begrenzung der völkerpsychologischen Aufgaben selber. Wenn
es innerhalb des Bereichs unmittelbarer Erlebnisse des Einzelbewußt-
seins schlechterdings nichts gibt, was nicht als Inhalt subjektiver Er-
fahrung zugleich Inhalt der Individualpsychologie wäre, so kann
von den psychischen Erlebnissen einer Volksgemeinschaft nicht das-
selbe gesagt werden. Der Gesamtinhalt dieser Erlebnisse umfaßt
ja auch alles das, was Einzelnen als ihr ausschließliches Eigentum
angehört, oder was, obzwar es in weitere Kreise gedrungen ist, un-
zweideutig auf einen individuellen Ursprung zurückweist. Zugleich
ist es aber wegen dieser fortwährenden Wechselwirkungen des Ein-
zelnen und der Gesamtheit unvermeidlich, daß die Grenze zwischen
dem, was dem Ganzen angehört, und dem, was Eigentum des Ein-
zelnen ist, keineswegs scharf gezogen werden kann. Ja man kann
sagen: das Ineinanderfließen beider Gebiete liegt so sehr in der
Natur des Gegenstandes, daß es fehlerhaft wäre, wollte man durch
künstliche Begriffsunterscheidungen jenes Übergangsgebiet beseitigen.
Dennoch lassen sich zwei allgemeine Kennzeichen festhalten, ein
äußeres und ein inneres, die innerhalb des eine Fülle individueller
und gemeinsamer geistiger Bewegungen umfassenden Gesamtlebens
bestimmte Tatsachen als solche genereller, andere als solche in-
dividueller Natur ausscheiden. Erstens ist es das direkt nach-
weisbare Eingreifen Einzelner mit den durch ihre individuelle
Eigenart bestimmten Willensrichtungen, das eine Reihe von Er-
scheinungen als solche erkennen läßt, die zwar auf das gemein-
same Leben Wirkungen ausüben können, aber in ihrem Ursprung
nicht der Volksseele angehören. Zweitens ist es durchgängig das
Gebiet des willkürlichen, eine bewußte Abwägung der Motive
voraussetzenden Handelns, das außerhalb der völkerpsychologischen
1 2 Einleitung.
Vorgäng-e liegt. Für diese bleiben dagegen die Gebiete der trieb-
artigen Willenshandlungen von vorwiegender Bedeutung. Daß bei
beiden Merkmalen die Grenzen vielfach unsicher sind, versteht
sich übrigens von selbst, da ja das individuelle Handeln stets und
oft unmerklich in allgemeine Wirkungen übergehen kann, und da
Trieb- und Willkürhandlungen nicht Vorgänge verschiedener Art,
sondern nur Stufen einer und derselben Willensentwicklung sind.
Ebenso ist es einleuchtend, daß beide Merkmale im Grunde nur eine
einzige Tatsache ausdrücken, die jedesmal unter einem verschiedenen
Gesichtspunkte betrachtet wird: im ersten Fall, wo der individuelle
Einfluß auf das allgemeine Leben zum Maße genommen wird, unter
dem historischen; im zweiten Fall, wo die Natur der Vorgänge
dieses Maß bestimmt, unter dem psychologischen. Diesen beiden
kann endlich als ein dritter, freilich in noch höherem Grade bloß
relativer Gesichtspunkt der ethnologische angereiht werden. Nichts
bezeichnet nämlich die Grenze, wo der Begriff des Naturvolkes dem
des Kulturvolkes Platz macht, schärfer als eben jenes Eingreifen
der Individuen mit ihrem willkürlichen Handeln. Denn dieses ist es,
durch das sich das gemeinsame Leben zu einem geschichtlichen in
der engeren Bedeutung des Wortes erhebt, indem es eine dauernde
Überlieferung v^on Generation zu Generation ermöglicht. Dagegen
herrscht bei dem Naturvolke das triebartige und instinktive Leben
vor, das aus der inneren Naturbestimmtheit und den äußeren Natur-
bedingungen mit einer Art naturgesetzlicher Notwendigkeit hervor-
geht und deshalb dem Wechsel geschichtlicher Schicksale gegen-
über relativ gleichförmig abfließt. Auch die Aufeinanderfolge ver-
schiedener Zustände hat darum hier etwas von jener Regelmäßigkeit,
welche die einfacheren seelischen Assoziations- und Triebvorgänge
im Einzelbewußtsein beherrscht']. Immerhin bringt es die nirgends
ganz fehlende Kontinuität der Entwicklungen mit sich, daß auch die
Grenze zwischen Natur und Kultur nirgends scharf zu ziehen ist,
und daß daher der »Naturzustand« eigentlich immer schon einen
primitiven Kulturzustand bedeutet. Die Frage, wo eine Kultur noch
als primitiv anzusehen sei und wo nicht, kann daher unmöglich ein
für allemal unzweideutig beantwortet werden. Auch ist ja nicht zu
A. Vierkandt, Naturvölker und Kulturvölker. 1S96, S. 7 ff.
Volksgeist und Volksseele. j ■}
vergessen, daß sich dereinst alle, selbst die höchsten Kulturvölker,
in einem Zustande primitiver Kultur befanden. Da nun Sprache,
Mythus, Sitte überall in diese Urzeit zurückreichen oder wenigstens
Überlieferungen aus ihr enthalten, so bilden beide, die Natur- und
die Kulturvölker, zusammengenommen die einander ergänzenden
Objekte der Völkerpsychologie. Lassen uns die Naturvölker am
deutlichsten noch die Ausgangspunkte der psychischen Entwick-
lungen erkennen, so bieten die Kulturvölker in dem geschichtlichen
Werden ihrer geistigen Erzeugnisse das unentbehrliche Substrat für
die Erkenntnis dieser Entwicklungen.
Für beide Aufgaben ist nun jenes Verhältnis des Einzelnen zur
Gemeinschaft, wie es die obige Definition der Begriffe Einzelseele
und Volksseele andeutet, von entscheidender Bedeutung. So wenig
auch die Gemeinschaft eines Volkes ohne die einzelnen Volksge-
nossen bestehen könnte, so ist sie darum doch nicht eine bloße
Addition und Verstärkung der Eigenschaften und Tätigkeiten, die
dem Einzelnen für sich allein schon zukommen. Vielmehr ist es
eben die Verbindung und Wechselwirkung der Individuen, welche
die Gemeinschaft als solche zu den Anlagen des Einzelnen hinzu-
bringt, und dui'ch die sie in diesem neue, dem gemeinsamen Leben
spezifisch angehörige Leistungen weckt. Dieses Medium der Ver-
bindung und Wechselwirkung ist es aber, in welchem die Völker-
psychologie ihre eigensten Aufgaben vorfindet. Wie die Annahme
einer substantiellen Volksseele ein von psychologischer Auffassung
weit abführender Irrweg ist, so ist auch der Versuch, die Er-
zeugnisse der Gemeinschaft und ihre Veränderungen ausschließlich
auf individuelle Einflüsse zurückzuführen, also die Völkerpsycho-
logie gewissermaßen zugunsten der Individualpsychologie auszu-
schalten, nicht minder undurchführbar. In der Tat kommt man auf
diesem Wege, abgesehen von gewissen singulären Grenzfällen, durch-
weg zu willkürlichen Interpretationen, hinter denen schließlich als
letzte Zuflucht der absolute Zufall steht. Dahin gehört z. B. die
noch heute in der Sprachwissenschaft weit verbreitete Annahme,
jeder generelle Laut- oder Bedeutungswandel eines Wortes sei auf
irgendeine einmalige individuelle und okkasionelle Abweichung zu-
rückzuführen. Während zahlreiche andere individuelle Abweichungen
wieder verloren gingen, sei irgendeine, weil sie einer bestehenden
I ^ Einleirang.
Neigung entgegenkam, usuell geworden V> Diese mitwirkende Nei-
gung selbst gilt dabei im allgemeinen als eine von dem individuellen
Ausgangspunkt der Veränderung gänzlich unabhängige Anlage: sie,
wird zuweilen in dem Wohlgefallen am Neuen, besonders aber in
dem der menschlichen Gattimg eigenen Nachahmungstrieb gesehen.
Da nun die ursprünglichen individuellen Abweichungen, namentlich
soweit sie dem Gebiet der Lautänderungen angehören, rein zufälliger
Art sein können und sich wegen ihrer absolut unberechenbaren
Entstehvmgsweise jeder Erforschung ihrer Bedingungen entziehen.
so geht diese Theorie vom Übergang okkasioneller in usuelle Er-
scheinungen offenbar der Frage nach den Ursachen der Erschei-
nungen überhaupt aus dem Wege, oder sie weist statt der Antwort
auf das ^soziologische Gesetz < der Nachahmung hin, nach vv'elchem
kein einer Gesellschaft angehörendes Individuum irgend etwas Auf-
fallendes oder vom Gewohnten Abweichendes tun könne, ohne daß
seine Genossen dem suggestiven Einfluß unterliegen, den eine solche
Handlung ausübt. In dieser Nachahmungstheorie ist dann im eigent-
lichsten Sinne der Zufall zum Schöpfer der sozialen Erscheinungen,
also schließlich der Gesellschaft selber gemacht, die sich doch nur
aus allen jenen Erscheinungen zusammensetzt. »Die Gesellschaft* —
so resümiert daher folgerichtig G. Tarde seine auf dieser Voraus-
setzung aufgebauten Überlegimgen — >ist die Nachahmung, und
die Nachahmung ist eine Art somnambulischer Wirkung« ^ ,.
Nun spielt zwar die Nachahmung gewiß in vielen Fallen eine
mitwirkende Rolle, aber gerade bei den tiefer greifenden und allge-
meineren Verändenmgen des gemeinsamen Lebens und seiner Er-
zeugnisse kommt ihr schwerlich jemals die Hauptrolle zu. Vielmehr
erweisen sich diese Veränderungen überall, wo wir imstande sind
ihren Bedingungen nachzugehen, und sie erweisen sich auch dann,
wenn ims die letzten imd entscheidenden Ursachen noch unbekannt
bleiben, regelmäßig als solche, die nicht von einem Individuum imd
nicht einmal von einer bestimmt begrenzten Zahl von Individuen
^ H. PaoL Prinzipien der Sprachgescliiclite 3, S. 68. Ähnlich Delbrück. Grund-
fragen der Sprachforschimg 1901. S. 98 ff. Vgl. dzza meine Schrift: Sprachgeschichte
und Sprachpsychologie. S. 59 ff.
^, >La societe c est 1 Imitation, et 1 Imitation c'est une espece de somnambnlisme«
(Tarde, Les lois de l'imitatiön ^, 1895, pag. 95 .
Volks^eist und Volksseele.
ausgehen können, sondern auf Einflüssen beruhen müssen, die ent-
weder die sämtlichen ]\Iitglieder einer Gemeinschaft oder mindestens
die überwiegende Masse derselben treffen. Dabei mögen dann im-
merhin die einen mehr, die andern weniger diesen Einflüssen unter-
li^en, und es mag überdies, nachdem erst die allgemeine Richtimg
eingeschlagen ist, die aus dem Zusammenleben entspringende und
zum Teil auf dem Trieb zur Nachahmung beruhende Ausgleichung
indiNndueller Unterschiede nachträglich mit^\irken. Nirgends verrat sich
aber bei allem dem die primäre Natur der generelien Einflüsse
deutlicher als auf dem Gebiet der Sprache. Wenn lateinisch t\--V in
italienisch otto oder im Deutschen brumben in brumvicn überging,
und diese Beispiele in eine fast unübersehbare Menge analoger Er-
scheinungen sich einreihen, so spricht nicht die geringste \\'ahr-
scheinlichkeit dafür, daß irgendwo imd irgend\^"ann zufallig einmal
einem Einzelnen oder mehreren Einzelnen diese Abweichung be-
gegnet und dann erst von andern ebenso zufällig wiederholt oder
nachgeahmt und so endlich usuell geworden sei. Da sich xielmehr
beobachten läßt, daß ein solcher an den Kontakt der Laute gebun-
dener Wandel leicht von selbst eintritt, namentlich wenn man von
einer langsameren zu einer schnelleren Sprechweise übergeht, und
da dieser letztere Übergang aller \\"ahrscheinliclikeit nach stetig und
allgemein bei den ^litgliedem einer Sprachgemeinschaft erfolgt sein
wird, so liegt durchaus kein Grund zu der Annahme vor, daß nicht
auch die Wirkung dieser allgemeinen Ursache eine gemeinsame ge-
wesen sei. Natürlich kömien ja hierbei Zwischenstadien existieren, wo
sich die neue Sprechweise erst unvollkommen durchgesetzt hatte.
Aber auch da wird die Abweichung von der älteren doch weder
eine üidividuelle noch eine okkasionelle genannt werden können: das
erstere nicht, weil alle Individuen den gleiclien abändernden Kräften
unter^\orfen sind und ihnen daher voraussichtlich auch ziemlich gleich-
förmig folgen werden; das letztere nicht, weil ein solches Z%nschen-
stadium ent\veder darin besteht, daß die geläufige durchschnittliche
Lautform zwischen der alten und der neu sich bildenden ungetahr
die Mitte hält, oder darin, daß der stets vorhandene Spielraum
der individuellen Artikulationen größer als zuvor ist. In beiden
Fällen ist aber der Zustand ein genereller und wird daher auch sofort
wieder einen usuellen Charakter gewimien. Sobald man alloremeine,
1 6 Einleitung.
das heißt auf die Gesamtheit einwirkende Ursachen annimmt, so
wird demnach die Voraussetzung des individuellen Ausgangspunktes
ebenso wie die des zufälligen Ursprungs hinfällig. Offenbar müssen
wir nun die nämlichen Gesichtspunkte auch dann anwenden, wenn
nicht, wie in jenen leicht zu durchschauenden Fällen einer unmittel-
baren Kontaktwirkung der Laute, die generelle Natur der wirkenden
Ursachen ohne weiteres erkennbar sein sollte, sobald nur die Erschei-
nungen selbst genereller Art sind. Dann weist eben die Beschaffen-
heit der Wirkungen auch auf eine entsprechende der Ursachen hin
und schließt daher eine bloß okkasionelle und individuelle Ent-
stehung aus. Wenn z, B. in den germanischen Sprachen allgemein
der im Vorgermanischen als sogenannte Tenuis vorhandene Ge-
räuschlaut in eine Spirans übergegangen ist [p in /, t in engl, th^
k in ch oder /z), so muß dieser Wandel irgend einmal in urger-
manischer Zeit eingetreten sein. Es würde aber allen Regeln der
Wahrscheinlichkeit ins Gesicht schlagen, wollte man annehmen,
diese Veränderungen, mit denen noch eine Reihe anderer, die man
mit ihnen unter dem Begriff der gemeingermanischen Lautverschie-
bungen zusammenfaßt, seien zuerst nur okkasionell, oder sie seien
gar nur individuell entstanden, um sich dann nach dem Ausdruck
Tardes durch eine »somnambulische« Wirkung weiter auszubreiten.
Ein solcher Ursprung könnte doch immer nur für eine einzelne
Lautänderung angenommen werden. Die Gesamtheit der Lautver-
schiebungen würde dann also durch eine Fülle solcher alleinstehender
okkasioneller Abweichungen zustande gekommen sein, die schließlich
sämtlich durch den merkwürdigsten aller Zufälle wieder in vollkom-
mener Harmonie miteinander entstanden wären. Da erscheint es
denn doch nicht nur einfacher, sondern geradezu zwingend geboten,
zu den allgemeinen Wirkungen auch allgemeine und gleichförmige
Ursachen vorauszusetzen. Nicht anders verhält es sich mit der
großen Mehrzahl der Veränderungen, die der begriffliche Inhalt
der Wörter erfährt, namentlich wenn auch dies in der Form lang-
samer Verschiebungen geschieht, oder mit solchen, die in den
Wortformen und im syntaktischen Aufbau der Sprache eintreten.
Natürlich schließt das nicht aus, daß, je mehr bei einzelnen dieser
Erscheinungen die Einflüsse der Kunst und der wissenschaftlichen
Literatur einwirken, nun auch wirklich einmal ein individueller und
Volksgeist und Volksseele. i y
bis ZU einem gewissen Grade sogar okkasioneller Anstoß weiter
greifende Veränderungen hervorbringen kann. Wir werden solche
Fälle singulärer Ursachen zu generell werdenden Veränderungen
speziell beim Bedeutungswandel der Wörter genugsam kennen lernen^).
Je deutlicher aber diese Erscheinungen von Anfang an Merkmale
an sich tragen, die sie von den einer allgemeineren Gesetzmäßig-
keit folgenden Vorgängen scheiden, um so mehr ist es geboten, da,
wo es sich wirklich einmal um bloß individuelle Wirkungen handelt,
diese nun auch so klar wie nur immer möglich den von Anfang
an generellen Vorgängen gegenüberzustellen.
Was von der Sprache, das gilt genau ebenso von allen andern
Formen gemeinsamen Lebens. Mag es sein, daß in Mythus und
primitiver Kunst, in Religion und Sitte da und dort verhältnis-
mäßig frühe schon individuelle Einflüsse stärker hervortreten, die
Übereinstimmungen, die alle diese Entwicklungen darbieten, weisen
nicht minder auf generelle Bedingungen hin, die erst in ihren letzten
Ausläufern teilweise in individuelle Einflüsse ausmünden. Die Quelle,
aus der hier, ebenso wie bei der Sprache, der Fehler jener indivi-
dualisierenden und daher jede allgemeine Gesetzmäßigkeit schließlich
auf einen ursprünglichen Zufall zurückführenden Betrachtungsweise
entspringt, kann nicht zweifelhaft sein. Sie geht auf jenen in der
heutigen Wissenschaft immer noch fortwirkenden Individualismus der
Aufklärungszeit zurück, dem das Individuum als der Schöpfer aller
Erzeugnisse des menschlichen Geistes galt. Wohl hatte schon die
Romantik diese in der Idee eines ersten Erfinders kulminierende An-
schauung zu Fall gebracht. Aber sie selbst hatte den Ursprung der
gemeinsamen geistigen Erzeugnisse geflissentlich in ein metaphy-
sisch-mythologisches Dunkel gehüllt. Als nun in den aus der ro-
mantischen Bewegung entsprungenen historischen Wissenschaften
allmählich eine positivistische Strömung die Überhand gewann, da
stellte sich dann von selbst eine Art Kompromiß zwischen Aufklä-
rung und Romantik heraus. Wo jene eine planmäßige Erfindung,
diese ein ursprüngliches Wunder gesehen hatte, da machte man nun
den Zufall zum Schöpfer und den Mechanismus der Gewöhnung
und Nachahmung zum Vollender der Dinge. Zufällig soll hier
') Vgl. Tl. n, Kap. 8, V.
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl.
1 8 Einleitung.
einmal jemand ein Wort falsch ausgesprochen, dort ein anderer eine
irrtümliche Vorstellung mit einem solchen verbunden haben, — die
Genossen machen das nach, und ein neues Lautgesetz oder ein
wichtiger Begriffswandel ist in die Wege geleitet. In griechischer
Vorzeit geschah es, wie Max Müller erzählt, daß jemand die ähnlich
klingenden Wörter für die Morgenröte und den Lorbeer (Daphne)
verwechselte. Damit habe er der Vorstellung den Ursprung ge-
geben, daß dem Apollo, dem einstigen Sonnengott, der Lorbeer
heilig sei'). Nun glaube ich zwar nicht, daß diese Ansicht über die
individuelle und zufällige Entstehung neuer geistiger Werte von der
Mehrzahl der Sprachforscher, Mythologen und Kulturhistoriker gerade
in solch extremer Form geteilt wird. Doch die Grundanschauung,
aus der jene Theorien erwachsen sind, ist heute noch weit ver-
breitet. Wäre sie richtig, so würde eine Völkerpsychologie als eine
irgendwie selbständig abzugrenzende Wissenschaft offenbar kein
Existenzrecht besitzen. Da aber jene Anschauung falsch ist, da
vielmehr jede Gemeinschaft, obgleich sie keine neuen psychischen
Elemente zu den Bewußtseinsinhalten ihrer Mitglieder hinzufügt,
doch mit den Bedingungen der Verbindung und Wechselwirkung
derselben neue geistige Schöpfungen erzeugt, so hat in diesen und
in der Nachweisung ihrer Beziehungen zu den schon im Einzel-
bewußtsein wirksamen psychischen Kräften die Völkerpsychologie
ihre große selbständige Aufgabe.
III. Zur Entwicklungsgeschichte der Völkerpsychologie.
Schon die allgemeine Psychologie kann nicht ganz an der Tat-
sache vorübergehen, daß das Bewußtsein des Einzelnen unter dem
Einflüsse seiner geistigen Umgebung steht. Überlieferte Vorstellun-
gen, die Sprache und die in ihr enthaltenen Formen des Denkens,
endlich die tief greifenden Wirkungen der Erziehung und Bildung
sind Vorbedingungen jeder subjektiven Erfahrung. In vielen Be-
ziehungen kann darum der Inhalt der Individualpsychologie erst von
der Völkerpsychologie aus unserem vollen Verständnisse zugänglich
I) Max Müller, Essays, Bd. 2^, 1881, S. 83 ff.
Zur Entwicklungsgeschichte der Völkerpsychologie. ig
werden. Gleichwohl bleibt diese im ganzen das speziellere, von
jener abhängige Gebiet. Denn die Erscheinungen, mit denen sie
sich beschäftigt, müssen schließlich doch aus den allgemeinen
Gesetzen des geistigen Lebens erklärt werden, die schon in dem
Einzelbewußtsein auf jeder Stufe seiner Entwicklung wirksam sind;
und unmöglich kann durch eine Vereinigung von Menschen ein
geistiges Erzeugnis entstehen, zu dem nicht in den Einzelnen die
Anlagen vorhanden wären. Läßt sich demnach die Völkerpsycho-
logie mit einem gewissen Recht eine angewandte Psychologie
nennen, so ist übrigens der Ausdruck »angewandt« hier in einem
andern Sinne zu verstehen, als in dem man etwa von einer ange-
wandten Physik und Chemie oder auch von der Pädagogik als einer
angewandten Psychologie redet. Dies liegt schon darin ausgespro-
chen, daß die Völkerpsychologie von den allgemeinen psychologi-
schen Erfahrungen zu keinerlei praktischen Zwecken Gebrauch macht,
sondern daß sie, ebensogut wie die Individualpsychologie, eine rein
theoretische Wissenschaft ist. Der Ursprung und die Entwicklung
der Sprache, die Bildung mythologischer und religiöser Vorstellungen,
die Entstehung von Sitten und sittlichen Gefühlen — die Behand-
lung dieser und verwandter Probleme dient unmittelbar nur den Inter-
essen der Psychologie selbst und der mit ihr zusammenhängenden
theoretischen Geisteswissenschaften. Von solchem Gesichtspunkt
aus besteht daher die Völkerpsychologie nicht sowohl in einer An-
wendung als in einer Ausdehnung der psychologischen Unter-
suchung auf die soziale Gemeinschaft. Diese Ausdehnung auf
Erscheinungen, bei deren Entstehung neben den subjektiven Eigen-
schaften des menschlichen Bewußtseins noch die besonderen Be-
dingungen des gemeinsamen Lebens in Betracht kommen, bringt
es zugleich mit sich, daß die Völkerpsychologie bestimmte, ihr
ausschließlich angehörende Gebiete psychischer Tatsachen zu er-
forschen hat, Gebiete, die von der allgemeinen Psychologie bei
ihrer gewöhnlichen Begrenzung ausgeschlossen bleiben.
Von zwei verschiedenen Richtungen her hat daher auch der
Gedanke der Völkerpsychologie in der neueren Wissenschaft Wurzel
gefaßt. Zuerst wurde innerhalb einzelner Geisteswissenschaften
das Bedürfnis nach einer psychologischen Grundlage, die den eigen-
tümlichen Erscheinungen geistiger Wechselwirkung in Gesellschaft
20 Einleitung.
und Geschichte gerecht werde, immer mehr fühlbar. Dazu gesellte
sich dann in der Psychologie selbst das Streben, objektive Hilfs-
mittel zu schaffen, mittels deren man der Unsicherheit und Viel-
deutigkeit der reinen Selbstbeobachtung zu entgehen suchte.
Unter den einzelnen Disziplinen, in denen sich jenes psycholo-
gische Bedürfnis regte, standen Sprachwissenschaft und Mythologie
in erster Linie. Beide hatten sich aus dem allgemeineren Umkreis
philologischer Studien abgesondert. Indem sie aber dabei den
Charakter allgemeiner oder »vergleichender« Wissenschaften an-
nahmen, mußte sich ihnen von selbst die Erkenntnis aufdrängen,
daß in Sprachen- und Mythenentwicklung neben den besonderen
geschichtlichen Bedingungen, die überall die konkrete Gestaltung
der Erscheinungen bestimmen, allgemeine psychische Kräfte wirk-
sam seien.
Hat unter diesen Gebieten wohl am meisten die Sprachwissen-
schaft eine Anlehnung an die Psychologie gesucht, so fand freilich
gerade die Psychologie der Sprache ein gewisses Hindernis darin,
daß ihre Aufgaben vielfach mit den Zielen verwechselt wurden, die
seit langer Zeit die Sprachphilosophie sich gestellt hatte. Mögen
aber auch in dieser, vom platonischen Kratylos an bis auf Wilhelm
von Humboldts berühmte Einleitung »über die Verschiedenheit des
menschlichen Sprachbaues« und andere neuere Werke ähnlicher
Richtung, gelegentlich psychologische Überlegungen enthalten sein,
so ist doch die vorherrschende Tendenz solcher Arbeiten eine
metaphysische, und demgemäß steht ihnen das eine Problem
des Ursprungs der Sprache überall im Vordergrund. Das Verhält-
nis zur Sprachpsychologie wird hier genugsam schon durch den
Umstand gekennzeichnet, daß die psychologische Untersuchung eine
Menge von Aufgaben auch dann noch vorfände, wenn sie auf jenes
Ursprungsproblem gänzlich verzichten wollte, daß aber dieses vom
Standpunkte psychologischer Betrachtung aus jedenfalls erst nach
der Erledigung jener konkreten Aufgaben die Aussicht auf eine
erfolgreiche Lösung bietet.
Da nun die Sprachwissenschaft an der metaphysischen Sprach-
philosophie ebensowenig wie an den herrschenden Richtungen der
Psychologie eine nennenswerte Hilfe fand, so war es begreiflich,
daß sie zumeist sich auf jene Kunst psychologischer Interpretation
Zur Entwicklungsgeschichte der Völkerpsychologie. 21
verließ, die man nirgends zu lernen braucht, weil sie von jeder-
mann bei der Beurteilung praktischer Lebensverhältnisse fortwährend
geübt wird: auf die Kunst der Vulgärpsychologie. Mit diesem
Namen darf man wohl jene Mischung von wirklichen Beobachtun-
gen, Überlebnissen älterer Theorien und populären Vorurteilen be-
zeichnen, mit der sich die Vertreter einzelner Wissenschaften zu
behelfen pflegen, wo sie einer psychologischen Interpretation nicht
entgehen können. Wenn diese Aushilfe vornehmlich in den »Geistes-
wissenschaften« tiefe Wurzeln gefaßt hat, so liegt das wohl vor
allem in dem eigentümlichen Charakter der Vulgärpsychologie be-
gründet. Denn dieser besteht im wesentlichen darin, daß irgend-
welche Erscheinungen des individuellen, gesellschaftlichen oder ge-
schichtlichen Lebens auf solche intellektuelle Überlegungen und
Zweckmäßigkeitserwägungen zurückgeführt werden, die den Beob-
achter, falls er die Erscheinungen mit Plan und Absicht herbeige-
führt hätte, möglicherweise bestimmt haben könnten. Alle Vulgär-
psychologie besteht also kurz gesagt in der Hinübertragung
einer subjektiven Reflexion über die Dinge in die Dinge
selbst. Hat sich z. B. in einer Sprache ein Wort in zwei verschie-
dene Wörter gespalten, so deutet man dies als ein Streben nach
Erzeugung bedeutsamer Unterschiede. Sind dagegen wichtige Unter-
schiede durch Lautverluste geschwunden, so erklärt man das um-
gekehrt aus der Tendenz, sich das Sprechen so bequem wie möglich
zu machen. Nach den meisten Ausführungen über Bedeutungswandel
müßte man annehmen, eine redende Gemeinschaft sei fortwährend
bemüht, die logischen Kategorien der Über-, Unter-, Nebenordnung
usw. auf die Worte der Sprache anzuwenden; denn man scheint
der Meinung zu sein, mit der Zurückführung auf derartige Begriffs-
verhältnisse seien die psychologischen Vorgänge als solche erklärt,
oder es bedürfe doch, wenn ein Begriffsverhältnis gefunden sei,
einer weiteren Erklärung nicht mehr. Nicht anders steht es in der
Mythologie. Bald soll die ursprüngliche Mythenbildung eine aus
dem Streben nach Naturerklärung hervorgegangene phantastische
Naturphilosophie, also eine Art primitiver Naturwissenschaft sein;
bald soll sie auf zufälligen Mißverständnissen und Begriffsverwechs-
lungen beruhen. Für die Deutung gewisser frühester Formen der
Eheschließung zieht man gelegentlich Motive herbei, die dem Natur-
2 2 Einleitung.
menschen einen Grad der Fürsorge für die Zukunft seines Geschlech-
tes • zutrauen, von dem sich die ungeheuere Mehrzahl der Kultur-
menschen nichts träumen läßt. Im Prinzip stimmt diese psycho-
logische Interpretation mit der teleologischen Naturerklärung des
18. Jahrhunderts vollkommen überein. Nur pflegte die letztere die
Motive des Geschehens einem vernünftigen Urheber der Dinge zu-
zuschreiben, während die Vulgärpsychologie dieselben den jeweils
handelnden Menschen selbst aufbürdet. Ob aber solche Motive
wirklich nachweisbar, ja ob sie unter den gegebenen Bedingungen
möglich sind, danach wird nicht gefragt. Wenn also das Bestreben
aller wahren Psychologie dahin gerichtet sein muß, die Tatsachen
so zu erfassen, wie sie unabhängig von unserer subjektiven Beur-
teilung beschaffen sind, so geht umgekehrt die Vulgärpsychologie
darauf aus, über die Wirklichkeit ein Netz subjektiver und willkür-
licher logischer Reflexionen zu breiten. In dieser allgemeinen Ten-
denz befindet sie sich zugleich in Übereinstimmung mit einer aus
der Scholastik überkommenen, bis auf unsere .Tage herabreichen-
den intellektualistischen Strömung der Philosophie und der aus ihr
hervorgegangenen Reflexionspsychologie. Denn auch diese betrach-
tet es nicht als ihre Aufgabe, festzustellen, was die psychischen
Vorgänge wirklich sind, und wie sie tatsächlich zusammenhängen,
sondern auseinanderzusetzen, was nach Maßgabe irgendwelcher logi-
scher oder philosophischer Voraussetzungen der reflektierende Psy-
chologe von ihnen denkt.
Dies führt uns auf das zweite Motiv für die Entstehung der
Völkerpsychologie, dessen oben gedacht wurde. Die Psychologie
selbst bedarf nicht minder dringend des völkerpsychologischen Ma-
terials, das gewisse Geisteswissenschaften ihr bieten, wie diese der
psychologischen Grundlagen; und in dem Augenblick, wo die
Psychologie den Quellen nachgeht, die ihr aus den einzelnen Be-
reichen des geistigen Lebens zufließen, wird das, was hinwiederum
sie aus der allgemeinen Betrachtung dieses Lebens der Würdigung
des Einzelnen entgegenbringt, nicht mehr unbeachtet bleiben. Denn
in Einem kann es doch der feinste praktische Takt und die
reichste psychologische Lebenserfahrung mit der wissenschaftlichen
Psychologie nicht aufnehmen: in der Fähigkeit, die bei der Analyse
der einfacheren Bewußtseinsvorgänge gewonnenen Gesichtspunkte
Zur Entwicklungsgeschichte der Völkerpsychologie. 23
für das Verständnis der verwickelten Erscheinungen des gemeinsamen
Lebens zu verwerten. Der Historiker, der Sprachforscher, der My-
thologe, sie operieren, solange sie jener Analyse fremd gegenüber-
stehen, bestenfalls mit komplexen Begriffen. Erst wenn es gelungen
ist, die Brücke zu schlagen, die von dem Einzelbewußtsein zu den
Erzeugnissen der Gemeinschaft hinüberführt, besteht aber auch die
Aussicht, den Weg wieder rückwärts zu finden und die völkerpsy-
chologischen Ergebnisse fruchtbar zu machen für die Untersuchung
jener Gebilde des Einzelbewußtseins, die aus diesem allein nicht
begriffen werden können: sei es, weil sie in zureichend vollständigen
Entwicklungsformen überhaupt nur als Produkte des Völkerbewußt-
seins vorkommen, wie die Gebilde der Phantasietätigkeit, oder weil
das Einzelbewußtsein selbst schon mit fertig überlieferten, aus der
geistigen Wechselwirkung hervorgegangenen Formen arbeitet, wie
bei den in ihrer spezifischen Gestaltung an die Sprache gebundenen
Bildungen des logischen Denkens.
Von den verdienten Forschern, die der Völkerpsychologie ihren
Namen gegeben und zum erstenmal ein bestimmtes Programm
für sie entworfen haben, von Steinthal und Lazarus, ist, so um-
fassend, ja vielleicht allzu umfassend auch dieses Programm war,
gerade jener Gesichtspunkt kaum zureichend gewürdigt worden,
daß gewisse Geisteswissenschaften nicht bloß selbst der psychologi-
schen Analyse und Interpretation bedürfen, sondern ihrerseits unent-
behrliche, bisher vernachlässigte Hilfsgebiete der Psychologie sind ^).
Dieser bei einem ersten Versuch gewiß entschuldbare Mangel ist
aber sichtlich durch die psychologischen Grundanschauungen be-
dingt, von denen jene Forscher ausgingen; und deshalb ist er zu-
gleich bezeichnend für die eigentümlichen Hemmnisse, die sich dem
neuen Gebiet von seiten der herrschenden Richtungen der Psycho-
logie entgegenstellten. Jene Grundanschauungen waren die der
Psychologie Herbarts mit ihrem an den metaphysischen Begriff der
einfachen Seele und an die Hypothese der Vorstellungsmechanik
^) Lazarus und Steinthal, Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissen-
schaft, I, 1860: Einleitende Gedanken über Völkerpsychologie, S. i — 73. Vgl.
dazu meinen Aufsatz über Ziele und Wege der Völkerpsychologie, Phil. Stud.
IV, S. I ff., sowie Steinthals Gegenbemerkungen, Zeitschr. für Völkerpsych. XVII
S. 233 ff.
24 Einleitung.
gebundenen einseitigen Individualismus und Intellektualismus. Daß
eine so geartete Psychologie von Haus aus den Fragen der Völker-
psychologie hilflos gegenübersteht, ja zu ihnen eigentlich gar kein
Verhältnis hat, dafür liefern Herbarts eigene gelegentliche Aus-
sprüche über diese Fragen die deutlichsten Belege^). Mochten nun
auch die Völkerpsychologen der Herbartschen Schule in dieser Be-
ziehung den von dem Meister vertretenen Ansichten im einzelnen
nicht überall beipflichten, im Prinzip blieb doch das Verhältnis der
Individual- zur Völkerpsychologie das der begründenden Wissenschaft
zu ihren Anwendungen. Die subjektive Beobachtung und als Er-
gänzung allenfalls noch die Psychologie des Kindes sollten das
Erfahrungsmaterial liefern, aus dem durch Abstraktion die Grund-
gesetze einer allgemeinen » psychischen Mechanik « zu gewinnen
seien, und diese sollte dann von der Völkerpsychologie zur Deutung
der verschiedenen Erscheinungen geschichtlichen Lebens verwendet
werden^]. Gegen eine solche Auffassung mochte der von hervor-
ragenden Sprachforschern erhobene Einwand vielleicht nicht ganz
unzutreffend sein, das neue Gebiet sei überhaupt nicht Psycho-
logie, sondern eben nur Anwendung der Psychologie auf die ver-
schiedenen Bestandteile der Geistesgeschichte , also allenfalls eine
historische »Prinzipienlehre« auf psychologischer Grundlage^). Je
mehr man die Psychologie als eine fertig gegebene, ganz und gar
auf die subjektive Selbstbeobachtung gegründete »Norm Wissenschaft«
betrachtet, deren Gesetze in irgendwelchen allgemeingültigen For-
I) Belehrend ist hier F. Misteiis Zusammenstellung der Aussprüche Herbarts
über die Sprache, unter denen als der merkwürdigste der hervorgehoben werden
mag, daß die Befähigung des Menschen zur Sprache nur in den besonderen Eigen-
schaften seines Kehlkopfes begründet sei, wie denn überhaupt der Unterschied
zwischen Mensch und Tier nach Herbart nicht auf der an sich überall gleich be-
schaffenen absolut einfachen Seele, sondern auf den Unterschieden der physischen
Organisation beruhe! (Misteli, Zeitschr. f. Völkerpsychologie, XII, S. 407 ff.) Mit
Recht hebt übrigens schon Misteli hervor, daß sich Steinthals Ansichten überall,
wo es sich um konkrete völkerpsychologische Probleme handelt, weit von denen.
Herbarts entfernen.
~) Steinthal, Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft, I, 1871
bes. S. 91 ff., 290 ff.
3) Herrn. Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte, ' 1883, 3 1898, S. 6 ff. Zu
dessen Auffassung der Sprachwissenschaft als einer rein geschichtlichen Disziplin
vgl. Ottmar Dittrich, Grundzüge der Sprachpsychologie, Bd. i, 1903, S. 3 ff., und
Zeitschr. f. roman. Philologie, Bd. 23, 1899, S. 538 ff.
Zur Entwicklungsgeschichte der Völkerpsychologie. 2^
mein einer Vorstellungsmechanik enthalten seien, um so weniger
bleibt außerhalb dieser Individualpsychologie noch Raum für eine
auch nur relativ selbständige psychologische Forschung. Mochten
die Völkerpsychologen immerhin die eigenartige Natur der »Volks-
geister« betonen und darauf hinweisen, daß die in den geschicht-
lichen Entwicklungen hervortretenden Volkscharaktere keineswegs
bloß als Summen individueller Eigenschaften betrachtet werden
könnten, so wurden dadurch doch die prinzipiellen Einwände nicht
beseitigt. Denn jener Begriff des Volksgeistes, auf den man sich
hier berief, verblieb ganz innerhalb der allgemeinen Sphäre histori-
scher Betrachtungen, in der er längst zu einem Bestand geschichts-
philosophischer Spekulationen geworden war"). Auch dies lag aber
im Grunde schon in der individualistischen Richtung der Herbart-
schen Psychologie. Denn blieb gleich für diese der Begriff einer
Volksseele seiner eigentlichen oder substantiellen Bedeutung nach
unvollziehbar, so legte doch die »Mechanik der Vorstellungen«, die
für die wirkliche Interpretation der seelischen Erfahrung an die
Stelle jenes transzendenten Begriffs trat, den Gedanken einer Über-
tragung auf die Wechselbeziehungen der Individuen innerhalb einer
Gemeinschaft nahe genug. Hier hatte die Analogie um so mehr
freies Feld, da die Herbartsche Vorstellungsmechanik selbst eigent-
lich als eine abstrakte Theorie der Wirkungen und Gegenwirkun-
gen irgendwelcher einander anziehender oder abstoßender intensiver
Größen überhaupt betrachtet werden konnte, Ob man unter diesen
Größen Vorstellungen des individuellen Bewußtseins oder auf einer
höheren Stufe die mit solchem Bewußtsein ausgestatteten Individuen
verstand, blieb für die Theorie an sich gleichgültig. In diesem Sinne
hatte Herbart selbst schon in seinen »Bruchstücken zur Statik und
Mechanik des Staats« das Spiel der gesellschaftlichen Kräfte er-
örtert^). Demnach wurden hier die »Volksgeister« vollständig zu
Ebenbildern der Einzelgeister, mit dem einzigen Unterschied, daß
sie sich aus komplexeren Einheiten zusammensetzten. Dadurch
mußte aber gerade der eigenartige Charakter der Erscheinungen des
gemeinsamen Lebens, der aus einer bloßen Analogie mit dem
') Vgl. Lazarus, Leben der Seele, 2 I, S. 335 ff.
2) Herbart, Psychologie als Wissenschaft, 2. Teil, Einleitung. Werke, heraus-
gegeben von Hartenstein, VI. S. 31 ff.
26 Einleitung.
individuellen Seelenleben niemals begriffen werden kann, völlig ver-
schwinden. Um so mehr forderte dieser durch die Projektion des
individuellen Geistes ins Große entstandene Volksgeist dazu heraus,
vor allem den Wandel der politischen Geschichte, wie es in der
Tat bei Herbart geschah, als die dem individuellen Leben analogen
Schicksale des Volksgeistes zu betrachten. Damit bewegte man sich
aber wieder ganz in den Bahnen der alten Geschichtsphilosophie.
Sichtlich ist das Programm der Völkerpsychologie, das Steinthal
und Lazarus entwarfen, zunächst unter dem Eindruck dieser Herbart-
schen Analogien entstanden. Immerhin machte sich aber auch das
Bedürfnis nach psychologischem Verständnis des Einzelnen, besonders
bei den von der Sprachwissenschaft herüberkommenden Vertretern
jenes Programms, geltend. Das neue Gebiet selbst zerfiel dadurch
eigentlich wieder in zwei Gebiete: in eine Anwendung individual-
psychologischer Gesetze auf die Erzeugnisse des gesellschaftlichen
Lebens; und in eine geschichtsphilosophische Beleuchtung der ver-
schiedenen Volksgeister und ihrer Betätigungen in der Geschichte.
Nach beiden Richtungen blieb die Stellung der Völkerpsychologie
eine fragwürdige. War es dort zweifelhaft, ob die Anwendung der
Psychologie auf bestimmte Probleme der geschichtlichen Entwicklung
nicht den historischen Einzelwissenschaften selbst zuzuweisen sei, so
war hier die Geltendmachung des psychologischen Gesichtspunktes
zwar berechtigt, aber man hielt dabei gleichwohl an der näm-
lichen Aufgabe fest, die sich auch bisher die Geschichtsphilosophie
gestellt hatte. Um so mehr muß anerkannt werden, daß der Ver-
such der Durchführung dieses allgemeinen Programms, wie er
durch die einzelnen Arbeiten Steinthals und der sich ihm an-
schließenden Forscher über sprachliche und mythologische Probleme
gemacht wurde, ganz von selbst den Gesichtskreis veränderte, den
jenes unter dem Einflüsse Herbartscher Begriffe entstandene Programm
eröffnet hatte. Erwiesen sich auf der einen Seite fast überall, wo
die Erbschaft der bisherigen Geschichtsphilosophie übernommen
wurde, die Probleme für eine völkerpsychologische Betrachtung
wegen der Ungeheuern Bedeutung individueller und äußerer Einflüsse
wenig ergiebig, so schieden sich auf der andern aus dem Umfang
der Geisteswissenschaften solche, die durch die Allgemeingültigkeit
ihrer Entwicklung der Gewinnung gesetzmäßiger psychologischer
Zur Entwicklungsgeschichte der Völkerpsychologie. 2 7
Beziehungen günstiger sind, von selbst als diejenigen aus, auf die
sich das psychologische Interesse konzentrierte. Dadurch mußte
aber auch mehr und mehr offenbar werden, daß die allgemeine
Psychologie hier mit der Anwendung von Gesichtspunkten, die der
Analyse des individuellen Bewußtseins entnommen sind, nicht aus-
reicht, sondern daß sie in weit höherem Grad aus der Fülle völker-
psychologischer Erscheinungen für sich selbst neue Aufschlüsse ge-
winnt. So hat hier, wie so oft, der Versuch einer Lösung der Aufgabe
zu einem großen Teile selbst erst die angemessene Feststellung ihres
Inhaltes herbeigeführt.
In diesem Sinn ist nun aber die neuere psychologische Forschung
noch von einer zweiten Richtung her auf völkerpsychologische Hilfs-
quellen hingewiesen worden. Denn wie weit auch die Meinungen
in der heutigen Psychologie auseinandergehen, in methodologischer
Hinsicht ist es ihr vorherrschender Charakterzug, daß sie Hilfsmittel
zu gewinnen strebt, welche die planlose, von zufälligen Einflüssen
und philosophischen Vorurteilen abhängige Selbstbeobachtung durch
Anwendung exakter Methoden und objektiver Kriterien der Beob-
achtung verbessern oder beseitigen sollen. Das erste dieser Hilfs-
mittel besteht in der Ersetzung der sogenannten »reinen« Selbst-
beobachtung durch die experimentelle Selbstbeobachtung. So
wenig wir die Vorgänge in der äußeren Natur in ihrem Verlaufe
sicher beobachten, in ihrer Zusammensetzung und ihren wechsel-
seitigen Beziehungen exakt analysieren können, ohne sie im Experi-
ment genau bestimmbaren Bedingungen und Veränderungen zu
unterwerfen oder ohne mindestens Beobachtungshilfsmittel anzu-
wenden, die der experimentellen Technik entnommen sind, —
gerade so wenig, ja im Grunde wegen der viel geringeren Stabilität
der Bewußtseinsvorgänge noch viel weniger ist es möglich, auf dem
Wege der bloßen, durch keinerlei planmäßige Einwirkungen unter-
stützten Beobachtung des eigenen Bewußtseins andere als ganz ober-
flächliche und trügerische Aufschlüsse über Verlauf und Zusammen-
hang der psychischen Vorgänge zu gewinnen.
Die experimentelle oder, wie sie wegen der notwendigen An-
wendung physiologischer Hilfsmittel zuweilen auch genannt wird, die
physiologische Psychologie ist aber der Natur der Sache nach
Individualpsychologie. Das einzige dem Experiment zugäng-
28 Einleitung.
liehe psychologische Objekt bleibt das Einzelbewußtsein. Zugleich
ist die experimentelle Methode durch die Notwendigkeit, die typischen
Verlaufsformen des psychischen Geschehens unter verhältnismäßig
einfachen Bedingungen zu beobachten, im wesentlichen auf die
Analyse einfacher Bewußtseinsvorgänge angewiesen. Da die
geistigen Gemeinschaften die Individuen, und da die zusammen-
gesetzten psychischen Vorgänge die einfachen als ihre Bedingungen
voraussetzen, so hat demnach die experimentelle Psychologie einen
allgemeineren und grundlegenden Charakter. Sie ist aber zugleich
an die Bedingungen gebunden, die ihr jenes hoch entwickelte Einzel-
bewußtsein entgegenbringt, auf das die psychologischen Experimental-
methoden schon wegen der Schwierigkeiten der bei ihnen geforderten
Selbstbeobachtung angewiesen sind. Ihr Objekt ist also einfach und
verwickelt zugleich: einfach gemäß dem nicht zu beseitigenden
Charakter der Methoden; verwickelt wegen der ungeheuer zusammen-
gesetzten Eigenschaften des Gegenstandes der Beobachtung. In
beiden Beziehungen bedarf die experimentelle Methode der Er-
gänzung. Die zusammengesetzten psychischen Bildungen, die nicht
oder nur in gewissen äußeren und nebensächlichen Eigenschaften
dem Experiment zugänglich sind, fordern analytische Hilfsmittel von
ähnlicher objektiver Sicherheit; und das unter den verwickeltsten
Kulturbedingungen stehende individuelle Bewußtsein verlangt nach
Objekten, die als die einfacheren Vorstufen jenes letzten Entwicklungs-
zustandes betrachtet werden können. Beidemal bestehen die uns
verfügbaren Hilfsmittel in den Geisteserzeugnissen von all-
gemeingültigem Werte, die durch die naturgesetzliche Art ihrer
Entstehung dem wechselvollen, unberechenbaren Spiel individueller
persönlicher Eingriffe entzogen sind. Es ist das Verdienst der
englischen Psychologie des letzten Jahrhunderts, daß sie, nach-
dem die vorangegangene englische Erfahrungspsychologie die For-
derung einer streng empirischen, von philosophischen Voraussetzungen
unabhängigen Analyse des Einzelbewußtseins siegreich zur Geltung
gebracht hatte, zum ersten Male das weite Feld ethnologischer
Tatsachen im psychologischen Interesse verwertete. Sie ergänzte so
die in Deutschland von der Sprachwissenschaft ausgehende Bewegung
in dem Sinne, daß sie sich vorwiegend den Gebieten des Mythus
und der Sitte und der mit beiden zusammenhängenden Anfänge der
Zur Entwicklungsgeschichte der Völkerpsychologie. 2Q
Kultur zuwandte. Es sei hier vor allem an die wertvollen Forschungen
E. B. Tylors") und an Herbert Spencers^) »Soziologie« erinnert,
Arbeiten, denen eine große Reihe anderer, mehr im prähistorischen
Interesse ausgeführter Untersuchungen über die Anfänge der Gesell-
schaft, der Familie, des Rechts usw. sich anreihen, Probleme der Ur-
geschichte, an deren Lösung sich gegenwärtig Forscher aller Nationen
beteiligen.
Experimentelle Psychologie und Völkerpsychologie stehen dem-
nach gleichzeitig in dem Verhältnis zweier einander ergänzender
Teile und zweier nebeneinander wie nacheinander zur Anwendung
kommender Hilfsmittel der Psychologie. Als Teile dieser sind
sie zugleich ihre einzigen Teile. Denn außer dem individuellen
Bewußtsein, dessen Analyse den experimentellen Methoden zufällt,
und den Erscheinungen des geistigen Zusammenlebens, mit denen
sich die Völkerpsychologie beschäftigt, gibt es nichts, was Inhalt der
Psychologie als selbständiger Wissenschaft sein könnte. Als Hilfs-
mittel aber teilen sich, experimentelle und Völkerpsychologie derart
in die psychologischen Probleme, daß jene die einfacheren und
darum zureichend schon innerhalb der Grenzen des ausgebildeten
Einzelbewußtseins zu analysierenden Vorgänge, diese dagegen jene
verwickeiteren Funktionen betrachtet, die nur auf der Grundlage des
Zusammenlebens möglich und verständlich sind. Wie experimentelle
und Völkerpsychologie die einzigen Teile, so sind sie aber auch die
einzigen Hilfsmittel der Psychologie. Die sogenannte Psychologie
der »reinen Selbstbeobachtung« ist weder das eine noch das andere,
sondern eine rückständig gebliebene Behandlungsweise mit unzu-
länglichen Methoden. Geschichte, Literatur, Kunst, Biographien,
1) E. B. Tylor, Researches into the Early History of Mankind, 1865. (Deutsch
von H. Müller, o. J.) — Primitive Culture, 1871. (Deutsch u. d. T. Die Anfänge der
Kultur, übers, von Sprengel und Poske, 2 Bde., I873-)
2) Herbert Spencer, Principles of Sociology, System of Synthetic Philosophy.
Vol. VI— VIII, 1876—96. (Deutsch von B. Vetter, 4 Bde., 1877—97.) Obgleich
Herbert Spencers Soziologie in dem System an seine Psychologie sich anschließt,
so verfolgt sie doch, wie schon diese Einordnung in ein philosophisches System es
andeutet, wesentlich philosophische Zwecke. Sie ist, trotz der Fülle empirischen
Materials, mehr eine Geschichtsphilosophie als eine Völkerpsychologie im empiri-
schen Sinne. Vgl. die eingehende und treffende Kritik der Soziologie Herbert
Spencers in P. Barths Philosophie der Geschichte als Soziologie, I, 1897, S. 93 ff.
30 Einleitung.
Selbstbekenntnisse, die immer noch zuweilen als Quellen psycho-
logischen Wissens gerühmt werden, sind weder Teile noch Hilfs-
mittel, sondern Anwendungsgebiete, die zwar, infolge der überall
bestehenden Wechselbeziehung zwischen Theorie und Anwendung,
gelegentlich der allgemeinen psychologischen Erkenntnis förderlich
sein mögen, die aber zu einer methodischen Verwertung, wie sie
zum Charakter eines Hilfsmittels erfordert wird, unfähig sind.
IV. Hauptgebiete der Völkerpsychologie.
In den obigen Erörterungen sind im wesentlichen die Aufgaben
bezeichnet, die der Völkerpsychologie zufallen, sowie nicht minder
diejenigen, die sich mit ihr berühren, aber aus bestimmten Gründen
von ihr auszuschließen sind. Es bleiben ihr hiernach drei selb-
ständige Probleme, die, sofern sie als rein psychologische be-
handelt werden, in keiner andern Wissenschaft ihre Stelle finden,
während sie doch ihrem ganzen Wesen nach eine psychologische
Untersuchung erheischen. Sie bestehen in den psychologischen
Problemen der Sprache, des Mythus und der Sitte. Dem My-
thus schließen sich die Anfange der Religion und der Kunst, der
Sitte die Ursprünge und allgemeinen Entwicklungsformen des Rechts
und der Kultur als nicht zu sondernde Bestandteile an.
Diese drei Gebiete stimmen darin überein, daß sie durchaus an
das gesellschaftliche Leben gebunden sind. Nicht nur geht ihre
Entstehung jedem nachweisbaren Eingreifen Einzelner und jeder ge-
schichtlichen Überlieferung voraus, sondern auch nach dem Beginn
des geschichtlichen Lebens erfahren sie fortan, neben den allmählich
einen immer breiteren Raum einnehmenden individuellen Einflüssen,
gesetzmäßige Veränderungen, die aus den Veränderungen der gei-
stigen Verbände selbst entspringen. So bleiben, auch nachdem
Sprache, Mythus und Sitte Objekte historischer Betrachtung geworden
sind, dennoch innerhalb jeder dieser Erscheinungen psychologische
Probleme zurück, deren Lösung zwar nur auf Grund der Tatsachen
des individuellen Bewußtseins möglich, aber ihrerseits wieder dem
Verständnis vieler dieser Tatsachen förderlich ist. Jedes jener Ge-
biete gemeinsamen Vorstellens, Fühlens und Wollens, auf denen die
Hauptgebiete der Völkerpsychologie. ^ j
völkerpsychologische Untersuchung ihre Aufgaben vorfindet, steht
ferner, und mit wachsender Kultur in zunehmendem Maße, unter dem
Einfluß hervorragender Individuen, welche die überlieferten Formen
willkürlich gestalten. Auf solche Weise geht die völkerpsycholo-
gische Entwicklung überall in eine Reihe geschichtlicher Entwick-
lungen über, in denen sie nur noch als allgemeine Grundströmung
fortwirkt. Darum berührt sich die Völkerpsychologie mit einer An-
zahl historischer Gebiete, die als Fortsetzungen und bis zu einem
gewissen Grade zugleich als Anwendungen jener ihrer Hauptteile be-
trachtet werden können. So der Mythus mit der Geschichte der
Kulturreligionen, der Wissenschaft und der Kunst; so die Sitte mit
der Geschichte der Rechtsordnungen und der in den philosophischen
Moralsystemen niedergelegten sittlichen Weltanschauungen.
Bilden nach allen diesen Richtungen Sprache, Mythus und Sitte
die natürlichen und allgemeinen Grundlagen der geschichtlichen Ent-
wicklungen, so zeigen sie sich nun dementsprechend auch selbst so
eng aneinander gebunden, daß eigentlich keines ohne das andere
möglich ist. Wie sehr auch der Sprache als dem notwendigen Hilfs-
mittel 4,es gemeinsamen Denkens hier der Vorrang gebührt, so muß
doch wiederum der Mythus als die innere Form des Denkens seiner
äußeren Betätigung in Sprache und Sitte vorangehen. Darum trägt
die Sprache von Anfang an die Spuren des mythologischen Denkens
an sich ; und nicht minder ist die Sitte als Norm des Handelns so sehr
bloße Ausdrucksform der die Gemeinschaft beseelenden Vorstellungen
und Gefühle, daß sie im Verhältnis zu den andern Gebieten die
Bedeutung eines Symptoms gewinnt, ohne das jene so wenig sich
denken lassen, wie etwa im individuellen Seelenleben Gefühle und
Triebe ohne äußere Willenshandlungen.
Dieser engen Verbindung der drei Teile der Völkerpsychologie
entspricht zugleich ihr Verhältnis zu gewissen Erscheinungen des
Einzelbewußtseins und deren wechselseitigen Beziehungen. In der
Sprache spiegelt sich zunächst die Vorstellungswelt des Men-
schen. In dem Wandel der Wortbedeutungen äußern sich die Gesetze
der Veränderungen der Vorstellungen, wie sie unter dem Einflüsse
wechselnder Assoziations- und Apperzeptionsbedingungen stattfinden.
In dem organischen Aufbau der Sprache, in der Bildung der Wort-
formen und in der syntaktischen Fügung der Redeteile gibt sich die
2 2 Einleitung.
Gesetzmäßigkeit zu erkennen, von der die Verbindung der Vor-
stellungen unter den besonderen Natur- und Kulturbedingungen der
einzelnen Sprachgemeinschaften beherrscht ist. Der Mythus gibt
sodann den in der Sprache niedergelegten Vorstellungen vornehm-
lich ihren Inhalt, da er in dem ursprünglichen Völkerbewußtsein die
gesamte, aus Wahrnehmungen und Phantasieschöpfungen sich auf-
bauende Weltanschauung noch in ungesonderter Einheit umschließt.
Dabei zeigt sich die in ihm wirksame Phantasietätigkeit außerdem
so sehr von Gefühls richtungen bestimmt, daß die Wahrnehmungs-
einflüsse zumeist nur die äußeren Gelegenheitsursachen bilden, die,
indem sie Furcht und Hoffen, Bewunderung und Staunen, Demut
und Verehrung erwecken, ebenso die Richtung der mythologischen
Vorstellungen wie die Auffassung der Objekte überhaupt bedingen.
Die Sitte endlich umfaßt alle die gemeinsamen Willensrich-
tungen, die über die Abweichungen individueller Gewohnheiten die
Herrschaft erringen und sich zu Normen verdichtet haben, denen
von der Gemeinschaft Allgemeingültigkeit beigelegt wird. In diesem
Sinn entspricht daher unter jenen drei Hauptgebieten der Völker-
psychologie die Sprache zunächst der Sphäre des Vorstellens. In
dem Mythus treten die Gefühle als vorwaltende Inhake hinzu. Der
Sitte gehört das Gebiet des gemeinsamen Wollens. Aber wie in
dem individuellen Bewußtsein Vorstellen, Fühlen und Wollen keine
getrennt vorkommenden seelischen Vorgänge, sondern nur verschie-
dene, an sich unlösbar verbundene Faktoren eines und desselben
Geschehens sind, so haben auch jene Beziehungen der drei völker-
psychologischen Gebiete zu diesen seelischen Richtungen nur die
Bedeutung, daß sie diejenigen Elemente des Seelenlebens bezeichnen,
die vorzugsweise für die einzelnen Erscheinungen maßgebend sind.
Die Sprache ist, wie schon ihr Verhältnis zum Mythus lehrt, über-
all von Gefühlsmotiven abhängig, und nach ihrem eigensten Cha-
rakter ist sie eine Willensfunktion. Nicht minder ist der Mythus
von Vorstellungen und Willensmotiven erfüllt, und in die Sitte grei-
fen, eben weil sie in allgemeinen Willensnormen besteht, fortwäh-
rend jene Vorstellungs- und Gefühlsprozesse ein, die den Willens-
vorgang zusammensetzen. Davon also, daß sich diese psychischen
Faktoren in den drei völkerpsychologischen Hauptgebieten auch nur
durch Abstraktion trennen ließen, kann nicht die Rede sein. Vielmehr
Hauptgebiete der Völkerpsychologie. ^^
gilt hier womöglich noch in höherem Grad als von dem Einzelbewußt-
sein, daß die unmittelbare seelische Erfahrung alle Elemente zumal
in sich schließt. Ahnlich bezeichnen aber die drei Begriffe Sprache,
Mythus und Sitte selbst nur die Haupterscheinungen, mit deren Be-
trachtung sich die Völkerpsychologie beschäftigt, und um die sich
andere gruppieren, deren spezieller Hervorhebung wir uns deshalb
entschlagen können, weil sie entweder selbst wichtige Faktoren der
genannten oder Umgestaltungen und Weiterentwicklungen derselben
sind; und dabei gilt natürlich auch für diese Gebiete wiederum, daß
sie mannigfach ineinander greifen. So sind an die Sprache die An-
fänge der Poesie, so an den Mythus die ursprünglichen Formen
künstlerischer Betätigung überhaupt gebunden. Ebenso ist dann
aber die Religion zunächst mit dem Mythus und dann durch diesen
mit der Sitte verwoben, so daß sie sich besonders von dem ersteren
in ihrer psychologischen Entwicklung unmöglich trennen läßt. End-
lich die Sitte führt neben den Beziehungen zu Mythus und Sprache
solche zu den anfänglich mit ihr zusammenfließenden Erscheinungen
des Rechtes mit sich, indes außerdem ihre weiteren Verzweigungen
über die gesamte Kultur sich erstrecken.
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl.
Erstes Buch.
Die Sprache.
Erstes Kapitel.
Die Ausdrucksbewegungen.
I. Allgemeine Bedeutung der Ausdrucksbewegungen.
Die psychophysischen Lebensäußerungen, denen die Sprache
als eine besondere, eigenartig entwickelte Form zugezählt werden
kann, bezeichnen wir ihrem allgemeinen Begriffe nach als Aus-
drucksbewegungen. Jede Sprache besteht in Lautäußerungen
oder in andern sinnlich wahrnehmbaren Zeichen, die, durch Muskel-
wirkungen hervorgebracht, innere Zustände, Vorstellungen, Gefühle,
Affekte, nach außen kundgeben. Ist das die Definition, die
dem Begriff der Ausdrucksbewegungen überhaupt entspricht, so
pflegt man nun als das besondere Merkmal, durch das sich die
Sprache von andern Bewegungen ähnlicher Art unterscheidet, dies
zu betrachten, daß sie durch den Ausdruck von Vorstellungen der
Gedankenmitteilung dienen könne. Dieses Merkmal vermag
jedoch der Sprache schon deshalb keine absolute Sonderstellung
anzuweisen, weil auch andere Ausdrucksbewegungen nicht selten
von Vorstellungssymptomen begleitet sind, und weil umgekehrt die
Sprache selbst neben den Vorstellungen auch Gefühle zum Aus-
druck bringen kann. Die Gedankenmitteilung ist also immer nur
ein möglicher Zweck, der nicht bei jeder einzelnen Sprachäußerung
notwendig bestehen muß. Überdies pflegt das einsame Denken
die sprachliche Form auch unter Verhältnissen anzunehmen, unter
denen die Absicht wie die Möglichkeit der Mitteilung ausgeschlossen
ist. Noch weniger ist ^schließlich die lautliche Form des Aus-
drucks ein Kriterium der Sprache als solcher, da unter den reinen
Ausdrucksformen der Gefühle, die wir nicht zur Sprache rechnen,
auch Ausdruckslaute vorkommen, während anderseits die Gebärden-
■ig Die Ausdrucksbewegungen.
spräche aus unhörbaren Bewegungen besteht, trotzdem aber alle
wesentlichen Eigenschaften einer wirklichen Sprache besitzt.
Diese Schwierigkeiten, denen die Definition der Sprache be-
gegnet, stehen offenbar in engem Zusammenhang damit, daß der
Begriff der »Ausdrucksbewegungen« selbst nur einen sympto-
matischen Wert hat, da durch ihn in keiner Weise die all-
gemeinere physiologische oder psychologische Natur dieser Be-
wegungen bestimmt wird. Mit Rücksicht auf diese ihre allgemeinere
Natur können alle durch Muskelaktionen bewirkten Bewegungen,
mögen sie nun Ausdrucksbewegungen sein oder nicht, in die drei
Klassen der automatischen, der Trieb- und der Willkür-
bewegungen unterschieden werden. Hierbei verstehen wir unter
den automatischen Bewegungen rein physiologische Erscheinungen,
die, nur in der Verbindung 'der zentralen Nervenelemente be-
gründet, bewußtlos und willenlos vor sich gehen; unter den Trieb-
bewegungen einfache, unter der Wirkung eines einzigen, das Gefühl
erregenden Motivs entstehende Willenshandlungen; endlich unter
den Willkürbewegungen solche, bei denen in irgendeinem Maße
ein Wettstreit mehrerer Gefühlsmotive die äußere Handlung vor-
bereitet. Die automatischen Bewegungen zerfallen dann wieder nach
den besonderen Bedingungen der zentralen Reizübertragung in die
Reflexbewegungen und die Mitbewegungen. Bei den ersteren
wird ein sensibler Reiz auf motorische Nerven übertragen und
durch eine ihm im allgemeinen zweckmäßig zugeordnete Muskel-
bewegung beantwortet. Bei den letzteren breitet sich eine motori-
sche Erregung, die selbst entweder eine Reflex- oder eine Willens-
bewegung hervorrufen kann, auf weitere motorische Nerven aus,
deren Erregung in der Regel der zunächst ausgelösten Reizung
zweckmäßig koordiniert ist. Nun ist leicht ersichtlich, daß die Aus-
drucksbewegungen jeder dieser Klassen angehören können, daß sie
sich aber auch nicht selten aus verschiedenen Bewegungsformen
zusammensetzen, oder daß sie, entsprechend den allgemeinen Ge-
setzen des Übergangs dieser Bewegungen ineinander, je nach Zeit-
bedingungen ihre Bedeutung wechseln. So müssen wir die beim
Neugeborenen auf Geschmacksreize eintretenden mimischen Be-
wegungen jedenfalls zu den Ausdrucksbewegungen zählen: sie sind
aber höchstwahrscheinlich reine Reflexe, oder sie können doch als
Allgemeine Bedeutung der Ausdrucksbewegungen. -ig
solche vorkommen, wie der Umstand beweist, daß man sie auch
bei hirnlosen Mißgeburten beobachtet hat. Die charakteristischen
Bewegungen des Erschreckten sind dagegen teils Reflex-, teils Trieb-
bewegungen : als Reflex ist das plötzliche Zusammenfahren, das beim
heftigsten Schreck zu einem lähmungsartigen Zusammenstürzen wer-
den kann, zu deuten; triebartig sind die unwillkürlich eintretenden
Abwehr- und Fluchtbewegungen. Ebenso gehören die Ausdrucks-
bewegungen des Zorns, der ausgelassenen Freude, des tiefen Kum-
mers und anderer Afiekte zumeist zu den Triebhandlungen. Sie
können sich aber teils mit gänzlich willenlosen und unbewußten,
also reflexähnlichen Mitbewegungen, teils auch mit einzelnen Will-
kürhandlungen verbinden, wobei im allgemeinen diese letzteren am
wenigsten für einen bestimmten Affekt typisch sind, sondern durch
mehr zufallig dazwischentretende Gelegenheitsursachen bestimmt wer-
den. Die Willkürbewegungen endlich können als primäre Bestand-
teile einer komplexen Ausdrucksform höchstens dann auftreten, wenn
die Bewegung überhaupt zu einer bloßen Scheinbewegung wird,
also bei geheuchelten Affekten; obgleich auch hier durch die
Rückwirkung der begleitenden Empfindungen auf den Seelenzustand
in der Regel Triebbewegungen hinzutreten, mit denen sich mei-
stens noch automatische Mitbewegungen verbinden. So können z. B.
gewisse Ausdrucksbewegungen eines Schauspielers willkürlich und
sogar auf Grund vorangegangener Überlegung erfolgen : sie sind aber
mit andern Bewegungen von der gleichen Bedeutung so fest asso-
ziiert, daß die Wahl der Ausdrucksform im allgemeinen bloß den
Anfang und die allgemeine Richtung der Erscheinungen zu be-
stimmen pflegt.
Die generelle EntAvicklung der Ausdrucksbewegungen erfolgt
aller Wahrscheinlichkeit nach gemäß den allgemeinen Entwicklungs-
gesetzen tierischer Bewegungen. Nach diesen sind es aber nicht,
wie so oft auf Grund dogmatischer Vorurteile angenommen wird,
die Reflexe, aus denen allmählich oder plötzlich, infolge einer zu-
vor ungeahnten Entdeckung der Seele, Willenshandlungen ent-
springen. Vielmehr sind die einfachen Willens- oder Triebhand-
lungen durchaus als die primären tierischen Bewegungen anzu-
sehen. Aus ihnen können einerseits durch die allmählich eintretende
Vervielfältigung der Motive Willkür- oder Wahlhandlungen, auf der
40 Die Ausdrucksbewegungen.
andern Seite, durch die infolge der Einübung- geschehende Me-
chanisierung, Reflexe und automatische Mitbewegungen hervorgehen.
Es können sich aber auch die bereits entwickelten Willkürhand-
lungen wieder zuerst in Trieb- und dann in automatische Be-
wegungen zurückverwandeln. Hiernach läßt sich dieser ganze Zu-
sammenhang progressiver wie regressiver Entwicklungen durch das
folgende Schema veranschaulichen:
Triebbewegungen
Automatische Bewegungen Willkürbewegungen
Die äußeren größeren Pfeile deuten die primären Entwicklungen
an, die nach zwei Richtungen erfolgen: regressiv von den ur-
sprünglichen Triebbewegungen durch deren Mechanisierung zu den
Reflexen und Mitbewegungen, und progressiv von den nämlichen
Triebbewegungen zu den zusammengesetzten Willens- oder Will-
kürhandlungen. Die inneren kleineren Pfeile bezeichnen die sekun-
däre Entwicklung, die nur in der einen Richtung der Mechanisierung
ursprünglich psychisch bedingter Bewegungen stattfindet. Für den
Teil des Verlaufs, der von den triebartigen zu den automatischen
Bewegungen geht, fällt daher diese sekundäre vollständig mit der
regressiven Form der primären Entwicklung zusammen. Für den
andern Teil, der die beiden Formen der Willenshandlung miteinander
verbindet, ist der sekundäre dem primären Verlauf entgegengesetzt,
jener progressiv, dieser regressiv gerichtet. Damit zusammen-
hängend bildet der primäre Verlauf überhaupt zwei ganz verschie-
dene, divergierende Entwicklungen, während der sekundäre in kon-
tinuierlicher Folge von der höchsten Form, den komplexen Willens-
handlungen, zu der niedersten, den automatischen Bewegungen,
führen kann, wie dies in unserem Schema durch den oberen, die
beiden Seiten verbindenden Pfeil angedeutet wird. Zugleich ist
aber zu beachten, daß die hier gegebene Interpretation dieses
Schemas, nach der alle Entwicklungen von den Triebbewegungen
Allgemeine Bedeutung der Ausdrucksbewegungen. 4I
als der ursprünglichen tierischen Bewegungsform ausgehen, in ihrer
Allgemeinheit nur für die generelle Entwicklung gilt. Bei den
individuellen Organismen, die mit den mannigfaltigsten vererbten
Anlagen in das Leben eintreten, sind von Anfang an Trieb- und
Reflexbewegungen gleichzeitig anzutreffen. So reagieren, wie be-
reits bemerkt wurde, die mimischen Muskeln des Kindes sofort nach
der Geburt reflektorisch auf Geschmacksreize; andere Bewegungen
desselben sind wahrscheinlich als Reflexe des Tastsinnes zu deuten.
Auch bei den meisten Tieren sind zwar die ursprünglichen Be-
wegungen unverkennbare Triebhandlungen; doch sind viele, wie
z. B. die Bewegungen des eben aus dem Ei geschlüpften Hühn-
chens, zugleich deutlich von einem System komplizierter Mitbe-
wegungen begleitet, die wohl automatisch an die einfachsten Trieb-
äußerungen gebunden sind.
Diese unverkennbare, nur aus den allgemeinen Vererbungs-
gesetzen begreifliche Tatsache, daß die Tiere mit einer Menge in
der physiologischen Organisation ihres Nervensystems begründeter
Anlagen ins Leben treten, hat nun offenbar auch die Hypothese,
nach der die Reflexe allgemein den Willenshandlungen voraus-
gehen sollen, veranlaßt. Denn diese Hypothese besteht eben nur
in der Verallgemeinerung einer bei der individuellen Entwicklung
vorkommenden Gruppe von Erscheinungen und in ihrer Übertra-
gung auf die generelle Entwicklung. Hierbei ist aber erstens jene
Verallgemeinerung in den Tatsachen selbst nicht begründet: auto-
matische Reflexe treten im Gegenteil, gegenüber den als ursprüng-
liche Triebhandlungen zu erkennenden Bewegungen, bei den frühe-
sten Lebensäußerungen um so mehr zurück, eine je tiefere Stufe in
der Reihe der psychophysischen Organisation die Tiere einnehmen.
Zweitens entzieht man sich durch diesen Versuch, den Reflexen
die erste Stelle anzuweisen, jede Möglichkeit, die zweckmäßige,
den Endeffekten angepaßte Beschaffenheit der Bewegungen über-
haupt zu deuten. Dagegen ergibt sich diese Zweckmäßigkeit von
selbst aus der Natur der Willenshandlungen, da diese stets nach
bestimmten Zweckmotiven erfolgen. Drittens endlich treten uns
Erscheinungen einer Mechanisierung triebartiger und sogar willkür-
licher Handlungen fortwährend im individuellen Leben in den Er-
folgen der Übung entgegen. Die verwickeltsten, ursprünglich nur
Die Ansdrucksbewegungen.
unter steter Kontrolle der Aufmerksamkeit ausführbaren Bewegungen
können bekanntlich durch Einübung derart automatisch werden,
daß der Anfang der Handlung die weitere Folge derselben mit
mechanischer Sicherheit nach sich zieht, oder daß sogar die ganze
Bewegung auf irgendeinen passenden Sinnesreiz hin von Anfang
an automatisch ausgeführt wird. Wir haben also nur nötig, diese
in der individuellen Entwicklung uns fortwährend begegnende Er-
fahrung auf die generelle Entwicklung auszudehnen, um die Zweck-
mäßigkeit der Reflexe begreiflich zu finden; während sie für den
entgegengesetzten Standpunkt entweder ein ursprüngliches Wunder
bleibt oder auf eine Ansammlung zufalliger Einflüsse, die schließlich
doch einen zweckmäßigen Erfolg haben sollen, bezogen werden
muß, eine Deutimg, die eigentlich wiederum die Voraussetzung des
Wunders, nur in einer andern Form, einschließt. Zu erklären frei-
lich, wie die ursprünglichen Triebe, das heißt wie die Empfindungen
und Gefühle tierischer Wesen überhaupt entstanden seien, das liegt,
wie überall die Nachweisung der ursprünglichen Elemente der Er-
fahrung, außerhalb der Grenzen unserer Untersuchung. Die funda-
mentalen psychischen Tatsachen müssen wir ebensogut wie die
Existenz jener letzten Bestandteile der Körperwelt, zu denen- die
Analyse der Naturerscheinungen vorzudringen vermag, als gegeben
voraussetzen.
Diese unumgängliche Anerkennung des Gegebenseins der nicht
weiter analysierbaren psychischen Elemente schließt nun aber
weiterhin die Notwendigkeit ein, auch die Zuordnung der Triebe
zu bestimmten körperlichen Bewegungen als eine ursprünglich ge-
gebene zu betrachten. Sie läßt schon deshalb keine Zurückführung
auf entferntere Bedingungen zu, weil die ursprünglichen Willens-
vorgänge überhaupt psychische und körperliche Vorgänge zugleich
sind, jeder Versuch, den einen dieser Faktoren aus dem andern
abzuleiten, sich also mit dieser Tatsache in Widerspruch setzt:
mag das nun in der Weise geschehen, daß man die Seele zuerst
wollen und dann gewisse körperliche Aktionen ihres Leibes ent-
decken läßt, die sie ihrem Wollen dienstbar mache; oder mag
es so gedacht werden, daß aus einem Zusammenhang mechani-
scher Bewegungen, der zufällig zweckmäßig geworden ist, plötz-
lich ein zwecksetzender Wille entstanden sei. Das erste anzu-
Einfache Gefühlsformen.
43
nehmen, ist unzulässig, weil die Seele kein den Körper von außen
betrachtendes und dann sich unterwerfendes Ding ist, sondern mit
dem leiblichen Organismus zusammen ein einziges unlösbar ver-
bundenes Ganzes bildet, das nur durch unsere Abstraktion zum
Zweck der Analyse in seine Bestandteile gesondert werden kann.
Die zweite Annahme ist unerlaubt, weil hier die Willenshandlungen,
die überall in der Welt erst objektive Zwecke zustande bringen,
selbst als die Ergebnisse einer ihnen angeblich vorausgehenden,
völlig motivlosen Zwecktätigkeit aufgefaßt werden. Dagegen setzt
die hier vertretene genetische Auffassung allerdings ebenfalls eine
den psychischen Zuständen entsprechende, in diesem Sinn also
zweckmäßige Bewegungsreaktion als Ausgangspunkt aller tierischen
Handlungen voraus. Doch diese Reaktion kann und muß dabei
als eine solche einfachster Art gedacht werden. Gebunden an die
niederste, der späteren Differenzierungen noch entbehrende Organi-
sationsform, bedeutet sie die ursprüngliche und darum einfachste
psychophysische Zuordnung. Aus ihr sind dann alle verwickeiteren
Formen als Erzeugnisse der in dem obigen Schema (S. 40) ver-
anschaulichten vor- und rückwärts schreitenden Differenzierungen
hervorgegangen. Diese selbst aber müssen zugleich als psycho-
physische Begleiterscheinungen der fortschreitenden organischen Ent-
wicklung betrachtet werden. Damit erfüllt diese Annahme ebenso
die Forderung möglichster Einfachheit der letzten Voraussetzungen,
wie die der Übereinstimmung dieser Voraussetzungen und der aus
ihnen abgeleiteten Folgerungen mit der Erfahrung.
II. Verhältnis der Ausdrucksbewegungen zu den
Gefühlen und Affekten.
I. Einfache Gefühlsformen.
Sind die Triebhandlungen als die ursprünglichen tierischen und
menschlichen Handlungen überhaupt und demnach auch als die
ursprünglichste Art der Ausdrucksbewegungen aufzufassen, so wer-
den nun die wesentlichen Eigenschaften dieser, ebenso wie die
Unterschiede, die sie in ihren verschiedenen Formen darbieten, auf
die psychologische Natur der Triebe zurückzuführen sein. Jede
44
Die Ausdrucksbewegungen.
J7
Triebhandlung schließt aber neben mannigfachen Vorstellungs-
elementen einen Gefühlsverlauf ein, dessen Eigenschaften für
den allgemeinen Charakter der Handlung bestimmend sind. Das
nächste Ergebnis der Analyse eines solchen Verlaufs ist dieses,
daß jedes einfache, nicht weiter in verschiedene Qualitäten zu zer-
legende Gefühl einer der drei Hauptdimensionen der Lust- und
Unlust-, der erregenden und beruhigenden, der spannen-
den und lösenden Gefühle angehört. Geometrisch können wir
uns daher auch die Gesamtheit dieser Gefühlsformen durch eine
dreidimensionale Mannigfaltigkeit versinnlichen (Fig. i), deren drei
Hauptachsen L U, ED,
SR jenen drei Haupt-
dimensionen entspre-
chen , während der
Durchschnittspunkt /
der drei Achsen den
— U Indifferenz- oder Null-
punkt andeutet, bei
dem das Bewußtsein
als gefühlsfrei anzu-
sehen ist. Von diesem
Nullpunkte gehen dann
die Hauptrichtungen
der Gefühle aus, so
daß die von / in der
Richtung IL gemessene lineare Strecke der Größe eines gegebenen
Lustgefühls, die in der Richtung lU gemessene der eines Unlust-
gefühls entspricht usw. Im allgemeinen kann aber ein konkretes
Gefühl entweder nur einer der sechs Hauptrichtungen, oder es kann
gleichzeitig zweien, oder es kann endlich dreien derselben ange-
hören. Im ersten Fall liegt es auf einer der drei Hauptachsen
selbst, im zweiten wird es durch einen Punkt in einer der durch
zwei Hauptachsen gelegten Ebenen, im dritten durch irgendeinen
sonstwo im Raum außerhalb der Hauptebenen liegenden Punkt
repräsentiert. Allgemein hat also ein konkretes Gefühl drei Be-
stimmungsstücke, die jedoch einzeln oder selbst alle zusammen
gleich Null werden können, welcher letztere Fall dann dem Null-
Fig. I. Symbolische Darstellung
der HauptrichtuKgen der Gefühle.
Einfache Gefühlsformen.
45
oder Indifferenzpunkt der Gefühlslage entspricht. Ausschließend
verhalten sich nur stets die Kontrastgefühle zueinander, die in
einer und derselben Hauptdimension entgegengesetzt gerichtet sind.
Hiernach kann man auch die in verschiedenen Dimensionen liegen-
den Gefühle, nach Analogie der Kräftezerlegungen der Mechanik,
als die Komponenten eines gegebenen Totalgefühls, und um-
gekehrt jedes gegebene Gefühl als ein im allgemeinen in drei Kom-
ponenten zerlegbares psychisches Gebilde betrachten.
Dieses durch die Fig. i dargestellte Verhältnis der Hauptrich-
tungen der Gefühle bezieht sich zunächst nur auf Momentangefühle
oder auf Gefühle, die während der betrachteten Zeit hinreichend
unverändert bleiben, daß von ihrem Zeitverlauf abstrahiert werden
kann. Solche momentane oder relativ stabile Gefühle haben zu-
gleich die Eigenschaft, daß sie sich nicht oder nur in verschwin-
dendem Grade durch eigentliche Ausdrucksbewegungen verraten.
Um letztere hervorzubringen, dazu gehört stets ein bestimmter Ge-
fühlsverlauf, der dann immer auch mit einem Wechsel der Gefühle,
sei es bloß mit einem solchen ihrer Intensität, sei es außerdem mit
Veränderungen ihrer Richtung, verbunden ist. In diesen Verhält-
nissen liegen die Schwierigkeiten begründet, denen die Untersuchung
der reinen Gefühle begegnet. Auch ist ein momentanes Gefühl
subjektiv schwer in gleichbleibender Beschaffenheit festzuhalten, weil
es entweder zu rasch verschwindet oder in einen Gefühlsverlauf,
einen Affekt, übergeht. Die Analyse der Gefühle gehört deshalb
zu den mißlichsten und meistumstrittenen Aufgaben der Psychologie.
Für die experimentelle Untersuchung derselben ergibt sich aber aus
den angedeuteten Bedingungen die Regel, daß man zu ihrer Erzeu-
gung nur mäßige Reize anwende. Stärkere Reize erwecken unver-
meidlich auch stärkere Gefühle, und diese gehen stets in Affekte
über. Ein bei der Verbindung mit aufmerksamer Selbstbeobach-
tung durch seine wegweisende Bedeutung wertvolles Hilfsmittel be-
steht außerdem in der Untersuchung der physischen Begleiter-
scheinungen. Sie bestehen bei den reinen Gefühlen nur zum
allergeringsten Teil in äußerlich sichtbaren Ausdrucksbewegungen.
Bei sehr schwachen und rasch vergänglichen Gefühlen können
solche sogar ganz fehlen. Was auch hier niemals zu fehlen scheint,
das sind aber Innervationsänderungen des Herzens, der Blut-
a6 ßie Ausdrucksbewegungen.
gefäße und der Atmungsmuskeln. Sie bilden daher die empfind-
lichsten objektiven Erkennungsmittel reiner Gefühlserregungen.
Den einfachsten Bedingungen begegnet naturgemäß sowohl die
subjektive Beobachtung der Gefühle wie die Analyse ihrer objek-
tiven Begleiterscheinungen, wenn die durch irgendwelche Sinnes-
reize erregten Gefühle nur einer der oben unterschiedenen sechs
Komponenten angehören, nicht aus irgendwelchen Verbindungen
derselben bestehen, wenn sie also in unserer symbolischen Darstel-
lung (Fig. i) in eine der sechs Hauptrichtungen selbst fallen. Am
leichtesten läßt sich dieser Forderung bei den reinen Lust- oder
Unlustgefühlen nachkommen; und am besten eignen sich zu ihrer
Erzeugung einfache Geschmacks- oder Geruchsreize. Ein mäßig
süßer Eindruck auf die Zungenspitze appliziert erweckt ein schwaches,
aber unverkennbares und, soviel sich subjektiv beobachten und
^^N\^f\^.J4^A/^
I
b
Fig. 2. Lust. (Bei a b Einwirkung eines sehr angenehmen Geruchs, Menthol,
Lehmann Taf. XLIV Bj.
? 2
Fig. 3. Unlust. (Schwefels. Chinin, Einwirkung bei /, Anfang der Geschmacks-
empfindung bei 2, Lehmann Taf. XXXI C .
durch die Vergleichung mit andern abweichenden Gefühlswirkungen
objektiv konstatieren läßt, unvermischtes Lustgefühl. Ebenso ent-
steht durch einen mäßig bitteren, auf den hinteren Teil der Zunge
einwirkenden Reiz ein reines Unlustgefühl, das sich nur, wenn der
Reiz stärker wird, mit einem erregenden Gefühl zu verbinden pflegt.
Bei diesen einfachen Lust- und Unlustformen beobachtet man als
durchaus regelmäßige Pulswirkungen die, daß der lusterregende Ein-
Einfache Gefühlsformen.
47
druck die Pulswelle verstärkt und verlangsamt, der unlusterregende
sie schwächt und beschleunigt, so daß sich also diese physischen
Wirkungen ähnlich gegensätzlich zueinander verhalten wie die
Gefühle selbst Fig. 2 und 3). Viel schwieriger ist es, mit Hilfe
äußerer Sinnesreize rein erregende oder deprimierende Gefühle von
einigermaßen dauernder Beschaffenheit zu erzeugen. Am ehesten
leisten dies Farbeneindrücke. Namentlich Rot und Blau bilden in
dieser Beziehung scharf ausgeprägte Gegensätze, Rot als erregender,
Blau als beruhigender Eindruck. Mit beiden kann sich auch ein
Lustgefühl oder bei starken Lichtreizen ein Unlustgefühl verbinden.
Hält sich aber der Eindruck innerhalb mäßiger Grenzen, und sind
Glanz, Kontrast und ähnliche den Gefühlston ändernde Nebenbedin-
gungen ausgeschlossen, so dürften die subjektiven Zustände der
Erregung und Beruhigung in diesen Fällen ziemlieh rein zur Er-
scheinung kommen. Weniger ungemischt sind wohl die analogen
Wirkungen der Tonqualitäten, wo zwar hohe Töne den erregenden,
tiefe den beruhigenden Charakter zeigen, außerdem jedoch teils
Assoziationseinflüsse, teils die sonstigen Eigentümlichkeiten der
Klangfarbe Nebenwirkungen ausüben. Ferner lassen sich solche
Erregungs- und Hemmungswirkungen ziemlich rein bei mäßigen
Affektzuständen (Aufregung, Niedergeschlagenheit) wahrnehmen, wo-
bei sie sich dann nur durch ihre längere Dauer etwas intensiver
gestalten. Darum ist wohl auch bei diesen Gefühlsgegensätzen bis
jetzt erst in den erwähnten Affektzuständen ein regelmäßiges Zu-
sammengehen mit Pulsänderungen beobachtet: die erregende Ge-
fühlswirkung ist hier mit \^erstärkung, die hemmende mit Abnahme
der Pulswelle verbunden, — ein ähnlicher Gegensatz also, wie er
zwischen den Symptomen von Lust und Unlust besteht, jedoch
ohne die für diese kennzeichnende gleichzeitige Verlangsamung und
Beschleunigung des Pulses (Fig. 4 und 5). Erst bei gesteigerten
Erregungs- und Hemmungszuständen , wie sie bei dem Gefühls-
verlauf starker Affekte vorkommen, pflegt sich die Erregung zu-
gleich in Beschleunigung, die Hemmung in Verlangsamung des
Pulses zu äußern. Doch läßt sich in diesen Fällen nicht feststellen,
inwieweit die Symptome in den bei den Affekten niemals fehlenden
Verbindungen mit andern Gefühlsformen ihre Quelle haben. Um
schließlich auch das dritte Gegensatzpaar einfacher Gefühle, das der
48 Die Ausdrucksbewegungen.
Spannung und Lösung, in möglichster Isolierung zu erwecken, muß
man zur zeitlichen Aufeinanderfolge von Eindrücken greifen. Kein
Gemütszustand enthält so ausgeprägt und unter geeigneten Bedin-
gungen so frei von andern Elementen das Gefühl der Spannung
Fig. 4. Erregung, nach vorausgehender Unlust und Depression. (Erschreckender
Reiz bei /, Unlust und Depression von a bis 3, Erregungskurve von b bis t",
Lehmann Taf. XIX C).
'^^^,^w;-MViwJ^X/^^^\ .^vj'-
Fig. 5. Depression. (Stark deprimierte Stimmung infolge eines unangenehmen
Ereignisses ; darunter einige normale Kurven des gleichen Beobachters von einem
andern Tage, Lehmann Taf. X A).
wie die Erwartung; und ebenso prägt sich das entgegengesetzte
Gefühl der Lösung nirgends so rein aus wie in dem Moment der
erfüllten Erwartung. Wenn man daher Gehörseindrücke nimmt, die
hinreichend indifferent sind, etwa die einfachen Taktschläge eines
Pendels, und wenn man diese nun außerdem noch derart regel-
mäßig einander folgen läßt, daß der gewählte Rhythmus nicht in
merklichem Grade Lustgefühle erweckt, aber den Spannungs- und
Lösungsgefühlen Zeit genug gibt sich zu entwickeln, welche Bedin-
gungen beide bei ziemlich langsam, in 1,5—2 Sek. einander fol-
genden Eindrücken am besten erfüllt sind, so kann man diese dritte
Gefühlsform in ausgezeichneter Weise und zugleich so gut wie ganz
Einfache Gefühlsformen.
49
losgelöst von andern Gefühlsqualitäten beobachten. Der Puls scheint
dann bei bestehendem Spannungsgefühl Verlangsamung und Stärke-
abnahme, bei eintretender Lösung der Spannung allmähliche Ver-
stärkung und Beschleunigung der Pulswelle zu zeigen. Die glei-
chen Erscheinungen lassen sich auch bei unbestimmten, nicht an
rhythmische Eindrücke gebundenen Erwartungszuständen beob-
achten (Fig. 6 und 7). Das Symptomenbild der Spannungsgefühle
'VMVxj^^»vf^u^.^M
'X
Fig. 6. Spannung. (Nachwirkung eines schwachen Tones, dessen Wiederholung
erwartet wird, Spannungskurve von a bis l>. Lehmann Taf. XXIX A).
A, p
r \
1 2 c d
Fig. 7. Lösung. (Unmittelbare Fortsetzung des Versuchs von Fig. 6, von i bis 2
Einwirkung des erwarteten Tones, von c bis d Lösungskurve, Lehmann
Taf. XXIX B).
scheint also dem der Unlustgefühle sowie der beruhigenden Ge-
fühle durch die Stärkeabnahme des Pulses zu gleichen, sich aber
von ihnen durch die Verlangsamung zu unterscheiden, durch die
es sich an die Seite der Lustsymptome stellt. Analog verhält
es sich mit dem Lösungsgefühl, das durch die Beschleunigung des
Pulses den Unlustsymptomen, durch seine Verstärkung den Lust-
und Erregungssypmtomen verwandt erscheint. Die Figuren 2 — 7 ent-
halten einige den sorgfältigen Untersuchungen Alfr. Lehmanns ent-
nommene Kurvenabschnitte, die das Gesagte verdeutlichen. Diese
Kurven geben die Volumenschwankungen einer Flüssigkeitsmasse
wieder, die in einem die Hand wasserdicht umschließenden Beutel
enthalten war (sogenannte »plethysmographische« Kurven). Es sind
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. 4
50 Die Ausdrucksbewegungen.
daher bei ihnen neben den Pulskurven auch noch die langsameren,
von dem wechselnden Kontraktionszustand der Blutgefäße abhängigen
Volum- oder vasomotorischen Kurven zu bemerken^).
Alle diese Pulssymptome, sowie die sie begleitenden Verände-
rungen der Gefäß- und Atmungsinnervation sind, solange es sich
um reine Gefühle handelt, unbedeutend und vorübergehend. Sie
nehmen dagegen zu beim Übergang in den Affekt; zugleich kommen
dann aber auch Vermischungen der verschiedenen Symptome vor,
welche die Erscheinungen komplizieren.
2. Gefühlsverlauf der Affekte.
Da jeder Affekt einen bestimmten Gefühls verlauf darstellt, kein
einziges Gefühl aber als ein streng momentaner oder auch als ein
konstant in der Zeit andauernder Zustand festgehalten werden kann,
so sind »reine Gefühle« eigentlich die Erzeugnisse einer psycho-
logischen Abstraktion. Alle wirklichen Gefühle bilden vielmehr
Bestandteile eines niemals ganz zur Ruhe kommenden Affektverlaufs;
und es läßt sich bei diesem immer nur von einzelnen relativen
Ruhepunkten reden. Verfolgt man nun von solchen Punkten aus
die Gefühle in die bewegteren Affekte, so kann man nicht zweifeln,
daß zwar das so entstehende Zusammenwirken der Gefühle und ihr
zeitlicher Ablauf die Intensität und die Verbindung der einzelnen
in hohem Grade beeinflussen kann, daß aber niemals aus dem Affekt
selbst eigentlich neue Gefühlselemente entspringen. Hieran scheitert
denn auch von vornherein die Annahme, alle in dem Verlauf eines
^) Alfred Lehmann, Die Hauptgesetze des menschlichen Gefühlslebens, 1892.
Die körperlichen Äußerungen psychischer Zustände, I, 1899 (mit einem Atlas ple-
thysmographischer, pneumo- und sphymographischer Kurven). Zoneff und Meumann,
Philos. Studien, Bd. 18, 1903, S. i ff. Werner Gent, ebd. S. 715 ff. Max Erahn,
ebd. S. 127 ff. Da Lehmann noch unter der Voraussetzung arbeitete, daß die ein-
fachen Gefühle in die eine Dimension der Lust-Unlust einzureihen seien, so hat er
selbst den von ihm gewonnenen Resultaten eine von der obigen abweichende Deu-
tung gegeben. Wichtige Ergänzungen hinsichtlich der Symptomatik der Gefühle im
Gebiet der Atmungsbewegungen bieten die Untersuchungen von Zoneff und Meumann,
sorgfältige Analysen pletysmographischer Kurven bei Gefühlen und Affekten auf
Grund der das Experiment begleitenden Selbstbeobachtung enthält die Arbeit von
W. Gent. Vgl. zu dem Ganzen meine Physiol. Psychologie 5, H, S. 273 ff., und
O. Dittrich, Grundzüge der Sprachpsychologie, I, S. 658 ff.
Gefüblsverlauf der Affekte.
51
Affektes vorkommenden Gefühle seien aus bloßen Lust- und Unlust-
gefühlen zusammengesetzt, oder alle in Affekten vorkommenden
Gefühle, die nicht der Lust und Unlust unterzuordnen sind, ent-
stünden erst infolge der Affekte. Weder auf die eine noch auf die
andere Weise läßt sich begreifen, wie solche Gefühle überhaupt
entstehen können. Sollten sie aus den Lust- und Unlustgefühlen
hervorgehen, so müßte sich doch nachweisen lassen, daß Erregung
und Beruhigung, Spannung und Lösung wirklich mit Lust und Un-
lust verwandt seien oder mindestens konstante Beziehungen zu diesen
angeblich einfacheren Gefühlen darbieten. Dem widerspricht aber
direkt die Tatsache, daß jede jener andern Gefühlsrichtungen sowohl
mit einem Lust- wie mit einem Unlustgefühl sich verbinden, wie end-
lich ohne eines dieser Gefühle bestehen kann. Es gibt einen Zustand
der Erwartung, bei dem man nichts als ein deutliches Gefühl der
Spannung wahrnimmt. Dieses auf bloße Spannungsempfindungen
der Haut und der Muskeln zurückzuführen, die allerdings infolge
begleitender Muskelerregungen entstehen und jenes Gefühl begleiten,
geht deshalb nicht an, weil sich solche Spannungsempfindungen
auch ohne jede Spur eines Erwartungsgefühls hervorbringen lassen,
z. B. durch einen Induktionsstrom oder durch eine absichtlich vor-
genommene willkürliche Innervation der Muskeln. Nicht minder
lehrt die Beobachtung, daß sich die Spannungsgefühle bald mit
Lust-, bald mit Unluststimmungen verbinden können. So ist die lange
fortgesetzte ungeduldige Erwartung ein oft bis zur Unerträglichkeit
unlustvolles Spannungsgefühl. Die mäßig ansteigende Erwartung
dagegen kann, z. B. bei rhythmischen Eindrücken, ein lustvolles
Spannungsgefühl sein. Ebenso gibt es Affekte, bei denen das Gefühl
der Erregung mit Unlustgefühlen verbunden ist, wie der Zorn, und
andere, bei denen es Lustgefühle begleitet, wie die Freude.
Mißlingt demnach der Versuch, die genannten Gefühlsbestandteile
der Affekte auf einzelne unter ihnen zu reduzieren oder sie in
anderweitige Elemente aufzulösen, so läßt sich aber umgekehrt
auch die Frage erheben, ob nicht außer ihnen noch weitere Grund-
formen vorkommen. Ist die Erregung des Zornigen wirklich dasselbe
Gefühl wie die des Erfreuten? Oder sind nicht etwa die Gefühle,
welche die Tätigkeit der Aufmerksamkeit, die Willenshandlung oder
die Erinnerungs- und Erkenntnisvorgänge begleiten, z. B. die bei der
4*
t^2 Die Ausdrucksbewegiingen.
Wiedererkennung eines Gegenstandes, beim gelingenden oder miß-
lingenden Vollzug eines intellektuellen Prozesses, — sind nicht alle
diese einzeln wieder ebenso spezifisch verschiedene Qualitäten wie
Lust, Unlust, Erregung, Beruhigung usw.? Nun enthält diese Frage
eigentlich zwei Fragen. Erstens: sind die angegebenen sechs die
einzigen Hauptrichtungen der Gefühle? Und zweitens: bezeichnet
jede dieser Richtungen zugleich eine einzige einfache Gefühlsqualität,
oder deuten sie nur Gefühls arten an, unter deren jeder wieder
eine Mannigfaltigkeit konkreter einzelner Gefühle enthalten sein kann,
ähnlich wie unter der Farbe Blau eine Menge einzelner Farbennuancen
verstanden wird? Die große Vergänglichkeit der Gefühle, ihre
mannigfachen Verbindungen und Verschmelzungen, endlich ihre
mangelhafte Unterscheidung in den Benennungen der Sprache
machen es nicht leicht, diese Fragen zu entscheiden. Bei unbefan-
gener Prüfung müssen sie aber doch, wie mir scheint, dahin beant-
wortet werden, daß wirklich diese Hauptrichtungen nicht Individual-,
sondern Artbegriffe andeuten, daß sie dann aber auch die einzigen
Arten sind, welche vorkommen. Zunächst lassen sich nämlich die
verschiedensten konkreten Gefühle, denen man auf den ersten Blick
geneigt sein möchte eine selbständige Stellung anzuweisen, bei
näherer Betrachtung auf Modifikationen oder Verbindungen jener
zurückführen. So dürften z. B. die eigentümlichen Erkennungs-
und Wiedererkennungsgefühle bei der Begegnung mit früher wahr-
genommenen Gegenständen sowie die oft sehr intensiven Gefühle
bei den Vorgängen des Besinnens und Erinnerns aus aufeinander
folgenden Spannungs- und Lösungsgefühlen bestehen, mit denen
sich in etwas wechselnderer Weise Erregungs- und unter Umständen,
aber keineswegs immer, Lust- und Unlustgefühle verbinden. Die
eigentümlichen Gefühle, die dunkel im Bewußtsein vorhandene Vor-
stellungen begleiten, und durch die sich diese deutlich verraten,
während sie selbst doch durchaus unbestimmt bleiben, sind wohl
ihrem Hauptcharakter nach Spannungsgefühle, zunächst der Erwartung
verwandt; es ist ihnen aber außerdem der sonstige Gefühlston der
dunkel perzipierten Vorstellung eigen, durch den jene oft wahr-
zunehmende Stimmung entsteht, es gebe irgend etwas Angenehmes
oder Unangenehmes, das uns widerfahren sei oder widerfahren werde,
ohne daß wir doch zu sagen wissen, was dies Angenehme oder Un-
Gefühlsverlauf der Affekte.
53
angenehme sei. Aus einer eigenartigen Verbindung von Spannungs-
und Lösungs- mit Erregungsgefühlen erscheint endlich der Willens-
vorgang zusammengesetzt, und zugleich sind hier die verschiedenen
Entwicklungsformen der Willenshandlungen durch die verschiedene
Intensität und Dauer der Gefühlskomponenten gekennzeichnet. Bei
dem einfachen Willensvorgang oder der Triebhandlung wachsen im
allgemeinen das Spannungs- und das Erregungsgefühl, die der
Handlung vorausgehen, rasch an, um dann plötzlich mit dem Vollzug
des Willensaktes dem meist zugleich mit Lust verbundenen Lösungs-
gefühl Platz zu machen. Bei der Willkürhandlung und besonders
bei der Wahl zwischen deutlich einander bekämpfenden Motiven
befinden sich außerdem jene einleitenden Gefühle in einem oszillie-
renden Zustand, der, wie immer das Schwanken zwischen entgegen-
gesetzten Gefühlsphasen, die Intensität der Gefühle zu verstärken
pflegt. Übrigens zeigt sowohl der Gefühlsverlauf der Willenshand-
lungen wie die Beschaffenheit sonstiger komplexer Gefühle und
Stimmungen, daß die Erregungs- und Hemmungsgefühle, so oft
sie auch mit den Spannungs- und Lösungsgefühlen vereinigt sind,
doch von diesen der Art nach abweichen. Denn auch hier können
beide Gefühlsformen wieder in wechselnden Verbindungen vor-
kommen. So ist das Spannungsgefühl bei hochgradiger Erwartung
von Erregung begleitet; aber dieses Erregimgsgefühl kann nun bei
eintretender Erfüllung, wo das Lösungsgefühl bereits intensiv hervor-
bricht, noch andauern, ja stärker werden als vorher.
Die drei Grundformen der Gefühle, auf die wir so bei der Analyse
der einzelnen Gemütszustände immer wieder geführt werden, scheinen
nun außerdem zu den wichtigsten Eigenschaften des Verlaufs der
Affekte in einer nahen Beziehung zu stehen. Erinnern wir uns
nämlich, daß das einzelne Momentangefühl strenggenommen stets
eine Abstraktion ist, weil jedes Gefühl Teil eines Gefühlsverlaufes,
jeder Gefühlsverlauf aber seinem allgemeinen Wesen nach ein Affekt
ist, so ergibt sich, daß in diesem kontinuierlichen Strom der Gefühle
jedes einzelne Element in dreifacher Weise bestimmt sein kann.
Erstens hat der Gefühls verlauf in jedem Augenblick einen be-
stimmten qualitativen Inhalt. Diese Gefühlsqualität des gegen-
wärtigen Eindrucks gibt dem Gefühl jene Eigenschaften, die wir
den allg-emeinen Besrriffen der Lust und Unlust unterordnen können.
CA ' Die Ausdrucksbewegungen.
Zweitens übt der momentane Bewußtseinszustand immer eine Wir-
kung auf den nachfolgenden aus, die sich als intensive Erregung
oder Hemmung äußern kann: das erstere, wenn die Gefühlskurve
vom gegenwärtigen Moment zum folgenden ansteigt, das letztere,
wenn sie sinkt. Da sich dieser Unterschied der Schwankungen des
Gefühlsverlaufs dem Vorstellungsinhalte des Bewußtseins mitteilt, so
pflegt das Gefühl der Erregung zugleich von einem rascheren, das-
jenige der Hemmung von einem retardierten Vorstellungswechsel
begleitet zu sein. Drittens ist die gegebene Gefühlslage durch den
unmittelbar vorangehenden Zustand des Bewußtseins zeitlich be-
stimmt. Danach kann sich entweder ein vorangegangener Gefühls-
verlauf seinem Abschlüsse zudrängen: dann entsteht ein Lösungs-
gefühl; oder es kann sich die Vorbereitung zu einem solchen Ab-
schlüsse vom vorangegangenen Moment auf den gegenwärtigen
fortsetzen: dann ist ein Spannungsgefühl von verschiedener Stärke
vorhanden. So sind es die drei allen psychischen Inhalten gemein-
samen Eigenschaften der Qualität, der relativen Intensität und des
Zeitverlaufs, zu denen sich die drei Bestimmungsstücke eines jeden
in einen Affekt eingehenden Momentangefühls in Beziehung bringen
lassen. Damit ist aber natürlich nicht ausgeschlossen, daß die nähere
qualitative Färbung in jeder dieser Dimensionen noch eine wech-
selnde sein kann, da sie jeweils von den unendlich variierenden In-
halten des Bewußtseins abhängig ist; und daß gelegentlich die Be-
stimmtheit in irgendeiner Richtung oder in mehreren gleichzeitig zu
Null werden kann, was der partiellen oder eventuell totalen Indiffe-
renzlage der Gefühle und damit dem Zustand der Affektlosigkeit
entspricht. Doch wird dieser Zustand wahrscheinlich nur zuweilen
gestreift.
Wird so jedes Gefühl eigentlich erst in seiner Zugehörigkeit zu
einem Gefühlsverlauf oder Affekt in allen seinen Eigenschaften ver-
ständlich, so ergibt sich nun hieraus zugleich, daß jene graphische
Versinnlichung der Grundformen der Gefühle, wie sie die Fig. i
(S. 44) zeigt, eine unvollständige ist, weil sie eben nur die momen-
tanen Bestimmungselemente eines gegebenen Gefühls, nicht dieses
in seiner ganzen Zugehörigkeit zu einem konkreten Affekt zum Aus-
druck bringt. Wollen wir die letztere Aufgabe irgendwie lösen,
also die Veränderungen der Gefühlslage in einer Reihe aufeinander
Gefühlsverlauf der Affekte.
55
folgender Momente oder gar während der Dauer eines Affekts
symbolisch darstellen, so ist dies innerhalb einer einzigen ebenen
Konstruktion natürlich nicht mehr möglich, da bereits die Bestim-
mung der momentanen Gefühlslage ein dreidimensionales Gebilde
fordert. Dagegen läßt es sich schon mit Hilfe der Ebene ausführen,
wenn wir, wie in Fig. 8, den Affektverlauf in bezug auf die drei
Gefühlsdimensionen in drei gesonderten Kurven darstellen, deren
Abszissen die Zeiten bedeuten. Hier ordnet sich der einem ge-
gebenen Moment entsprechende Gefühlszustand den ihm voraus-
gehenden und nachfol-
genden Momenten un-
mittelbar ein, wenn wir
die senkrecht überein-
ander liegenden Punkte
der drei Abszissenach-
sen den gleichen Zeit-
punkten entsprechen
lassen. Es wird dann
bei einer solchen Dar-
stellung, gegenüber
dem einfachen, von der
Zeit abstrahierenden
Schema der Fig. i,
zweckmäßig noch die weitere Veränderung vorgenommen, daß man
die innerhalb einer und derselben Dimension liegenden Gegensätze,
wie Lust und Unlust, durch die Lage des betreffenden Punktes der
Gefühlskurve über oder unter der Abszissenlinie der Zeiten ausdrückt.
Die positiven Ordinaten der auf der Linie LL gezeichneten Kurve
bedeuten demnach Lustgefühle, die negativen Unlustgefühle, während
die Höhe der Ordinate jedesmal die Intensität des Gefühls mißt, wo-
mit dann von selbst der Punkt, wo die Kurve die Abszissenachse
schneidet, die Indifferenzlage anzeigt. Ahnlich können wir durch
die Kurve EE' den Verlauf der Erregungs- und Hemmungsgefühle,
durch SS' den der Spannungs- und Lösungsgefühle darstellen. Der
momentane Gefühlszustand in irgendeinem Zeitpunkte t wird dann
in seiner Zerlegung nach den drei Gefühlsdimensionen durch die
drei dem Abszissenwert entsprechenden positiven oder negativen
Fig. 8. Beispiel eines Gefühlsverlaufs Im Affekt.
56 Die Ausdrucksbewegungen.
Ordinaten ausgedrückt. Alle drei Kurven zusammen schildern aber
einen Affektverlauf in bezug auf seine sämtlichen Gefühlskompo-
nenten und ihre Veränderungen in der Zeit. Die in Fig. 8 ge-
zeichnete.! Kurven würden so beispielsweise dem Vorgang entspre-
chen, der bei der Erwartung und dem Eintritt eines lusterregenden
Eindrucks sich abspielt. Der Prozeß beginnt bei 5 mit einem all-
mählich ansteigenden Spannungsgefühl, dem sich nach kurzer Zeit
ein Unlust- und ein Erregungsgefühl, beide ebenfalls allmählich
wachsend, zugesellen. Wirkt in einem Moment t' der erwartete
Reiz ein, so folgt nun sofort ein Übergang des Spannungs- in das
Lösungs-, des Unlust- in das Lustgefühl, während die Erregung
noch einige Zeit anhält, um dann auf Null zu sinken und eventuell
ebenfalls in ihren Gegensatz, die Beruhigung, überzugehen.
Sucht man in dieser Weise, die subjektive Beobachtung durch
experimentelle Versuchsbedingungen unterstützend, Affekte zu analy-
sieren, so ergibt sich, daß für die allgemeinen Typen des Ver-
laufs der Affekte nicht, wie für ihre momentanen Gefühlsinhalte, die
Lust- und Unlustrichtung, sondern die beiden andern Dimensionen,
die Erregung und Hemmung, die Spannung und Lösung, von vor-
wiegender Bedeutung sind. Dies wird verständlich, wenn wir uns an
die oben bemerkte Abhängigkeit von den zeitlichen Bedingungen
der Gefühle erinnern. So sehr hier für deren unmittelbare Qualität
das Lust- oder Unlustmoment von entscheidendem Wert ist, weshalb
eben die andern Hauptrichtungen meist ganz übersehen wurden, so
sehr müssen, sobald man vom Gefühl zum Affekt übergeht, diejeni-
gen Momente in den Vordergrund treten, bei denen diese Beziehung
zum Zeitverlauf die Hauptrolle spielt, während der Lust- und Un-
lustwert bloß die Bedeutung eines konkreten qualitativen Inhalts hat,
der auf die Verlaufsform als solche nur indirekt von Einfluß ist.
Dabei sind dann weiterhin die Erregungs- und Hemmungsgefühle
hauptsächlich für die eigentlichen Affekte maßgebend, die, ohne daß
sie Wirkungen von unmittelbar affektlösendem Charakter hervor-
bringen, durch allmähliche Beruhigung des Gefühlsverlaufs endigen.
Die alten Einteilungen in exzitierende und deprimierende, sthenische
und asthenische Affekte weisen in der Tat deutlich auf dieses Über-
gewicht der Erregungs- und Hemmungsgefühle hin. Es würde ja
unbegreiflich sein, wie man dazu kam, einerseits Zorn und ausge-
Gefühls verlauf der Affekte. ^y
lassene Freude, anderseits Schreck und überwältigende Freude jedes-
mal als Affektformen von übereinstimmendem, beide Arten der
Freude daher als solche von entgegengesetztem Typus zu betrachten,
hätte sich hier nicht dieses für die Affekte und die sie begleitenden
Ausdrucksbewegungen überwiegende, den Lust- und Unlustcharakter
zurückdrängende Moment der Erregung und Hemmung geltend ge-
macht. Übrigens ist es charakteristisch, daß erst der Versuch einer
wissenschaftlichen Einteilung der Affekte zu diesen die Verlaufsform
in den Vordergrund rückenden Abstraktionen geführt hat, während
die Unterscheidungen des gewöhnlichen Bewußtseins, wie sie in den
sprachlichen Bezeichnungen niedergelegt sind, auch hier bei den
momentanen Gefühlswerten mit ihrer Einordnung in die Lust- und
Unlustreihe stehen blieben. Solche Ausdrücke wie exzitierend, de-
primierend, sthenisch, asthenisch gehören ausschließlich der psycho-
logischen Theorie an. Die Sprache unterscheidet nur Freude, Leid,
Kummer, Sorge, Hoffnung, Furcht usw. Der Reichtum, über den
die Sprache bei diesen Lust- und Unlustbezeichnungen der Affekte
verfügt, indes sie den übrigen Gefühlsrichtungen gegenüber versagt,
begünstigte aber auch hier wieder das intellektualistische Vorurteil,
das sich der psychologischen Analyse der Gemütsbewegungen so
oft bemächtigt hat: man hielt jene Gegensätze der Erregung und
Hemmung meist für bloße Unterschiede des Vorstellungsverlaufs
und erkannte nicht, daß die letzteren selbst Begleiterscheinungen
bestimmter, wohl ausgeprägter Gefühlsqualitäten sind.
Neben den Gefühlen der Erregung und Beruhigung treten sodann
in vielen Affekten auch die Spannungs- und Lösungsgefühle als be-
deutsame Elemente hervor. So bei Erwartung, Angst, Furcht,
Kummer, Sorge, Hoffnung, Zweifel, Erfüllung, Befriedigung usw.
Auch hier hat in der Sprache wieder vorwiegend das Lust- und
Unlustmoment seinen Ausdruck gefunden. Nur in der eigentüm-
lichen Nebenbedeutung, die man schon im gewöhnlichen Sprach-
gebrauch diesen Benennungen gegenüber den einfachen Begriffen
der Freude und des Leids beilegt, und in dem für viele dieser Formen
von der Psychologie gelegentlich gebrauchten Ausdruck »Zukunfts-
affekte« kommen jene Momente der Spannung und Lösung unwill-
kürlich zur Geltung. Einen entscheidenden Wert besitzen aber
schließlich die Spannungs- und Lösungsgefühle, zugleich in eigen-
Die Ausdnicksbewegungen.
tümlicher Verbindung mit Gefühlen der Erregung und Beruhigung,
bei den Willensvorgängen, ein Verhältnis, das diese in die un-
mittelbare Nachbarschaft der Affekte, namentlich der sogenannten
Zukunftsaffekte, rückt. Näher betrachtet sind sie in der Tat nur
eine besondere Klasse der letzteren, die sich von den übrigen durch
die den Verlauf abschließende plötzliche Lösung des Affekts
unterscheidet. Diese Lösung wird aber bei den ursprünglichen
Willensvorgängen stets durch eine äußere Körperbewegung ver-
mittelt.
Durch alle diese Beziehungen gewinnen nun die physischen
Begleiterscheinungen der Affekte, die Ausdrucksbewegungen, ihre
psychologische Bedeutung. Jeder Affekt ist vermöge jener natür-
lichen Einheit der psychophysischen Organisation, die als die nicht
weiter empirisch abzuleitende Voraussetzung der physischen wie
psychischen Lebensvorgänge angenommen werden muß, von Be-
wegungen begleitet, die seinem Charakter entsprechen. Nennen
wir diese begleitenden Bewegungen allgemein Ausdrucksbewegungen,
so ist es daher nur eine besondere, diesen in gewissen Fällen zu-
kommende Nebenbestimmung, daß sie einen die endgültige Lösung
des Affekts bewirkenden Verlauf nehmen ; und zugleich ist dies eine
Eigentümlichkeit, in der sich die Willensbewegungen nur durch ihre
besondere Anpassung an den vorhandenen Gemütszustand unter-
scheiden. Denn alle Ausdrucksbewegungen sind schließlich auf
Wirkungen gerichtet, die zur Lösung des Affekts beitragen. So die
Bewegungen des Erfreuten, des Zornigen, des Erschreckten usw.
Wenn wir diese Bewegungen zwecklose nennen, so geschieht dies
nur, weil sie den Zweck, den sie sichtlich verraten, und ohne den
wir den Charakter des einzelnen Affekts gar nicht erkennen würden,
nicht in einer die Lösung desselben verwirklichenden Weise er-
reichen. Nicht einmal dies läßt sich jedoch behaupten, daß die
Bewegungen in diesem Fall für die Lösung ganz ergebnislos seien.
Die Bewegungen des Zornigen, des Erfreuten, des Bekümmerten,
ja selbst des Erschreckten können immerhin dazu beitragen, daß
sich der Affekt ermäßigt. Auch können diese Bewegungen, falls
nur der Gegenstand des Affekts gegenwärtig ist, unmittelbar in wirk-
liche Willenshandlungen übergehen. In solchen Fällen pflegen wir
dann den ganzen Vorgang bis zu einem bestimmten Funkt als
Gefühlsverlauf der Affekte.
59
Afifekt, und von da an erst als Willensakt zu betrachten. Aber es
ist klar, daß diese Scheidung im Grunde willkürlich bleibt. Der
Affekt selbst ist eben ein die Willenshandlung vorbereitender Prozeß ;
und deshalb ist es schließlich nur ein Unterschied der meist durch
äußere Bedingungen bestimmten größeren oder geringeren Vollstän-
digkeit dieses Prozesses, der die eigentlichen Affekte von den Wil-
lensvorgängen scheidet. So steht der Afifekt in der Mitte zwischen
Gefühl und Willenshandlung, und die Begrenzung gegenüber jenem
elementareren und diesem komplexeren Vorgang ist, weil sie alle
ein einziges, zusammenhängendes Geschehen bilden, niemals streng
durchzuführen. Von dem Gefühl ist der Affekt nicht sicher abzu-
grenzen, weil jedes Gefühl eigentlich schon Bestandteil eines Afifekt-
verlaufs ist. Von der Willenshandlung scheidet sich dieser nur durch
die besondere physische und psychische Endwirkung der begleiten-
den Ausdrucksbewegungen. Nehmen wir aber die physiologischen
Symptome zu Maßstäben, so lassen sich die einzelnen Gefühle als
solche Gemütserregungen definieren, deren physiologische Begleit-
erscheinungen hauptsächlich auf Veränderungen der Herz-, Gefäß-
und Atmungsinnervation beschränkt sind; die Affekte als solche,
bei denen außerdem noch Innervationsänderungen der allgemeinen
motorischen Nerven hinzutreten; die in äußeren Handlungen
endigenden Willensvorgänge endlich als solche, bei denen diese
allgemeinen Muskelinnervationen zweckbewußte Bewegungen her-
beiführen, welche entweder unmittelbar durch ihre Erfolge die Lö-
sung des Affekts erreichen oder mindestens auf diese Lösung ab-
zielen. Die ohne einen solchen äußeren Enderfolg verlaufenden
Willensvorgänge aber, die sogenannten »reinen inneren Willenshand-
lungen«, sind nicht primäre Formen, sondern sekundäre Entwick-
lunCTsorodukte.
3. Innervation der Ausdrucksbewegungen.
Wie jene Innervationsänderungen des Herzens uud der Blutgefäße,
welche die einfachen Gefühlsregungen begleiten, lediglich als Symp-
tome der psychologischen Natur dieser Vorgänge anzusehen sind,
so ist das nicht anders bei den eigentlichen Ausdrucksbewegungen,
die als Teilerscheinuns^en der Affekte auftreten. Auch hier läßt
(^O Die Aasdracksbevresrungen.
sich daher strenggenommen nur von einer regelmäßigen Beziehung
gewisser psychischer Vorgänge zu ihrer physischen Äußerung, nicht
von einem im eigentlichen Sinne kausalen Verhältnis reden. Der
Affekt und die Ausdrucksbewegung samt den ihr vorausgehenden
Inner\-ationen sind eben in Wahrheit nur Bestandteile eines und
desselben Vorgangs, die verschiedenen Formen oder, wenn man
will, Standpunkten unserer Erfahrung angehören. Sie lassen deshalb
nur Beziehungen regelmäßiger Koordination, aber kein wirkliches
Verhältnis von Grund und Folge erkennen. Immerhin wird man
gemäß dieser Koordination erwarten dürfen, daß den allgemeinsten
formalen Eigenschaften der Affekte analoge, wenn auch nach
ihrem realen Inhalt unvergleichbare Eigenschaften ihrer physischen
Begleiterscheinungen entsprechen. Namentlich in zwei Beziehungen
ist eine solche formale Analogie nach dem Prinzip des psycho-
physischen Parallelismus vorauszusetzen. Erstens weist der einheit-
liche Charakter der Affekte selbst und ihrer äußeren Erscheinungs-
formen darauf hin, daß die physischen Symptome des gesamten
Gefühlslebens von einem einheitlichen Zentrum aus reguliert werden,
welches den zum Teil weit auseinander liegenden direkten Inner-
vationsherden übergeordnet ist. Zweitens legt der Umstand, daß
sich die Inner\-ationsprozesse der Gefühls- und Affektsymptome,
ebenso wie die Gefühle und Affekte selbst, zwischen Gegensätzen
bewegen, die Annahme nahe, daß sich in diesem Fall ein psycho-
physischer Parallelismus irgendwelcher Art auch auf diese Gegen-
sätze erstrecken werde.
Die erste dieser Folgerungen führt auf ein physiologisches
sZentralorgan der Gefühle«. Natürlich kann jedoch in diesem Zu-
sammenhang von einem »Organ« nur in demselben Sinne geredet
werden, wie dies bei dem Gehirn überhaupt den psychischen Funk-
tionen gegenüber möglich ist: nicht in dem gleichen Sinne nämlich,
in dem wir irgendeinen Körperteil als Organ bestimmter physi-
scher Funktionen betrachten, den ]\Iuskel z. B. als Organ der
mechanischen -Arbeitsleistung, sondern in der jener oben berührten
Koordination entsprechenden Bedeutung, wonach ein bestimmter
Gehimteil nur Organ der physischen Teilvorgänge ist, die in einen
psych ophysischen Vorgang eingehen. Demnach schließt die Be-
zeichnung 5 Organ«, auf die psychischen Prozesse selbst angewandt,
Innervation der Ausdrucksbewegungen. ß I
eine Ergänzung des wirklichen Kausalgliedes durch ein anderes ein,
welches der an sich abweichenden psychologischen Betrachtungs-
weise angehört. Wenn wir uns zu dieser Substitution gerade bei
der Physiologie des Gehirns beinahe regelmäßig genötigt sehen, so
erklärt sich dies hinreichend daraus, daß die psysiologische Seite
der Erscheinungen hier vorläufig noch so gut wie unbekannt ist,
während wir die psychologische aus der unmittelbaren Erfahrung
kennen. Freilich ersieht man hieraus zugleich, auf einem wie gänz-
lich verkehrten Wege sich jene immer wieder auftauchenden Versuche
befinden, die aus den physiologischen oder gar den anatomischen
Verhältnissen des Gehirns eine Theorie der psychischen Funktionen
gewinnen möchten. Gerade der umgekehrte Weg ist der einzig
mögliche: nur die Analyse der psychischen Funktionen selbst kann
hier der physiologischen Untersuchung als Führerin durch das all-
mählich zu lichtende Dunkel der Nervenprozesse und durch das
Labyrinth der Leitungswege zwischen den verschiedenen Zentren
dienen. In vielen Fällen sind wir aber leider noch ganz darauf an-
gewiesen, überhaupt nur auf Grund der psychischen und psycho-
physischen Funktionsbeziehungen Zentren und Leitungswege zu po-
stulieren, für die uns das anatomisch-physiologische Bild des Gehirns
vorläufig keine oder nur zweifelhafte Anhaltspunkte bietet. Wenn
man nun die engen Beziehungen ins Auge faßt, die zwischen den
verschiedensten Gefühlen und Affekten bestehen, und die in der
oben erörterten Einordnung in eine und dieselbe Mannigfaltigkeit
allgemeiner Gefühlsrichtungen ausgedrückt sind (S. 55), so kann man
sagen: hier machen die psychologischen Tatsachen ebensosehr ein
einheitliches physiologisches Substrat wahrscheinlich, wie sich um-
gekehrt bei den Sinnesempfindungen, schon bevor man die abwei-
chenden Leitungswege der Sinnesnerven kannte, gesonderte Sinnes-
zentren der Vermutung aufdrängten. Aber wo liegt ein solches
»Gefühlszentrum«? Und wie führen die Wege, die von ihm aus
den Zusammenhang der Gefühle und Affekte mit den vasomotorischen
Innervationen und den Ausdrucksbewegungen vermitteln? Beide
Fragen sind nicht mit Sicherheit zu beantworten. Wir wissen nur,
daß es solche Wege geben muß; und wir entnehmen hauptsächlich
daraus, daß es bei den verschiedensten Gemütsbewegungen die näm-
lichen Leitungswege sind, die in Anspruch genommen werden, die
52 Die Ausdracksbewegungen.
Vermutung, das »Gefühlszentrum« selbst sei ein einheitliches Organ.
Fragen wir aber nach den Beziehungen dieses Organs zu andern
Zentralteilen, so sind es wiederum nur psychologische Zusammen-
hänge, aus denen auf die physiologischen zurückzuschließen ist. Das
Gefühl ist, im Unterschiede von den als Objekte gedachten Vor-
stellungen, ein einheitlicher Zustand, in welchem das Verhalten des
Subjektes zu diesen Objekten seinen Ausdruck findet. Diese un-
mittelbare Beziehung zum Subjekt legt die Annahme nahe, das
»Gefühlszentrum« sei mit dem allgemeinen Substrat der Verbindung
aller Bewußtseinsvorgänge oder, wie wir dies für die letzte Zentrali-
sierung der psychophysischen Prozesse zu postulierende Gebiet
nennen, mit dem »Apperzeptionszentrum« identisch. Nun liegen die
nächsten Innervationsherde des Herzens, der Blutgefäße, der Atmung,
der mimischen und der pantomimischen Bewegungen unweit vonein-
ander im verlängerten Mark, und sie sind durch mannigfache sekun-
däre Leitungsbahnen zu koordinierten Wirkungen verbunden. Als
ein Zentrum, das den verschiedenen Sinnes- und Bewegungszentren
übergeordnet ist, da es mehr als irgendein anderer Teil der Hirn-
rinde von den verschiedensten dieser direkten Zentren her Fasern
aufnimmt, ist aber vermutlich der Teil der Hirnrinde anzusehen, der
bei dem Menschen der Stirnregion entspricht. Läßt man diese An-
nahme zu, so würde dann eine, sei es direkte, sei es irgendwie durch
Zwischenzentren unterbrochene Bahn zwischen diesem Apperzeptions-
zentrum und den unmittelbaren Zentren bestimmter Bewegungsorgane
die hypothetische Grundlage der physiologischen Gefühls- und Affekt-
äußerungen sein. Diese Voraussetzungen müssen aber noch durch
weitere physiologische Annahmen ergänzt wenden, sobald man auch
dem speziellen Parallelismus zwischen dem Gegensatz der Gefühls-
richtungen und den gegensätzlichen Erscheinungsformen der Inner-
vation gerecht werden will. Freilich wird man hier bei den physischen
Symptomen von vornherein nicht dieselbe qualitative Mannigfaltig-
keit erwarten, wie sie uns in den psychischen Inhalten der Affekte
entgegentritt. Der Begriff eines gleichartigen, bloß in den Bewegungs-
formen seiner Elemente unterschiedenen Substrates, den wir für die
physische Seite der Lebenserscheinungen festhalten müssen, führt
vielmehr auch hier die Forderung mit sich, daß den qualitativen
psychischen Eigenschaften quantitative physische Relationen
Innervation der Ausdrucksbewegnngen.
entsprechen werden; ähnlich wie dies bei den Sinnesempfindungen
nachzuweisen ist, sobald wir, das physiologische Zwischenglied über-
springend, die psychophysische Beziehung als eine solche zwischen
einem physikalischen und einem psychologischen Vorgang
auffassen. Denn hier gilt auf Grund der physikalischen Analyse
im allgemeinen der Satz, daß den Unterschieden der Form und
Geschwindigkeit objektiver Schwingungsvorgänge, wenn sie einen
bestimmten , von der besonderen Organisation der Sinneswerk-
zeuge abhängigen Grad erreichen, Modifikationen qualitativer
Art innerhalb der reinen Empfindungen zugeordnet sind. Wenden
wir diese den bekannteren Verhältnissen der Sinneserregung ent-
nommenen Gesichtspunkte auf die Gefühlsvorgänge an, so kann
demnach nicht erwartet werden, daß man die Grundqualitäten der
Gefühle in den begleitenden physiologischen Vorgängen unmittelbar
wiederfinde; sondern es kann sich nur um eine Korrespondenz in
jenem weiteren Sinne handeln, in dem einem einfachen qualitativen
Gefühlsunterschied sehr komplexe, aber nicht minder charakteristische
Unterschiede der Innervation entsprechen mögen. Einen deutlichen
Maßstab für dieses Verhältnis geben uns hier gerade die äußerlich
sichtbaren Wirkungen der an die Gefühle und Affekte gebundenen
Innervationen. Lust, Unlust usw. sind, als Gefühle betrachtet, für
uns unanalysierbare Qualitäten. Aber ihre an den mimischen Mus-
keln des Mundes hervortretenden Ausdrucksformen sind im allge-
meinen von höchst zusammengesetzter Beschaffenheit. Dennoch
treten sie insofern in ein den Gefühlen analoges Verhältnis, als ein-
zelne Bewegungen bei Lust und Unlust, bei Erregung und Hem-
mung, bei Spannung und Lösung entgegengesetzte Richtungen zeigen.
So wird der Mundwinkel bei Lustgefühlen aufwärts, bei der Unlust
abwärts gezogen. So sind bei der Erregung die mimischen und
pantomimischen Bewegungen lebhafter, bei deprimierter Stimmung
sind die mimischen Muskeln erschlafft. Die Spannung als Gefühl
ist auch physisch mit verstärkten Spannungen der Antlitzmuskeln,
die Lösung mit einem plötzlichen Nachlaß dieser Spannungen ver-
bunden usw. Dabei lassen sich die Erscheinungen keineswegs dem
einfachen Schema eines überall gleichförmig wiederkehrenden Gegen-
satzes räumlicher Richtungen, Geschwindigkeiten und Energien unter-
ordnen, sondern infolge der verwickelten Zusammensetzung der
5j. Die Ausdrucksbe^vegunge^.
psychophysischen Zustände können Bewegung und Ruhe, Spannung
und Erschlaffung sowie verschiedene Richtungen der Bewegung bei
einer und derselben Ausdrucksform nebeneinander und über ver-
schiedene Muskelgruppen verteilt vorkommen. Allgemein gilt daher
nur, daß die Ausdrucksbewegungen hinreichend verschieden sind, um
in unserer Gesamtauffassung als gegensätzliche Symptome zu gelten
und sich so mit Gegensätzen der Gefühle selbst fest zu assoziieren.
Diesem Verhältnis der äußeren Bewegungen muß aber notwendig
das der zentralen Innervationen entsprechen.
Innerhalb dieser Mannigfaltigkeit der Erscheinungen gibt es einen
Punkt, bei dem sich jene allgemeine Korrespondenz begleitender
Unterschiede zu einer bestimmteren Analogie verdichtet, einen Unter-
schied der Innervationen nämlich , der zugleich die Bedeutung eines
vollkommenen Gegensatzes hat. Dies ist der physiologische Gegen-
satz der Erregung und Hemmung. Er ist wahrscheinlich in ge-
wissen allgemeinen funktionellen Eigenschaften der nervösen Substanz
vorgebildet. In den für die zusammengesetzten Innervationswirkungen
maßgebenden Formen scheint er jedoch überall erst infolge der Da-
zwischenkunft zentraler Elemente zustande zu kommen, wo er vielleicht
mit der verschiedenen Verbindungsweise leitender Fasern und zen-
traler Gebilde zusammenhängt^). Die übersichtlichsten Verhältnisse
bietet in dieser Beziehung die Herzinnervation. Denn es sind im
Herzen selbst liegende zentrale Elemente, die, je nach der Art, wie
ihnen von den höheren Zentralorganen aus die Reize zufließen, ent-
weder erregend oder hemmend auf die Herzbewegungen wirken^).
Da, soviel wir wissen, der Reizungsvorgang in den leitenden Nerven
selbst überall ein gleichartiger ist, so kann die erregende oder hem-
') Vgl. die Erörterung der hier möglichen Vorstellungsweisen in meinen Unter-
suchungen zur Mechanik der Nerven und Nervenzentren, IL, 1876, S. 113 f., und
Grundzüge der physiol. Psychologie 5, I, S. 83 S., dazu das von O. Dittrich entwor-
fene allgemeine Schema, Grundzüge der Sprachpsychologie, I, 1903, S. 444 Anm.,
und Atlas Fig. 77.
2) Ob als solche Elemente ausschließlich die zwischen den Muskelfasern des
Herzens gelagerten Ganglienzellen anzusehen sind, oder ob, wie manche Beobach-
tungen wahrscheinlich machen, auch die Muskelfasern selbst der Übertragung der
Bewegungsreize dienen, mag hier dahingestellt bleiben. Das allgemeine Verhältnis
der beiden Innervationsvorgänge wird davon nicht berührt. Vgl. Th. W. Engelmann,
Über die Leitung der Bewegungsreize im Herzen, Pflügers Archiv für Physiologie,
1894, Bd. 56, S. 149 fr.
Innervation der Ausdrucksbewegungen. 55
mende Wirkung in diesem Fall nur in der Art begründet sein, wie
die Reizung auf jene Elemente einwirkt, die sich im Herzen selber
befinden. Hierbei sondert sich aber diese doppelte Art der Inner-
vation deshalb deutlich für unsere Beobachtung, weil die Nerven-
bahnen, die erregende und hemmende Wirkungen auf das Herz über-
tragen, zumeist in getrennten Nervenstämmen verlaufen : die erregen-
den in den mit dem Sympathikus zum Herzen tretenden Fasern, die
jenem in den Rückenmarksnerven des sympathischen Geflechtes zu-
fließen; die hemmenden in den dem zehnten Hirnnerven (Nervus
vagus) angehörenden Herznerven. Zugleich ist bemerkenswert, daß
sich die Hemmungsnerven in einem Zustand dauernder, sogenannter
»tonischer« Reizung befinden, wie wir aus der infolge der Durch-
schneidung beider Vagusnerven bei Tieren eintretenden Beschleu-
nigung des Herzschlags schließen müssen. An den Erregungsnerven
des Sympathikus läßt sich dagegen auf ähnlichem Wege keinerlei
tonische Reizung nachweisen. Daß nun die Zentren oder Nerven-
kerne dieser beschleunigenden und hemmenden Herznerven ihrer-
seits wieder mit noch höher gelegenen Zentralteilen in Verbindung
stehen, ist schon im Hinblick auf die bald beschleunigenden, bald
hemmenden Wirkungen, welche die Gefühle und Affekte auf den
Herzschlag ausüben, jedenfalls im höchsten Grade wahrscheinlich.
Im Sinne der oben über die Zentren der Gefühlsinnervation ge-
machten Voraussetzungen wird hier vor allem wieder an das »Apper-
zeptionszentrum« zu denken sein. Abgesehen von dieser einheit-
lichen Verbindung zusammengehöriger Innervationswirkungen zeigt
es sich aber auch hier, daß schon bei einfachen psychischen Vor-
gängen die korrespondierenden physischen Erscheinungen von sehr
verwickelter Natur sind. Gibt es doch schlechterdings keine ein-
fache Affektform, der nicht eine höchst zusammengesetzte, even-
tuell aus verschiedenen Erregungen und Hemmungen bestehende
Innervationswirkung entspräche. Außerdem zwingen uns die physi-
schen Symptome anzunehmen, daß Innervationen verschiedener
Zentralgebiete interferieren und infolgedessen, je nach den Be-
dingungen der Leitung, bald gleichzeitige Vorgänge sich verstärken,
bald aber auch Erregungs- in Hemmungs- und Hemmungs- in Er-
regungswirkungen übergehen können. So läßt der Herzstillstand
des Schrecks auf eine in dem Vaguszentrum ausgelöste Erregungs-
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. C
66 I-*i^ AusdrucksbeweguBgen.
innervation schließen, die dann in den Zentren des Herzens selbst
in eine Hemmungsinnervation übergeht. Die Wirkung, die wir bei
einfachen Lustgefühlen beobachten, Verlangsamung und gleichzeitige
Verstärkung der Herzschläge, läßt sich ferner durch eine mäßige
Vagusreizung hervorbringen; umgekehrt können wir die als Unlust-
symptom eintretende Beschleunigung und Verminderung der Pulse
durch eine Herabsetzung der normalen Dauererregung des nämlichen
Nerven erzielen usw. Bedenkt man nun, daß bei den Gefühls- und
Affektwirkungen die entsprechenden Einflüsse mutmaßlich direkt
dem Vaguszentrum im verlängerten Mark zugeleitet werden, so
führt dies zu der Annahme, daß, ähnlich wie im Herzen selbst
hemmende und erregende Verbindungen mit den Muskelfasern des-
selben vorhanden sind, so der Vaguskern ebenfalls von den ihm
aus den höheren Hirnteilen zugeleiteten Fasern erregende und
hemmende Reizwirkungen empfangen kann').
Wie das Herz vom Vagus aus unter einer dauernden zentralen
Innervation steht, so sind nun im allgemeinen auch die äußeren Mus-
keln unseres Körpers dauernd in einem geringen, nach den beson-
deren Bedingungen der Raumlage der Körperteile variierenden Grad
innerviert. Im Unterschiede von den Verhältnissen der Herzerregung
führt aber hier die Dauerinnervation nicht zu einer Beeinflussung
rhythmischer Bewegungsvorgänge, sondern sie äußert sich als ein
stetig andauernder Einfluß auf die Muskeln: diese befinden sich in
einer geringgradigen dauernden Spannung, einer tonischen Er-
regung. Hierbei ist die letztere in ihrer Größe, abgesehen von
^) Die nach dem Zusammenhang der physischen Symptome mit psychischen
Zuständen zu postulierenden Verbindungen mit höheren Zentren müssen übrigens,
wie hier nebenbei bemerkt sei, noch durch ein weiteres System von Leitungsbahnen
ergänzt werden, das, nach seinen Wirkungen jenem analog, in psychophysischer
Beziehung insofern eine wesentlich andere Bedeutung hat, als es mit den Gefühls-
und Apperzeptionszentren nicht in Beziehung steht. Zu der Annahme eines solchen
Systems zentraler Verbindungen von rein physiologischer Bedeutung, also, nach dem
oben (S. 38) aufgestellten Begriffe des Reflexes, von bloßen Reflexbahnen, nötigt
nämlich die Tatsache, daß irgendwelche Reize auf zentripetal verlaufende Nerven
von im allgemeinen sensorischer Funktion auch dann bald erregende, bald hem-
mende Wirkungen auf die Herzbewegungen ausüben können, wenn jene Reize gar
nicht als Empfindungen und Gefühle zum Bewußtsein kommen. Wahrscheinlich
sind es die Nervenkerne des verlängerten Markes, in denen diese Reflexbahn sich
schließt.
Innervation der Ausdrucksbewegungen. 5y
sonstigen zentralen Bedingungen, von den stattfindenden dauernden
Sinneserregungen abhängig, wie sich daraus ergibt, daß der Tonus
der Muskeln einer Körperprovinz nachläßt, wenn man die von
dem zugehörigen Hautgebiet kommenden sensibeln Nerven durch-
schneidet. Außerdem scheint es, daß die relative Stärke der
tonischen Erregungen verschiedener Körperteile nach der Raum-
lage der Organe reflektorisch reguliert wird. Ihre Verteilung über
die Flexoren und Extensoren der Glieder z. B. hängt wesentlich
davon ab, ob wir sitzen, stehen oder liegen, und welche besondere
Lage wir in jedem dieser Fälle annehmen. Besteht in dieser ge-
nauen Regulierung der relativen tonischen Erregungen nach den
Sinneseindrücken, die offenbar sehr vollkommene zentrale An-
passungsvorrichtungen verlangt, schon eine erhebliche Verwicklung
dieser äußeren Muskelwirkungen, so liegt noch eine weitere in der
Verteilung der Innervationen über eine große Anzahl von Muskeln.
Hier sind wieder vorzugsweise die antagonistisch wirkenden durch
besondere zentrale Verknüpfungen einander angepaßt, derart daß
der Zunahme des Tonus einer gegebenen Muskelgruppe regelmäßig
eine Abnahme bei ihren Antagonisten zu entsprechen pflegt^).
Diese Verhältnisse führen zu dem Schluß, daß jener doppelten Re-
gulierung des Tonus auch hier eine doppelte Innervation entspricht,
die den beiden Bestandteilen der Herzinnervation gleicht, indem die
eine eine Zunahme, die andere eine Abnahme des Tonus herbei-
führt, daher jene wieder als die erregende, diese als die hemmende
bezeichnet werden kann. Der Unterschied vom System des Her-
zens liegt nur darin, daß in den Muskeln selbst keinerlei Umwand-
lung der zugeführten Nervenerregungen in Erregungs- oder in
Hemmungswirkungen möglich ist, sondern daß diese schon im
Zentralorgan stattfindet. In den peripheren Nervenleitungen sind
daher überhaupt nur solche Fasern anzutreffen, deren Reizung
Muskelerregung bewirkt. Dagegen scheinen in den Nervenzentren
getrennte Leitungen zu verlaufen, die in den im Gehirn und
Rückenmark gelegenen Muskelzentren je nach besonderen Be-
dingungen bald Steigerung, bald Herabsetzung des Tonus auslösen.
I) H, E. Hering und C. S. Sherrington, Cber Hemmungen der Kontraktion will-
kürlicher Muskeln bei elektrischer Reizung der Großhinrinde, Pflügers Archiv für
Physiologie, Bd. 68, 1897, S. 222 ff.
58 Die Ausdrucksbewegungen.
Wie die Nervenkerne des Vagus und Akzelerans, so müssen aber
auch diese Tonuszentren schon in Anbetracht der Gefühls- und
Affektsymptome noch mit höheren Zentralgebieten, vor allem mit
dem »Apperzeptionszentrum«, in Verbindung stehen, von wo ihnen
bald erregende bald hemmende Wirkungen zufließen. Betrachten
wir einen gewissen mittleren Tonusgrad als neutralen Ausgangs-
punkt, der zugleich der Indifferenzlage der Gefühle entspricht, so
kann daher von diesem Punkt aus in vierfacher Weise eine
Innervationsänderung eintreten: erstens als dauernde Erhöhung des
Tonus, zweitens als Abnahme desselben, drittens als vorübergehen-
der Kontraktionsvorgang, viertens als plötzliche Hemmung tonischer
Erregungen. Bedenkt man, daß diese vier Innervationen in der
verschiedensten Weise kombiniert und über eine große Zahl von
Muskelgruppen verbreitet neben- und nacheinander vorkommen, so
gibt dies eine schwache Vorstellung von der unabsehbaren Kom-
plikation der zentralen Vorgänge, die einer einzelnen Ausdrucks-
bewegung zugrunde liegen. Auch wird diese Komplikation nur
wenig dadurch vereinfacht, daß die genannten vier allgemeinen
Erregungsformen wieder auf zwei zu reduzieren sind: auf Er-
regung und Hemmung, die nur je nach Umständen dauernd,
tonisch oder in der Form eines plötzlichen, rasch vorübergehen-
den Impulses, als Kontraktion oder Lähmung, zur Erscheinung
kommen.
Am größten ist diese Komplikation sichtlich bei den mimischen
Ausdrucksbewegungen. Sie ergibt sich hier schon aus Beobachtungen,
die man bei der peripheren elektrischen Reizung einzelner Bündel der
beim Mienenspiel wirksamen Muskeln machen kann. Solche Ver-
suche wurden zuerst von Duchenne de Boulogne ausgeführt'). Er
variierte und kombinierte die Angriffspunkte der Reize so lange, bis
es ihm geglückt war, diejenige Ausdrucksform zu erzeugen, die
einer bestimmten seelischen Stimmung, wie der Freude, dem Miß-
behagen, dem Kummer, der Sorge usw., entsprach. Die so ge-
wonnenen Ergebnisse zeigen deutlich, daß es kaum eine Aus-
drucksform gibt, an der irgendein einzelner Antlitzmuskel mit
allen seinen Fasern gleichmäßig beteiligt wäre; daß es dagegen
I) Duchenne de Boulogne, Mecanisme de la Physiognomie humaine, 1862.
Innervation der Ausdracksbewegungen. 6g
in vielen Fällen nur ein eng begrenzter Faserzug innerhalb eines
größeren Muskelganzen ist, der durch seine Zusammenziehung einem
bestimmten Gesichtsausdruck sein charakteristisches Gepräge ver-
leiht. Gleichwohl ist es der eine Nervenstamm des Fazialis, von
dem aus die sämtlichen Antlitzmuskeln innerviert werden. Die
von den direkten Nervenkernen des Fazialis sowie von den höheren
Zentren ausgehenden Innervationen können also in der feinsten
Nuancierung auf einzelne Fasern des Nerven beschränkt sein; sie
können aber nicht minder auch räumlich getrennte Fasern zu ge-
meinsamer Aktion verbinden. Insbesondere müssen für die Nerven
beider Seiten solche Einrichtungen gemeinsamer Aktion existieren,
die gleichwohl in bestimmten Fällen außer Wirksamkeit treten
können, um eigenartige mimische Ausdrucksformen, wie z. B. die
der Verachtung, des Argwohns und ähnlicher Gemütsstimmungen
von zwiespältigem Charakter, hervorzubringen. Dächte man sich,
diese ganze Fülle teils tonischer, teils vorübergehender Erregungen
samt den namentlich bei gewissen Affekten noch hinzutretenden
Hemmungserscheinungen sollte willkürlich in dieser Weise verteilt
und abgestuft werden, so würde schon der einfachste Affektaus-
dnick ein Zusammenspiel zahlreicher, alle wieder einem herrschen-
den Willen gehorchender Einzelkräfte fordern, dem höchstens die
Ausführung eines symphonischen Kunstwerkes von verwickeltstem
kontrapunktischen Aufbau durch ein wohlgeschultes Orchester ver-
glichen werden könnte. Nur werden jene natürlichen Ausdrucks-
formen der Gefühle meistens überhaupt nicht willkürlich hervor-
gebracht, oder, wo dies der Fall sein sollte, da sind sie bloß in
gewissen Endwirkungen, niemals in den einzelnen Bestandteilen und
Hilfsmitteln dieser Wirkungen gewollt. Bei den sonstigen Aus-
drucksformen, so namentlich bei dem Gebärdenspiel der Arme und
Hände, ist zwar, der verhältnismäßig roheren Muskelanordnung
gemäß, die isolierte Beweglichkeit einzelner Faserbündel nicht zu
gleich hoher Vollendung ausgebildet; die Kombination der Be-
wegungen bleibt aber auch hier von gleichem unübersehbaren
Reichtum, und die größere Unabhängigkeit der symmetrischen
Organe beider Körperhälften voneinander erhöht in diesem Falle
noch die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen. Zu welch unend-
licher Verwicklung gestaltet sich vollends dieses Spiel der Inner-
70
Die Ausdrucksbewegunafen.
vationen, wenn man der Verbindungen gedenkt, in die mimische
und pantomimische Bewegungen untereinander treten können! Be-
sonders, wenn man erwägt, daß beinahe jede Ausdrucksform nach
ihren psychophysischen Bedingungen wieder eine dreifache Bedeu-
tung haben kann: die des automatischen, ohne jede Beteiligung
des Bewußtseins auftretenden Reflexes, die der einfachen Triebbe-
wegung, endlich die der willkürlichen Handlung — Formen, die sich
dann noch mannigfach miteinander verbinden, weil Willenshand-
lungen stets zugleich von eingeübten automatischen Mitbewegungen
begleitet werden. Immerhin zeigt diese verschiedene psychophy-
sische Bedeutung, die eine und dieselbe Ausdrucksform haben kann,
daß mannigfaltiger noch als das Spiel der äußeren Erscheinungen
die innere Mechanik der Innervationen selbst ist. Kann doch jede
einzelne Bewegung aus verschiedenen Formen des Zusammen-
wirkens hervorgehen, indem bald nur die nächsten Nervenzentren,
bald komplizierte Reflexzentren, bald endlich die höheren Zentral-
eebiete daran beteilicrt sind.
4. Sensorische Rückwirkungen der Ausdrucksbewegungen.
Die , sobald wir an eine elementare Analyse der Funktionen
denken, sofort unabsehbar werdende Verwicklung der Innervationen
erfährt noch eine letzte Steigerung durch eine meist vernach-
lässigte, aber nichtsdestoweniger auch für die psychologische
Seite der Erscheinungen überaus wichtige Wechselbeziehung sen-
sorischer und motorischer Vorgänge. Sie hat darin ihre Grund-
lage , daß der gesamte Bewegungsapparat des Körpers zugleich
dem allgemeinen Tastsinne zugehört, indem die bewegten Or-
gane der Sitz jener »inneren Tastempfindungen« sind, die, in ihrer
Qualität den äußeren Druckempfindungen verwandt, durch ihre
relativ exakten Intensitätsänderungen, sowie durch ihre mannigfach
nuancierte Verteilung über verschiedene Muskelgruppen ein System
wechselvoller und fein abgestufter Empfindungen abgeben. Dieses
entspricht nun natürlich auf das genaueste dem System der Aus-
drucksbewegungen, so daß jeder noch so leisen Veränderung der
letzteren eine entsprechende Veränderung jener Spannungs- und Tast-
empfindungen parallel geht. Wie daher eine Ausdrucksbewegung
Sensorische Rückwirkungen der Ausdrucksbewegimgen.
primär einem bestimmten psychischen Affekte zugeordnet ist, so
sind wiederum sekundär die Spannungs- und Tastempfindungen
fest mit bestimmten Ausdrucksbewegungen assoziiert. Nach dem
allgemeinen Prinzip der Assoziation gleichzeitig geübter Funktionen
verbinden sich aber mit den inneren Tastempfindungen zugleich
die primären psychischen Zustände, deren physische Symptome
ursprünglich die Ausdrucksbewegungen waren. So ist z. B. der
Eindruck eines unangenehmen bitteren Geschmacksstofifes , sowie
jeder in seiner allgemeinen Gefühlsqualität mit einem solchen
Geschmackseindruck übereinstimmende Unlustaffekt durch einen
bestimmten Komplex mimischer Bewegimgen gekennzeichnet. Wenn
wir nun die nämliche Bewegung des »bitteren« mimischen Aus-
drucks ohne den begleitenden Gefühlszustand, etwa willkürlich oder
durch elektrische Reizung der entsprechenden mimischen Muskeln,
hervorbringen, so entsteht die nämliche zusammengesetzte Span-
nungsempfindung, die bei der Affekterregung des gleichen Aus-
drucks beobachtet wird. Aber nicht bloß dies: es entsteht auch
eine Gefühlsstimmung, die der Afifektgrundlage der Ausdrucksbe-
wegung verwandt, und die zunächst schwach ist, jedoch, wenn die
Bewegung des öfteren wiederholt wird, beträchtlich sich steigern
kann. Auch wird sie besonders dadurch verstärkt, daß die kon-
krete Richtung der eingeleiteten Assoziation bestimmte unlustbetonte
Vorstellungen wiedererweckt. Natürlich kommen nun solche se-
kundäre Assoziationen auch dann zustande, wenn der Ausgangspunkt
der Erscheinungen ein wirklicher Affekt ist; nur daß in diesem
Falle die Dispositionen zu bestimmten Gefühlserregungen noch gün-
stiger liegen und daher energischer in Wirksamkeit treten. So er-
klärt sich die bekannte Erscheinung, daß nichts mehr geeignet ist,
Affekte und Leidenschaften zu steigern, als der ungehemmte Erguß
derselben in äußeren Handlungen.
Diese assoziative Steigerung der Affekte durch ihre Ausdrucks-
bewegungen ist gelegentlich bestritten worden. '1 Nicht als ob man
eine solche Beziehung überhaupt leugnete, wohl aber, indem man
eine umgekehrte Richtung der Assoziation annahm. Nicht durch
die Ausdrucksbewegungen werde die zugehörige Stimmung er-
weckt, sondern durch reine Vorstellungsassoziationen werde ein
Affekt erzeugt oder ein vorhandener verstärkt und dann erst die
7 2 Die Ausdrucksbewegungen.
entsprechende Ausdrucksform hervorgerufen'). Diese Auffassung
der Sache entspricht jedoch weder, wie mir scheint, den in diesem
Falle zu machenden Beobachtungen noch den sonst nachzuweisen-
den Bedingungen der Assoziation. Das früher so verschwenderisch
angenommene Auftreten »reiner Erinnerungsbilder« reduziert sich,
wenn man den Phänomenen des Wiedererkennens und der Wieder-
erinnerung genauer nachgeht, auf außerordentlich seltene Fälle, bei
denen überdies meist der Verdacht, daß irgendwelche direkte
Empfindungselemente übersehen worden seien, nicht ausgeschlossen
bleibt. Als allgemeine Regel darf es daher gelten, daß von un-
mittelbar gegebenen Eindrücken ausgehende Assoziationswirkungen
überall das bilden, was wir einen Erinnerungsvorgang nennen.
Nun ist in dem vorliegenden Falle das tatsächlich gegebene Ver-
hältnis dies, daß wir eine Affektsteigerung an lebhafte Aus-
drucksbewegungen gebunden sehen, und daß wir diese Steigerung
selbst dann noch beobachten, wenn die Ausdrucksbewegung in ihrer
ersten Entstehung nicht einmal die Begleiterscheinung eines be-
stimmten Affektes war. Alle diese Tatsachen fügen sich ohne
Schwierigkeit dem durch die mannigfachsten Erfahrungen bestätigten
Satze, daß jeder Sinneseindruck Erregungen wachruft, die früher
mit ihm verbunden gewesen sind. Dagegen wird hier ganz ohne
Not eine willkürlich und ursachlos schaltende Phantasietätigkeit zu
Hilfe gerufen, wenn man die Erscheinungen aus bloßen Assoziationen
zwischen den psychischen Affektinhalten selbst ableiten will. Auf
Grund jener wohlbekannten Verbindungen zwischen direkten und
reproduktiven Elementen läßt sich aber diese Wechselbeziehung
zwischen Ausdrucksbewegung und Affekt in zwei eng verbundene
Vorgänge zerlegen. Zuerst erzeugen die Ausdrucksbewegungen be-
stimmte Tast- und Spannungsempfindungen; und dann assoziieren
sich diese Empfindungen wieder mit den Seelenzuständen, deren
Symptome jene Bewegungen sind. Ist das Bewußtsein ursprüng-
lich affektfrei, wird also z. B. die Ausdrucksbewegung rein will-
kürlich erzeugt, so sind dann freilich auch die assoziierten Gefühle
und Affekte von sehr unbestimmtem Inhalt. Dies ändert sich jedoch,
sobald eine Assoziation mit gewissen bereit liesf enden Affektinhalten
') Piderit, Mimik und Physignomik, - 1886, S. 20.
Sensorische Rückwirkungen der Ausdrucksbewegungen. r^
erfolgt, oder wenn der ganze Vorgang schon mit inhaltsvollen
Affekten beginnt. In diesem Falle wirkt die Ausdrucksbewegung
sofort verstärkend auf den primären Affekt, und indem sich der
so gesteigerte Affekt wiederum in verstärkten Bewegungssymptomen
äußert, ist damit auch die Bedingung zu einer Wiederholung dieser
Wechselwirkungen gegeben.
Für das physiologische Innervationsproblem der Ausdrucksbe-
wegungen entsteht nun aus diesen Verhältnissen eine weitere, nicht
unerhebliche Verwicklung. Denn physiologisch wird der verstär-
kende Einfluß der Ausdruckssymptome auf die psychischen Vor-
gänge und dieser auf jene wiederum nur durch ein System von
Miterregungen und Reflexerregungen verständlich, die zu allen den
vorhin erwähnten Hemmungs- und Erregungsinnervationen hinzu-
treten, während sie zugleich von diesem ersten System derart ab-
hängen, daß sie immer erst durch die in ihm ablaufenden Inner-
vationsvorgänge erweckt werden können. Aus allem dem ergibt
sich, daß, so groß auch die qualitative Mannigfaltigkeit der Gefühls-
inhalte und der psychischen Verlaufsformen der Affekte sein mag,
wenn man sie dem relativ einfachen Schema erregender und hem-
mender Innervationen gegenüberstellt, doch anderseits die ungeheure
Komplikation dieser Innervationswirkungen vorläufig für uns noch
in viel höherem Grad ein unabsehbares Problem ist. Darin findet
die allgemeine Tatsache ihren Ausdruck, daß überall, wo uns zu-
sammengehörige psychische und physische Vorgänge gegeben sind,
der unendlichen qualitativen Mannigfaltigkeit der psychischen Ele-
mente eine große Gleichförmigkeit der physischen gegenübersteht,
daß dafür aber die extensive Ausdehnung und Komplikation der Er-
scheinungen hier um so größer wird. Eben durch diese Übertragung
der intensiven in eine extensive Mannigfaltigkeit von Vorgängen
kommt dann jene durchgängige Beziehung der Variationen der Ge-
mütsstimmung zu dem wechselnden Spiel ihrer Ausdrucksformen
zustande, vermöge deren wir jede Ausdrucksbewegung als ein ad-
äquates Symptom der entsprechenden seelischen Regung betrachten
lernen.
74
Die Ausdrucksbewescunreii.
III. Prinzipien der Ausdrucksbe^vegungen,
I. Herbert Spencers physiologische Theorie.
Da die Ausdrucksbewegungen physische Erscheinungen sind und
von uns als Symptome psychischer Zustände gedeutet werden, so
kann man die Prinzipien zu ihrer Erklärung auf jeder dieser Seiten,
der physischen wie der psychischen, zu gewinnen suchen. Als
Hauptvertreter einer physiologischen Erklärung darf Herbert
Spencer gelten ^). Indem er als die objektiven Tatsachen, auf die
alle subjektiven Phänomene unseres Bewußtseins zurückzuführen
seien, die Funktionen des Nervensystems betrachtet, ist damit auch
sein allgemeiner Standpunkt in der vorliegenden Frage gegeben^).
Jeder psychische Zustand, ob er dem Gebiet der Empfindungen
und Vorstellungen oder dem der Gefühle und Affekte angehört, ist
nach Spencer die Begleiterscheinung irgendeiner Molekularbewegung
innerhalb des Nervensystems, die eine auf den übrigen Körper aus-
strahlende nervöse Entladung bewirkt, so daß dadurch verschiedene
Symptome im Gebiete der Herz- und Gefäßinnervation sowie des
gesamten Muskelsystems entstehen können. Von dieser Entladung
wird angenommen, sie sei ursprünglich eine völlig diffuse, in ihrer
Ausbreitung nur nach der Stärke der stattfindenden Erregung ver-
schieden. Erstes Prinzip der Ausdrucksbewegungen ist demnach
das Gesetz der wachsenden Ausbreitung der Entladung bei zuneh-
mender Erregung. Dazu gesellt sich als zweites die Voraussetzung,
daß bei jeder diffusen Entladung kleine und an leicht beweglichen
Organen befestigte Muskeln leichter als große und schwer beweg-
liche ergrififen werden. Dies soll die vorwiegende Beteiligung der
Antlitzmuskeln an allen Afifektäußerungen und ihre ausschließliche
bei schwachen Affekten erklären. Dazu kommt endlich als drittes
Prinzip die Annahme eines allmählichen Übergangs beliebiger zweck-
loser Körperbewegungen in zweckmäßige im Laufe der generellen
Entwicklung. Hierdurch soll allmählich eine engere Beziehung zwi-
schen den Nerven, in denen bestimmte Empfindungen und Gefühle
^) H. Spencer, Prinzipien der Psychologie, deutsche Ausg. II, S. 6io ff.
2) Ebenda I, S. 99 ff.
Herbert Spencers physiologische Theorie. -ir
lokalisiert sind, und den Muskelgruppen entstehen, deren Zusammen-
spiel in der Regel die Befriedigung jener Gefühle herbeiführt. Auf
diese Weise erklärt es sich, daß die Ausdrucksbewegungen zahl-
reicher Affekte gemilderte Formen von Handlungen sind, die ur-
sprünglich bestimmten, die Befriedigung des Affekts erzielenden
Zwecken dienten: so das Ballen der Faust und das Zähneknirschen
des Zornigen').
Der ganz und gar hypothetische Charakter dieser drei Prinzipien
springt in die Augen. Das dritte namentlich ist offenbar nichts als
eine Anwendung der allgemeinen Annahme, daß die Willenshand-
lungen aus automatischen Bewegungen von ursprünglich zufälliger
und zweckloser Beschaffenheit durch eine Art Auslese des Nütz-
lichen entstanden seien. Es bedarf kaum noch der Bemerkung,
daß gerade das, was diese Hypothese als den Ausgangspunkt von
Willenshandlungen wie Ausdrucksbewegungen annimmt, nämlich
die Entstehung zweckmäßig koordinierter Reflexe aus zufälligen
Nervenentladungen, nirgends nachzuweisen ist. Zu dieser imaginären
Natur des vorausgesetzten Anfangs komme dann aber noch eine
andere Schwierigkeit. Die Theorie setzt zwar ein ursprüngliches
»Bewußtsein« voraus, das eine an die Nervenentladungen unmittel-
bar gebundene »ästho-physiologische« Erscheinung sein solP). Doch
sie stattet dieses Bewußtsein mit einer Eigenschaft aus, die keinem
wirklichen Bewußtsein zukommt, nämlich mit der sozusagen bloß
theoretischen Fähigkeit der Empfindung und WahrnehmAmg. Aus
dieser soll sich dann erst allmählich, nachdem zufällig einige jener
Bewegungen zu nützlichen Wirkungen geführt haben, eine will-
kürliche Beherrschung derselben herausbilden.
Aber auch dem ersten und zweiten Prinzip fehlt die zureichende
empirische Begründung. Indem das erste die Zunahme der äußeren
I) Einige weitere diesen Prinzipien von Spencer beigefügte Hilfsannahmen können
hier übergangen werden, weil sie für die Beurteilung des Ganzen unwesentlich sind,
während ihre Unwahrscheinlichkeit und der Widerspruch, in den sie sich mit den
Voraussetzungen der Theorie verwickeln, auf der Hand liegen. Dahin gehört z. B.
die Annahme, daß das Streben des Bewußtseins, gewisse Affekte zu verbergen, bei
der Verlegenheit, Scham usw. dazu geführt habe, die primären Wirkungen durch
sekundäre von entgegensetzter Beschaffenheit zu verdecken.
2; Prinzipien der Psychologie, I, S. 99.
Die Ausdrucksbewesnineen.
Symptome mit der Zunahme der inneren \'orgänge hervorhebt.
bietet es an sich keine Erklärung irgendwelcher Ausdnicksbewe-
gungen; sondern, da nun einmal bei allen von nachweisbaren phy-
sischen Prozessen begleiteten Aftektionen des Bewußtseins ein
solches Verhältnis beziehungsweisen Wachstums zu bestehen pflegt,
so konstatiert es im Grunde nur diese allgemeine Tatsache auch
für diesen einzelnen Fall. Daneben ist das Prinzip zugleich in-
sofern mangelhaft formuliert, als es in der -diffusen Erregung^
einen an sich eigentlich gleichartigen, nur nach Ausbreitung und
Stärke verschiedenen Vorgang voraussetzt. Um den Hemmungs-
wirkungen gewisser Affekte gerecht zu werden, verweist darum
Spencer auf den bei starken 'Affekten vorkommenden Stillstand
des Herzens, der wegen der Störung des Blutzuflusses zu den Mus-
keln eine allgemeine Erschlaffung zur Folge habe. Nun ist es
richtig, daß der Herzstillstand in hohem Grade deprimierend auf die
willkürlichen Muskeln wirkt. Aber jene plötzlichen Aftektlähmungen,
wie man sie z. B. beim Schreck beobachtet, wo die äußeren Wir-
kungen vollkommen gleichzeitig mit den Herzsymptomen, wenn
nicht schneller eintreten, können unmöglich auf diese Weise ge-
deutet werden. Überdies kommen solche Hemmungsinner\-ationen
nicht bloß als Wirkungen stärkster Aftekte vor. Namentlich zeigt
das wechselnde Spiel der Antlitzmuskeln eine oft äußerst fein ab-
gestufte, meist auf verschiedene Muskeln verteilte Kombination er-
regender und hemmender Innervationen. So pflegt sich z. B. die
Mimik der Überraschung in einer plötzlichen Erschlaftung der zu-
vor gespannten Wangenmuskeln imd daneben in einer Kontraktion
der bei gespannter Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand in Aktion
tretenden Augen- und Stirnmuskeln zu äußern. Die Gefühlskom-
ponenten des Vorgangs verteilen sich also hier in ihren äußeren
Symptomen über verschiedene Muskelgebiete: die Erschlaffung der
Wangenmuskeln spiegelt die plötzliche, dem Schreck verwandte
deprimierende Wirkung des unervvarteten Eindrucks; in der Kon-
traktion der Augen- und Stirnmuskeln kommt die gleichzeitige, die
gesteigerte Aufmerksamkeit begleitende Erregung und Spannung
zur Geltung. i\Ian darf daher wohl sagen: wenn die Existenz
einer der des Herzens analogen doppelten Inner\'ation für das
äußere Muskelsystem nicht durch andere physiologische Erschei-
Herbert Spencers physiologische Theorie.
nungen nahegelegt wäre, schon die Beobachtung der Ausdrucksbe-
wegungen würde sie unzweifelhaft machen.
Noch weniger als das erste läßt sich das zweite Prinzip, das die
besondere Bedeutung der mimischen Bewegungen aus der Kleinheit
und leichten Beweglichkeit der Antlitzmuskeln ableiten will, ab ein
glücklicher Ausdruck der Tatsachen anerkennen. Gibt es doch eine
große Zahl kleinerer Muskeln am menschlichen Körper, z. B. die
kleinen Wirbel- und Zwischenrippen-, die Finger- und Zehenmus-
keln, von denen manche überdies an leicht beweglichen Teilen be-
festigt sind, ohne daß sie darum zu den Afiektäußerungen in einer
näheren Beziehung stehen. Es ist also klar, daß die Antlitzmuskeln
die besondere Wichtigkeit, die sie für den Ausdruck der Gemüts-
bewegungen erlangt haben, nicht ihrer Kleinheit verdanken können.
Auch v.'eisen, wie Spencer selbst zugibt manche Erscheinungen auf
andere Bedingungen hin. Wenn z. B. der Zornige mit den Zähnen
knirscht, so geschieht das zunächst nicht deshalb, weil die Mund-
muskeln klein und leicht beweglich, sondern weil sie eben die Muskeln
sind, die schon im tierischen Zustand bei dem Beißen und Zer-
reißen des Feindes wirksam werden mußten. Oder wenn Spencer
das Stirnrunzeln als erstes Anzeichen eines unangenehmen Gefühls
daraus ableitet, daß der Urmensch, um seine aus der Feme heran-
nahende Beute zu erspähen, die Augen beschattet habe' , so würde
es, selbst wenn man diese immerhin zweifelhafte Hypothese an-
nehmen will, wiederum nicht die Kleinheit des >Corrugator super-
cüiorum«, sondern seine Beziehung zum Auge sein, die diese mi-
mische Bewegung erzeugt hat. Alle diese einzelnen Interpretationen
bewegen sich übrigens, wenn man von der fragwürdigen Aimahme
des ersten Ursprungs zweckmäßiger Willenshandlungen absieht,
eigentlich auf psychologischem Gebiet. Man kann daher das Ur-
teil über die ganze Theorie dahin zusammenfassen: wo sie sich
auf die Erklärung der einzelnen Erscheinungen einläßt, da fallt sie
aus der Rolle und wird psychologisch : umgekehrt, insoweit sie wirk-
lich physiologische Theorie ist, besteht sie aus teils unkontrollier-
baren, teils der Erfahrung widerstreitenden H>-pothesen, die, wenn
^ Prinzipien der Päycliologie. LI. S. 6iS.
-7 8 Die Ausdrucksbewegungen.
man sie trotzdem annehmen wollte, nicht einmal das, was sie er-
klären sollen, wirklich zureichend erklärt').
2. Darwins Prinzip der zweckmäßig assoziierten
Gewohnheiten.
Bei dem Punkte, wo Spencers Prinzipien auf die generelle Ent-
wicklung gewisser Ausdrucksbewegungen hinweisen, hat Darwin das
Problem aufgenommen"). Die Frage der Vererbung steht im Vorder-
grund seiner Untersuchungen. Die Ausdrucksbewegungen sind ihm
nicht sowohl um ihrer selbst willen von Wert, als deshalb, weil sie
ein Gebiet bilden, auf dem sich die Vererbung funktioneller Anlagen
in der verschiedensten Weise nachweisen läßt: im allgemeinsten
Umfang an der Analogie tierischer und menschlicher Ausdrucks-
formen, in etwas engeren Grenzen an der Übereinstimmung der
Gebärden bei verschiedenen Menschenstämmen, im engsten Bezirk
endlich an der Vererbung individueller Bewegungen in einzelnen
Familien. Die in dieser Absicht von Darwin gesammelten Beob-
achtungen sind überaus wertvoll, und es kann kaum einem Zweifel
unterliegen, daß der erstrebte Zweck durch sie erreicht ist: die von
Spencer nur an wenigen, zum Teil in ihrer Deutung zweifelhaften
Fällen erläuterte Vererbung ist auf diesem Gebiete von Darwin
durch eine Fülle von Tatsachen erwiesen worden. Viele dieser
Tatsachen bestätigen zugleich den Satz, daß sich zahlreiche Aus-
drucksformen als abgeschwächte Überlebnisse einstiger, in tierischen
Zuständen noch jetzt zu beobachtender Willenshandlungen betrachten
lassen. Für uns steht natürlich nicht diese speziell auf die Ver-
erbungslehre gerichtete Tendenz der Darwinschen Untersuchung, die
^) Schon die Theorie Spencers steht der Annahme nahe, daß nicht die Aus-
drucksbewegung die Wirkung des Affekts, sondern umgekehrt der Affekt selbst erst
eine Wirkung der Ausdrucksbewegungen sei. C. Lange (Über Gemütsbewegungen,
aus dem Dänischen von H. Kurella, 1887) und W. James (Principles of Psychology,
1890, II, pag. 442 ff.) haben dann den Versuch gemacht, diese Annahme näher durch-
zuführen. Das Mittelglied sollen dabei die »Gemeinempfindungen« bilden. Ich ent-
halte mich hier einer näheren Erörtenmg dieser Theorie und verweise hinsichtlich
derselben auf die kritischen Bemerkungen Philos. Stud. VI, S. 335 ff. und Physiol.
Psychol.5, n, S. 367 f., m, S. 241.
2) Darwin, Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den
Tieren. Deutsche Ausg. 1872.
Darwins Prinzip der zweckmäßig assoziierten Gewohnheiten. -q
ihre eigentliche Bedeutung ausmacht, sondern der sonstige, nament-
lich der psychologische Ertrag derselben im Vordergrund des Inter-
esses. Hier aber hat Dar\vin, abgesehen von der sorgfältigen Analyse
einzelner Ausdrucksbewegungen bei Tieren und Menschen, den durch
Spencer vertretenen allgemeineren Anschauungen nichts Wesentliches
hinzugefügt. Immerhin darf man vom empirischen Standpunkt aus
auch das als ein Verdienst seiner Arbeit ansehen, daß er sich auf
physiologische Hypothesen über den Ursprung der Willenshandlun-
gen nicht einläßt. Infolgedessen stellen sich seine Prinzipien der
Ausdrucksbewegungen teilweise schon auf den Boden einer psycho-
logischen Deutung. Das wichtigste dieser Prinzipien ist das der
»zweckmäßig assoziierten Gewohnheiten«. Gewisse Handlungen seien
dadurch, daß sie die Gefühle und Triebe, die an bestimmte Seelen-
zustände gebunden sind, befriedigen, von direktem oder indirektem
Nutzen. Es entstehe daher eine gewohnheitsmäßige Assoziation
zwischen diesen Seelenzuständen und jenen Bewegungen, so daß beide
einander stets und auch in solchen Fällen begleiten, wo die Be-
wegungen infolge der obwaltenden Bedingungen von gar keinem
Nutzen mehr sein können. Hierher gehören das Zähneknirschen in
der Wut, die Angriffsbewegungen im Zorn, das Zusammenfahren im
Schreck, welches letztere ursprünglich durch die Gewohnheit ent-
standen sein soll, einer Gefahr so schnell als möglich durch einen
Sprung zu entgehen. Auf diese Weise nimmt auch Darwin einen
allmählichen Übergang gewohnheitsmäßig assoziierter, also ursprüng-
lich willkürlicher Bewegungen in Reflexe an, obgleich er bezweifelt,
daß alle Reflexbewegungen auf solche Weise zu erklären seien.
Besonders aber betont er gerade bei den zweckmäßig assoziierten
Bewegungen das Gesetz der Vererbung, nach welchem eine von den
Vorfahren erworbene Assoziation in den späteren Generationen als
eine angeborene Anlage auftreten könne').
Die Umschau über das ganze Gebiet > zweckmäßig assoziierter
Gewohnheiten« lehrt nun aber, daß die so entstandenen Ausdrucks-
bewegungen entweder ausschließlich oder doch vorzugsweise zu
Unlustaffekten in Beziehung stehen. Zorn, Wut, Verachtung, Schmerz
äußern sich in Bewegungen, die sich auf ursprünglich nützliche
I) A. a. O. S. 28 ff.
^O Die Ausdrucksbewegungen.
Willenshandlungen zurückführen lassen. Bei Freude, Hofthung, Zu-
neigung ist das gleiche nicht ohne weiteres ersichtlich. Dennoch
äußern auch sie sich in Bewegungen, die wir als bezeichnende
Symptome für die Qualität der Affekte ansehen. Zu ihrer Inter-
pretation glaubt daher Darwin nur den allgemeinen Gesichtspunkt
verwerten zu können, daß sie ihrer Erscheinungsweise nach zu be-
stimmten andern Symptomen im Gegensatze stehen. So sind z. B.
die Bewegungen, die ein Hund oder eine Katze ausführen, wenn sie
sich einem andern Tier oder dem Menschen in feindseliger Absicht
nahen, unmittelbar Vorbereitungsakte zu Angriffsbewegungen. Die
Bewegungen der gleichen Tiere in demütigen und zuneigungsvollen
Stimmungen dagegen sind an sich zwecklos, bilden aber einen
durchgängigen Gegensatz zu jenen. Sie werden also aus dem
Prinzip des Kontrastes erklärt. Eine direkte, von dem Kontrast
unabhängige Beziehung der Bewegungen zur Seelenstimmung läßt
sich nach Darwins Meinung in diesen Fällen im allgemeinen nicht
auffinden^).
Mögen nun immerhin unter diesen Prinzipien zahlreiche, für die
Entwicklung der Willenshandlungen wie der Ausdrucksbewegungen
bedeutsame Tatsachen unter einheitlichen Gesichtspunkten zusammen-
gefaßt sein, so bleibt es doch ein Übelstand, daß hier allgemeine
Begriffe, wie Gewohnheit und Gegensatz, die selbst erst der Er-
klärung bedürfen, als erklärende Ursachen eingeführt werden. Bei
der Gewohnheit kann man sich wohl am ehesten noch diese Lücke
ergänzt denken, und mit dem Vorbehalt dieser Ergänzung wird in
der Tat hier so wenig wie anderwärts das »Gesetz der Gewohnheit«
zu missen sein. Nach den Erscheinungen individueller Einübung
und des durch sie vermittelten Übergangs willkürlicher in automatische
Bewegungen, auf die oben (S. 40 f.) schon hingewiesen wurde, ist
es aber doch erforderlich, daß man diesen Begriff der »Gewohn-
heit« in seine psychophysischen Elemente zerlege. Auf psychi-
scher Seite besteht nun jeder Vorgang der Übung darin, daß
von einer ursprünglich in allen ihren Bestandteilen mit Bewußt-
sein ausgeführten Bewegung zuerst gewisse Zwischenglieder und
dann allmählich der sranze Verlauf aus dem Beuoißtsein verschwinden.
I) A. a. O. S. 28, 51 ff.
Darwins Prinzip der zweckmäßig assoziierten Gewohnheiten. 8l
Nach seiner physischen Seite besteht der gleiche Vorgang in einer
immer vollkommener werdenden Anpassung des Umfangs und Ver-
laufs der Bewegung an eine bestimmte Endwirkung, demnach in einer
Ausschaltung von Nebeneffekten, die ursprünglich in wechselnder
Weise die Bewegung begleiteten. Dieser Prozeß setzt als Bedingung
eine Eigenschaft des Nervensystems voraus, die sich uns in der Tat
schon in gewissen elementaren Erscheinungen der Nervenerregung
zu erkennen gibt. Es ist die, daß mäßige Reizungen irgendeiner
Nervenfaser eine Steigerung der Erregbarkeit erzeugen. Diese
Nachwirkung in ihrer auf bestimmte, oft wiederholte Erregungen
eingeschränkten Ausbreitung ist offenbar mit dem, was wir »Übung«
oder »Gewöhnung« nennen, identisch. Denn sobald irgendeine
komplexe Bewegung wiederholt in der Weise ausgeführt wird, daß
gewisse ihrer Bestandteile variieren, während andre gleichmäßig
wiederkehren, so müssen notwendig infolge jener Steigerung der
Erregbarkeit durch die Erregung diese regelmäßigen Bestand-
teile des Vorgangs immer mehr erleichtert werden^). Die hierbei zu-
gleich sich einstellende Mechanisierung der Bewegungen weist außer-
dem darauf hin, daß zu diesen allgemeinen Erregbarkeitsänderungen
noch die allmähliche Ausschaltung höherer Nervenzentren als eine
komplizierende Erscheinung hinzutritt. Der wachsenden Reizbar-
keit der zunächst erregten zentralen Elemente geht also eine Be-
schränkung in der Ausbreitung der Reizungsvorgänge paralleP).
Aus diesen Betrachtungen erhellt übrigens, daß eine rein phy-
siologische ebensogut wie eine rein psychologische Erklärung
des Begriffs »zweckmäßig assoziierter Gewohnheiten« unmöglich ist.
Denn physiologisch können wir zwar, wenn erst gewisse, auf
1) Vgl. meine Untersuchungen zu Mechanik der Nerven, 11, 1876, S. 65, 132 ff.
Phys. Psych. ^ I, S. 69 ff. Ähnlicht Anschauungen sjud in neuerer Zeit noch von
verschiedenen Physiologen ausgesprochen worden. So namentlich von S. Exner
(Entwurf zu einer physiologischen Erklärung der psychischen Erscheinungen, I, 1894,
S. 76 , der hierbei für die Übungserfolge der Erregungsleituüg den Ausdruck »Bah-
nung« vorgeschlagen hat. , / <t ö 6 6
2) Auch diese Tatsache ist wahrscheinlich zu gewissen allgemeinen Ergebnissen
der Nervenphysiologie in Beziehung zu bringen, und zwar wird man hier vor allem
an die im Gebiete der zentralen Nervenerregung nachzuweisenden Interferenz- und
Hemmungserscheinungen denken können. Vgl. Untersuchungen zur Mechanik der
Nerven, ü, S. 84 ff., 106 ff., Phys. Psych. ^ 1, S. 85 ff.
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. 6
32 TDie Ausdrucksbewegungen.
bestimmte Zwecke gerichtete Willenshandlungen gegeben sind, deren
allmähliche Vervollkommnung und Mechanisierung an der Hand der
Gesetze der Nervenerregung und der Nachwirkungen der Erregbar-
keit begreifen. Was wir jedoch auf diesem physiologischen Wege
nicht verständlich machen können, das ist der Anfang, die Willens-
handlung selbst und ihre unmittelbare Verbindung mit bestimmten,
bereits dem Inhalt des WoUens, d. h. den dasselbe konstituierenden
Gefühlen und Vorstellungen, irgendwie adäquaten Körperbewegungen.
Wenn wir daher alle empirisch nicht gerechtfertigten metaphysischen
Hilfskonstruktionen beiseite lassen, so führt das Darwinsche Prinzip
der Gewöhnung auf vielleicht unvollkommene, aber doch von Anfang
an unmittelbar mit den psychischen Willensregungen verbundene
zweckmäßige Bewegungen zurück. Der Vorgang, durch den solche
Willenshandlungen in bloße Ausdrucksbewegungen übergehen, muß
dann wiederum als ein doppelter, als ein psychischer und ein phy-
sischer, gedacht werden. Auf beiden Seiten ist hier ein zwiefacher
Prozeß vorauszusetzen. Erstens hat sich infolge der Kultur allmäh-
lich der psychische Inhalt der Affekte ermäßigt, und ist demgemäß
physisch die Intensität der Ausdrucksbewegungen vermindert worden;
und zweitens hat sich der Willensvorgang zuerst in einzelnen seiner
Glieder und dann in seinem ganzen Ablauf verdunkelt, während in
gleichem Maße die mechanische Sicherheit der Bewegungen zunahm.
Dem entspricht, daß diese physiologisch dezentralisiert wurden,
indem sich die Arbeit der Übertragung des Reizes in motorische
Erregungen mehr und mehr auf niedrigere Zentren einschränkte.
Zugleich muß freilich hinzugefügt werden, daß es sich gerade bei
den Ausdrucksbewegungen, solange sie wirkliche Symptome be-
stimmter Gemütsbewegungen sind, nicht um eine Ausschaltung der
höheren Zentren überhaupt handelt, sondern nur jener, die zu
den Vorstellungen der äußeren Bewegungen in Beziehung
stehen. Die Gefühls- und Vorstellungsprozesse, die in die Gemüts-
bewegungen selbst eingehen, bleiben ja im allgemeinen bewußt und
weisen also auf die Funktionen der entsprechenden Sinnes- und
Apperzeptionszentren hin. Solche Ausdrucksbewegungen aber, die
zu reinen Reflexen geworden sind, bei denen also Gefühls- und
Vorstellungsinhalte überhaupt hinwegfallen, bilden offenbar nur einen
Grenzfall. Die meisten bleiben fortan auf der Stufe triebartiger
Danvins Prinzip der zweckmäßig assoziierten Gewohnheiten. g^
Handlungen: bestimmte Motive sind im Bewußtsein, nicht minder
der Ausdruck dieser Motive in Bewegungen; doch die letzteren
folgen ohne vorausgehenden Streit der Motive und darum auch ohne
besondere Anpassung an einen äußeren Erfolg den herrschenden
Eindrücken und Gefühlen. Mit dieser näheren Bestimmung seines
Inhalts kann man das Darwinsche Gesetz »zweckmäßig assoziierter
Gewohnheiten« als ein für zahlreiche, wenn auch keineswegs für
alle iflusdrucksbewegungen zutreffendes psychophysisches Prinzip an-
erkennen.
Anders als mit dem Begriff der Gewohnheit verhält es sich
mit dem des Kontrastes. Er ist einem doppelten Einwurf aus-
gesetzt. Zunächst ist es überhaupt unzulässig, Erscheinungen nicht
aus sich selbst und aus ihren eigenen Bedingungen zu erklären,
sondern aus andern, die von verschiedener, ja entgegengesetzter Art
sind. Dies Verfahren ersetzt die wirkliche Interpretation durch eine
bloße Einteilung nach dem unbestimmtesten aller Einteilungsgründe,
nach dem des kontradiktorischen Gegensatzes, wo das den Gegen-
satz bildende Glied bloß negativ bestimmt ist. Sodann läßt sich
bei vielen der hierher bezogenen Erscheinungen mit Grund bestreiten,
daß bei ihnen ein ursprünglicher oder ein noch fortdauernder posi-
tiver Zweck der Bewegung überhaupt nicht nachzuweisen sei. Wenn
sich die Demut in kriechenden Bewegungen, die Liebe im innigen
Anschmiegen an den Gegenstand der Zuneigung äußert, so scheint
dort die Unterwerfung unter den fremden Willen, hier die Ver-
einigung mit dem geliebten Gegenstand ebensogut ein unschwer
erkennbarer Zweck noch jetzt zu sein oder in den gesteigerten
Formen der gleichen Ausdrucksbewegungen einer früheren Stufe
gewesen zu sein, wie der drohende Blick, der aufgerichtete Nacken
und die geballte Faust des Erzürnten. Darwin selbst hat diese
o
Möglichkeit direkter Gründe bei einzelnen der hierher gehörigen
Beispiele anerkannt'). Wenn er trotzdem sein Prinzip des Kon-
trastes stehen ließ, so dürfte ihm wohl der Umstand Bedenken
erregt haben, daß, falls er die Ausdrucksbewegungen der Freude,
Zuneigung usw. dem Prinzip der »assoziierten Gewohnheiten« zu-
rechnete, der Begriff des Nutzens für die ursprüngliche Entstehung
Ausdruck der Gemütsbewegungen, S. 217, und anderwärts.
6*
84 Die Ausdrucksbewegungen.
vieler dieser Gewohnheiten kaum mehr passend erschien. Was für
einen Nutzen sollte es haben, wenn der Hund durch Schweifwedeln
und durch Drehungen und Windungen seines Körpers seine Freude
oder Zuneigung ausdrückt? Das spricht aber doch nur dafür, daß
der Nutzen überhaupt hier ein bedenklicher Begriff ist. Das Lachen
und Weinen und die große Mehrzahl der andern mimischen Be-
wegungen lassen sich kaum oder höchstens mittels einer gewaltsamen
und fragwürdigen Interpretation als nützliche oder einmal nützlich
gewesene Erscheinungen deuten. Offenbar haben die von ihm ein-
gehend analysierten Gebärden des Zornes, bei denen allerdings die
Beziehung zu Kampf und Angriff unverkennbar ist, den ausge-
zeichneten Naturforscher zu einer Verallgemeinerung verleitet, die
sich der Gesamtheit der Ausdmcksbewegungen gegenüber nicht
aufrechterhalten läßt. Ist gerade bei dem Zorn diese in gewissem
Sinn »nützliche« Natur der Affektäußerung augenfällig, so hat dies
aber seinen nächsten Grund darin, daß bei ihm die Beziehung zu
bestimmten Vorstellungen, etwa zu solchen von wirklichen oder
imaginären Feinden, ungleich mehr als bei sonstigen Affekten in
den Vordergrund tritt. Darum ist es aber selbst hier zweifelhaft, ob
alle Symptome eine derartige Deutung zulassen. In der Tat wird
man das namentlich von jenen Symptomen sagen müssen, die,
wie die an den Winkeln herabgezogene Unterlippe, die gerunzelte
Stirn, eigentlich nur allgemein den Zorn als einen Unlustaffekt
charakterisieren; daher sie sich auch bei andern Unlustaffekten, wie
Kummer, Sorge, bei denen von ein^r Beziehung auf einen äußeren
Feind nicht die Rede sein kann, in ähnlicher Weise vorfinden.
Damit kommen wir auf einen Punkt, bei dem sich der einseitige
und unzulängliche Standpunkt dieser Theorie deutlich zu erkennen
gibt. Darwin analysiert in einzelnen Fällen vortrefflich solche Be-
standteile der Ausdrucksbewegungen, die dem Vorstellungsinhalt
der Affekte angehören. Er würdigt aber die Symptome, in denen
sich die Gefühle spiegeln, nicht zureichend. Nun sind gerade die
Gefühle die wesentlichsten Elemente der Affekte, während die Vor-
stellungen im allgemeinen variablere Bestandteile bilden. So be-
greiflich also nach jener intellektualistischen Auffassung des Seelen-
lebens, wie sie nun einmal in der von Darwin angewandten Vulgär-
psychologie herrscht, diese einseitige Bevorzugung sein mag, so
Versuche einer psychologischen Theorie. 85
unmöglich kann sie doch der Gesamtheit der Erscheinungen ge-
recht werden.
3. Versuche einer psychologischen Theorie.
Zwischen den physiologischen Deutungen und den rein psy-
chologischen Theorien über Ausdrucksbewegungen stehen solche
Ansichten mitteninne, die zwar von gewissen Eigenschaften der
physischen Organisation ausgehen, dabei aber doch auf die psy-
chische Seite das Hauptgewicht legen. Natürlich bleibt hierbei
ein ziemlich weiter Spielraum für verschiedene Auffassungen. So
brachte E. Harless die Affektäußerungen überhaupt, namentlich
die mimischen, mit den an die Hautempfindungen gebundenen an-
genehmen und unangenehmen Gefühlen in Verbindung. Durch die
mimischen Muskeln entstehe »ein verschiedenes Hautgefühl, die
Natur dieses Gefühls sei aber unserer geistigen Erregung verwandt,
und sie sei daher das entscheidende Moment für die Bedeutung einer
Miene« '). Es ist, wie wir es heute ausdrücken würden, das Prinzip
der Assoziation der durch die Ausdrucksbewegungen entstehenden
sinnlichen Gefühle mit den Gefühlsinhalten der Affekte, auf das dem-
nach Harless den mimischen Ausdruck zurückführt. Noch allgemeiner
macht A. Bain die Gegensätze der Steigerung und der Herabsetzung
der Lebensfunktionen, die sich in den Gefühlen kundgeben sollen,
auch für die Verschiedenheit der Ausdrucksbewegungen geltend^).
Daß solche Hypothesen zu allgemein und unbestimmt sind, um
über die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen Rechenschaft geben zu
können, ist einleuchtend, wenn auch namentlich dem von Harless
ausgesprochenen Gedanken zweifellos etwas Richtiges zugrunde liegt.
Eingehendere Versuche einer psychologischen Deutung gingen
zumeist von ästhetischen Interessen aus. Daraus erklärt es sich,
daß man stillschweigend oder ausdrücklich einen Begriff in den
Vordergrund stellte, der von Haus aus ein ästhetischer, kein psycho-
logischer ist: den Begriff des Symbols. Von den »Conferences«
1) E. Harless, Lehrbuch der plastischen Anatomie 1856, S. 125.
2) A. Bain, The Senses and the Intellect.^ 1864, p. 285. Die Annahme Bains
nähert sich übrigens zugleich durch die starke Betonung der physischen Grundlagen
der Gefühle der physiologischen Theorie Herbert Spencers.
86 Die Ausdrucksbewegungen.
des Malers Le Brun^) und J. J. Engels »Ideen zu einer Mimik« ^)
bis zu den Arbeiten von Th. Piderit^) und Pierre Gratiolef*) ist es
dieser Beg-riff des Symbols, der, zum Teil in abweichender Form,
zuweilen auch nur, wie bei Engel, als nicht ausgesprochene Voraus-
setzung, die Deutung der Erscheinungen beherrscht. Piderit hat
das Prinzip in dem Satz ausgesprochen: »Alle Ausdrucksbewegun-
gen beziehen sich entweder auf imaginäre Gegenstände oder auf
imaginäre angenehme oder unangenehme (harmonische oder dishar-
monische) Sinneseindrücke«. Als psychologische Begründung des
ersten Teiles dieses Satzes gilt ihm die Tatsache, daß »jede Vor-
stellung dem Geiste gegenständlich erscheint«, daher eine mimische
oder sonstige Ausdrucksbewegung, die durch Vorstellungen erregt
werde, sich eben damit zugleich auf imaginäre Gegenstände beziehen
müsse. Für den zweiten Teil führt er an, daß »abstrakte« Vor-
stellungen, weil sie gegenständlich gedacht werden, ähnlich den un-
mittelbaren Sinneseindrücken angenehm oder unangenehm auf uns
wirken, wie dies auch die Sprache in ihren metaphorischen Aus-
drücken, "^bittere Kränkung', 'süße Liebe' und ähnlichen, bestätige.
Demnach sind ihm die Ausdrucksbewegungen, ebenso wie diese
Metaphern, Übertragungen des Nicht-Sinnlichen in das Sinnliche, die
aber nicht direkt, sondern erst durch das Zwischenglied der »Vor-
stellungen« — unter denen er hier nur Erinnerungs- oder Phantasie-
vorstellunsren versteht — zustande kommen.
') Le Brun, Conferences sur Texpression des differentes characteres des passlons,
1667.
2) J. J. Engel, Ideen zu einer Mimik, 2 Bde. 1785 — 86.
3) Mimik und Physiognomik, 1866. Als ersten Entwurf dieses späteren Werkes
veröffentlichte Piderit 1858 »Grundsätze der Mimik und Physiognomik«, in denen er
sein allgemeines Prinzip der Ausdrucksbewegungen bereits bestimmt formuliert. In
diesem Punkte gebührt ihm daher Gratiolet gegenüber, der das seinige beinahe in
dieselben Worte faßt, die Priorität. Übrigens hat Gratiolet, gerade so wie früher
Engel, vorwiegend die pantomimischen, Piderit die mimischen Bewegungen berück-
sichtigt. Darwin, der Gratiolet und Piderit einigemal mit Anerkennung erwähnt,
urteilt über das von diesen Autoren aufgestellte Prinzip, daß darin überhaupt keine
Erklärung der Ausdrucksbewegungen enthalten sei (Über den Ausdruck der Gemüts-
bewegungen , S. 6;, ein für die Verschiedenheit der Standpunkte bezeichnender
Ausspruch.
^) De la Physiognomie et des mouvements d'expression, 1865. (Das Werk ist
nach dem Tode des Verf.s herausgegeben.)
Versuche einer psychologischen Theorie.
Daß diese Theorie insofern eine psychologische ist, als sie aus-
schließlich den psychischen Wert der Ausdrucksbewegungen her-
vorhebt, ist augenfällig. Schon darin zeigt sich jedoch ihr mehr
ästhetischer als psychologischer Charakter, daß sie nur auf die
geistige Bedeutung dieser Erscheinungen hinweist, ihre Motive,
den Zusammenhang ihrer psychischen Bedingungen im Dunkeln
läßt oder darüber mindestens keine befriedigende Auskunft gibt.
Sagt man z. B., der Zornige drücke den tätlichen Angriff auf einen
Feind symbolisch aus, so entspricht das wohl dem objektiven ästhe-
tischen Eindruck auf den Zuschauer, schwerlich aber dem wirklichen
Vorgang, wie er sich in der Seele des Erzürnten abspielt. Ähnlich
verhält es sich mit den zur Erklärung der mimischen Bewegungen
herbeigezogenen Beziehungen auf imaginäre Gegenstände. Hier
hat namentlich Piderit durch seine verständnisvolle Analyse dieser
Bewegungen unleugbar auch die psychologische Deutung gefördert.
Daß dieselben in engster Beziehung zu den Funktionen der am
Kopfe vereinigten Organe der vier Spezialsinne stehen, und daß
Lustgefühle jeder Art mit Bewegungen verbunden sind, die ange-
nehmen, Unlustgefühle mit solchen, die unangenehmen Sinnesein-
drücken entsprechen, dies erkannt zu haben, bleibt ein nicht zu
unterschätzendes Verdienst der symbolistischen Theorie. Freilich
muß aber auch hier wieder gesagt werden, daß die Beziehung
auf »imaginäre Sinneseindrücke < noch keine psychologische Deu-
tung ist. Die Erinnerung an die Metaphern der Sprache kann um
so weniger als eine solche gelten, weil diese Metaphern selbst ver-
mutlich erst aus der Wahrnehmung der Ausdrucksbewegungen her-
vorgegangen sind (vgl. unten V, 5). Das Wort »symbolisch« bringt
also nur die beobachteten Tatsachen unter einen allgemeinen und
in den einzelnen Fällen selbst erst der psychologischen Erklärung
bedürftigen ästhetischen Begriff').
Hiernach könnte man vermuten, es sei nur erforderlich, den in
') Bezeichnend für diese ästhetische Bedeutung und freilich auch für die Ver-
wechselung ästhetischer Betrachtung und psychologischer Analyse ist es, wenn
der hervorragendste unter den neueren Vertretern der symbolistischen Ästhetik,
F. Th. Vischer, in einer von Piderit mitgeteilten Briefstelle das von diesem aufgestellte
Prinzip der >unbewußt übertragenden Symbolik« das »einzig wahre leitende Prinzip
im Gebiet der Mimik« nennt. (Piderit a. a« O. S. 17.)
88 Die Ausdrucksbewegungen.
diesem Prinzip ausgesprochenen ästhetischen Gedanken psycholo-
gisch umzuformen oder in seinen psychologischen Wurzeln bloß-
zulegen, um zu einer haltbaren Deutung der Erscheinungen zu
gelangen. In der Tat mag das für die meisten mimischen Be-
wegungen bis zu einem gewissen Grade richtig sein. Aber es gilt
keineswegs für alle Ausdrucksbewegungen, da es eben solche gibt
— man erinnere sich nur an die Äußerungen des Schrecks oder
an das Erröten bei der Scham — , wo die Unterordnung unter den
Begriff des Symbols auch im ästhetischen Sinne gezwungen oder
gänzlich unzureichend sein würde. Dazu kommt noch ein anderer,
allgemeinerer Gesichtspunkt. Jede psychologische Theorie der Aus-
drucksbewegungen nimmt, da diese Bewegungen körperliche, an
bestimmte physiologische Bedingungen geknüpfte Erscheinungen
sind, notwendig einen ihrem Gegenstand nicht adäquaten Stand-
punkt ein. Mag sie darum in die psychischen Vorgänge, die jene
physischen Symptome begleiten, noch so tief eindringen, über
die Symptome selbst kann sie keine zureichende Rechenschaft
geben. Denn es ist an und für sich ebenso unmöglich, diese aus-
schließlich aus dem psychischen Inhalt der Affekte abzuleiten, wie
es für die physiologische Theorie unmöglich ist, aus den Inner-
vationszuständen, welche die Ausdrucksbewegungen begleiten, deren
psychische Bedeutung zu begreifen.
Diese Erwägungen führen bei dem engen Zusammenhang, in
dem hier die körperlichen und die seelischen Bestandteile der Vor-
gänge zueinander stehen, unvermeidlich zu dem Schlüsse, daß über-
haupt weder eine rein physiologische noch eine rein psychologische
Theorie der Ausdrucksbewegungen Aussicht auf Erfolg haben wird.
Eine physiologische nicht, weil der Affekt als unmittelbares seelisches
Erlebnis durch keine körperliche Begleiterscheinung, wäre uns diese
selbst noch so bekannt, ersetzbar ist. Eine psychologische nicht,
weil die Ausdrucksbewegungen physische Funktionen sind und da-
her auch in ihrer Bedeutung für die psychische Seite der Vor-
gänge nur mittelst des physischen Zusammenhangs, in dem sie stehen,
richtig gewürdigt werden können. In der Tat finden sich bei un-
befangener Betrachtung der Erscheinungen keinerlei Gründe, die es
rechtfertigen könnten, in dem Gesamtbilde seelischer und körper-
licher Vorgänge, das uns ein Affekt darbietet, einem dieser Bestand-
Versuche einer psychologischen Theorie. gg
teile die zeitliche Priorität vor dem andern einzuräumen. Wenn die
gewöhnliche Auffassung die Gemütsbewegung als das Vorangehende,
ihre körperlichen Symptome als das Nachfolgende ansieht, so hat
sie darin natürlich recht, insoweit es sich nur um die äußeren, sicht-
baren Symptome handelt. Damit ist aber nicht gesagt, daß auch
die zentralen Innervationsvorgänge, deren Wirkungen erst jene Symp-
tome sind, später als die Affekte selbst wären. Vielmehr spricht
alle Wahrscheinlichkeit dafür, daß, sobald wir auf diese zentralen
Prozesse selbst zurückgehen, der Affekt und seine physischen
Korrelaterscheinungen gleichzeitig beginnen, und daß sie ebenso
in ihrem weiteren Verlauf einander zugeordnet sind. Damit ist
schon gesagt, daß auch die entgegengesetzte Auffassung, wonach
der physische Vorgang der Zeit nach das Erste, der Affekt aber
das Nachfolgende sein soll, keinerlei Stütze in der Erfahrung findet.
In Wahrheit sind Affekt und Ausdrucksbewegung zusammen ein
einziger psychophysischer Vorgang, den wir erst auf Grund
einer durch die Erfahrung geforderten Analyse und Abstraktion in
jene zwei Bestandteile sondern. Die Motive, aus denen diese Zer-
legung entspringt, bringen es dann freilich mit sich, daß bei der
Betrachtung der Affekte selbst wie der Ausdrucksbewegungen das
Hauptgewicht unseres Interesses auf die psychologische Seite fällt.
Denn die Bedeutung der Ausdrucksbewegungen wird für uns alle-
zeit wesentlich darin bestehen, daß sie Symptome seelischer Vor-
gänge sind').
^) In der Voranstellung des psychologischen Gesichtspunktes stimmt mit den
folgenden Ausführungen ein gleichzeitig mit der i. Auflage dieses Bandes erschie-
nenes Werk von Henry Hughes überein (Die Mimik des Menschen auf Grund vo-
luntarischer Psychologie, mit 119 Abb. 1900). Dasselbe enthält im einzelnen be-
merkenswerte Ergänzungen, namentlich zu den Beobachtungen Piderits. Seine Theorie
der mimischen Bewegungen gründet der Verf. auf eine eigentümliche psychophysische
Theorie des Willens und der Gefühle, die gewissermaßen eine Umkehrung der oben
)S. 37 ff.) entwickelten Auffassung ist, da ihm der Willensvorgang nicht ein Gefühls-
verlauf, sondern jedes Gefühl ein aus Willenselementen zusammengesetzter kom-
plexer Vorgang Ist (S. 210 ff.). Es scheint mir aber nicht, daß diese Theorie mit
den Beobachtungen über den Verlauf der Willensvorgänge, wie sie vornehmlich bei
den »Reaktionsversuchen« auszuführen sind, in Einklang gebracht werden kann. (Vgl.
Grundzüge der physiol. Psychol.s Bd. 3, S. 250 ff.)
üO Die Ausdrucksbewegungen.
4. Allgemeinstes psychophysisches Prinzip der Ausdrucks-
bewegungen.
Sucht man in dem angegebenen Sinne die Ausdrucksbewegungen
in erster Linie als psychophysische Funktionen, in zweiter, in An-
betracht ihrer allgemeinen Bedeutung, als Merkmale psychischer
Vorgänge zu verstehen, so wird nun von vornherein darauf zu ver-
zichten sein, daß man sie irgendwelchen spezifischen Prinzipien
unterordne. Vielmehr wird hier lediglich das allgemeinste Prinzip
psychophysischen Inhalts, nach dem mit jeder Veränderung
psychischer Zustände zugleich Veränderungen physischer
Korrelatvorgänge verbunden sind, auch für die Ausdrucks-
bewegungen und die Seelenzustände gelten, als deren Symptome
wir jene auffassen.
Nun bilden, wie mehrfach hervorgehoben wurde, in dem ge-
samten Tatbestand unserer subjektiven Erfahrung die Gefühle und
Affekte oder, da die Gefühle nur als Bestandteile von mehr oder
minder ausgebildeten Affekten vorkommen, die Affekte diejenige
Seite des Seelenlebens, als deren physische Begleiterscheinungen
wir die Ausdrucksbewegungen und die sie erzeugenden Innerva-
tionsvorgänge betrachten müssen. Daraus ergibt sich ohne Avei-
teres, daß eine nähere Analyse dieser Bewegungen nur in steter
Beziehung zur Analyse der entsprechenden Affekte selbst vorge-
nommen werden kann. Die letzten leitenden Gesichtspunkte werden
aber den Elementen des Affekts, den ihn zusammensetzenden ein-
fachen Gefühlen, zu entnehmen sein. Damit sind wir wiederum auf
jene fundamentalen Eigenschaften hingewiesen, die jedem noch so
einfachen Gefühl als seine näheren Bestimmungen zukommen, und
die sich daher auch in jedem Affekt in irgendeiner Weise wieder-
finden. Dieser Eigenschaften gibt es im ganzen drei. Zwei von
ihnen sind dem Gefühl als solchem eigen, unabhängig von seinem
Zusammenhange mit andern Bewußtseinsvorgängen; die dritte ent-
steht durch seine Beziehung zu den objektiven Inhalten unserer
unmittelbaren Erfahrung. Die beiden ersten nennen wir die In-
tensität und die Qualität des Gefühls; die dritte können wir als
seine Vorstellungsverbindung oder, da solche Verbindungen
Ausdrucksbewegungen starker Affekte. gi
regelmäßige Inhalte der Affekte bilden, als seinen Vorstellungs-
inhalt bezeichnen. Auf diese Weise gewinnen wir drei Klassen
von Ausdrucksbewegungen oder vielmehr, da im allgemeinen diese
Klassen nicht getrennt voneinander vorkommen, sondern jede Aus-
drucksform in jede von ihnen gehören kann, drei Richtungen
von Ausdruckserscheinungen. Wir wollen sie kurz die In-
tensitäts-', die Oualitäts- und die Vorstellungsäußerungen
der Affekte nennen. Innerhalb jeder dieser Richtungen findet sich
eine Fülle einzelner Formen, die durch mannigfaches Übereinander-
greifen der Symptome und durch die Koexistenz von Erscheinungen
verschiedener, ja entgegengesetzter Art noch beträchtlich vermehrt
wird. Eine eingehende Betrachtung auch nur der hauptsächlichsten
würde von dem nächsten Zwecke dieses Werkes allzuweit abliegen.
Es kann sich daher im folgenden nur darum handeln, bei jeder
der genannten Klassen die Gesichtspunkte hervorzuheben , die für
das allgemeine Problem der Ausdrucksbewegungen und damit zu-
gleich für das Problem der Sprache von Bedeutung sind.
IV. Intensitätsäußerungen der Affekte.
I. Ausdrucksbewegungen starker Affekte.
Die erste und allgemeinste Eigenschaft, die uns die Intensitäts-
äußerungen der Affekte darbieten, ist die, daß sie sich zwischen
den Gegensätzen der Erregungs- und Hemmungssymp-
tome bewegen, wobei die letzteren keineswegs in einer bloßen Ab-
nahme oder Aufhebung der Erregung, sondern, ebenso wie diese,
in einem positiven, nur in entgegengesetztem Sinn auf die Muskeln
einwirkenden Innervationsvorgange bestehen. Die Bedingung zu
diesem gegensätzlichen Charakter der Ausdruckssymptome liegt
aber darin, daß, wie das Herz, so auch die äußeren Körpermuskeln
im Zustande der Affektlosigkeit oder unmerklicher Affektwirkungen
immer noch eine dauernde tonische Erregung zeigen, von welchem
Indifferenzpunkt aus nun Innervationen nach entgegengesetzten
Richtungen stattfinden können. (Vgl. oben S. 66.)
Am reinsten, verhältnismäßig unvermischt mit Qualitäts- und
Vorstellungssymptomen, lassen sich diese Intensitätsäußerungen bei
Q2 Die Ausdrucksbewegungen.
sehr starken Affekten beobachten, weil hier durch die gesteigerten
Erregungs- oder Hemmungswirkungen alle sonstigen Erscheinungen
verwischt oder verdeckt werden. Solche reine Intensitätssymptome
können wir daher als »Ausdrucksbewegungen starker Affekte«
bezeichnen. Sie bilden wegen ihrer relativ unvermischten Be-
schaffenheit zugleich den zweckmäßigsten Ausgangspunkt für das
Studium dieser Ausdrucksformen. Der Gegensatz der Erregung
und Hemmung ist aber bei ihnen stets an Gradunterschiede der
Affekte gebunden, so daß wir sie wieder in Intensitätsäußerungen
starker und in solche stärkster Affekte unterscheiden können. Bei
jenen wird die Erregungsinnervation in die Nähe ihres Maximums
gehoben; bei diesen besteht eine mehr oder minder ausgebreitete
Hemmungsinnervation. Die Grenze, wo die erste in die zweite
Form übergeht, wechselt beträchtlich nach den besonderen Be-
dingungen; in jedem einzelnen Falle scheint sie aber eine ziemlich
scharfe zu sein, so daß plötzlich die höchste Erregung in eine fast
momentane und oft ausgebreitete Hemmung überspringt. Am deut-
lichsten ist das beim Herzen zu verfolgen, dessen Pulsationen bei
starken Affekten, wie Schreck, Angst, Wut, zunächst in ihrer Fre-
quenz enorm gesteigert werden können, worauf dann sehr bald ein
plötzlicher Abfall der Höhe der Pulskurve oder selbst Herzstillstand
eintritt. Dieser Erscheinungsfolge entsprechen vollkommen die
eigentlichen Ausdrucksbewegungen, jedoch mit der besonderen
Eigentümlichkeit, daß die Erregung vorwiegend eine »klonische«,
die Hemmung eine »tonische« Innervation ist. Starke Affekte der
Freude, des Zorns, der Angst, der Sorge äußern sich in raschen
und wechselnden Bewegungen, denen, wie die psychischen Er-
scheinungen lehren, ähnliche explosive Erregungsvorgänge der
höheren Nervenzentren entsprechen. Auch der Verlauf der Gefühle
und Vorstellungen wird nämlich ein beschleunigter, oft ein so
stürmisch beschleunigter, daß darin schon für das unmittelbare
Erleben der Affekte eine Nötigung zu plötzlichem Stillstande mit
der Wirkung eines der Bewußtlosigkeit sich nähernden Zustandes
oder wirklicher Bewußtlosigkeit liegt. Nach dem formalen Charakter
der Symptome bietet sich also hier auf psychischer Seite genau
dasselbe Bild, das die Pulskurve in den obenerwähnten verschie-
denen Phasen ihres Verlaufs zeigt. Nur in dem einen Punkt unter-
Ausdrucksbewegungen starker Affekte. g^
scheidet sich jener psychische Verlauf, daß er in außerordentlich
mannigfaltiger Weise qualitativ gefärbt sein kann, indem jeder
konkrete Affekt aus seinen besonderen Gefühlen und Vorstellungen
besteht, die ihn von jedem andern, formal noch so ähnlichen unter-
scheiden, während die Herzsymptome, eben weil sie bloße Inten-
sitätserscheinungen ohne qualitative Nebenbestimmungen sind, nur
diesen formalen Verlauf widerspiegeln. Dagegen zeigen die äußern
Körperbewegungen ein mittleres Verhalten: sie sind, wie die Herz-
bewegungen, in Energie und Geschwindigkeit nach der Stärke des
Affekts intensiv abgestuft; und sie lassen zugleich zwar nicht die
konkrete Besonderheit des Affekts, aber doch seine allgemeine
Gefühlsrichtung und einzelne besonders hervortretende Vorstellungs-
bestandteile deutlich erkennen. Diese Erscheinungen gehören je-
doch schon zu den nachher zu erörternden Qualitäts- und Vor-
stellungsäußerungen, die auf dieser ersten Stufe, derjenigen der
»starken Affekte«, noch die reinen Intensitätssymptome begleiten.
Solche qualitative Nebenbestimmungen treten nun in dem Maße
zurück, als sich die »starke« der »stärksten« Affektäußerung nähert.
Ist sie in diese übergegangen, so tritt plötzlich statt der bisher
vorhandenen Erregungsinnervation die Hemmung hervor, in deren
Folge die an der Affektäußerung beteiligten Muskeln nicht nur
momentan erschlaffen, sondern für eine längere, je nach der
Stärke des Affekts wechselnde Zeit im erschlafften Zustande ver-
harren, um dann nicht plötzlich, sondern allmählich wieder den
normalen Erregungstonus zu gewinnen. Alle diese ;Hemmungs-
erscheinungen werden um so mehr, je intensiver und ausgebreiteter
sie sind, zu bloßen, gegenüber dem qualitativen Inhalt der Affekte
indifferenten Intensitätssymptomen. Bei jenen seltenen äußersten
Graden der Gemütsbewegung, wo der Körper jäh und blitzartig
von einem Hemmungsstoß getroffen zusammensinkt, sind so die
Äußerungen der verschiedensten Affekte, der übermächtigsten
Freude, der Wut, der höchsten Angst, des Schrecks, überein-
stimmend. Kann man auch das Bild des Schrecks als diejenige
Form betrachten, der sich die andern Gemütsbewegungen zuerst
nähern, um dann ganz in sie überzugehen, so ist dies doch offen-
bar nur darin begründet, daß der Schreck vermöge seiner Ent-
stehungsbedingungen schon bei relativ unbedeutenden Ursachen ein
g/1 Die Ausdrucksbewegungen.
Afifekt von stark hemmendem Charakter ist. Übrigens ist auch
diese Gleichförmigkeit der Hemmungserscheinungen nicht auf die
Ausdrucksbewegungen beschränkt, sondern sie erstreckt sich nicht
minder auf die psychische Symptomenreihe; und die plötzliche
Hemmung des Vorstellungs- und Gefühlsverlaufs, die hier ein-
tritt, läßt der Natur der Sache nach ebensfalls keine qualitativen
Unterschiede zu. Man kann daher diese Tatsache mit ihren sämt-
lichen Teilerscheinungen in den Satz zusammenfassen: alle Affekte
gehen beim äußersten Grad in einen einzigen intensivsten Affekt
von schreckhaftem Charakter über, und ihr innerer Verlauf wie ihre
äußeren Symptome werden von diesem Punkt an gleichförmig.
2. Beteiligung einzelner Muskelgebiete an den
Intensitätssymptomen.
An den geschilderten Erregungs- und Hemmungssymptomen
pflegen keineswegs alle Körpermuskeln gleichmäßig teilzunehmen.
Abgesehen von dem Herzen und den muskulösen Wandungen der
Blutgefäße, die hier als innere muskulöse Organe eine eigenartige
Stellung einnehmen (vgl. unten 3), sind es in erster Linie die
Atmungs- sowie überhaupt solche Muskeln, die gleich ihnen in
wechselnder Tätigkeit geübt sind, welche die Intensitätssymptome
der Affekte erzeugen. Aus der Gesamtheit der äußeren Körper-
muskeln treten dann aber wieder drei Gruppen durch die beson-
dere symptomatische Bedeutung ihrer Wirkungen hervor: die mimi-
schen Muskeln des Angesichts, die pantomimischen Muskeln, die
der Bewegung der Arme und Hände dienen, und endlich die Mus-
keln der Gehwerkzeuge. Diese drei Gruppen bilden zugleich eine
symptomatische Intensitätsskala, indem die Bewegungen um so mehr,
einer je weiter voranstehenden Gruppe sie angehören, nicht mehr
reine Intensitäts-, sondern zugleich Qualitäts- und Vorstellungs-
äußerungen sind. So spiegelt sich in den mimischen Bewegungen
in der Regel nur neben den vor allem hervortretenden qualitativen
Gefühlsmerkmalen auch der Grad des Affekts. Mehr sind schon
die Gebärden der Arme und Hände, wenn nicht ein aus bestimmten
Ursachen entstehender Trieb nach Mitteilung hinzukommt, Zeichen
gesteigerten Affekts. Die Muskeln der Gehwerkzeuge aber werden
Beteiligung einzelner Muskelgebiete an den Intensitätssymptomen. g^
im allgemeinen erst bei den stärksten Affekten in Anspruch ge-
nommen, und sie sind dann fast reine Intensitätssymptome. Gerade
bei den stärksten Affekten ist die hemmende Wirkung auf diese
Muskeln, mag sie sich nun als bloße Empfindung der Ermattung
oder als lähmungsartige Schwäche oder endlich bei den äußersten
Graden als wirkliche, das momentane Zusammenbrechen des Kör-
pers verursachende Lähmung äußern, die subjektiv wie objektiv am
meisten hervortretende Affekterscheinung. Übrigens steigern sich
bei diesem Hinzutreten der sonst an der Affektäußerung unbe-
teiligten Muskelgebiete immer auch die bei minder ausgebreiteten
Wirkungen vorhandenen Symptome, und diese gewinnen die näm-
liche, mit der Stärke des Affekts zunehmende Unabhängigkeit von
der besonderen Qualität der seelischen Zustände. So können schon
bei starken, aber noch nicht übermäßigen Affekten die heftigeren
mimischen und noch mehr die pantomimischen Bewegungen die
besonderen Färbungen der Gemütsvorgänge zurücktreten lassen ;
und bei den stärksten Affekten ist namentlich die lähmungsartige
Erschlaffung der Gesichtsmuskeln eine charakteristische Teilerschei-
nung der allgemeinen Hemmung.
Im Gegensatz zu diesen intensivsten Affektäußerungen, bei denen
alle besonderen Nuancen des Ausdrucks verschwinden, bietet bei
schwächeren Gemütsbewegungen speziell das Gebiet der mimischen
Bewegungen nicht selten das Schauspiel einer mannigfaltigen Ver-
bindung verschiedener und selbst entgegengesetzter Symptome —
eine Folge jener weitgehenden Sonderung der einzelnen Innervations-
gebiete, die vor allem dem Nervus facialis eigen ist (S. 6g). Dem
entspricht es ganz, daß die um die einzelnen Sinnesorgane ge-
lagerten Muskeln, insbesondere die um Auge und Mund, in hohem
Grad unabhängig voneinander innerviert werden können, und daß
nicht selten selbst die symmetrischen Muskelregionen beider Ge-
sichtshälften verschiedene, ja entgegengesetzte Erscheinungen dar-
bieten. In den Bereich der Intensitätsäußerungen der Affekte fallen
jedoch diese Wirkungen nur insofern, als sie in Kombinationen von
Erregungs- und Hemmungssymptomen bestehen, die immer zu-
gleich qualitative Merkmale gewisser gemischter Affekte sind. So ist
die plötzliche Hemmung der Innervation der Wangen- und Mund-
muskeln ein sehr ausgeprägter Zug, der bei manchen Personen jede
g 6 I^ie Ausdrucksbewegungen.
auch nur leiseste Regung eines deprimierenden oder erregenden
Affekts begleitet, also bei Sorge, Kummer ebensowohl wie bei Er-
staunen, Verwunderung, Neugierde vorkommt, und der mit lebhaften
und je nach den besonderen Bedingungen wieder qualitativ nuan-
cierten Erregungssymptomen der das Auge und seine Umgebung
bewegenden Muskeln verbunden zu sein pflegt. Auf solche Weise
reichen diese kombinierten Erscheinungen, in denen sich der ge-
mischte oder kontrastierende Charakter gewisser Affekte spiegelt,
bereits in das Gebiet der Qualitätsäußerungen hinüber.
3. Vasomotorische Intensitätssymptome.
Zu den an den äußeren Körpermuskeln hervortretenden Symp-
tomen bilden die oben (S. 46 ff.) erörterten Innervationsänderungen
des Herzens und der kleineren arteriellen Gefäße Begleiterschei-
nungen, die auch insofern eine eigentümliche Stellung einnehmen,
als sie, im Gegensatze zu der in der Regel gemischten Natur nament-
lich der mimischen und der pantomimischen Bewegungen, durch alle
Stufen der Affektäußerung hindurch den Charakter reiner Inten-
sitätssymptome bewahren. Dabei ist allerdings dieser Ausdruck
nicht so zu verstehen, als wenn nicht auch hier aus der eigentüm-
lichen Kombination der Erscheinungen irgendwie auf die Qualität
des Affekts zurückgeschlossen werden könnte. Vielmehr haben wir
ja speziell für die Herzbewegungen solche Beziehungen kennen
gelernt. Ebenso ist das vasomotorische Symptom des Errötens
in der eigentümlichen Beschränkung, in der es bei der Scham
und der Verlegenheit vorkommt, für diese Affekte kennzeichnend.
Trotzdem ist es augenfällig, daß diese Innervationsänderungen nicht
in ähnlicher Weise eindeutige Merkmale der Qualität bestimmter
Gefühle und Affekte sind wie die Mimik des Mundes und des
Auges, oder wie in anderem Sinn, in der Beziehung auf irgend-
welche Vorstellungen, die Gebärden der Arme und Hände. Der
Grund dieses Unterschiedes liegt offenbar darin, daß es immer nur
eine eigentümliche Kombination an sich rein intensiver Symptome
ist, die den vasomotorischen Erscheinungen den Wert von quali-
tativen Merkmalen verleihen kann. Wir werden daher zu dem
Schluß gedrängt, daß die vasomotorischen Erregungen eine quali-
Vasomotorische Intensitätssymptome. q^
tative Bedeutung immer erst sekundär, durch die besonderen In-
tensitätsmerkmale, die bestimmte Gefühle und Affekte in ihrem zeit-
lichen Verlauf darbieten, gewinnen können. Mit anderen Worten:
die Herz- und Gefäßinnervation bleiben reine Intensitätssymptome,
aber die Verteilung der Intensitätsschwankungen der Ge-
fühle in der Zeit ist zugleich für jede qualitative Klasse von Ge-
fühlen eine besondere, im wesentlichen ihr allein eigentümliche, und
die aus dieser Verteilung entspringenden Merkmale besitzen so
neben ihrem intensiven einen qualitativen Wert.
Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt die vasomotorischen
Erscheinungen, so springt in die Augen, daß sie sich sämtlich zu-
nächst auf die zwei gegensätzlichen Reizwirkungen zurückführen
lassen, die überhaupt alle Intensitätsäußerungen der Affekte beherr-
schen: auf Erregung und Hemmung. Beide in ihrem einfachen
Gegensatz treten bei der Innervation der Gefäße in der Verenge-
rung und Erweiterung des Gefäßlumens hervor, jene ein Erregungs-,
diese ein Hemmungssymptom. Verwickelter verhält es sich bei der
Herzinnervation, wo infolge der besonderen Einrichtungen des
regulatorischen Nervensystems Erregung wie Hemmung in zwei
Formen in die Erscheinung treten können : erstens als Zu- und Ab-
nahme der Höhe der Pulswelle; zweitens als Beschleunigung und
Verlangsamung (Verkürzung und Verlängerung) derselben. Hier-
nach werden wir speziell für die Herzerscheinungen voraussetzen
dürfen, daß sie, als reine Intensitätssymptome aufgefaßt, in doppelter
Weise für die quantitativen Eigenschaften der Affekte charakteristisch
sind: erstens in der Beschaffenheit der einzelnen Herzkontraktionen
oder der ihnen entsprechenden Pulswellen für die Intensität des
Gefühlsinhaltes; und zweitens in dem zeitlichen Verlauf der Puls-
bewegungen für die extensiven zeitlichen Eigenschaften der Ge-
mütsbewegung. In beiden Beziehungen oszilliert dann wieder die
Veränderung zwischen den Gegensätzen der Erregung und Hem-
mung; und es können nicht bloß diese intensiv und extensiv zu-
sammentreffen, sondern es kann sich auch eine intensive Erregung
mit einer extensiven Hemmung verbinden, und ebenso umgekehrt.
Nun ist es augenfällig, daß unter den drei allgemeinen Gefühls-
dimensionen, die uns die psychologische Analyse der Affekte unter-
scheiden ließ, die der Erregung und Beruhigung [IE und ID Fig. i
Wundt, Völkerpsychologie!, i. 2. Aufl. 7
Die Ausdrucksbewegungen.
S. 44) dem Gegensatz der physiologischen Erregungs- und Hem-
mungsinnervation am unmittelbarsten entspricht. Scheinen doch in
diesem Fall die letzteren nur die auf das physische Gebiet über-
tragenen Kontraste der psychischen Zustände selbst zu sein. So
ist denn auch in intensiver Beziehung unzweifelhaft die gesteigerte
psychische Erregung durch Erhöhung, die herabgesetzte durch Er-
niedrigung der Pulswelle gekennzeichnet, wogegen analoge extensive
Innervationsänderungen , Beschleunigung und Verlangsamung der
Herzbewegungen, erst bei den höheren Graden gehobener und depri-
mierter Stimmung hinzuzutreten scheinen. Diese zu den physiolo-
gischen Symptomen in nächster Beziehung stehenden Gefühlsrich-
tungen der Erregung und Beruhigung sind aber zugleich diejenigen,
die in der Verbindung der Gefühle zu einem Affektverlauf die we-
sentlichsten Intensitäts- und Verlaufsunterschiede der Affekte kon-
stituieren. Hierdurch wird es begreiflich, daß die vergleichende
Betrachtung der Affekte immer wieder zu Einteilungen geführt worden
ist, die, wie die Ausdrücke sthenisch und asthenisch, exzitierend und
deprimierend, auf solche von der sonstigen Beschaffenheit der Ge-
fühlsinhalte unabhängige Gegensätze hinweisen, und die infolgedessen
ebensowohl auf die physischen wie auf die psychischen Symptome
bezogen werden können — ein sprechendes Zeugnis dafür, daß in
dieser Hinsicht beide eine zusammengehörige Einheit bilden. Die
physische Erregung oder Hemmung ist daher ein unmittelbares
Maß für die in der Richtung der erregenden und hemmenden
Gefühle liegenden Komponenten der Affekte. Bei den anderen
Gefühlsrichtungen verhält sich dies insofern abweichend, als sich
hier die intensiven und die extensiven Wirkungen in verschiedener
Weise verbinden können. Mit jeder solchen Kombination steht aber
die besondere Qualität des Gefühls derart in Beziehung, daß der
formale Charakter, den die Gefühle dem Affekt mitteilen, zum
Ausdruck kommt. Zugleich zeigt es sich hierbei, daß eben dieser
formale Charakter es ist, der den erregenden und hemmenden Ge-
fühlen in ihrer Bedeutung für den Affektverlauf eine Art Suprematie
über die andern Richtungen verleiht, so daß auch diese nach ihrer
formalen Natur in verschiedener Weise in Erregungs- und Hemmungs-
komponenten zerlegt werden können. Insofern bei einer solchen
formalen Analyse der qualitative Inhalt der Gefühle unberührt bleibt,
Vasomotorische Intensitätssymptome. gg
entspricht dieses Ergebnis der allgemeinen Beziehung, die sich über-
all zwischen den psychischen Vorgängen und ihren physischen
Parallelerscheinungen findet. Demnach wird man die gesteigerte,
aber verlangsamte Pulswelle bei Lustgefühlen daraus ableiten können,
daß die formale Affektwärkung dieser Gefühle in einer Steigerung
und zugleich in einem Festhalten der Stimmung an dem lusterregen-
den Eindruck besteht: daher die Verbindung intensiver Steigerung
mit extensiver Verzögerung des Verlaufs. Von entgegengesetztem
Einfluß ist der Unlustcharakter der Gefühle. Intensiv entsteht hier
Hemmung der Erregung, extensiv beschleunigter Verlauf, der sich
in der konkreten Aufeinanderfolge der Vorstellungen und Affekte
als ein Fliehen vor den unerfreulichen Eindrücken darstellt. End-
lich bei den Spannungsgefühlen sind intensiv wie extensiv nur
Hemmungen wirksam, wie wir das bei gespannter Erwartung psy-
chologisch an der verminderten Reizbarkeit für äußere Eindrücke
und an dem verlangsamten Vorstellungsverlauf beobachten. Bei der
Lösung der Spannung bricht dagegen in beiden Formen die Um-
kehrung zu gesteigerter Erregung durch, die, wie an verstärkter
und beschleunigter Herzaktion, so auch auf der psychischen Seite
des Vorgangs an den rasch zuströmenden und stark erregenden
neuen Bewußtseinsinhalten zu erkennen ist (vgl. Fig. 2 — 7, S. 46 f.).
Wesentlich einfacher gestaltet sich die Innervation der
Blutgefäße, da sie bloß zwischen den Zuständen der Kontrak-
tion und der Dilatation durch Hemmung der dauernden Tonus-
erregung wechselt, wobei jedoch die verschiedene Ausbreitung der
Symptome eine diesem Gebiet eigentümliche extensive Mannig-
faltigkeit der Erscheinungen bewirken kann. Zugleich sind es, viel-
leicht im Zusammenhang mit der überwiegenden Bedeutung der
mimischen Muskeln für den Ausdruck der Affekte, die Blut-
gefäße des Angesichts, die am empfindlichsten auf Reize jeder Art
reagieren. Erröten und Erblassen bilden so die zwei den ent-
gegengesetzten Formen der erregenden und hemmenden Affekte
entsprechenden Symptome. Ihre Ausbreitung folgt im allgemeinen
dem Gesetze, daß sich schwächere Reize erregender wie hemmender
Art zunächst nur auf die vasomotorischen Nerven der Wangen er-
strecken, worauf dann erst bei stärkeren Reizungen dieselben Wir-
kungen auf die nähere Umgebung dieses Gebietes, wie Stirn, Nacken,
7*
lOO Die Ausdracksbewegungen.
Hals, endlich in seltenen Fällen und nur bei den stärksten Hem-
mungswirkungen auch auf andere Teile sich ausdehnen: so auf die
Kopfhaut, wo nun infolge der Kontraktion der kleinen Gefäßmuskeln
die Haare sich sträuben.
V. Qualitätsäußerungen der Affekte.
I. Gefühle als Grundlagen der Qualitätssymptome.
Mit den Bewegungs- und Hemmungserscheinungen, welche die
Stärke des Affektes messen, verbinden sich in der Regel untrennbar
charakteristische Ausdrucksbewegungen von beschränkterem Umfang,
in denen sich die Qualität des Affektes spiegelt. Da diese Qualität
ganz und gar auf dem Gefühlsinhalte beruht, so sind es die Grund-
formen der Gefühle, nach denen sich hier die hauptsächlichsten
Ausdruckserscheinungen scheiden. Von den früher hervorgehobenen
sechs Hauptqualitäten der Gefühle nehmen aber nicht alle in
gleicher Weise an dieser qualitativen Charakteristik der Affekte
teil. Dies hängt damit zusammen, daß der Affekt gegenüber dem
einfachen Gefühl ein Prozeß zusammengesetzter Art ist, auf dessen
Eigenschaften daher auch die einzelnen Elemente, die in ihn ein-
gehen, einen verschiedenen Einfluß ausüben. In der Tat haben uns
auf einen solchen Unterschied die obigen Betrachtungen über die
Intensitätsäußerungen bereits geführt. Die Gefühlsgegensätze der Er-
regung und Beruhigung besitzen nämlich, wie sich dort zeigte, für
den ganzen Verlauf des Affekts und für die an diesen Verlauf zu-
nächst gebundenen Intensitätssymptome eine so vorwiegende Bedeu-
tung, daß die letzteren für uns zugleich Merkmale sind, nach denen
wir die Gefühle der Erregung und Hemmung selbst, die an einem
Affektverlauf teilnehmen, bemessen. Diese Gefühle nehmen daher
mit Rücksicht auf den Affektverlauf und seine körperlichen Begleit-
erscheinungen eine eigentümliche Sonderstellung ein. Sie sind qua-
litative Gefühle wie die andern, aber als Bestandteile eines Affektes
sind sie außerdem diejenigen Gefühlselemente, die dessen formale
Eigenschaften, seine Energie und Geschwindigkeit, und damit die
Energie und den Verlauf seiner physischen Symptome unmittelbar
bestimmen, während die übrigen Gefühlsrichtungen nur indirekt, durch
Mechanismus der mimlsctien Ausdrucksbewegimgen. lOi
den Einfluß, den sie auf den exzitierenden oder deprimierenden
Charakter des Affektes äußern, für jene formalen Eigenschaften in
Betracht kommen. Demnach sind aber auch umgekehrt nur die
beiden andern Gefühlsdimensionen, der Lust und Unlust, der
Spannung und Lösung, für die spezifischen Qualitätssymp-
tome der Affekte bestimmend. Sie geben sich durch Ausdrucks-
bewegungen zu erkennen, die an sich freilich gleichfalls keine quali-
tativen Merkmale sind, — solches ist ja durch die Natur aller Affekt-
äußerungen als Bewegungserscheinungen ausgeschlossen. Wohl aber
gewinnen diese Bewegungen durch ihre eigentümliche lokale Be-
schränkung und Verteilung für unsere Auffassung der Affekt-
äußerungen durchaus den Wert qualitativer Symptome. Hierbei
lassen nun natürlich auch diese Erscheinungen mannigfache intensive
Abstufungen zu. Doch solange sie eine vorwiegend qualitative Be-
deutung bewahren, beschränken sie sich auf bestimmte, ihnen zu-
geordnete Muskelgebiete. Soweit sie das nicht tun, werden sie zu-
gleich Symptome einer Erregung oder Hemmung, und sie ver-
binden sich dann mit ausgebreiteteren und unbestimmteren Intensi-
tätsäußerungen.
2. Mechanismus der mimischen Ausdrucksbewegungen.
Die in solcher Weise den genannten Richtungen der Gefühle
zugehörigen spezifischen Qualitätsäußerungen der Affekte sind in
ihrer ursprünglichen und reinen Form ganz und gar beschränkt auf
die Ausdrucksbewegungen der Antlitzmuskeln. Der allgemeine
Grund dieser Bevorzugung ist augenfällig: jene Bewegungen stehen
in engster Beziehung zu den am Angesicht vereinigten Organen der
vier sogenannten Spezialsinne. Unter diesen Organen sind aber
wieder Auge und Mund diejenigen, die durch die Ausbildung der
ihre Funktionen unterstützenden Muskulatur die größte Mannigfaltig-
keit charakteristisch verschiedener Bewegungen zulassen. Die Mus-
keln des äußeren Gehörorgans sind beim Menschen verkümmert, so
daß ihre Beteiligung an den mimischen Bewegungen ganz hinweg-
fällt. Wo die Richtung auf Schalleindrücke Bewegungen heraus-
fordert, da gehen diese von der Gesamtmuskulatur des Kopfes aus:
solche Bewegungen gehören dann aber wesentlich schon in das
102
Die Ausdrucksbewegungen.
Gebiet der Vorstellungsäußerungen der Affekte. Eine stärker hervor-
tretende Rolle spielt die Nase bei den mimischen Gefühlsäußerungen.
Im ganzen ist aber doch auch diese Rolle eine nur sekundäre, indem
sich mit den Ausdrucksbewegungen des Mundes entsprechende Wir-
kungen der Nasenmuskeln, namentlich Erweiterung und Verengerung
der Nasenöffnung, Hebung und Senkung der Nasenflügel, verbinden.
Bei Mund und Auge ist die typische Anordnung der umgeben-
den Muskeln eine wesentlich übereinstimmende (Fig. 9). Nur ist
Buccinator-
■■ Orbicular. oculi
— Dorsalis narium
-•Leiator alae nasi
" Triangularis nasi
" Levatcr Iah. sup.
-Quadrat, l. s.
- Orbicular. oris
7ygomaticvs
Bisorius Santorini
Qiiadratus lab. inf.
Ti tangularis
Fig. 9. Übersicht der mimischen Muskulatur.
die äußere Muskulatur des Mundes reicher und feiner gegliedert.
Analog verhalten sich bei beiden Organen zunächst die in dichten
und fest mit der Haut verwachsenen Bündeln verlaufenden Schließ-
muskeln der Mund- und der Augenspalte (Orbicularis oris und
oculi). Indem diese Muskeln in beiden Fällen der festen Anhef-
tungspunkte ermangeln, und indem ganz besonders bei ihnen die
früher (S. 69) für die Gesichtsmuskeln im allgemeinen hervorgehobene
Eigenschaft lokal beschränkter und mannigfach kombinierter Reiz-
Mimische Symptome der Lust- und Unlustgefühle. lO^
barkeit der einzelnen Faserbündel hervortritt, ist jeder von ihnen
für sich allein schon mannigfacher Nuancen des Ausdrucks fähig.
Daneben besitzt dann der Mund noch ein vollkommen symmetrisch
ausgebildetes System geradlinig ziehender Muskeln, die teils die
Oberlippe heben, die Unterlippe senken (Levator und Quadratus
labii superioris, Quadratus labii inferioris), teils im selben Sinn auf
die Mundwinkel und die an sie angrenzenden Gebiete beider Lippen
einwirken (Zygomaticus, Risorius Santorini, Triangularis). Dem gegen-
über bieten die das Auge umgebenden Antlitzmuskeln eine wesent-
lich einfachere und insofern eine minder symmetrische Anordnung,
als nur den Hebemuskeln der Oberlippe hier in den breiten Faser-
zügen des Stirnmuskels (Frontalis) und in dem in der Tiefe der
Ringmuskelschichten liegenden (darum in der Fig. nicht sichtbaren)
Heber des oberen Augenlides sowie in dem dem Mundwinkelheber
entsprechenden »Stirnrunzier« (Corrugator superciliorum) ähnliche
Muskeln gegenüberstehen, während am äußeren Augenwinkel solche
fehlen. Dafür bilden hier die Bewegungen des Augapfels selber,
die unter der Wirkung der in der Augenhöhle liegenden, das Auge
um seinen Mittelpunkt drehenden Muskeln erfolgen, einen um so
wichtigeren Bestandteil des mimischen Ausdrucks. An der Nase
treten als oberflächliche mimische Muskeln ein die Nasenöffnung
verengender (Compressor oder Triangularis), sodann der die ganze
Nase emporhebende Nasenrückenmuskel (Dorsalis narium), und end-
lich ein Heber des Nasenflügels (Levator alae nasi) hervor, welchem
letzteren in der Tiefe ein Niederzieher des Nasenflügels und ein
solcher der Nasenscheidewand gegenüberstehen.
3. Mimische Symptome der Lust- und Unlustgefühle.
Unter den durch dieses System der Antlitzmuskeln erzeugten
Bewegungen sind es in erster Linie die Mundbewegungen, die
teils für sich allein, teils mit unterstützender Mitwirkung der das
Auge und die Nase umgebenden Muskeln die Gefühle der Lust
und Unlust in ihren mannigfachen Färbungen, Verbindungen und
Intensitätsabstufungen ausdrücken. Die leichte Verständlichkeit die-
ses Mienenspiels beruht vor allem darauf, daß der von der Mimik
des Mundes angegebene Grundton des Ausdrucks in nichts anderem
lOA I^^s Ausdrucksbewegungen.
als in einer Wiedergabe jener Bewegungen besteht, die bei lust-
oder unlusterregenden Geschmackseindrücken reflektorisch er-
folgen. Schon beim neugeborenen Kinde sind sie auf die Einwir-
kung süßer, saurer und bitterer Geschmacksreize zu beobachten,
unter Bedingungen also, unter denen es noch zweifelhaft ist, ob die
Eindrücke bereits Lust- oder Unlustgefühle erregen können, wo aber
jedenfalls, wie es sich auch mit dem Vorhandensein solcher Gefühle
verhalten möge, die Bewegungsreaktionen selbst als reflektorische,
in der vererbten Anlage der zugehörigen niederen Zentren begrün-
det angesehen werden müssen^). Auch wenn wir an uns selbst
die mimischen Wirkungen der Geschmacksreize prüfen, beobachten
wir übrigens, daß [diese Ausdrucksbewegungen ohne unser Wissen
und Wollen erfolgen, [und daß es außerordentlich schwer wird, sie
willkürlich zu unterdrücken. Ebenso verbinden sich die durch diese
Bewegungen hervorgerufenen Tastempfindungen so innig mit den
zugehörigen Geschmackserregungen, daß beide bei jeder Reizqualität
eine jener festen Assoziationen bilden, von denen das eine Glied
das andere unabänderlich in das Bewußtsein ruft. Mag aber auch
diese Assoziation noch so sehr in den Reflexverbindungen, die im
Laufe der generellen Entwicklung entstanden sind, mechanisch vor-
gebildet sein, so läßt sich doch kaum zweifeln, daß ursprünglich
alle diese mimischen Bewegungen Triebbewegungen waren, die,
durch die Sinnesreize hervorgerufen, der lust- oder unlusterregenden
Beschaffenheit derselben entsprachen. Für diese Beurteilung ist
besonders die Tatsache maßgebend, daß die Papillen der Zunge,
die auf die verschiedenen Geschmacksstoffe mit verschiedener Emp-
findlichkeit reagieren, derart über die Oberfläche dieses Organs
verteilt sind, daß an der Zungenspitze vorzugsweise dicht die für
süße Eindrücke reizbaren Elemente liegen, die durch saure Reize
erregbaren dagegen in größerer Menge längs der beiden Zungen-
ränder, und die für bittere Stoffe empfindlichen an der oberen Fläche
der Zungenbasis. Die letztere Papillenregion scheint auch das Sal-
zige am stärksten zu empfinden"^]. Nun stehen die mimischen Reflexe,
^) A. Kußmaul, Untersuchungen über das Seelenleben des neugeborenen Men-
schen, 1859, S. 16 ff. Genzmer, Die Sinneswahrnehmungen des neugeborenen Men-
schen, 1892. Vgl. oben S 38 f.
2) D. P. Hänig, Phil. Stud., Bd. 17, 1901, S. 576 ff., Physiol. Psych. 5 ÜI, S. 290.
Mimische Symptome der Lust- und Ünlustgefühle.
IO =
die bei Einwirkung- süßer, saurer und bitterer oder stark salziger
Geschmacksreize beobachtet werden, zu den genannten drei Re-
gionen des Geschmacksorgans in deutlicher Beziehung. Dies spricht
sich schon darin aus, daß die Bewegungen jedesmal solche Teile
der Mundmuskulatur ergreifen, die den genannten Regionen benach-
bart sind. Daneben ist aber auch eine teleologische Beziehung
dieser Bewegungen zu den Geschmacksreizen nicht zu verkennen.
Sie beruht darauf, daß das Süße durchweg ein angenehmer, das
Bittere ebenso allgemein ein unangenehmer Reiz ist, während salzige
und saure Eindrücke mehr indifferent in der Mitte stehen, jedenfalls
aber bei erheblicher Intensität ebenfalls vorwiegend unangenehm
sind. Dem entspricht es nun, daß die Reflexe auf Süß und Bitter
Fig. lo. Mimik des Süßen.
Fig. II. Mimik des Bittern.
den ausgesprochensten Gegensatz bilden. Der süße Eindruck erzeugt
eine Bewegung der Zunge und der Lippen, welche die vollkommenste
Berührung der reizbaren Stellen des Geschmacksorgans mit dem
Reize vermittelt. Äußerlich tritt dabei die gleichmäßige Zusammen-
ziehung des den Mund umgebenden Ringmuskels deutlich hervor
(Fig. lo). Umgekehrt bewirkt der bittere Reiz reflektorisch eine
Senkung der Zungenwurzel und gleichzeitig eine Hebung des weichen
Gaumens, Lageänderungen, bei denen der bittere Stoff möglichst
wenig mit der empfindlichen Geschmacksregion in Berührung kommt.
Hierbei erzeugt die erste jener inneren Bewegungen als Folgewir-
kung das Herabziehen des Mundwinkels, die zweite das Empor-
ziehen des Nasenflügels durch gleichzeitige Aktion der nach ent-
gegengesetzter Richtung wirkenden Muskeln (Fig. 1 1), Der mimische
Io6 Die Ausdrucksbewegungen.
Reflex des Sauern steht zwischen diesen beiden Fällen in der Mitte.
Er besteht in einer Erweiterung der Mundspalte, die geringer bei
mäßigen, sehr stark bei intensiven Reizen ist und demnach im ersten
Fall eine vollkommene Berührung des Reizes mit den empfindlichen
Zungenrändern möglich macht, im zweiten dagegen einer beschleu-
nigten Vorüberbewegung an diesen Teilen zureichenden Raum läßt
Bei mäßigen Reizen bleibt dabei die Mundspalte geschlossen; bei
intensiveren wird sie durch die Aktion der Heber der Oberlippe
geöffnet, während sich zugleich die Mundwinkel etwas, jedoch be-
deutend weniger als bei der Einwirkung bit-
terer Geschmacksreize, senken (Fig. 12).
Natürlich läßt sich nicht annehmen, daß
alle diese Bewegungen ursprünglich oder
überhaupt jemals auf Grund willkürlicher
Überlegung ausgeführt worden seien. Aber
Fig. 12. Mimik ö & fa
des Sauem. sobald man zugibt, daß ihre zweckmäßigen
Beziehungen zur Empfindlichkeit der verschie-
denen Regionen der Zunge irgend einmal entstanden sein müssen, so
ist es nicht minder im höchsten Maß unwahrscheinlich, daß eine
solche Anpassung aus einer bloßen Häufung von Zufälligkeiten
hervorgegangen sein sollte. Vielmehr wird die nächstliegende An-
nahme auch hier die bleiben, daß aus den ursprünglich unbestimmter
begrenzten, durch Sinnesreize hervorgerufenen Triebbewegungen die-
jenigen sich stabilisiert und vervollkommnet haben, die im einen Fall,
bei lusterregenden Eindrücken, der Aufnahme des Reizes günstig
waren, im andern Fall, bei unlusterregenden, die leichteste Besei-
tigung derselben bewirkten, und daß sich dann die so entstandenen
Verbindungen befestigten, wodurch die Triebhandlungen mehr und
mehr in mechanisch wirksame Reflexe übergingen.
Ihre Bedeutung als mimische Ausdrucksbewegungen empfangen
nun diese sämtlichen Geschmacksreflexe dadurch, daß sie bei allen
möglichen lust- oder unlusterregenden Eindrücken, die mit dem
Geschmackssinn gar nichts zu tun haben, sowie nicht minder bei
bloß innerlich vorgestellten Erlebnissen von ähnlichem Gefühls-
charakter auftreten. So deutet der 'süße' Ausdruck des Mundes
(Fig. 10) jede beliebige angenehme oder erfreuliche seelische Stim-
mung an; der ""bittere' Ausdruck begleitet alle möglichen unange-
Mimische Symptome der Lust- und Unlustgefühle.
107
nehmen Gefühle (Fig. 11). Nicht in gleicher Weise unzweideutig-,
sondern in seiner besonderen Gefühlsfärbung immer erst teils durch
die Intensität der Erregung, teils durch begleitende mimische Be-
wegungen bestimmbar ist der "^saure^ Ausdruck. Dies ergibt sich
schon daraus, daß die beiden gegensätzlichen, im allgemeinen ge-
steigerte Lust- und Unlustgefühle ausdrückenden Bewegungen des
Lachens und Weinens dieselbe Verbreiterung der Mundspalte er-
kennen lassen, wie sie durch saure Geschmacksreize hervorgerufen
wird (Fig. 13 und 14). Das lachende und das weinende Gesicht
Fig. 13. Lachen.
Weinen.
unterscheiden sich nicht oder in kaum nennenswertem Grade durch
die Mimik des Mundes selbst. Sie erhalten ihr eigentümliches Ge-
präge hauptsächlich durch die begleitende Mimik von Nase und
Auge. Beim Lachen ist die Nasenöffnung erweitert, die Nasen-
flügel sind gehoben, das Auge geöffnet und bei mäßigem Affekt
fixierend einem Gegenstand zugewandt (Fig. 13). Das weinende
Gesicht zeigt herabgezogene Nasenflügel, verengerte Nasenöffnungen,
halb geschlossene, besonders am inneren Winkel etwas zusammen-
gedrückte und nach einwärts gezogene Augen, womit sich infolge
der Kontraktion des diese Bewegung bewirkenden Corrugator super-
ciliorum kurze senkrechte, unmittelbar über dem Augenlid gegen
die horizontale Richtung sich neigende Stirnfalten verbinden (Fig. 14).
Durchgängig bilden so, wie diese beiden Beispiele andeuten, die
mimischen Ausdrucksformen der Umgebung von Nase und Auge
ergänzende Bestandteile zur Mimik des Mundes, von übereinstimmen-
Die Ausdrucksbewegungen.
dem Charakter und von analoger Bedeutung. Wir erweitern die
Nase, heben die Nasenflügel und öffnen das Auge, um Geruchs-
oder Lichtreize aufzunehmen. Durch die entgegengesetzten Bewe-
gungen schützen wir uns vor den Eindrücken auf diese Sinne.
Auch diese Bewegungen sind aber, ebenso v;ie die mimischen des
Mundes, angeborene Reflexe, wenngleich sie im allgemeinen erst
in einer etwas späteren Zeit deutlich hervortreten^). Indem sich
ferner diese mimischen Bewegungen der Sinnesorgane des Angesichts
in verschiedener Weise kombinieren, kann der Gesamtausdruck alle
möglichen Schattierungen zwischen Lachen und Weinen durch-
laufen. So unterscheidet sich das heftige Lachen vom Weinen
eigentlich nur durch wenige, aber charak-
teristische Züge (Fig. 14 und 15). Die
Züge um den Mund sind fast genau die-
selben, nur ist beim Weinen die Lippe
leicht gebogen, den Übergang in den
bitteren Ausdruck andeutend. Noch ähn-
licher ist der Ausdruck um die Augen,
da die mit dem heftigen Lachanfall ver-
bundene Anstrengung hier dieselbe Ver-
engerung der Lidspalte mit hinzukommen-
der Tätigkeit des Stirnrunzlers hervorbringt.
Den Hauptunterschied des Ausdrucks er-
zeugen daher in diesem Fall die sonst
zurücktretenden mimischen Züge der Nase, wo das heftig lachende
Gesicht (Fig. 15) die starke, die Öffnung der Nase unterstützende
Hebung der Nasenflügel und die hilfsweise eingreifende, den grinsen-
den Ausdruck erzeugende Wirkung des Rückenmuskels der Nase
höchst augenfällig zeigt, während beim weinenden umgekehrt die
Nasenöffnungen gesenkt, die Nasenflügel gegen den Mund herab-
gezogen sind. Diese Züge sind es, mittelst deren ein in der Wieder-
gabe des mimischen Ausdrucks geübter Zeichner mit wenigen Strichen
ein lachendes in ein weinendes Gesicht überführen kann.
Ähnliche Kombinationen teils übereinstimmender, teils kon-
Fig. 15. Heftiges Lachen.
i) Übrigens hat Kußmaul (a. a. O. S. 2$: schon bei Neugeborenen Reaktionen
auf Gerüche beobachtet.
Mimisclie Symptome der Lust- und Unlustgefühle.
log
trastierender mimischer Ausdrucksformen können noch in mannie-
faltiger Weise vorkommen. Es mag hier die Erwähnung zweier
besonders häufiger Beispiele genügen. Das eine besteht in der
kombinierten Ausdrucksbewegung von Mund, Nase und Auge, die
ein stark bitterer, Ekel erregender Geschmacksreiz hervorruft, und
die uns dann allgemein als Symptom sehr heftiger UnlustafFekte
begegnet, wie Zorn, Wut, Verachtung, nur jedesmal nach der
besonderen Beschaffenheit des Affekts in etwas veränderter Form
(Fig. i6). Der mimische Ausdruck in allen seinen Bestandteilen
ist hier lediglich eine Steigerung der einfach bitteren Miene, wie
sie die Fig. 1 1 wiedergibt. Ein Gegenstück zu dieser Steigerung
Fig. i6, Ekel.
Fig. 17. Kombination von Süß und Bitter.
bietet die in Fig. 17 dargestellte Verbindung der süßen mit der
bitteren Miene (Fig. 10 und 11), wie sie als Ausdruck zwiespältiger
Stimmungen sehr oft vorkommt. Sie ist, ähnlich den Übergängen
des Lachens in das Weinen, für die außerordentlich kleinen, der
oberflächlichen Beobachtung leicht entgehenden mimischen Unter-
schiede bezeichnend, die dem Ausdruck dennoch einen sofort in
die Augen fallenden mimischen Gesamtcharakter verleihen können.
Der einzige Unterschied zwischen Fig. 10 und 17 besteht in der Tat
darin, daß im letzteren Fall Mundwinkel und Nasenflügel um eine
kaum merkliche Größe gesenkt sind. Dieser kleine Zug gibt aber
der süßen Miene jenen leichten Anflug von Bitterkeit, den man
als Symptom einer resignierten, halb selbstzufriedenen, halb welt-
schmerzlichen Stimmung findet.
I lO Die Ausdrucksbewegungen.
4. Mimische Symptome der Spannungs- und Lösungsgefühle.
Die mimischen Bewegungen, die, unmittelbar an die Sinnesorgane
des Angesichts gebunden, den Lust- oder Unlustinhalt der Affekte
andeuten, sind nun aber keineswegs die einzigen. Es verbinden
sich mit ihnen weitere, ebenfalls dem mimischen Gebiet angehörende
Erscheinungen, die als charakteristische Symptome der Spannungs-
und Lösungsgefühle betrachtet werden können. Sie sind physio-
logisch durch die Eigenschaft gekennzeichnet, daß sie nicht oder
doch nur in nebensächlicher Weise von den Muskeln der speziellen
Sinnesapparate ausgehen, vielmehr vorzugsweise an den die Mund-
bewegungen unterstützenden Wangenmuskeln, dem Buccinator
(Fig. g) und dem unter dem Platysma zum Unterkiefer herab-
steigenden Masseter, zum Ausdruck kommen, während in geringerem
Grade die übrigen mimischen Muskeln beteiligt sein können. Inso-
weit hierbei auch die Muskeln der Sinnesorgane in Aktion treten,
lassen diese eine direkte Beziehung zu lust- oder unlusterregenden
Eindrücken nicht erkennen, es sei denn, daß Komplikationen mit
den mimischen Bewegungen der vorigen Art vorliegen. Ein weiteres
physiologisches Merkmal dieser Bewegungen, das minder allgemein-
gültig ist, besteht darin, daß sie nicht rasch wechselnde, sogenannte
klonische Bewegungen, sondern mehr oder minder dauernde Steige-
rungen oder Hemmungen des Tonus der mimischen Muskeln sind.
Doch ist dieses Merkmal nicht immer zutreffend, da die mi-
mischen Ausdrucksformen, die ursprünglich von Sinneseindrücken
ausgehen, wie der süße, bittere, saure Ausdruck usw., durch Ge-
wohnheit und Übung ebenfalls zu tonischen Zuständen führen kön-
nen, wo sie dann in physiognomische Züge übergehen. Psy-
chophysisch kann man schließlich als das hauptsächlichste Unter-
schiedsmerkmal beider Arten mimischer Ausdrucksformen wohl dies
ansehen, daß die Symptome der Lust und Unlust in Bewegungen
von abweichender Form bestehen, die erst indirekt, durch die
Beziehung zu Sinneseindrücken, auf die qualitativen Gegensätze der
Gefühle hinweisen, wogegen die mimischen Symptome der Spannung
und Lösung durch die verschiedenen Grade der Erhöhung und
der Herabsetzung des Tonus unmittelbar einen Gegensatz aus-
Mimische Symptome der Spannungs- und Lösungsgefühle.
I I I
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■^---..
drücken. In dieser Beziehung sind die Gefühle der Spannung und
Lösung in ihren physischen Äußerungen offenbar den Symptomen
der Erregung und Beruhigung näher verwandt. Doch es bleibt,
abgesehen von der bei mäßigeren Affekten stets zu beobachten-
den Beschränkung der ersteren auf die mimischen Muskeln, der
wichtige Unterschied, daß sich die exzitierenden und deprimieren-
den Gemütsbewegungen in dem wechselnden Spiel gesteigerter und
herabgesetzter Muskeltätigkeit zu erkennen geben, während Spannung
und Lösung in dauernden Zuständen gradweise verschiedener toni-
scher Erregung bestehen. Da-
bei können übrigens auch diese
Zustände bald allmählich, bald
plötzlich sich einstellen.
Diese Momente allmählicher
oder plötzlicher Entstehung sind
es nun zugleich, die neben dem
verschiedenen Grad der Erhöh-
ung und der Erniedrigung des
Tonus die eigentümlichen Unter-
schiede bestimmen, durch die
diese Innervationsverhältnisse
der mimischen Muskeln charak-
teristische Symptome für be-
stimmte qualitative Gefühlszu-
stände werden. Als solche
kommen aber hier, nach der
psychologischen Natur der Span- ^'S- »8. Ausdruck dauernder Befriedigung.
nungs- und Lösungsgefühle wie
nach dem tonischen Charakter der entsprechenden physischen Er-
scheinungen, nicht sowohl vorübergehende Affekte als dauernde
Stimmungen in Betracht. So ist eine mäßige tonische Spannung
der Wangenmuskeln das deutliche Merkmal dauernder Befrie-
digung, besonders wenn sich damit auch noch ein schwacher
Tonus der Mund- und Augenmuskeln verbindet, der bei den ersteren
eine nur eben erkennbare leichte Schließung der Mundspalte, bei
den letzteren einen die starre Fixation vermeidenden Blick herbei-
führt (Fig. i8). Der Ausdruck ändert sich sofort in seiner Bedeu-
I 12
Die Ausdrucksbewegungen.
tung, wenn die tonische Spannung aller der genannten Muskel-
gruppen um eine kleine Größe zunimmt, wo nun der stärkere Druck
der Wangen, der fester geschlossene Mund, der strenger fixierende
Blick jene intensiveren Spannungsgefühle andeuten, die dem er-
höhten Selbstgefühl eigen sind, und die sich bei weiterer Ver-
stärkung zum Hochmut steigern können, in dessen Symptome
dann auch der mimische Ausdruck ohne scharfe Grenze übergeht
(Fig. 19). Verbindet sich dieser noch mit der bittere Geschmacks-
Fig. 19. Hochmut.
Fig. 20. Verachtung.
eindrücke und unangenehme Stimmungen andeutenden Senkung
des Mundwinkels, so wird er, namentlich wenn der letztere Zug
auf eine Seite beschränkt bleibt, zum Ausdruck der Verachtung
(Fig. 20). Dabei ist der Blick nach der nämlichen Seite gerichtet,
auf der auch der Gegenstand der Verachtung vorauszusetzen ist;
doch pflegt die Blickrichtung an dem Gegenstand selbst vorbei-
zugehen. Es ist ganz besonders diese einseitige Richtung des mi-
mischen Ausdrucks, die ihm jenes besondere Gepräge verleiht, in
dem sich das erhöhte eigene Selbstgefühl mit dem unangenehmen
Mimische Symptome der Spannimgs- und Lösungsgefühle.
113
Eindruck, den ein anderer ausübt, verbindet. Eine davon wesentlich
abweichende Bedeutung gewinnt der äußerste, auf alle mimischen
Muskeln sich ausdehnende Grad tonischer Spannung, wie er im Zu-
stand angstvoller Erwartung oder bei intensivstem, in hohem Maße
zugleich Furcht wie Hoffnung erregendem Schmerz vorkommt.
Neben den Wangenmuskeln sind in diesem Fall besonders auch
die Kiefermuskeln, die Stirn- und die Augenmuskeln in tonischem
Krampf kontrahiert; daher die Zähne fest zusammengepreßt, die
Stirn gerunzelt, das Auge
starr fixierend erscheint
(Fig. 21). Zugleich pflegt
das Symptomenbild insofern
ein kompliziertes zu sein, als
die Spannungs- nicht nur mit
Unlust-, sondern auch mit
Erregungssymptomen ver-
bunden sein können, wobei
sich, wie oben erörtert, die
Unlust hauptsächlich in der
Mimik des Mundes, die Er-
regung in wiederholten klo=
nischen Bewegungen der
übrigen Körperorgane sowie
in solchen der Muskeln des
Angesichts, welche die
tonische Spannung unter-
brechen, äußern kann.
Die diesen Ausdrucksweisen gesteigerter Spannung entgegen-
gesetzten Symptome der Lösung bieten sich wieder in verschie-
denen Formen dar, je nachdem sie dauernde Stimmungen begleiten
oder bei plötzlichen Affekten auftreten, wobei sie in letzterem Falle
meist auf eine unmittelbar vorangegangene Erwartung, Furcht und
dergleichen folgen. Die Lösung als dauernder Ausdruck erscheint
als eine einfache Umkehrung der in Fig. 18 und 19 dargestellten
Ausdrucksformen der Spannung. Die schlaff herabhängenden Wan-
gen, der unbestimmt fixierende Blick, wie sie die wesentlichen Be-
standteile dieses Symptomenbildes ausmachen, können ebensogut
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. g
Fig. 21. Heftiger Schmerz.
114
Die Ausdrucksbewegungen.
als Zeichen stumpfer Teilnahmlosigkeit wie träumerischer Ver-
sunkenheit und ähnlicher passiv hingegebener Seelenzustände vor-
kommen (Fig. 2 2). Ganz anders, wenn der Zustand plötzlich her-
einbricht und sich durch die größere Intensität der Erscheinungen
sowie durch den Kontrast zu vorangegangenen Spannungszuständen
sogleich als heftiger Affektanfall zu erkennen gibt, wie in aus-
gesprochenem Maße beim Schreck und in geringerem bei der
Überraschung, wo beinahe alle zuvor tonisch erregten Muskeln
des Angesichts ihre Dienste versagen, die Wange schlaff herab-
^
v:
Fig. 22. Passiver Gesiclitsausdruck
eines Imbezillen.
Fig. 2T,, Schreck.
sinkt, der Mund sich öffnet, das Auge ins Weite starrt, und zu-
gleich durch seine krampthafte Öffnung eine begleitende starke
Erregung erkennen läßt (Fig. 23). Die ähnliche Komplikation der
Symptome, bei der das übrige Angesicht völlige Hingebung, nach
den Gefühlselementen betrachtet Lösung und Depression, das Auge
und seine Umgebung eine bald unbestimmtere, bald bestimmter ge-
richtete Spannung andeutet, findet sich nicht selten auch bei dauern-
den Stimmungen. So bildet diese Komplikation von Ausdrucks-
formen verschiedener Gefühlsrichtungen das überaus charakteristische
Mimische Symptome der Spannungs- und Lösungsgefühle.
115
Symptomenbild des Kummers (Fig. 24), und, wenn sich die Unlust-
und die Erregungssymptome steigern, der Angst (Fig. 25]. Bei
dem letzteren Afifekt bilden zugleich die Hemmung des Herzschlags
und die diese kompensatorisch begleitende Kontraktion der kleinen
"X....
n ^'
Fig. 24. Kummer.
Fig. 25. Angst.
Arterien Nebensymptome, die sich äußerlich an der tiefen Blässe
des Angesichts und zuweilen, infolge der Beteiligung der Kopfhaut
an dem Krampf der Arterien, an dem sich emporsträubenden Kopf-
haar zu erkennen geben ^).
^) Zu den obigen die Hauptformen des mimischen Ausdrucks erläuternden Ab-
bildungen haben, insoweit sie sich auf die Mimik der Lust- und Unlustaffekte be-
ziehen (Fig. 10 — 17), die von Piderit mitgeteilten Skizzen (Mimik und Physiognomik^)
als Vorlagen gedient. Die Ausdnicksformen der Spannungs- und Lösungsgefühle
sind teils nach Abbildungen von Harless (Plastische Anatomie, S. 127 if.), teils
nach solchen Morisons (Physiognomik der Geisteskrankheiten 1853) ausgeführt.
Parallelen zu den obigen Figuren bieten einige von Kraepelin (Psychiatrie^, 1899,
n, S. 132, 232, 364) mitgeteilte Gruppenbilder, sowie eine Reihe physiognomischer
Abbildungen Geisteskranker bei Th. Kirchhoff, Lehrbuch der Psychiatrie. 1892.
10 Gesichtstafeln .
8*
j 1 5 Die Ausdrucksbewegungen.
5. Theorie der mimischen Ausdrucksbewegungen.
Die hier an einigen Beispielen vorgeführten, in unzähligen Ab-
stufungen, Variationen und Kombinationen vorkommenden Grund-
formen mimischer Ausdrucksbewegungen bieten uns überall in der
praktischen Lebenserfahrung die Merkmale, nach denen wir vorüber-
gehende Affekte oder bleibende Stimmungen und die Qualität der
in sie eingehenden Gefühle beurteilen. Aber so sehr wir auch in
der Beobachtung dieser Merkmale geübt sein mögen, so erstreckt
sich doch diese Übung in der Regel nur auf den Totaleindruck,
den sie hervorbringen, nicht auf den objektiven Tatbestand selbst
in den einzelnen ihn konstituierenden Bestandteilen. Unter diesen
Bestandteilen bieten wohl die mimischen Bewegungen der Mund-
muskeln nebst den sie in übereinstimmendem Sinn begleitenden Be-
wegungen der übrigen, Nase und Auge umgebenden mimischen
Muskeln der psychologischen Deutung die geringsten Schwierigkeiten.
Die einfachen Gefühle, die sich mit den Geschmacksreizen des Süßen,
Sauern, Bittern, sowie mit entsprechenden Geruchs- und Gesichts-
reizen verbinden, sind allen möglichen zusammengesetzten Gefühlen
und Affekten insofern verwandt, als diese den nämlichen allgemeinen
Gefühlsrichtungen angehören. Jene sinnlichen Formen der Lust und
Unlust sind aber zugleich diejenigen, die in der Entwicklung der
Gattung wie in der Lebensgeschichte des Einzelnen am frühesten
auftreten; gemäß dem Gesetze, daß die seelischen Zustände, die an
unmittelbare sinnliche Eindrücke gebunden sind, stets in ihrer Ent-
stehung den verwickeiteren, frühere Erlebnisse und erworbene An-
lagen voraussetzenden vorausgehen. Wie Sinneswahrnehmungen
früher sind als Phantasievorstellungen, äußere Willenshandlungen
früher als innere Entschlüsse und Vorsätze zu künftigen Handlungen,
so sind naturgemäß auch die einfachen sinnlichen Erregungen durch
lust- und unlusterregende Tast-, Geschmacks-, Geruchs- und sonstige
Sinneseindrücke früher als die inneren seelischen Stimmungen der
Freude, des Kummers, des Ärgers usw. Nun ist aber die sogenannte
innere Seelenstimmung gleichfalls eine seelisch-körperliche Erregung,
wie die Veränderungen von Herzschlag, Blutgefäß reizung und Atmung,
und die gesamten, die erregende oder deprimierende Richtung des
Theorie der mimischen Ausdnicksbewegungen. nj
Affekts anzeigenden Einflüsse auf die äußeren Körpermuskeln zeigen.
Daß unter diesen motorischen Erregungen diejenigen in bevorzugter
Weise auftreten werden, deren ursprüngliche Entstehung der all-
gemeinen Richtung des Affekts entspricht, ist wiederum eine not-
wendige Folge jener Assoziation analoger Gefühle, die ihrerseits nur
als ein Spezialfall des durch zahllose Erfahrungen bestätigten all-
gemeinen Assoziationsprinzips angesehen werden muß. Sobald sich
eine neue, zusammengesetztere seelische Stimmung entwickelt, die in
ihrer Lust- oder Unlustqualität einer früheren, einfacheren verwandt
ist, wird daher diese durch Assoziation wachgerufen, und mit ihr
entstehen naturgemäß auch die an sie gebundenen physischen Aus-
drucksbewegungen. Hierdurch gewinnen zugleich die bekannten
Metaphern der Sprache ihre psychologische Beleuchtung. Wenn
wir Freude und Hoffnung 'süß', das Leid 'bitter', den entsagenden
Entschluß 'sauer' nennen, so können diese Ausdrücke ursprünglich
unmöglich absichtliche Übertragungen des sinnlichen Eindrucks auf
eine, wie man sich ausdrückt, »nicht sinnliche Vorstellung« sein. Ist
doch hier die sogenannte Metapher selbst erst auf Grund jener
natürlichen Assoziationen verständlich, bei denen die Verbindung
zunächst gar nicht als eine Übertragung, sondern als eine un-
mittelbare Übereinstimmung empfunden wird'). Nachdem sich ein-
mal solche Assoziationen gebildet haben, kann dann allerdings
auch eine willkürliche Metapher einsetzen, die nach dem Vor-
bild jener natürlichen Verbindungen neue, künstliche schafft. Aber
diese Übertragungen folgen dabei doch den natürlichen Vorbildern
der primären Assoziationen, durch welche neu sich entwickelnde
seelische Stimmungen ihnen verwandte sinnliche Gefühle, die in
der psychischen Entwicklung vorausgingen, erwecken. An die sinn-
lichen Gefühle und die sie leise begleitenden Empfindungen sind
dann wieder mit mechanischer Sicherheit die durch die letzteren
ausgelösten Bewegungen gebunden. Vermutlich ist daher die Ent-
stehung jener sprachlichen Metaphern selbst ein sekundärer Vor-
gang, der sich nicht an die Empfindung, sondern an den mimi-
schen Ausdruck derselben angeschlossen hat. Mußte doch dieser
^) Vgl. hierzu die in Kap. Ylll (Bedentungswandel) folgende eingehendere Er-
örterung der »Metaphern der Sprache«.
I I 8 I^ie Ausdrucksbewegungen.
erst dem sinnlichen Gefühl jene bestimmte Beziehung verleihen, die
den objektiven Beobachter wie den Fühlenden selbst veranlassen
konnte, sich der Assoziation eines rein inneren Seelenzustandes mit
gewissen Sinneseindrücken deutlich bewußt zu werden. Vorher war
diese Assoziation eine jener dunkel bewußten, die, so wichtige Erfolge
sie auch für die elementaren psychischen und psychophysischen
Vorgänge haben mögen, doch nicht in die Sphäre des sprachlichen
Denkens hineinreichen.
Innerhalb der individuellen Entwicklung wird man nun die Asso-
ziation der zusammengesetzten Gefühle und Affekte mit den einfachen
sinnlichen Gefühlen durchaus als eine solche ansehen müssen, die sich
an die angeborenen und vererbten Reflexe der den Sinnesorganen
beigegebenen mimischen Muskeln anschließt, und zu der deshalb
ebenfalls in ähnlichen angeborenen und vererbten Anlagen der Grund
gelegt sein mag. In der Tat stehen ja die Leitungsbahnen der Ge-
schmacksnervenfasern mit den Fazialis- und Hypoglossuszentren
offenbar in einer durch die generelle Entwicklung eingeübten Ver-
bindung, so daß sofort nach der Geburt durch bestimmte Geschmacks-
reize die ihnen adäquaten Bewegungen ausgelöst werden (S. 104). Dies
vorausgesetzt, ist aber natürlich auch die allmähliche Entwicklung
anderer, uns noch unbekannter Nervenverbindungen nicht aus-
geschlossen, durch die jene Übertragung der inneren Seelenzustände
in äußere sinnliche Formen vermittelt werden kann, bevor die Asso-
ziationseinflüsse des individuellen Lebens in merklicher Weise wirk-
sam geworden sind. Hier werden sich eben niemals individuelle
und generelle Entwicklung ganz voneinander sondern lassen. Doch
für das psychophysische Verständnis der Vorgänge ist dies deshalb
nicht von erheblicher Bedeutung, weil die in bestimmten organischen
Anlagen niedergelegten Erwerbungen der generellen Entwicklung
doch nur auf dem Weg einer zahllosen Menge individueller Ent-
wicklungsvorgänge entstanden sein können. Im vorliegenden Falle
wird man nun mit großer Wahrscheinlichkeit die Stufen des Prozesses
so zwischen beiden Gebieten verteilen dürfen, daß man die Ent-
stehung der zweckmäßigen Sinnesreflexe ganz und gar der gene-
rellen, die Assoziationen zwischen sinnlichen Empfindungen und
Gefühlen und inneren Seelenzuständen aber der Hauptsache nach der
individuellen Entwicklung zuweist; wenn auch immerhin diese
Theorie der mimischen Ausdrucksbewegungen. I I n
Assoziationen durch gewisse generell erworbene zentrale Anlagen be-
günstigt sein mögen. Für die erste Annahme bildet das Vorkommen
der Geschmacks- und Geruchsreflexe beim Neugeborenen ein un-
zweifelhaftes Zeugnis. Die zweite erscheint aus dem Grunde wahr-
scheinlich, weil die zusammengesetzteren Gefühle und Affekte über-
haupt erst während des individuellen Lebens sich ausbilden.
Ist die Assoziation zwischen dem physischen Zustand und der
einem Sinneseindruck von verwandtem Gefühlston entsprechenden
mimischen Bewegung eingetreten, so schließt sich aber an sie not-
wendig eine zweite, sekundäre Assoziation, die zugleich verstärkend
auf die erste zurückwirkt. Die mimische Bewegung selbst wird
nämlich von einer Tast- und Muskelempfindung begleitet, die auf
das engste ^mit den entsprechenden Sinneseindrücken assoziiert ist.
Die so erweckten psychischen Inhalte sind allerdings in ihren Emp-
findungsbestandteilen sehr schwach und unbestimmt, was sich teils
aus der außerordentlich geringen Intensität der Erinnerungsbilder
von Geschmacks- und Geruchsempfindungen, teils aus der Mannig-
faltigkeit lust- oder unlusterregender Gesichtsempfindungen erklärt.
So kommt es, daß diese reproduktiven Elemente hier großenteils
durch die an die mimischen Bewegungen gebundenen Tastempfin-
dungen ersetzt werden, mit denen nun die entsprechenden sinn-
lichen Gefühle fest assoziiert sind. Darum ist bei dem Geschmacks-
ausdruck des Süßen, Bittern, Sauern wirklich etwas vom gleichen
Geschmacks ei nd ruck in unserem Bewußtsein. Aber zugleich tritt
die eigentliche Geschmacksempfindung sehr hinter der ihr asso-
ziierten Tastempfindung zurück. Mit dieser Beschränkung haben
dann die Ausdrücke ""süße Freude', 'bitteres Leid"* und dergleichen
keine metaphorische, sondern eine wirkliche, sinnliche Bedeutung.
Die ähnlichen Verhältnisse wie beim Geschmackssinn kehren bei
den mimischen Bewegungen wieder, die lust- und unlusterregende
Licht- und Geruchseindrücke andeuten. Nur kann es schon wegen
der sehr viel größeren Anzahl der Geruchs- und Gesichtsqualitäten
hier nicht zu ähnlichen scharf charakterisierten Ausdrucksformen
kommen. Damit hängt wohl zusammen, daß überhaupt die mimi-
schen Hilfsmittel dieser beiden Sinne beschränkter, die Ausdrucks-
bewegungen gleichförmiger sind, indem sie nur die Gegensätze solcher
Eindrücke, die vom Sinnesorgan aufgesucht, und solcher, die von
I 2 O Die Allsdrucksbewegungen.
ihm gemieden werden, angeben. Erst als Begleiterscheinungen der
feiner nuancierten mimischen Mundbewegungen gewinnen diese un-
bestimmteren Lust- und Unlustsymptome ihre konkretere Bedeutung.
Gerade die Armut des Geschmackssinns an spezifisch verschiedenen
Empfindungen scheint hier mit dem größeren Reichtum der von
ihm ausgehenden mimischen Bewegungen zusammenzuhängen. Auch
die an die mimischen Tastempfindungen jener andern Sinne ge-
bundenen Assoziationen sind daher von unbestimmterem Charakter:
die Sinnesqualitäten selbst verschwinden in den entstehenden Kom-
plikationen. Um so mehr ist wieder an die jede Bewegung be-
gleitende innere Tastempfindung ein deutliches Lust- oder Unlust-
gefühl geknüpft, das die Rückwirkung des mimischen Ausdrucks auf
den Affektverlauf verstärkt. Dies ist vor allem bei den Ausdrucks-
bewegungen des Lachens und Weinens zu beobachten, an denen
sich diese Geruchs- und Gesichtsreflexe der Affekte hauptsächlich
beteiligen. So wird man kaum sagen können, daß durch die ener-
gische Tätigkeit des Stirnrunzlers, wie wir sie bei verdrießlichen und
traurigen Stimmungen wahrnehmen, jemals irgendeine Assoziation
an ein bestimmtes Gesichtsbild erweckt werde. Aber gewiß ist, daß
diese Bewegung — was man sogar durch ihre willkürliche Herbei-
führung erproben kann — eine Unluststimmung mit sich führt, der
wir mit aller Gewalt nicht widerstehen können. Man versuche es
einmal, mit dem Ausdruck des Grams heitere, fröhliche Vorstellungen
zu verbinden, und man wird bald wahrnehmen, daß dies entweder
nicht gelingt, oder daß der Ausdruck mit einer Art mechanischen
Zwangs der ihm widerstreitenden Stimmung weicht.
Die nämlichen hin- und herwandernden Assoziationswirkungen
fehlen nun auch bei den Ausdrucksformen der andern, die qualitativen
Symptome der Affekte mitbestimmenden Gefühle der Spannung
und Lösung nicht. Bei ihnen verschwinden aber im allgemeinen
noch mehr als bei den mimischen Gesichts- und Geruchsreaktionen
die Assoziationen mit den äußeren Eindrücken, die als ursprüng-
liche Gelegenheitsursachen der psychischen Stimmungen wirksam
gewesen sein mögen. Um so größer ist die Mannigfaltigkeit dieser
Ursachen und um so unbestimmter der einzelne zu assoziierende
Eindruck, weil nicht nur Reize aller möglichen Sinnesorgane an der
Entstehung der Ausdrucksformen beteiligt sein können, sondern weil
Theorie der mimischeu Ansdrucksbewegnngen. I 2 i
gerade die Gefühle der Spannung und Lösung, ebenso wie die oft
mit ihnen verbundenen der Erregung und Herabstimmung, von
frühe an aus Anlaß psychischer Vorgänge entstehen, die nur noch
indirekt äußere Sinneserresrunsfen als ihre entfernteren Vorbedin-
gungen voraussetzen. Besonders gilt das von jenen dauernden
mimischen Ausdrucksformen, die in dem tonischen Spannungs-
grade der Antlitzmuskeln zutage treten, und die auf gleichmäßig
andauernde psychische Ursachen zurückweisen. Reproduktionen
früherer Eindrücke kommen als dauernde seelische Zustände
kaum vor. So mögen sie denn auch hier höchstens bei den nie-
mals ganz fehlenden momentanen Schwankungen der Gemütslage
bis zu einem gewissen Grade mitwirken. Um so mehr drängen sich
in diesem Fall die unmittelbar gegebenen Spannungsempfindungen
selbst und ihr Einfluß auf die Gemütslage in den Vordergrund.
Jener wechselnde Tonus der Wangenmuskeln, der bald aufmerk-
same Erwartung, bald ruhige Festigkeit des Entschlusses, bald
plötzliche Lösung einer psychischen Spannung oder fortwährende
apathische Ruhe ausdrücken kann — er ist jedesmal von Empfin-
dungen begleitet, die der Seelenstimmung einen bestimmten, ihr
adäquaten, eben darum aber auch sie wiederum steigernden sinn-
lichen Gefühlston hinzufügen. Dies tritt wegen der Summation der
Wirkungen in der Zeit ganz besonders bei den dauernden Stim-
mungen hervor. Hier kann man geradezu sagen: der mimische
Ausdruck des Selbstzufriedenen, des Hochmütigen, des Kummer-
vollen (Fig. 18, 19, 24) ist ein wichtiges Moment der Erhaltung seiner
Gemütslage. Aus dieser können die einzelnen psychischen Bestand-
teile auf längere Zeit ganz verschwinden: bleibt der mimische Aus-
druck, so bleibt mit den an ihn gebundenen Empfindungen und
Gefühlen auch der Grundcharakter der seelischen Stimmung be-
stehen.
Vergleicht man die so in ihren wesentlichsten Elementen in der
Mimik des Angesichts vereinigten Qualitätsäußerungen der Affekte
mit den vorher erörterten Intensitätssymptomen, so fällt ohne wei-
teres die reichere und feinere Ausbildung der ersteren in die Augen.
Dies hat im allgemeinen seinen verständlichen Grund darin, daß die
Intensitätsäußerungen in ihren ursprünglichen Formen Trieb- und
Reflexbewegimgen sind, die auf Tastreize erfolgen, die Oualitäts-
12 2 Die Ausdrucksbewegungen.
äußerungen dagegen Reaktionen, die Eindrücken auf die Sinnes-
organe des Angesichts entsprechen. Mit diesem Verhältnis läßt es
sich auch in Beziehung bringen, daß nicht nur beide Formen stets
miteinander verbunden vorkommen, sondern daß in einem gewissen
Sinne die mimischen Bewegungen als eine höhere Entwicklungsform
oder, wenn man will, als eine nähere qualitative Nuancierung der
unbestimmteren, die Intensität der Erregung spiegelnden Ausdrucks-
bewegungen betrachtet werden können. Damit steht die Tatsache
in naher Beziehung, daß unter den drei allgemeinen Gefühlsdimen-
sionen die der Erregung und Beruhigung nicht an den Qualitäts-
symptomen im engeren Sinne teilnimmt, weil die Erscheinungen, die
hierher gehören, immer zugleich Intensitätssymptome sind.
Ihnen stehen am nächsten die mimischen Äußerungen der Span-
nung und Lösung, die bereits in nähere Beziehung zu den höheren
Sinnesorganen treten, da an ihnen die mimischen Muskeln hervor-
ragend beteiligt sind. Gleichwohl sind es auch hier nicht sowohl
die höheren Sinnesorgane als die besonderen Eigenschaften der ent-
sprechenden Teile des Tastorgans, die bei der Entstehung der
Ausdrucksformen eine Rolle spielen. Denn die Bedeckung der
mimischen Muskulatur ist zugleich das empfindlichste Gebiet des
Tastsinns, das namentlich auf die leisen, von den Kontraktionen der
unterliegenden Muskeln ausgehenden Tastreize reagiert. Dadurch
wird es zu einem besonders feinen Maße für jene Spannungsver-
hältnisse der Gemütszustände, wie sie eben in den Spannungs- und
Lösungsgefühlen enthalten sind.
Daß es das Gebiet der Wangenmuskeln ist, das vorzugsweise
dem Ausdruck dieser Gefühle dient, dafür darf man aber wohl die
entferntere Ursache in der engen Beziehung erblicken, in der jene
Muskeln zur Aufnahme und ersten Bewältigung der Nahrung
stehen. Indem die Kaumuskeln diesem physischen Bedürfnis die
nächste Befriedigung schaffen, reflektieren sich in ihren Spannungs-
zuständen auch die damit assoziierten sinnlichen Gefühle. Hunger
und Sättigung geben sich zu allererst in der Ab- und Zunahme des
Tonus dieser Muskeln zu erkennen. Die ursprünglichsten sinnlichen
Beziehungen läßt auch hier die Kultur nicht verschwinden. Wir
übertragen, sichtlich von dem mimischen Eindruck ausgehend, die
Bezeichnungen des 'Hungrigen' und des "^Satten"" gelegentlich ebenso
Verhältnis der Vorstellungsäußerungen zu den andern Affektsymptomen. 121
wie die des 'Süßen\ 'Bittern' und "^Säuern' auf moralische Eigen-
schaften. Ein physiognomischer Ausdruck, wie der in Fig. 18 (S. iii)
dargestellte, kann nicht minder den physisch Gesättigten wie den
Selbstzufriedenen verraten. Die durch den Gefühlston der Tast-
empfindungen dieser Muskelgebiete vermittelte Verbindung erscheint
daher vollkommen analog den bei den andern mimischen Muskeln
durch die Sinneseindrücke auf Geschmack, Geruch und Gesicht
erregten Assoziationen. Zugleich bringt es aber diese Entstehung
der an die Wangenmuskeln gebundenen mimischen Ausdrucks-
formen mit sich, daß die letzteren immer auch an den Lust- und
Unlust- sowie an den Erregungs- und Hemmungssymptomen teil-
nehmen. Sättigung und Hunger sind ja nicht bloß Spannungs- und
Lösungs-, sondern stets auch Lust- und Unlust-, und mehr oder
minder erregende und deprimierende Gefühle. Erst im Gefolge des
Übergangs der gleichen mimischen Bewegungen auf andere Seelen-
zustände dürfte hier, unterstützt durch die mit der ursprünglichen
Funktion zusammenhängende Tastempfindlichkeit der Wangen, der
Ausdruck der Lösungs- und der Spannungsgefühle mehr in den
Vordererund getreten sein.
VI. Vorstellungsäußerungen der Affekte.
I. Verhältnis der Vorstellungsäußerungen zu den andern
Affektsymptomen.
Jeder Affekt enthält Vorstellungen, die, ebenso wie die den Affekt
zusammensetzenden Gefühle, untereinander verbunden sind und auf
diese Weise einen Vorstellungsverlauf bilden. Nirgends zeigt es sich
daher so augenfällig wie bei der Beobachtung der Affekte, daß die
Vorstellungs- und die Gefühlsseite des seelischen Lebens nur ver-
schiedene Seiten der nämlichen unmittelbaren Erlebnisse sind, von
denen sich je nach den besonderen Bedingungen bald mehr die eine,
bald mehr die andere unserer Wahrnehmung aufdrängt. Wenn wir
uns an einem Gegenstand erfreuen oder über ihn erzürnen, so er-
scheint uns wohl die Vorstellung des Gegenstandes als die Ursache,
der die Gefühlserregung als ihre Wirkung folgt. Wenn wir aber,
1 24 I-^'^ Ausdrncksbewegnngen.
wie es bei den dauernden Gemütsrichtungen die Regel ist, in ge-
hobener oder gedrückter Stimmung sind, und wenn dann dort heitere,
hier trübe Bilder der Zukunft vor uns auftauchen, so sind wir geneigt,
das umgekehrte Verhältnis anzunehmen. Genau genommen ist jedoch
weder hier noch dort von irgendeiner regelmäßigen zeitlichen Son-
derung dieser Erfahrungsinhalte zu reden. In dem Moment, wo uns
ein Objekt als Vorstellung gegeben wird, ist auch schon ein Gefühls-
zustand vorhanden, der dieser Vorstellung irgendwie entspricht; und
der Verlauf, den Vorstellung wie Gefühl darbieten, kann ebensooft
dieses wie jene zuerst in den Vordergrund des Bewußtseins heben.
So ist bei neuen Sinneseindrücken meist die Vorstellung, bei Er-
innerungsbildern sehr oft das Gefühl der anscheinend zunächst sich
aufdrängende Bestandteil. Ebenso gibt es aber keine Art seelischer
Stimmung, die nicht an irgendwelche gegenständliche Inhalte ge-
bunden wäre.
Dieses Verhältnis bringt es mit sich, daß die Affekte ebenso
in Vorstellungs- wie in Gefühlssymptomen sich äußern können.
Dabei sind beide Formen der Ausdrucksbewegungen so eng an-
einander gebunden , daß sie erst durch eine ähnliche Abstraktion,
wie sie zur Scheidung der Vorstellungen von den Gefühlen selbst
dient, zu sondern sind. Hierfür ist in diesem Falle schon der Um-
stand bezeichnend, daß alle jene Gefühlsäußerungen, in denen sich
bestimmte Sinneseindrücke von einem dem vorhandenen Affekt ent-
sprechenden Gefühlscharakter spiegeln, nicht bloß auf die Gefühle,
sondern stets auch auf die äußern Eindrücke hinweisen, die mit
jenen Gefühlen assoziiert werden. Aber in der Festigkeit dieser
Assoziationen ist es zugleich begründet, daß hier die ursprünglichen
Vorstellungsgrundlagen der Ausdrucksbewegungen zurücktreten und
wir daher den Symptomen einen bestimmten Vorstellungswert über-
haupt nicht mehr beilegen. Demnach können als spezifische »Vor-
stellungsäußerungen« der Affekte nur solche physiologische Er-
scheinungen gelten, in denen sich unmittelbar die Gegenstände, auf
die sich der Affekt bezieht, die Erinnerungen, die er wachruft, zu
erkennen geben. Dabei ist aber von vornherein zu erwarten, daß
sich diese Erscheinungen hinwiederum untrennbar mit Gefühlsäuße-
rungen verbinden, mögen sich nun solche durch besondere mimi-
sche Bewegungen oder durch die Energie und Geschwindigkeit der
Verhältnis der Vorstellungsäußerungen zu den andern Affektsymptomen, j 2 1;
Vorstellungssymptome selbst verraten. In dieser letzteren Form
verbinden sich vorzugsweise die Merkmale der für den Verlauf der
Affekte entscheidenden Gefühle der Erregung und Depression innig
mit den Vorstellungsgebärden. Indem so auch bei dieser Klasse
eine Bewegung, in der sich überhaupt kein Affekt verriete, nicht
oder annähernd höchstens in gewissen Grenzfällen vorkommt, die
der willkürlichen Verwertung der ursprünglich triebartigen Aus-
drucksbewegungen zufallen, gehören die Vorstellungsäußerungen im
vollen Sinne des Wortes zu den Affektsymptomen. Zugleich ist
hier durchaus die für die Ausdrucksbewegungen im allgemeinen
gültige Voraussetzung maßgebend, daß sie in keinem ihrer Be-
standteile ursprünglich aus Überlegung und Wahl entspringen,
sondern daß sie natürliche und notwendige Erzeugnisse der bei
den ursprünglichen Trieben und deren allmählicher Entwicklung
wirksamen psychophysischen Bedingungen sind. Wo bei einer
Bewegung Plan und Absicht wirklich bestehen, da ist dies selbst
bei den Vorstellungsäußerungen stets Resultat späterer Entwick-
lung. Doch diese Lösung von der einstigen Affektgrundlage voll-
zieht sich gar nicht anders als bei den Intensitäts- und Qualitäts-
symptomen: sie ist dort wie hier ein Bestandteil jener allgemeinen
Entwicklung der Willenshandlungen, in deren Gefolge sich die
ursprünglichen psychischen Motive bestimmter Bewegungen er-
mäßigen und allmählich mit andern Motiven ihre Stellen tauschen
können. Und wieder fehlt auch hier nicht ganz das bei den Inten-
sitätsäußerungen hervorgehobene Moment der Rückwirkung der
Bewegungen auf den psychischen Inhalt der Affekte. Wo irgend
einmal eine Ausdrucksbewegung affektlos entstehen sollte, da müßte
sie doch, da sie selbst ein Bestandteil des ganzen psychophysischen
Komplexes aller Affekterscheinungen ist, die übrigen Elemente,
mit denen sie fest assoziiert ist, hervorrufen. Das gilt um so mehr
auch für die Vorstellungsäußerungen, weil diese eben in der Energie
und Geschwindigkeit, mit denen sie ausgeführt werden, stets zu-
gleich Intensitätssymptome sind, denen als solchen ganz besonders
die affektverstärkende und affekterregende Wirkung zukommt.
Mit der in diesem Verhältnis abermals zutage tretenden all-
gemeineren Stellung der Intensitätsmerkmale hängt die weitere
Tatsache zusammen, daß, wie die Qualitäts-, so auch die Vor-
120 Die Ausdnicksbewegungen.
Stellungssymptome im wesentlichen auf bestimmte Muskelgebiete
beschränkt sind. Wie für jene das Gebiet der mimischen, so tritt
nämlich für diese vorzugsweise das der pantomimischen Muskeln
in der engeren Bedeutung des Wortes ein. Dieser engere Begriff
umfaßt das Bewegungssystem der Arme und Hände. Nur aus-
hilfsweise können dazu auch noch andere Körperteile treten, wie
der Kopf, der Rumpf, die Gehwerkzeuge.
2. Hauptformen pantomimischer Bewegungen.
Wie die mimischen, so haben die pantomimischen Bewegungen
frühe schon ein wissenschaftliches Interesse erregt, das freilich mehr
von praktisch-ästhetischen als von psychologischen Gesichtspunkten
geleitet war; daher es denn auch weniger in dem Versuch einer
genetischen Erklärung als in der sorgfältigen Beschreibung einzelner
Pantomimen bestand, die man auf Grund irgendeiner durch die
Beobachtung nahegelegten Einteilung der Erscheinungen unter-
nahm. Dabei wurde jedoch schon diese Einteilung durch die im
Vordergrund stehenden praktischen Interessen beeinträchtigt. Denn
da man bei der Beurteilung der Bewegungen des Schauspielers
und des Redners auf eine möglichst adäquate Darstellung wirklich
erlebter Affekte den Hauptwert legte, so ergab sich zunächst, daß
mimische und pantomimische Bewegungen überhaupt nicht gesondert
wurden. Sodann erschien es als das Natürlichste, daß man vor
allem die von dem Gefühl getragenen eigentlichen Affektäußerungen
und diejenigen Bewegungen, die Gedanken oder Worte andeuten,
unterschied. In diesem Sinne stellt bereits Cicero der »significatio«,
unter der er den Ausdruck der »afifectiones animi« versteht, und
auf die er den rednerischen Vortrag beschränken möchte, die »de-
monstratio« gegenüber, durch die das Wort verdeutlicht oder ersetzt
werde, und die er, weil sie vom Schauspieler verwendet wird, auch
den »gestus scenicus« nennt'). Ähnlich unterscheidet noch J. J. Engel
»ausdrückende« und »malende Gebärden«, wobei er den letzteren
auch die hinweisenden zuzählt^]. Meist ging man jedoch nicht
Cicero, De oratore, Lib. III, cap. 9.
J. J. Engel, Ideen zu einer Mimik, I, 1785, S. 59 ff.
Hauptformen pantomimischer Bewegungen. 127
einmal so weit, sondern verzichtete nach dem Vorbilde, das schon
der gründlichste Erörterer der Lehre vom »gestus« im Altertum,
Quintilian, gegeben, überhaupt auf eine Subsumtion der Erscheinun-
gen unter bestimmte Allgemeinbegriiife , um statt dessen einzelne
Beispiele in loser Aufeinanderfolge zu schildern').
Gegenüber dieser im einzelnen verdienstlichen, an allgemeinen
Gesichtspunkten aber ergebnislosen praktisch-ästhetischen Betrach-
tungsweise war es eine für die psychologische Behandlung förderliche
Wendung, daß in neuerer Zeit mehr und mehr ein anderes Inter-
esse die Beschäftigung mit den Gebärden, die dem Ausdruck der
Vorstellungen dienen, in den Vordergrund rückte. Es waren die
praktischen Fragen der Taubstummenbildung, die notwendig
auch auf die natürliche Gebärdensprache dieser Unglücklichen die
Aufmerksamkeit lenkten. Hier wurde nun von selbst eine Unter-
scheidung nahegelegt, die bei den ästhetischen Erörterungen über
Mimik und Pantomimik immer wieder verwischt worden war: die
Unterscheidung derjenigen Gebärden , die dem reinen Ausdruck
\'on Vorstellungen dienen, von den Gefühlsäußerungen der Affekte.
Waren einmal so die Gebärden der »Gedankenmitteilung* als eine
selbständige Klasse gewonnen, so mußte sich unter dem hier
betonten Gesichtspunkt der Analogie mit der Lautsprache auch
die Forderung einer gewissen »Etymologie« der als Vorstellungs-
zeichen verwendeten Gebärden, also einer Untersuchung ihres Ur-
sprungs und ihrer näheren Beziehungen erheben. Wie sehr man
dabei meist noch geneigt blieb, einfach die der Lautsprache
entnommenen Kategorien auf die Gebärden zu übertragen, dafür
bildet freilich die noch heute vollständigste Sammlung von Zeichen
dieser Art einen Beleg. Sie unterscheidet die Gebärden lediglich
in Symbole für Hauptwörter, Eigenschaftswörter und Zeitwörter,
ohne darauf Rücksicht zu nehmen, daß diese grammatischen Kate-
gorien in der Form, in der sie die Lautsprache besitzt, für die
') Quintilianus, Institutiones oratoriae, XI, 3, 65 — 136. Einen revidierten Text
dieser für die antike Mimik sehr lehrreichen Ausführungen gibt C. Sittl als Anhang
zu seinem den Gegenstand auf Grund der Angaben der Schriftsteller und der vor-
handenen Kunstdenkmäler behandelnden Werke: Die Gebärden der Griechen und
Römer, 1890, S. 350 ff.
128 Die Ausdrucksbewegungen.
Gebärde überhaupt nicht existieren'). Den ersten, auf die Natur
der Gebärden selbst gegründeten und mindestens die Haupt-
gruppen mit sicherem Takt herausgreifenden Versuch einer Ein-
teilung hat wohl E. B. Tylor gemacht, indem er »Bilder in der
Luft« und das wirkliche Hinweisen auf die Gegenstände als die
zwei Hauptklassen pantomimischer Bewegungen unterschied^). Wenn
wir uns statt der > Bilder in der Luft« des etwas allgemeineren
Ausdrucks »Nachahmung« bedienen, so dürften in den beiden
Klassen der hinweisenden und der nachahmenden Bewegun-
gen in der Tat die Grundformen der Vorstellungsäußerungen zu-
treffend bezeichnet sein. Für die allgemeine Bedeutung dieser bei-
den Gebärdeformen ist aber maßgebend, daß sie keineswegs bloß
in solchen Fällen vorkommen, wo durch sie ein Ersatz der Laut-
sprache erstrebt wird, sondern daß sie, gerade so gut wie die
mimischen Bewegungen, allgemeine Bestandteile der Ausdrucks-
bewegungen sind.
3. Theorie der pantomimischen Bewegungen.
Für die richtige Würdigung der Bedeutung der pantomimischen
Ausdrucksformen ist, wie für die der mimischen Bewegungen, das
schon oben im allgemeinen berührte Verhältnis zu den Intensi-
tätsäußerungen der Affekte in erster Linie maßgebend. Indem
unter allen diesen Symptomen die Intensitätsäußerungen die allge-
meinsten, verbreitetsten sind, geben sich dadurch die beiden andern
von vornherein als deren besondere Entwicklungsformen zu er-
kennen, die in den spezifischen Eigenschaften der mimischen und
der pantomimischen Muskeln begründet sind — Eigenschaften,
die sich infolge der Lage und allgemeinen Funktion der Organe
ausgebildet haben. Diese Auffassung, wonach Qualitäts- wie Vor-
stellungsäußerungen gewissermaßen nach verschiedenen Richtungen
I) Dieses im übrigen wertvolle Verzeichnis findet sich in dem Werke von
Ed. Schmalz, Über die Taubstummen und ihre Bildung, i 1838, = 1842. S. 314—339-
'] E. B. Tylor, Forschungen über die Urgeschichte der Menschheit. A. d. Engl.
Kap. II, S. 20. »Descriptive or imitative signs« unterscheidet auch W. R. Scott (The
Deaf and Dumb, 1870,2 p. 124). Er stellt ihnen aber unzweckmäßigerweise als
zweite Klasse »natural signs« gegenüber, unter denen alle möglichen andern, ins-
besondere auch die mimischen Ausdrucksbewegungen, zusammengefaßt werden.
Theorie der pantomimischen Bewegungen. J2q
hin entwickelte Intensitätssymptome darstellen, bestätigt sich auch
darin, daß sich ganz besonders in den mimischen und pantomimischen
Bewegungen, abgesehen von ihrer spezifischen Bedeutung, jedesmal
zugleich die Stärke des Affektes spiegelt. Heftigere Mimik und
rasche pantomimische Gestikulationen verraten meist zu allererst
erregende Affekte; und nicht minder gibt sich der deprimierende
Charakter anderer zunächst im Nachlaß der tonischen Spannungen
der nämlichen Muskelgebiete zu erkennen.
Ist es auf diese Weise eine Art Auslese, die den Vorstellungs-
äußerungen wie den Gefühlssymptomen ihr besonderes Substrat in
bestimmten Muskelgruppen angewiesen hat, so ist aber von vorn-
herein zu erwarten, daß, analog wie die mimischen Bewegungen in
ihrer Beziehung zu der Funktion der spezifischen Sinnesorgane und
in der hervorragenden Sensibilität der Hautbedeckung des Angesichts
(S. iigf) die Bedingungen dieser Auslese erkennen lassen, so nicht
minder bei den pantomimischen Bewegungen ganz bestimmte Gründe
der Bevorzugung obgewaltet haben. In der Tat springt ja die
Beziehung dieser Bewegungen zu den Gegenständen der uns
umgebenden Außenwelt, auf die alle unsere Vorstellungen be-
zogen werden, unmittelbar in die Augen. Die Arme und Hände sind
von der frühesten Entwicklung des Menschen an als die Organe
tätig, mit denen er die Gegenstände ergreift und bewältigt. Aus
dieser offenbar ursprünglicheren Verwendung als Greiforgane, in
welcher der Mensch den analogen Tätigkeiten der ihm nahe-
stehenden Tiere nur dem Grade, nicht dem Wesen nach überlegen
ist, führt aber eine jener stufenweisen Veränderungen, die zunächst
eigentlich regressiver Art sind, in ihren Wirkungen jedoch wichtige
Bestandteile einer fortschreitenden Entwicklung bilden, zur ersten,
primitivsten Form pantomimischer Bewegungen: zur hinweisenden
Gebärde. Sie ist genetisch betrachtet nichts anderes als die bis
zur Andeutung abgeschwächte Greifbewegung. In allen
möglichen Übergängen von der ursprünglichen zur späteren Form
begegnet sie uns noch fortwährend beim Kinde. Dieses greift auch
nach solchen Gegenständen, die es, weil sie ihm zu fern sind, nicht
erreichen kann. Damit geht aber die Greifbewegung unmittelbar
in die Deutebewegung über. Nach oft wiederholten vergeblichen
Versuchen, die Gegenstände zu ergreifen, verselbständigt sich dann
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. g
I ?o Die Ausdrucksbewegungen.
erst die Deutebewegung als solche. Das Kind weist auf einen
Gegenstand hin, den es zu besitzen wünscht, und dann bald auch
auf einen solchen, der seine Neugierde erregt, und auf den es
die Aufmerksamkeit seiner Umgebung lenken möchte. Hiermit ist
der Weg von der Greif- zur Deutebewegung vollständig zurück-
gelegt, und diese gewinnt nun neben jener in dem Maß eine selb-
ständige Bedeutung, als die anfänglichen Bewegungstriebe vor ihrem
Übergang in äußere Willenshandlungen gehemmt und zu bloßen
Affekten ermäßigt werden. Daneben wird aber zugleich als posi-
tives Moment das Streben wirksam, die eigenen Gemütszustände
nach außen kundzugeben. Beide Bedingungen gehören mindestens
in diesem Grade der Ausbildung nur der menschlichen Entwicklung
an. Darum ist kein Tier, nicht einmal der in der Organisation
der Arme und Hände dem Menschen so nahestehende Affe, zu
der Entwicklung hinweisender Gebärden aus Greifbewegungen vor-
geschritten. Höchstens sind hier jene Übergangsformen zu finden,
bei denen eine bestimmte Bewegung erst durch die Unmöglich-
keit, den Gegenstand zu erreichen, die Bedeutung einer Gebärde
empfängt.
Zu dieser ersten tritt viel später die zweite Form von Vorstel-
lungsäußerungen, die der nachahmenden Gebärden. Auch sie
haben ihre Vorstufe in Erscheinungen, die im Tierreich weitver-
breitet sind, und als deren höhere Entwicklungsformen sie betrachtet
werden können. Imitative Bewegungen finden sich als Wirkun-
gen des Zusammenlebens bei höheren wie niederen Tieren. Sie
bestehen aber hier ausschließlich darin, daß die Handlungen glei-
cher oder ähnlicher lebender Wesen nachgeahmt werden.
Solche Bewegungen spielen bei den Instinktäußerungen aller gesellig
lebenden Tiere offenbar eine wichtige Rolle. Wenn die Ameisen
und Bienen bei der Anlegung ihrer Bauten, der Herbeischaffung der
Nahrung usw. unverkennbar in Übereinstimmung handeln, so beruht
dies sicherlich nicht auf absichtlicher Verständigung; und noch we-
niger kann es ein rein mechanischer Ablauf von Nervenerregungen
sein, der in jedem Individuum durch äußere Reize ausgelöst wird.
Mögen daher auch vererbte Anlagen der Organisation bei den
Äußerungen der tierischen Instinkte mithelfende Bedingungen sein,
in alle jene scheinbar nach gemeinsamem Plan ausgeführten Instinkt-
Theorie der pantomimischen Bewegungen. 1^1
handlungen greifen vor allem Nachahmungsbevvegungen bestimmend
ein. Sie machen es verständlich, wie, sobald nur einmal gewisse
übereinstimmende Triebrichtungen gegeben sind, ein Zusammen-
wirken der Individuen möglich wird, das zweckmäßige Enderfolge
herbeiführt, die keineswegs von den einzelnen selbst als zu errei-
chende Zwecke vorgestellt worden sind^). Niemals kommen in der
Tat psychische Massenerscheinungen im Tierreich anders zustande,
als indem gewisse Individuen gewisse Triebhandlungen ausführen,
die dann von andern unter der Wirkung der nämlichen Triebe
nachgeahmt werden. Diese subjektive Bedingung für den Erfolg
der Nachahmungsreize führt aber zu dem Schluß, daß bei solchen
Kollektiverscheinungen die Wirkung der Nachahmung auf ähn-
lichen Bedingungen beruht wie die Erregung mimischer oder pan-
tomimischer Mitbewegungen beim Menschen. Ein mimischer Aus-
druck, z. B. ein lachendes oder weinendes Gesicht, bringt bei dem,
der ihn sieht, infolge der festen Assoziation von Ausdrucks-
bewegung und Affekt, eine ähnliche Gemütsbewegung und diese
wiederum den nämlichen mimischen Ausdruck hervor. Beim er-
wachsenen Kulturmenschen hat sich diese Wirkung, infolge der
hemmenden Einflüsse des Willens auf die Äußerung der Affekte,
zu einer schwachen inneren Affekterregung ermäßigt. Beim Kinde
pflegt sich noch ungehemmt das erweckte Mitgefühl in überein-
stimmenden Ausdrucksbewegungen zu entladen, die dann nach dem
gleichen Assoziationsgesetz wieder verstärkend auf die Gemütsstim-
mung zurückwirken. Von einem »Nachahmungstrieb« als einer so-
zusagen unzerlegbaren psychischen Kraft zu sprechen, haben wir
daher nirgends Anlaß. Vielmehr werden wir annehmen dürfen,
daß auch bei den Tieren die wahrgenommene Triebbewegung zu-
nächst den nämlichen Affekt und Trieb erzeugt, der sich dann durch
die gleiche Bewegung Befriedigung schafft. Während aber bei den
niederen Tieren vorzugsweise die zu irgendwelcher Arbeitsleistung
geeigneten Körperbewegungen der Sitz nachahmender Affektäuße-
rungen sind, treten schon bei dem menschenähnlichen Affen und
dann ebenso beim Menschen die mimischen Bewegungen beson-
^) Über die Frage der Entwicklung der Instinkte überhaupt verweise ich hier
auf die Erörterung in meinen Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele, ^
1897, S. 455 ff-
1-7 2 Die Ausdrucksbewegungen.
ders hervor. Der Grund liegt hier offenbar in der nur dem Men-
schen und den ihm ähnlichsten Wesen eigenen Ausbildung der
mimischen Ausdrucksbewegungen der Affekte. Auch bei dem Affen
bleibt jedoch die mimische oder pantomimische Nachahmungsbe-
wegung eine Affektäußerung, die sich durchaus auf die Nachahmung
der gleichen Ausdrucksbewegungen anderer ähnlicher Wesen, z. B.
eines andern Affen oder des Menschen, seltener schon solcher
Tiere, die in ihrer Leibesgestalt mehr abweichen, beschränkt.
Darum erscheinen diese Nachahmungen in der Regel als ein ab-
solut zweckloses Tun, ähnlich etwa dem sinnlosen Nachsprechen
idiotischer Kinder, Auch ihre Quelle liegt sichtiich in der Miterre-
gung von Affekten, deren Symptome die nachgeahmten Hand-
lungen selbst sind. Der Übergang solcher rein sympathischer
Bewegungen, bei denen die Handlungen gleichartiger Wesen die
notwendigen Objekte der imitativen Affektäußerung bleiben, auf
beliebige in den Affektverlauf eingehende Vorstellungen
ist nun eben deshalb, weil er eine spezifisch menschliche Erwerbung
ist, jedenfalls ein spätes Produkt der Entwicklung. Darum ist es
nicht wahrscheinlich, daß er vor der Sprache und unabhängig
von ihr hervorgetreten sei. In der Tat wird dieser Übergang am
ehesten begreiflich, wenn wir annehmen, daß er unter der Mit-
wirkung des Strebens, die Sprachäußerung einem andern verständ-
lich zu machen, zustande kam. Dieser zu dem ursprünglichen
Affekt hinzukommende Trieb konnte erst der nachahmenden Be-
wegung jene Richtung auf beliebige Objekte der Außenwelt geben,
wodurch diese nun ebensolche affekterregende Vorstellungsinhalte
wurden, wie es zuvor nur die wahrgenommenen Ausdrucksbewe-
gungen gewesen waren. Vor allem dann lag dieser Übergang nahe,
wenn der nachzubildende Gegenstand kein ruhendes Objekt, son-
dern wiederum eine Handlung war, dadurch also auch dem Aus-
gangspunkt der primären imitativen Bewegungen nahelag. Vollends
nahe gerückt wurden sich beide Formen, wenn die durch die Aus-
drucksbewegung mitgeteilte Vorstellung eine frühere oder bevor-
stehende Handlung des Redenden selbst oder des Angeredeten be-
zeichnete. Denn hier ging ja nur das eine Assoziationsglied der
imitativen Mitbewegung von der unmittelbar gesehenen Handlung
auf ihr Erinnerunp-sbild über. In der Tat kommen noch heute
Verbindungen und Übergänge zwischen verschiedenen Ausdrucksformen, i -^ -j
nachahmende Bewegungen als einfache Afifektäußerungen hauptsäch-
lich da vor, wo sie die Vorstellung einer Handlung andeuten; und
sie begleiten hier am häufigsten entweder die afFektstarke Erzählung
geschehener Ereignisse oder die afifektbetonte Aufforderung zur Aus-
führung gewisser Handlungen, die Ermahnung, den Befehl, die Bitte.
Bewegungen, die als Nachahmungen ruhender Gegenstände er-
scheinen, sind innerhalb der gewöhnlichen Affektäußerungen sehr
selten. Sie gewinnen erst ihre Bedeutung unter der Wirkung der
Motive, die aus den Ausdrucksbewegungen die eigentliche Gebärden-
sprache hervorgehen lassen^).
4. Verbindungen und Übergänge zwischen verschiedenen
Ausdrucksformen.
Sind die hinweisenden und die nachahmenden Gebärden zwei
Formen der Vorstellungsäußerung, die, verschiedenen Quellen ent-
sprungen, auch in ihrer Erscheinungsweise wesentlich abweichen, so
bietet nun gleichwohl die Beobachtung eine Menge einzelner, auf
Vorstellungen zu beziehender Afifektsymptome, die zwischen diesen
Formen in der Mitte stehen oder beiden gleichzeitig zuzurechnen
sind. Diese Komplikation wird noch dadurch erhöht, daß sich der
mimische Ausdruck von Gefühlen nicht nur mit den pantomimischen
Bewegungen verbindet, sondern auch in dieser Verbindung eine Be-
deutung gewinnen kann, durch die er gleichzeitig oder sogar vor-
zugsweise zur Vorstellungsäußerung wird. So läßt sich schon bei
der einfachen Gebärde des Winkens mit der Hand, mit der wir je
nach ihrer Richtung jemandem zu verstehen geben, er möge näher
kommen oder sich entfernen, wohl fragen, ob sie als hinweisende
oder als nachahmende zu deuten sei. Wenn der Zornige gegen die
wirkliche oder die bloß vorgestellte Person, die seinen Affekt er-
regt, die Fäuste ballt, mit den Zähnen knirscht und mit dem gan-
zen Körper energische Angriffsbewegungen ausführt, so wird man
diesen ganzen Symptomenkomplex, insoweit er neben Gefühls- zu-
gleich Vorstellungsäußerungen enthält, als eine Verbindung be-
trachten müssen, die in jeder einzelnen Bewegung beide Gebärde-
') Vgl. das folgende Kapitel. V, i.
l^i\ Die AnsdrucksbewegungeB.
formen vereinigt. So ist das Ballen der Faust zunächst eine hin-
weisende Gebärde, denn es erhält erst durch die Richtung auf den
Gegenstand seine Bedeutung. Zugleich ist es aber eine höchst
ausdrucksvolle nachahmende Gebärde, nämlich die abgeschwächte
Form des aus dem gleichen Affekt entspringenden tätlichen An-
griffs auf einen Feind. Dazu kommt ein weiteres Moment, das
die Grenzen noch mehr verwischt, weil es einer und derselben
Ausdrucksform in verschiedenen Fällen wechselnde Bedeutungen
anweist. Es besteht in der zunehmenden psychischen Um-
wandlung der ursprünglich triebartig auftretenden Ausdrucks-
bewegungen in willkürliche. Infolgedessen können diese bald noch
in ihrer ursprünglichen triebartigen Form, als ungesuchte Symptome
wirklicher AlTekte, auftreten, bald infolge von Hemmungen, die
von widerstreitenden Motiven ausgehen, bloß rudimentäre Afifekt-
äußerungen sein, bald endlich infolge anderer Konstellationen der
Motive als willkürliche Nachbildungen natürlicher Äußerungen er-
scheinen. In diesem letzteren Fall verwandeln sich von selbst alle
Ausdrucksbewegungen in nachahmende Gebärden. Auch die mimi-
schen Bewegungen sind dann nicht mehr bloße Gefühlssymptome,
sondern sie bilden Bestandteile des ganzen Symptomenbildes, das
z. B. an die Vorstellung eines Erzürnten erinnern soll, indem es
die Mienen und Gebärden desselben nachahmt. Hierin liegt schon
ausgesprochen, daß sich gerade in diesem, für die Psychologie
der Sprache wichtigsten Fall die sämtlichen sonstigen Affektäuße-
rungen den Vorstellungssymptomen unterordnen. Dies entspringt
aber wieder aus der mit solcher Mitteilung immer verbundenen
Ermäßigung der Affekte und der entsprechenden Verstärkung der
Vorstellungsbestandteile der psychischen Inhalte. Gleichwohl darf
diese Tatsache nicht zu dem oft begangenen Irrtum verführen,
als wenn die Mitteilung von Vorstellungen allgemein auf einem
affektlosen Verhalten der Seele beruhe oder auch nur in der Regel
mit einem solchen verbunden sei. Da vielmehr die Entstehung
von Ausdrucksbewegungen überhaupt gar nicht anders denkbar
ist als auf Grund bestimmter Affekte, so kann es sich überall
nur um ein Zurücktreten der Gefühlsinhalte derselben hinter ihre
Vorstellungselemente, und insofern also um eine Ermäßigung der
Affekte selbst handeln. Doch den alls^emeinen Charakter des
Verbindungen und Übergänge zwischen verschiedenen Ausdrucksformen. 1^5
Affekts behält der die Mitteilung begleitende Seelenzustand immer,
und auch die ursprüngliche Intensität und Gefühlsstärke gewinnt er
um so mehr zurück, je lebhafter die Ausdrucksbewegungen werden.
Denn die begleitenden sinnlichen Empfindungen und die intensiver
werdenden Gefühle nähern nun die nachahmenden Gebärden selbst
mehr und mehr einem wirklichen Nacherleben der Handlungen, die
sie andeuten.
Zweites Kapitel.
Die Gebärdensprache.
I. Die Entwicklungsformen der Gebärdensprache.
I. Begriff und allgemeine Eigenschaften der Gebärdensprache.
Man pflegt die Gebärdensprache als eine »Äußerung der Ge-
danken durch sichtbare, aber nicht hörbare Bewegungen« zu defi-
nieren und demnach der Gebärdenäußerung ihre Stellung mitten-
inne zwischen Schrift und Sprache anzuweisen. Gleich der ersteren
stelle sie die Begrifle in sichtbaren Zeichen dar, während doch diese
Zeichen, ähnlich den Sprachlauten, rasch vorübergehende Vorgänge
seien. Sie erscheint so als eine Bilder- oder Zeichenschrift, die ihre
Symbole mittels der flüchtigen Gebärde in die Luft zeichnet, statt
auf ein solides, sie dauernd festhaltendes Material").
Da nun die Schrift der Sprache gegenüber ein verhältnismäßig
spätes und in höherem Grade die erfinderische Tätigkeit heraus-
forderndes Erzeugnis ist, so wird dadurch zugleich die weitver-
breitete Meinung verständlich, die Gebärdensprache sei, wie in den
meisten Fällen ihrem Erfolge nach ein Ersatzmittel für die Laut-
sprache, so auch nach ihren ursprünglichen Motiven aus der Absicht
entsprungen, einen solchen Ersatz zu schaffen. Sie wird daher von
diesem Standpunkt aus ganz oder mindestens in höherem Maß als
die Lautsprache für ein Produkt planmäßiger Erfindung gehalten;
und deshalb, weil sie willkürlich erfunden sei, sollen denn auch
die Gebärden in einer leichter verständlichen Beziehung zu den
Gegenständen stehen, die sie andeuten.
Diese Auffassung wird jedoch von einer andern durchkreuzt, die
Tylor, Urgeschichte der Menschheit. A. d. Engl, von H. Müller S. 105 ff.
Begriff und allgemeine Eigenschaften der Gebärdensprache. i ^ -
von einem nicht minder bezeichnenden Unterschiede der Gebärden-
und Lautsprache ausgeht. Die Lautsprache tritt uns in einer unab-
sehbaren Fülle einzelner Gestaltiuigen entgegen, deren nähere oder
entferntere Beziehungen sich durchweg erst den Hilfsmitteln der
sprachwissenschaftlichen Analyse erschließen, so daß für die prak-
tischen Zwecke der Mitteilung jede Sprache wie ein konventionelles
System von Zeichen erscheint, dessen Gebrauch besonders erlernt
und eingeübt sein muß. Das ist wesentlich anders bei der Gebärden-
sprache, die schon Quintilian »omnium hominum communis sermo«
genannt hat'). Sie ist, wenn auch nicht in allen, so doch in ihren
wichtigsten und verbreitetsten Formen eine Art Universalsprache,
die unter den verschiedensten Entstehungsbedingungen zahlreiche
Bestandteile gemein hat, so daß zwischen ihren verschiedenen, allen-
falls den »Dialekten« einer Lautsprache vergleichbaren Entwicklungs-
formen oft ohne besondere Schwierigkeit eine Verständigung möglich
ist. Dieser universelle Charakter ist aber sichtlich durch die un-
mittelbar in der Anschauung gegebene Beziehung bedingt, in der
die Gebärde und ihre Bedeutung zueinander stehen. Durch diese
Beziehung gewinnt die Gebärdensprache eine Ursprünglichkeit und
Natürlichkeit, wie solche die Lautsprache weder heute besitzt noch
in irgendwelchen früheren sprachgeschichtlich zu erschließenden
Formen jemals besessen hat. Nimmt man hinzu, daß schon ge-
wisse Ausdrucksbewegungen der Tiere eine den Gebärden des
Menschen ähnliche und darum für uns leicht verständliche Bedeu-
tung haben, so kann man dadurch wohl zu der von manchen
Anthropologen ausgesprochenen Vermutung geführt werden, die
Gebärdensprache sei die eigentliche Ursprache, und sie sei, als das
natürlichere Hilfsmittel der Mitteilung, der Lautsprache vorausge-
gangen.
Die Antinomie, die in diesen verschiedenen Auffassungen zutage
tritt, macht es bereits wahrscheinlich, daß die Gebärdensprache durch-
aus kein so einheitliches, nach ihrem Ursprünge zusammengehöriges
Ganzes ist, wie man dies bei ihrer zuletzt erwähnten Charakterisierung
als einer Ur- und Universalsprache anzunehmen pflegt. In der Tat
kann sie nach den mannigfachen Bedingungen ihrer Entstehung
1,1 Quintilian, Instit. orator. XI, 3, 87.
I^S I^is Gebärdensprache.
Abweichungen darbieten, die uns von vornherein nötigen, mehrere
Entwicklungsformen zu unterscheiden.
2. Gebärdensprache der Taubstummen.
Unter allen Formen der Gebärdensprache hat in neuerer Zeit
diejenige der Taubstummen wohl am meisten die Aufmerksamkeit
auf sich gelenkt. Das praktische Interesse des Taubstummenunter-
richts ist hier der Beschäftigung mit dem Gegenstand besonders
förderlich gewesen. Freilich hat aber auch dieses Interesse durch
die mannigfachen einander zum Teil widerstreitenden pädagogischen
Anschauungen und Maßregeln, die aus ihm hervorgegangen sind,
auf die Art und den Umfang der Gebärdenmitteilung selbst nicht
wenig hinübergewirkt. Unter den sonstigen Bedingungen steht natür-
lich der Einfluß der Umgebung obenan. Neben ihm kommt dann
noch der Grad des Gehörmangels und die Zeit seines Eintritts in
Betracht. Denn der Gehörmangel des Taubstummen fällt zwar stets
unter die hochgradigen Sinnesdefekte, da geringere Gehörsschwäche
nicht den Verlust der Sprache zur Folge hat. Aber darum ist jener
doch keineswegs in allen Fällen ein absoluter, und je nachdem Reste
des Gehörs oder auch nur Erinnerungen an einstige Schallempfin-
dungen vorhanden sind oder fehlen, gestalten sich die Bedingungen
für die Gebärdenmitteilung verschieden. Nicht minder ist die Frage,
ob der Taubstumme im Hause, in der ausschließlichen Umgebung
Hörender, oder ob er in Anstalten mit seinesgleichen aufwächst,
und endlich, unter welchem Unterrichtssystem er erzogen wird, von
Bedeutung.
Am ungünstigsten für die spontane Entwicklung der Gebärden-
sprache ist begreiflicherweise das Leben des einzelnen Taubstummen
in einer hörenden Umgebung. Wie das hörende, so empfangt auch
das gehörlose Kind die erste Anregung zur Mitteilung seiner Wünsche
und Vorstellungen vom Erwachsenen. Die Unmöglichkeit, sich ihm
durch Laute verständlich zu machen, läßt dann von selbst zu ein-
fachsten, zunächst fast ausschließlich hinweisenden Gebärden greifen.
Sobald sich aber die Intelligenz des Kindes zureichend entwickelt
hat, pflegt allmählich die Umgebung das gesprochene Wort durch
das geschriebene zu ergänzen, und da die wirkliche Schrift nicht
Gebärdensprache der Taubstummen. I -jg
überall zur Hand ist, so wird sie dann durch die Nachbildung der
Schriftzeichen mit den Fingern ersetzt. So kann gewissermaßen auf
natürlichem Weg eine völlig künstliche, erst auf Grundlage der
Schrift mögliche Gebärdensprache entstehen.
Diese Verhältnisse machen es verständlich, daß der erste Versuch
einer systematischen Ausbildung der Gebärdensprache für die Zwecke
des Taubstummenunterrichts das Fingeralphabet war. In Spanien,
der Heimat dieses Unterrichtszweiges, erfunden, ist es in verschie-
denen Formen, bald als einhändiges, bald als zweihändiges Zeichen-
system, durch alle zivilisierten Länder gewandert, und es hat sich
später namentlich in der Gunst solcher Taubstummenlehrer erhal-
ten, die in der natürlichen Gebärde ein Hindernis für die Er-
reichung des höchsten Zieles der Taubstummenbildung, der Erwer-
bung der artikulierten Lautsprache, erblickten.
Den vollen Gegensatz zu dieser ganz und gar künstlichen Finger-
schrift bildet nun jene Gebärdensprache, die sich von selbst aus-
bildet, wenn entweder von früh an mehrere Taubstumme zusammen-
leben, oder wenn, was bis zu einem gewissen Grade diese zwingendste
Bedingung ersetzen kann, die hörende Umgebung sich selbst den
Bedürfnissen des Stummen anzupassen und in seine Vorstellungs-
und Gefühlsweise einzuleben sucht. Mit Recht kann man das so
sich ausbildende Zeichensystem eine natürliche Gebärdensprache
nennen, weil es an sich gar keine schon existierenden Hilfsmittel
der Mitteilung, weder die Lautsprache noch die Schrift, fordert
und darum auch nicht notwendig einer fortlaufenden längeren Tra-
dition bedarf, sondern nötigenfalls in einem Kreise von Taubstummen
oder von Taubstummen und Hörenden völlig selbständig entstehen
kann. Freilich kommt das nur selten wirklich vor, da irgendeine
Art Überlieferung nicht leicht fehlt und namentlich in den Fällen,
wo Taubstumme dauernd zusammenbleiben, also in den Taubstummen-
anstalten, eine so überwiegende Rolle spielt, daß das in einer solchen
Anstalt herrschende System von Gebärdezeichen beinahe ebensosehr
als ein durch Überlieferung angeeignetes und konventionelles ange-
sehen werden kann, wie ein beliebiger lokaler Dialekt einer Laut-
sprache. Immerhin tritt auch dann der natürliche Charakter eines
solchen Systems in zwei Erscheinungen hervor, die der Lautsprache
fehlen oder höchstens in entfernten Andeutungen in ihr vorkommen.
140 Die Gebärdensprache.
Die eine besteht darin, daß innerhalb eines räumlich beschränkten
Gebietes Neubildungen außerordentlich häufig auftreten: sie sind
durch die Natur der Gebärdenmitteilung nahegelegt und verbinden
sich daher fortwährend und oft ohne deutliches Bewußtsein der
Neubildung mit dem Gebrauch der überkommenen Symbole. Die
zweite, noch augenfälligere Erscheinung ist die, daß räumlich weit
voneinander entfernte und zweifellos ganz unabhängig entstandene
Zeichensysteme in einem großen Teil ihrer Bestandteile einander
gleichen oder doch nahe verwandt sind, eine Verständigung also
zwischen denen, die sich solcher Gebärdeformen bedienen, meist
ohne Schwierigkeit möglich ist. Hierin besteht eben die oft ge-
rühmte Universalität der Gebärdensprache. Übrigens versteht es
sich von selbst, daß diese Universalität nur für Vorstellungen gilt,
die hinreichend allgemeingültiger Art sind. Demnach bilden das ich
und du, das dieser und jener, das hier und dort, oder die Erde,
der Himmel, die Wolken, die Sonne, das Haus, der Baum, die
Blume, ferner das Gehen, Stehen, Liegen, Schlagen und viele
andere Gegenstände und Tätigkeiten, die im wesentlichen überall
nach den nämlichen bevorzugten Merkmalen apperzipiert werden,
die Substrate eines mit wenigen Variationen übereinstimmend wieder-
kehrenden Vorrats von Gebärdezeichen. Die einzelnen Personen,
die in der bestimmten Gemeinschaft leben, die besonderen, an den
Wohnort und an die speziellen Zeitbedingungen gebundenen Gegen-
stände, Gewohnheiten und Erinnerungen aber, sie variieren natür-
lich auch in den Zeichen, die für sie gebraucht werden, von Ort
zu Ort und in vielen ihrer Bestandteile sogar von einer Generation
zur andern, ja von Jahr zu Jahr mit den wechselnden Erlebnissen.
In dieser Beziehung gibt die Gebärdensprache sogar ein leben-
digeres Bild von dem fortwährenden Fluss der Lebensinhalte einer
jeden beschränkteren wie weiteren Gemeinschaft, als es die Laut-
sprache zu tun vermag, weil diese in viel höherem Maß an einen
festen Bestand von Symbolen gebunden ist und daher zumeist auch
das Neue enger an das Bekannte anschließt, indem sie sich durch
Übertragungen und Verbindungen der schon geläufigen Wörter zu
helfen sucht. Da auf diese Weise innerhalb der Gebärdensprache
fortan weit radikalere Neubildungen vorkommen, als in der ungleich
stabileren Lautsprache, so fordert jene aber auch in höherem Grade
Gebärdensprache der Taubstummen. I _i j
ZU willkürlichen Neubildungen heraus, und diese, wenn sie nur
irgendwie den auszudrückenden Begriffen adäquat sind, gehen dann
ohne Schwierigkeit in den allgemeinen Besitz über. Von der Scheu,
die auf dem Gebiet der Lautsprache den überkommenen Wortschatz
im ganzen getreu bewahrt und neue Eindringlinge nur selten zuläßt,
ist in der Gebärdensprache nicht die Rede. Sie bemächtigt sich be-
gierig neuer Bildungen, um damit ihrer stets empfundenen Armut
abzuhelfen. Mehr noch als den Taubstummen selbst macht sich
dieses Bedürfnis oft ihrer hörenden Umgebung fühlbar, die immer
mit der Schwierigkeit kämpfen muß, das in der Lautsprache Gedachte
durch Gebärden auszudrücken. Sobald dieser Einfluß der Umgebung
überwiegend wird, so streben in die Gebärdensprache auch solche
Elemente überzugehen, die eigentlich nur in der Lautsprache mög-
lich, also, wenn sie in Gebärden umgesetzt werden, künstlich er-
fundene Symbole sind. Immerhin können diese im Sinne der Ge-
bärdensprache erfunden werden, und dies geschieht um so mehr,
wenn schon der ganze Bewußtseinszustand auf das Denken in Ge-
bärden angelegt ist. Hierdurch unterscheiden sich immerhin auch
diese künstlichen Bestandteile der Gebärdensprache sehr wesentlich
von der Fingerschrift.
Die Frage, ob und in welchem Umfang eine solche Bereiche-
rung der natürlichen Gebärden durch willkürliche, aber soviel als
möglich in ihrem Geist erfundene Zeichen zulässig sei, hat von
der Mitte des i8. Jahrhunderts an bis auf unsere Tage herab in
dem Streite zwischen der französischen und der deutschen Methode
des Taubstummenunterrichts eine wichtige Rolle gespielt. Dieser
Streit selbst hat aber eine psychologische und eine ethische Seite.
Die französische Schule fordert das psychologisch Angemessene,
die deutsche das ethisch Erstrebenswerte. Nun ist die den Fähig--
keiten des Taubstummen angemessene Sprache selbstverständlich
die Gebärdensprache. Vermöge seiner natürlichen Anlagen würde
er nie zu einer andern Art der Mitteilung gelangen. Die fran-
zösische Schule, nach den vom Abbe de l'Epee gemachten An-
fängen hauptsächlich von Abbe Sicard begründet, sucht daher die
natürliche Gebärdenmitteilung fortzubilden, indem sie im Sinne
derselben weitere Zeichen und solche logische und grammatische
Hilfsmittel erfindet, durch die ihr die Erwerbungen der Lautsprache
lj^2 Die Gebärdensprache.
möglichst zugänglich gemacht werden sollen']. »Nicht wir sind die
Erfinder der Zeichen«, sagt Sicard, »sondern die Taubstummen
selbst, und wir haben nur ihren wahren Erfindern nachzuschreiben,
wenn wir die Theorie dieser Zeichen zu geben suchen.« Ist diese
Methode zweifellos diejenige, die das zu erreichende Ziel am meisten
den psychischen Eigenschaften des Taubstummen anpaßt, so ist
aber dieses Ziel selbst ein ethisch unbefriedigendes: es verurteilt
den Gehörlosen zu einer Sonderexistenz unter seinesgleichen oder
in der Gesellschaft der Vollsinnigen, in der er nur in kümmerlich-
ster Weise an den Gütern des gemeinsamen Lebens teilnimmt.
Auch ist es, wenn man, wie es die französische Methode prinzipiell
tut, die natürliche Gebärdensprache des Taubstummen soviel als
möglich der Stufe der Lautsprache zu nähern sucht, sehr schwer,
die Grenze einzuhalten, bei der das erfundene Zeichen nicht den-
noch zu einem gekünstelten wird, das den natürlichen Bedingungen
der Gebärdensprache selbst widerspricht. Wenn z. B. in dem System
Sicards die Auf- und Abwärtsbewegung der geschlossenen Hände
auf der Brust bei auswärts gekehrten Daumen das Verbum sub-
stantivum sein , das Vorwärtsstoßen der geballten Fäuste mit auf-
wärts gerichteten Daumen das Adverbium noch^ die Bewegung der
Finger von den Schläfen nach außen die Konjunktion ivarm be-
deuten soll usw., so können diese Zeichen schon deshalb keine
naturgemäßen Weiterbildungen der ursprünglichen Gebärdensprache
sein, weil in dieser solche abstrakte Verba und Partikeln nicht
existieren und ihrem ganzen Charakter nach nicht existieren können.
Die Interpretation, die diese künstlichen mit den natürlichen Zei-
chen verknüpfen soll, läuft darum, falls sie überhaupt versucht
wird, auf irgendeine fernliegende Assoziation hinaus, die von dem
Taubstummen mühselig erlernt werden muß, wenn er sie verstehen
soll, und die er samt dem Zeichen, das durch sie begreiflich ge-
macht wird, in der Regel vergißt, sobald er sich von dem Zwange
der Schule befreit weiß.
') Sicard, Theorie des signes pour l'instruction des sourdsrauets, Paris 1808,
2 vols. Über die Geschichte des Taubstummenunterrichtes überhaupt vgl. Ed. Schmalz,
Über die Taubstummen und ihre Bildung, 1838, 2 1848, S. 120 ff. A. Hartmann,
Taubstummheit und Taubstumraenbildung. 1880, S. 125 ff. W. R. Scott, The Deaf
and Dumb,2 1870, p. 95 ff.
Gebärdensprache der Tavibstummen. ^4^
Die deutsche Schule stellt nun im Gegensatze zu der französi-
schen den ethischen Zweck, die Taubstummen soviel als mög-
lich zu vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen, in
den Vordergrund. Nach dem Vorbild ihres Begründers Samuel
Heinicke benützt sie daher die Gebärden nur als vorübergehende
Hilfsmittel, durch die jenen allmählich die Lautsprache selbst zugäng-
lich werden solP). Bei dieser Aneignung der artikulierten Laut-
sprache fallen aber für den Gehörlosen naturgemäß die beiden Fähig-
keiten, die Sprache zu verstehen und sie zu gebrauchen, ungleich
mehr auseinander als für das hörende Kind, bei dem der Laut
alsbald das Streben erweckt, ihn nachzuahmen, so daß sich hier
Sprachlaute und Artikulationsempfindungen von frühe an fest asso-
ziieren. Für den Gehörlosen sind, weil ihm gerade diejenige Sinnes-
empfindung fehlt, die das natürliche Mittelglied dieser Assoziationen
ist, Verstehen und Gebrauch der Sprache von Anfang an getrennte
Tätigkeiten, die allmählich erst durch eine völlig neue, künstlich
eingeübte Assoziation aneinander gekettet werden. Verstehen lernt
er die Sprache dadurch, daß er sie vom Munde abliest, also in der
Form einer Folge von Gesichtsbildern. Gebrauchen lernt er sie,
indem er die Artikulationsbewegungen des Hörenden und Sprechen-
den nachbildet. Die französische Schule sucht also den Gehörlosen
innerhalb der ihm gebliebenen Sinnessphären zu entwickeln, indem
sie dabei jeden Sinn nur in den ihm auch beim Hörenden zukom-
menden Funktionen weiterzubilden bemüht ist. Die deutsche Schule
will für den fehlenden Gehörssinn dadurch Ersatz schaffen, daß sie
ihm andere Sinne substituiert. Diese Stellvertretung übernimmt
dann für das Verstehen der Sprache der Gesichtssinn, für den Ge-
brauch der Sprache der Tastsinn mit den die Artikulationsbewe-
gungen begleitenden inneren und äußeren Tastempfindungen^).
i) Samuel Heinicke, Beobachtungen über Stumme und über die menschliche
Sprache, Hamburg 1878, S. 54 fF.
2) W. Gude, Die Gesetze der Physiologie und Psychologie über Entstehung der
Bewegungen und der Artikulationsunterricht der Taubstummen, 1880, S. 40 ff. Als
weiteres assoziatives Hilfsmittel wird in neuerer Zeit bei dem sogenannten >imita-
tiven Sprachunterricht< auch noch die Assoziation der Schriftzeichen mit den ent-
sprechenden Laut- und Schreibbewegungen verwendet. Demnach handelt es sich
hierbei wesentlich nur um eine Vermehrung der im Gebiet des Tast- und Gesichts-
sinns zu Gebote stehenden Assoziationshilfen. Vgl. G. Forchhammer, Der imitative
144 ^'^ Gebärdensprache.
Hierdurch verliert aber jener Vorzug der Natürlichkeit, den man
der einseitigen Pflege der Gebärdensprache zuschreibt, einiger-
maßen seine Bedeutung. Die artikulierte Sprache des Taubstummen
beruht so gut wie die des Hörenden auf der Einübung bestimmter
Assoziationen zwischen Empfindungen verschiedener Sinnesgebiete.
Mögen nun auch die Assoziationen zwischen Sprachlauten und Ar-
tikulationsempfindungen, die bei der Lautsprache wirken, durch die
generelle Entwicklung vorbereitet, also durch angeborene Anlagen
begünstigt und durch die genauere Kontrolle, die der Gehörssinn
zuläßt, erleichtert sein, so ist doch die Ausbildung der weit schwie-
rigeren Assoziationen zwischen den Gesichtsbildern der Sprach-
bewegungen und den Artikulationsempfindungen keineswegs eine
unmögliche, und sie ist das Ersatzmittel, auf das die bei mangeln-
dem Gehör von selbst sich einstellende regere Tätigkeit des Ge-
sichtssinns gewissermaßen als auf ein natürliches hinweist. Freilich
bringt aber die größere Schwierigkeit der Bildung jener eigen-
artigen Assoziationen für die Lautsprache des Gehörlosen die Ein-
schränkung mit sich, daß das Niveau geistiger Anlagen, das zur
xA.neignung der Sprache erfordert wird, hier ein höheres ist als beim
vollsinnigen Menschen, daß also die Aneignung in eine spätere
Lebenszeit fallen muß , und daß sie manchen Individuen , nament-
lich w^enn zu minderwertiger Anlage ungünstige äußere Lebens-
verhältnisse hinzukommen, ganz versagt bleibt, eine Einschränkung,
die natürlich für die Gebärdensprache bei weitem nicht in ähnlichem
Maß existiert. Dieser Umstand ist es denn auch hauptsächlich, der
heute noch dem französischen System in den Ländern romanischer
Zunge den Vorzug verschafft hat. Insoweit es grundsätzlich eine
Sprachunterricht in der Taubstumraenschule usw. Aus dem Dänischen von E. Göpfert,
1899. Schon Samuel Heinicke hatte übrigens eine klare Vorstellung davon, daß
beim Sprechenlernen der Taubstummen neben dem Gesichtssinn noch ein zweiter,
stellvertretender Sinn erforderlich sei. Aber da ihm die Bedeutung und, wie es
scheint, sogar die Existenz der die Artikulationsbewegungen begleitenden inneren
Tastempfindungen noch verborgen war, so geriet er merkwürdigerweise auf den
Gedanken, den Geschmackssinn dem Gehör zu substituieren. (Heinicke, Be-
obachtungen über Stumme, S. 61 ff.) Näheres über diese längere Zeit in Heinickes
Anstalt geübte Methode hat Reich mitgeteilt. (Blicke auf die Taubstummenbildung,^
1828, S. 27 ff.) Sie ist bald wieder verlassen worden, und natürlich sind es auch
bei Heinickes eigenem Artikulationsunterricht die Tastempfindungen gewesen, die
bei der Erzeugung der Sprachlaute die gesuchte Substitution übernahmen.
Gebärdensprache bei den Naturvölkern. j^c-
künstliche, von grammatischen Begriffen beherrschte Weiterbildung
der natürlichen Gebärdensprache erstrebt, wird dadurch allerdings
seine psychologische Bedeutung beeinträchtigt. Auf der andern
Seite wird aber von manchen Seiten geklagt, daß der deutsche
Unterricht allzusehr darauf ausgehe, den natürlichen Ausdruck der
Gebärde zu unterdrücken, wodurch dann, abgesehen von den päda-
gogischen Bedenken gegen dieses gewaltsame Verfahren, das Mate-
rial für die psychologische Beobachtung im entgegengesetzten Sinn
eingeschränkt wird^). Am meisten scheint man in England auf die
Konservierung der natürlichen Gebärdezeichen Bedacht zu nehmen,
ohne allerdings künstliche Nachhilfen im Sinne des französischen
Systems ganz zu verschmähen").
3. Gebärdensprache bei den Naturvölkern.
Ist infolge der Einflüsse, die Umgebung, Erziehung und Unter-
richtsweise auf den Taubstummen ausüben, dessen Gebärdensprache
kein durchaus einheitliches und zuweilen nur noch teilweise ein ur-
sprüngliches Erzeugnis seines Bewußtseins, so verhält sich das einiger-
maßen ähnlich bei der Gebärdensprache der Naturvölker, wie sie
namentlich bei den Stämmen der nordamerikanischen Indianer be-
obachtet worden ist^).
I) Heidsiek, Der Taubstumme und seine Sprache, 1889, S. 127 ff.
-) W. R. Scott, The Deaf and Dumb,^ 1870, p. 108. Vgl. übrigens zu dieser
ganzen Frage den Bericht von H. Gutzmann, Archiv für die ges. Psychol. Bd. i
1903, S. 67 ff.
3) Der folgenden Analyse sind hauptsächlich die eingehenden Mitteilungen zu-
grunde gelegt, die wir über die Gebärden der nordamerikanischen Indianer von
Garrick Mallery besitzen, in seiner von zahlreichen Abbildungen begleiteten Arbeit:
Signe Language among North American Indians, First annual Report of the Bureau
of Ethnology, Smithsonian Institution, 1879 — 80, p. 269 — 552. Ein anderes Ver-
zeichnis indianischer Gebärdezeichen, das besonders bei den Indianern der Rocky
raountains imd der angrenzenden Territorien gesammelt ist, hat der Prinz von Wied
mitgeteilt (Reise in das Innere von Nordamerika, 1832 — 1834, Coblenz 1841, II,
S. 645 — 653). Wied bemerkt, man versichere ihm, die Stämme der Rocky mountains
wüßten sich sämtlich untereinander, nicht aber mit den Dakotas und andern Nationen
in der Gebärdensprache zu verständigen. In der Tat finden sich zwischen den von
ihm und den von Mallery gesammelten Zeichen viele Unterschiede, jedoch auch
manche Übereinstimmungen. Ähnlich ist das Verhältnis zwischen den Indianern
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. lO
146 Die Gebärdensprache.
Zwei Bedingungen können im allgemeinen der Entstehung einer
solchen Gebärdensprache bei wild lebenden Völkern zugrunde liegen,
und es ist anzunehmen, daß sie stets ineinander eingreifen. Erstens
pflegen schon bei den Genossen einer und derselben Horde Wort
und Affektäußerung bei lebhafter Mitteilung zusammenzuwirken. So
kommt es, daß in vielen Fällen auf das begleitende Wort ver-
zichtet wird, sei es weil die Gebärde zur Verständigung genügt, sei
es weil man die lautlose Mitteilung aus irgendwelchen Gründen vor-
zieht. Ist diese Entstehung eines Verkehrs in lautlosen Zeichen
zwischen den Genossen einer einzelnen Horde wahrscheinlich der
allgemeine Anfang jeder Mitteilung durch Gebärden, so beruht nun
aber ihre weitere Ausbildung hauptsächlich auf dem Hinzutritt der
zweiten Bedingung. Diese besteht darin, daß sich die Sprachen
der Naturvölker bei dem Mangel erhaltender Kräfte, wie Literatur
und dauernder Verkehr sie ausüben, stark dialektisch zersplittern,
so daß selbst zwischen nahe verwandten Stämmen, ja manchmal
zwischen verschiedenen Horden desselben Stammes die Verstän-
digung durch die Lautsprache erschwert ist. Die so gepflegte
Gewohnheit, mit Mitgliedern fremder Herkunft durch Gebärden
zu verkehren, muß dann aber wieder auf den Gebrauch derselben
zwischen den näheren Genossen fördernd zurückwirken. So er-
klärt es sich wohl, daß namentlich bei den Indianerstämmen Nord-
amerikas, wo alle jene Bedingungen durch ein unstetes Jäger- und
Kriegerleben gefördert wurden, die Gebärdensprache einen hohen
Grad der Ausbildung erreicht hat. Sichtlich haben an ihr viele
Generationen gearbeitet, und wenn sie auch weit mehr als die
Lautsprache eine fortwährende Neubildung von Symbolen gestattet,
so hat sich doch in ihr eine vielleicht schon Jahrhunderte be-
stehende Tradition ausgebildet, durch die sie in gewissem Grad,
ähnlich der Lautsprache, dem Einzelnen als ein fertiges System
von Zeichen überliefert wird. Zeugnis hierfür ist die Tatsache,
daß der Indianer manche Gebärden konventionell anwendet, bei
denen er über die Beziehung zwischen Symbol und Bedeutung
und den Rassen anderer Erdteile, wie Australiern, Afrikanern, asiatischen Vollmern
(Arabern, Japanern), von denen wir freilich meist nur unvollständigere Nachrichten
besitzen.
überlieferte Gebärdezeichen bei europäischen Kulturvölkern. X47
keine Rechenschaft mehr geben kann'). Teils diese lange dauernde
Tradition, teils andere damit zusammenhängende Bedingungen unter-
scheiden die Zeichensprache der Indianer sehr wesentlich von der-
jenigen der Taubstummen. Wenn man von den willkürlich er-
fundenen Symbolen des französischen Systems oder des Finger-
alphabets, die hier nicht in Vergleich gezogen werden können,
absieht, so ist daher die Gebärdensprache der Wilden nicht nur
überhaupt reicher an Symbolen, sondern namentlich auch reicher
an solchen, die nur dem Eingeweihten verständlich, und die in ein-
zelnen Fällen auch für diesen zu bloß konventionellen Zeichen
sreworden sind.
4. Überlieferte Gebärdezeichen bei europäischen Kulturvölkern.
In dieser Beziehung schließt sich eine dritte Entwicklungsform
der Gebärdensprache auf das engste an die Zeichensysteme der
Wilden an, wenn sie auch infolge der sehr verschiedenen Kultur-
bedingungen in der Beschaffenheit der gebrauchten Symbole er-
heblich abweicht. Das ist die bei den südlichen Völkern Europas,
namentlich bei den Süditalienern, übliche Form der Gebärdenmit-
teilung. Sie ist vorzugsweise in den niederen Volkskreisen verbreitet,
wird aber auch vom Gebildeten zum Teil verstanden und im Ver-
kehre mit dem Volk angewandt. Am eingehendsten ist unter diesen
Formen der Gebärdensprache die neapolitanische studiert worden^).
Sie ist überdies durch ihren Reichtum und durch die Beharrlichkeit
ausgezeichnet, mit der sie sich seit Jahrhunderten erhalten hat.
Denn zahlreiche der noch heute beim süditalienischen Volk ge-
^) >It could not be explained« ist eine Bemerkung, die zu den dem Munde der
Eingeborenen entnommenen Wortbezeichnungen gewisser Gebärden nicht selten
wiederkehrt. (Mallery a. a. O. pag. 409 ff.) In andern Fällen ist die gegebene Deu-
tung offenbar nur eine Vermutung der Eingeborenen selbst.
2) Andrea de Jorio, La mimica degli antichi investigata nel gestire napoletano,
Napoli 1832. In seinem antiquarischen Teil genügt dieses Werk natürlich heutigen
Ansprüchen nicht mehr. Die Sammlung der beim neapolitanischen Volk verbreiteten
Gebärdezeichen bleibt aber wertvoll. Sie dürfte, obgleich mehr als ein halbes Jahr-
hundert alt, dem heutigen Zustande noch durchaus entsprechen, und auch in seiner
Annahme, daß die meisten der heute gebrauchten Gebärden bis in das Altert
zurückreichen, hat der Verfasser ohne Zweifel das Richtige getroffen.
10*
148 Di^ Gebärdensprache.
brauchten Zeichen finden sich in analoger Bedeutung auf antiken
Kunstdenkmälern oder werden von älteren Schriftstellern erwähnt^).
Dadurch erweist sich auch diese Form der Gebärdensprache als
das Produkt einer langen, viele Jahrhunderte dauernden Tradition.
Wie die Formen uralten heidnischen Aberglaubens noch heute, zum
Teil in christlichen Verkleidungen, im süditalienischen Volke fortleben,
so sind die Gebärdezeichen, die uns gegenwärtig auf den Straßen
Neapels begegnen, mit wenig Ausnahmen dieselben, wie sie in den
Tagen des Augustus und wahrscheinlich in einer noch viel weiter
zurückliegenden Zeit im Gebrauch waren. Diese lange Überlieferung
bedingt es, daß, ähnlich wie bei den Indianern Nordamerikas, viele
jener Zeichen völlig konventionell geworden und in ihrer ursprüng-
lichen Bedeutung verblaßt sind. Da jedoch in diesem Fall die Ge-
bärde zwar nicht selten das gesprochene Wort verdrängt hat, aber
es nicht, wie bei dem Verkehr zwischen stammesfremden Wilden,
völlig ersetzt, so hat der Besitz der fortwährend ergänzend und er-
läuternd eingreifenden Lautsprache hier zugleich auf die Erhaltung
und Entwicklung der Gebärden fördernd eingewirkt. Die heute bei
den südlichen Völkern Europas vorkommende Zeichensprache er-
scheint so als ein Überlebnis der in der antiken Welt überhaupt
lebendigeren Begleitung der Sprache durch die Gebärde, einer Er-
scheinung, die in der Pflege der Pantomime und in dem großen
Wert sich ausspricht, den die Alten bei der Rede auf den Gestus
legten. Darum ist es nun aber auch eine falsche Auffassung, wenn
man dieses starke Hervortreten der Gebärde und ihre gelegentliche
Funktion an Stelle der Sprache als Zeichen eines niedrigen Standes
der Kultur, und demnach das Vorkommen der Gebärdensprache bei
Menschen, die zugleich der Lautsprache mächtig sind, allgemein als
eine Eigentümlichkeit unzivilisierter Völker betrachtet hat. Der Süd-
i) Viele hierher gehörige Züge hat schon Jorio beigebracht. Das archäologische
und literarhistorische Material ist in neuerer Zeit von Sittl gesammelt worden in
seinem Werk über die Gebärden der Griechen und Römer, 1890, in welchem jedoch
die Beziehung zu den heute gebrauchten Zeichen nicht näher verfolgt wird, und
auch der Natur der Sache nach die besonderen, mehr auf lokaler Tradition beruhen-
den und meist speziellere Begriffe ausdrückenden Gebärden, gegenüber den all-
gemeineren und weiter verbreiteten, zurücktreten. Unter den Berichten älterer Schrift-
steller ist die schon oben erwähnte Abhandlung Quintilians über den Gestus in
Lib. XI seiner Institut, orator. das vollständigste und wertvollste Dokument.
überlieferte Gebärdezeichen bei europäischen Kulturvölkern. i^_q
franzose und der Italiener zeigen noch heute ein weit lebhafteres
Gebärdenspiel als der Engländer und der Deutsche, und dieser
Unterschied erstreckt sich auf alle Kreise der Gesellschaft ziemlich
gleichförmig. Nicht die Bildung, sondern der Grad des Affekts oder
die dauernde Affektanlage, das Temperament, ist vor allen Dingen
für die Entstehung der Gebärde entscheidend. Besteht einmal ver-
möge dieser Anlage die Neigung zu einem lebhaften Mienenspiel,
so begleitet dieses nicht bloß von selbst die gesprochene Rede,
sondern es tritt auch leicht an deren Stelle, wenn die laute Ge-
dankenäußerung unterdrückt wird; und aus dieser freieren Übung
entspringt naturgemäß eine ästhetische Freude an der bedeutsamen
Gebärde als solcher. Die Alten haben diese Freude auch im ge-
wöhnlichen Verkehr der Menschen offenbar mehr gekannt, als wir
sie heute kennen, und die Regeln der Sitte geboten bei ihnen zwar
das Übermaß der Afifektäußerung, nicht aber, wie bei uns, die
Affektäußerung selbst zu unterdrücken. Die Alten besaßen also ein
lebendigeres Gefühl für die Bedeutung der Gebärde, nicht weil ihre
Kultur eine niedrigere, sondern weil sie eine andere war als die
unsere, und weil insbesondere der Sinn für die äußere Erscheinungs-
weise des Menschen feiner ausgebildet, in dieser Beziehung also die
Kultur eine ästhetisch höhere war. Wenn sich diese lebendigere
Ausdrucksweise bei den von ihnen abstammenden Völkern mehr in
den niedrigeren als in den höheren Kreisen der Gesellschaft erhalten
hat, so ist dieser besondere Zug dann allerdings ein Symptom der
Kulturstufe. Denn diese Erscheinung fällt unter die allgemeine
Regel, daß die Reste alter Anschauungen und Sitten am längsten
in den Massen des Volks zurückbleiben, während die höheren
Schichten, die sich die Ideen einer neuen Kultur früher aneignen,
auch die der alten leichter und früher aufgeben.
Ahnliche Überlieferungen eines hoch ausgebildeten Zeichensystems,
wie sie sich bei dem süditalienischen Volk erhalten haben, bestehen
noch mannigfach sonst auf unserer Erde, wo immer die Bedingungen
eines weit zurückreichenden Kulturzusammenhangs gegeben sind.
Besonders der Orient bietet hier ein überaus reiches, leider bis
jetzt nur wenig nach dieser Richtung bearbeitetes Gebiet. Bei den
islamitischen Arabern scheint der Gebärdenausdruck ein viel ge-
brauchtes, von den arabischen Philosophen als eine eigene Art
ICQ Die Gebärdensprache.
der Sprache anerkanntes Hilfsmittel nicht nur der Verständigung,
sondern auch der sinnlichen Interpretation des gesprochenen Wortes
gewesen zu sein, dessen sich der Prophet selbst mit Vorliebe be-
diente"). Andere, wahrscheinlich ebenfalls auf sehr alter Tradition
beruhende und zumeist wieder unabhängig entstandene Entwicklungs-
formen der Gebärdensprache sind bei den Chinesen, Japanern und
andern orientalischen Völkern zu finden^). Es würde ein kultur-
historisch wie völkerpsychologisch sehr dankenswertes Unternehmen
sein, diese mannigfach abweichenden Gestaltungen in weiterem Um-
fang unserer Kenntnis zugänglich zu machen. Eine solche Samm-
lung würde nicht bloß im Hinblick auf den geistigen Charakter
und die eigenartige Kultur der Völker von Interesse sein; sie
würde uns auch mehr, als es gegenwärtig möglich ist, über die
Breite der Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen den un-
abhängig entstandenen Entwicklungsformen Rechenschaft geben.
Bis jetzt bietet in dieser Beziehung die Gebärdensprache des süd-
italienischen Volkes das einzige zureichend vollständige Material.
Was wir von den Gebärden anderer, namentlich orientalischer Kul-
turvölker wissen, läßt jedoch immerhin schon den Schluß zu, daß
sich diese nicht wesentlich anders zueinander verhalten als etwa die
Gesten des Neapolitaners zu denen des nordamerikanischen Indianers.
Dies ist schon deshalb nicht unwichtig, weil sich hieraus entnehmen
läßt, daß der verschiedene Zustand der Kultur, wenn er auch aui
gewisse spezifisch gebrauchte Zeichen von Einfluß ist, doch den all-
gemeinen Charakter der Gebärdensprache nicht berührt. Nicht bloß
gewisse Gebärden, die allgemeingültige Vorstellungen bezeichnen,
wie das ich, du und er, das hier und dort, groß und klein, den
Himmel, die Erde, die Wolke, den Regen, das Gehen, Stehen,
Sitzen, Schlagen, den Tod und den Schlaf und viele andere, son-
dern auch die Ausbildung des Zeichensystems, die Fähigkeit der
^) Goldziher, Über Gebärden- und Zeichensprache bei den Arabern, Zeitschr.
für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, XVI, S. 369 ff.
2) Der Freundlichkeit des Herrn J. Jrie in Sendai, Japan, verdanke ich die Mit-
teilung einer Anzahl in Japan üblicher Gebärden, die in gewissen allgemeinen Sym-
bolen der Höflichkeit, Ehrfurcht, der Liebe, der Verachtung, des Spottes usw. den
im Abendland gebrauchten ähnlich oder ganz gleich sind, daneben aber auch ver-
einzelt Formen darbieten, die den abendländischen Systemen fehlen.
Gebärdezeichen der Zisterziensermönche.
151
Übertragung sinnlicher Zeichen auf nicht sinnliche Gegenstände, die
Art, wie sich in der Zusammenfügung der Gebärden die Gedanken-
folge spiegelt, alles das charakterisiert schließlich die verschiedenen
Entwicklungsformen als Erscheinungen, die weder wesentliche Unter-
schiede der Vollkommenheit, noch solche der qualitativen Be-
schaffenheit und der allgemeinen Struktur erkennen lassen. Da-
durch nähern sie sich allerdings in einem gewissen Grad einer
Universalsprache, wenn auch nicht ganz in dem Sinne, in dem man
dieses Wort in der Regel anwendet. Nicht so nämlich, als ob die
in einem bestimmten Volkskreise gebrauchten Zeichen für jeden,
oder auch nur für denjenigen, der eine auf anderer Grundlage er-
wachsene Art der Gebärdensprache gebraucht, ohne weiteres ver-
ständlich wären. Das ist in Wirklichkeit nur sehr teilweise der Fall.
Der Dakotaindianer, den man in die Straßen Neapels versetzte, würde
zunächst wahrscheinlich von den Gebärden seiner Umgebung nicht
viel verstehen. Er würde aber freilich dieses Verständnis unvergleich-
lich schneller gewinnen, als es bei der Lautsprache möglich ist.
5. Gebärdezeichen der Zisterziensermönche.
Eine vierte und letzte Entwicklungsform der ßrebärdensprache,
bei der man von vornherein mehr als bei irgendeiner der voran-
gegangenen einen willkürlichen und rein konventionellen Ursprung
vermuten muß, entsteht in solchen Fällen, wo eine Gesellschaft
Hörender absichtlich auf den Gebrauch der Lautsprache verzichtet
und sich so gewissermaßen künstlich in die Lage der Taub-
stummen versetzt. Seit alter Zeit aber bildet das Gelübde des
Schweigens einen Bestandteil religiöser Askese, ob es nun, wie im
Altertum in der Sekte der jüngeren Pythagoreer, nur vorübergehend
dem Novizen als Prüfung auferlegt wird oder ihn, wie in dem
Mönchsorden der Zisterzienser, für immer bindet. Über die Ge-
bärdensprache der Zisterzienser besitzen wir zwei interessante Ver-
zeichnisse von Leibniz, ein lateinisches ohne nähere Angabe seiner
Herkunft und ein niederdeutsches aus dem vormaligen Kloster
Lockum. Das eine zählt 143, das andere 145 Nummern'). Ein
') Leibnitü opera omnia ed. Dutens, Tom. VI, Pars II, Collect, etymologica,
pag. 207.
1'2 I^i^ Gebärdensprache.
älteres (aus dem 1 1 . Jahrhundert) aus einem englischen Kloster, in
angelsächsischer Sprache, das die Beschreibung von 127 Zeichen
enthält, hat F. Kluge mitgeteilt'). Alle diese Verzeichnisse sind
wenig umfangreich, vermutlich weil sich die Gebärdenmitteilung der
Mönche auf das Nötigste beschränkte. Aber sie sind hinreichend,
um eine Vergleichung mit andern Formen der Gebärdensprache
möglich zu machen. Diese ergibt nun in vielen Punkten eine große
Übereinstimmung. Doch ist das System der Zisterzienser ziemlich
reich an Zeichen, die offenbar willkürlich erfunden und verabredet
sind. Auf der andern Seite zeigt es, wo Beziehungen zu den
sonstigen Formen vorliegen, mehr Übereinstimmung mit den ein-
facheren und leichter verständlichen Gebärden der Taubstummen
als mit den auf längerer Tradition beruhenden der Indianer und
Neapolitaner. Das System macht so den Eindruck einer Mischung
aus Fragmenten einer natürlichen Gebärdensprache einfachster Be-
schaffenheit und eines völlig künstlichen Zeichensystems. Da die
Zeichen der letzteren Art die Entstehung dieser Form der Mittei-
lung aus einer willkürlichen Übereinkunft unzweifelhaft machen, so
ist sie für die sprachpsychologischen Fragen von geringerer Be-
deutung. Immerhin ist sie insofern lehrreich, als sie zeigt, daß eine
solche Übereinkunft da, wo es sich um geläufige sinnliche Vor-
stellungen handelt, zu ähnlichen leicht verständlichen Zeichen greift
wie der natürliche Gebärdenausdruck. Dies beweist aber, daß eben
das, was man die »Natürlichkeit« der Gebärdensprache zu nennen
pflegt, über die Frage der Entstehung derselben an und für sich
noch nichts aussagt. Eine Gebärde, die weder unmittelbar noch in
der Zurückverfolgung auf ihren Ursprung irgendeine anschauliche
Beziehung zu ihrer Bedeutung erkennen läßt, ist ganz gewiß will-
kürlich erfunden. Eine Gebärde dagegen, bei der eine solche Be-
ziehung nachweisbar ist, kann ebensowohl natürlich entstanden wie
erfunden sein. Die tatsächlichen Eigenschaften können also niemals
die Kenntnis der wirklichen Entstehungsbedingungen ersetzen^).
^) F. Kluge, Zur Geschichte der Zeichensprache. (Angelsächsische indicia mona-
sterialia.) Techmers Zeitschr. f. allgem. Sprachwissenschaft. U, 1885, S. 116 ff. Im
Eingang der Klugeschen Arbeit sind noch einige andere ähnliche Verzeichnisse er-
wähnt. Ebenso findet sich ein solches in Ducanges Glossarium nov. ed script. med.
aet. V. Signum n. 9.
2) Zu den großenteils künstlich erfundenen, aber doch durch die überall
Gebärdezeichen der Zisterziensermönche. 15^
Wenn wir uns nun bei den verschiedenen oben erörterten Ent-
wicklungsformen der Gebärdensprache diese Entstehungsbedingungen
vergegenwärtigen, so spricht alles dafür, daß sie überall von zu-
sammengesetzter Art sind, daß also keine der vorhandenen Formen
psychologisch auf einen einheitlichen Ursprung zurückgeführt werden
kann. Alle diese Systeme sind, wenn wir die populären Begriffe
des Natürlichen und Künstlichen auf sie anwenden wollen, natürlich
und künstlich zugleich. Und zwar erscheinen nicht nur einzelne
Zeichen als natürliche, ohne Wahl und Überlegung hervorgebrachte
Reaktionen, andere als Produkte einer erfinderischen Tätigkeit; son-
dern diese verschiedenen psychischen Funktionen verbinden sich auch
nicht selten bei der Entwicklung einer und derselben Gebärde. Da-
durch werden sich aber die verschiedenen Entwicklungsformen der
Gebärdensprache näher gerückt, als die äußeren Umstände, unter
denen sie vorkommen, vermuten lassen. Als diejenige Bedingung,
die für die Differenzierung der Erscheinungen die wichtigste ist, er-
weist sich der Einfluß der Zeit. Denn mehr als die Kulturstufe,
mehr als das vermutliche Maß von Zwang oder Freiheit ist offenbar
der Umstand maßgebend, ob eine bestimmte Form der Gebärden-
sprache eine lange Tradition hinter sich hat, wie die der nord-
amerikanischen Indianer und der Neapolitaner, oder ob sie im Ver-
gleich damit eine Neubildung ist, die sich in der Regel nur durch
wenige Generationen hindurch verfolgen läßt, wie die Zeichen der
Taubstummen.
Da es diese Unterschiede der Zeit und der Tradition sind, mit
denen, wie wir sogleich sehen werden, auch bemerkenswerte Eigen-
tümlichkeiten der einzelnen Gebärden zusammenhängen, so wollen
wir diese beiden Fälle im folgenden kurz als die der neugebil-
deten und der überlieferten Gebärdensprache auseinanderhalten.
Natürlich sind diese Ausdrücke nur im relativen Sinne zu verstehen.
Denn es gibt wohl keine neugebildete Gebärdensprache, die nicht
in einem gewissen Maß unter dem Einflüsse von Überlieferungen
wirksamen Assoziationen vielfach mit den natürlichen Gebärdeformen zusammen-
hängenden Zeichen gehören auch die sogenannten >Kennzinken« der Gauner.
(Zinken ist wahrscheinlich volksetymologische Umbildung von lat. sigimvi.) Wir
werden auf dieselben unten (V, 3) bei der Erörtemng des Zusammenhangs von Ge-
bärdensprache und Bilderschrift noch zurückkommen.
ie.A Die Gebärdensprache.
steht, noch weniger aber eine überlieferte, in der nicht fortwährend
sporadische Neubildungen vorkommen.
II. Grundformen der Gebärden.
I. Psychologische Klassifikation der Gebärden.
Wenn man die verschiedenen Entwicklungsformen der Gebärden-
sprache mit einem der Lautsprache entnommenen Bild ihre Dialekte
nennen kann, so läßt sich wohl eine Klassifikation der Gebärden,
die von genetischen Gesichtspunkten aus unternommen wird, als eine
Art Etymologie derselben bezeichnen. Freilich verschiebt sich aber
die Bedeutung der Ausdrücke erheblich bei dieser Übertragung, und
diese Verschiebung wirft wiederum ein gewisses Licht auf die Natur
der Gebärdensprache selbst. Man kann nämlich bei ihr, wenn wir
von den ganz und gar künstlichen Zeichensystemen absehen, zwar
von verschiedenen Dialekten, aber niemals von verschiedenen Sprach-
stämmen reden ; und außerdem sind die vorkommenden dialektischen
Unterschiede mehr von den äußeren Lebensverhältnissen und von
der Existenz einer längeren Überlieferung als von der ursprünglichen
Verwandtschaft oder der gemeinsamen Abstammung der Menschen
abhängig. Hieraus ergibt sich die Folgerung, daß eine Etymologie
der Gebärden nur zum geringsten Teil darin bestehen kann, die
Herkunft eines gegebenen Zeichens aus andern ursprünglicheren Ge-
bärden nachzuweisen. Eine derartige Nachweisung ist nur in solchen
Fällen möglich, wo eine Gebärde im Laufe der Tradition entweder
selbst Änderungen erfahren oder ihre Bedeutung gewechselt hat.
Daß das letztere vorkommt, davon werden wir uns in der Tat bei der
Betrachtung des Bedeutungswandels gewisser Symbole überzeugen.
Aber das Maß dieser Entwicklung ist doch hier ein sehr beschränktes.
Da selbst bei jenen Entwicklungsformen der Gebärdensprache, die
auf einer lange dauernden Überlieferung beruhen, die Zahl der in
ihrer Beschaffenheit oder Bedeutung erheblich veränderten Symbole
relativ klein ist, so kann demnach die Frage der Herkunft bei der
Mehrzahl der Gebärden überhaupt nur im psychologischen Sinne
verstanden werden. Muß sich die Etymologie der Lautsprache mit
der Ermittelung von Anfangsbildungen begnügen, die sie als ge-
Psychologische Klassifikation der Gebärden. j c c
schichtlich gegebene und nicht weiter abzuleitende, eben deshalb
aber auch in der Regel als unerklärbare anzusehen hat, so ist das
»Etymon« einer Gebärde dann nachgewiesen, wenn ihre psycho-
logische Bedeutung und ihr Zusammenhang mit den allgemeinen
Prinzipien der Ausdrucksbewegungen erkannt ist. Hier beginnt also
das Problem gerade bei dem Punkte, wo es für die Etymologie der
Lautsprache aufzuhören pflegt. Die Bedeutung der Gebärdensprache
für die sprachpsychologischen Probleme überhaupt erhellt ohne
weiteres aus diesem Verhältnis. In gewissem Grade bleibt eben die
Gebärdensprache immer auf der Stufe eines Urzustandes, und was
wir in ihr von Spuren historischer Veränderungen beobachten, reicht
nur hin, ihren allgemeinen Charakter als Sprache auch in dieser
Beziehung erkennbar zu machen. Man könnte sagen: der Begriff
einer Ursprache, im Gebiet der Lautsprache ein hypothetischer
Grenzbegriff, wird bei der Gebärdensprache zur unmittelbar beobach-
teten Wirklichkeit. Dieser Tatsache kann aber, wenn sie keinen andern
Nutzen hätte, mindestens der nicht bestritten werden, daß sie die
Notwendigkeit der Annahme einer Ursprache in diesem psycho-
logischen Sinne beweist: die Notwendigkeit nämlich, daß es für jede
Art natürlich entstandener Sprache einmal eine Zeit gegeben haben
muß, in der die Beziehung zwischen dem Zeichen und dem, was es
bezeichnet, eine unmittelbar anschauliche war. Daß freilich diese
Zeit nicht für den ganzen Inhalt einer Sprache die gleiche zu sein
braucht, dies lehrt wiederum die Gebärdensprache, in der es neben
den unverändert gebliebenen Bestandteilen und Neubildungen auch
an Wandlungen nicht fehlt, die das ursprünglich Bedeutsame in ein
anscheinend konventionelles Symbol überführen.
Eine Etymologie der Gebärdensprache, die der psychologischen
Herkunft der einzelnen Gebärden nachgeht, muß nun naturgemäß
die Ausdrucksbewegungen zum Anfangspunkt ihrer Betrachtungen
nehmen, da ja die Gebärdensprache selbst nichts anderes ist als ein
System von Ausdrucksbewegungen, dem der Trieb nach Mitteilung
und Verständigung seine besonderen Eigenschaften verliehen hat.
In der Tat sind es die beiden Grundformen der Vorstellungsäußerung
der Affekte, die hinweisenden und die nachahmenden Gebärden,
die uns überall als die ursprünglichen Bestandteile des Inhalts der
Gebärdensprache wieder begegnen. Von diesen beiden Grundformen
ie5 Die Gebärdensprache.
bewahren die hinweisenden bei der Entwicklung der natürlichen
Affektäußerung zur Gebärdensprache im wesentlichen ihren ursprüng-
lichen Charakter unverändert. Wie ihre äußere Erscheinungsweise
keiner erheblichen Weiterbildung fähig ist, so bleibt nicht minder
ihre Bedeutung eine beschränkte. Dies verhält sich anders bei den
nachahmenden Gebärden. Sie hängen zwar sämtlich genetisch mit
der nachahmenden Bewegung zusammen, wie denn auch psycho-
logisch der Trieb zur Nachahmung des den Affekt erregenden Gegen-
standes in gewissem Maße bei ihnen allen noch fortwirkt. Aber
dabei haben sich doch diese aus der gleichen Wurzel entsprossenen
Gebärdeformen derart differenziert, daß das Wort ■^ Nachahmung«
sie ebensowenig mehr zureichend bezeichnet, wie etwa für die Ge-
samtheit der bildenden Künste der Ausdruck »nachahmende Künste <
zutreffend sein würde. Wir wollen deshalb diese zweite Klasse mit
einem alle ihre einzelnen Anwendungen umfassenden Ausdruck als
die der darstellenden Gebärden bezeichnen, und sie wiederum
in die beiden Unterklassen der nachbildenden und der mit-
bezeichnenden einteilen. Unter ihnen stehen die nachbildenden,
wie ihr Name schon andeutet, der bloßen Nachahmung am nächsten,
und sie fallen in den einfachsten Fällen ohne weiteres mit ihr zu-
sammen. Aber im ganzen treffen wir doch schon bei ihnen die
Nachbildung gewissermaßen auf einer höheren Stufe, da die Um-
bildungen, die der Gegenstand in der Phantasie des Beschauers er-
fahrt, ehe er nachgebildet wird, hierbei eine Rolle spielen. Die
Nachbildung gestaltet also das Bild eines Gegenstandes in einem
ähnlichen Sinne freier, wie es die bildende Kunst gegenüber der
bloß nachahmenden Technik tut. In diesem Verhältnis liegt denn
auch der Grund, daß sich aus der nachbildenden die mitbezeich-
nende Gebärde aussondert, bei der die Beziehung zwischen dem
Zeichen und seinem Gegenstand erst durch die mithelfende und
ergänzende Funktion der Phantasie zustande kommt. Als eine dritte
Hauptklasse unterscheiden wir endlich die symbolischen Gebärden.
Sie sind insofern sekundärer Art, als ihre Formen stets auf hinweisende
oder darstellende Gebärden oder auf eine Vereinigung beider zurück-
geführt werden können. Auch nimmt zweifellos ihre Anzahl mit der
Entwicklung der Gebärdensprache zu. Doch reichen die einfachsten
symbolischen Zeichen jedenfalls in eine sehr frühe Zeit, wenn nicht
Hinweisende Gebärden.
157
in die Anfänge der Gebärdensprache zurück. Der allgemeine Cha-
rakter der symbolischen Gebärde besteht aber darin, daß sie die
auszudrückenden Vorstellungen aus einem Anschauungsgebiet in ein
anderes überträgt, also z. B. zeitliche Vorstellungen räumlich an-
deutet, oder daß sie abstrakte Begriffe sinnlich veranschaulicht').
2. Hinweisende Gebärden.
Daß die hinweisende Gebärde unter den genannten Formen nicht
bloß die einfachste, sondern auch die ursprünglichste ist, läßt sich
aus verschiedenen Tatsachen erschließen. Unter den Ausdrucks-
bewegungen des Kindes kommt das Hindeuten auf die Gegenstände
am frühesten und am selbständigsten zum Zweck der Mitteilung,
also in der allgemeinen Bedeutung der Sprachgebärde vor. Ebenso
überwiegen die einfach hinweisenden Bewegungen bei den neu-
gebildeten Formen der Gebärdensprache, während bei den über-
lieferten die nachbildenden die Mehrzahl bilden und die hinweisenden
meist nur in Verbindung mit ihnen in zusammengesetztere Gebärde-
formen eingehen. Diese größere Ursprünglichkeit erklärt sich ohne
weiteres aus den psychologischen Bedingungen ihrer Entstehung.
Wo der Gegenstand, auf den sich irgendeine Gebärdenmitteilung
bezieht, im Sehbereich Hegt, da ist die unmittelbare Richtung des
Zeigefingers gegen ihn das einfachste, weil das sicherste und ein-
deutigste Mittel, die Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken, ein Mittel,
das in der Regel ohne Überlegung, aus dem unmittelbaren Trieb
nach Mitteilung heraus angewandt wird. Wo eine individuelle Ge-
bärdensprache vollkommen neu sich ausbildet, wo etwa ein Taub-
stummer isoliert in hörender Umgebung aufwächst, da ist daher an-
fänglich die Hinweisung auf die Objekte fast die einzige überhaupt
vorkommende Gebärde, und sie genügt für diesen Anfang um so
mehr, weil sich bei dieser ersten Entwicklung das Interesse, das zur
Mitteilung führt, nur solchen Gegenständen zuwendet, die der un-
mittelbaren Wahrnehmung zugänglich sind. Das wird anders, wo
^) Vgl. zu dieser Klassifikation und zu dem Folgenden zugleich mit Rücksicht
auf die Bemerkungen Delbrücks (Gnmdfragen der Sprachforschung, S. 48 ff.) und
Sütterlins (Das Wesen der sprachlichen Gebilde, S. 14 ff.) meine Schrift: Sprach-
geschichte und Sprachpsychologie, S. 35 ff.
icg Die Gebärdensprache.
die Erinnerung eine größere Rolle zu spielen beginnt, und wo nun
bei der Verwendung der Gebärde zur Erzählung vergangener Erleb-
nisse oder zum Ausdruck von Befehlen und Wünschen natürlich die
Objekte der Vorstellungen nicht immer gegenwärtig sein können.
In diesem Falle führt dann der Trieb nach Mitteilung des Gedachten
von selbst dazu, das vorgestellte Objekt durch Andeutung seiner
Eigenschaften kenntlich zu machen. Aber auch hier greift der
Taubstumme noch gern, falls sich nur ähnliche Objekte im Seh-
bereich vorfinden, zur hinweisenden Gebärde, oder er zieht sie
wenigstens neben der nachbildenden zu Hilfe. Beide zusammen
verraten nun durch den nachahmenden Bestandteil die Abwesenheit
des Gegenstandes, durch die Hinweisung auf ein ähnliches Objekt
beseitigen sie die Unsicherheit der bloß nachahmenden Bewegung.
Das ist einigermaßen anders bei den Formen der überlieferten Ge-
bärdensprache, wo die verschiedenen Arten nachbildender Zeichen
durch eine lange eingelebte Gewöhnung festere Bedeutungen ge-
wonnen haben. Zuweilen mag übrigens hier das Zurückdrängen
jener einfachsten Gebärdeform auch dadurch bedingt sein, daß die
Gebärdensprache den Charakter einer Geheimsprache haben kann,
bei der die Hinweisung auf den Gegenstand gerade um ihrer leich-
ten Verständlichkeit willen vermieden wird.
In ihrer ursprünglichen Bedeutung bezeichnet demnach die hin-
weisende Gebärde schlechthin den anwesenden Gegenstand, auf
den sie die Aufmerksamkeit lenkt. Da aber alle zur umgebenden
Welt gehörenden Objekte gelegentlich auch abwesend sein können,
so entstehen, namentlich nachdem sich eine gewisse Tradition aus-
gebildet hat, bald für die meisten Außendinge selbständige, sie
nachbildende oder unabhängig von ihrer Anwesenheit andeutende
Zeichen. Hierdurch wird die hinweisende Gebärde aus ihrer ersten
allgemeinen Anwendung allmählich verdrängt. Nur zwei Vor-
stellungsgebiete bleiben zurück, für die fortan der unmittelbare Hin-
weis die angemessene Bezeichnung bleibt, weil ihre Objekte fort-
während anwesend sind. Das erste dieser Gebiete ist das der
Personen der Unterredung, ^,das zweite das der räumlichen
Verhältnisse. Das ich und du sind immer wiederkehrende Attri-
bute der Gedankenmitteilung. Mögen auch die Personen der Unter-
redung wechseln, dieses ihr Verhältnis zueinander mit der Bedingung
Hinweisende Gebärden.
159
unmittelbarer Gegenwart bleibt bestehen. Bis zu einem gewissen
Grade, wenngleich minder konstant, kann aber auch eine dritte
Person oder eine Mehrzahl dritter Personen eine analoge Rolle
spielen. Ähnlich verhält es sich mit den räumlichen Richtungen.
Oben und unten , rechts und links , vorn und hinten können gar
nicht anders ausgedrückt werden als durch hinweisende Gebärden,
die von dem eigenen Körper, als dem Mittelpunkt aller Orientie-
rungen im Raum, ausgehen.
An diese räumlichen Hinweisungen schließen sich dann weitere
an, die in ihrer Form nicht wesentlich abweichen, nach ihrer
Bedeutung jedoch nicht mehr als rein hinweisende Zeichen betrach-
tet werden können. Hierher gehören erstens diejenigen Gebärde-
formen, die Größe und Kleinheit, namentlich in der Höhendimension,
zuweilen aber auch in andern räumlichen Richtungen ausdrücken;
sodann solche hinweisende Bewegungen, die gegen Teile des
eigenen Leibes gekehrt sind, um entweder diese Teile selbst oder
gewisse ihrer Eigenschaften oder ihre Funktion auszudrücken; end-
lich Gebärden, welche die drei räumlichen Beziehungen des un-
mittelbar gegenwärtigen Ortes, der zurückgelegten und der zurück-
zulegenden Strecke in die zeitlichen Bedeutungen der Gegenwart,
Vergangenheit und Zukunft übertragen. Diese drei Entwicklungs-
formen gehören, ebenso wie die ursprüngliche Bedeutung des ein-
fachen Hinweises, zu den verbreitetsten Gebärden: sie sind in ganz
übereinstimmender Weise unter den Zeichen der Taubstummen,
der Zisterzienser und in den verschiedenen Formen überlieferter
Gebärdensprache zu finden. Wir haben also allen Grund, diese
demonstrativen Zeichen sämtlich für in hohem Grade natürliche
Ausdrucksmittel zu halten. Nach ihrer Bedeutung besitzen sie
aber den Charakter von Übergangsstufen zwischen der primären
Form des Hinweises und verschiedenen Arten nachbildender Ge-
bärden. Obgleich den hinweisenden Zeichen gleichend und mit
den nämlichen Hilfsmitteln ausgeführt, liegt in ihnen stets noch
ein weiterer Vorstellungsinhalt, der über den durch die Bewegung
selbst ausgedrückten hinausgeht. So ist bei den Gebärden der
Größe und Kleinheit die hinweisende offenbar ganz in der nach-
bildenden Bedeutung aufgegangen. Denn groß und klein werden
zwar durch dieselben Bewegungen ausgedrückt wie oben und unten,
1 6o I^ic Gebärdensprache.
aber diese Bewegungen beziehen sich nicht bloß auf die räum-
lichen Richtungen, sondern mehr noch auf das, was sich in ihnen
ausdehnt. Näher scheint die zweite Form, die Bezeichnung die
Organe, ihrer Eigenschaften und Funktionen, durch Hinweis auf
Teile des eigenen Leibes der primären Bedeutung zu stehen. Läßt
sie sich doch als eine besondere Gestaltung des einfachen Hin-
weises auf sich selbst ansehen. So werden Kopf, Brust, Bein,
Auge, Ohr, Nase, Zunge usw. durch derartige Bewegungen an-
gedeutet; und ähnliche bezeichnen dann auch die Funktion der
Organe: das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken usw. In allen
diesen Fällen ist demnach gegenüber der einfach hinweisenden
Gebärde eine Erweiterung der Bedeutung eingetreten, die sich mit
dem Übergange von der Person auf ihre Teile von selbst ver-
bindet. Auch bezieht sich ein solcher Hinweis auf ein einzelnes
Organ in der Regel nicht mehr bloß auf den Redenden selbst,
sondern dieser benützt jenes nur als das nächste Beispiel, um den
Begriff überhaupt auszudrücken. Darum verbinden sich hiermit
leicht noch andere Bedeutungsentwicklungen: so der Übergang
vom Organ auf seine Funktion, wie bei den Sinnesorganen; oder
es treten zu den hinweisenden andere, näher determinierende
Bewegungen, die bereits direkt den Charakter darstellender Gebär-
den besitzen. So, wenn eine weitverbreitete Gebärde das Sehen
zuerst durch den Hinweis auf das Auge und dann durch eine
von diesem ausgehende, in den Raum gerichtete Bewegung des
Zeigefingers anzeigt, wodurch die Funktion von dem Organ selbst
unterschieden wird. Oder wenn 'Fleisch' bei den Taubstummen
und den Zisterziensermönchen übereinstimmend durch Emporheben
einer Hautfalte am Arm angedeutet wird, eine Modifikation, die
zur Unterscheidung von dem Arm als solchem dient, wo aber
eben deshalb die Gebärde schon in ihrer äußeren Erscheinungs-
weise den Charakter einer bloß hinweisenden verloren hat. Wie
auf die Funktionen, so können endlich auch auf die Eigenschaf-
ten der Organe oder, in einer sich weiter anschließenden Über-
tragung, auf irgendwelche andere Vorstellungen, die mit diesen
Eigenschaften in Beziehung stehen, die nämlichen Gebärden über-
gehen. So, wenn die Farbe ''rot'' durch Hinweisung auf den
roten Lippenrand oder auf die Wange, oder wenn gar bei den
Nachbildende Gebärden. j5j
Zisterziensern der 'Wein durch eine Berührung der Nase, gleich-
sam als Mer, der die Nase rötet', angedeutet wird — eine Ge-
bärde, die durch die Gleichförmigkeit, mit der sie sich in der
Klostersprache der verschiedenen Jahrhunderte wiederholt, ein merk-
würdiges Licht auf die Verbreitung wirft, in der dieses Symptom
bei den frommen Brüdern vorgekommen sein muß. Alles dies
sind natürlich sekundäre Übertragungen, die schon in das Gebiet
des Bedeutungswandels der Gebärden hineinreichen, die aber nicht
möglich sein würden, wenn nicht hier von Anfang an die hin-
weisende Bewegung selbst ihr ursprüngliches Gebiet überschritte, in-
dem sie in gewissem Sinn als abgekürzte Form einer darstellenden
Gebärde gebraucht wird.
Eine etwas andere Stellung nehmen nach ihrem psychologischen
Inhalt die sekundären demonstrativen Gebärden der dritten Form
ein, bei denen der ursprünglich räumlichen eine zeitliche Bedeu-
tung untergeschoben ist. Die Regelmäßigkeit, mit der diese Dar-
stellung der Zeit durch hinweisende Zeichen in den neugebildeten
wie in den überlieferten Gebärdensprachen angewandt wird, bildet
vielleicht einen der sprechendsten Belege für die Ursprünglichkeit
der Verbindung beider Anschauungsformen. Trotzdem wird man
auch hier die Bedeutung der Gebärde eine sekundäre nennen
müssen, weil unter den räumlichen Orten und Richtungen Zeit-
punkte und Zeitrichtungen gedacht werden. Da aber bei dieser
Substitution der Raum ein Symbol der Zeit, wenn auch ein noch
so natürliches und ursprüngliches ist, so ist diese dritte Form zu-
gleich zu den symbolischen Gebärden zu rechnen.
3. Nachbildende Gebärden.
Ungleich größer an Zahl und mannigfaltiger ist die Klasse der
darstellenden Gebärden. Sie zerfallen, wie schon oben bemerkt,
in mehrere Formen, die man am zweckmäßigsten wieder nach
ihren genetischen Beziehungen ordnet. Während bei den hinweisen-
den die sekundären Formen immer zugleich in darstellende über-
gingen, worin sich die natürliche Armut der bloßen Demonstrativ-
zeichen verriet, bleibt bei den verschiedenen Entwicklungsstufen
der darstellenden Gebärden selbst der enge Zusammenhang mit
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. II
j52 Die Gebärdensprache.
der primären Form, aus der sie sich differenziert haben, dauernd
erhalten. Diese primäre Form ist aber die der nachbildenden
Gebärden.
Sie sind unmittelbare Weiterentwicklungen der nachahmenden
Ausdrucksbewegungen, mit denen sie in ihrer ursprünglichen Er-
scheinungsweise vollständig zusammenfallen. Die ausgebildeten Ge-
bärden dieser Klasse lassen sich dann in zwei verschiedene Arten
unterscheiden. Entweder werden nämlich die Umrißlinien des vor-
gestellten Gegenstandes mit dem bewegten Zeigefinger in die Luft
gezeichnet; oder die Gestalt des Gegenstandes wird durch die
Hände in einer bleibenderen Form nachgebildet. Hiernach können
wir jene die zeichnende, diese die plastische Form der nach-
bildenden Gebärden nennen. Beide, die vergänglichere und die
bleibendere Form, können sich übrigens miteinander verbinden, und
wo sich die Gebärdenmitteilung weiter ausgebildet hat, da ge-
schieht dies in der Tat fortwährend. Im allgemeinen läßt sich
aber die vergängliche Form, das flüchtig vom Finger in die Luft
gezeichnete Bild, als die primitivere betrachten. Sie herrscht in
der natürlichen Gebärdensprache unserer Taubstummen vor, wäh-
rend sich die entwickelteren, auf einer langen Tradition beruhenden
Zeichensprachen mehr der in solchen Fällen mit großer Fertigkeit
geübten Plastik der Hände, wenn nötig unter Hinzunahme bewegter
Umrißzeichnungen und hinweisender Bewegungen, bedienen^). So
bezeichnet der Taubstumme das 'Haus*, indem er Giebeldach und
Seitenwände mit dem Zeigefinger in der Luft andeutet. Ebenso
der Zisterzienser, der die 'Kirche' vom gewöhnlichen Hause noch
dadurch unterscheidet, daß er nachträglich über dem Dach ein
Kreuz beschreibt. Ein 'Zimmer' wird durch Beschreibung eines
Vierecks, ein 'Hof, ein 'Platz', ein 'Garten' entweder ebenso
oder häufiger durch Beschreiben eines Kreises angedeutet. Der Zu-
'■) Deutlich erhellt dieses Übergewicht zeichnender Gebärden bei den Taub-
stummen, wenn man das von Ed. Schmalz (Über die Taubstummen und ihre Bildung,
S. 314 ff.) gesammelte ausführliche Verzeichnis durchgeht und mit den Verzeichnissen
von Mallery und A. de Jorio (a. a. O.), die sich auf überlieferte Gebärdensprachen
beziehen, vergleicht. Schmalz ist übrigens der einzige unter diesen Autoren, der
die Gebärden in gewisse Klassen geordnet hat — freilich in solche, die der Gram-
matik der Lautsprache entlehnt sind und also, da deren Kategorien in der Gebärden-
sprache nicht existieren, für diese keine Bedeutung haben (vgl. oben S. 127 f.).
Nachbildende Gebärden.
163
sammenhang der Rede oder hinzutretende demonstrative und mit-
bezeichnende Gebärden sondern wieder diese verschiedenen Be-
griffe : so den Garten vom Platze die der Umrißzeichnung des
Kreises angehängte Gebärde des Riechens an einer Blume, das durch
mehrmalige Bewegung des Daumens und Zeigefingers gegen die
Nase angedeutet wird. Der 'Rauch' wird durch eine die Bewegung
der Rauchwolken annähernd wiedergebende spiralige Drehung des
Zeigefingers von unten nach oben ausgedrückt. Soll gesagt werden,
daß der Rauch aus einem Gebäude aufsteige, so wird diese Ge-
bärde dem obenerwähnten Zeichen des Daches beigefügt. Ist ein
von einer brennenden Flamme aufsteigender Rauch gemeint, so
wird durch Blasen gegen den emporgehaltenen Zeigefinger die
Flamme angedeutet: diese beiden Gebärden der Flamme und des
Rauches zusammen werden daher auch benützt, um überhaupt
*^Feuer' auszudrücken. Ahnliche Verbindungen der zeichnenden mit
mitbezeichnenden Bewegungen, die zur Erläuterung jener dienen,
kommen noch in der mannigfaltigsten Weise vor. Für 'Brot' zeichnet
der Taubstumme einen Kreis in die Luft, die Form des Brotlaibes
wiedergebend, und macht dann die Gebärde des Brotschneidens.
'Buch' drücken der Taubstumme und der Zisterzienser in gleicher
Weise dadurch aus, daß sie die beiden Hände in der Form eines
aufgeschlagenen Buchs, in dem man liest, vor das Angesicht halten
und mit dem Munde Bewegungen ausführen, die das Lesen nach-
ahmen. Den 'Hut' als männliche Kopfbedeckung drückt der Taub-
stumme aus, indem er die Umrisse eines Zylinderhutes über dem
Kopfe zeichnet. Dasselbe Zeichen teilt der Prinz von Wied von
den Indianern der Rocky mountains mit; es war aber zugleich auf
den weißen Mann selbst, als den huttragenden, im Unterschiede
vom Eingeborenen, übergegangen. Der Neger wurde, da er in
Amerika meist in europäischer Kleidung geht, in derselben Weise
angedeutet, aber als Unterscheidungsmerkmal eine Bewegung mit
der flachen Hand über das Haar beigefügt, die auf das Wollhaar
hinwies. Die verschiedenen Tiere werden bei Taubstummen wie
Indianern in der Regel durch Umrißzeichnungen nicht des ganzen
Tieres, sondern einzelner charakteristischer Teile ausgedrückt: so
der 'Hirsch' durch Zeichnung des Geweihes über der eigenen Stirne,
der 'Ochse' durch ähnliche Beschreibung der Hörner, die 'Ziege'
164
Die Gebärdenspraclie.
durch Zeichnung ihres Bartes, der 'Voger durch Nachbildung seines
Schnabels mit Zeigefinger und Daumen, die gegeneinander bewegt
werden. Ähnliche flüchtige Umriß Zeichnungen bieten sich endlich
überall von selbst dar, wo es sich um den Ausdruck von Vorgängen
und Tätigkeiten handelt, die in der Zeit verlaufende Erscheinungen
sind, also für die meisten der in der Lautsprache durch Verbal-
formen ausgedrückten Begriffe. So gibt der Taubstumme den Be-
griff "^gehen"* durch die Nachahmung von Gehbewegungen mit dem
rechten Zeige- und Mittelfinger auf dem emporgehaltenen linken
Vorderarm wieder; so Veiten', indem er mit den nämlichen Fingern
die Beine eines Reiters und mit ihnen gleichfalls auf dem Vorder-
arm der andern Seite die Bewegungen des Reitens nachbildet. So
h c
Fig. 26. Neapolitanische Handgebärden.
""sprechen' durch nachahmende Bewegungen der Lippen. Diese Be-
wegungen nehmen die Bedeutung 'nennen' an, wenn zugleich der
Zeigefinger vom Mund aus gegen die benannte Person oder Sache
hingeführt wird; die Bedeutung 'singen', wenn der Arm und Zeige-
finger die Bewegungen des Taktschiagens machen. 'Schlagen' wird
unmittelbar durch schlagende Bewegungen mit dem rechten Arm,
Verbergen' durch Verstecken der rechten Hand unter dem Kleide
der linken Seite, 'Handel treiben', 'kaufen' durch abwechselndes
Hinlegen eines fingierten Gegenstandes und Aufnehmen eines andern
mit der Hand, also eigentlich durch abwechselndes Geben und Neh-
men ausgedrückt usw.
Neben diesen in der Ausführung von Umrißzeichnungen in der
Luft bestehenden Zeichen haben sich nun namentlich in den über-
lieferten, auf eine längere Tradition zurückgehenden Gebärden-
sprachen dauerndere, plastische Gebärden entwickelt. Sie kommen
dadurch zustande, daß die Hände als plastische Organe die Nach-
Nachbildende Gebärden. 16 =
bildung der verschiedensten Natur- oder Kunstformen gestatten und
sich in dieser Fähigkeit noch in hohem Grade durch Übung ver-
vollkommnen. Unter den Ausdrucksmitteln der Taubstummen fehlen
diese plastischen Gebärden fast gänzlich, wogegen sie in der Sprache
der Indianer und des neapolitanischen Volkes eine große Rolle spielen.
Eine kleine Sammlung solcher Zeichen geben die Figuren 26 — 28.
In Fig. 26 sind Gebärden neapolitanischen, in Fig. 27 und 28 solche
amerikanischen Ursprungs dargestellt').
So ist die Gebärde a (Fig. 26) das in Neapel viel und in man-
cherlei Bedeutungen gebrauchte Zeichen eines "^gehörnten Kopfes^:
Zeige- und kleiner Finger ausgestreckt bezeichnen die beiden Hörner,
die übrige Hand den Kopf. Die Urbedeutung ist natürlich die eines
gehörnten Tierkopfes oder Tieres. Ebenso ist d die Nachbildung
eines 'Eselskopfes': die nach oben gehaltenen Daumen beider
Hände sind die Ohren, durch den Zwischenraum zwischen den
kleinen Fingern und der übrigen Hand wird die Mundspalte an-
gedeutet. Werden die beiden Hände in derselben Stellung zuein-
ander mit den Fingerspitzen nach abwärts gerichtet, während die
Daumen fester aneinander gedrückt werden, wie in c, so stellt diese
Form abermals den Kopf des Esels dar, aber nicht wie vorhin im Profil,
sondern in der Vorderansicht. Eine oft gebrauchte Gebärde der
Neapolitaner ist endlich das in d wiedergegebene Bild der Tlasche"*:
der nach oben gekehrte Daumen bedeutet deren Hals, die übrige
Hand mit den gebogenen Fingern den Bauch.
Noch mannigfaltiger sind die plastischen Handgebärden der In-
dianer, e (Fig. 27) ist das gewöhnliche Zeichen für 'Geld'. Es ist
die Nachbildung der Form des Geldstücks und als solche auch
an andern Orten der Erde verbreitet: so z. B. mit der gleichen
Bedeutung in Japan. / ist das indianische Zeichen für 'Sonne'.
Es besteht ebenfalls nur in der Nachbildung eines runden Gegen-
standes, wie das vorige. Aber der größere Umfang des mit bei-
den Händen gebildeten Kreises deutet die erheblichere Große an.
Zur näheren Begrenzung der Bedeutung werden zuweilen noch die
so zusammengefügten Hände von Osten nach Westen bewegt:
^) Die Zeichnungen in Fig. 26 sind dem Werke A. de Jorios (a. a. O. Taf. 19
und 20', die in Fig. 27 und 28 der Arbeit G. Mallerys entnommen.
i66
Die Gebärdensprache.
gleichsam Mer große runde Gegenstand, der von Osten nach
Westen geht'. Die Unbestimmtheit dieses Kreiszeichens macht es
übrigens auch in anderem Sinne verwendbar. So dient es nach
Prinz Wied zur Bezeichnung eines indianischen ^Dorfes"*, wo zur be-
stimmteren Hervorhebung dieser Vorstellung die Zeigefinger und
Daumen etwas voneinander entfernt werden, um die beiden Ein-
gänge, die durch die Umzäunung des Dorfes führen, anzudeuten.
Ein Zelt kann, wie in g^ durch eine einzige Hand nachgebildet
Fig. 27. Nordamerikanische Handgebärden,
werden, deren Hohlfläche nach vorn sieht, und deren Fingerspitzen
so nach oben gekehrt sind, daß sich einige Fingerglieder kreuzen,
ähnlich den Zeltstangen. Wird die Hand ohne diese Kreuzung der
Finger noch stärker gehöhlt und nach unten gekehrt, wie in //, so
bedeutet dies ein ^Trinkgefäß' oder in übertragener Bedeutung auch
den Trank', das *Wasser^ Eine etwas vollständigere Weise für die
Bezeichnung des Zeltes ist die in i dargestellte zweihändige Gebärde,
bei der durch die Kreuzung der Finger beider Hände die Kreuzung
der Zeltpfähle wiedergegeben ist. Werden die Finger der Hände
gekreuzt und mit dem Rücken nach vorn gekehrt, wie in k^ so be-
deutet dies ein "^Blockhaus', wobei wiederum die Kreuzung der Finger
Nachbildende Gebärden.
167
die Anordnung der Blöcke nachbildet. Die mit der Hohlhand und
den ausgestreckten Fingern nach oben gekehrte Hand in / bezeichnet
endlich, wenn sie bei aufwärts gekehrtem Arm ausgeführt wird,
einen 'Baum^, mit abwärts gegen den Boden gekehrtem einen 'Strauch^
oder das 'Gras'.
Eine weitere Reihe plastischer Handgebärden zeigt die Fig. 28.
Wird die nämliche Handstellung gewählt wie in / der vorigen Figur,
Fig. 28. Nordamerikanische Handgebärden.
während die Finger mehr horizontal gelagert sind und sich die Hand
gleichzeitig aufwärts bewegt [m)^ so bedeutet dies "^Rauch'. Beide
Hände in umgekehrter, abwärts gerichteter Haltung und mit gleich-
zeitiger Bewegung im selben Sinne [ji] bezeichnen *^Regen\ Tiere
drückt der Indianer wie der Neapolitaner durch die Umrißkonturen
des Kopfes oder anderer charakteristischer Körperteile aus. So be-
zeichnet die in / dargestellte Handform die Tatze des ""Bären', die
in q den Kopf des 'Pferdes', die in r den der 'Antilope'. Diese an
sich vieldeutigen Gestalten können aber natürlich erst durch den
Zusammenhang der Rede oder durch hinzugefügte andere Zeichen
l68 Die Gebärdensprache.
verständlich gemacht werden: so das Pferd, indem man dem Zeichen
desselben das in o wiedergegebene für 'reiten'' beifügt.
In vielen andern Fällen wird der Sinn einer bestimmten plastischen
Gebärde dadurch näher determiniert^ daß mit ihr eine den Umriß-
linien des Gegenstandes folgende zeichnende Bewegung verbunden
wird. So kann, wie schon erwähnt, das Zeichen für ""Sonne' (Fig. 27/")
verdeutlicht werden, indem man gleichzeitig eine rasche Bewegung
von Osten nach Westen ausführt. Die nämliche Gebärde nimmt
aber die Bedeutung ""Tag' an, wenn die zum Kreise verbundenen
Hände, oder wenn bei einfacherer Ausführung die einzelne den
Kreis darstellende Hand [e Fig. 27) von Osten nach Westen und
dann wieder zurückbewegt wird. Das Zeichen für 'Wolke' besteht
gewöhnlich darin, daß beide Hände in der Höhe des Kopfes die
Form eines herabhängenden Wolkenbauches nachbilden, ein Zeichen,
welches dann, um den bewölkten Himmel auszudrücken, mit der
Bewegung des Zeigefingers gegen den Himmel verbunden wird.
Mallery hat schon darauf hingewiesen, daß diese und andere Ge-
bärden auffallend an die Symbole erinnern, mit denen die gleichen
Gegenstände in der Bilderschrift der Indianer ausgedrückt werden,
während zugleich zwischen den offenbar unabhängig entstandenen
Formen der Bilderschrift verschiedener Völker eine ähnliche univer-
selle Verwandtschaft besteht wie zwischen den entsprechenden Ge-
bärdezeichen ^).
Abgesehen von den Händen, die durch die Beweglichkeit der
Finger zur Darstellung plastischer Formen in bevorzugter Weise ge-
eignet sind, ist es noch die mimische Muskulatur des Angesichts,
die bei der Erzeugung plastischer Gebärden mitwirkt. Aber während
die Hand alle möglichen äußeren Gegenstände nachzubilden vermag,
ist das Angesicht immer nur imstande , sich selbst in den verschie-
denen Zuständen wiederzugeben, in die es durch den Ausdruck der
Affekte versetzt wird. Wie die Hand die auf Objekte bezogenen
Vorstellungen, so deutet daher die Plastik der mimischen Muskeln
alle jene subjektiven Zustände an, die durch die Mimik des An-
gesichts ausgedrückt werden können: demnach in erster Linie die
Gefühle und Affekte, dann aber auch andere Zustände des Bewußt-
^) Mallery a. a. O. S. 349 ff. Vgl. auch Tylor a. a. O. S. 105 ff., sowie unten V, 3.
Mitbezeichnende Gebärden. i6g
seins, die, wie Schlaf und Tod oder gespannte Aufmerksamkeit, vor-
zugsweise an mimischen Merkmalen zu erkennen sind. Die Plastik
des Angesichts besteht also in einer Verwertung des natürlichen
Mienenspiels für die Gebärdensprache, wobei nun eine bestimmte Ge-
bärde nicht mehr direkt den ihr entsprechenden Seelenzustand selbst,
sondern nur noch die Vorstellung dieses Zustandes ausdrückt. Diese
Übertragung ist eine so naheliegende, daß die hierher gehörenden
plastischen Gebärden, im Unterschied von der nur in den entwickel-
teren Zeichensprachen ausgebildeten Plastik der Hände, ein sehr
frühes und allgemein verbreitetes, zugleich aber auch ein überaus
beharrliches Besitztum der Gebärdensprache sind. So werden ganz
allgemein Treude', '^Schmerz'', ''Trauer , ""Kummer", 'Zorn'' und andere
Affekte lediglich durch den natürlichen mimischen Ausdruck derselben
angedeutet, während meist noch hinweisende oder zeichnende Ge-
bärden zu Hilfe kommen. Ahnlich wird der Begriff der *" Aufmerk-
samkeit' bei Taubstummen und Wilden durch den gespannten
Gesichtsausdruck, unterstützt durch die Erhebung des Zeigefingers,
ausgedrückt. Zur Bezeichnung von 'Schlaf und 'Tod' wird der Kopf
mit geschlossenen Augen auf die rechte Hand gelegt. Wird die hin-
weisende Bewegung des Zeigefingers auf den Boden beigefügt,
so sagt dies, daß der Tod, gleichsam der 'Schlaf dort unten", ge-
meint sei.
4. Mitbezeichnende Gebärden.
Als eine zweite Unterform darstellender Gebärden wurden oben
(S. 156) die mitbezeichnenden unterschieden. Ihre charakteri-
stische Eigenschaft besteht darin, daß sie nicht den Gegenstand selbst
in seinen gesamten Umrissen oder in denen eines besonders in die
Augen fallenden Teiles wiedergeben, sondern daß sie irgendeine
einzelne Eigenschaft oder ein willkürlich herausgegriffenes Merkmal
zu seiner Bezeichnung wählen. Aus dieser Begriffsbestimmung geht
schon hervor, daß diese Gebärdeform in engem Zusammenhang mit
jenen Zeichen nachbildender Art steht, bei denen nicht das Ganze
des Gegenstandes, sondern nur ein besonders augenfälliger Teil
angedeutet wird. Man kann daher solche Gebärden als Über-
gangsformen zwischen den nachbildenden und den mitbezeichnen-
I yo Die Gebärdensprache.
den betrachten, die bald der einen, bald der andern Klasse näher
liegen. So wird man z. B. die in der unteren Reihe der Fig. 28
mitgeteilten Beispiele (/, q^ r] noch zur vorigen Gattung, die An-
deutung der Ziege durch die in die Luft gezeichneten Konturen ihres
Bartes, oder die des Esels durch die seiner Ohren schon zu den
mitbezeichnenden Gebärden stellen können. Die Allmählichkeit des
Übergangs liegt hier, wie in andern ähnlichen Fällen dieses Gebietes,
in der Natur der Sache. Alle Arten darstellender Gebärden sind
eben auf gemeinsamem Stamm erwachsene Entwicklungsformen. Wo
statt der Umrißzeichnung oder der plastischen Wiedergabe des Gegen-
standes ein nebensächliches Merkmal zu seiner Bezeichnung zureicht,
da begnügt sich die Gebärde mit der Andeutung eines solchen, das
dann durch Assoziation das Erinnerungsbild wachruft.
Wie nun die nachbildenden Gebärden in doppelter Gestalt vor-
kommen, als in die Luft geschriebene flüchtige Bilder oder Umriß-
zeichnungen, und als dauerndere plastische Nachbildungen, so sind
auch bei den mitbezeichnenden eine solche vergängliche und eine
bleibendere Form zu unterscheiden; nur daß beide noch häufiger
als im vorigen Fall ineinander übergehen und sich verbinden können.
Übrigens trifft es auch hier zu, daß die vergängliche, zeichnende
Form mehr der ursprünglichen, neugebildeten Gebärdensprache, die
dauerndere, plastische der traditionell überlieferten eigen ist. So be-
zeichnet der Taubstumme den Begriff 'Mann', indem er die Gebärde
des Hutabnehmens ausführt. Die Gebärde ist natürlich ein spezifisch
abendländisches Zeichen, da es von der im Orient im allgemeinen
unbekannten Sitte des Hutabnehmens beim Gruße herrührt. Da
aber diese Sitte bei uns nur für den Mann, nicht für die Frau gilt,
so ist das in der Gebärde ausgedrückte Merkmal vollkommen zu-
reichend. Eine ""Frau"* wird bei den Taubstummen in der Regel
durch die auf die Brust gelegte Hand ausgedrückt. Die Zisterzienser
bedienten sich zum gleichen Zweck einer mit dem Zeigefinger hori-
zontal über die Stirn ausgeführten Bewegung, um damit die geringere
Körpergröße anzudeuten. Daß das Zeichen kein zufälliges und ver-
einzeltes ist, dafür spricht übrigens die Tatsache, daß Prinz Wied
bei den nordamerikanischen Indianern das nämliche Zeichen beob-
achtete. Der 'Mann"* wurde bei ihnen im Gegensatz dazu durch
Erheben des Zeigefingers über das Haupt bezeichnet. Doch könnte
Mitbezeichnende Gebärden. 171
darin auch schon eine mitwirkende symbolische Bedeutung, die der
beherrschenden Stellung des Mannes, gesehen werden. Das 'Kind*
bezeichnet der deutsche Taubstumme meist durch Schaukeln des
rechten EUogens auf der linken Hand, gleichsam als das, was auf
dem Arm getragen und geschaukelt wird. Die Zisterzienser drückten
denselben Begriff durch den an den Mund geführten Zeigefinger
aus, eine Gebärde, die nach Mallerys Nachweisungen auch bei den
Indianern weitverbreitet ist, und die genau ebenso in der hiero-
glyphischen Bilderschrift und in den Darstellungen des "^Harpokrates"*,
des 'Gottes des Schweigens^ wiederkehrt. In der Tat soll mit der
Gebärde offenbar die Sprachlosigkeit des Kindes angedeutet werden.
Eine verwandte Gebärde ist in Japan für ein 'altes Weib* in Ge-
brauch; der Zeigefinger weist aber dabei auf die Zähne oder auf
Zahnlücken hin, die Gebärde hat also wohl die Bedeutung der 'Zahn-
losen*. Weitere mitbezeichnende Gebärden aus der Taubstummen-
sprache, die zugleich den Charakter einer in die Luft gezeichneten
Bilderschrift besitzen, sind die folgenden: 'Feuer* Blasen gegen den
aufgehobenen Zeigefinger, 'Butter* Bewegung des Butterstreichens,
'Salz* die des Salzstreuens, 'Stein* die des Aufhebens vom Boden
und Klopfen an die Zähne, um die Härte anzudeuten. Die letztere
Gebärde allein kann auch für die Eigenschaft 'hart* oder in anderem
Zusammenhang für 'weiß* gebraucht werden. Einige fernere Ge-
bärden von ähnlicher Art sind als begleitende und die Bedeutung
determinierende Bewegungen zu nachbildenden, namentlich plastischen
Gebärden schon erwähnt worden : so die Bewegung von Osten nach
Westen zum Ausdruck der Sonne oder des Tages, die Bewegung
der das Bild eines Baumes wiedergebenden Hand nach oben, um
das Wachstum anzudeuten, usw.
Gegenüber allen diesen in veränderlichen Bewegungen bestehenden
Zeichen, an denen meist ausschließlich die Hände beteiligt sind, ver-
halten sich die plastischen Gebärden von mitbezeichnendem Cha-
rakter insofern eigenartig, als sie in der Regel durch ein eigentüm-
liches Zusammenwirken der Hände und des Angesichts zustande
kommen. Dabei gibt dann der Ausdruck des Angesichts gewisser-
maßen den Grundton der für das Verständnis der Gebärde unerläß-
lichen Gefühlsrichtung an, während die eigentliche Funktion der
Mitbezeichnung der mit dem Gesicht in irgendwelche Verbindung
172
Die Gebärdensprache.
gebrachten Hand zufällt. Diese plastische Unterform läßt sich dem-
nach auch als eine Modifikation jener Gebärden betrachten, bei
denen die Vorstellung einer Gemütsbewegung durch ihren mimischen
Gesichtsausdruck wiedergegeben wird (S. i68 f.). Die Fig. 29 zeigt
einige Beispiele, die zunächst der neapolitanischen Gebärdensprache
entnommen sind, aber in denselben oder ähnlichen Formen auch sonst
vorkommen^). So ist die in a dargestellte Gebärde der ebenso alte
wie allgemeine Ausdruck der "^Stille', zunächst als Warnung oder
Aufforderung gegenüber einem andern, dann aber auch als allge-
gemeines Zeichen für den Begriff überhaupt. Die Gebärde zerfällt,
wie man sieht, in einen mimischen und in einen pantomimischen
Bestandteil. Jener deutet durch die fest geschlossenen Lippen das
Fig. 29. Mimische Zeichen der Neapolitaner
Schweigen, durch den fixierenden Blick die erhöhte Aufmerksam
keit und, wenn der Blick auf eine bestimmte Person gerichtet
ist, die an diese gerichtete Aufforderung an. Der pantomimische
Teil, der erhobene Zeigefinger, verleiht der letzteren den Charakter
des Befehls. Beide Bestandteile unterstützen und interpretieren
sich demnach wechselseitig. Nicht in gleicher Weise eindeutig ist
die in d dargestellte Gebärde. Das Erfassen der beiden Wangen
hat zunächst die Bedeutung des Hinweises: es will den Blick
auf das Angesicht, vor allem auf denjenigen Teil desselben lenken,
der hauptsächlich für dessen Form bestimmend ist. Was mit
^) A. de Jorio a. a. O. Taf. 21.
Mitbezeichnende Gebärden.
173
der Hinvveisung gemeint sei, darüber entscheidet aber, ähnlich
wie bei der vorigen Figur, der mimische Ausdruck. Ist dieser,
wie in b^ ein frqundlich lächelnder, so bezeichnet die Gebärde
ein angenehmes, schönes Gesicht oder allgemein 'Schönheit'. Wird
das Angesicht zur Fratze verzerrt, so nimmt sie im Gegenteil
den Begriff der 'Häßlichkeit' an. Wird es in die Länge ge-
zogen, während der Druck der Finger den so entstehenden Ein-
druck der Hohlwangigkeit unterstützt, so gewinnt sie die Bedeutung
der 'Magerkeit', 'Dürftigkeit'. Werden umgekehrt die Wangen auf-
geblasen, so wird dadurch ein Vollmondsgesicht oder allgemein
'Wohlbeleibtheit' ausgedrückt. Bei der in c dargestellten Gebärde
wirken der mimische und der pantomimische Teil zusammen, um
'Hunger' oder, in etwas übertragenem Sinne, 'Bedürftigkeit' wieder-
zugeben. Der Mund ist begehrlich geöffnet, während der übrige
mimische Ausdruck die Unlust des Hungernden andeutet. Dazu
macht die rechte Hand eine auf den Mund hinweisende Gebärde,
die durch die eigentümliche, das Ergreifen eines Bissens andeutende
Krümmung der Finger unterstützt wird. Eine in Japan übliche
Gebärde, der in den Mund und zwischen die Zähne gesteckte Zeige-
finger, unterstützt von dem begehrlichen Ausdruck des Angesichts,
drückt ursprünglich wohl das nämliche aus; sie hat aber den allge-
meinen Begriff des 'Wunsches' angenommen und ist damit in eine
symbolische Gebärde übergegangen. Eine ähnliche Zwischenstufe
zwischen Mitbezeichnung und Symbol hat die im Neapolitanischen
gebrauchte Bewegung des Streichens mit der flachen Hand über
die Stirn, während das Gesicht den Ausdruck der Anstrengung
zeigt. Die Gebärde veranschaulicht das Abwischen des Schweißes
bei anstrengender Arbeit. Sic bedeutet daher zunächst physische
Anstrengung, dann aber 'Mühe' und 'Ermüdung' überhaupt. Wie
in diesen, so geht noch in vielen andern Fällen auch die mit-
bezeichnende Form in die dritte und für die innere Entwicklung
der Gebärdensprache wichtigste Gattung darstellender Gebärden, in
die der symbolischen, über.
IjA Die Gebärdensprache.
5. Symbolische Gebärden.
Wenn wir die Gebärdensprache dem Begriff der Sprache über-
haupt unterordnen, so kann bei ihr von Symbolen zunächst in
jenem allgemeinsten Sinne geredet werden, in welchem wir auch
bei der Lautsprache das Wort ein Symbol des Begriffs nennen.
Symbol bedeutet hier lediglich ein Zeichen irgendwelcher Art, das
uns an den zu denkenden Begriff erinnert, gleichgültig, ob die
zwischen beiden bestehende Verbindung auf irgendeiner inneren
Beziehung beruht, oder ob sie bloß eine äußere und konventionelle
ist. Für unser heutiges Denken ist, von wenigen Fällen abgesehen,
das Wort in der Tat nur solch ein äußeres Zeichen. Von der
Vorstellung, die es ausdrückt, ist es an sich ebenso verschieden
wie ein algebraisches Symbol von dem Größenbegriff, dem es sub-
stituiert wird. Höchstens hat es den Vorzug der konstanteren Asso-
ziation mit seiner Bedeutung. Dies ist nun zugleich der Punkt,
wo sich die Gebärdensprache von der Lautsprache scheidet. Die
Gebärden erscheinen uns nicht als bloß äußere und zufällige, son-
dern als adäquate Symbole der Vorstellungen. Dadurch kommt
es aber, daß hier aus dem allgemeinen Begriff der »Gebärden-
symbole«, der auf jede irgendeine Vorstellung ausdrückende Ge-
bärde anwendbar ist, der engere Begriff der symbolischen Ge-
bärden sich aussondert. Ihn werden wir nämlich dann anwenden
können, wenn die Gebärde nicht, wie in den bisherigen Fällen, eine
unmittelbare Andeutung der Vorstellung enthält, sondern wenn
sie mittelbar, infolge irgendwelcher durch Assoziation bewirkter
Begriffsübertragungen, auf sie hinweist. Da man unter einem
»Symbol« ein sinnliches Bild versteht, das einen von ihm selbst
verschiedenen, aber zu ihm in assoziativer Beziehung stehenden
Begriff darstellen soll, so wird im Sinne dieser allgemeinen Be-
deutung eine »symbolische Gebärde« eine solche sein, die zu-
nächst eine bestimmte sinnliche Vorstellung erweckt, um mit die-
ser einen andern, von ihr abweichenden, jedoch irgendwie durch
innere Eigenschaften assoziierten Gedankeninhalt zu verbinden.
Demnach können wir die symbolischen Gebärden kurz als die
mittelbar andeutenden von allen andern als den unmit-
Symbolische Gebärden. jys
telbar andeutenden unterscheiden. Wenn ich auf einen Ge-
genstand hinweise, so ist das eine unmittelbare Andeutung des-
selben. Ebenso, wenn ich sein Bild in die Luft zeichne oder seine
plastische Form mit der Hand nachbilde. Und auch dann noch,
wenn ich irgendeine Eigenschaft oder eine äußere Beziehung des
Gegenstandes hervorhebe, die ihm nur unter gewissen Bedingungen
zukommt, wird dies dem Gebiet unmittelbar andeutender Zeichen
zuzurechnen sein. Anders bei der mittelbaren Andeutung. Hier
wird durch die Gebärde eine Vorstellung ausgedrückt, die nicht
selbst der mitzuteilende Begriff ist, auch sich nicht als begleitendes
Merkmal mit ihm verbindet, sondern die ihn erst mittels entfernterer
psychologischer Zwischenglieder im Bewußtsein wachruft. Der
Unterschied von der nächstverwandten mitbezeichnenden Gebärde
besteht daher darin, daß die symbolische nicht eine zum auszu-
drückenden Begriff selbst gehörende, sondern eine von ihm ganz
verschiedene Vorstellung erweckt, die aber vermöge der ihr bei-
gelegten Eigenschaften stellvertretend für jenen Begriff werden
kann. Man darf somit hier bei dem Begriff des Symbols nicht an
die Weiterbildungen denken, die er im Gebiet der symbolisierenden
Kunst findet. Weder braucht die symbolische Gebärde Gedanken-
inhalte, die der sinnlichen Anschauung fern liegen, noch überhaupt
abstrakte Begriffe auszudrücken. Vielmehr besteht das Wesen des
Symbols zunächst nur darin, daß es irgendeinen geistigen Inhalt
in einer Form darstellt, die von ihm selbst völlig verschieden, aber
durch irgendwelche Mittelglieder mit ihm verbunden ist.
Nun besteht bei jeder Gebärde die Beziehung zwischen ihr und
der Vorstellung, die sie bedeutet, in einer Assoziation, die sich
außerdem nicht selten durch häufigen Gebrauch befestigt. Bei den
bisher behandelten Zeichen führt diese Assoziation unmittelbar von
der Vorstellung zu der Gebärde und von dieser wieder direkt zu
der Vorstellung zurück. So assoziiert sich die hinweisende Be-
wegung ohne weiteres mit dem Gegenstand, gegen den sie ge-
richtet ist. Nicht minder envecken nachbildende und mitbezeich-
nende Gebärden unmittelbar die entsprechenden Vorstellungen, weil
ihre eigenen Merkmale oder diejenigen, auf die es ankommt, mit
wesentlichen Merkmalen des Gegenstandes übereinstimmen oder als
denselben hinreichend ähnlich aufgefaßt werden. Dies ändert sich
in() Die Gebärdensprache.
bei den symbolischen Gebärden, indem hier mindestens eine Zwi-
schenvorstellung, die ebensowohl mit der Gebärde selbst wie mit
der auszudrückenden Vorstellung assoziativ verbunden ist, zwischen
beide tritt. Der Unterschied zwischen diesen Fällen entspricht dem-
nach durchaus dem zwischen unmittelbarer und mittelbarer
Assoziation. So ist die gleich einem Schöpfgefäß gehöhlte Hand
eine auf unmittelbarer Assoziation beruhende Gebärde für ein
""Trinkgefäß' (Fig. 27 //). Die nämliche braucht aber der Indianer,
um 'Wasser' auszudrücken; hier ist es dann offenbar eine mittelbare
Assoziation, durch welche Gebärde und Gegenstand miteinander ver-
bunden werden: die Gebärde enveckt die Vorstellung eines Trink-
gefäßes, das Trinkgefäß die seines Inhaltes. In dieser neuen An-
wendung ist daher die Gebärde bereits im allgemeinsten Sinn eine
symbolische: sie benützt eine Vorstellung, nicht um diese selbst,
sondern um einen von ihr verschiedenen Begriff zu bezeichnen.
Die Bedeutung bleibt dabei eine sinnliche, und es könnte daher
leicht in diesem Fall die symbolische durch eine direkt andeutende
Gebärde ersetzt werden, z. B. durch Hinweisung auf zufällig vor-
handenes Wasser oder durch die mitbezeichnende Handlung des
Trinkens. Gerade die symbolischen Gebärden sind nun insofern
für die psychologische Entwicklung des Symbolischen überhaupt
lehrreich, als sie uns alle möglichen Übergangsstufen von dieser
primitiven Form zu der ausgebildeteren darbieten, wo das Symbol
sinnlicher Ausdruck für einen an sich sinnlich nicht darzustellen-
den Begriff wird. Doch schiebt sich dann in der Regel zugleich
eine größere Anzahl von Assoziationsgliedern zwischen die in der
Gebärde direkt ausgedrückte und die von ihr angedeutete Vor-
stellung. So wird die plastische Nachbildung des Eselskopfes mit
der Hand (Fig. 26 d und c), ebenso wie das bekannte das Ohr des
Esels am eigenen Ohr durch die ausgestreckte Hand andeutende
Zeichen, wohl selten in der ursprünglichen Bedeutung, sehr häufig
aber als symbolischer Ausdruck der 'Dummheit' gebraucht. Auch
hier ist die Symbolik noch eine einfache, weil nur eine einzige Vor-
stellung als assoziatives Zwischenglied existiert, nämlich die dem
Esel sprichwörtlich zugeschriebene Dummheit. Schon tritt aber in
diesem Fall das Symbol für einen Begriff ein, der anders als sym-
bolisch überhaupt nicht ausgedrückt werden kann, weil er sich auf
Symbolische Gebärden. j .^ -
keine sinnliche Eigenschaft bezieht. Aus solchen einfachsten sym-
bolischen Gebärden, bei denen eine einzige einfache Assoziation
von der direkten zur symbolischen Bedeutung überführt, können
nun leicht durch die Dazwischenkunft weiterer Assoziationsglieder
symbolische Gebärden von verwickelterem Ursprung hervorgehen.
Sie sind dann aber auch meist vieldeutiger Art und erst durch den
Zusammenhang der Gedanken verständlich. So kann die plastische
Nachbildung des gehörnten Stierkopfes {a Fig. 26) bei dem Neapo-
litaner, neben ihrer unmittelbaren Bedeutung, symbolisch die 'Stärke'
als die Haupteigenschaft des Stieres, dann die 'Gefahr\ zunächst die
vom Anstürmen eines wütenden Stieres drohende, hierauf die Ge-
fahr überhaupt, und endlich infolge einer dritten Übertragung den
'Wunsch vor Gefahr behütet zu werden^ ausdrücken. Hier springt
alsbald in die Augen, wie die fortschreitende Zunahme assoziativer
Zwischenglieder die symbolische von der nachbildenden Bedeutuno-
immer weiter entfernt.
Geht man bei der Betrachtung der symbolischen Gebärden von
dem in diesen Beispielen hervortretenden Verhältnis zu den nach-
bildenden und mitbezeichnenden aus, so scheiden sich jene in zwei
große Gruppen, je nachdem sie in einem leicht nachzuweisenden
Übergang aus andern Gebärdeformen, oder aber von Anfang an in
symbolischer Bedeutung entstanden sind. Wir können demnach
diese beiden Gruppen als die der sekundären und der primären
symbolischen Gebärden unterscheiden. Von ihnen sind aber die
sekundären die ursprünglicheren. Erst nachdem überhaupt auf dem
Wege jener allmählichen assoziativen Verschiebung der Bedeutung,
die oben geschildert wurde, andere Formen darstellender Gebärden
symbolische Bedeutungen angenommen haben, wird wahrscheinlich
überhaupt eine primäre Symbolik möglich, bei der ein bestimmtes
Zeichen von Anfang an nur symbolisch gemeint ist. Natürlich
schließt dies nicht aus, daß nicht auch dann der Gebärde irgend-
ein nicht symbolischer Sinn untergeschoben werden kann; ja es
liegt in der Natur der Sache, daß dies immer möglich ist, da eben
das Symbol in der Übertragung irgendeines geistigen Inhaltes in
eine andere, sinnliche Form besteht. Diese sinnliche Form selbst
kann darum stets als die unmittelbare Bedeutung des Symbols an
gesehen werden. Nur ist bei den primären Symbolen der sinnliche
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. 12
lyg Die Gebärdensprache.
Ausdruck so weit von der geistigen Bedeutung entfernt, daß ohne
die Kenntnis des wirklichen Zusammenhangs ein Schluß von jenem
auf diese niemals möglich sein würde. Dies ist dadurch bedingt, daß
hier der Begriff in seiner allgemeinen Gestaltung der in der Gebärde
für ihn gewählten sinnlichen Verkörperung vorausging. Darum sind
die primären Gebärden durchweg solche, die abstrakten Begriffen
entsprechen, woraus sich ohne weiteres ihre spätere Entstehung
erklärt. Übrigens ist in vielen Fällen kaum festzustellen, ob ein
gegebenes, seit langer Zeit ausschließlich in symbolischem Sinne
gebrauchtes Zeichen von Anfang an diesen Charakter hatte. Nur
in gewissen Grenzfällen kann man mit zureichender Wahrscheinlich-
keit hierüber entscheiden. So ist es wohl als ein sekundäres Symbol
anzusehen, wenn der Indianer, um den Begriff "^Häuptling' aus-
zudrücken. Arm und Hand über sein Haupt erhebt: die einfach
sinnliche Bedeutung der überragenden Körpergröße liegt hier noch
nahe genug. Wenn dagegen Indianer wie Taubstumme die "^Lüge'
durch eine mit dem Zeigefinger der linken Hand vom Mund aus
nach links und abwärts gerichtete Bewegung andeuten, gleichsam
als eine 'schiefe, links gerichtete Rede', so haben wir allen Grund,
hierin ein primäres Symbol zu sehen. Denn es läßt sich denken,
daß für den Begriff Lüge, nachdem er vorhanden war, dieses
sinnliche Zeichen gewählt wurde; aber dem Zeichen selbst läßt
sich abgesehen von jenem Begriff keine der unmittelbaren An-
schauung entsprechende Bedeutung zuschreiben. Anderseits ist es
natürlich unmöglich, festzustellen, ob etwa die Gebärde des Esels-
kopfes früher für das wirkliche Tier oder zur Verspottung eines
Dummkopfes gebraucht wurde. In noch andern Fällen mag ein
Teil der Gebärde eine sekundäre, ein anderer eine primäre Symbolik
enthalten: so z. B. die Gebärde der Indianer für 'Frieden', die in
der Andeutung einer Pfeife und in der Hinzufügung irgendeiner
Gruß- oder Freundschaftsgebärde, wie der ineinander verschlungenen
Hände oder der umeinander geschlungenen Zeigefinger (Fig. 32 /),
besteht. Hier ist die Pfeife ein der Sitte entstammendes sekundäres,
das Freundschaftszeichen dagegen offenbar ein primäres Symbol.
Wegen dieses mannigfachen Ineinandergreifens von Gebärden ver-
schiedenen Ursprungs und der oft zweifelhaften Stellung anderer
würde eine Klassifikation der symbolischen Gebärden auf dieser
Symbolische Gebärden. lyn
Grundlage kaum durchzuführen sein. Die Unterscheidung bleibt
aber deshalb wichtig, weil uns die Existenz der sekundären Symbole
den Weg andeutet, auf dem urspri.inglich überhaupt eine Symbolik
entstehen konnte, ob diese nun der Gebärden- oder der Lautsprache
oder, wie in der Bilderschrift, den Anfängen bildender Kunst an-
gehören mag.
Der genetische Zusammenhang der symbolischen mit den un-
mittelbar nachbildenden Gebärden ist schließlich auch daraus zu er-
kennen, daß die hier unterschiedenen beiden Klassen zeichnender,
rasch vorübergehender und plastischer, dauernder Zeichen bei den
symbolischen Gebärden ebenfalls wiederkehren. So ist die oben
erw^ähnte Bewegung des Zeigefingers vom Mund aus in schräger
Richtung für ""Lüge', in geradliniger für ^Wahrheit' eine zeichnende
Gebärde; ebenso, wenn bei den Indianern die Erhebung der Hand
über das Haupt den "^Häuptling"*, die Umrißzeichnung der Pfeife den
'Frieden'' bedeutet. Nicht minder gehört hierher die weitere india-
nische Gebärde der Bewegung des Zeigefingers vom Auge des Re-
denden zu dem eines andern oder vom Herzen zum Herzen, um
Übereinstimmung der Anschauungen und der Gesinnungen aus-
zudrücken, sowie die auch bei den Zisterziensern vorkommende
Gebärde für ""Zorn': die Bewegung beider Hände von der Herzgrube
aus, das Überwallen oder Ausströmen des Herzens andeutend. Die
weit verbreiteten Gebärden der Bejahung, der Verneinung, des Zwei-
fels, der Zustimmung, der Unterwürfigkeit, der Zuneigung, die aus
den die Rede begleitenden Ausdrucksbewegungen der Affekte zum
Teil auch in die selbständige Gebärdensprache übergegangen sind,
können ebenfalls dahin gerechnet werden. Die Modifikationen, die
bei ihnen beobachtet werden, bieten zugleich gute Beispiele für
die Veränderungen, deren eine bestimmte Gebärde fähig ist. Ge-
rade die symbolischen Gebärden bieten solchen Variationen einen
weiten Spielraum, weil die Beziehung zwischen einem sinnlichen
Gegenstand und seinem Abbild eine viel begrenztere ist als die
zwischen einem Begriff und seinem Symbol. In Anbetracht dieses
Spielraums der Versinnlichungen eines und desselben Begriffs ist
sogar die vorhandene Übereinstimmung in vielen symbolischen Ge-
bärden und so vor allem auch in diesen allgemeinen eine über-
raschend große. Bei der Bejahung und Verneinung ist das allerdings
j 80 Die Gebärdensprache.
bestritten worden, und man hat es als einen Beweis für den Mangel
jedes inneren Zusammenhangs zwischen dem Gestus und seiner Be-
deutung bezeichnet, daß die bejahende und verneinende Gebärde
im Orient fast im geraden Gegenteil derjenigen Kopfbewegungen
bestehe, die wir im Abendland anwenden'). Will der moderne
Araber etwas bejahen, so schüttelt er den Kopf; zum Zeichen der
Verneinung wirft er den Kopf nach rückwärts und schnalzt zugleich
mit der Zunge. Schon dies ist nun freilich kein voller Gegensatz.
Was hier als Zeichen der Verneinung geschildert wird, ist eine
Gebärde, die mit einer in Süditalien im Sinne der Abweisung oder
Geringschätzung gebrauchten die größte Verwandtschaft hat. Diese
besteht darin, daß zuerst die Hand unter das Kinn gelegt und
dann gegen den Angeredeten bewegt wird, während der Kopf
sich etwas rückwärts wendet^). Mit ihr ist dann wieder die weit
verbreitete des 'Schnippchenschlagens^ bei der Mittelfinger und Dau-
men zuerst gegeneinander gestemmt und hierauf gegen den An-
geredeten losgeschnellt werden, nahe ver\vandt. In diesen drei
Fällen ist die nämliche abweisende und durch die Art der Aus-
führung zugleich die Geringfügigkeit des Gegenstandes andeutende
Bewegung nur verschiedenen Organen zugewiesen. Denn das Schla-
gen des "^Schnippchens' besteht eigentlich in einer Übertragung der
von dem Orientalen geübten Bewegung der Zunge auf die beiden
Finger; und noch unmittelbarer wiederholt sich weithin sichtbar die
nämliche Bewegung in der neapolitanischen Gebärde, bei der auch
die begleitende Rückwärtsbewegung des Kopfes beibehalten ist.
Befremdlicher ist allerdings das Schütteln des Hauptes als Zeichen
der Bejahung. Wie es scheint, ist dies aber eine moderne Gebärde,
die aus irgendwelchen unbekannten Ursachen aus einer älteren, mit
der unserigen übereinstimmenden hervorging, da die mohammeda-
nische Tradition aus der Zeit des Propheten Vorwärts- und Rück-
wärtsbeugung des Kopfes als die allgemeingültigen Zeichen der
Bejahung und Verneinung anführt^). Daneben wird auch Schütteln
des Gewandes mit der Hand oder eine andere ähnliche, das Ab-
schütteln von Staub andeutende Gebärde als orientalisches Zeichen
1) Goldziher, Zeitschr. für Völkerpsych. Bd. 16, S. 377.
2) A. de Jorio a. a. O. Taf. 21, Fig. 2.
3) Goldziher a. a. O. S. 378.
Symbolische Gebärden. i8l
der Verneinung erwähnt ; und ebenso sind noch sonst, z. B. bei den
Eingebornen Amerikas, analoge Zeichen der Zustimmung und der
Ablehnung, wie sie der Europäer mit dem Kopf ausführt, der Hand
zugeteilt. Die Bejahung wird dann durch eine Bewegung der rechten
Hand von der Brust nach vorn angedeutet, bei der zuletzt die Hand
mit der Volarseite nach oben geöffnet ist, die Verneinung durch
eine in ihrem Anfang übereinstimmende Bewegung, die aber in eine
rasche Seitwärts- und Abwärtswendung übergeht^). Alles dies be-
stätigt, daß es sich hier überall um Symbole handelt, die unabhängig
entstanden und darum verschiedener äußerer Gestaltungen fähig, je-
doch in ihrem Grundcharakter verwandt sind.
Ähnlich verhält es sich mit den mannigfachen Gebärden des
Grußes, der Freundschaft, der Zuneigung. Hier ist z. B. das Ver-
hältnis der orientalischen Grußgebärden zu den abendländischen ein
solches, daß jene als gesteigerte, diese als abgeschwächte Gestal-
tungen einer und derselben Grundform betrachtet werden können.
Dabei haben sich jedoch begleitende Gebärden hinzugesellt, die ge-
legentlich jene hauptsächlich in der Neigung des Körpers, besonders
des Hauptes bestehende Grundform zum Teil verdrängen konnten:
so die mohammedanische Kreuzung der Arme über der Brust, die
mit den begleitenden Gebetsworten zusammenhängt, oder die spezi-
fisch abendländische Entblößung des Hauptes, die wohl darauf zurück-
zuführen ist, daß bei Römern wie Germanen der Helm oder Hut
als Symbol der Freiheit galt, wodurch dann die Abnahme desselben
zum Symbol der Unterwerfung wurde ^). Ähnlich ist der Kuß eine,
wie es scheint, auf die Kulturvölker der alten Welt beschränkte Sitte.
Doch überall, wo er fehlt, finden sich andere ursprüngliche Ausdrucks-
formen von gleicher Bedeutung, wie das Reiben der Nasenspitzen
aneinander, das Reiben oder Klopfen der Arme, der Brust oder
anderer Körperteile, in denen sich der Trieb nach engster Verbin-
dung mit dem Gegenstand der Liebe ausspricht^). Auch der Hand-
J) Reise des Prinzen Wied II, S. 648, Nr. 34, 35. Mallery a. a. O. S. 454 fF.
2) Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer,3 S. 152.
3) Darwin, Ausdruck der Gemütsbewegungen, S. 218. R. Andree, Ethnographische
Parallelen und Vergleiche, TL, 1889, S. 223 ff. Der Nasengruß, für den Andree ganz
bestimmte Verbreitungsbezirke nachweist, könnte, wie dieser Autor vermutet, aus
dem Beriechen hervorgegangen sein, das, mit der feineren Ausbildung des
l32 üie Gebärdensprache.
schlag ist als Zeichen der freundschaftlichen Begrüßung außerhalb
der Grenzen abendländischer Zivilisation unbekannt. Bei den nord-
amerikanischen Indianern war er einst nur als Symbol des Friedens
heimisch — eine Bedeutung, die wohl überall die ursprüngliche ist.
Als solches der Freundschaft wird er von ihnen noch jetzt fast nur
im Verkehr mit Weißen gebraucht. Unter ihnen selbst ersetzen ihn
in dieser Beziehung die sonstigen Symbole der Liebe und Zunei-
gung, die Umarmung oder das Reiben der Brust und der Arme an-
einander^).
Die angeführten Beispiele bieten so in ihren verschiedenen Formen
deutliche Belege für die abweichende psychologische Entstehung
symbolischer Gebärden. Die Zeichen für Wahrheit und Lüge, oder
die für Übereinstimmung der Ansichten und Gesinnungen durch Hin-
weisung auf Auge und Herz sind nur im Zusammenhang der eigent-
lichen Gebärdensprache möglich. Es ist nicht denkbar, daß sie
anders als aus dem Trieb der Mitteilung heraus entstanden seien.
Dagegen sind die einfache Bejahung und Verneinung sowie die ver-
schiedenen Gebärden, die Zuneigung, Freundschaft, Hochachtung und
ähnliche Gefühle ausdrücken, zum Teil jedenfalls aus natürlichen
Ausdrucksbewegungen hervorgegangen, die ursprünglich nur dem
subjektiven psychischen Zustand Befriedigung schafften und erst
sekundär die Kundgebung der Affekte selbst und dann endlich
auch die Mitteilung von Vorstellungen bezweckten. Hierbei wurden
sie allmählich zu bloßen Andeutungen der einstigen Ausdrucks-
bewegungen abgeschwächt. Außerdem erfuhren sie in der Regel
Bedeutungsänderungen: so z. B. beim Übergang des Handschlags
als Friedens- in ein Freundschaftssymbol, oder der Entblößung des
Hauptes als Zeichen der Unterwerfung in eine bloße Achtungsbe-
zeigung. Wie die erste Entstehung solcher symbolischer Gebärden
aus Ausdrucksbewegungen, so sind aber auch die Metamorphosen
ihrer Bedeutung Prozesse, die sich aus dem stetigen Wandel der
psychischen Zustände von selbst ergeben. Dagegen besitzen jene
Symbole, die, wie die Zeichen für Wahrheit und Lüge, von An-
Genichssinns beim Naturmensclien zusammenhängend, in einem primitiven Zustand
die Unterscbeidung von Stammesgenossen und Stammesfremden vermittelt haben
mag. Dann würde er übrigens zugleich eine sekundäre symbolische Gebärde sein.
^) Mallery a. a. O. p. 385.
Symbolische Gebärden. ig^
fang an in der Absicht der Mitteilung entstanden sind, in höherem
Grade den Charakter willkürlicher Schöpfungen und gelegentlich
sogar absichtlicher Erfindungen. Dies schließt natürlich nicht aus,
daß die Bedingungen ihrer Entstehung trotzdem in allgemeingültigen
psychischen Eigenschaften und Anlagen begründet sein können. In
der Tat ist es nur aus solchen zu erklären, daß uns auch die Ge-
bärden dieser Art trotz ihrer scheinbaren Willkürlichkeit vielfach in
gleichen oder mindestens in analogen Gestaltungen unabhängig
voneinander begegnen.
Trifft auf diese Weise für die der zeichnenden Gebärde sich an-
schließenden Symbole das Merkmal einer gewissen Allgemeingültig-
keit zu, die allerdings mannigfache Variationen nicht ausschließt, so
nehmen auch hier wieder die plastischen Gebärden eine etwas
abweichende Stellung ein. Sie finden sich abermals vorzugsweise
in solchen Entwicklungsformen der Gebärdensprache, die eine längere
Vergangenheit hinter sich haben. Viele von ihnen sind daher inner-
halb bestimmter Gebiete konventionell geworden. Da sich zu diesen
Bedingungen lokaler Beschränkung auch noch die Unbestimmtheit
und Vieldeutigkeit aller Symbolik hinzugesellt, so fehlt vor allem
den plastischen Gebärden von symbolischer Bedeutung in vielen
Fällen jene unmittelbare Verständlichkeit, die sonst der Gebärden-
sprache eigen ist. Nach den bei ihnen zur Verwendung kommenden
äußeren Hilfsmitteln lassen sie sich übrigens in zwei Gruppen ord-
nen : in solche, bei denen Angesicht und Hand zusammenwirken, und
in andere, bei denen die Hände ausschließlich die plastische Form dar-
bieten. Die erste dieser Gruppen schließt sich jenen plastisch-mimi-
schen Gebärden an, die durch den mimischen Ausdruck einer Gemüts-
bewegung die Vorstellung derselben erwecken, indes die Hand zur
näheren Bestimmung der Vorstellung mithilft (Fig. 29). Auch bei
den symbolischen Gebärden, die hierher gehören, ist der mimische
Ausdruck für das Verständnis der Gebärde entscheidend. Er gibt
den allgemeinen Gefühlston an, unter dem die begleitende Hand-
gebärde aufgefaßt werden soll. Diese bringt dann die entsprechenden
Vorstellungen hinzu. So ist in Fig. 30 das erste Bild [d] die in
Neapel übliche Gebärde des Mißtrauens. Zunächst dient sie der
Warnung, in welcher Bedeutung sie sofort leicht verständlich ist.
Die linke Hand zieht das untere Augenlid herab, um der Person,
i84
Die Gebärdensprache.
auf die der Blick gerichtet ist, zu sagen, sie solle das Auge offen
halten. Der Ausdruck aufmerksamer Spannung im Gesicht, der
durch den emporgehobenen Zeigefinger der rechten Hand unter-
stützt werden kann, verstärkt diesen Eindruck, während ein leiser
lächelnder Zug den der Schlauheit hinzufügt^). Eine sehr merk-
würdige Gebärde zeigt das zweite Bild {e). Es ist der in Neapel
geläufige Ausdruck für 'Lüge' oder 'Betrug', zunächst ebenfalls im
Sinne der Warnung gebraucht. Der Blick ist mit einem ähnlichen,
noch etwas gesteigerten Grade der Aufmerksamkeit und Schlauheit
wie vorhin auf den Gewarnten gerichtet. Die linke Hand, zwischen
Krawatte und Hals gesteckt, scheint einem allzu starken Bissen, der
Fig. 30. Mimische Zeichen der Neapolitaner.
verschluckt werden muß, den erforderlichen Platz schaffen zu sollen.
Ausdrücke wie 'eine Lüge verschlucken' oder 'ein starker Bissen für
die Zumutung, eine unwahrscheinliche Sache zu glauben, verdeutlichen
die sinnliche Grundlage dieses Symbols. Die in / dargestellte Ge-
bärde endlich wird für 'Schlauheit', 'Falschheit' gebraucht. In Sprich-
wort wie Gebärde ist ja die Nase das Sinnesorgan, das als spezifische
Verkörperung feiner Empfindlichkeit, scharfen Spürsinns, dann aber
auch der Schlauheit, die sich nach außen betätigt, gebraucht wird.
Das deuten hier Daumen und Zeigefinger an, indem sie die Nase
umfassen, während die geöffneten Augen Wachsamkeit ausdrücken.
I) Genau dieselbe Gebärde wird mir, aber in einer etwas andern Bedeutung,
aus Japan mitgeteilt: sie soll hier Abneigung und Widerwillen ausdrücken.
Symbolische Gebärden. 185
Noch bei einer andern, als Verspottung sehr verbreiteten Gebärde,
bei der die Hand mit dem Daumen an die Nase angesetzt und der
kleine Finger gegen die verspottete Person ausgestreckt wird, spielt
die Nase die Hauptrolle. Diese Gebärde ist aber sicherlich nur die
Übersetzung der Redensart *^einem eine Nase drehen' aus dem Bild
in die Gebärde. Da dieser Redensart wahrscheinlich die wächserne
Nase zugrunde liegt, die man sich bald als Maskenscherz selbst auf-
setzte, bald als verunstaltende Verspottung von andern aufgesetzt
bekam ^), so kann die gedrehte Nase als Gebärde ebensogut eine
ursprünglich mimisch gemeinte Verunstaltung des Gesichts wie eine
mimische Nachahmung des Gegenstandes sein. Dieser ähnlich nach
Form und Bedeutung ist die Gebärde des 'Eselbohrens', nur daß
hier der Daumen an das Ohr angesetzt, und wieder der kleine
Finger gegen den Verspotteten ausgestreckt wird. Beide Gebärden
scheinen bloß bei den europäischen Völkern vorzukommen. In Japan
findet sich als Ausdruck der Verspottung teils das Ausstrecken der
Zunge, das, als natürliche, aber verstärkte Ausdrucksbewegung des
Widerwillens, über alle Teile der Erde verbreitet zu sein scheint.
Außerdem besitzen die Japaner als Zeichen verspottender Gering-
schätzung das auch im Abendlande gelegentlich vorkommende
Klatschen mit der flachen Hand auf den etwas vorgeneigten Hinter-
teil des Körpers, eine Gebärde, die wohl mit der bekannten Auf-
forderung, diesen Teil mit dem Angesicht zu verwechseln, zusammen-
hängt. Der Spott über den Hochmut oder das Selbstlob eines
andern wird endlich in Japan ausgedrückt, indem man die Nase
durch die angesetzte Faust verlängert und nach oben kehrt, was in
seiner Bedeutung einigermaßen mit unserer Redensart 'seine Nase
hoch tragen' zusammenfällt^).
Sehr viel mannigfaltiger noch als diese halb mimischen Gebärden
von symbolischer Bedeutung sind diejenigen, die durch die plasti-
schen Formungen der Hände zustande kommen. Hier stellt die
^) Grimm, Deutsches Wörterbuch VII (Lexer), S. 407.
2) Nach Mitteilungen des Herrn J. Jrie in Sendai. Die oben angeführten sym-
bolischen Gebärden der Neapolitaner sind A. de Jorio entnommen, a. a. O. Taf. 21.
Die Gebärden d und e (Fig. 30) erwähnt übrigens schon J. J. Engel in seinen >Ideen
zu einer Mimik« als in Italien vorkommend. Er meint, beide, und namentlich die
zweite, seien unerklärlich. (Engel, Fig. I und 2, I, S. 92 ff.)
i86
Die Gebärdensprache.
Fig. 31 eine Reihe neapolitanischer Beispiele, die Fig. 32 einige
von nordamerikanischen Indianern dar. Viele dieser Formen, die mit
natürlichen Ausdrucksbewegungen oder mit zeichnenden Gebärden
zusammenhängen, sind übrigens weiter verbreitet. Dahin gehört vor
allem die Gebärde « (Fig. 31), als Ausdruck der *Ruhe' und nament-
lich der Aufforderung zur Ruhe auch bei uns viel gebraucht. Sie
versinnlicht das abnehmende Geräusch räumlich durch die gesenkte,
mit der Hohlfläche nach abwärts gekehrte Hand. Verbunden mit
einer leisen Auswärtswendung, wie in h (Fig. 32)^ geht sie in die
Fig. 31. Symbolische Handgebärden der Neapolitaner.
ablehnende Gebärde über, die irgendeinen Vorschlag, eine gehörte
Meinung u. dgl. zurückweist, und daher bei den Indianern auch
allgemein als Zeichen der Verneinung vorkommt. Den Gegensatz
zu diesen Symbolen der Ruhe und der Ablehnung bildet die in
Fig. 32 2 wiedergegebene Indianergebärde, bei der die Handfläche
nach oben gekehrt ist. Ähnlich wie die vorige ist auch sie allge-
meiner verbreitet und kann je nach leisen Modifikationen und be-
gleitenden Mienen die "^ Aufforderung zu reden', also eine 'Frage*,
dann bei energischerer Ausführung 'Zustimmung"*, 'Gewährung einer
Bitte* ausdrücken. Eine andere weitverbreitete Gebärde ist der auf-
Symbolische Gebärden.
187
gehobene Zeigefinger (Fig. 3 1 b)^ der zunächst den Befehl, aufmerk-
sam zu sein, und dann allgemein den Begriff ^Aufmerksamkeit' be-
zeichnet. Daran schließen sich je nach der begleitenden Mimik
und sonstigen Modifikationen der Bewegung mehrere abgeleitete Be-
deutungen. So ist uns diese Gebärde in Verbindung mit dem fest
geschlossenen Munde bereits oben als Aufforderung zur Stille be-
gegnet (Fig. 29«). Verbunden mit dem drohenden Blick bedeutet
sie eine "Warnung'. Losgelöst von allen Affektäußerungen kann sie
die 'Einheit' bezeichnen. Daran schließt sich als eine Verallgemeine-
rung dieser Bedeutung die des 'Zählens', in der das Zeichen
Fig. 32. Symbolische Handgebärden der Nordamerikaner.
konventionell in der Gebärdensprache der Neapolitaner stehen ge-
blieben ist. Es läßt sich hier aber auch als eine generalisierende
Form zu allen den weiteren Zahlgebärden betrachten, die durch
Hinzunahme der übrigen Finger entstehen. In diesem letzteren
Fall ist die Gebärde gleichzeitig Ausdruck und Hilfsmittel für die
Operation des Zählens. Die Finger sind, vom Zeigefinger als der
Eins anfangend, zunächst bis zum kleinen Finger fortschreitend und
dann den Daumen zu Hilfe nehmend, Symbole der Einheiten. Die
ganze Hand wird so zum Symbol der 'Fünf, die beiden Hände zu-
sammen versinnlichen die 'Zehn'. Aus diesen primitiven und all-
verbreiteten Gebärden des Zählens und der Zahlbezeichnung ist mit
Die Gebärdensprache.
dem Dezimalsystem die ursprüngliche Form der Zahlschrift entstanden,
die uns heute noch in der Eins das Bild des einzelnen Fingers, in
der römischen Fünf und Zehn (V, X) das der Hand und der beiden
mit den Handwurzeln aneinander gelegten Hände erkennen läßt.
Diesen Zahlgebärden kann man eine andere, für den unbestimmten
Quantitätsbegriff Svenig' gebrauchte Ausdrucksform anschließen:
Daumen und Zeigefinger werden aufwärts gekehrt und gegeneinander
gepreßt, als wollten sie eine kleine Menge eines winzigen Gegen-
standes festhalten (Fig. 3 1 c). Auch dieses Zeichen ist sehr verbreitet.
Es ist eine plastische Umbildung der zeichnenden Gebärde für ^streuen',
Tulver', 'Salz' und ähnliches, aus der es unmittelbar hervorgeht, wenn
die beiden genannten Finger nach oben statt nach unten gekehrt
und in ihrer Stellung fixiert werden. Für Viel' gibt es keine plastische
Gebärde, sondern dieser Begriff" wird überall, wie es scheint, durch
Bewegungen ausgedrückt, die der Vorstellung einer Aufsammlung
vieler Dinge oder einer Anhäufung von Gegenständen entsprechen.
So werden bei mehreren Indianerstämmen beide Hände mit ausge-
streckten Fingern in der Höhe der Hüften nach außen gehalten und
dann gegeneinander und zugleich in die Höhe bewegt, eine Anhäufung
übereinander getürmter Massen darstellend. Taubstumme pflegen
mit beiden Händen geschäftig und oft nacheinander dahin und dort-
hin zu greifen. Alle diese Zeichen für Quantitätsbegriffe stehen
eigentlich auf der Grenze zwischen nachbildenden und symbolischen
Gebärden. Sie fallen einerseits noch in den Bereich jener konkreten
Versinnlichung der Vorstellungen durch einzelne Beispiele, welche
die unmittelbar nachbildenden Gebärden kennzeichnet; anderseits ist
die Vorstellung, die auf solche Weise dargestellt wird, schon so all-
gemeiner Art, daß die Versinnlichung den Charakter eines Beispiels
verliert und als eine Umwandlung des allgemeinen Begriffs in eine
repräsentative Vorstellung, also eben als ein Symbol gedacht wird.
Gerade diese Grenzfälle zeigen das Symbolische gewissermaßen in
seinem Entstehungsmoment.
Weit mehr als eigentliche Symbole sind einige andere plastische
Ausdrucksformen anzusehen, die verschiedene Weiterentwicklungen
der Gebärde des emporgehaltenen Zeigefingers (Fig. 31 <^) zu sein
scheinen. So haben die Zeigefinger beider Hände dicht nebenein-
ander gehalten bei den Indianern wie bei unsern Taubstummen zu-
Symbolische Gebärden. i8g
nächst die allgemeine Bedeutung ""zweier Gefährten . Von da aus
geht die Gebärde in ""Geschwister' und 'Gatten' über. In den beiden
letzteren Fällen werden aber auch zuweilen Zeige- und Mittelfinger
oder auch Zeigefinger und Daumen gebraucht. Hier steht dann mit
diesen Gebärden ein in Neapel viel gebrauchtes Zeichen (Fig. 31/)
in naher Beziehung, welches, der *"Kuß des Daumens und des
Zeigefingers' genannt, die ""Liebe', die 'Ehe' oder die 'Ehegatten'
bedeutet. Tritt bei der vorangegangenen Gebärde zu der in der
Vereinigung der beiden Finger gelegenen Symbolik der engen
Gemeinschaft noch durch den Gebrauch verschiedener Finger die
Andeutung eines Wertimterschiedes , so gewinnt nun dieser letztere
seinen besonderen Einfluß in den mannigfachen Verwendungen,
welche die Gebärdensymbolik von dem .Gegensatze des Daumens
und des kleinen Fingers macht. 'Stark' und 'schwach', 'gut' und
'böse', und dann in einer weiteren Übertragung das starke und das
schwache Geschlecht, also 'Mann' und 'Frau' oder 'Bruder' und
'Schwester', werden so durch den stärksten und den schwächsten
Finger ausgedrückt.
Neben diesen Gebärdensymbolen, die, weil sie auf allgemein-
gültigen Assoziations- und Apperzeptionsbedingungen beruhen, in
ähnlichen oder verwandten Gestaltungen weitverbreitet vorkommen,
gibt es nun noch andere, beschränktere, die aus besonderen An-
schauungen hervorgegangen sind. Ein charakteristisches Beispiel hier-
für ist das neapolitanische Zeichen für 'Gerechtigkeit' (Fig. 31 e), das
in der Fingerstellung besteht, mit der man, um die freie Bewegung
der Wagebalken nicht zu hindern, eine Wage zu halten pflegt. Man
hat in dieser Gebärde offenbar nichts anderes als eine pantomimische
Nachahmung der symbolischen Darstellungen der Justitia in der
bildenden Kunst zu sehen. Eine andere neapolitanische Gebärde
(Fig. 3 1 £■) erinnert an die obenerwähnte symbolische Bedeutung
des kleinen Fingers: so verbreitet diese, so singulär ist aber wohl
jene besondere Anwendung, bei der die beiden kleinen Finger um-
einander geschlungen werden, als konventionelles Zeichen für 'Falsch-
heit'. Wahrscheinlich liegt hier, abgesehen von der allgemeinen
Symbolik der kleinen Finger, noch in der Verschlingung derselben
eine weitere, das Anschmiegen des falschen Freundes versinnlichende
Gebärde. In dieser Beziehung bildet ein indianisches Zeichen für
jQQ Die Gebärdensprache.
'Freundschaft', das in der analogen VerschlingTang der beiden Zeige-
finger besteht (Fig. 32 /), das genaue Gegenbild: wie die enge Ver-
bindung der Zeigefinger hier die -wahre, so symbolisiert dort die
der kleinen Finger die falsche Freundschaft. Diese Freundschafts-
o-ebärde in / ist übrigens nur eine Verstärkung des obenenvähnten
Symbols der nebeneinander gehaltenen Zeigefinger, von der eine
andere Modifikation eine in k mitgeteilte australische Gebärde für
Freundschaft ist. Als Seitenstück zur Justitia mag endlich noch der
'Diebstahl' envähnt werden. Als plastische Gebärde, gleichzeitig das
Ergreifen und das Verbergen eines Gegenstandes unnachahmlich an-
deutend, kommt das in d (Fig. 31) wiedergegebene Zeichen, ähn-
lich wie das obige Falschheitssymbol, wohl nur in der Heimat des
plastischen Gebärdenspiels, im Neapolitanischen, vor. Anderwärts
wird der gleiche Begriff, wie die meisten, die sich auf sinnlich wahr-
nehmbare Handlungen beziehen, durch zeichnende Bewegungen aus-
gedrückt: so bei den Taubstummen durch die Bewegung des Weg-
nehmens und Einsteckens, bei den Indianern durch eine Greifbewegung
mit darauf folgendem Verschlusse der rückwärts bewegten Hand, ein
Symbol, das die beiden Vorstellungen des Ergreifens und Aneignens
wiederum anschaulich verbindet, eben darum aber auch, gleich der
erwähnten Gebärde der Taubstummen, noch mehr den unmittelbar
nachbildenden als den symbolischen Gebärden zugehört^). Erst die
Einschränkung auf die Plastik der Hand gibt der Gebärde d Fig. 3 1 ,
da sie nur einen einzehien, an und für sich mannigfacher Deutiuigen
fähigen Zug herausgreift, einen symbolischen und gleichzeitig einen
konventionellen Charakter. Das nämliche gilt in noch höherem Maße
von einigen Indianerzeichen, die in ;// und n der Fig. 32 wiederge-
geben sind : in ist das bei den Eingeborenen Nordamerikas weit ver-
breitete Zeichen für 'Tausch und Handel'. Man könnte geneigt sein,
es, etwa ähnlich wie das mit den beiden Zeigefingern ausgeführte
Freundschaftssymbol /, fiir einen ursprünglichen s}-mbolischen Be-
standteil der Gebärdensprache zu halten. Aber eine andere Inter-
pretation liegt hier näher. Zwei sich kreuzende Striche sind in der
Bilderschrift der Indianer das übliche Zeichen für 'Tausch'. Da die
Gebärde vi wahrscheinlich späten Ursprungs ist, so darf man daher
Malleiy a. a. O. S. 293, Flg. 75.
Unbestimmtheit der Begriffskategorien. igi
vermuten, daß sie in einer Übertragung dieses Zeichens in die Ge-
bärdensprache besteht').
Haben sich einmal auf solche Weise, sei es durch die direkte
Entwicklung aus nachbildenden Gebärden, sei es, wie im letzten
Beispiel, durch die Herübernahme aus der Bilderschrift, Symbole von
relativ abstrakter Bedeutung entwickelt, so können sich nun aber
weiterhin an sie andere anschließen, die von vornherein symbolisch
gemeint sind. Die so entstehenden Zeichen tragen dann freilich
auch stets das Gepräge einer willkürlichen Erfindung, nicht einer
natürlichen Entwicklung, oder diese greift doch höchstens insofern
ein, als solche künstliche Gebärden von natürlich entstandenen aus-
zugehen pflegen. In diesem Sinn ist z, B. das Zeichen n (Fig. 32)
aufzufassen, das bei den Indianern in der Bedeutung von 'Kauf'
gebraucht wird, und das offenbar eine erfundene Abänderung der
Gebärde m ist.
III. Vieldeutigkeit und Bedeutungswandel der Gebärden.
I. Unbestimmtheit der Begriffskategorien.
Nach einer oft gemachten Bemerkung soll die Gebärdensprache
aller und jeder grammatischen Kategorien entbehren. Sie habe
weder Wortbiegungen noch irgendwelche Merkmale, die uns er-
kennen lassen , ob ein bestimmtes Zeichen als Substantivum , Ad-
jektivum oder Verbum gebraucht werde; von einer Unterscheidung
der Partikeln könne schon deshalb nicht die Rede sein, weil die in
diesen Wortformen ausgedrückten abstrakteren Begrififsbeziehungen
der natürlichen Gebärdensprache überhaupt mangelten"^).
An dieser Behauptung ist jedenfalls richtig, daß es besondere
formale Kennzeichen nicht gibt, durch die irgendeine Gebärde einer
der Wortkategorien zugeordnet würde, die uns aus den entwickel-
teren Lautsprachen geläufig sind. Aber Steinthal selbst hat schon
i) Über den mutmaßlichen Ursprung des Zeichens in der Bilderschrift vgl.
unten V, 2.
2) Steinthal, Über die Sprache der Taubstummen, in Prutz' und Wolfsohns
Deutschem Museum, I, 1851, S. 919 ff. Tylor, Forschungen über die Urgeschichte
der Menschheit, S. 20 ff.
102 Die Gebärdensprache.
bemerkt, daß jene formale Unterscheidung auch nicht für alle
Lautsprachen zutrifft, ohne daß darum die Unterscheidung der
Begriffe selbst fehlt. Vielmehr ergibt sich in solchen Fällen die
Stellung dieser im allgemeinen unzweideutig aus dem Zusammenhang
der Rede. Eben weil sie dies tut, konnte sie auch bekanntlich ge-
wissen Sprachen, die sie einst besaßen, wieder verloren gehen. Hier
sind also die logischen Kategorien vorhanden; dem Worte selbst
fehlen aber die Merkmale, an denen seine Zugehörigkeit zu einer
solchen zu erkennen ist.
Wenden wir nun diese Gesichtspunkte auf die Gebärdensprache
an, so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß auch in ihr ge-
wisse logische Kategorien zur Entwicklung gelangen, daß aber
diese nur teilweise durch Hilfsmittel, die den grammatischen Unter-
scheidungen analog sind, nämlich durch besondere Modifikationen
der Gebärden selbst ausgedrückt werden. Dagegen ergeben sie
sich durchweg auch hier aus dem Zusammenhang und der Aufein-
anderfolge der einzelnen Zeichen. Sodann erleidet in diesem Falle
die kategoriale Unterscheidung dadurch noch eine wesentliche Ein-
schränkimg. daß sich die natürliche Gebärdensprache erstens vor-
zugsweise auf Begriffe mit sinnlich anschaulichem Inhalt, und
daß sie sich zweitens ausschließlich auf solche Begriffe erstreckt,
die in den drei logischen Grundkategorien der Gegenstands-,
Eigenschafts- und Zustandsbegriffe enthalten sind. Hierbei sind
übrigens unter dem letzteren Ausdruck nicht bloß dauernde, son-
dern auch veränderliche und wechselnde Zustände, also \^orgänge
und Handlungen, zu verstehen. Alle Merkmale der Gebärdensprache
beweisen, daß diese drei Begriffsformen stets und in jedem einzelnen
Gedankenausdruck auseinandergehalten werden, daß aber außer ihnen
keinerlei logische Unterscheidungen vorkommen. Wo man Begriffe
der grammatischen Hilfskategorien nach den in der Lautsprache
ausgebildeten Wortformen, also Präpositionen. Konjunktionen, ab-
strakte Adverbien, erwarten müßte, da fehlen diese vollständig, oder
vielmehr: statt ihrer finden sich konkrete Vorstellungen, die wieder-
um auf jene drei Hauptkategorien zurückgeführt werden können.
Auch die drei Begriffsformen der Gegenstände. Eigenschaften
und Zustände werden freilich im allgemeinen nicht durch die Ge-
bärde als solche unterschieden. Sie werden aber srleichwohl ebenso
Unbestimmtheit der Begriffskategorien. jq2
bestimmt wie in der Lautsprache in ihrer logischen Kategorie ge-
dacht. In manchen Fällen ist schon aus der Art, wie die Gebärde
selbst ausgeführt wird, hr allgemeiner Begrififscharakter zu erkennen.
Deutlicher geschieht dies jedoch durch besondere Hilfs gebärden,
die den Hauptgebärden beigefügt werden, und die man, da sie nur
die logische Form des Begriffs, zu dem sie hinzutreten, andeuten,
immerhin den reinen Formelementen der Lautsprachen vergleichen
kann. Sie unterscheiden sich von ihnen allerdings dadurch, daß
sie, außer in dieser bloß formgebenden Bedeutung, noch als selb-
ständige Zeichen vorkommen. Auch können solche Hilfsgebärden
die verschiedensten Grade der Selbständigkeit darbieten, von einer
bloß leisen Nuancierung der Hauptgebärde an bis zur Verbindung
zweier ursprünglich selbständiger Ausdrucksformen, die nur durch
ihre momentane Verbindung zu Zeichen eines einzigen Begriffs
werden. So kann in der Gebärdensprache des Taubstummen die
Berührung eines Zahns mit dem Zeigefinger in einer vierfachen Be-
deutung vorkommen : erstens für den '^Zahn'' selbst, sodann für einen
der beiden Eigenschaftsbegriffe Veiß' oder ''hart', und endlich für
einen harten Gegenstand, z. B. einen 'Stein'. Die Art, wie die Ge-
bärde ausgeführt oder mit determinierenden Hilfsgebärden verknüpft
wird, unterscheidet aber alle diese Bedeutungen leicht voneinander.
Ist der 'Zahn' gemeint, so genügt eine leise Berührung desselben.
Soll die gleiche Bewegung den Begriff 'weiß' ausdrücken, so wird
möglichst die ganze Reihe der Zähne gezeigt und zugleich das
Auge mit strahlendem Ausdruck geöffnet, um den hellen Licht-
eindruck anzudeuten. Für 'hart' besteht die Gebärde in einem deut-
lichen Klopfen des Zeigefingers gegen einen der Schneidezähne.
Ist endlich der 'Stein' gemeint, so wird der Bewegung für hart die
des Werfens als nähere Bestimmung beigefügt. Ähnlich kann die
Berührung der Lippe sowohl die 'Lippe' wie die Eigenschaft 'rot'
bedeuten. Im ersten Fall wird, w^enn erforderlich, nach der Aus-
führung der hinweisenden Gebärde die Lippe selbst noch zwischen
Daumen und Zeigefinger gefaßt. Wird die Hand mit aufwärts
gekehrter Hohlhand vom Boden her nach oben bewegt, so kann dies
die Tätigkeit des 'hebens' oder einen gehobenen Gegenstand, ein
'Gewicht', oder auch die Eigenschaften 'leicht' oder 'schwer' be-
deuten. Wird die Tätigkeit des 'hebens' in der Regel durch mehrere
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. I3
ig^ Die Gebärdensprache,
aufeinander folgende Bewegungen angezeigt, so genügt die einmalige
Gebärde, um "^Gewicht' auszudrücken; "^leicht* bedeutet die Hebe-
bewegung, wenn sie rasch und mit einem heiteren Ausdruck, "^schwer',
wenn sie langsam und mit dem mimischen Zug der Anstrengung
ausgeführt wird. Eine hinweisende Bewegung gegen den Himmel
kann den "^Himmel' selbst im physischen, oder sie kann ihn im
übertragenen religiösen Sinne, das "^Jenseits', ausdrücken, oder sie
kann, als eine weitere Variation dieser Bedeutung, auf 'Gott' be-
zogen werden, oder sie kann endlich auch die Farbe 'blau' be-
zeichnen. Im ersten dieser Fälle wird die Gebärde im allgemeinen
mit einer gleichgültigen Miene ausgeführt, im zweiten mit dem
Ausdruck der Andacht, im dritten unter Hinzufügung der Gebets-
gebärde, im vierten mit dem begleitenden mimischen Ausdruck der
Heiterkeit. Verfolgt man in dieser Weise die eine gegebene Ge-
bärde näher determinierenden Ausdrucksbewegungen, so dürften
vielleicht nur wenige Fälle zurückbleiben, wo trotz verschiedener
Bedeutungen der Ausdruck ein ganz übereinstimmender ist.
Am häufigsten bestehen solche Fälle von wirklicher Vieldeutig-
keit darin, daß Tätigkeiten und die durch sie hervorgebrachten Er-
zeugnisse, Gegenstände und die mit ihnen vorgenommenen Hand-
lungen nicht unterschieden werden. So bedeutet die Gebärde des
Ausstreuens mit Daumen und Zeigefinger ebensowohl diese Hand-
lung selbst wie ein auszustreuendes Pulver, in der Regel das aus
dem täglichen Gebrauch bekannteste, das 'Salz'. Die Gebärde des
Trinkens mit der ähnlich einem Becher geschlossenen Hand be-
zeichnet nicht nur die Handlung 'trinken', sondern auch das 'Ge-
tränk', namentlich das häufigste der Getränke, das 'Wasser'. Werden
Gebärden aus mehreren zusammengesetzt, dadurch, daß zu einer
Hauptgebärde weitere, näher determinierende hinzutreten, so steigert
sich meist noch ihre Vieldeutigkeit. Denn ein solcher Zusammen-
hang läßt unbestimmt, welche Gebärde der eigentliche Träger der
logischen Kategorie sei. Führt z. B. der Taubstumme zuerst die
Bewegung des Mahlens an einer fingierten, auf dem Schöße ge-
haltenen Kaffeemühle, und dann die des Trinkens aus, so kann
entweder das 'Mahlen des Kaffees' oder das 'Trinken von Kaffee'
oder auch der 'Kaffee' selbst gemeint sein. Im ersten dieser
Fälle ruht demnach auf der ersten Gebärde der Hauptbegriff, im
Unbestimmtheit der Begriffskategorien. jqe
zweiten auf der zweiten, im dritten haben beide Gebärden eigentlich
einen bloß determinierenden Charakter, während der Gegenstand
zu den Handlungen, die ihn andeuten, hinzugedacht wird. Eine
ähnliche vieldeutige Zusammensetzung ist die folgende. Wenn der
Indianer Eßbewegungen und gleichzeitig mit dem Zeigefinger die
schneidende Bewegung eines Messers vor dem Munde nachahmt, so
hängt diese Gebärde mit der Sitte der Indianer zusammen, den zu
verschluckenden Bissen erst, wenn ihn die Zähne erfaßt haben, von
einem größeren Fleischstück abzuschneiden. Sie kann demnach
entweder die durch die Bewegung ausgedrückte Handlung, das 'Ab-
schneiden des Fleisches^, oder sie kann "^essen^, sie kann aber auch
"^Fleisch^ und eventuell sogar 'Messer' bedeuten. Diese Beispiele
zeigen, daß es im allgemeinen zwei Momente gibt, die bei solchen
Kombinationen die Mehrdeutigkeit befördern. Das erste besteht
darin, daß eine und dieselbe Gebärde in der nämlichen Verbindung
einen verschiedenen logischen Sinn haben kann, indem sie bald
Hauptbegriff, bald bloß determinierendes Begriffselement ist. Das
andere ist dies, daß jede Gebärde, die eine Handlung andeutet, in
fast unbegrenzter Weise als Stellvertreterin für Gegenstandsbegriffe
gebraucht wird, die mit jener Handlung in Beziehung stehen. Denn
es kommen nicht bloß solche Übergänge vor, bei denen zwar die
logische Kategorie wechselt, die Grundbedeutung der Vorstellung
aber dieselbe bleibt; sondern, wo dies irgend durch häufig geübte
Assoziationen nahegelegt ist. da kann der Übergang möglicher-
weise auf ganz verschiedene Gegenstandsbegriffe erfolgen. In allen
solchen Fällen ist es natürlich nur noch der Zusammenhang der
Vorstellungen, der die wirklich gemeinte Bedeutung feststellt.
Bietet diese Übertragung von Gebärden, die an sich Handlungen
oder Zustände ausdrücken, auf Gegenstandsbegriffe eine nicht zu
verkennende Analogie mit dem uns aus der Lautsprache geläufigen
Übergang von Verbalformen in substantivische Bildungen, nur mit
dem Unterschied, daß die Gebärdensprache schrankenloser und nach
beliebig wechselnden Assoziationen solche Übertragungen ausführt,
so fehlt es nun auch, ähnlich wie in der Lautsprache, an dem um-
gekehrten Übergang nicht; nur daß er hier wie dort seltener vor-
kommt. Auch er ist aber wieder in der Gebärdensprache durch
die Freiheit ausgezeichnet, mit der er sich, nur bestimmt durch
ig6 Die Gebärdensprache.
eingeübte Assoziationen, vollzieht. Während die zeichnenden Ge-
bärden ausschließlich das Gebiet bilden, auf dem sich Übergänge
der ersten Art abspielen, sind es durchgängig die plastischen,
die eine umgekehrt gerichtete Verschiebung der Begriffe vermitteln.
Dies liegt, wie kaum bemerkt zu werden braucht, in der ursprüng-
lichen Natur dieser beiden Formen begründet. Die natürlichste
Nachbildung einer Handlung ist selbst eine Handlung. Sie kann
also in adäquater Weise nur durch eine zeichnende Gebärde aus-
geführt werden, die eben eine vor dem Auge sich vollziehende
Handlung ist. Der Gegenstand dagegen läßt an sich eine doppelte
Art der Nachbildung zu : einmal eine solche durch die Handlung,
die ihn hervorbringt, also wiederum durch die zeichnende Gebärde;
dann aber durch das plastische Bild, das seine ruhende Form zeigt.
Hierin ist unmittelbar der psychologische Grund aufgedeckt, der den
Übergang der zuständlichen in die gegenständliche Bedeutung einer
Gebärde zum allgemeineren macht. Immerhin läßt die fast unbe-
grenzte Assoziierbarkeit der Vorstellungen auch die umgekehrte
Übertragung von der plastischen Gebärde aus in der mannigfaltigsten
Weise zu. Dabei kann unterstützend mitwirken, daß gerade hier
überkommene Tradition und konventionelle Symbolik eine größere
Rolle spielen, wobei dann zugleich die einzelne Gebärde unter Um.-
ständen einen ganzen Satz andeuten kann. So gebraucht der Nea-
politaner die mit der Hand gebildete plastische Gebärde der Flasche
[d Fig. 26) häufiger, um 'trinken', als um ''Wein'* oder 'Flasche' aus-
zudrücken. Zumeist aber steht sie an Stelle des Satzes 'ich will
jetzt trinken' oder der Aufforderung 'laß uns trinken'. Das Zeichen
für Diebstahl [d Fig. 31) kann ebensogut wie den 'Dieb' oder den
'Diebstahl' auch die Mitteilung bedeuten, daß gestohlen worden sei,
oder daß jemand zu stehlen beabsichtige. Ähnlich verhält es sich
mit vielen Indianergebärden. Namentlich die symbolischen Gebärden
sind auf diese Weise in der Regel vieldeutig und vielsagend zugleich,
da sie oft nur den Hauptbegriff eines Gedankens enthalten, dessen
Nebenbestandteile unausgesprochen bleiben und dabei mannigfach
variieren können. Hierin kommt übrigens nur in gesteigertem Maß
eine allgemeine Eigenschaft der Gebärdensprache zum Ausdruck.
Diese ist stets eine Art Abbreviatursprache: sie eilt über alle die
Teile des Gedankens hinweg, die sich aus dem Zusammenhang von
Unbestimmtheit der Begriffskategorien. ig-^
selbst ergeben, während sie auf der andern Seite nicht minder durch
Wiederholung des gleichen Begriffs in verschiedener Form etwa
möglichen Mißverständnissen zu begegnen sucht. So ist sie gleich-
zeitig kürzer und weitläufiger als die Lautsprache.
Mit diesen Eigenschaften hängt noch eine andere zusammen, durch
die sich die natürliche Gebärdensprache von den meisten Versuchen
ihrer künstlichen Weiterbildung scheidet. Sie liegt in der Beschrän-
kung auf die drei logischen Hauptkategorien. Alle näheren Be-
stimmungen der Gegenstands-, Eigenschafts- und Zustandsbegriffe
bleiben dahingestellt. Die Gebärden als solche bezeichnen in ihrer
Aufeinanderfolge lediglich eine Reihe von Vorstellungen, deren jede,
wie sie durch ein anschauliches Zeichen ausgedrückt wird, so auch
für sich allein anschaulich gedacht werden kann. In welchen logi-
schen, räumlichen oder zeitlichen Beziehungen die Vorstellungen
zueinander stehen, das lassen jene Zeichen nicht erkennen. Solche
Beziehungen können nur dem Zusammenhang entnommen werden,
in den sie durch ihre Aufeinanderfolge treten. So ist die Erzählung
eines vergangenen Ereignisses von der eines gegenwärtigen Ge-
schehens oder von der Mitteilung einer bevorstehenden Handlung
im allgemeinen nicht zu unterscheiden. Nur wenn derartige Zeit-
begriffe selbständige Gedankeninhalte bilden, können sie durch
symbolische Zeichen ausgedrückt werden, indem dann die früher
erwähnten räumlichen Versinnlichungen durch hinweisende Gebärden
für sie eintreten (S. i6i). Davon abgesehen verwandelt aber die
Gebärdensprache jedes Ereignis in ein unmittelbar gegenwärtiges.
Hierauf beruht zum Teil ihre eigentümliche Lebendigkeit. Sie macht
den Redenden ebenso Avie jeden andern gewissermaßen zum Mit-
erlebenden alles dessen, was sie ausdrückt. Selbst da, wo die drei
Zeitstufen räumlich symbolisiert werden, pflegt sie daher den Be-
griff, so weit es nur immer geschehen kann, konkret zu gestalten,
indem sie durch die besondere Art der Bewegungen andeutet, ob
ein Ereignis in naher oder ferner Vergangenheit liege, ob es in
naher oder ferner Zukunft geschehen werde. Der Indianer liebt es
in solchen Fällen sogar, die Zahl der Tage, Monate oder Jahre,
die verflossen sind oder verfließen sollen, durch besondere Ge-
bärden anzugeben. Auf diese Weise nähern sich diese Ausdrucks-
formen der Zeitstufen selbst schon der Darstellung der Arten des
igS Die Gebärdensprache.
Zeit Verlaufs, die eine überaus charakteristische Seite der Gebärden-
mitteilung ausmacht. Will der Taubstumme eine Handlung er-
zählen, so begnügt er sich nicht zu berichten, daß sie geschehen
sei, sondern er schildert in der Regel, wie sie geschehen ist. Die
mit Zeigefinger und Mittelfinger der rechten Hand auf dem linken
Vorderarm nachgeahmten Gehbewegungen, die den Begriff des Gehens
wiedergeben, werden also entweder schnell oder langsam, bald mit
dem mimischen Ausdruck der Hast, bald mit dem der Bedächtig-
keit ausgeführt. Oder die gleiche Bewegung wird mehrmals wieder-
holt, in hin- und rückwärts gekehrter Richtung. Ebenso verbinden
sich mit den Gebärden für tragen, fahren, arbeiten, einsammeln,
tauschen, kaufen und andern sehr häufig Modifikationen der zeich-
nenden Bewegung selbst oder des begleitenden mimischen Ausdrucks,
die ein Bild der Art des geschilderten Tuns zu geben suchen.
Ahnlicher sinnlicher Ausdrucksmittel bedient sich die Gebärden-
sprache für diejenigen Gedankenelemente, die unsern abstrakten
Partikeln entsprechen. So wird der in der Präposition liegende
Begriff, wenn er ein räumliches Verhältnis einschließt, durch eine
hinweisende Bewegung bezeichnet. Ist der Gegenstand selbst, der
in eine räumliche Beziehung zu einem andern gebracht werden soll,
im Sehbereich anwesend, so drückt dann eine und dieselbe Ge-
bärde beides zugleich, den Gegenstand und seine Beziehung aus.
So kann der Taubstumme *^die Katze auf dem Dache' möglicher-
weise in vierfacher Form wiedergeben, je nachdem der ganze Inhalt
dieser Verbindung oder nur ein Teil oder gar nichts von ihr in der
unmittelbaren Anschauung vorhanden ist. Im ersten Fall bezeich-
net die hinweisende Gebärde den ganzen Zusammenhang mit einem
Male. Im letzten wird zuerst die Katze durch irgendeine mit-
bezeichnende Gebärde angedeutet, z. B. durch Nachahmung ihres
Schnauzbartes am eigenen Munde und des Kratzens mit den zu
Krallen gekrümmten Fingern, dann werden die Umrisse eines Giebel-
daches in der Luft beschrieben, und endlich wird mit dem Zeige-
finger nach oben gezeigt, gleichsam 'Katze Dach oben'. Ebenso
können die andern räumlichen Beziehungen, wie sie den Präposi-
tionen zw, aus, durch, von usw. innewohnen, durch hinweisende Be-
wegungen ausgedrückt werden. Aber jene wichtigen Begriffsmeta-
morphosen, durch die unsere Präpositionen Ausdrucksmittel der
Begriffsübertragungen und Bedeutungswandel der Gebärden. i gg
mannigfaltigsten logischen Beziehungen geworden sind, macht die
Gebärdensprache nicht mit. Wo logische oder kausale Beziehungen
überhaupt vorkommen, da überläßt sie es entweder dem Zusammen-
hang der Vorstellungen, sie angemessen zu interpolieren, oder sie
ersetzt sie durch konkrete Versinnlichungen. In der Gebärdensprache
berichtet man nicht, irgendeine Person sei wegen Diebstahls' ge-
henkt worden, sondern man fügt der Bezeichnung der Person die
Gebärde für Dieb oder Stehlen (z. B. Fig. 31 ä] und die der Stran-
gulation, die Andeutung eines um den Hals gelegten Strickes, bei.
Dieses Beispiel könnte in der Lautsprache ebensogut durch eine
Satzverbindung ausgedrückt werden: 'er wurde gehenkt, weil er
stahl'. In der Tat ist das gleiche Verfahren auch da maßgebend,
wo wir die sinnverwandten Konjunktionen anwenden würden. In
der Gebärdensprache heißt es nicht: *^er starb, weil er dem Trunk
ergeben war', sondern: *^er trank, er trank, er starb', oder eigentlich,
da es in ihr keine Flexionsformen des Verbums gibt: 'trinken, trin-
ken, sterben'. Die Gebärde des Trinkens wird mehrmals nachein-
ander ausgeführt, dann als Zeichen für Tod der Kopf mit geschlos-
senen Augen auf die rechte Hand gelegt und eine hinweisende Ge-
bärde nach dem Boden hinzugefügt : 'schlafen da unten'. Wo endlich
in der Lautsprache abstrakte Adverbien zu Verbalformen hinzutreten,
um in denkbar kürzester Weise bestimmte Veränderungen des Verbal-
begriffs hervorzubringen, da löst, ganz im Sinne dieser Ausdrucks-
mittel für die Beziehungsformen der Begriffe, die Gebärdensprache
entweder die Verdichtung des Gedankens in die konkreten Einzel-
vorstellungen auf, oder sie überläßt wiederum dem Zusammenhang
die stillschweigende logische Ergänzung.
2. Begriffsübertragungen und Bedeutungswandel der Gebärden.
Die Bewunderer der natürlichen Gebärdensprache, wie sie vor
allem unter den Taubstummenlehrern gefunden werden, pflegen von
ihr zu rühmen, sie sei nicht nur eine Universalsprache, sondern sie
zeichne sich auch ganz besonders durch eine jedes Mißverständnis
ausschließende Eindeutigkeit der Begriffssymbole aus. Synonyma
sollen in ihr weeen der unmittelbaren sinnlichen Anschaulichkeit und
200 ^^^ Gebärdensprache.
Verständlichkeit der Gebärden völlig ausg-eschlossen sein'). Daß
diese Meinung bei der Beobachtung der Taubstummen überhaupt
entstehen konnte, das ist für den eigentümlichen Charakter dieses
Zweiges der Gebärdensprache immerhin bezeichnend. Bei solchen
Formen derselben, die sich, wie die der Neapolitaner oder der nord-
amerikanischen Indianer, durch viele Generationen hindurch entAvickelt
haben, würde sie jedenfalls unmöglich gewesen sein. Hier fällt die
ungeheure Vieldeutigkeit vieler Zeichen sofort in die Augen. Beson-
ders von den plastischen Gebärden, die durchweg meist älteren Ur-
sprungs sind und zu einer konventionellen Am\endung hinneigen, läßt
sich wohl sagen, daß sie. im Gegensatz zu jener Behauptung, im
allgemeinen vieldeutiger sind, als Worte zu sein pflegen.
IVIan erkennt leicht, daß diese Unterschiede mit der v-erschiedenen
psychologischen Natur der Gebärden zusammenhängen. Am wenigsten
vieldeutig sind die unmittelbar nachbildenden, vor allem die zeich-
nenden. Hier ist eine IMehrdeutigkeit nur innerhalb der Grenzen der
oben besprochenen kategorialen Verschiebungen möglich. Daß für
die Gebärde als solche BegTift'e wie 'geben^ und "^Gabe" oder wie
*Dieb\ "^Diebstahl' und 'stehlen und ähnliche zusammenfallen, das ist
aber in Wahrheit keine Vieldeutigkeit der begrifflichen Grundbedeu-
tung, sondern eine formale Eigenschaft der Gebärdensprache, da diese
alle Modifikationen eines Begritis. die durch seine Verbindung mit
andern Begriffen zustande kommen, überhaupt nicht unterscheidet.
Daß dagegen die Grundbedeutung einer nachbildenden Gebärde
völlig eindeutig sein muß. wenn das Bild die Vorstellung, die es zu
erzeugen strebt, wirklich her\'orbringen soll, ist einleuchtend. Mit der
Umrißzeichnung eines Hauses kann immer nur ein Haus, mit dem
mimischen Ausdrucke des Zorns nur die Gemütsbewegimg des Zorns,
mit der nachahmenden Bewegung des Gehens nur die Handlung des
Gehens gemeint sein. Da die Gebärden der Taubstummen ganz vor-
zugsweise zu den zeichnenden Gebärden gehören, so erklärt es sich
also hieraus, daß gerade bei ihnen die angebliche Eindeutigkeit der
Gebärden gerühmt \\-ird. Aber schon bei der plastischen Unterform
der nachbildenden Zeichen o-üt das nicht mehr in gleichem Grade,
^) Einige Äußerungen dieser Art hat Steinthal zusammengestellt, Prutz und
Wolfsohns Deutsches Museum. I. S. 906.
Begriffsübertragungen und Bedeutungswandel der Gebärden. 201
weil hier die Vorstellung und ihre Bedeutung viel weiter voneinander
entfernt liegen, daher denn auch in diesem Fall eine plastische Hand-
gebärde von gleicher Beschafifenheit sehr verschiedene Bedeutungen
haben kann, wie ein Blick auf die Figg. 27 und 28 lehrt. Eine noch
größere Variation der Bedeutungen ist bei den mitbezeichnenden
Gebärden möglich. Während die unmittelbar nachbildenden in der
Regel nur die logische und grammatische Kategorie unbestimmt lassen,
in der ein gewisses Zeichen gedacht wird, erstreckt sich bei den mit-
bezeichnenden die Möglichkeit des Wechsels schon über den ganzen
Umkreis der Vorstellungen, die in irgendeiner leicht assoziierbaren
psychologischen Beziehung zu der ausgedrückten Eigenschaft oder
Handlung stehen. So kann die Gebärde des Hutabnehmens einen
*Mann', sie kann aber auch eine 'Begrüßung"" oder in einem etwas
abstrakteren Sinne die 'Höflichkeit' bedeuten. Die Gebärde des
Riechens an einem Gegenstande, durch die Bewegung von Daumen
und Zeigefinger in der Stellung, in der man einen Blumenstengel zu
halten pflegt, gegen die Nase hin ausgeführt, kann 'Blume', 'Geruch',
oder in anderem Zusammenhange 'Schnupftabak', sie kann aber auch
als unmittelbar zeichnende Bewegungen 'riechen' ausdrücken usw.
Am weitesten reicht endlich der Kreis möglicher Bedeutungen
bei den symbolischen Gebärden. Hier liegt in vielen Fällen eine
Mehrdeutigkeit schon darin begründet, daß die nämliche Gebärde
auch in ihrem ursprünglichen, nicht symbolischen Sinne gebraucht
werden kann. Freilich ist das nur bei den sekundären Formen
der Fall (S. 177), und selbst hier ist ein solches Schwanken zwi-
schen unmittelbarer Nachbildung und Symbol im ganzen selten,
weil meistens die symbolische Bedeutung die ursprüngliche völlig
verdrängt hat, wenn auch die letztere in der Form einer leisen
Assoziation immer noch nachklingt. Man denke z. B. an plastische
Gebärden wie die des gehörnten Kopfes (Fig. 26 ß), des Eselskopfes
(ebenda b und c\ an die pantomimische Andeutung der Eselsohren
u. dgl. Weit vielgestaltiger ist diejenige Verzweigung der Bedeu-
tungen, die entsteht, wenn entweder eine und dieselbe Gebärde
von Anfang an verschiedene symbolische Anwendungen neben-
einander hat, oder wenn sich aus einer bestimmten symbolischen
Beziehung eine andere entwickelt. Das erstere kommt häufiger bei
primären, das letztere bei sekundären Symbolen vor. Wenn z. B.
202 Die Gebärdensprache.
das offenbar primäre Symbol der beiden aneinander gelegten
Zeigefinger 'zwei Gatten', 'zwei Gefährten', 'zw^ei Geschwister' oder
endlich *^zwei Gegenstände' bedeuten kann, so läßt sich kaum sagen,
ob eine dieser Anwendungen früher gewesen sei als die andere. Wir
werden höchstens voraussetzen dürfen, da im allgemeinen die kon-
kreten Begriffe früher sind als die abstrakten, daß die Gebärde als
Symbol der reinen arithmetischen 'Zwei' später ist als ihre An-
wendung auf irgend zwei einzelne, zusammen gedachte Objekte. Da-
gegen kann man in vielen andern Fällen nicht zweifeln, daß sich
eine bestimmte symbolische Bedeutung erst aus einer früheren, eben-
falls schon symbolischen entwickelt hat. Dies trifft am häufigsten
bei sekundären Symbolen zu. Denn bei ihnen kann in der Regel
auch dann, nachdem die nachbildende Bedeutung ganz verschwunden
ist, noch eine gewisse Entwicklungsfolge bemerkt werden. Ein Kri-
terium späterer Entstehung pflegt in solchem Falle dies zu sein, daß
eine Bedeutung aus einer bestimmten andern abgeleitet werden muß,
die selbst nachweislich sekundär entstanden ist. So kann es keinem
Zweifel unterliegen, daß die Gebärde e Fig. 3 1 früher symbolisch für
'Gerechtigkeit' als für 'Strafe' gebraucht wurde, weil das sinnliche
Bild der Wage direkt zur Gerechtigkeit, deren symbolisches Attribut
jene ist, aber erst indirekt, nämlich eben durch die Gerechtigkeit als
Mittelglied, zum Begriff der Strafe führt. Das von den Indianern als
Zeichen der Frage gebrauchte Symbol (Fig. 32 z) ist offenbar von der
Bedeutung des Gebens als der unmittelbareren ausgegangen: denn
jene Bedeutung wird nur durch ihren Ursprung aus der an einen
andern gerichteten Aufforderung zu geben, mitzuteilen, also auch,
von Gegenständen auf Gedanken übertragen, seine Gedanken mit-
zuteilen, verständlich. Noch augenfälliger ist der spätere Ursprung,
falls die eine Bedeutung die andere unbedingt voraussetzt. So wenn
die Gebärde des gehörnten Kopfes einerseits eine drohende Gefahr,
anderseits aber auch Beschwörung sresren eine solche oder Schutz
vor ihr bezeichnet. Hier bilden die Begriffe : Stärke, Gefahr (die von
einer Gewalt droht), Schutz gegen Gefahr, Bitte um solchen Schutz
eine Begriffsreihe, in der im allgemeinen jedes folgende Glied das
vorangegangene fordert, und die sich daher nicht wohl anders als in
der angegebenen Folge entwickelt haben kann. In manchen Fällen,
namentlich bei sekundären Symbolen, kann es freilich auch un-
Begriffsiibertragungen und Bedeutungswandel der Gebärden. 203
sicher bleiben, welche von zwei Bedeutungen früher sei, oder ob
sie sich unabhängig aus einer und derselben Grundbedeutung ent-
wickelt haben. So mag man bei jener in Neapel in so mannigfaltigem
Sinn gebrauchten Gebärde des gehörnten Kopfes wohl zweifeln, ob
von den Bedeutungen der physischen Stärke, der Drohung, der
Gefahr eine früher sei als die andere, da sie alle möglicherweise un-
abhängig voneinander aus der ursprünglichen sinnlichen Vorstellung
des Stierkopfes entstanden sein können. Wenn endlich dasselbe
Zeichen als Symbol 'ehelicher Untreue' gebraucht wird, so darf man
diese Bedeutung wohl als eine Übertragung der sprichwörtlichen
Redensart 'einem Hörner aufsetzen' in die Gebärde oder auch als
die pantomimische Nachahmung einer in dieser Weise die Untreue
symbolisierenden Zeichnung ansehen. Die Redensart selbst soll aber
aus einem Volksglauben hervorgegangen sein, nach dem die Untreue
der Frau durch ein Hörn angezeigt werde, das ihrem Mann aus der
Stirn w^achse. Da der Ursprung dieses Volksglaubens unsicher ist
und den sonstigen Anwendungen der gleichen Gebärde wahrschein-
lich ganz ferne liegt, so läßt sich natürlich nicht entscheiden, welche
Bedeutung die ältere sei').
Auf diese Weise eröffnet vor allem der Übergang nachbildender
in symbolische Gebärden und die daran sich schließende weitere
Entwicklung die Möglichkeit zu einer wachsenden Vieldeutigkeit.
Natürlich muß aber diese Zunahme der Bedeutungen wesentlich
durch die Veränderung der Bedingungen unterstützt werden, die bei
der Tradition bestimmter Zeichen durch viele Generationen hindurch
eintreten. Darum ist die Mannigfaltigkeit der Bedeutungen sehr viel
größer bei den überlieferten, als bei den neugebildeten Formen
der Gebärdensprache. So zählt A. de Jorio von der obenerwähnten
Gebärde der 'Mano cornuta' ungefähr zwanzig Bedeutungen auf,
die zum größten Teil symbolischer Art sind, und von denen die
I) M. Heyne (Grimm, Deutsches Wörterbuch, IV, 2, Sp. 1815) führt die erwähnte
Redensart auf eine mittelalterliche Legende zurück. Doch hat die Gebärde, ebenso
wie das Sprichwort, schon im Altertum existiert. Sittl (Die Gebärden der Griechen
und Römer, S. 104) deutet jene auf die Zweiheit der Männer. Eine Nebenbeziehung
hierauf mag immerhin vorhanden sein, wie auch die von Sittl zitierten neapolitani-
schen Sprichwörter zu zeigen scheinen. Aber diese Beziehung auf die Zweiheit ist
vielleicht selbst eine sekundäre, die erst aus der Gebärde entstand.
204 ^^^ Gebärdensprache.
meisten wahrscheinlich bis in das Altertum zurückreichen^]. Indem
aber hierbei bestimmte Bedeutungen zwar nur in seltenen Fällen direkt,
um so häufiger jedoch indirekt, nach den vorhandenen Abhängig-
keitsverhältnissen der Begriffe, als hervorgegangen aus gewissen
andern Bedeutungen nachgewiesen werden können, zeigt sich die
Gebärde gerade so gut wie das Wort einem Bedeutungswandel
unterworfen. Und auch hier pflegt der Übergang auf ferner liegende
Begriffe durch Zwischenstufen vermittelt zu werden, so daß der
ganze Vorgang als eine kontinuierliche Entwicklung erscheint, bei
der die Assoziationen, durch die neue Vorstellungen mit früheren
verbunden werden, den Übergang bewirken. Dabei können diese
Assoziationen die Vorstellungen bald durch die ihnen eigentümlichen
Inhalte, bald infolge rein äußerer, zum Teil zufälliger Beziehungen
verbinden. So ist es sichtlich eine innere Beziehung der Vor-
stellungen, wenn die Gebärde der gehörnten Hand zunächst durch
die Assoziation mit der Stärke des gehörnten Tieres, des Stiers, die
physische Stärke, dann durch weitere daran geknüpfte Assoziationen
die Gewalt überhaupt, die Gefahr, die Bedrohung durch Gefahr, die
Beleidigung, endlich den Schutz vor Gefahr bedeutet. Dagegen be-
ruht es auf einem äußeren und darum in seinen besonderen Wirkungen
kaum zu berechnenden Spiel von Assoziationen, wenn die nämliche
Gebärde durch die Anlehnung an den Aberglauben von der Zeich-
nung des betrogenen Ehegatten durch das Hörn in das Symbol der
ehelichen Untreue überging. Darum steht nun aber auch diese Be-
deutung wahrscheinlich außerhalb der Reihe der sonstigen Begriffs-
entwicklungen der gleichen Gebärde , falls sie nicht etwa doch ein
Seitensproß aus dem Begriffe der Bedrohung sein sollte, der zuerst
in Beschimpfung überhaupt, dann in diese spezielle Form der Be-
schimpfung übergegangen sein könnte. Aber der Zusammenhang
mit der erwähnten sprichwörtlichen Redensart macht diese Annahme
wenig wahrscheinlich. Übrigens zeigt das Beispiel, wie leicht uns
selbst bei der Gebärdensprache die Spuren verloren gehen können,
die den Weg einer bestimmten Bedeutungsentwicklung sicher er-
kennen lassen.
Hiernach entspricht die Gebärdensprache auch darin dem allge-
^y A. de Jorio a. a. O. S. 90 ff.
Begriffsübertragungen und Bedeutungswandel der Gebärden. 205
meinen Begriff einer Sprache, daß sie keineswegs, wie die von ihr
gerühmte »Pasilalie« vermuten ließe, überall und unverändert immer
dieselbe bleibt. Vielmehr sind Gebärden wie Worte einer Bedeutungs-
entwicklung unterworfen, vermöge deren sie sich den wechselnden
Bedürfnissen des Denkens anpassen. Es muß allerdings zugestanden
werden, daß auf diesen Bedeutungswandel der Gebärden der Besitz
der Lautsprache nicht ohne Einfluß ist. Der oben berührte Zu-
sammenhang gewisser Gebärden mit sprichwörtlichen Redeweisen
bietet dafür einen augenfälligen Beleg. Auch ist ja die Veränderung
der Begriffe der Natur der Sache nach bei den aus einer längeren
Überlieferung hervorgegangenen Formen viel eingreifender als bei
den relativ neu entstandenen. Jene sind aber infolge ihrer allge-
meinen Entwicklungsbedingungen immer zugleich mit dem Gebrauch
der Lautsprache verbunden. Die Annahme, daß in solchen Fällen
der Bedeutungswandel nicht bloß durch die länger dauernde Tra-
dition, sondern nicht minder durch die Koexistenz mit der Laut-
sprache gefördert werde, läßt sich also nicht abweisen. Aber in
beschränkterem Umfang vollziehen sich solche Wandlungen doch
auch in den neuentwickelten, dieses Einflusses fast ganz entbehrenden
Formen der Gebärdenmitteilung. Wenn z.B., wie Tylor') berichtet,
in einer Berliner Taubstummenanstalt einer der Lehrer durch die
Gebärde des Armabhauens bezeichnet wurde, weil er aus Spandau
war, und eines der Kinder dort einmal einen einarmigen Menschen
gesehen hatte, so beruhte das offenbar auf einem Bedeutungswandel,
der zwei Assoziationsglieder umfaßte: erstens war die nachbildende
Gebärde für den 'Mann mit dem abgehauenen Arm' zur sekundären
symbolischen Gebärde für den 'Mann aus Spandau"* geworden, und
dann war die Bedeutung in die eines 'einzelnen Mannes aus Spandau',
des Lehrers, übergegangen. Ahnlich, wenn in der gleichen Anstalt
'Frankreich' durch die Gebärde des Kopfabschlagens bezeichnet
wurde. Hier war — eine Reminiszenz aus der französischen Revo-
lutionsgeschichte — der Begriff des Köpfens zuerst auf den geköpften
König Ludwig XVI. , und dann von diesem auf das Land überge-
gangen. Ähnliche Entwicklungen kommen überall in der Gebärden-
sprache vor, und wo etwa ein und dasselbe Zeichen in mehreren
^) Tylor. Forschungen über die Urgeschichte, S. 29 ff.
2o6 Die Gebärdensprache.
Bedeutungen auftritt, da läßt sich meist auch bei den Zeichen der
Taubstummen diese Divergenz als die Folge eines Bedeutungs-
wandels erkennen. So kann sich die Gebärde der über das Haupt
erhobenen Hand im Sinne eines in geistiger Beziehung großen,
über andere hervorragenden Mannes natürlich nur aus der sinn-
lichen Bedeutung des körperlich großen Mannes entwickelt haben.
Die Gebärde des Taktschiagens in der Bedeutung von Musik oder
Gesang kann nur aus der ursprünglicheren des Taktschiagens selbst
oder des den Takt angebenden Dirigenten hervorgegangen sein.
Ebenso in vielen andern Fällen. Nur umfaßt bei den neugebil-
deten Gebärdensprachen der Bedeutungswandel begreiflicherweise
immer bloß wenige Glieder, während sich die Erscheinungen bei
den überlieferten Formen weit mehr den entsprechenden der Laut-
sprache nähern.
Neben der allgemeinen Übereinstimmung, die Gebärden- und
Lautsprache in diesen Vorgängen darbieten, dürfen nun aber auch
die wesentlichen Unterschiede nicht übersehen werden. Zunächst
ist der Bedeutungswandel der Gebärden, sobald er nicht, wie in den
zuletzt erwähnten Beispielen, neuesten Ursprungs und einfachster Art
ist, selten direkt in der Beobachtung zu verfolgen. Eine Geschichte
der Gebärden, analog der Geschichte der Wörter, besitzen wir nicht,
da es auf ihrem Gebiet, abgesehen von zufälligen Überlieferungen
auf Kunstdenkmälern und bei früheren Schriftstellern, nichts gibt,
was der literarischen Überlieferung entspräche. Wo sich etwa, wie
bei der 'Mano cornuta', mehrere Begriffe nebeneinander erhalten
haben, da ist im allgemeinen nicht mittels geschichtlicher Über-
lieferung, sondern nur nach psychologischen Wahrscheinlichkeits-
gründen zu entscheiden, welcher der primäre, und welcher der
sekundäre sei. Sodann ist der Bedeutungswandel, so mannigfache
Übertragungen er auch in einzelnen Fällen hervorgebracht hat.
doch im ganzen genommen von beschränktem Umfang, und gerade
die wichtigsten und ursprünglichsten Gebärdeformen, die hinweisen-
den und nachbildenden, bleiben ihm fast ganz entzogen. Ersteres
erklärt sich aus der meist kurzen Lebensdauer der Gebärdensprache,
letzteres aus dem treuen Festhalten der unmittelbaren sinnlichen Be-
deutung gerade dieser ursprünglicheren Zeichen. Aber selbst bei den
symbolischen Gebärden, die dem Bedeutungswandel einen weiteren
Begriffsübertragungen und Bedeutungswandel der Gebärden. 207
Spielraum eröffnen, bedarf es offenbar besonderer Anlässe, um nach-
einander und nebeneinander zahlreiche Anwendungen des nämlichen
Symbols hervorzubringen. So hat innerhalb der neapolitanischen
Zeichensprache die gehörnte Hand (Fig. 26 «) eine sehr viel reichere
Bedeutungsentwicklung erfahren als die plastische Gebärde des Esels-
kopfes [b und c ebenda). Dieser Unterschied ist aber sichtlich davon
abhängig, daß jene schon in ihrer ursprünglichen Form, als der ge-
hörnte Kopf überhaupt, eine umfassendere Bedeutung hat, wozu dann
spezielle kulturhistorische Einflüsse hinzutreten mochten, die ihre
Wahl als Droh-, Spott- und Beschwörungsgebärde begünstigten.
Zu diesen Eigentümlichkeiten des Bedeutungswandels der Ge-
bärden kommt endlich als eine letzte, wohl am meisten bezeich-
nende die, daß er fast überall nicht als ein bloßer Wechsel,
sondern als eine Verzweigung der Bedeutungen erscheint, als
ein Ansetzen neuer Begriffe an einen vorhandenen, der daneben
erhalten bleibt. So ist von den zwanzig und mehr Bedeutungen
der süditalienischen "^Mano cornuta^ keine einzige erloschen. Am
ehesten noch findet sich die Verdunklung bestimmter, dereinst
lebendig gewesener Vorstellungen beim Übergang nachbildender in
symbolische Gebärden, indem hier die sinnliche Bedeutung zur sel-
teneren, manchmal kaum mehr gebrauchten werden kann. Doch
pflegt auch in diesen Fällen die erloschene Bedeutung aus dem
Gebrauch, aber nicht ganz aus dem Bewußtsein zu verschwinden.
So kommt die Handgebärde des Eselskopfes (Fig. 2t b und c] und
die des Eselsohres kaum noch in anderem als in symbolischem
Sinne vor; aber schwerlich wird sie jemals ausgeführt, ohne daß
die Vorstellung an den wirklichen Esel im Bewußtsein anklingt.
Ja selbst in den Fällen, wo Beziehungen auf entschwundene Ge-
bräuche oder unverständlich gewordene sprichwörtliche Redeweisen
zugrunde liegen, wie bei der Gebärde des Nasendrehens, des Ver-
schluckens einer Lüge (Fig. 30 ^), erhält sich immer noch die Nei-
gung, dem konventionell gewordenen Zeichen irgendeine anschauliche
Bedeutung unterzulegen, wenn diese auch von der ursprünglichen
abweichen mag^).
^) Die bei dem Bedeutungswandel der Gebärden wirksamen psychischen Ele-
mentarprozesse sind oben nur andeutend berührt worden. Da sie vollständig mit
den beim Bedeutungswandel der Wörter nachzuweisenden übereinstimmen, so wird
2o8 I^i^ Gebärdensprache.
V. Syntax der Gebärdensprache.
I. Gebärdenfolge der Taubstummen.
Man hat von der Gebärdensprache gesagt, daß sie »ohne Satz,
also ohne Grammatik« sei. Wenn der Taubstumme, um zu sagen
'der Vater gab mir einen Apfel', zuerst das Zeichen für 'Apfel^
dann das für 'Vater' und endlich das für 'ich' mache, ohne ein Zei-
chen für 'geben' hinzuzufügen, also: 'Apfel Vater ich', so sei das
nichts weniger als ein Satz; denn es fehle diesem Ausdruck eben
das, was das Wesen des Satzes ausmache, die eigentliche x^ussage^).
Nach dieser Auffassung würde, da die einzelne Gebärde einem Wort
äquivalent ist, eine Gebärdenmitteilung lediglich in einer Summe
einzelner Wörter bestehen; es würde ihr aber das fehlen, was die
Sprache eigentlich erst zur Sprache macht : die Verbindung zu
einem Ganzen, in welchem jeder Begriff in einem bestimmten
logischen Verhältnisse zu andern Begriffen steht.
Diese Auffassung von der ungrammatischen Natur der Gebärden-
sprache stützt sich teils darauf, daß eine dem Verbalausdruck ent-
sprechende Gebärde in manchen Fällen hinwegbleiben kann, teils
darauf, daß jene formalen Elemente, welche die Subsumtion unter
grammatische Kategorien vermitteln, hier gänzlich fehlen. Der erste
dieser Mängel ist jedoch keineswegs ein allgemeiner; er hängt mit
der allgemeinen Eigenschaft der Gebärdensprache zusammen, das
Selbstverständliche zu übergehen ; und vielleicht fällt der Verbalbegriff
nicht einmal häufiger als irgendein anderer Bestandteil der Rede
dieser Lex parsimoniae zum Opfer. Auch in dem obigen Beispiel
'Apfel Vater ich' wird ein dem Verbum entsprechender Gebärden-
ausdruck nicht immer fehlen. Wenn es eine Bitte enthält, so kann
diese in dem mimischen Ausdruck enthalten sein, der die Hinweisung
auf das Ich begleitet, und der von dem die Erzählung begleitenden
Ausdruck wesentlich abweicht. Die Sätze 'Vater gib mir einen
Apfel' und 'der Vater gab mir einen Apfel' werden also in diesem
erst bei diesem, der uns die gleichen Phänomene in viel weiterem Umfang erkennen
läßt, hierauf einzugehen sein. (Vgl. Kap. VIII.)
I) Steinthal in Prutz' und Wolfsohns Deutschem Museum, I, S. 923.
Gebärdenfolge der Taubstummen. 20g
Sinn auch bei der Gebärdenmitteilung deutlich unterschieden. Wo
aber je einmal Zweifel über den hinzuzudenkenden Verbalb egrifif
entstehen sollten, da würde der Taubstumme schwerlich versäumen,
die Handlung des Gebens selbst durch eine bezeichnende Gebärde,
etwa dadurch, daß er mit der einen Hand einen imaginären, zwischen
den Fingern gehaltenen Gegenstand in die andere legt, auszudrücken.
Dementsprechend hat denn auch die Gebärdensprache für alle die
Begriffe, die bestimmte, die verbalen Prädikate der Sätze bildende
Handlungen oder Zustände enthalten, wie gehen, tragen, schlagen,
arbeiten, lesen, hören, sehen usw., durchweg ihre besondern Aus-
drucksmittel. Die zweite angeblich die Bildung eigentlicher Sätze
verhindernde Eigenschaft, das Fehlen grammatischer Kategorien, ist,
wie wir bereits oben (S. igi f.) gesehen haben, nur partiell und in
bedingter Weise anzuerkennen. Partiell, weil ein absoluter Mangel
nur für gewisse abstrakte Redeteile zutrifft, die entweder ganz hin-
wegfallen oder durch konkrete Versinnlichungen der Begriffe ersetzt
werden. Das mag immerhin eine niedrige Entwicklungsstufe be-
zeichnen; eine Eigenschaft, durch welche die Gebärdensprache der
Fähigkeit zur Satzbildung beraubt würde, ist es nicht. Noch weniger
gilt dies von jenem relativen Mangel grammatischer Unterscheidung,
wonach die einzelne Gebärde als solche nicht erkennen läßt, welche
Stellung sie in der ganzen Mitteilung einnimmt. Denn eben hier
läßt sich die logische Kategorie, der das einzelne Zeichen zuzu-
rechnen ist, aus dem Zusammenhang unzweideutig erkennen. Da-
bei stellt es sich aber heraus, daß gerade das, was der Gebärden-
sprache angeblich fehlen soll, die Verbindung der einzelnen Vor-
stellungen zu einem Satzganzen, für sie das Hilfsmittel ist, durch das
der grammatische Wert der einzelnen Gebärden bestimmt wird.
Hieraus ergibt sich ohne weiteres, daß von einer Syntax der
Gebärdensprache mit vollem Recht geredet werden kann, insofern
eben syntaktische Stellung der Wörter und Satz zusammengehörige
Wechselbegriffe sind. Wo ein Satz existiert, da muß es auch be-
stimmte Gesetze der Wortfügung geben, und umgekehrt: wo diese
nachzuweisen sind, da ist auch der Satz vorhanden. Man muß da-
her, statt aus der indifferenten Beschaffenheit der einzelnen Gebärden
auf das Fehlen des Satzes zu schließen, vielmehr aus dem Dasein
bestimmter syntaktischer Gesetze schließen, daß auch die Gebärden-
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. I4
2 10 Die Gebärdensprache.
spräche nicht bloß aus einzelnen Zeichen, sondern aus Sätzen be-
steht. Ja der Satz spielt in ihr sogar eine größere Rolle, insofern
er es ist, der erst dem einzelnen Zeichen seine grammatische Be-
deutung verleiht. Natürlich lassen uns aber aus dem gleichen Grunde
die zumeist in der Lautsprache dem Wort anhaftenden Merkmale
seiner syntaktischen Stellung im Stich, und wir müssen diese viel-
mehr aus dem ganzen Zusammenhang des Gedankenausdruckes er-
schließen. Darum kann wohl gelegentlich die syntaktische Stellung
zweifelhaft werden, ähnlich wie dies ja übrigens auch häufig in
der Lautsprache vorkommt, namentlich wenn diese der charakteri-
sierenden Flexionselemente entbehrt. Es kann z. B. ungewiß sein,
ob ein Gegenstandsbegriff als Subjekt oder als Objekt des Satzes,
ob ein verbaler Prädikatbegriff aktiv oder passiv gedacht sei u. dgl.
Mag nun auch diese Mehrdeutigkeit wegen des Mangels aller Hilfs-
mittel syntaktischer Wortunterscheidung hier selbstverständlich etwas
größer sein als in der Lautsprache, so werden wir doch die syn-
taktischen Begriffe der letzteren schon deshalb mit vollem Recht
auch auf die Gebärdensprache übertragen dürfen, weil jene Mehr-
deutigkeit höchstens für den, an den sich die Mitteilung richtet, nie
aber für den Sprechenden selbst existiert. Für diesen hat jede Ge-
bärde ihre bestimmte Stellung im logischen Gedankenausdruck. Es
ist ihm niemals zweifelhaft, was Subjekt und was Prädikat seiner
Aussage, was Gegenstand und Attribut sei, usw.').
Über die Aufeinanderfolge der Gebärden in der natürlichen Ge-
bärdensprache der Taubstummen besitzen wir nun mehrere Auf-
i) Abgesehen von der hier angedeuteten Verwechslung des Redenden und des
Zuschauers wird dieses Verhältnis zuweilen auch noch durch die Annahme eines von
dem logischen spezifisch verschiedenen psychologischen Subjektbegriffes verdunkelt.
So von Sütterlin, Das Wesen der sprachlichen Gebilde, 1902, S. 16 f. (Vgl. dazu die
Ausführungen über das »psychologische Subjekt« unten Bd. 2, Kap. 7, III.) Schwer
begreiflich ist auch die Behauptung Delbrücks, eine Syntax der Gebärdensprache sei,
wo sie überhaupt existiere, von der Lautsprache aus eingedrungen (Grundfragen der
Sprachforschung, S. 69). Die Tatsachen beweisen genau das Gegenteil; und wenn
Delbrück selbst einmal versucht hätte , sich in der Gebärdensprache zu üben —
was nicht allzu schwer ist — , so würde ihm kaum entgangen sein, daß die unter
(3) zu erörternden psychologischen Bedingungen der Aneinanderreihung der Ge-
bärden mit unwiderstehlicher Gewalt ihre eignen, von der Lautsprache unabhängigen
Wege anweisen. Vgl. hierzu meine Schrift: Sprachgeschichte und Sprachpsycho-
lo^e, S. 41 ff.
Gebärdenfolge der Taubstummen. 2 l l
Zeichnungen von Taubstummenlehrern ^). Sie stimmen darin überein,
daß in der Regel das Subjekt des Satzes zuerst kommt, entsprechend
der gewöhnlichen Ordnung in der Grammatik der Lautsprachen.
Dagegen trennt sich die Gebärde von der im Deutschen, Eng-
lischen, Französischen und andern modernen Sprachen bevorzug-
ten BegrifFsfolge , indem sie das Attribut, sobald es ein einfacher,
in der Sprache durch ein Adjektivum auszudrückender Eigenschafts-
begriff ist, hinter den Gegenstandsbegriff stellt, zu dem es gehört,
das Objekt dagegen vor die Handlung, auf die sie sich bezieht.
Von diesen syntaktischen Regeln wird bekanntlich die zweite auch
im Griechischen und Lateinischen befolgt, wogegen die erste hier
nicht in gleicher Weise gilt, da in diesen Sprachen sowohl das
Substantivum wie das Adjektivum vorangehen kann, je nachdem
dieses oder jenes stärker betont werden soll. Der Taubstumme
sagt also nicht 'ein gewaltiger Berg', sondern ""ein Berg ein gewal-
tiger', wo im Lateinischen sowohl mons ingeris wie ingens maus
stehen könnte. Und er sagt nicht 'der Lehrer lobt den Knaben',
sondern 'der Lehrer den Knaben lobt', analog dem lateinischen ma-
gistcr puermn laudat. Einen Satz wie diesen : 'der zornige Mann
schlug das Kind', würde der Taubstumme folgendermaßen ausdrücken :
er würde zuerst auf die Person, die geschlagen hat, hinweisen, oder
sie auf andere Weise andeuten, dann den mimischen Ausdruck des
Zorns annehmen, hierauf die Gebärde für Kind durch Wiegen des
einen Arms auf dem andern ausführen, oder, wenn das Kind an-
wesend ist, wiederum auf dasselbe hinweisen, und endlich mit der
Gebärde des Schiagens den Satz beschließen, also, da Tempora und
Kasus durch die Gebärde nicht angegeben werden: 'Mann zornig
Kind schlagen'. Bezeichnen wir die grammatischen Kategorien des
Subjekts, des Objekts, des Adjektivums und Verbums durch ihre
Anfangsbuchstaben, und deuten wir die Verbindungen der Begriffe
durch verbindende Bogenlinien an, so ist demnach die Struktur
des Satzes in der Gebärdensprache die nachstehende:
s^A (f~y
I) Schmalz, Über die Taubstummen und ihre Bildung, 2 S. 266 ff. Scott, The
Deaf and Dumb,^ p. 134 ff.
14*
2 12 Die Gebärdensprache.
Sie ist in der Stellung von Subjekt und Prädikat übereinstimmend,
sonst aber in jeder Beziehung entgegengesetzt der in der allgemeinen
Grammatik der modernen Sprachen stabil gewordenen Ordnung:
Treten zu dem Verbum noch adverbiale Bestimmungen, so folgt
die Gebärdensprache der nämlichen Regel wie bei dem Substantiv;
der adverbiale Begriff steht hinter dem Verbum, zu dem er gehört,
wenn er nicht, was gerade bei den abstrakteren Adverbien nicht
selten vorkommt, unmittelbar durch die den Verbalausdruck ver-
tretende Gebärde selbst angedeutet wird, indem die Art der Aus-
führung dieser ein anschauliches Ersatzmittel des Adverbs ist. So
wird der Ausdruck: "^er schlug heftig' durch die energische Be-
wegung, oder der andere: "er schlug oft* durch die mehrmalige
Wiederholung des Schiagens wiedergegeben. In manchen Fällen,
wenn die Handlung pantomimisch durch Arm und Hand, die
nähere Bestimmung durch den mimischen Gesichtsausdruck an-
gedeutet wird, wie in den Verbindungen: *^er schlug ihn zornig',
'er winkte ihm freundlich', können sich verbaler und adverbialer
Begriff vollkommen simultan begleiten; und das ähnliche kann dann
natürlich auch bei dem Substantivum und seinen attributiven Be-
stimmungen stattfinden. Einen Satz vvie diesen: 'er redete laut'
oder 'seine Stimme verbreitete sich weit' würde der Taubstumme
so ausdmcken, daß er zuerst die Gebärde des Sprechens, dann eine
Bewegung vom Munde aus nach auswärts machte und hierauf
mit beiden Händen einen weiten Kreis beschriebe. Ein vollstän-
diger Satz der Gebärdensprache würde also, wenn wir außer den
oben angewandten Symbolen noch das Zeichen A' für adverbiale
Bestimmungen einführen, folgendermaßen gebaut sein:
S^ 0 V~A'
Das Adverbium gleicht in seinen syntaktischen Beziehungen voll-
ständig dem Adjektivum.
Dieses Schema der Hauptbestandteile des Satzes verkürzt sich
natürlich, wenn einzelne der Unterglieder hinwegfallen. Es kann
sich aber auch erweitern, wenn etwa mehrere attributive Bestim-
Gebärdenfolge der Taubstummen. 2 I 3
mungen oder mehrere Objektbegriffe die Zusammensetzung steigern.
Von besonderem Interesse ist unter diesen Komplikationen diejenige
Verbindung zweier Gegenstandsbegriffe, die ein Besitz- oder sonstiges
Zugehörigkeitsverhältnis bezeichnet, wie es in der Lautsprache durch
den Genitiv ausgedrückt wird. Wo eine solche Verbindung vor-
kommt, da folgt zumeist der attributive Gegenstandsbegriff nicht, wie
die Eigenschaft, dem Hauptbegriff nach, sondern er geht ihm voran.
Der Taubstumme sagt also "^Mann zorniger', aber Mer Kirche Turm',
entsprechend der in unserer deutschen Wortzusammensetzung ein-
getretenen Folge '^Kirchturm': er drückt etwa zuerst durch die Zeich-
nung eines Daches mit darauf gesetztem Kreuz die Kirche, und
dann durch die Erhebung beider Arme mit abermals darüber ge-
zeichnetem Dache den Turm aus. Dabei sind alle diese Regeln
offenbar natürliche Ergebnisse der Eigenart der Gebärdensprache,
nicht im geringsten konventionelle Normen. Sie treten überall in
derselben Weise auf, wo Taubstumme untereinander oder mit Hören-
den verkehren. Sie befestigen sich aber dann allerdings auch durch
den Gebrauch, so daß sie der Taubstumme, der in der Lautsprache
unterrichtet wird, nicht selten auf diese überträgt, ebenso wie er
noch längere Zeit die Neigung bewahrt, auf Flexionsformen zu ver-
zichten und die Umschreibungen, deren die Gebärdensprache bedarf,
in der Lautsprache, wo sie überflüssig sind, anzuwenden. So sagt er
etwa im Anfang des Unterrichts: Xehrer Garten gehen' statt: 'der
Lehrer ist in den Garten gegangen', oder: "Lehrer klug, schreiben,
lesen, arbeiten' statt einfach: "^der Lehrer ist klug und fleißig'. Statt
'der Regen macht das Land fruchtbar' schrieb ein Taubstummer: 'der
Regen fällt, die Pflanzen wachsen', statt 'ich muß meinen Lehrer
lieben und achten' ein anderer 'ich schlage, betrüge, schimpfe nicht
Lehrer, ich liebe und ehre'. Neben diesen verdeutlichenden Um-
schreibungen ist noch lange Zeit der Mangel der Konjunktionen
und des Relativpronomens bezeichnend. Die blinde und taub-
stumme Laura Bridgman schrieb, als sie sich schon des Verbum
substantivum bedienen gelernt hatte, noch die Definitionen nieder:
'Witwe ist Frau, Mann tot und kalt'. 'Junggesell nicht haben Weib'.
Alle diese Erscheinungen zeigen, daß sich in dieser Beziehung die
Gebärdensprache nicht anders verhält wie jede andere Sprache.
Die eingeübte Sprachform ist nicht bloß ein äußeres Gewand des
2 14 Die Gebärdensprache.
Gedankens, sondern sie beeinflußt diesen selbst, so daß sie sich zu-
nächst jede neu angeeignete Sprachform Untertan macht'.)
Übrigens können in der Gebärdensprache der Taubstummen
von der regelmäßigen syntaktischen Folge auch mannigfache Ab-
weichungen stattfinden. Dies gilt schon für die Stellung der Haupt-
glieder des Satzes, Subjekt und Prädikat, indem die Prädikatvor-
stellung da, wo sie sich mit besonderer Intensität dem Bewoißt-
sein aufdrängt, auch im Ausdrucke dem Subjekt vorangehen kann.
Wünscht z. B. der Stumme Wasser zu trinken, so wird er, wenn
die Begierde nach dem Trünke sehr lebendig ist, zuerst das Wasser
andeuten, indem er etwa das Pumpen am Brunnen und das Vor-
halten eines Gefäßes nachahmt, dann die Gebärde des Trinkens
machen und zuletzt auf sich selbst hinweisen: 'Wasser trinken
ich', also in Zeichen ausgedrückt: 0 J^S, nicht S 0 V. Augen-
scheinlich hat demnach die gewöhnliche Folge nicht die Bedeutung
eines unabänderlich wirkenden Gesetzes, sondern sie ordnet sich
selbst einem allgemeineren psychologischen Prinzip unter, nach
welchem die Vorstellung, die sich zuerst zur Apperzeption drängt,
immer auch zuerst durch die Gebärde ausgedrückt wird. Die Folge
S A 0 V ist aber offenbar diejenige, die diesem Prinzipe der bevor-
zugten Apperzeption am häufigsten entspricht.
2. Gebärdenfolge der Indianer.
Diese Folgerung wird durch die Tatsache bestätigt, daß jene
Form der Gebärdensprache, die allein noch in bezug auf ihre Syn-
tax durch die Bemühungen der amerikanischen Ethnologen ge-
nauer bekannt geworden ist, die der nordamerikanischen Indianer,
der Gebärdensprache der Taubstummen in jenen Eigenschaften im
wesentlichen gleicht. Diese Übereinstimmung fällt um so mehr ins
Gewicht, da die Lautsprachen, die den Verbreitungsgebieten dieser
verschiedenen Entwicklungsformen der Gebärdensprache angehören,
eine völlig abweichende Struktur besitzen.
') Über die allmähliche Aneignung der Formen der Lautsprache durch Taub-
stumme während des Unterrichts hat namentlich der selbst taubstumme Kruse eine
große Zahl von Beobachtungen gesammelt. (Kruse, Über die Taubstummen, 1853,
S. 56 ff. Vgl. auch Steinthal a. a. O S. 923 ff.) Über die Sprache der blinden Taub-
stummen Laura Bridgman vgl. W. Jerusalem, Laura Bridgman, 1890, S. 41 ff.
Gebärdenfolge der Indianer. 2 I 5
Für das Studium der Syntax der indianischen Gebärdensprache
bietet die von G. Mallery mitgeteilte Sammlung von Redensarten,
Unterredungen und Erzählungen ein reiches Material, aus dem hier
nur einige kurze Beispiele angeführt werden sollen"). Um zu fragen
\vo ist deine Mutter?' macht der Indianer zuerst die Gebärde für
'Mutter^*, indem er den Zeigefinger der linken Hand in den Mund
steckt, ein Zeichen, das in anderer Verbindung auch 'Kind' bedeuten
könnte, dann durch Hinweisung mit dem rechten Zeigefinger auf
den Angeredeten das Zeichen für Mu'. Hierauf hält er Zeige- und
Mittelfinger ausgespreizt vor das Auge und bewegt sie in den Raum
hinaus, für "^sehen'. Dann macht er durch eine hinwegweisende
Bewegung mit der rechten Hand bei abwärts gekehrter Hand-
fläche das Zeichen für ""nicht', und endlich blickt er fragend den
Angeredeten an, indem er sich rings umsieht: 'Mutter deine sehen
nicht wo?' Der Begriff 'Mutter' ist offenbar Subjekt dieses Satzes.
Daß wir das Wort bei der gewählten Konstruktion in das Objekt
verwandeln, ist unwesentlich, wir könnten dem Satz auch die
Form geben: 'deine Mutter wird nicht von mir gesehen, wo ist
sie?' Demnach ist SA VA' die Ordnung der Begriffe. Zugleich
zeigt dieses Beispiel deutlich, wie bei der Gebärdensprache wegen
der größeren Unbestimmtheit der einzelnen Zeichen und der daraus
entstehenden Gewohnheit, eine Gebärde wenn nötig durch eine andere
zu erläutern, das einzelne Zeichen zumeist erst durch den Zusammen-
hang der Rede seinen Begriffsinhalt gewinnt. So erhält die erste
der angeführten Gebärden die Bedeutung 'Mutter' erst durch die
folgende Hinweisung auf den Angeredeten; in anderm Zusammen-
hange könnte sie ebensogut heißen: 'als du ein Kind (eigentlich
ein Säugling) warst'. Die Schlußgebärde würde in anderm Zusammen-
hang auch 'überall' bedeuten können: durch das Vorangegangene
und den begleitenden Gesichtsausdruck verwandelt sie sich in die
Frage 'wo'. Den Satz 'ich will in zwei Tagen nach Hause gehen'
drückte ein Indianer folgendermaßen aus. Zuerst wurden beide
Hände mit der Handfläche nach abwärts in der Höhe der Ell-
bogen horizontal hin und her bewegt und dann die rechte über
die linke gelegt : Zeichen für 'Nacht' (eigentlich eine Verbindung der
') Mallery a. a. O. S. 479 ff.
2 I 6 Die Gebärdensprache.
Zeichen für 'Himmel' und 'Decke'). Hierauf wurden Zeige- und
Mittelfinger in die Höhe gehoben: Zeichen für 'zwei'; mit dem Zeige-
finger der Rechten gegen die eigene Brust gezeigt: 'ich'; nun wies
derselbe Finger ausgestreckt auf den Weg hin: 'gehen'. Endlich
wurde die geballte rechte Faust gegen den Boden herabbewegt, auf
dem der Redende stand : 'Heimat'. Also wörtlich : 'Nacht zwei ich
gehen Heimat'. Seinem Sinne nach läßt sich dieser Satz in zwei
Sätze zerlegen, in deren erstem das Prädikat unterdrückt worden
st: 'zwei Nächte (werden vergehen)' '(dann werde) ich (in meine)
Heimat gehen', mit der Begriffsfolge S A{T/), S VA'.
Schließlich mag hier als ein etwas verwickelteres Beispiel noch
ein Satz aus einer Erzählung eines Mescaleroindianers, zum Volke
der Apachen gehörend, angeführt werden. Der Satz lautet in der
Übersetzung: 'Weiße Soldaten, die von einem Offizier von hohem
Rang, aber geringer Intelligenz geführt wurden, nahmen die Mes-
caleroindianer gefangen'. Die Aufeinanderfolge der Zeichen ist die
folgende: i. 'Soldaten': die Daumen werden an die beiden Schläfen
gesetzt, die Zeigefinger vorwärts gerichtet, auf der Stirn aneinander
stoßend, die übrigen Finger geschlossen (Nachahmung eines solda-
tischen Mützenschildes), 2. 'Haar': Berührung des eigenen Haares,
3. 'weiß': Berührung der Zähne (die Soldaten werden als Männer
mit hellem Haare gekennzeichnet), 4. 'Offizier': Berührung der Spitze
der Schulter (Andeutung der Achselstücke), 5. 'hochgestellt': Er-
hebung beider Hände über den Kopf (dieselbe Gebärde wie für
Häuptling), 6. 'töricht': der Zeigefinger berührt die Stirn und wird
dann um Gesicht und Kopf herumgeführt (das übliche Zeichen für
närrisch oder dumm), 7. 'Mescaleroindianer': die Hände werden von
den Schenkeln zum Körper hinaufgezogen, dann auf die eigene
Brust gedeutet (die erste Gebärde Andeutung der Mokassins, der
eigentümlichen Fußbekleidung der Indianer, die zweite auf den
Stamm des Redenden hinweisend), 8. 'gefangen': die beiden Hände
werden einander genähert, mit den Handflächen einander zugekehrt,
dann beide Daumen und Zeigefinger zu einem Kreise geschlossen
(zeichnende Gebärde für gefaßt und eingeschlossen). Also : 'Soldaten
(deren) Haar weiß (unter einem) Offizier hochgestellt (aber) töricht
die Mescaleroindianer (nahmen) gefangen'. Dies entspricht genau
der Folge: S A 0 V, nur zerfällt das hier mit bloß einem Symbol
Psychologische Ursachen der Gebärdensyntax. 217
A bezeichnete Attribut des Subjektbegriffs 5 in mehrere attributive
Bestimmungen von verschiedener Ordnung, für deren Verbindung
wieder im wesentlichen die nämlichen Regeln gelten wie für die
syntaktische Verbindung der Hauptbegriffe. Das nähere Attribut
zu 5 (den Soldaten) ist der Begriff weißhaarig, der selbst nach der
Regel S J.4. (Haar weiß) zusammengesetzt ist; das fernere und daher
nachfolgende ist der Offizier, zu dem eine entsprechende Präpo-
sition hinzuzudenken ist (unter einem Offizier), und dem wieder zwei
Attribute (hochgestellt, töricht) nach der Regel SA beigefügt sind.
Aus allem diesem erhellt, daß die Gebärdensprache der Indianer,
so sehr auch der Vorstellungskreis, aus dem sie hervorging, und
demnach der Charakter der Gebärden Eigentümlichkeiten bietet,
dennoch in der Aufeinanderfolge der einzelnen Zeichen durchaus mit
der Taubstummensprache übereinstimmt.
3. Psychologische Ursachen der Gebärdensyntax.
Daß eine Regelmäßigkeit, die unter so abweichenden Verhält-
nissen in übereinstimmender Weise wiederkehrt, allgemeingültige
Ursachen habe, läßt sich nicht wohl bezweifeln. Auch wird man
von vornherein zugestehen, daß diese Ursachen psychologische sein
müssen, mögen sie nun als solche mit den allgemeinen Gesetzen des
Vorstellungsverlaufes zusammenhängen, wie man das bei der von
der Laut- wie Gebärdensprache bevorzugten Voranstelhmg des Sub-
jektes vor dem Prädikat wohl vermuten wird, oder mögen sie aus
den besonderen Verhältnissen der Gebärdenmitteilung ihren Ur-
sprung nehmen.
Die Syntax der Gebärden läßt sich nun zunächst, wie jede Syntax,
auf drei Prinzipien zurückführen, die wir kurz als die Prinzipien der
logischen, der zeitlichen und der räumlichen Abhängigkeit
bezeichnen können. Wirken diese drei in gleichem Sinne, so ist
damit auch die Stellung der Begrififszeichen unweigerlich bestimmt.
Wirken sie aber, wie es häufig vorkommt, in verschiedenem Sinne,
so kann bald der eine, bald der andere Einfluß das Übergewicht
gewinnen. Hierbei ist es nun eine charakteristische Eigenschaft der
Gebärdensprache, daß bei ihr die zeitliche und die räumliche Ab-
hängigkeit, die wir beide zusammen auch die anschauliche nennen
2 1 8 Die Gebärdensprache.
können, von überwiegender Wirkung sind. Diese Eigenschaft läßt
sich wieder aus zwei andern unschwer begreifen. Die erste besteht
in der sinnlichen Anschaulichkeit und unmittelbaren Verständlichkeit
der einzelnen Zeichen, was notwendig auch auf ihre Anordnung
herüberwirken muß, die zweite in der im Verhältnis zur Schnellig-
keit der Lautsprache sehr viel langsameren Aufeinanderfolge der
Zeichen, welche relative Schwerfälligkeit der Bewegung noch durch
die oft sich einstellende Notwendigkeit erläuternder Hilfsgebärden
vergrößert wird.
Diese Bedingungen bewirken es, daß gerade diejenige syntak-
tische Regel, die am meisten die logische Abhängigkeit der Bestand-
teile des Satzes zur Geltung bringt, die Regel des voranstehenden
Subjektes, in der Gebärdensprache zwar im allgemeinen befolgt, aber
auch am leichtesten verletzt wird. Dabei kommt zugleich in Betracht,
daß überall da, wo das Prädikat ein Objekt enthält, dieses durch
eine nur unerhebliche Verschiebung der Vorstellungen auch als
Subjekt gedacht werden kann, und daß eine Gebärdenfolge, die
einem einzigen Satze der gesprochenen Rede äquivalent ist, nicht
selten nach dem Sinn des Gedankens angemessener als eine Anein-
anderreihung von zwei oder mehr Sätzen betrachtet werden muß.
Gerade in solchen Fällen, wo die Stellung des Subjektes zum Prä-
dikat sich umkehrt, wird aber meist eine solche Zerlegung gefordert.
So kann wohl der Taubstumme statt der Folge Mer Mann der zornige
das Kind er schlug' auch die andere wählen: Mas Kind er schlug
der Mann der zornige . Aber wir können hier ebensogut und wahr-
scheinlich im Geiste der Gebärdensprache zutreffender interpretieren:
""das Kind wurde geschlagen, der Mann war zornig'. Dem entspricht
es in der Tat, daß solche scheinbare Umkehrungen der Stellung
von Subjekt und Prädikat vorzugsweise in lebhafter, affekterregter
Rede vorkommen, unter Bedingungen also, die ebensowohl zur be-
sonderen Betonung und darum Voranstellung der Handlungen, von
denen berichtet wird, herausfordern, wie zur Zerlegung der Rede in
kleinere Teile, deren jeder ein abgeschlossenes, aber rasch vorüber-
gehendes Bild vor die Seele ruft, — ganz wie die einzelnen Mo-
mente des Affektes selbst rasch einander ablösen. Daher diese
beiden Eigenschaften, die Voranstellung des Prädikates und der
Abfluß der Rede in kleinen, den Zusammenhang der Gedanken in
Psychologische Ursachen der Gebärdensyntax. 2 IQ
seine einzelnen Momente zerlegenden Sätzen, auch in der Laut-
sprache der afifektvollen Diktion eigen zu sein pflegen. In der
Gebärdensprache führt aber, da ihr eine von der syntaktischen
Stellung unabhängige grammatische Charakteristik der einzelnen
Vorstellungszeichen fehlt, die Koexistenz dieser beiden Eigenschaften
der affektvollen Rede notwendig dazu, daß ein Satz, in welchem
das Objekt mit dem zugehörigen verbalen Prädikat voransteht,
immer zugleich als eine Aufeinanderfolge zweier Sätze mit zwei
verschiedenen Subjekten gedeutet werden kann. Dazu tritt noch
eine weitere Tatsache für diese letztere Deutung entscheidend ein:
die Gebärdensprache kennt die Voranstellung des Prädikats nur in
dem Fall, wo dieses neben dem Verbal- zugleich einen Objektbe-
griff enthält, der eben zugleich als das Subjekt zu jenem gedacht
werden kann. Sie kennt jene Voranstellung nicht bei rein verbalen
Prädikaten. So würde es nicht oder doch nur unter besonderen,
durch das Vorangegangene gerechtfertigten Bedingungen möglich
sein, zu sagen "^es schoß der Jäger^ statt 'der Jäger schoß"*, "^es weinte
das Kind' statt 'das Kind weinte^ Auch erkennt man leicht, sobald
man sich nur den Ausdruck eines solchen Satzes in Gebärden ver-
gegenwärtigt, den Grund, aus dem jene in der Lautsprache immer-
hin nicht seltenen Begriffsfolgen in der Gebärdensprache unmöglich
sind. Hier ist es eben das Gebot der Anschaulichkeit, das ihnen
um so mehr widerstreitet, je mehr jede einzelne Gebärde durch die
Langsamkeit der Aufeinanderfolge in gewissem Grad als eine selb-
ständige Vorstellung aufgefaßt werden muß. Die Bewegungen des
Schießens, des Weinens für sich ausgeführt, noch bevor klar ist,
auf wen sie bezogen werden sollen, würden gewissermaßen in der
Luft schweben. Um überhaupt in ihrem Verhältnis zum Ganzen des
Gedankens begriffen zu werden, bedürfen sie der Gegenstandsvor-
stellung, auf die sie sofort bezogen werden können, und die ihnen
daher auch in der äußeren Folge der Gebärdezeichen vorangeht.
Wie auf solche Weise die mit der logischen Verbindung der
Begriffe übereinstimmende Stellung der beiden Hauptteile des Satzes
im allgemeinen zugleich den Bedingungen der Anschaulichkeit ent-
spricht, so ist es nun auch vor allem diese letztere, die alle andern
syntaktischen Erscheinungen in der Gebärdensprache beherrscht.
Dabei ist zunächst das Prinzip der zeitlichen Anschaulichkeit für
2 20 Die Gebärdensprache.
die Aufeinanderfolge der größeren Zusammenhänge, das der räum-
lichen für die engeren Verbindungen innerhalb eines einzelnen
Satzes vorzugsweise bestimmend. Die Gebärdensprache berichtet
Ereignisse genau in der Folge, in der sie erlebt wurden. Sie be-
schreibt Gegenstände genau in der Ordnung, in der sich ihre Teile
der Beobachtung aufdrängen. Darum weiß sie in der Regel nichts
von jenen Umstellungen, welche die ausgebildete Lautsprache um
bestimmter logischer Zwecke willen vornimmt. Schon der Umstand,
daß ihr die abstrakten Wortformen, besonders die Konjunktionen
fehlen, macht es für sie notwendig, die Zeitbestimmungen durch
das einfachste und zugleich anschaulichste Hilfsmittel auszudrücken:
dadurch, daß die Zeitfolge der Gebärden eine Nachbildung der Zeit-
folge der Ereignisse ist. Zu dieser Folge wird sie aber schon des-
halb gedrängt, v/eil die einzelnen Gebärden in ihren wichtigsten
Formen selbst Nachbildungen aufeinander folgender Handlungen sind.
So überträgt das Prinzip der zeitlichen Anschaulichkeit nur eine
Eigenschaft der einzelnen Gebärden auf deren Zusammenhang.
In anderer Weise ist dieses Prinzip für die Verbindung der at-
tributiven Bestimmungen mit dem Substantivbegriff sowie für die
analoge Verbindung der Verbalvorstellung mit ihrem Objekt maß-
gebend. Hier sind die zwei zusammengehörigen Begriffe so eng
aneinander gebunden, daß sie in der wirklichen Anschauung über-
haupt niemals in zeitlicher Folge apperzipiert werden können. Das
Attribut ist im allgemeinen gleichzeitig mit dem Gegenstand; denn
es gehört selbst zu den Merkmalen, an denen dieser erkannt wird.
Das Objekt ist gleichzeitig mit der Handlung, von der es leidet,
und diese ist in dem gegebenen Zusammenhang gar nicht ohne
das Objekt zu denken. Nun kann aber die Gebärdensprache noch
weniger als die Lautsprache die simultanen Verbindungen der Be-
griffe durch einen simultanen Ausdruck darstellen. Vielmehr bleiben
gerade bei ihr wegen der Langsamkeit ihrer Zeichenfolge auch die
zusammengehörigen Begriffe zeitlich weiter getrennt. Um so mehr
ist es daher Bedingung der Anschaulichkeit, daß diejenige Vorstel-
lung vorangeht, die nötigenfalls ohne die andere gedacht werden
kann, und daß diejenige nachfolgt, die in der gegebenen Gedanken-
verbindung der andern bedarf. Alle diese Beziehungen, die attribu-
tiven wie die objektiven, lassen sich aber in eine konstantere selb-
Psychologische Ursachen der Gebärdensyntax. 2 2 1
ständige und in eine variablere abhängige Vorstellung zerlegen. So
ist in der Verbindung "^ein großes Haus^ das Haus die festere und
selbständige, die Größe die variablere und abhängige Vorstellung:
das Haus läßt sich noch mit vielen andern Eigenschaften denken,
die Größe ist stets an einen Gegenstand, in diesem Fall an das
Haus gebunden. Ebenso ist in dem Prädikat des Satzes Mer Bau-
meister baut das Haus' wiederum das Haus eine selbständig zu
denkende Vorstellung, doch die Handlung des Bauens kann nicht
vorgestellt werden ohne den Gegenstand, der gebaut wird. Auf
diese Weise sind die beiden Regeln der Stellung des Adjektivs hinter
dem Substantiv und des Verbums hinter dem Objekt einerseits ein-
fache Folgen der realen Koexistenz des Gegenstandes und seiner
Eigenschaften, der Handlung und ihres Objektes. Anderseits ent-
springen sie aus der relativen Langsamkeit der Gebärdenfolge,
welche die Forderung mit sich führt, jede einzelne Gebärde sei
derart in den Zusammenhang der Rede einzufügen, daß sie für sich
allein oder in ihrer Beziehung auf vorangegangene Gebärden un-
mittelbar verständlich ist. Dies verhält sich in der Lautsprache, in
der ein Substantiv und sein Attribut, ein Verbum und sein Objekt
im Fluß der Rede vollständig zu einer Worteinheit verbunden sein
können, wesentlich anders. Verbindungen wie vwns ingens und
ingens mons, puerum laudat und laudat pueruin sind beide für unser
Denken simultanen Verbindungen äquivalent. Bei der Gebärden-
sprache, wo sich jeder Begriff selbständiger vom andern abhebt,
würde eine Gebärde, die erst durch eine folgende ihre Stellung im
Satz erhielte, leicht eine unerträgliche Hemmung im Flusse der
Vorstellungen erzeugen.
Hiernach lassen sich die syntaktischen Eigenschaften der Ge-
bärdensprache auf zwei allgemeine Bedingungen zurückführen:
erstens auf das in ihr streng festgehaltene Prinzip, daß die einzelnen
Zeichen in der Ordnung einander folgen, in der sie in der An-
schauung voneinander abhängig sind; und zweitens auf die ver-
hältnismäßig langsame Aufeinanderfolge der einzelnen Zeichen,
welche die Forderung mit sich führt, daß ein gegebenes Symbol,
soweit es nicht an sich selbst deutlich ist, durch vorangehende,
nicht erst durch nachfolgende Symbole seine Bedeutung erhält.
Sobald dann diese beiden Postulate erfüllt sind, kann sich auch noch
222 Die Gebärdensprache.
ein drittes Moment geltend machen: das Bedürfnis, diejenigen Vor-
stellungen zuerst auszudrücken, die mehr als andere affektbetont
sind. Eine wichtige Hilfe, diesem Bedürfnis zu genügen, ohne
die Bedingungen der Anschaulichkeit und der Verständlichkeit zu
verletzen, besteht aber für die Gebärdensprache darin, daß sie einen
zusammenhängenden Gedanken in mehrere einzelne Sätze gliedert.
Besonders erreicht sie hierbei einen der Voranstellung des Prädikats
äquivalenten Erfolg dadurch, daß sie aus dem verbalen Prädikat
und seinem Objekt einen selbständigen Satz bildet, zu dessen Sub-
jekt nun jenes Objekt wird. Damit hängt zusammen, daß über-
haupt in der Gebärdensprache alle solche Unterscheidungen, die
auf der feineren Gliederung und Periodisierung der Rede beruhen,
hinfällig werden. Ein zusammengesetzter Satz wird darum in ihr
stets zu einer Aufeinanderfolge mehrerer einfacher Sätze.
V. Psychologische Entwicklung der Gebärdensprache.
I. Ursprung der Gebärdensprache aus den Ausdrucks-
bewegungen.
Die Gebärdensprache ist ein natürliches Entwicklungsprodukt
der Ausdrucksbewegungen; und sie ist, mindestens in dem Umfang
und in der Ausbildung, in der sie den Entwicklungsformen der
Lautsprache an die Seite gestellt werden kann, ein spezifisch mensch-
liches Erzeugnis. Die höheren Tiere zeigen zwar eine Fülle cha-
rakteristischer Ausdrucksbewegungen, die denen des Menschen in
ihren allgemeinsten Eigenschaften verwandt sind. Doch von allem
dem, was die menschliche Gebärdensprache erst zu einer eigent-
lichen Sprache macht, von der Entwicklung verschiedener Grund-
formen der Gebärde, von den Übertragungen der Bedeutung und
dem Bedeutungswandel, endlich von einer nach bestimmten Ge-
setzen geregelten syntaktischen Ordnung kann dort nirgends die
Rede sein.
Ein Zeugnis für diese niedrigere Stufe der Gebärdenentwicklung
bei den Tieren liegt schon darin, daß diejenige Gebärdeform, die
beim Menschen überall als die ursprünglichste erscheint, und die
daher noch beim Kinde am frühesten in spontaner Entstehung be-
Ursprang der Gebärdensprache aus den Ausdrucksbewegitngen. 223
obachtet wird, die hinweisende, beim Tiere kaum vorkommt oder
höchstens auf einer Art Zwischenstufe zwischen der ursprünglichen
Greifbewegung und der hinweisenden Bewegung stehen geblieben
ist. So namentlich auch bei dem durch den Bau seiner Hände zu
Greif bewegungen ganz besonders veranlagten Affen ^).
Ähnlich verhält es sich mit der Klasse der darstellenden Ge-
bärden. Sie haben in den nachahmenden Ausdrucksbewegungen
ihre natürliche Grundlage. Aber der große Schritt, durch den jene
allgemein im Tierreich verbreiteten imitativen Bewegungen, bei denen
ein Wesen die Handlungen eines andern ihm ähnlichen nachahmt,
in Nachahmungen beliebiger objektiver Handlungen übergehen,
ist erst innerhalb der menschlichen Entwicklung getan worden; und
erst aus dieser letzteren Form können naturgemäß die in der
Gebärdensprache vorkommenden verschiedenen Arten darstellender
Gebärden entspringen. Unter diesen stehen die nachbildenden
den gewöhnlichen nachahmenden Affektäußerungen am nächsten.
Was sie von diesen scheidet, ist nur die Entwicklung, die sie unter
dem Einfluß der Wechselwirkung der Individuen erfahren. In-
dem die Affektäußerung von dem, an den sich der x'\ffekt richtet,
auf seinen Urheber zurückgeht, verändert sie zugleich ihren Inhalt,
und indem diese Veränderung auch die Vorstellungsinhalte des
Affekts, ja diese wegen der größeren Mannigfaltigkeit, die sie inner-
halb einer und derselben Grundstimmung zulassen, ganz besonders
trifft, wird allmählich jene hin und her gehende Bewegung des Ge-
bärdenspiels zu einem Austausch der im Bewußtsein der Einzelnen
hervortretenden Vorstellungen. Zunächst erheben sich noch diese
Vorstellungen innerhalb einer und derselben Grundstimmung. Dann
tragen sie durch die Rückwirkung des Vorstellungswechsels auf die
Gefühle die Macht in sich, auch den Gefühlsinhalten der Affekte
eine veränderte Richtung zu geben. Der »Mitteilungstrieb« ist daher
ebensowenig eine einheitliche psychische Kraft wie der »Nach-
ahmungstrieb«, sondern ein notwendiges Produkt des Wechselver-
kehrs der Individuen. Assoziieren sich bei dem Nachahmungs-
trieb mit den Ausdrucksbewegungen des Einen in einem Andern
die zugehörigen Gefühle, aus denen nun die gleichen Ausdrucks-
I) Vgl. oben Kap. I, S. 129 f.
2 24 ^^^ Gebärdenspraclie.
bewegungen entstehen, so geht der »Mitteilungstrieb« unmittelbar
aus der Gefühlswirkung hervor, welche die Wahrnehmung dieser
sympathischen Afifektwirkung begleitet. Denn die Gefühlswirkung
wird nun zum impulsiven Motiv, gleiche Afifektäußerungen des An-
dern hervorzurufen; und damit verbindet sich dann' von selbst auch
die Mitteilung der den Affekt begleitenden Vorstellungen. Bei der
Wiederholung des Vorganges kann diese Mitteilung allmählich selbst
zum Motiv werden. Je mehr das geschieht, um so mehr gesellen
sich aber, wie wir vermuten dürfen, zu den hinweisenden nach-
ahmende Bewegungen. Auf solche Weise sind die letzteren wahr-
scheinlich ebensosehr Produkte der entstehenden Gebärdenmittei-
lung, wie sie anderseits selbst diese erst in ihrer vollkommeneren
Ausbildung möglich machen. So geht aus der absichtslos dem
Affekt entströmenden Vorstellungsäußerung im Wechselverkehr der
Einzelnen die triebartige Mitteilung und dann aus dieser, indem der
Handelnde die Erfolge seines Tuns auf sich wirken läßt, schließlich
die willkürliche Mitteilung durch Gebärden hervor. Dabei bleibt
aber die Grenze zwischen der ursprünglichen, sich selbst genügen-
den Äußerung und der später entstandenen, von dem Willen zur
Wirkung auf Andere getragenen fortan eine fließende. Selbst in
der voll entwickelten Gebärdensprache ist daher die willkürlich nur
zum Zweck der Mitteilung ausgeführte Bewegung auf einzelne Mo-
mente beschränkt, zwischen denen sich ganz in der ursprünglichen
Weise der Affektäußerung die Gebärden nach rein gefühlsmäßigen
Impulsen aneinander schließen.
Mit dem Übergang der nachahmenden Ausdrucksbewegungen in
Bestandteile einer zusammenhängenden Gebärdenäußerung ist nun
aber auch der Anlaß zur Entwicklung verschiedener Formen von
Gebärden gegeben, die in der allgemeinen Eigenschaft, durch irgend-
ein dem Gesichtssinn wahrnehmbares Bild die entsprechende Vor-
stellung zu erwecken, den ursprünglichen nachahmenden Bewegungen
gleichen, während sie doch dem wachsenden Reichtum der Vorstel-
lungen und ihrer Verbindungen sich anpassen. Unter den so ent-
standenen Gebärdeformen stellt die zeichnende die direkte, im
wesentlichen unverändert gebliebene Fortsetzung der reinen Nach-
ahmungsbewegung dar: sie hat ganz den dieser Ursprungsform
eigenen Charakter rasch vorübergehender Bewegungen beibehalten,
Urspinng der Gebärdensprache aus den Ausdrucksbewegungen. 2 2'^
wie sie der Natur des Affekts entspricht; und zugleich deutet sie
unmittelbar das Objekt oder die Handlung selbst an. Von dieser
Ursprungsform aus divergiert nun die Entwicklung nach zwei Rich-
tungen. Auf der einen Seite regt sich, indem der begleitende
Affekt schwächer wird, der Trieb nach dauernderer Festhaltung
einer dem Auge einzuprägenden Form. Aus diesem Motiv ent-
springt die plastische Gebärde. Sie setzt unbedingt voraus, daß
sich die ursprüngliche Affektgrundlage der Bewegungen ermäßigt
habe. Denn der Affekt treibt um so mehr, je intensiver er ist, zu
rasch vorübergehenden Bewegungen. Plastische Gebärden fordern
überdies zumeist eine gewisse Überlegung, und sie beruhen darum
auch viel häufiger als die zeichnenden in ihren eigentümlichen Be-
deutungen auf konventioneller Geltung. Auf der andern Seite ent-
wickelt sich aus der zeichnenden die mitbezeichnende Gebärde.
Sie entsteht, sobald das Bedürfnis erwacht, Gegenstände oder Hand-
lungen auszudrücken, die durch eine Umrißzeichnung nicht oder nur
unsicher festgehalten werden können, während sich bei ihnen cha-
rakteristische Nebenmerkmale der zeichnenden Nachbildung darbieten.
Die mitbezeichnende Gebärde liegt daher genetisch der nachahmen-
den in ihrer ursprünglichen Gestalt wahrscheinlich näher als die
plastische Nachbildung. Aber in der isolierenden Aufmerksamkeit
auf einzelne Eigenschaften, die sie fordert, in dem Streben, ein zur
Verständigung dienliches Merkmal herauszugreifen, verrät doch auch
sie eine wachsende Ermäßigung des Affekts und einen zunehmenden
Einfluß der Reflexion,
Die letzte Stufe dieser Entwicklung bezeichnen endlich die sym-
bolischen Gebärden. Hierher gehören zunächst die früher (S. 194 f.)
erwähnten ursprünglichsten Fälle assoziativer Übertragung von einer
sinnlichen Vorstellung auf eine andere. Bei ihrer weiteren Entwick-
lung werden dann aber die symbolischen Gebärden für Begriffe
angewandt, die überhaupt nicht durch ein bestimmtes Bild darstell-
bar sind, für die also eine zeichnende oder plastische Bewegung nur
noch die Bedeutung einer stellvertretenden Vorstellung hat.
Eine solche Stellvertretung ist im Gebiet der natürlichen Gebärden-
sprache nur dadurch möglich, daß eine psychologische Verwandt-
schaft zwischen dem Begriff und der stellvertretenden Vorstellung
besteht. Dadurch unterscheiden sich zugleich die natürlichen Symbole
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. IC
220 Die Gebärdensprache.
von den künstlich erfundenen, bei denen jene Beziehung rein auf
willkürlicher Übereinkunft beruht. Indem nun die symbolischen
Gebärden auch in ihrer natürlichen Form bereits auf verwickei-
teren psychologischen Bedingungen beruhen, ist es begreiflich,
daß sich in vielen Fällen die Grenzen zwischen natürlicher Ent-
stehung und willkürlicher Erfindung verwischen. Im allgemeinen
wird es aber als nächstes Kriterium natürlicher Entstehung eines
Symbols gelten können, wenn sich ein bestimmtes sinnliches Bild
so unmittelbar für einen Begriff bildet, daß zunächst überhaupt kein
deutliches Bewußtsein der Verschiedenheit von Bild und Bedeutung
besteht. In zweiter Linie werden dann noch diejenigen Symbole
als natürlich entstandene zu betrachten sein, die aus solchen pri-
mären auf dem Weg einer einfachen Bedeutungsentwicklung her-
vorgehen. Hiernach sind primäre symbolische Gebärden vor allem
jene, die aus hinweisenden entstanden sind, wie die Andeutung der
Zeitformen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durch räum-
liche Richtungen (S. i6i). Die Assoziation ist hier um so inniger,
da eigentlich auch das Räumliche ohne begleitende zeitliche Eigen-
schaften nicht vorgestellt werden kann. Die hinweisende Bewegung
bezeichnet daher in ihrer ursprünglichsten Bedeutung immer zugleich
ein Gehen in der angegebenen Richtung, demnach einen zeitlich-
räumlichen Vorgang.
Unter den aus nachbildenden Gebärden entstandenen Symbolen
stehen diesen einfachsten Assoziationen jene am nächsten, bei
denen geistige Eigenschaften, wie Herrschaft, Mut, durch ent-
sprechende physische, wie Körpergröße, Muskelkraft u. dgl., aus-
gedrückt werden. Den Häuptling oder Herrscher als den großen
Mann, den Mutigen als den Starken zu bezeichnen, liegt dem Natur-
menschen darum nahe, weil der Anführer im Kriege wirklich durch
Körpergröße hervorzuragen pflegt, und weil er den Mut nur ver-
bunden mit physischer Kraft kennt. Von diesen Assoziationen aus
bilden sich dann andere, bei denen zwischen das sinnliche Zeichen
und seine Bedeutung mannigfache Zwischenglieder treten. Wird
die Wahrheit durch eine geradlinige, die Lüge durch eine schräge
Bewegung vom Mund aus bezeichnet, so scheint die Vorstellung
der direkten Bewegung auf das Ziel und der Abbiegung von dem-
selben von der Handlung des Gehens auf die des Redens über-
Ursprung der Gebärdensprache aus den Ausdrucksbewegungen. 2 27
tragen zu werden. Aber auch hier entspringt diese Übertragung
wohl aus einer direkten Assoziation der Vorstellungen, und sie wird
darum von dem naiven Denken zugleich als Wirklichkeit empfunden.
Der Lügner, wie er den Blick scheu an dem Getäuschten vorüber-
gehen läßt, wagt auch seine Worte diesem nicht direkt ins An-
gesicht zu sprechen, sondern er redet an ihm vorbei. Wenn ferner
die Umfangsverhältnisse der Finger auf moralische Qualitäten über-
tragen werden, der Daumen also 'gut', der kleine Finger "schlecht'
bedeutet, so muß man sich erinnern, daß für den Naturmenschen
überhaupt physische Stärke und moralische Tüchtigkeit, physische
Schwäche und niedrige Gesinnung zusammenfallen. Ursprünglich
liegt also hier wiederum die Symbolik nicht sowohl darin, daß die
moralischen durch physische Eigenschaften, als darin, daß über-
haupt Personen durch emporgestreckte Finger versinnlicht werden.
Aber auch diese weitverbreitete Symbolik führt auf eine einfachere,
noch nicht symbolisch empfundene Assoziation zurück. Wie der
Zeigefinger die Person, auf die er hinweist, unmittelbar dadurch an-
deutet, daß er den Blick auf sie lenkt, also ein Hilfsmittel ist, um
den Gegenstand durch sich selbst vertreten zu lassen, so kann, wenn
begünstigende Bedingungen hinzukommen, auch die abwesende Per-
son noch durch den ausgestreckten Finger bezeichnet werden, so-
bald die Umstände eine ähnliche Ergänzung durch die Assoziation
mit dem Erinnerungsbilde bedingen. Eine häufige Ursache zur Ent-
stehung einer solchen Erinnerungsassoziation liegt in der Vorstellung
einer bestimmten Anzahl von Personen, wo die in entsprechender
Anzahl emporgereckten Finger nun die erforderlichen Assoziationen
erwecken und zunächst jeder Finger auf eine bestimmte einzelne
Person bezogen wird. Indem diese hinzugedachten Vorstellungen
allmählich verblassen, werden dann die Finger zu eigentlichen Zahl-
symbolen: sie repräsentieren jetzt irgendwelche zählbaren Gegenstände,
während sie vorher nur regelmäßig assoziierte Hilfsvorstellungen ge-
wesen waren, neben denen die hinzugedachten Gegenstände selbst
ins Bewußtsein traten. Aus dieser Zeit, wo das stellvertretende
Zeichen noch nicht von seinem Gegenstande gesondert war, haben
sich ohne Zweifel die besonderen Beziehungen erhalten, die den
verschiedenen Fingern und ihren Kombinationen in der ausgebildeten
Symbolik der Gebärden beigelegt werden. So war es, nachdem
228 I^is Gebärdensprache.
einmal der Zeigefinger durch Assoziation mit einer abwesenden
Person für diese eine repräsentative Bedeutung erlangt hatte, nur
noch ein kleiner Schritt zur Bezeichnimg z^veier regelmäßig v^er-
bundener Genossen, Brüder, Ehegatten oder Kriegsgefährten durch
emporgereckten Zeige- und Mittelfinger. Und nachdem dies voll-
bracht war, konnte dann leicht noch der weitere Schritt geschehen,
die Innigkeit der Verbindung selbst durch die Verschlingung der
zwei Finger auszudrücken (/ Fig. 32, S. 187). Auch hier darf man
annehmen, daß für die ursprüngliche Anschauung Symbol und
Wirklichkeit ineinander flössen, indem zu der Gebärde die sinnliche
Bedeutung, die sie ausdrückte, urmiittelbar assoziiert ^\■u^de. \\"ar
nun aber einmal, wie es im Laufe der Zeit geschehen mußte, jene
assoziierte Vorstellung, die in allen diesen Fällen das in der Gebärde
sich darstellende Bild zur Wirklichkeit erhob, bis zur Unbestimmt-
heit verdunkelt, dann konnte zwar noch unter günstigen Umständen
der einstige Sinn der Gebärde erfaßt werden, um so mehr mußte
sich jedoch, eben weil die Assoziation zurücktrat, der Unterschied
zwischen der ursprünglichen und der neuen Bedeutung hervor-
drängfen. Damit war dann der Weg von der unter Mithilfe von
Assoziationen indirekt nachbildenden zu der im engeren Sinne sym-
bolischen Gebärde vollständig zurückgelegt.
Eine weitere Komplikation, die den Übergang der vorbereitenden
Zwischenstufen in symbolische Gebärden wesentlich begünstigt, be-
steht darin, daß verschiedene Symbole aufeinander einwirken und
auf diese Weise gemischte symbolische Gebärden erzeugen, bei denen
infolge der Verbindung der Motive die Assoziation mit der einstigen
sinnlichen Bedeutung v^oUständig verschwinden kann. Ein charak-
teristisches Beispiel dieser Art ist die Gebärde für 'Falschheit^* S. 186,
Fig. 31^), die sich einerseits aus der für Freundschaft, Vertrauen"
und ähnliche Begrifife vorkommenden iPig. 32 /) und anderseits
aus der Symbolisierung entgegengesetzter Wertbegrifte durch die
Größenunterschiede der Finger erklärt, eine Verbindung, die als
solche von vornherein nur eine symbolische Bedeutung haben kann.
Ebenso fehlt natürlich die unmittelbare sinnliche Anlehnung in solchen
Fällen, wo die Gebärde selbst nur ein anderwärts, aus der bildlichen
Darstellung oder aus der Sitte entlehntes Symbol ist, wie bei der
Drehung einer Nase zum Zweck der Verhöhnung (S. 185), bei dem
Ursprung der Gebärdensprache aus den Ausdrucksbewegungen. 2 2Q
Symbol der "^Gerechtigkeit' (Fig. 3 1 ^), bei dem Zeichen der Indianer
für "Tausch' oder *^Hander (Fig. 32 7n) und in vielen andern Fällen.
Der Vorgang der Entwicklung symbolischer Gebärden stellt sich
hiernach, solang er sich rein im Gebiet der Gebärdenmitteilung
selber vollzieht, als eine durch Assoziationen vermittelte
Verschiebung der Vorstellungen dar, die durch allmähliche
Ausschaltung einzelner Assoziationsglieder infolge ihrer
Verdunklung im Bewußtsein eintritt. Solange hierbei alle
wirksamen Assoziationsglieder einigermaßen lebendig sind, bleibt die
Symbolik eine latente, da das Symbol und seine Bedeutung noch
vollständig zusammenfallen oder so eng verbunden sind, daß das
symbolische Zeichen als ein Teil der Vorstellung des Gegenstandes
selbst betrachtet wird. Dagegen wird dasselbe als Symbol, dabei
aber als ein natürliches, dem Gegenstand durchaus adäquates auf-
gefaßt, wenn einzelne Assoziationsglieder aus dem Bewußtsein ver-
schwunden sind, während das Gefühl der Verbindung und die
entsprechende Analogie der Vorstellungen noch erhalten blieben.
Der Übergang in rein konventionelle Gebärdensymbole kann dann
von hier aus entweder durch weitere Verdunklung der Assoziations-
glieder oder durch die Verbindung verschiedener Zeichen, oder
endlich durch Aufnahme von außen in der Form der Nachbildung
symbolischer Gebräuche oder gewisser Zeichen der Bilderschrift
erfolgen.
2. Die Gebärde und die Anfänge der bildenden Kunst.
Wie die Hände als Greiforgane durch die infolge der psychischen
Entwicklung eintretende Abschwächung einzelner Greifbewegungen
zu natürlichen Hilfsmitteln hinweisender Gebärden geworden sind,
so dürfen wir wohl ihre Beteiligung an den verschiedenen Formen
darstellender Gebärden zu jener vollkommeneren Betätigung der-
selben als Greiforgane in Beziehung bringen, die zur Verfertigung
künstlicher Gegenstände aus Materialien der Umgebung fort-
geschritten ist. Nachdem durch die Schaffung von Werkzeugen
und durch andere den Lebensbedürfnissen dienende Leistunsren die
Hand ihre feinere Ausbildung erlangt hat, gewinnt auch die Nach-
bildung der erzeugten Kunstprodukte eine wachsende Bedeutung.
2 20 Die Gebärdensprnche.
Das einmal geschaffene Werk nicht nur, sondern vor allem die Tätig-
keit, die es hervorgebracht hat, wird zum Vorbild, das zum Nach-
schaffen anregt. Diese nachbildende Tätigkeit, einmal erwacht, be-
schränkt sich aber endlich nicht mehr auf die Gegenstände und
Verrichtungen, die den Lebensbedürfnissen dienen, sondern sie geht
allmählich zur Nachbildung der Gegenstände der Natur selbst über.
Nachdem dieser Trieb der Nachahmung aus den angegebenen Mo-
menten äußeren Zwanges und freier Reproduktion der Vorstellungen
heraus erwachsen ist, muß er nun auch da sich zu äußern streben,
wo der langsam fortschreitenden Arbeit die unendlich leichter beweg-
liche Vorstellungsbildung" geschäftig vorauseilt. Noch bevor das im
Geiste vorausgeschaute Objekt unter der bildenden Hand in dauern-
dem Material entsteht, zeichnet dieselbe Hand ein rasch vergäng-
liches Bild in der Form einer Gebärde, welche die Umrisse des
Gegenstandes dem Auge vorführt. So ist hier für ein primitives
Schaffen die nachbildende Gebärde, die sich beliebig wiederholen
und verbessern läßt, gleichzeitig Vorübung und Ent^\alrf für das
auszuführende W^rk, analog wie auf einer späteren Stufe der Kunst-
entwicklung die Skizze. Die Leichtigkeit, mit der jene einfachste
Art der Nachbildung eines Gegenstandes auszuführen ist, muß nun
von Anfang an ihre Anwendung und weitere Übertragung begün-
stigen. Die nachbildende Bewegung wird so zur Andeutung von
Gegenständen oder Handlungen verwendet, wo immer der Drang
des Affekts dazu antreibt, namentlich aber wenn die Äußerung
der erregenden Vorstellungen durch den Verkehr mit andern ge-
weckt wird. So läßt sich schon bei jener der primitiven Kunst-
leistung vorausgehenden andeutenden Nachbildung wohl annehmen,
daß sie vor allem da hervortrat, wo ein Werk durch gemeinsame
Arbeit entstehen sollte. Das von dem Einzelnen für sich in unge-
fähren Umrißbewegungen beschriebene Bild machte zugleich den
Genossen das Geplante anschaulich, und es konnte von diesen
bald bestätigend, bald verändernd in gleicher Absicht wiederholt
werden. Damit war diese nachahmende Form der pantomimischen
Bewegungen zu einer weit über ihre ursprüngliche Entstehung
hinausreichenden Ausdrucksform geworden, die sich überall ein-
stellen mußte, wo der Trieb nach Äußerung gewisser Vorstellungs-
bestandteile des Affektes unbesiesfbar wurde, und wo doch der
Die Gebärde und die Anfänge der bildenden Kunst. 23 1
Gegenstand selbst nicht erreichbar, dem Ausdruck durch unmittel-
bare hinweisende Bewegungen also unzugänglich war.
Auf diese Weise treten die verschiedenen Formen nachbildender
Gebärden in enge Beziehungen zu den Anfängen der bildenden
Kunst. In der Tat ist die zeichnende Gebärde eigentlich nichts
anderes als eine Ausübung zeichnender Kunst, nicht an einem
dauernden Material, sondern ausschließlich in zeichnenden Bewe-
gungen, die an den Gegenstand erinnern, indem sie ein flüchtiges
Bild desselben in dem Zuschauer hervorrufen. Auch die Entwicklung
der Gebärde bietet eine gewisse Analogie mit der Entwicklung der
Kunst. Diese entsteht zuerst als zeichnende Kunst. Auf Felswände
und Baumrinden zeichnet der Mensch einer primitiven Kultur die
Gegenstände seiner Umgebung, menschliche Gestalten, Tiere und
Bäume, und mit ihnen die ältesten Formen menschlicher Tätigkeit,
den Kampf feindlicher Horden, das Töten der Tiere, das Fällen der
Bäume usw. Schon diese primitiven Kunstleistungen des Natur-
menschen sind zwar den frühesten Übungen unserer Kinder im
Zeichnen durch die schärfere Auffassung der Formen weit überlegen;
doch gleichen sie ihnen meist noch darin, daß sie, ähnlich der zeich-
nenden Gebärde, nur die Grenzlinien der Gegenstände und die vor-
zugsweise der Aufmerksamkeit sich aufdrängenden Teile beachten").
Dem gegenüber gehören die ersten plastischen Versuche im allge-
gemeinen schon einem vorgerückteren Stadium an. Zugleich ent-
fernen sich die Erzeugnisse der primitiven plastischen Kunst nicht
selten weiter als die der zeichnenden von der Wirklichkeit, ähnlich
wie dies auch von der plastischen gegenüber der zeichnenden Ge-
bärde gilt. Diese entwirft freilich nur ein sehr flüchtiges und im-
vollkommenes Bild : aber sie bemüht sich doch, die Wirklichkeit so
treu wie möglich wiederzugeben. Die plastische Gebärde dagegen
'y Charakteristische Beispiele primitiver Kunst vgl. bei Andree, Ethnographische
Parallelen und Vergleiche, I, S. 258, II, S. 56 ff. und die zugehörigen Tafeln. 1878 — 89.
Grosse, Die Anfänge der Kunst, 1894. S. 156 ff. Als Parallelen vergleiche man die in
den Höhlen und Kehrichthaufen gefundenen Zeichnungen der Urbewohner Europas,
z. B. bei W. B. Dawkins, Die Höhlen und die Ureinwohner Europas, deutsch von
J.W. Spengel, 1876, S. 272 ff., 281, und dagegen die von verschiedenen Autoren mit-
geteilten Zeichnungen von Kindern in verschiedenen Lebensaltem : Sully, Untersuch-
ungen über die Kindheit, 1897, S. 310 ff. Baldwin, Die Entwicklung des Geistes
beim Kinde und bei der Rasse, 1898, S. 78 ff.
23 2 Die Gebärdensprache.
ist, wenn sie eine mimische ist, nicht selten ein absichtlich über-
treibender Gesichtsausdruck; und wenn sie in der plastischen For-
mung- der Hände besteht, so rechnet sie auf die Phantasie des Be-
schauers, woraus sich denn auch wohl erklärt, daß die Mehrzahl
der symbolischen Gebärden dieser plastischen Form angehört.
Ebenso beschränkt sich die ursprüngliche Zeichnung auf den Ver-
such unmittelbarer Nachahmung. Die Abweichung von der Wirk-
lichkeit entspringt zunächst nur aus der Unvollkommenheit der
Kunstübung, nicht aus der Absicht etwas zu erzeugen, was wirklich
von der Natur verschieden ist. Das plastische Nachbilden dagegen
scheint von frühe an zu einer Veränderung der Natur, namentlich
zur Bildung von Formen, die übertreibende Umgestaltungen oder
Kombinationen von Naturformen sind, anzuregen, indem das ver=
wendete Material, der Baumstumpf oder Felsblock, aus dem die Form
gebildet wird, nicht selten selbst schon gewisse Ähnlichkeiten mit
Menschen- oder Tierformen bietet, die zugleich als groteske Um-
gestaltungen erscheinen und so die Phantasie zu weiteren Über-
treibungen oder Umbildungen herausfordern. So weisen die Knochen-
schnitzereien der Eskimos mit ihren gelegentlichen Versuchen, ver-
schiedene Tiergestalten zu kombinieren, und die furchterregenden
Gesichtsmasken, deren sich besonders die Schamanen bei einzelnen
dieser Stämme bedienen, auf eine regere Phantasietätigkeit hin'].
Noch augenfälliger tritt uns freilich dieser Unterschied entgegen,
wenn wir etwa die Rindenzeichnungen der Australier oder Busch-
männer mit den plastischen Werken der alten Mexikaner und Peru-
aner vergleichen^). Naturgemäß wird dann aber diese phantastische
Übertreibung und Umformung auch wiederum von der Plastik auf
die Zeichnung übertragen. Auf einer gewissen Mittelstufe primitiver
Kultur, wie sie etwa in der Kunstübung der nordamerikanischen In-
dianer vertreten ist, finden wir daher in den Zeichnungen und Ma-
lereien eine eigentümliche Mischung beider Motive, kindlich unbe-
holfene Nachahmungen der wirklichen Gegenstände und symbolische
Übertreibungen und Neubildungen nebeneinander. Zu den frühesten
Triebkräften einer solchen freien Umbildung der Wirklichkeit in ihrer
^) Grosse, a. a. O. S. i8o ff.
2) Man vergleiche z. B. in Ratzeis Völkerkunde,^ 1894, I, die Abbildungen
S. 686 und 608 ff.
Gebärdensprache und Bilderschrift. 2'\X
Nachahmung gehört aber das mythologische Denken; und das
allen solchen Gestaltungen positiver wie negativer Idealformen zu-
grunde liegende Hauptmotiv besteht schließlich darin, daß die von
der Wirklichkeit abweichende Gestalt irgendeine über der Wirklich-
keit stehende Macht verkörpere oder, wenn sich diese Vorstellung
ermäßigt hat, daß sie ein Symbol, ein sinnliches Zeichen einer
solchen Macht sei. So eröffnet sich in diesen phantastischen Über-
treibungen der Natur, welche die Entwicklung der Kunst mit sich
führt, ein besonderer Weg zur Bildung von Symbolen. Denn hier
geht nicht ein sinnlicher Gegenstand oder seine Nachbildung aus
der unmittelbaren Bedeutung allmählich durch eine Reihe von Asso-
ziationen in eine symbolische über, sondern mit der Entwicklung
zum Symbol verändert sich vollkommen gleichzeitig das Bild des
Gegenstandes selbst. Dies kann aber nur daraus erklärt werden,
daß eben jene Assoziationen, die von der unmittelbaren Vorstellung
ausgehend diese allmählich zu einer symbolischen machen, auf die
Vorstellung zurückwirken, um sie in ein ihrer symbolischen Bedeutung
adäquateres Bild umzuwandeln. Natürlich kann diese Symbolik immer
nur mit Mitteln geschehen, die im einzelnen wieder Nachbildungen
der Wirklichkeit sind. Doch in der Verbindung der Teile, in der
Steigerung einzelner Eigenschaften liegt eben hier der Übergang
zum Un- oder Übernatürlichen. Verbindungen menschlicher und
tierischer Gestalten, Steigerung gewisser Schreck oder Drohung aus-
drückender mimischer Züge, das starrende Auge, der aufgerissene
Rachen, dazu die ins Maßlose gesteigerte Größe der Formen sind
so die Mittel, mit denen eine primitive mythologische Phantasie
allerorten die sie erfüllenden Gefühle und Vorstellungen einer den
Menschen bedrohenden und erschreckenden Göttergewalt zum Aus-
druck bringt.
3. Gebärdensprache und Bilderschrift.
Aus der zeichnenden Kunst geht die Bilderschrift als eine be-
sondere Anwendung hervor. So nahe liegt aber diese Anwendung,
daß man wohl zweifeln darf, ob hier überhaupt von einer zeitlichen
Aufeinanderfolge die Rede sein kann. Denn sicherlich wird der
Mensch eine zeichnende Kunst auf Steinen oder auf Baumrinden
2-iA Die Gebärdensprache.
nicht früher geübt haben, als er auch schon in Horden lebte, die
gelegentlich in Wechselverkehr mit andern Horden stehen mochten,
so daß daraus das Bedürfnis nach Mitteilung an Abwesende erwuchs ;
und für diese bot sich das die Vorstellung fixierende Bild als das
nächste, überall bereit stehende Hilfsmittel. Diese Verwendung der
bildlichen Darstellung zur Mitteilung an Abwesende führte dann un-
vermeidlich zugleich über die Grenzen der reinen Nachahmung
hinaus, mit der sich das Bild als Werk der bloßen Kunstbetätigung
begnügen konnte. Die bildliche Mitteilung bedurfte besonderer
Andeutungen, welche die Beziehungen der in dem Bilde wiederge-
gebenen Vorstellungen ausdrückten. So wurden symbolische Zeichen,
zwischen die Nachbildungen der berichteten Ereignisse eingeschoben,
zuerst Bindeglieder der Vorstellungen, um dann allmählich das Bild
ganz zu verdrängen oder von ihm nur so dürftige Reste zurück-
zulassen, daß diese selbst zur Rolle bloßer Begriffssymbole herab-
sanken.
Hier liegt nun zugleich der Punkt, wo Gebärdensprache und
Bilderschrift in ihrer Entwicklung ineinander greifen, so daß es in
vielen Fällen wohl nicht mehr zu bestimmen ist, ob ein gegebenes
Zeichen der Bilderschrift als eine fixierte Gebärde, oder ob umge-
kehrt eine Gebärde als flüchtige Nachahmung eines Bilderzeichens
zu deuten sei. Maßgebend für die Beurteilung dieser Wechselbe-
ziehungen ist vor allem der Gesichtspunkt, daß, wie die Bilderschrift
nicht als Schrift, sondern als Bild ursprünglich entstand, so auch
die Gebärdensprache nicht als Sprache, sondern zunächst bloß
als Gebärde, ohne Rücksicht auf eine Mitteilung an andere sich ent-
wickelt hat. Wird doch die nachahmende Gebärde schon als Aus-
drucksbewegung von Affekten in der spezifischen Ausbildung, die
sie beim Menschen erlangt, erst verständlich, wenn wir sie zu der
bildnerischen Tätigkeit in eine nähere Beziehung bringen, indem
wir sie bald als einen Entwurf, den die der gewollten Handlung
vorauseilende Phantasie gestaltet, bald als eine Nachbildung des
Geschauten auffassen können (vgl. Kap. I, S. 130 ff.). Hier liegt es
nun aber auch nahe genug, daß die unmittelbar nur von der
eignen Phantasie hervorgebrachten und diese in natürlicher Rück-
wirkung wiederum belebenden Ausdrucksbewegungen ohne weiteres,
und ohne daß dazu ein besonderer Entschluß oder gar eine be-
Gebärdensprache und Bilderschrift.
235
sondere Erfindung erforderlich wäre, der Mitteilung und Verstän-
digung dienen, sobald nur die künstlerische Tätigkeit nicht mehr
von einem Einzelnen allein, sondern von mehreren gemeinsam aus-
geführt wird. Darum hat auch in die Entwicklung der Gebärde zur
eigentlichen Gebärdensprache jedenfalls die gleichzeitige Entstehung
der primitiven Kunst und der aus dieser hervorgegangenen Bilder-
schrift so sehr eingegriffen, daß im einzelnen Fall oft kaum mehr
zu entscheiden ist, in welcher Richtung der Einfluß stattgefunden
habe. Ganz besonders gilt dies von den symbolischen Gebärden
und den ihnen entsprechenden Symbolen der Bilderschrift. Da uns
hier eine historische Tradition nicht zu Gebote steht, so kann
höchstens aus der Beschaffenheit der Symbole selbst eine gewisse
Wahrscheinlichkeit für die eine oder die andere Möglichkeit ge-
Fig- 33- Brief eines Indianerhäuptlings in Bilderschrift.
Wonnen werden. In der Tat gibt es in der Bilderschrift Zeichen,
denen man auf den ersten Blick ansieht, daß sie eigentlich nur An-
deutungen von Gebärden sind; nicht minder aber auch andere, die
auf ein nachträglich erst durch eine Gebärde nachgeahmtes sym-
bolisches Bild hinzuweisen scheinen.
Einen Fall der ersten Art und zugleich ein Beispiel ursprüng-
licher, mit der Gebärdenmitteilung nahe verwandter Bilderschrift
bietet die Fig. 33. Sie ist die verkleinerte Kopie eines aus der
Gegend des oberen Sees in Michigan stammenden, farbig auf Per-
gament ausgeführten Dokumentes in Bilderschrift, welches die Bot-
schaft eines Häuptlings aus dem Adlertotem (i) an den Präsidenten
der Vereinigten Staaten (8) enthält. Die Andeutung des letzteren
tritt in dem farbigen Original durch die weiße Farbe des Hauses
und des Gesichts der Figur noch deutlicher hervor fder weiße Mann
236 Die Gebärdensprache.
im weißen Hause"*]. Der Inhalt der in dem Bilde ausgedrückten
Botschaft ist etwa der folgende'): "Ich (i) und einige meiner Krieger
(2 — 5) nebst einigen anderen mächtigeren Häuptlingen anderer To-
tems (6, 9) sind versammelt und bieten dir durch mich Freundschaft.
Wir sind alle gleicher Ansicht mit dir. Drei Krieger meines Stam-
mes (3, 4, 5) wollen von nun an in Häusern leben (7)'. Der Totem,
dem die Versammelten angehören, ist durch die Tiergestalten (i — 5
Adlertotem, 6 Fischtotem, 9 bleibt unbestimmt) angedeutet. Die
Häuptlingswürde wird durch vom Kopf aufsteigende Linien aus-
gedrückt: nach der Zahl dieser Linien ist zugleich die Macht des
Häuptlings zu bemessen. Der Briefsteller ( i ) stellt also seine eigene
Macht — sei es wahrheitsgemäß, sei es aus Höflichkeit gegen seine
Gäste — weit niedriger als die von 6 und 9. Das Anerbieten von
Friede und Freundschaft wird durch die ausgestreckte Hand, die
Übereinstimmung der Ansichten durch die Linien symbolisiert,
welche die Augen aller an der Botschaft Beteiligten mit dem rech-
ten Auge des Präsidenten verbinden. Der Wille der drei Stammes-
genossen (3, 4, 5), sich häuslich niederzulassen, also das Jägerleben
aufzugeben, wird durch drei unter ihnen gezeichnete Häuser ange-
deutet (7). Dabei dürfte das größere Haus unter dem größeren
Vogel wieder die bedeutendere Macht dieses Kriegers im Vergleiche
mit den beiden andern versinnlichen. Man muß gestehen, daß ein
Brief in gewöhnlicher Schrift und Sprache eine derartige Botschaft
kaum kürzer auszudrücken vermöchte, und daß er dieselbe jeden-
falls nicht in so anschaulicher, ohne weiteres mit einem einzigen
Blick zu übersehender Weise wiedergeben würde. Die einzelnen
Zeichen, die das Schriftstück zusammensetzen, sind teils nachbil-
dende, wie der Präsident in seinem Hause (8) und die drei Häuser
unter den Kriegern (7), teils halbsymbolische: so die Totemfiguren ;
teils aber sind sie ganz symbolische: so die Bezeichnungen der
Häuptlingswürde, die Freundschaftsversicherung und der Ausdruck
der Übereinstimmung. Die Bilder der ersten Art sind möglicher-
weise der Bilderschrift ursprünglich eigen. Wo sie gleichzeitig als
Gebärden vorkommen, wie die Andeutung eines Hauses durch seine
^) Die farbige Kopie nebst Erklärang siehe bei Schoolcraft, Ethnological Re-
searches resp. the Red Man of America, 1851, I, PI. 62, p. 418 f. Die bei School-
craft dem Original nahekommende Größe ist in Fig. 33 auf die Hälfte verkleinert.
Gebärdensprache und Bilderschrift. 237
in die Luft gezeichneten Begrenzungslinien, da kann dies ebensogut
Nachahmung eines wirklichen Hauses wie die eines Bildes sein:
jedenfalls liegt daher in solchen Fällen kein Grund vor, der flüch-
tigen Bilderschrift der Gebärden eine Priorität vor der eigentlichen
Bilderschrift einzuräumen. Insofern sich Gebärde und Bild in ge-
wissem Sinne wie Skizze und Ausführung verhalten, mögen sie
wie diese in Wechselbeziehung zueinander entstanden sein. Anders
ist das mit den ganz symbolischen Gebärden, die eigentlich den
Hauptinhalt der Mitteilung in dem obigen Beispiel ausmachen.
Hier kann zunächst nicht zweifelhaft sein, daß die ausgestreckte
Hand die unmittelbare Nachahmung der entsprechenden Gebärde
ist. Viel bemerkenswerter noch ist aber die Übertragung der Ge-
bärde in die Bilderschrift, da wo die letztere nicht unmittelbar
eine bestimmte symbolische Bewegung nachbildet, sondern wo die
Übertragung zugleich Veränderungen mit sich bringt, die in der
abweichenden Ausführung ihren begreiflichen Grund haben. Dahin
gehören in erster Linie in Fig. 33 die an den Köpfen der Figu-
ren 1 , 6 und 9 nach oben gerichteten Striche, welche die Häuptlings-
würde andeuten. Wie gerade dieses Symbol in der bildlichen Dar-
stellung entstanden sein sollte, würde schwer zu verstehen sein. Ihr
würde es offenbar viel näher liegen, auf irgendeine andere Weise, z. B.
durch die bedeutendere Größe und durch den vermehrten Schmuck
der Figuren oder ihnen beigegebene Waffen, die höhere Stellung
auszudrücken. Aber die symbolischen Striche, wie sie in der ein-
fachsten Form die Figur i zeigt, werden uns sofort verständlich,
wenn wir uns des Zeichens erinnern, das in der Gebärdensprache
der Indianer einen Häuptling andeutet, und das in der Bewegung
beider Hände vom Kopfe an aufwärts besteht (S. 178). Die bei-
den Linien, die wir über dem Kopf der Figur i bemerken, sind
augenscheinlich nichts anderes als Andeutungen dieser Gebärde. Es
mag dann aber allerdings eine selbständige Weiterbildung sein, die
dieses Zeichen in der Bilderschrift erfahren hat, wenn wir, um die
noch höhere Würde oder Macht anzudeuten, die Zahl der Linien
über dem Haupt in der Figur 6 auf fünf, und in der Figur 9
gar auf sieben gesteigert sehen. Übrigens zeigt diese Steigerung,
wie sehr die noch in unserer heutigen Kultur lebendig gebliebenen
Symbole adeligen Geschlechts und königlicher Würde bis zu dieser
238 1-^ie Gebärdensprache.
einfachen Symbolik ursprünglicher Bilderschrift und durch sie sogar
bis zur Gebärdensprache zurückreichen. Denn in dem Augenblick,
wo sich die zwei Linien zu 5 oder gar 7 vermehren, wird die
Reminiszenz an die Gebärde zum primitiven Bild einer Krone; und
das heraldische Merkmal, an dem sich heute noch die verschie-
denen Stufen adeliger Geburt unterscheiden, scheint so in direkter
Deszendenz von der einfachen Methode herzukommen, mittels deren
bereits die Bilderschrift der Wilden das primitive Zeichen der
Macht zu steigern sucht. Ein ebenfalls der Gebärdensprache ent-
nommenes, aber nach den Forderungen der Bilderschrift umge-
modeltes Symbol tritt uns endlich in den Linien entgegen, welche
die Augen der sämtlichen symbolischen Repräsentanten der in
Fig- 33 angedeuteten Personen verbinden. Übereinstimmung der
Ansichten drückt die Gebärdensprache anschaulich durch hinwei-
sende Bewegungen aus, die von Auge zu Auge gehen, ähnlich wie
Übereinstimmung der Gefühle durch Hinweisung zuerst auf das eigene
Herz, dann auf das des Angeredeten, oder Austausch der Meinungen
in Rede und Gegenrede durch eine den eigenen Mund mit dem
Munde des andern verbindende Gebärde. Die Bilderschrift der
Indianer hat nun alle diese Zeichen aufgenommen, indem sie die
Bewegung der Hand oder des Zeigefingers in einer bestimmten Rich-
tung jedesmal durch eine Linie ersetzt, die sich zwischen den Punk-
ten erstreckt, auf die der Finger hinweist. Ähnlich der in Fig. 33
dargestellten Vereinigung der Augen finden sich namentlich Ver-
bindungslinien zwischen den in den Körperumriß eingezeichneten
Herzen sehr häufig. Diese Herzen sieht man ohne solche Linien
auch an den beiden Figuren 6 und 8 der Fig. 33. Auf einzelnen
Dokumenten indianischer Bilderschrift erstrecken sich, um die Über-
einstimmung der Ansichten und Gefühle mit besonderer Emphase
hervorzuheben, die Verbindungslinien gleichzeitig zwischen den Augen
und den Herzen^). Auf andern wird eine Unterredung dadurch
symbolisiert, daß die die Lippen verbindenden Linien unterbrochen,
oder daß statt ihrer einzelne fingerähnliche Körperchen, die von
Mund zu Munde zu fliegen scheinen, gezeichnet sind^), ähnlich jenen
i) Schoolcraft a. a. O. PI. 60, p. 416.
2) Maller)', Sign Language, Fig. 192 — 194, p. 374 fi".
Gebärdensprache und Bilderschrift. 239
naiven Madonnen- und Heiligenbildern der älteren deutschen Mei-
ster, aus deren Munde auf langen Streifen die Worte hervorquellen.
Es mag dahingestellt bleiben, ob hierdurch nur die Gliederung der
Rede in Worte angedeutet werden soll, oder ob darin noch eine
unmittelbare Beziehung auf die Hin- und Herbewegung des Zeige-
fingers enthalten ist. Wie es sich damit aber auch verhalten möge,
jedenfalls führen alle diese symbolischen Bezeichnungen der Bilder-
schrift auf die Gebärde zurück: sie lassen sich nur als Entlehnungen
aus der Gebärdensprache verstehen, wenn sie auch von dieser los-
gelöst eine Art selbständigen Daseins führen können. Doch bringt
es die Fixierung der Gebärde in Sand oder einem andern festeren
Material von selbst mit sich, daß die in jener nur flüchtig ange-
deuteten Umrisse nun genauer ausgeführt und durch manches Detail
nachträglich ergänzt werden, und daß anderseits manches hinweg-
bleibt, was dem Gebärdenspiel sein eigentümliches Leben verleiht:
so vor allem die begleitende Mimik, in der die gleichzeitigen Ge-
fühle in allen ihren Färbungen und Übergängen anklingen. So
wird es begreiflich, daß die Zeichnung in der Bilderschrift, wie in
der primitiven Kunst überhaupt, der Hauptsache nach auf das
Gegenständliche beschränkt bleibt. Unter den Gegenständen der
Nachbildung nehmen aber naturgemäß wieder diejenigen, die das
Interesse des Menschen vor andern fesseln, die Tiere und der Mensch
selbst, die erste Stelle ein^).
Solchen Fällen, in denen die Bilderschrift gewisse Zeichen ur-
sprünglich der Gebärdensprache entnommen hat, stehen jedoch
andere gegenüber, wo die umgekehrte Wanderung anzunehmen ist.
Namentlich die Klasse der symbolischen Gebärden bietet hier Bei-
spiele. So kann, wie früher bemerkt wurde, das Gebärdensymbol
der Gerechtigkeit (Fig. 31 ^, S. 186) nur als Nachbildung der be-
kannten plastischen Darstellungen der Justitia verstanden werden.
Aber selbst unter den Symbolen der primitiven Bilderschrift fehlen
solche nicht, die, wahrscheinlich dieser ursprünglich angehörend,
dann aus ihr in Zeichen der Gebärdensprache übergegangen sind.
Ein Beispiel dieser Art enthält ein vom Prinzen Wied mitgeteilter,
^) Ernst Grosse, Die Anfänge der Kunst, 1894, S. 156 ff. K. von den Steinen,
Unter den Naturvölkern Zentralbrasiliens 2, 1897, S. 230 ff.
240 Die Gebärdensprache.
in Fig. 34 wiedergegebener Brief eines Mandan-Indianers an einen
Pelzhändler'). Rechts ist ein Bison, eine Fischotter und ein Fischer
(Mustela canadensis) abgebildet, links eine Flinte, ein Biber und
hinter diesem 30 Striche. Zwischen beiden Gruppen findet sich
ein Kreuz. Da das letztere überall in der Bilderschrift der Indianer
als Zeichen des Tausches vorkommt, so ist der Sinn des Briefes
dieser: 'ich biete dir die Felle eines Bisons, einer Fischotter und
eines Fischers gegen eine Flinte und dreißig Biberfelle an^ Nun
haben wir gesehen, daß das Kreuz in der Form zweier gekreuzter
Zeigefinger auch als symbolische Gebärde für Tausch vorkommt
(Fig. 32 m). Man könnte also vermuten, es sei hier, ähnlich wie in
den obenerwähnten Fällen, die Gebärde in die Bilderschrift über-
gegangen. Dem gegenüber ist aber zu erwägen, daß unter dieser
<^
Fig. 34. Handelsbrief eines Indianers in Bilderschrift.
Voraussetzung die Entstehung der Gebärde selbst dunkel bleibt.
Verkehr und Tausch durch Kreuzung der Finger zu bezeichnen,
würde mindestens eine etwas weit hergeholte Symbolik sein, die
sich mit der sonstigen Entstehungsweise ursprünglicher Symbole
nicht recht in Einklang bringen läßt. Dagegen liegt der Gebrauch
des Kreuzes als Bild in diesem Fall ziemlich nahe, sobald man sich
der ursprünglichen Bedingungen erinnert, unter denen der Tausch-
verkehr bei Völkern primitiver Kultur entsteht. Überall, wo sich
das Bedürfnis eines solchen mit einer gewissen Regelmäßigkeit ein-
stellt, da pflegt dieser naturgemäß Orte zu wählen, an denen sich
^) Reise in das innere Nordamerika, 11, S. 657, Beilage B.
Gebärdensprache und Bilderschrift. 24 1
die von verschiedenen Siedelungen und Jagdgebieten kommenden
Wege kreuzen. Noch auf einer erheblich höheren Verkehrsstufe,
in der Wirtschaftsentwicklung des deutschen Mittelalters, hat sich
an den Kreuzweg der Markt und an den Ort des Marktes mit den
ihm erteilten öffentlichen Gerechtsamen der Anfang eines städtischen
Gemeinwesens angeschlossen'). Auch wenn keine festen Pfade
durch das Gefilde gelegt sind, bilden sich durch den Zug der Ge-
birge, der Täler und Flußläufe und infolge der Verbreitung ver-
schiedener Horden über bestimmte Territorien solche Kreuzungs-
punkte des Verkehrs aus, die zu natürlichen Tauschplätzen werden,
sei es, daß die Tauschenden persönlich zusammentreffen, sei es,
daß sie an diesen Orten die Gegenstände, die sie auszutauschen
wünschen, niederlegen. Demnach ist jenes Symbol der Bilderschrift
ohne weiteres erklärlich, wenn man es als die Andeutung eines sol-
chen dem primitiven Tausch verkehre dienenden Ortes auffaßt.
Ähnliche Wechselwirkungen zwischen Gebärde und Schrift be-
gegnen uns schließlich bei jener eigenartigen Bilderschrift, die, in-
mitten unserer Kulturwelt entstanden, trotzdem eine natürliche Ähn-
lichkeit mit den primitiven Bilderschriften der Naturvölker bewahrt:
in den schon oben (S. 152, Anm. 2) erwähnten »Zinken« der Gauner.
So wird hier, wie bei den Indianern, die Nacht durch eine gewölbte
Decke, die Freude oder ein freudiges Ereignis durch ein Herz be-
zeichnet. Zwei dachähnlich sich aneinander lehnende schräge Linien,
die dem Indianer ein Zelt oder Haus bedeuten, sind Zeichen des
Gefängnisses. Wird damit noch das gleiche Zeichen in umgekehrter
Stellung kombiniert, so ist dies das Symbol der ''Enthaftung\ Eine
große Rolle spielen überhaupt die symbolischen Zeichen: so be-
zeichnet eine aufrecht stehende gerade Linie ""standhaftes Leugnen',
eine horizontale Linie dagegen "Eingeständnis' usw. ^). Hier sind die
Übereinstimmungen mit der primitiven Bilderschrift der Naturvölker
augenfällig, wenngleich im Hinblick auf den spezifischen Interessen-
kreis und auf den Umstand, daß die Zeichen der Gauner zugleich
den Charakter einer Geheimschrift besitzen, Unterschiede nicht
^) Vgl. Lamprecht, Deutsche Geschichte, in, S. 32 ff.
2) Hanns Gross, Handbuch für Untersuchungsrichters, 1899, S. 261, 275 ff.
Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik, 11, 1899, S. i, 33 ff. (Dazu
Taf. 20 ff.)
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. 16
242 Die Gebärdensprache.
fehlen. Außerdem wird aber hier wieder die Gebärde vor allem da-
durch zu einem leicht verständlichen Symbol, daß sie als die An-
deutung eines Bildzeichens, also als eine Entlehnung aus der Bilder-
schrift der Gauner erscheint.
Nach allem dem ist es klar, daß sich ebensowenig die Bilder-
schrift ausschließlich aus der Gebärdensprache wie diese aus jener
ableiten läßt. Dagegen sind zweifellos einzelne Zeichen der Bilder-
schrift aus Gebärden, und ebenso umgekehrt gewisse Gebärden aus
Zeichen der Bilderschrift hervorgegangen. Hieraus läßt sich als
allgemeines Ergebnis entnehmen, daß Gebärdensprache und Bilder-
schrift Erzeugnisse des menschlichen Verkehrs sind, die sich von
früher Zeit an neben und in Wechselwirkung miteinander entwickelt
haben.
4. Psychologischer Charakter der Gebärdensprache.
Die im Eingange dieses Kapitels berührte Frage, ob die Ge-
bärdensprache erfunden sei, oder ob sie sich aus allgemeingültigen
Bedingungen der psychophysischen Organisation des Menschen nach
bestimmten, überall wiederkehrenden psychologischen Gesetzen ent-
wickelt habe, kann wohl nach den vorangegangenen Ergebnissen
für erledigt gelten. Die natürliche Gebärdensprache, die sich unter
ähnlichen Bedingungen immer wieder spontan in ähnlichen Formen
entwickelt, trägt eben in dieser Übereinstimmung der Bedingungen
und ihrer Wirkungen die zuverlässigste Bürgschaft ihrer von äußerem
Zwang und willkürlicher Erfindung gleich unabhängigen psycholo-
gischen Gesetzmäßigkeit in sich. Aber diese Gesetzmäßigkeit schließt
doch anderseits willkürliche Einflüsse Einzelner und künstliche Er-
findungen, die an der Vervollkommnung der Gebärdenmitteilung im
Interesse besonderer durch sie zu erreichender Zwecke arbeiten,
keineswegs aus. Solche Einflüsse springen in einzelnen Fällen deut-
lich genug in die Augen. Sie sind an den Umdeutungen der Zei-
chen zu erkennen, die der Absicht, die Gebärdensprache zu einer
Geheimsprache zu machen, entstammen, wie bei manchen der nea-
politanischen Symbole. Ebenso weisen die sichtbaren Entlehnungen
aus der Bilderschrift und deren weitere symbolische Umgestaltungen,
wie sie uns in den oben angeführten Beispielen entgegentraten, auf
Psychologischer Charakter der Gebärdensprache. 24^
ähnliche Einflüsse hin. Man erinnere sich z. B. der verschiedenen
Umdeutungen des Symbols der Gerechtigkeit (Fig. 31 ^, S. 186) und
an das Tauschsymbol mit seinen Weiterbildungen (Fig. 32 ?^ und n^
S. 187). Motive, die solche künstliche Übertragungen hervorbringen,
und die doch aller Wahrscheinlichkeit nach nur auf willkürliche
Einfälle Einzelner ursprünglich zurückgeführt werden können, be-
gleiten von Anfang an die Entwicklung der Gebärdensprache, und
es erhebt sich daher unabweislich die Frage nach dem Verhältnis
dieser Momente natürlicher Entstehung und künstlicher Umbildung
überhaupt. Diese Frage hängt aber wieder auf das engste mit der
andern zusammen, welches in beiden Fällen die psychischen Vor-
gänge seien, aus denen die äußeren Wirkungen entspringen, und
in welchen Beziehungen hier die generellen, auf allgemeingültigen
psychischen Gesetzen beruhenden Prozesse zu den individuellen, ur-
sprünglich auf ein einzelnes Bewußtsein beschränkten Motiven stehen.
Für die Beantwortung beider Fragen bildet der Ursprung aller
in den Zusammenhang der natürlichen Gebärdensprache eingehen-
den Zeichen aus den Ausdrucksbewegungen die feste Grund-
lage, von der die psychologische Analyse ausgehen muß. Dieses
Ursprungsgesetz führt mit Notwendigkeit zu der Voraussetzung, daß
die primäre Ursache einer natürlichen Gebärde nicht in dem Motiv
der Mitteilung einer Vorstellung, sondern in dem des Aus-
drucks einer Gemütsbewegung liegt. Die Gebärde ist zunächst
und ursprünglich Affektäußerung. So wesentlich es für die Ge-
bärdensprache ist, daß sie sich über diese Stufe allmählich erhebt,
so würde sie selbst doch ohne ursprüngliche Affektmotive niemals
entstehen können. Nur sekundär, insofern jeder Affekt gefühlsstarke
Vorstellungen enthält, wird die Gebärde zugleich Vorstellungsäuße-
rung. In den weiteren psychischen Wirkungen, die sich an diesen
Nebenbestandteil der Afifektäußerung knüpfen, liegt aber die Ur-
sache für die ganze Weiterentwicklung zur eigentlichen Gebärden-
sprache. Als Vorstellungsäußerung vor allem vermag die Aus-
drucksbewegung des Einen in dem Andern die gleichen Affekte
wachzurufen, weil erst durch den Übergang übereinstimmender
Vorstellungen von jenem auf diesen auch eine Übereinstimmung
ihrer Affekte entstehen kann. Die Gefühlsäußerungen vermögen
immer nur die gleichen Grundrichtungen der Gemütsbewegung
16*
244 ^^^ Gebärdensprache.
anzugeben und wiederzuerzeugen. Einen sichern Inhalt gewinnt, wie
der Affekt selbst, so auch seine Wiederentstehung im Andern erst
durch die Vorstellungsinhalte und durch die Bewegungen, in denen
sich diese nach außen kundgeben. Mit der treueren VViedererzeu-
gung des Affekts geht aber noch ein anderer Einfluß der Vorstel-
lungsäußerung Hand in Hand. Indem diese der in dem Genossen
entstandenen Widerspiegelung der Gemütsbewegung ein festeres
Substrat gibt, regt sie weitere Vorstellungen an, die mit den durch
die Gebärden mitgeteilten in Beziehung stehen, sie weiterführen
oder auch, wenn sich widerstrebende Affekte regen, zu ihnen in
einen Gegensatz treten. Jetzt ist daher die Gebärde des Zweiten
nicht mehr ein bloßer Reflex der Bewegung des Ersten, sondern
aus der Mitbewegung ist eine Antwortbewegung geworden.
Mögen zunächst die Grenzen zwischen dieser und jener noch in-
einander fließen, allmählich müssen sie sich, je reger die Vorstel-
lungsbewegungen im individuellen Be\\aißtsein werden, weiter und
weiter entfernen. War die Antwort zuerst wenig mehr als eine
Nacherzeugung desselben Vorstellungsinhaltes, so tritt im weiteren
Verlaufe die Wiederholung des Wahrgenommenen hinter den neu
angesponnenen Vorstellungsinhalten zurück. Auf diese Weise ist
schließlich der individuelle in einen gemeinsamen, unter der fort-
wirkenden Hin- und Herbewegung der Gebärden sich fortan ver-
ändernden Affekt übergegangen. Indem sich dann noch durch die
überwiegende Betonung der Vorstellungsinhalte die Gefühlselemente
der Affekte und dadurch die Affekte selbst ermäßigen, wird all-
mählich der gemeinsam erlebte, mit der Gebärdenäußerung hin- und
herwogende Affekt zum gemeinsamen, im Wechselverkehre
der Gebärdenäußerung sich betätigenden Denken.
Ihrem psychologischen Charakter nach sind somit die Bewegun-
gen, aus denen sich die ursprünglichen Gebärden und ihre Über-
gänge in eine mehr und mehr sich regelnde Gebärdenmitteilung
zusammensetzen, Triebhandlungen, also Willenshandlungen, die
auf ein einziges Motiv erfolgen und diesem Motiv angepaßt sind,
aber ohne einen irgend merklichen Zusammenstoß desselben mit
weiteren Motiven zu verraten (vgl. S. 38 ff). Insofern nun ein Motiv
stets in einem Gefühl mit entsprechendem Vorstellungsinhalt oder, wie
wir es bei etwaigem Übergewicht des letzteren ausdrücken können,
Psychologischer Charakter der Gebärdensprache. 245
in einer gefühlsstarken Vorstellung- besteht, wird auch bei der
Triebhandlung der Effekt in dem Vorstellungsinhalt des Motivs
antizipiert. Die Hinweisung auf die Objekte oder bei stärkerer
Affekterregung deren Nachbildung durch die eigene Bewegung ist
daher Affektsymptom und Motivsymptom zugleich: die Gebärde
ist unmittelbarer Ausdruck derjenigen Vorstellung, die den Affekt
im Augenblicke beherrscht. Bei der ursprünglichen Ausbreitung
von Affektäußerungen ist es dasselbe Motiv, das in einem Ersten
die Gebärde erzeugt, und das dann in einem Zweiten wieder an-
klingt, um den nämlichen äußeren Erfolg herbeizuführen. Indem
aber jenes Motiv in dem Zweiten allmählich noch weitere Motive
hervorruft, ändert sich entsprechend die Gebärdenäußerung. Auf
diese Weise vollzieht sich, immer noch in den Grenzen bloßer
Triebhandlungen, jener Übergang der Mitbewegung in die Ant-
wortbewegung, der der eigentliche Geburtsmoment der Gebärden-
sprache ist. Doch liegen allerdings in eben jenen Veränderungen,
aus denen der Wechsel der Motive und ihrer äußeren Wirkun-
gen bei der Hin- und Herbewegung der Gebärden entsteht, zu-
gleich die Bedingimgen für ein allmählich hervortretendes will-
kürliches Handeln, das nun an entscheidenden Stellen in den Ver-
lauf der Triebbewegungen einzugreifen und seine weitere Richtung
zu bestimmen pflegt. Denn sobald die von außen aufgenommene
Vorstellung andere Vorstellungen wachruft, müssen diese nach den
besonderen Vorbedingungen des individuellen Bewußtseins variieren.
Zudem können sich jetzt mehrere Assoziationswirkungen gleich-
zeitig geltend machen, indem der Eindruck nach verschiedenen
Richtungen hin assoziative Beziehungen darbietet. So wiederholen
sich hier die nämlichen Momente, welche die Willensentwicklung
überall zeigt. Zuerst entsteht ein passiv erlebter Kampf der Motive,
der mit dem Übergewicht eines bestimmten Motivs endigt. Dieser
Kampf gestaltet sich dann, indem in wachsendem Maße die Vor-
erlebnisse auf den gerade ablaufenden Prozeß einwirken, zu einem
Vorgang der Wahl oder der aktiven Bevorzugung des herrschend
gewordenen Motivs, der sich von jenem passiv erlebten Kampf der
Motive subjektiv nur durch die stärkere Beteiligung von Aufmerk-
samkeitsvorgängen und Tätigkeitsgefühlen unterscheidet. In glei-
chem Maße beginnen sich dann die Assoziationen zu deutlichen
246 I^ic Gebärdensprache.
intellektuellen Prozessen zu ordnen: bewußte Beziehungen und Ver-
gleichungen treten hervor. Es gestaltet sich so allmählich aus jener
triebartigen Aufnahme, Wiederholung und Umänderung der Ge-
bärden eine reflektierende und in entscheidenden Momenten er-
finderische Verwendung und Umwandlung derselben.
So kann man denn schon von der Gebärdensprache, dieser un-
vollkommensten, aber eben wegen ihrer UnvoUkommenheit für die
allgemeinsten Probleme vielleicht lehrreichsten Form der Sprache,
sagen, sie repräsentiere in ihrer Bildung alle Entwicklungsstufen, die
das geistige Leben des Menschen überhaupt zurücklegt. Darum
ist es aber auch nicht möglich, sie auf eine einfache psychologische
Formel zurückzuführen. Die Sprache, und so auch bereits die
Gebärdensprache, ist ein treuer Abdruck des Menschen in der Ge-
samtheit seiner psychischen Leistungen. Ihre Entwicklung fällt mit
der Entwicklung dieser Leistungen zusammen. Das Grundgesetz
aller geistigen Entwicklung, wonach das Folgende ganz und gar aus
dem Vorangegangenen entsteht und dennoch ihm gegenüber als
eine neue Schöpfung erscheint, dieses Gesetz der »psychischen Re-
sultanten« oder der »schöpferischen Synthese« bewährt sich auch
Schritt für Schritt in der Aufeinanderfolge der seelischen Vor-
gänge, aus denen sich die Entwicklung der Gebärdensprache zu-
sammensetzt. Jede Stufe dieser Entwicklung ist im Keime schon
in der vorangegangenen enthalten und ist doch ihr gegenüber ein
Neues. So ist die Antwortgebärde ein gewaltiger Schritt nach vor-
wärts gegenüber der bloßen Nachahmung, und doch ist sie, wie
wir annehmen dürfen, aus dieser ohne irgendein Hereinragen
fremdartiger Kräfte, rein durch die Steigerung der dort schon wirk-
samen elementaren psychischen Bedingungen entstanden. Nicht
anders leitet die triebartige Reaktion auf äußere Eindrücke in ein
willkürliches, besonnenes Handeln, und dieses endlich in das Gebiet
erfinderischer Leistungen über. Hierbei greifen nur mehr und mehr
wegen der sich steigernden Mannigfaltigkeit singulärer Bedingungen
auch die Handlungen Einzelner maßgebend in das Getriebe der
allgemeinen psychischen Wirkungen ein. In dieser ganzen Ent-
wicklung erblicken wir überall nur ein den Ereignissen selbst im-
manentes Fortschreiten über die erreichten Grenzen, nirgends ein
Hereingreifen äußerer, fremdartiger Kräfte, nirgends ein Hervortreten
Psychologischer Charakter der Gebärdensprache. 247
neuer spezifischer »Seelenvermögen«. Was wir besonnene Wahl
zwischen verschiedenen Motiven und erfinderische Tätigkeit nennen,
das ist eben selbst nur die höchste Steigerung und zugleich der not-
wendige Enderfolg der Wirkung ursprünglichster einfacher Triebe
und der zu diesen hinzukommenden, vor allem durch das gemein-
same Leben gebotenen Bedingungen. In diesem naturnotwendigen
und doch durch und durch zwecktätigen, von den vorhandenen
zu neuen und voUkommneren Zwecken aufsteigenden Fortschritt
liefert die Gebärdensprache ein Beispiel der Sprachentwicklung über-
haupt, ausgezeichnet durch die Einfachheit und Durchsichtigkeit der
Erscheinungen.
Drittes Kapitel.
Die Sprachlaute.
I. stimmlaute im Tierreich.
I. Stimmlaute als Ausdrucksbewegungen.
Der Sprachlaut ist physiologisch betrachtet eine Ausdrucks-
bewegung, vor andern ausgezeichnet durch die Beteiligung der
muskulösen Tonapparate des Kehlkopfes und der Mundhöhle so-
wie der respiratorischen Muskeln, die das Anblasen dieser Ton-
apparate vermitteln. Die besonderen Muskelwirkungen, die dem so
erzeugten Schall jene mannigfaltigen Klang- und Geräuschquali-
täten verleihen, durch die er seine Eigentümlichkeit als Sprachlaut
gewinnt, gehören im weiteren Sinne dem Gebiet der mimischen
Bewegungen an. Vor den stummen Gefühlssymptomen, deren
Hauptsitz die Mimik des Angesichts ist, zeichnen sich diese die
Sprachlaute begleitenden mimischen Bewegungen nur dadurch aus,
daß an ihnen neben den äußeren innere Bewegungen der in
Mundhöhle und Rachen gelegenen Muskeln beteiligt sind, allen
voran das durch feinste Beweglichkeit und Tastempfindlichkeit aus-
gezeichnete muskulöse Organ: die Zunge. Die Beziehung ihrer
mannigfaltigen Stellungen und Bewegungen zu den verschiedenen
Sprachlauten hat sich der Beobachtung so frühe schon aufgedrängt,
daß in vielen Sprachen die Bezeichnung der Zunge ohne weiteres
auf die Sprache selbst übergegangen ist {lingna, yXtoGaa, hebr.
laschon usw.).
Als die Vorstufen der Sprachlaute sind hiernach alle jene tie-
rischen Lautäußerungen anzusehen, die durch ähnliche respiratorisch
erregte Tonwerkzeuge hervorgebracht werden und ebenfalls die
psychophysische Bedeutung von Ausdrucksbewegungen besitzen. So
Stimmlaute als Ausdrucksbewegungen. 240
die Schreie und Lockrufe vieler Tiere aus der Klasse der Amphibien,
wie der Frösche, Kröten, Krokodile, Schildkröten, namentlich aber
der Vögel und Säugetiere, während andere Geräuschbildungen im
Tierreich, wie das Geräusch der Klapperschlangen, die Laute
mancher Fische, die das Ausströmen der Luft aus der Schwimm-
blase begleiten, endlich die Geräusche vieler Insekten, die durch
die schwingenden Bewegungen der Flügel oder durch das An-
einanderreihen horniger Teile des Hautskeletts entstehen, weder
nach ihren physiologischen Bedingungen noch wahrscheinlich nach
ihrer psychologischen Funktion hierher gehören. Mindestens ist es
zweifelhaft, oh sie direkte Symptome von Gefühlen sind und nicht
bloß zufallig, infolge der durch Affekte erregten Körper- und Flug-
bewegungen, solche begleiten können. Dies aber kennzeichnet gerade
alle mit respiratorischen Tonapparaten erzeugten Schreie und Rufe
der Tiere und läßt sie zugleich als Vorstufen der Sprachlaute er-
scheinen, daß sie unmittelbare Ausdrucksmittel psychischer
Zustände sind, vor andern durch die doppelte Eigenschaft aus-
gezeichnet, daß die erzeugten Laute durch den Eindruck auf das
Gehör des rufenden Tieres eine energischere Entladung der Gefühle
bewirken, und daß sie in andern Tieren der gleichen Art ähnliche
Gefühle erwecken können. Dabei gilt für sie dasselbe, was für
die Ausdrucksbewegungen überhaupt gilt: nicht die objektive Be-
deutung ist die primäre, sondern die subjektive. Da die respirato-
rischen Symptome bei den heftigeren Affekten an und für sich
schon stärker hervortreten, so ist die Lautäußerung zunächst nur
eine weitere Steigerung der allgemeinen Affektwirkung; und da in
allen Fällen die Empfindungen, welche die Ausdrucksbewegungen
begleiten, durch ihren unmittelbaren sinnlichen Gefühlston die Affekte
selbst steigern, so liegt auch die Lautwirkung auf das eigene Ohr
noch innerhalb der Grenzen der allgemeingültigen Affektvorgänge.
Nur gewinnt dieser sonst zurücktretende Bestandteil hier sofort eine
vorherrschende Bedeutung.
Jene subjektiven Motive der Affekte und ihrer Ausdrucksformen
finden nun aber in dem Zusammenleben der Tiere weitere Be-
dingungen vor, die auf die ursprünglichen Gefühlsmotive verändernd
und erweiternd zurückwirken. Wie die Ausdrucksbewegung über-
haupt zuerst ein triebartig, dann aber in einzelnen Momenten
250 Die Sprachlaute.
willkürlich gebrauchtes Ausdrucksmittel ist, so ent^^•ickelt sich der
ursprüngliche Gefühlslaut zum Ruflaut und Locklaut. Auch diese
bleiben fortan vorherrschend Gefühlsäußerungen. Die Hilfe- und
Lockrufe der Tiere entstehen nicht bloß ursprünglich ohne Bewußt-
sein der Zwecke, denen sie künftig dienen können, sondern sie
werden auch, nachdem sie zu Hilfsmitteln der Mitteilung geworden
sind, immer noch in vielen Fällen, ganz wie andere Ausdrucks-
bewegungen, ohne einen solchen Zweck hervorgebracht. Die ur-
sprünglichsten Gefühlsäußerungen durch die Stimme sind daher aller
Wahrscheinlichkeit nach rein subjektive Gefühlslaute, die nur auf die
stärksten, schmerzerregenden Sinnesreize eintreten. Unter diesen
sind im wilden Zustand der Tiere die mit heftigstem Unlustgefühl
verbundenen Hungerempfindungen die häufigsten; und an das den
Hunger ausdrückende Wehgeheul schließen sich dann in natürlicher
Assoziation Lautäußerungen an, die die Verfolgung und Bewältigung
der Beutetiere, endlich solche, die den Kampf um die Beute be-
gleiten, — Übertragungen, bei denen sich zugleich die Art der Laute
nach den veränderten Bedingungen, die fLir die Gefühle und ihre
Äußerungen entstehen, von selbst modifiziert. Der Schmerzens-
schrei und der Wutschrei werden aber auch um deswillen als die
ursprünglichsten Stimmäußerungen gelten müssen, weil sie noch jetzt
die allgemeinsten sind. Viele Nagetiere, wie der Hase, der Maul-
wurf, das Eichhörnchen, verhalten sich in der Regel stumm, nur
heftige Sinnesreize oder die äußerste Angst entlocken ihnen einen
durchdringenden Schmerzenschrei. Dazu gesellt sich dann, nament-
lich bei den wild lebenden Karnivoren, als eine eigentümliche Dauer-
form des Schmerzensschreis das Wehgeheul des Hungers, und end-
lich, wahrscheinlich aus diesem entstanden, der Wutschrei. Mit der
Ermäßigung der Affekte mildern sich auch hier die Affektäußerungen,
und es gewinnen so die Stimmlaute zugleich feinere Nuancen,
durch die sie mannigfaltigere Lust- wie Unlustgefühle verraten.
Unter ihnen werden jene Gefühlslaute, die die Liebeswerbung be-
gleiten, sichtlich in vielen Fällen für die reichere Entwicklung der
Lautäußerungen von hervorragender Bedeutung. Dies zeigen vor
allem die Bedingungen, unter denen die Singvögel ihre Lockrufe
ertönen lassen, wie denn auch die Tatsache, daß vorzugsweise die
männlichen Vögel mit Gesangsmitteln ausgestattet sind, deutlich
Stimmlaute als Ausdrucksbewegungen. 2 =) I
auf diesen Zusammenhang hinweist"). Doch ist der Vogelgesang
schon eine verhältnismäßig hochstehende, auf eine kleine Gruppe
von Tieren beschränkte Gefühlsäußerung, und die Bedingungen seines
Vorkommens machen es wahrscheinlich, daß er sich aus roheren
Formen der Lautäußerung, vielleicht aus dem Wutgeschrei der in
der Paarungszeit miteinander kämpfenden männlichen Tiere, ent-
wickelt hat. Nachdem jene Form der Ausdruckslaute entstanden
war, mußte sie sich aber, gemäß dem allgemeinen Prinzip der Über-
tragung der Ausdrucksbewegungen, alsbald auf andere Affekte von
verwandtem Gefühlston ausbreiten. Mag darum der Gesang des
männlichen Singvogels in vielen Fällen Lockruf bleiben, seine all-
gemeine Bedeutung ist dies jedenfalls nicht mehr, sondern er ist,
ähnlich den fortwährenden zwecklosen Flug- und sonstigen Körper-
bewegungen der meisten kleineren Vögel, zu einem allgemeinen Aus-
drucksmittel heiterer Gefühle geworden. Bei dieser ganzen Ent-
wicklung spielen objektive Zweckmotive, wie sie von Anfang an
fehlen, so auch im weiteren Fortgang keine wesentliche Rolle. Viel-
mehr sind die subjektiven, ohne Willen und Absicht hervorgebrach-
ten Gefühlslaute, wie die verbreitetsten, so überall die ursprünglichsten,
und sie behalten fortwährend das Übergewicht, wenn sie auch all-
mählich in einzelnen Fällen von willkürlichen Handlungen abgelöst
werden, die sich der vorhandenen Ausdrucksmittel bemächtigen.
Vor allem mußten diese bereits vorhanden sein, ehe sie in den Dienst
der geselligen Triebe treten konnten. Noch jetzt sind in der Tier-
reihe das heftige Schmerzgefühl und der Affekt der Wut die beiden
Seelenzustände, die sich allgemein und mit unwiderstehlicher Gewalt
in Lauten äußern. Infolge der Differenzierung der Gefühle, die mit
zunehmender psychischer Entwicklung eintrat, sind aber diese Laut-
äußerungen allmählich auf andere Gemütszustände übergegangen.
Dabei wurden sie dann teils abgeschwächt, teils abgeändert, teils
verbanden sie sich mit mannigfachen Vorstellungsinhalten und Willens-
richtungen, so daß schließlich die vollkommneren dieser Ausdrucks-
laute, die Hilfe- und Lockrufe, bereits als eine Art Vorstufe der
Sprache betrachtet werden können. Doch sollte man hier unter
Hilfe- und Lockrufen nur solche Laute verstehen, die unmittelbare
^) Darwin, Abstammung des Menschen. Deutsch von J. V. Carus, 1871, II, S. 43ff.
»52 Die Sprachlaute.
Äußerungen sozialer Triebe sind, und mit denen sich daher direkt
das Begehren nach Hilfe oder nach Herbeilockung anderer, nament-
lich der weiblichen Tiere verbindet. Diese Grenzen pflegt man, wie
überall bei der Beurteilung tierischer Lebensäußerungen, nicht immer
einzuhalten, sondern man ist geneigt, jeder Handlung, die geeignet
ist, einen bestimmten Erfolg herbeizuführen, auch sofort die Vor-
stellung dieses Erfolges unterzuschieben.
2. Allgemeine Entwicklung der Ausdruckslaute.
Der Ausgangspunkt aller Äußerung tierischer Stimmlaute ist
demnach der Schrei, der in seiner Qualität wie Intensität nur un-
erhebliche Modifikationen darbietet. Denn Schmerz und Wut, die
beiden einzigen Affekte, die sich auf dieser ersten Stufe mit Laut-
äußerungen verbinden, sind beide heftige Unlustregungen. Der so
unter stärkstem Exspirationsdruck in den gespannten Stimmbändern
erzeugte, dem weit geöffneten Rachen entweichende Schrei ist nach
seinem musikalischen Charakter ein von starken dissonanten Neben-
tönen begleiteter, also geräuschähnlicher Klang. Er ist je nach
den Dimensionen des Stimmorgans von verschiedener, aber bei
einem und demselben Tiere nahezu gleichbleibender Tonlage. Diese
variiert nur etwas nach der Intensität des Affekts, da der stärkere
Affekt eine Steigerung des Atemdrucks und der Stimmbänder-
spannung und dadurch eine Erhöhung der Tonlage bewirkt. Gemäß
den allgemeinen Gesetzen des Verlaufs der Affekte steigt dabei die
Tonhöhe zuerst mehr oder weniger rasch an, um dann wieder ab-
zufallen. Außerdem zeigt sie zuweilen, namentlich bei der Form der
Zorn- und Wutafifekte, einen intermittierenden, mehrmals auf und
absteigenden Rhythmus. So spiegelt sich der Verlauf des Affekts
genau in den Veränderungen der Tonhöhe und Tonstärke oder in
dem abwechselnden crescendo und decrescendo der Lautäußerungen.
Der Stimmlaut selbst bleibt aber lediglich ein Symptom der Ent-
ladung starker Gefühle.
Dies wird anders auf der zweiten dieser Stufen. Zu dem
Schmerz- und Wutschrei treten nun Lautäußerungen mäßiger
Affekte. Der Übergang zu diesen hängt nicht oder wenigstens
nicht in erster Linie von der zunehmenden psychischen Entwick-
Allgemeine Entwicklung der Ausdruckslaute. 253
lung, sondern hauptsächlich, wie es scheint, von der Lebensweise
der Tiere ab, da bei den in Schwärmen oder Familien lebenden
diese Weiterbildung eher als bei den solitär lebenden beobachtet
wird. Schon dies spricht dafür, daß es die unter dem Einfluß
des Zusammenlebens erfolgende Ermäßigung der Schmerz- und
Wutlaute zu Hilfe- und Lockrufen ist, die den Übergang vermittelt.
Dabei zeigt sich aber zugleich, daß diese Ermäßigung, einmal ein-
getreten, nicht auf die sie zuerst hervorbringenden Triebäußerungen
beschränkt bleibt, sondern daß nun teils schwächere Unlust-
affekte, die auf der ersten Stufe noch keine Stimmreaktionen zur
Folge haben, teils Lustaffekte mannigfachen Inhalts zu Grund-
lagen der ermäßigten Lautäußerungen werden können. Hier hängt
es dann ganz von dem Temperament der Tiere ab, ob die eine
oder andere Affektrichtung mehr hervortritt. In vielen Fällen be-
stehen die Lautreaktionen schwacher Affekte in einer einfachen
Abnahme der ursprünglichen Schreilaute. Bei schwächerem Respi-
rationsdruck und geringerer Spannung der Stimmbänder werden
Laute erzeugt, die sich im wesentlichen nur durch ihre verminderte
Intensität und durch ihre tiefere Tonlage unterscheiden. Unterstützt
wird diese Veränderung des Klangcharakters außerdem dadurch,
daß die Mundhöhle weniger geöffnet wird, weshalb die in dem
Stimmton enthaltenen hohen, scharf dissonierenden Obertöne ge-
schwächt werden, zugleich jedoch gewisse Verschlußgeräusche im
Ansatzrohr des Stimmorgans entstehen können, die den Laut eben-
falls qualitativ abändern. Charakteristische und bekannte Beispiele
dieser Klangmodifikationen sind das Blöken der Schafe, das Grunzen
der Schweine, das Schnattern der Gänse, das Gackern der Hühner usw.
Zugleich bemerkt man in den meisten dieser Fälle eine Verände-
rung des zeitlichen Verlaufs der Lautäußerungen. Da schwache
Affekte, namentlich Lustaffekte, durchweg mehr den Charakter dau-
ernder Stimmungen als momentaner Affektanfälle haben, so ver-
teilen sich auch die Lautäußerungen über eine längere Zeit: sie
bestehen in der Regel in mehreren rhythmisch sich wiederholenden
Tonstößen, in deren Tempo sich zumeist das stationäre Tempera-
ment der Tiere, zuweilen aber auch in einem gewissen Grade die
momentane Temperamentslage spiegelt. Vergleicht man z. B. das
unruhig hastige Gackern der Hühner mit dem phlegmatischen
2 54 ^^^ Sprachlaute.
Blöken der Schafe oder dem lang gezogenen, in großen Pausen
sich wiederholenden Brüllen einer Kuhherde, so fallen diese Unter-
schiede sofort auf. Auch zeigt sich hierbei, daß es besonders die
temperamentvolleren Tiere sind, bei denen nun innerhalb der Laut-
äußerungen der Lustaffekte mannigfachere Abstufungen vorkommen.
Die ruhig zufriedene Stimmung äußert sich in einem langsameren
Rhythmus und in gedämpfteren Lauten, als die aufgeregte Freude
oder das heftige Verlangen. So entwickeln sich in einzelnen Fällen
besondere intensive Freudelaute, die entweder bloß durch eigen-
tümliche Nuancen des Ausdrucks von den Schmerz- und Wutaus-
brüchen der gleichen Tiere verschieden sind, wie das vergnügte
Bellen des Hundes, das freudige Geschnatter einer auf ihr Futter
losstürzenden Entenschar, oder die sich zu besonderen lauten Ruf-
formen ausbilden, wie das Krähen des Hahns.
Diese Erscheinungen stehen bereits auf der Schwelle zu den
Lautäußerungen der dritten Stufe. Sie ist dadurch gekennzeichnet,
daß sich zwei völlig verschiedene Arten von Stimmlauten
ausbilden, von denen die eine den Schreilauten der ersten Stufe
entspricht und gleich diesen als Ausdrucksmittel stärkster Affekte
erhalten bleibt, während die zweite, höhere Form zum feiner nuan-
cierten Ausdruck schwächerer Gefühle wird. Dabei überwiegen zu-
gleich unter diesen die Lustgefühle, daher mäßige Unluststimmungen
sogar in der Regel nur daran kenntlich sind, daß die gewohnheits-
mäßige Lustäußerung auf einen gedämpfteren Ton und auf ein
langsameres Tempo herabgestimmt ist. Bezeichnen wir um der
Unterscheidung willen sowie mit Rücksicht darauf, daß diese feiner
nuancierten Lautäußerungen im allgemeinen in höherem Grade den
Toncharakter an sich tragen, die Ausdruckslaute der ersten und
zweiten Stufe als Schreilaute, die der dritten als Tonlaute, so
sind demnach die Schreilaute das Ursprüngliche und zugleich das
Bleibende, das bei sehr verschiedenen Tierarten nur geringe Unter-
schiede zeigt; die Tonlaute sind das hoher Entwickelte und VoU-
kommnere, das nicht nur von einer Spezies zur andern, sondern
selbst von einem Individuum zum andern und von einem Affekt
zum andern variiert. Dieser höheren Stufe entspricht es zugleich,
daß die Tonlaute wieder in zwei verschiedenen Formen vorkommen:
als Tonmodulation und als Lautartikulation. Beide weichen
Tonmodulationen als Ausdrucksformen bei Tieren.
255
sowohl in den physiologischen Hilfsmitteln ihrer Bildung wie in
ihrer subjektiven und objektiven psychophysischen Wirkung wesent-
lich voneinander ab. Dennoch sind sie keineswegs Ausdrucksmittel,
die einander ausschließen. Vielmehr besteht in vielen Fällen neben
der Tonmodulation auch eine gewisse Fähigkeit der Lautartikulation ;
namentlich aber ist, wo die Ausbildung der feineren Gefühlssprache
in der Richtung der Lautartikulation erfolgt ist, mit dieser stets
auch eine Tonmodulation verbunden. Darin dokumentiert sich unter
diesen beiden Formen wieder die der Lautartikulation als die höhere
Stufe.
3. Tonmodulationen als Ausdrucksformen bei Tieren.
Die Tonmodulation der Stimmlaute ist, wenn man die unvoU-
kommneren Anfänge und die Übergänge zwischen Schrei und Ton-
laut hinzunimmt, weit verbreitet im Tierreich. Beschränkt man sich
aber auf die deutlicheren Tonbildungen, so lassen sich namendich
manche Ausdruckslaute unserer intelligenteren Haustiere hierher
zählen. Man denke z. B. an die mannigfachen Modulationen im
Bellen und Heulen des Hundes, an das zornige und das fröhliche
Bellen oder, bei mäßigeren Affekten, an das unmutige und das
heitere, von einzelnen jauchzenden Gefühlsausbrüchen unterbrochene
Knurren, ferner an das laute Schmerzgeheul und das manchmal
ganz in melodischen Tongefällen sich bewegende wehmutsvolle
Heulen beim Anhören von Musik. Noch mehr scheinen manche
Affenarten, besonders der Gibbon und der amerikanische Brüllaffe
(Mycetes), über eine verhältnismäßig reiche Tonmodulation zu ver-
fügen; doch scheint es nicht, daß sich gerade bei diesen menschen-
ähnlichen Tieren eine solche Tonmodulation jemals in regelmäßigen
musikalischen Intervallen bewegt'). Weit in den Schatten gestellt
werden aber diese Erscheinungen durch die Stimmlaute der Sing-
vögel. Bei ihnen sitzt der im übrigen dem Kehlkopf der Säuge-
^) Letzteres ist allerdings speziell vom Gibbon behauptet worden. Die nicht
auf eigene Beobachtung gegründete Nachricht Darwins (Abstammung des Menschen,
n, S. 291) über den Gesang dieses Affen erweist sich jedoch bei näherer Nach-
forschung als unzuverlässig. (Vgl. darüber: Sprachgeschichte und Sprachpsychologie,
S. 96 i.)
256 Die Sprachlaute.
tiere analog gebaute Tonapparat an der Stelle, wo sich die Luft-
röhre in die beiden Bronchien gabelt (im unteren Kehlkopf), eine
Einrichtung, die wahrscheinlich mit dem spezifisch musikalischen
Charakter des Singtons der Vögel zusammenhängt. Indem nämlich
hier die Luftröhre ein Ansatzrohr von regelmäßigen und unveränder-
lichen Dimensionen bildet, analog wie bei unseren Blasinstrumenten
mit konstantem Ansatzrohr, hat der Stimmapparat eine vorwaltend
musikalische, zur Erzeugung von Tonmodulationen geeignete Be-
schaffenheit, während bei dem Stimmorgan des Menschen und der
Säugetiere die Rachen- und Mundhöhle ein Ansatzrohr von sehr
veränderlichen Dimensionen darstellt, das eben deshalb in hohem
Grade der Bildung von Lautartikulationen fähig ist. Dieser Aus-
bildung der äußeren Tonapparate in der Klasse der Vögel geht
offenbar die der zentralen Gebiete des Gehörssinnes und der mit
ihnen zusammenhängenden Innervationsherde der Stimmbewegungen
parallel. Sie äußert sich in der Neigung vieler Vögel, gehörte Laute
nachzuahmen, besonders aber in der Eigenschaft mancher Sing-
vögel, die Singtöne in harmonischen Intervallen aneinanderzureihen.
Die erste dieser Erscheinungen, die Nachahmung von Lauten,
kommt wieder in doppelter Form vor: in der Nachahmung der
Tonmodulationen anderer Vögel, und in der Nachahmung von
Lautartikulationen, besonders auch menschlicher Sprachlaute, bei
den Papageien, Staren, Krähen, Drosseln u. a. Bei einzelnen dieser
Tiere, wie der Drossel, sind beide Nachahmungstalente in einem
gewissen Grade vereinigt. Im allgemeinen sind es jedoch vorzugs-
weise Schreivögel mit sehr geringer Fähigkeit der Tonmodulation,
die es zu einer deutlich artikulierten Sprache bringen. Dies hängt
wohl damit zusammen, daß jene Beweglichkeit der Zunge, die der
Lautartikulation ihre Dienste leistet, besonders bei den Schreivögeln
vorkommt.
Die musikalische Anlage der Singvögel ist hauptsächlich in der
zweiten der obenerwähnten Eigenschaften, in der Verbindung der
Töne zu harmonischen Tonfolgen zu erkennen. Da Tonmodulation
und Lautartikulation immer verbunden sind, so lassen sie sich auch
bei dem Anhören der Singweise irgendeines Vogels stets neben-
einander wahrnehmen. Zwischen dem menschlichen Kunstgesang
und dem natürlichen Vogelgesang besteht in dieser Beziehung, wenn
Tonmodulationen als Ausdrucksformen bei Tieren.
257
man von der sprachlichen Bedeutung der menschlichen Laute ab-
sieht, der Unterschied bloß darin, daß der Vogel über eine gerin-
gere Zahl von Lauten verfügt, und daß sich diese in einer höchst
einförmigen Weise wiederholen. Auch ist die Lautartikulation meist
sehr viel undeutlicher, ein Umstand, der es schwierig macht, sie in
unseren Lautzeichen wiederzugeben; nicht bloß deshalb, weil die
gehörten Laute nur selten genau mit den Lautbedeutungen unserer
Zeichen übereinstimmen, sondern mehr noch, weil wir überall ge-
neigt sind, in das undeutlich Gehörte irgendwelche ähnliche Laute
hineinzuhören. Gerade die Auffassung des Vogelgesangs bietet
daher einen auffallenden Beleg für jenes Spiel psychischer Assimila-
tionen, das wir auch bei den Lautassimilationen der Sprache kennen
lernen werden^). Man kann sich davon leicht überzeugen, wenn
man sich vornimmt, in den Schlag eines und desselben Singvogels
verschiedene Laute hineinzuhören, ein Versuch, der in ziemlich
weitem Umfange zu gelingen pflegt. Wo eigentliche Singvögel, wie
die Drossel oder gar der Kanarienvogel, sprechen lernen, da beruht
darum auch die Nachahmung weniger auf einer wirklichen Ähnlich-
keit der Lautartikulationen, als auf einer solchen der Tonmodula-
tionen der menschlichen Stimme, und selbst bei dem eigentlichen
Sprechvogel, dem Papagei, spielt dieses Moment eine erhebliche
Rolle. Hauptsächlich hierauf und weniger auf Verschiedenheiten
der individuellen Lautbildungen ist es wohl zurückzuführen, wenn
die Angaben der Beobachter über den Schlag verschiedener Sing-
vögel nicht wenig voneinander abweichen. Demnach ist es nur als
eine sehr ungefähre Andeutung solcher Laute anzusehen, wenn
man etwa den Schlag der Nachtigall durch tiu tiu tiu tio tio tio
qutio qiitio qiitio tsü tzü tzü , den der Lerche durch tiri tiri
tiri tiri — — , des Sperlings durch schilp schilp schilp ti ti ti ti
ti — — usw. wiedergibt "^j.
^j Vgl. unten Xr. II, 5 und Kap. IV.
2) Versuche, die Lautbildungen der Vögel, namentlich der Singvögel, aufzu-
zeichnen, sind von Beobachtern des Lebens der Vögel mehrfach gemacht worden.
Besonders in dem umfangreichen Werke von J. A. Naumann, Naturgeschichte der
Vögel Deutschlands, herausgeg. von seinem Sohne J.F.Naumann, 6 Bde. 1822 — 33,
ist diesem Punkte große Sorgfalt gewidmet, wogegen von den Verfassern dieses
Werkes leider kein Versuch gemacht wurde, auch die Tonmodulationen in Noten
aufzuzeichnen. Ich beschränke mich auf einige Beispiele:
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl.
17
2c8 Die Sprachlaute.
Weit deutlicher ausgeprägt ist derjenige Bestandteil des Vogel-
gesangs, zu dem jene Lautartikulationen nur den unentbehrlichen
Text bilden: die Tonmodulation. Das Merkmal, das sie von den
unvollkommneren Tonmodulationen tierischer Schreie wesentlich
unterscheidet, ist der nicht bloß den einzelnen Tönen, sondern bei
den besseren Sängern auch den Tonfolgen eigene musikalische Cha-
Star (Stumiis vulgaris. Naumann 11, S. 196): squär squärr spett spett hooid zieh.
Singdrossel (Turdus musicus, ebenda II, 268): tik tik tik tik ticki dack dack.
Rotkehlchen (Sylvia rubecula, ebenda II, 404): schnick schnick schnick
schnickerikikikik.
Feldlerche (Alauda arvensis, IV, 167): gerr gerl tried trih gier tie.
Sperling (Fringilla domestica, IV, 463): schilp schilp schilp tie tie tie tie tie
tie. Im Zorn: terre teil terell teil teil teil.
Außerordentlich variiert der Gesang der Nachtigall (Sylvia luscinia). Nament-
lich scheinen in manchen Gegenden gute, in andern schlechtere Sänger heimisch
zu sein. Naumann teilt zwei Beispiele mit (II, S. 382 f.), das eine nach Bechstein
(Naturgeschichte der Stubenvögel! von einem guten, das andere, von ihm selbst auf-
gezeichnet, von einem schlechteren Sänger; ich beschränke mich auf die Wieder-
gabe der Anfänge:
Guter Sänger: tiö tiü tiü tiü spe tiü squa tiö tiö tiö tiö tio tiö tix qutio qutio
qutio zquo zquo zquo zquo tzii tzü tzü tzü tzü usv?.
Schlechter Sänger: Ih ih ih ih wati wati wati vrati dwati quoi quoi quoi
quoi quoi qui ita lü lii lü lü lü lü lü lii wati wati wati usw.
Alle diese Aufzeichnungen sind natürlich nicht als absolut getreue Nachbildungen
des Schlags der Vögel anzusehen. Vollkommen treu lassen sich diese Artikulationen
überhaupt nicht in unseren Buchstabensymbolen wiedergeben, und gegen die oben
bemerkte Gefahr des Hineinhörens von Lauten ist man nirgends sicher. Ein schla-
gendes Beispiel für den Einfluß des letzteren Momentes gibt die von Bechstein mit-
geteilte Zusammenstellung der Laute eines ungarischen oder Wiener und eines pol-
nischen Sprossers (Sylvia philomela; Naumann, IT, S. 368):
Wiener Sprosser. Polnischer Sprosser.
Qvepicktiaz zerrrrrrrrrrrrtez Tzerrrrrrrrrrrrrrrrtzeck
Jakob Jakob Jakob David David David David
Qvoarck qvoarck qvoarck Zorror zorror zorror
Tott tott tott tott tott Zicka zicka zicka
Philipp Philipp Philipp Dobriluck Dobriluck Dobriluck usw.
Schwerlich wird man annnehmen können, daß der Vogel in seinen natürlichen Ge-
sang (denn es handelt sich hier ja durchaus nicht um nachgeahmte Laute) die Namen
'Jakob', 'Philipp' und 'David' wirklich eingemengt habe: diese Namen sind eben in
die ihnen wahrscheinlich nur entfernt ähnlichen Laute des Vogels hineingehört
worden. Daneben ist bei der Vergleichung des Wiener und des polnischen Sprossers
der Einfluß der deutschen und der polnischen Sprache unverkennbar, ein Einfluß,
der natürlich wiederum nicht auf Rechnung des Vogels, sondern auf die der Be-
obachter kommt.
Tonmodulationen als Ausdrucksformen bei Tieren. 25g
rakter. Terzen und Quinten, daneben zuweilen Oktaven und ganze
Töne bilden hier die regelmäßigen Aufeinanderfolgen, neben denen
es freilich auch an unharmonischen Abweichungen nicht fehlt.
Weniger ist der Rhythmus ausgebildet. Er fehlt zwar nicht völlig,
ist aber doch nur in den allem Vogelgesang eigenen Wiederholun-
gen des gleichen Tons sowie in der gleichförmigen Aufeinander-
folge der Triller oder gewisser, immer wiederkehrender Tonläufe zu
finden, nicht in wirklichen rhythmischen Melodien. Im ganzen läßt
hiernach die musikalische Anlage der Singvögel zwei Stufen unter-
scheiden, die durch Übergänge verbunden sind. Die niedrigere
Form besteht in einer nur wenig durch melodische Kadenzen unter-
brochenen einfachen oder trillernden Wiederholung des gleichen
Tones. Diesen Typus einfacher Tonwiederholungen zeigt z. B. die
ganze Familie der Finken, wie Buchfink, Stieglitz, Sperling usw.
Ein Beispiel gibt das folgende, dem Sperling nachgeschriebene
Motiv'):
Sperling
Die zweite voUkommnere Form der Tonmodulation besteht
darin, daß, meist rasch nacheinander und nicht selten durch Ton-
wiederholungen unterbrochen, Tonläufe zwischen zwei oder drei zu-
einander harmonischen Tönen eintreten. Indem diese ebenfalls in
der Regel mehrmals sich wiederholen, geben sie sich als eine
höhere Entwicklung der einfachen Tonwiederholung zu erkennen.
Denn man darf vielleicht annehmen, daß diese durch den Triller
^) Ich entnehme dies und die folgenden Notenbeispiele der Arbeit von Xenos
Clark, Animal Musik, in The American Naturalist, Vol. XIII, Nr. 4, 1879. Die Ge-
nauigkeit des musikalischen Gehörs vieler Singvögel ergibt sich übrigens auch aus
der Fähigkeit derselben, andere Vogelstimmen und Vogelmelodien oft täuschend
nachzuahmen. Über einige auffallende Beispiele solcher Art berichtet B. Placzek,
Der Vogelgesang nach seiner Tendenz und Entwicklung (Verhandl. des naturforsch.
Vereins in Brunn XVII, S. 19, 34 f.].
2) Die Bezeichnung »guttural« soll einen Kehllaut anzeigen, der musikalisch aus
einem raschen Triller zwischen dem tiefen Ton und seinen höheren Oktaven zu
bestehen schien. Auf die Exaktheit der Taktgliederung, die wohl in der Nieder-
schrift nur im Anschluß an die musikalische Übung gewählt ist, darf man sich natür-
lich bei allen diesen Beispielen nicht verlassen, wie aus dem, was oben über den
Rhythmus der Vogelmelodien gesagt wurde, hervorgeht.
17*
2 00 Die Sprachlaute.
allmählich in den Tonlauf übergegangen ist. Ein Beispiel dieses
zweiten Typus zeigt das folgende, dem Schlag der Nachtigall nach-
geschriebene Motiv:
Nachtisall
Die ersten zweigliedrigen Tonläufe springen in der Oktave von
d ZM d^ und die folgenden dreigliedrigen Kadenzen bilden einen
^-Durakkord, von dem aus die Melodie wieder in die Tonika d
übergeht. Eine so große musikalische Regelmäßigkeit mag immer-
hin zufällig und selten sein. Im ganzen ist aber nicht zu bezweifeln,
daß besonders bei diesem zweiten Typus regelmäßige Wiederholun-
gen harmonischer Tonfolgen vorkommen.
Je abwechselungsreicher die Tonmodulation wird, um so mehr
kann sie natürlich variieren. Unter diesen Variationen sind diejenigen
von besonderem Interesse, die bei einem und demselben Individuum
je nach der Gemütslage stattfinden. Wir können sie namentlich
bei unseren Zimmer\'ögeln häufig beobachten, wenn es auch als
Regel gilt, daß, sobald die Gemütsstimmung unter ein gewisses
Niveau sinkt, der Vogel überhaupt zu singen aufhört. Die in dieser
Beziehung beobachteten Schwankungen betreft'en daher meist bloß
die Gefühlsrichtungen der größeren oder geringeren Erregung und
Spannung, letzteres z. B. bei der Neugier, zu der manche Vögel
in hohem Grade geneigt sind. In der Dimension der Lust- und
Unlustgefühle begegnen uns dagegen in den Gesangsweisen der
Vögel im allgemeinen nur solche Schwankungen, die noch inner-
halb der Lustrichtung liegen; die Annäherung an Unluststimmun-
gen kündet sich bloß durch verlangsamtes Tempo, abnehmende
Tonstärke und Tonhöhe an. Bei Schreck, Furcht, Zorn und andern
wirklichen Unlustaffekten gehen aber die Tonmodulationen regel-
mäßig in Schreilaute über, die dann mit entsprechenden Verände-
rungen der Artikulationslaute verbunden sind"). Die drei folgenden
Beispiele, Modifikationen der in der ersten der obigen Notierungen
nachgebildeten Sperlingsmelodie, geben ein Bild dieser, im Ver-
') Man vergleiche die oben S. 258 Anm. versuchte Wiedergabe der Zornlaute
des Sperlings.
Tonmodulationen als Ausdrucksfomien bei Tieren.
261
hältnis zu den uns geläufigen musikalischen Ausdrucksmitteln frei-
lich sehr dürftigen, aber in den elementaren Grundlagen doch über-
einstimmenden Veränderungen :
Freude
Niedergeschlagenheit
Darwin meint, es bleibe ein Rätsel, warum beim Menschen und
bei den Tieren in gewissen Gemütsbewegungen hohe und in andern
tiefe Töne verwendet werden, und keine der über den Ursprung
des musikalischen Ausdrucks aufgestellten Theorien sei imstande,
dieses Rätsel zu lösen'). Nach den in Kap. I erörterten Tatsachen
wird man diesem Ausspruch kaum beipflichten können. Zunächst
ordnen sich hier die Stimmbewegungen dem allgemeinen Prinzip
der Afifektäußerungen unter, wonach die größere oder geringere
Schnellki'aft und Energie der Bewegungen mit den Gefühlsrichtungen
der Affekte, und zwar zunächst und direkt mit den Erregungs- und
Spannungsgefühlen, dann infolge der Verbindungen derselben auch
mit den Lust- und Unlustgefühlen eng zusammenhängt. Die Aus-
drucksbewegungen sind nun nicht bloß eine natürliche Wirkung der
diese Gefühle begleitenden Innervationszustände, sondern sie ent-
sprechen auch in ihren eigenen sinnlichen Gefühlswirkungen wie-
derum den primären Gefühlen, mit denen sie daher verschmelzen,
und die sie verstärken. Das nämliche gilt aber auch von den
Spannungs- und Bewegungsempfindungen der Stimmorgane und
den an sie gebundenen Gefühlen. Nur kommt bei ihnen noch
eine Folgewirkung hinzu, die bei den andern Ausdrucksformen
fehlt: der Stim.m laut, der ebenfalls Veränderungen erfährt, die sich
mit der wechselnden Energie und Schnelligkeit der Bewegungen
von selbst einstellen. Er hat zugleich in noch ganz anderem Maß
als die an sonstige Bewegungen gebundene innere Tastempfindung
i) Darwin, Abstammung des Menschen, II, S. 295, Anm.
2()2 Die Sprachlaute.
die Eigenschaft, selbst Aviederum Gefühle zu erregen, die nach
Qualität und Stärke den ursprünglichen, zu deren Ausdruck die
Laute dienen, verwandt sind. Durch diese stärkere Eindrucks-
fähigkeit eignen sich daher die Stimmlaute in besonderem Grade
dazu, diejenigen Wirkungen herbeizuführen, die bei allen Aus-
drucksformen als erhaltende und modifizierende Bedingungen mit-
spielen: die Entladung des Affektes, und die durch sie nach
der ersten konsensuellen Verstärkung allmählich eintretende Lö-
sung desselben. Gleichwohl würde es noch nicht gerechtfertigt
sein, deshalb die Wirkung hoher und tiefer, starker und schwacher
Töne oder selbst die der schnellen und langsamen Rhythmen bloß
aus den äußeren Körperbewegungen und den sie begleitenden
Empfindungen ableiten zu wollen. Die Tatsache, daß die Ge-
fühlsfärbungen verschiedener Empfindungen einander verwandt sind
und sich daher bei ihrer Verbindung steigern, müssen wir viel-
mehr als eine ursprüngliche, nicht weiter abzuleitende anerkennen.
Denn diese Beziehung begegnet uns auch da, wo zu einer Verbin-
dung des Sinneseindrucks mit bestimmt modifizierten Ausdrucks-
bewegungen kein Anlaß gegeben ist, z. B. bei den Gefühlseigen-
schaften der verschiedenen Farben. Die urspmngliche psycho-
logische Verwandtschaft bestimmter Gefühle und die Verbindung,
in die sie außerdem infolge der Bedingungen ihrer subjektiven
Enstehung zueinander treten können, schließen sich aber nicht im
geringsten aus. Das Zusammentreffen dieser Motive zu überein-
stimmender Wirkung entspricht vielmehr ganz dem allgemeinen
Zusammenhang und der wechselseitigen Anpassung der Funktionen.
Die Rückwirkimg der Funktion auf ihre Entstehungsbedingungen,
im vorliegenden Fall also der Stimmlaute auf die Gefühle, deren
Ausdruck sie sind, bildet nun zugleich den Hauptantrieb in der
Entwicklung der Gefühlsäußerungen durch Stimmlaute. Zwischen
dem unmelodischen und unartikulierten Schmerzensschrei und den
schon eine reiche Skala von Gefühlen umfassenden Tonmodulationen
des Singvogels liegt sicherlich eine weite Kluft. Dennoch bleibt
die Mannigfaltigkeit der Äußerungsformen auch hier noch eine be-
schränkte. Denn eine Schranke des Ausdrucksmittels der Ton-
modulation bleibt es immer, daß diese sich niemals über eine reine
Gefühlssprache erheben kann. Die Gefühle selbst bedürfen aber
Tonmodulation und Lautartikulation beim Menschen. 263
ZU ihrer reicheren Entwicklung einer reicheren Vorstellungswelt.
Da eine solche nur mit Hilfe der artikulierten Sprache möglich ist,
so wird daraus auch der ungeheure Abstand begreiflich, der den
menschlichen Kunstgesang und die aus ihm hervorgegangene Kunst
der Musik von dem natürlichen Gesane des Voerels scheidet.
4. Tonmodulation und Lautartikulation beim Menschen.
Der menschliche Gesang bildet den einzigen sicher bezeugten
Fall, wo sich die beiden in der Entwicklung der Stimmlaute neben-
einander hergehenden Momente, Lautartikulation und Tonmodu-
lation, gleichzeitig in vollkommnerer Ausbildung vereinigt haben.
Im allgemeinen sind darum wohl beide als zwei ursprünglich aus
dem intensivsten Gefühlslaut, dem Schrei, hervorgegangene diver-
gierende Entwicklungen anzusehen, während doch jede dieser
Ausdrucksformen immer auch bis zu einem gewissen Grade die Mit-
wirkung der andern voraussetzt. Denn es gibt naturgemäß ebenso-
wenig eine Lautartikulation ohne einen gewissen Grad von Ton-
modulation, wie diese ohne jene möglich ist. Nur in der Abteilung
der Singvögel hat sich aber, wie es scheint, die natürliche Tonmodu-
lation zur Hervorbringung nicht nur musikalischer Töne, sondern
harmonischer Tonabstufungen erhoben. Dem gegenüber bleiben
überall sonst im Tierreich Lautartikulation wie Tonmodulation auf
einer niedrigeren Stufe. Die erste verfügt durchweg nur über eine
kleine Anzahl von Lauten, und die letztere läßt zwar je nach Stärke
und Höhe des Tones, manchmal auch nach dem wechselnden Ton-
fall den allgemeinen Charakter der Affekte erkennen, sie entbehrt
aber der Abstufung in harmonischen Intervallen. In letzterer Be-
ziehung scheint nun die menschliche Sprache ursprünglich mit
den Stimmlauten anderer, vorwiegend mit Lautartikulationen begab-
ter Wesen auf gleicher Stufe zu stehen. So ungewöhnlich mannig-
faltig die artikulierten Laute der menschlichen Stimme sind, ihrer
Tonmodulation fehlt der musikalische Charakter. Schon in einer
sehr frühen Lebenszeit bringt zwar das menschliche Kind bedeu-
tungslose artikulierte Laute selbständig hervor. Aber der Tonfall
dieser Laute ist durchweg unmusikalisch. Sie unterscheiden sich
nach Höhe und Tiefe, innerhalb dieser Unterschiede fehlt es jedoch
264 Die Sprachlaute.
an jeder Regelmäßigkeit der Tonstufen. Die melodische Tonfolge
erlernt das Kind erst sehr \^el später durch Nachahmung vorgesun-
gener Melodien, ungefähr in derselben Zeit, in der es zuerst auch
seine artikulierten Laute verbindet, um bestimmte Worte nachzu-
ahmen.
Diese Tatsachen deuten bereits die Richtung an, in der die
Antwort auf die alte Frage nach dem \'erhältnis von Gesang und
Sprache gesucht werden muß. Sicherlich kann das nicht in der
Weise geschehen, daß man sich mit Lucrez den Gesang des IMen-
schen in analoger Weise aus dem der Singvögel durch Nachah-
mung entstanden denkt, wie die sprechenden Vögel ihrerseits ihre
Sprachlaute vom Menschen erlernt haben". Auch die ^Meinung
Darwins, daß Mensch und Vogel zwar unabhängig voneinander,
jedoch aus den gleichen ursprünglichen ^Motiven ihre ersten Ge-
sangslaute her\-orgebracht hätten, nämlich als sexuelle Lockrufe,
durch die einstmals der Mann um das Weib nicht anders geworben
habe, als wie es noch heute in der Paarungszeit die m.ännlichen
\'ögel um ihre Weibchen tun, — auch diese Annahme dürfte an
psychologischer \\'ahrscheinlichkeit kaum die vorige übertreffen^.
Abgesehen von den unzulänglichen Analogien aus dem Tierreich
fehlt die Hauptsache, die beim Sing\-ogel wenigstens für die reichere
Ausbildung der Gesangsfahigkeit den sexuellen Wettkampf zu einem
nicht unwahrscheinlichen jNIotiv macht: ein L'nterschied der Ge-
schlechter in der Anlage zum Gesang läßt sich beim Menschen
nicht nachweisen'"). Ist der Gesang beim ^Menschen, wie es die
" >At liquidas avitiin voces imitarier ore
ante fixit multo quam le\"ia carmina cantu
concelebrare liommes possent aurisque juvare.«
T. Lucretii Cari De rerum natura. V. 1366.
Über eine an diese Vorstellungen zum Teil wieder anknüpfende, auch von
B. Delbrück gebilligte Theorie von O. Jespersen vgl. Sprachgeschichte und Sprach-
psychologie. S. 92 ff., und unten Tl. 2. Kap. Dv.
=. Darwin, Abstammung des Menschen. 11. S. 290 ff.
3 Darwin beruft sich hier allerdings auf zwei Zeugnisse. Diese widersprechen
sich aber eigentlich wechselseitig. Erstens soUen die Männchen einiger Quadru-
manen entwickeltere Stimmorgane besitzen als die Weibchen. Zweitens werde all-
gemein angenommen, daß die Frauen angenehmere Stimmen besäßen als die Männer.
was als Fingerzeig dienen könne, >daß sie zuerst musikalische Kräfte erlangten, um
das andere Geschlecht anzuziehen« S. 295 f . . Die Schwäche dieser Argumente ist
Tonmodulation und Lautartikulation beim Menschen. 265
Tatsachen der generellen wie der individuellen Entwicklung im
höchsten Grade wahrscheinlich machen, eine vermutlich selbst erst
durch die Einflüsse der frühesten Kultur vermittelte Erwerbung,
so sind solche auf einen tierischen Urzustand zurückgreifende Er-
klärungen von vornherein hinfällig. Mögen auch der Entwicklung
des musikalischen Sinnes natürliche i\.nlagen begünstigend ent-
gegenkommen, menschlicher Gesang ist — das scheidet ihn
von dem, was wir bei den Tonmodulationen des Vogels Gesang
nennen — von Anfang an nur das Erzeugnis einer, wenn auch
noch so primitiven, Kunst. Darum kann man wohl von natürlichen
Tonmodulationen der menschlichen Stimmlaute, aber man kann
nicht von einer »natürlichen Musik« der Sprache im eigentlichen
Sinne des Wortes reden, um dann etwa mit Herbert Spencer aus
der Weiterentwicklung derselben, wie sie besonders durch die
Beobachtung der leidenschaftlich erregten Rede nahegelegt werde,
die Entstehung harmonischer Kadenzen abzuleiten"). Auch diese
Hypothese trägt den Stempel willkürlicher Erfindung. Rhythmus
und Tonbewegung in harmonischen Intervallen bilden die unver-
äußerlichen Merkmale des Gesanges. Es kann vorkommen, daß
der Rhythmus wenig ausgebildet ist, wie bei den Tonmodulationen
der Singvögel, oder daß umgekehrt ein bestimmter Rhythmus be-
steht, aber die Tonintervalle nur annähernd einen musikalischen
Charakter besitzen, wie bei den Liedern mancher primitiver Kultur-
völker"^). In beiden Fällen wird man von einem, wenn auch mangel-
haften, »Gesang« reden können. Niemals aber kann die Tonmodu-
lation als solche, ohne Rhythm.us und ohne harmonische Tonver-
hältnisse, Gesang genannt werden. Vollends im gesteigerten Affekt
besitzt die Sprache am wenigsten musikalische Eigenschaften: denn
hier besonders fallen die Laute leicht in die primitive Form dishar-
monischer Schreilaute zurück, und es bewegt sich die Rede unter
dem Einfluß des starken und irregulären Wechsels der Gefühle in
einleuchtend. Daß ein so ausgezeichneter Naturforscher ihnen ein gewisses Gewicht
beimessen konnte, bleibt immerhin ein lehrreiches Beispiel für den Einfluß vor-
gefaßter Meinungen.
^) Herbert Spencer, The Origin and Function of Music, in Essays political and
speculative. 1858.
2) E. Grosse, Die Anfänge der Kunst, 1894, S. 270 ff.
2 06 I^ie Sprachlaute.
völlig unrhythmischen Formen. Eher noch zeigt die gewöhnliche,
nicht leidenschaftlich bewegte Sprache eine rhythmische Gliederung
und, freilich nur in geringerem Maße, sogar einen gewissen Tonfall.
Aber auch ihr fehlt der musikalische Charakter: der Rhythmus be-
wegt sich nicht in regelmäßig wiederholten Takten und Perioden,
und noch weniger der Tonfall in harmonischen Intervallen. So
wichtig daher diese Verhältnisse für die Gliederung des Satzes
sind, so kann bei ihnen doch höchstens von einer natürlichen
musikalischen Anlage, namentlich nach der Seite des Rhythmus,
nimmermehr von einer »natürlichen Musik« der Sprache geredet
werden^).
Mehr trifft mit diesen Bedingungen eine andere Ansicht zu-
sammen, die, im Gegensatze zu allen diesen Versuchen einer Ab-
leitung aus ursprünglichen Naturbedingungen, in der Kunst selbst,
und zwar in der bereits entwickelten Dichtkunst, die Quelle des
musikalischen Ausdrucks sieht. »Aus betonter, gemessener Rezita-
tion der Worte entsprang«, wie Jacob Grimm sich ausdrückt, »Ge-
sang und Lied, aus dem Lied die andere Dichtkunst, aus dem Ge-
sang durch gesteigerte Abstraktion alle übrige Musik« ^). Diese
Erklärung hat nur den einen Fehler, daß sie gegenüber der voran-
gegangenen Theorie in das entgegengesetzte Extrem verfällt. Der
Rezitator, der die Taten der Helden preist, oder der Priester, der
den Opferkultus mit Gebeten begleitet, sie sind Erscheinungen einer
bereits fortgeschrittenen Kultur. Daß das Epos und das Kultusgebet
nicht von Anfang an Lied und Gesang, also von Rhythmus und
melodischer Tonfolge begleitet gewesen seien, erscheint mindestens
unwahrscheinlich. Die Kunst des wandernden Sängers und der
religiöse Kulteesanef mösfen daher immerhin für die Weiterentwick-
^) Über die Bedeutung von Rhythmus und Tonmodulation für die Gliederung
der Rede vgl. unten Kap. VII, Nr. VIT.
2) Jacob Grimm, Über den Ursprung der Sprache,^ 185^) S. 54. Eine ähn-
liche Ansicht hat auch Herbert Spencer in seiner Soziologie vorgetragen, indem er
teils aus den lobpreisenden Triumph- und Siegesgesängen, die einem sieghaften
Häuptling dargebracht werden, teils aus religiösen Zeremonial- und Opfergesängen
die Kunstformen der Poesie und Musik hervorgehen läßt. Daneben nimmt er aber
auch hier noch im Sinne seiner obenerwähnten älteren Theorie an, daß schon in
den gewöhnlichen, namentlich leidenschaftlichen Äußerungen eine Hinneigung zum
musikalischen Ausdruck liege. (Soziologie, deutsche Ausg. IV, Kap. III, S. 241 ff., 255.)
Tonmodulation und Lautartikulation beim Menschen. 2 07
lung des musikalischen Ausdrucks eine nicht zu unterschätzende Be-
deutung haben, als Beginn desselben können sie ebensowenig gelten,
wie das Homerische Epos ein Urzustand der Poesie oder die Home-
rische Götterwelt eine primitive Mythologie ist.
Nun gibt es ein Gebiet menschlicher Lebensäußerungen, das
vielleicht ursprünglicher ist als Rezitation und religiöse Zeremonie,
und bei dem es an der Mitwirkung äußerer Bedingungen zur rhyth-
misch-musikalischen Gliederung der begleitenden Stimm- und Sprach-
laute nicht fehlt: das ist die menschliche Arbeit, die in ihren
primitiven Formen jedenfalls einer der ersten Schritte von der Natur
zur Kultur ist. Arbeitsgesänge sind daher in der Tat, wie
K. Bücher gezeigt hat, aller Wahrscheinlichkeit nach eine sehr frühe
Gattung der Poesie und des musikalischen Ausdrucks zugleich^). Bis-
weilen enthalten sie nichts als sinnlose artikulierte Laute, die dem
Rhythmus der geleisteten Arbeit angepaßt sind. Reste solcher Laut-
bildungen mögen sich noch in den Refrainzeilen mancher Volks-
lieder finden^). Dann füllen sich allmählich die Takte mit sprach-
lichem Inhalt, der sich bald auf die Arbeit selbst, bald auf andere
Begegnisse des täglichen Lebens bezieht, und der zunächst durch
Improvisation entsteht, ehe er sich zu bestimmten, bei der gleichen
Arbeit regelmäßig wiederholten Liedern fixiert^). Bei ruhigeren
Arbeiten tut sich dann auch wohl ein besonders begabter Sänger
vor andern hervor, dem nun der Gesang des Textes obliegt, den
die andern wiederholen, oder in dessen Refrain sie einstimmen.
Was hier die Begleitung durch rhythmische Laute herausfordert, ist
die Natur der Arbeit selbst, die bei den meisten einfacheren Arbeits-
weisen in vielfacher Wiederholung der gleichen Bewegungen besteht,
wobei diese dann leicht durch Vv'echselnde Stärke wirkliche Takt-
formen annehmen können.
Hiermit weist aber diese Bedingung zugleich auf eine noch ur-
sprünglichere zurück: auf die Organisation der menschlichen
Bewegungsorgane und auf die Beeinflussung ihrer Funktion durch
die natürlichen Gefühle und Affekte. In dieser Beziehung ist gerade
der Mensch durch die Veranlagung seiner Gehwerkzeuge zum
') Karl Bücher, Arbeit und Rhythmus, ^ 1902.
2) Ein Beispiel bei Bücher a. a. O. S. 251.
3) Ebenda S. 233 ff.
2 08 Die Sprachlaute.
aufrechten Gang gegenüber den ihm nächstverwandten Tieren be-
vorzugt. Die Ortsbewegungen des anthropoiden Affen, wenn er sich
mittelst seiner langen Arme von Ast zu Ast schwingt oder, kurze
Strecken durchlaufend, abwechselnd bald bloß die Beine, bald alle
vier Gliedmaßen zur Fortbewegung verwendet, sind im allgemeinen
arrhythmisch, oder sie bestehen höchstens in abgebrochenen Frag-
menten rhythmischer Bewegungen. Ein dauernder Rhythmus der
Gehbewegungen ist nur dem Menschen eigen; und sichtlich haben
hier die mechanischen Eigenschaften seiner Gehwerkzeuge auf die
gesamte psychophysische Organisation des Menschen in dem Sinne
zurückgewirkt, daß die Gehbewegungen und die aus ihnen hervor-
gegangenen Modifikationen, das Laufen, Springen, Hüpfen, Tanzen,
zu denjenigen rhythmischen Bewegungen geworden sind, in denen
sich naturgemäß der Verlauf seiner Affekte entlädt. Hierzu eignen sie
sich ja vor andern rhythmischen Bewegungsfunktionen, wie den Herz-
und Atmungsbewegungen, teils dadurch, daß sie mit viel intensiveren
Empfindungen verbunden sind, die verstärkend auf die Gefühle zurück-
v/irken, teils aber auch dadurch, daß sie zu äußeren, von den Aftek-
ten erregten und wieder auf sie zurückwirkenden Handlungen in un-
mittelbarer Beziehung stehen. So spiegelt sich von früh an die
Gemütslage, Aufregung und Niedergeschlagenheit, Freude und Trauer,
in allen ihren Abstufungen in der Energie und Geschwindigkeit der
Bewegungen, und der Wechsel der Affekte drängt nun auch da zu
ausdrucksvollen Bewegungen, wo ein bestimmter äußerer Zweck der-
selben nicht besteht. Indem dieser hinwegfällt, paßt sich aber um
so mehr der Rhythmus der Bewegungen dem Affekt selbst an : er
gewinnt Wechsel vollere Formen, v/ird reicher gegliedert; die übrigen
Körperorgane, namentlich die Arme, beteiligen sich an den Orts-
bewegungen, während sich diese zugleich, da das äußere Ziel hin-
wegfällt, im Raum beschränken. So entsteht der Tanz, als der
natürliche Ausdruck der erhöhten Stimmungen und Affekte in kör-
perlichen Bewegungen, und eben darum zugleich als die primitivste
aller Künste. Sein Gebiet reicht ohne Zweifel weiter und in eine
frühere Vergangenheit zurück als der religiöse Kultus, aber auch
weiter als die resrelmäßip-e Arbeit. An Tänzen erfreut sich schon
der Wilde, der von den Gaben lebt, die ihm ohne eigne Arbeit
die Natur spendet, und bei dem ein religiöser Kultus noch kaum
Tonmodulation und Lautartikulation beim Menschen. 2 6q
entwickelt ist'). Mit der rhythmischen Tanzbewegung verbinden
sich dann, ganz wie wir das bei dem Arbeitslied auf einer fort-
geschritteneren Stufe beobachten können, rhythmische Artikulations-
bewegungen, die nun zugleich in der Tonmodulation der Stimme
die Gefühlslage des Affekts wiedergeben. Auf diese Weise entsteht
das Tanzlied als die aller Wahrscheinlichkeit nach ursprünglichste
Form des Gesangs. Zunächst wohl ganz aus sinnlosen, aber durch
musikalischen Klangcharakter ausgezeichneten Lauten bestehend, ist
es in seinen Anfängen eigentlich mehr musikalische Begleitung als
Lied, geht dann aber, indem die Stimmung mehr und mehr auch
einen sprachlichen Ausdruck findet, in dieses über.
Aus dem Tanzlied sind nun, wie wir annehmen dürfen, als die
zwei nächsten Formen menschlicher Gesangsrhythmik in diver-
gierender Entwicklung die Arbeits- und die Kultgesänge hervor-
gegangen. Hier bilden aber vor allem die Arbeitsrhythmen, indem
sie meist kompliziertere Bedingungen für die Gliederbewegungen mit
sich führen, wahrscheinlich ein wichtiges Motiv fiir die weitere Aus-
bildung der rhythmischen Formen selbst und des mit ihnen sich
reicher ausbildenden rhythmischen Gefühls. Die Arbeiten des Schmie-
dens, des Holzfällens, des Säens, dann dieTret- und Schlagbewegungen,
die dem Enthülsen des Getreides dienen, das Spinnen, das Weben,
das Flechten usw. — schon wo der Einzelne diese Arbeiten für sich
allein vornimmt, überträgt sich auf sie unwillkürlich jene bei den
Gehbewegungen erworbene rhythmische Folge. Die erleichternde
Wirlomg, die der Rhythmus auf den Vollzug der Bewegungen aus-
übt, findet aber ihren psychologischen Ausdruck in den wechselnden
Spannungs-, Lösungs- und Lustgefühlen, die die Arbeit begleiten.
Hier liegt daher eine wichtige Quelle des ästhetischen Gefallens
am Rhythmus. Darum regt sich nun auch hier besonders leicht
der Trieb, den lusterregenden Wechsel der Gefühle mit Lauten zu
begleiten, die durch die hinzukommenden Artikulations- und Gehörs-
empfindungen das rhythmische Gefühl verstärken, um dann durch
diese Verstärkung wieder regulierend und fördernd auf die Arbeits-
bewegungen zurückzuwirken. Die so die rhythmischen Bewegungen
^l H. Schurtz, UrgescWchte der Kultur, 1900, S. 217, 497 f. Vgl. dazu Physiol.
Psychol. 5 m, S. 5 ff.
2 7 0 r^i^ SpracUaute.
begleitenden Laute bedingen es dann aber von selbst, daß, wo
sich zu der gleichen Arbeit mehrere vereinigen, diese nun im
gleichen Rhythmus die Bewegungen ausführen, während zugleich
die so entstehende Vemelfältigung der rhythmischen Laute die Lust-
erregung steigert.
Eine zweite, wahrscheinlich mit dem primitiven Arbeitslied gleich
ursprüngliche Form des Gesangs ist der Kultgesang. Für seine
unabhängige Entstehung spricht vor allem sein unmittelbarer Zu-
sammenhang mit der Ursprungsform aller rhythmischen Kunstformen,
mit dem Tanze. Aus dem primitiven, als reine Affektäußerung sich
betätigenden Tanze sind offenbar jene Kulttänze hervorgegangen,
die sich durch eine lange Zeit der Kulturentwicklung hindurch er-
halten haben, und von denen noch jetzt teils in gewissen verwelt-
lichten Kunstformen des Tanzes, teils in den feierlichen Umzügen,
welche religiöse und andere Feste begleiten, spärliche Reste übrig
geblieben sind. Auch hier ist dann zu der feierlichen Tanzweise
die melodische Stimm- und Liedbegleitung hinzugetreten, die sich
besonders in diesem Fall, wo die der Arbeit selbst eigentüm-
lichen Schallquellen fehlten, mit äußerer Klangerzeugung durch be-
sondere Geräusch- und Musikinstrumente verband. Erst in ihren
weiteren Rückwirkungen überträgt sich endlich wohl die rhythmische
Bewegung auf den Anmarsch zum Kampfe und auf die Wiederholung
des Kampfes in Spiel und Waffentanz. So entsteht der Kampfgesang
und, auf ihn zurückgehend, das Lied des Sängers, der die Taten
der Helden feiert. Vermutlich sind aber diese Anfänge des epischen
Gesanges verhältnismäßig späte Erzeugnisse, bei denen nun, wie
bei allen derartigen Entwicklungen, eine fortwährende Vervielfälti-
gung der Motive eingetreten ist. Ihnen gegenüber besitzen daher
jene primitiven Arbeitsrhythmen nur die Bedeutung ursprünglich
auslösender Kräfte, die im weiteren Verlauf selbst ganz und gar hinter
den neuen Bedingungen zurücktreten, die der Fortschritt der Kultur
und die selbständig werdende Ausbildung des rhythmischen und
musikalischen Gefühls mit sich führen.
Was den Gesang des Menschen schon in seinen frühesten For-
men auszeichnet und ihn noch in jene Übungen des Kunstgesangs
lange begleitet, das ist aber das Vorvvalten des rhythmischen
Elementes, dem gegenüber der musikalische Tonfall anfänglich nur
Stadien der Lautbildung beim Kinde. 2 7 I
wenig ausgebildet ist. Während das Lied auch der vollkommneren
Singvögel zwar harmonische Kadenzen, aber kaum Spuren eines
Rhythmus erkennen läßt, bewegt sich schon das Tanz- und Ar-
beitslied des Wilden in regelmäßigen Takten und Perioden, die je-
doch meist bloß in eintönigen Wiederholungen mit geringem Wechsel
der meist unsicheren Intervalle bestehen. Die musikalische Klang-
folge ist hier sichtlich erst aus dem Rhythmus heraus entstanden,
und es ist nicht unwahrscheinlich, daß dabei vielfach erst der
Klang der begleitenden Lärminstrumente oder Arbeitswerkzeuge zur
Sicherung der Stimmführung mitgeholfen hat. Hierauf mag auch
die Tatsache hinweisen, daß das primitivste der musikalischen In-
strumente die Pauke ist, der sich dann in mehr wechselnder Weise
Rohrpfeifen, Muschelhörner und ähnliche aus vorgefundenen Gegen-
ständen gestaltete Tonwerkzeuge beigesellten '). Die Rhythmik
der Bewegungen ist eben in der ursprünglichen Organisation des
Menschen begründet. Er ist durch die Regelmäßigkeit seiner Geh-
bewegungen zu ihnen mehr als die ihm nächstverwandten Tiere
veranlagt. Schon die primitivste Kultur mußte aber durch die
Übertragung des gleichen Bewegungsprinzips auf die verschiedensten
Bewegungen fördernd auf diese natürliche Anlage einwirken, wäh-
rend die Tonmodulation nur langsam den von der rhythmischen
Folge der Laute ausgehenden Antrieben folgte.
II. Sprachlaute des Kindes.
I. Stadien der Lautbildung beim Kinde.
Die Entwicklung der kindlichen Stimmlaute läßt sich deutlich
in drei Stadien unterscheiden. Das erste, das in der Regel bis in
die sechste Lebenswoche herabreicht, ist das der Schreilaute.
Das zweite, von der siebenten Woche bis zum Ende des ersten,
manchmal aber auch bei noch normalen Kindern bis gegen Ende
des zweiten Lebensjahres sich erstreckend, ist das der artikulierten
sinnlosen Laute. Das dritte beginnt mit der Hervorbringung
') Vgl. die Nachweisungen über die Musikinstrumente der Wilden bei Ratzel,
Völkerkunde, 2 I, S. 180, 467, 688, II, S. 18 usw.
272 Die Sprachlaute.
artikulierter Laute, denen die bestimmte Absicht der Benennung
beiwohnt: das Stadium der eigentlichen Sprachbildung, es
umfaßt die folgenden Lebensjahre. Man kann, freilich etwas will-
kürlich, seine obere Grenze da annehmen, wo das Kind seine Vor-
stellungen und Willensakte durchweg in regelmäßig geordneten
Sätzen ausdrückt. Zur Sprachentwicklung im weiteren Sinne ge-
hören natürlich alle drei Stadien; denn jede vorausgehende Stufe
bildet die psychophysische Vorbedingung der folgenden. Den An-
fang der eigentlichen Sprachbildung wird man aber erst ansetzen
können, wo das Kind wirklich, wenn auch noch so unvollkommen,
willkürlich Gegenstände und Vorgänge seiner Umgebung mit arti-
kulierten Lauten zu bezeichnen beginnt. In diesen Verlauf schieben
sich dann außerdem noch Zwischenstufen ein, die den Übergang
vermitteln, und die namentlich zwischen den beiden letzten Stadien
von psychologischem Interesse sind').
Die erste Lautreaktion des neugeborenen Kindes ist bekanntlich
der Schmerzensschrei, Kälte und Hunger scheinen die Reize
zu sein, die diese Reaktion auslösen. Sie besteht in unartikulierten,
meist bei weit geöffnetem Munde vorgebrachten Lauten von voka-
lischem Klangcharakter, wie ä^ «, z/, iiä. Schon in der ersten Lebens-
woche pflegt sich der Gebrauch dieser Schreilaute zu erweitern, in-
dem sich nicht bloß Schmerz, sondern auch sonstige, z. B. durch
eine ungewohnte Lage oder durch die plötzliche Entziehung der
Nahrung hervorgerufene Unluststimmungen durch ein ähnliches Ge-
schrei kundgeben, das nun in seinem äußersten Grade den Charakter
des Wutschreies annimmt. Wie der Schmerz- und der Wutschrei
die allgemeinen Ausgangspunkte des Ausdrucks der Gemütsbewe-
gungen durch Stimmlaute im Tierreich sind, so ordnet sich demnach
auch die individuelle Entstehung der Ausdruckslaute beim Kinde
dieser generellen Entwicklung unter. Der Hauptfortschritt, der sich
dann um das Ende des ersten und den Anfang des zweiten Lebens-
monats vollzieht, besteht darin, daß allmählich auch schwächere
') Die folgenden Angaben stützen sich zumeist auf Beobachtungen, die ich
selbst an zweien meiner Kinder ausgeführt habe, außerdem hauptsächlich auf die
sorgfältigen Aufzeichnungen W. Preyers (Die Seele des Kindes, "* S. 364 ff.), der in
seinem Werke auch eine größere Anzahl von Beobachtungen anderer aus der Lite-
ratur und aus privaten Mitteilungen gesammelt hat.
Stadien der Lautbildunsr beim Kinde.
273
Gefühle von Lautäußerungen begleitet werden: so die geringeren
Grade des Unbehagens, der Ungeduld, des Verdrusses, und in
leisen Anfängen schon gewisse Lustgefühle, die letzteren freilich zu-
nächst in der mehr negativen als positiven Form des nachlassenden
Mißvergnügens, denen aber bald Laute der Befriedigung, des Be-
hagens nachfolgen. In gleichem Maße nehmen die Lustäußerungen
ermäßigte Formen an, und neben den eigentlichen Schreilauten
treten moderierte Ausdruckslaute auf Infolge der hierbei vorhan-
denen geringeren und wechselnderen Spannung der Stimmbänder
wird die Tonmodulation der Laute eine mannigfaltigere; und durch
die gleichzeitig sich einstellenden wechselnderen Formungen der
Teile der Mundhöhle wächst, wenn auch noch in beschränktem
Maße, die Anzahl der Lautartikulationen. Die Vokalklänge ver-
mehren sich daher, und teilweise verbinden sie sich bereits mit
Verschluß- und Resonanzlauten: Lautbildungen wie or^ r'ö^ r«, ta,
am^ Jm^ treten zu den früheren hinzu. Sowohl nach dem Charakter
dieser halbartikulierten Laute wie nach den Anlässen, bei denen sie
hervorgebracht werden, bildet so diese Zeit schon eine Zwischen-
stufe zu dem folgenden Stadium.
Dieses zweite Stadium selbst ist zunächst durch die rasch wach-
sende Anzahl der Lautartikulationen gekennzeichnet. Sie kommt,
abgesehen von der zunehmenden Beweglichkeit der Mund- und
Rachenteile, hauptsächlich auf Rechnung der in der Regel im
7. bis 8. Monate hervorbrechenden Schneidezähne. Gleichzeitig
wächst aber sichtlich auch der Reichtum der Gemütsstimmungen,
namentlich der Lustaffekte und der an sie sich anschließenden
Affekte der Neugier, Erwartung, Verwunderung, indes sich die Un-
lustaffekte noch auf lange hinaus weder nach ihren psychologischen
Anlässen noch in ihren physischen Symptomen wesentlich zu ändern
pflegen. Während sich daher Schmerz und Zorn ganz wie früher
durch lautes unartikuliertes Geschrei kundgeben, nehmen mehr und
mehr die Perioden zu, wo das Kind, offenbar in zufriedener Stim-
mung, fast ununterbrochen artikulierte Laute ausstößt. Gerade die
deutlicheren Artikulationen, wie ant^ ab^ ovi^ ra^ da^ an, na, bu, Jiii,
Verbindungen also von Resonanz- und Lippenverschlußlauten mit
Vokalen, unter welchen letzteren nur das i zunächst noch zurück-
tritt, sind augenscheinlich Äußerungen dauernder, aber schwacher
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. 18
2 74 ^^^ Sprachlaute.
Lusterregungen. Stärkere Lustaffekte künden sich in derselben Zeit
gewöhnlich durch ein lautes krähendes Geschrei an, das sich von
dem Wehgeschrei durch seine kürzere Dauer und seine hohe Ton-
lage unterscheidet. Dabei muß freilich ein für allemal bemerkt
werden, daß es sich bei Angaben über die artikulierten Laute des
Kindes in dieser Lebenszeit stets nur um eine annähernde Wieder-
gabe der häufiger vorkommenden Laute handeln kann. Eine den
Ansprüchen der Lautphysiologie genügende Charakterisierung ist
unmöglich, weil man fast ganz auf die Beurteilung des akustischen
Eindrucks angewiesen bleibt. Die wirklich hervorgebrachten Laute
sind zudem, wenn man die Übergänge und die in unseren konventio-
nellen Symbolen kaum darstellbaren Laute hinzunimmt, geradezu
unübersehbar in ihrer Mannigfaltigkeit.
In dem geschilderten Verhalten ändert sich im Laufe der folgen-
den Monate nur wenig, abgesehen davon, daß die Lautartikulationen
zahlreicher werden, indem sich zunächst die Vokale, dann auch die
Konsonanten durch mannigfaltigere Abstufung der Lippenverschluß-
laute und durch den Hinzutritt der Zungenlippenlaute, überhaupt
aber durch die immer größer werdende Beweglichkeit der Zunge
vervollständigen. So beobachtet man als häufiger auftretende neue
Artikulationen Laute wie <?/, eg-^ ge^ ai, ja^ ek^ br^ ta^ ga, ka und
ähnliche. Damit ist schon ungefähr zu Ende des ersten Lebens-
jahres ein zureichendes Material für die Lautgebilde der Sprache
vorhanden. Nichtsdestoweniger haben diese Laute zunächst noch
nicht im mindesten den Charakter wirklicher Sprachlaute, sondern
ihr einziger psychologischer Unterschied von den primitiven Schrei-
lauten liegt darin, daß sie Ausdrucksmittel einer ganz andern Kate-
gorie von Gefühlen sind, nämlich eben jener mäßigen Lust-, Span-
nungs- und Erregungsgefühle, die allmählich durch die eingetretene
psychische Entwicklung entstanden. Ganz diesem Stadium reiner
Gefühlsäußerungen gehört auch noch die Bildung der Lautwieder-
holungen an, die in der Regel in die zweite Hälfte des ersten
Lebensjahres fällt, also dem Auftreten der ersten artikulierten Laute
erst nach geraumer Zeit folgt. Lautlich scheint sie an den zuneh-
menden Gebrauch der Dental- und Lippenverschlußlaute gebunden
zu sein. Zunächst bilden sich meist mehrfache Wiederholungen,
wie da-da-da-da^ ba-ba-ba-ba^ ma-ma-ma-ma. Das Kind scheint
Stadien der Lautbilduiig beim Kinde. 275
sich bei ihrer Hervorbringung besonders behaglich zu fühlen. Auch
kommen bei ihnen gelegentlich Tonmodulationen von freilich durch-
aus unharmonischer Art vor. Doch bedingen diese Wiederholungs-
formen zum erstenmal eine gewisse zeitliche Regelmäßigkeit der
aufeinander folgenden Laute, in der sich Spuren eines rhythmischen
Gefühls und eines Wohlgefallens an rhythmischen Eindrücken ver-
raten. Allerdings ist dieses Gefühl noch von einfachster Art, da
sich der Rhythmus auch hier, analog wie bei den offenbar psycho-
logisch verwandten einfachsten Formen der Tonmodulation bei den
Vögeln (S. 259), auf die Einhaltung einer annähernden Zeitgleichheit
der einzelnen Laute beschränkt.
Bald nach dem Hervortreten der Wiederholungslaute, in der
Regel gegen das Ende des ersten Lebensjahres, bietet sich nun
noch eine andere Erscheinung dar, in der zum erstenmal die selb-
ständige Lautbildung des Kindes mit den Einflüssen der Umgebung
in Beziehung tritt. Das Kind beginnt nämlich äußere Laute, manch-
mal beliebige zufällige Geräusche, namentlich aber Sprachlaute, die
ihm vorgesagt werden, nachzuahmen. Die Neigung zu dieser »Echo-
sprache« ist bei verschiedenen Kindern in ungleichem Maße vor-
handen. Die Erscheinung selbst besteht aber in einem völlig ver-
ständnislosen Nachahmen der Laute, ähnlich der bei geistigen
Schwächezuständen vorkommenden Echosprache, die in den Fällen
von angeborenem Idiotismus eine auf dieser Stufe stehen gebliebene
Kindersprache zu sein scheint. Sie ist Teilerscheinung anderer Nach-
ahmungsbewegungen, besonders der Nachahmung von Gebärden,
welche letztere zuerst als unwillkürliche Nachbildung mimischer Aus-
drucksformen und dann, auf einer etwas fortgeschritteneren Stufe,
als solche von hinweisenden und nachahmenden Handbewegungen
vorzukommen pflegt. In etwa derselben Zeit beginnt sich dann
auch ein Verständnis gesehener Gebärden und gehörter Wörter zu
regen. Allem andern geht in dieser Beziehung ein instinktives
Verstehen mimischer Ausdrucksbewegungen voran, das schon in
den ersten Lebensmonaten deutlich an der Rückwirkung auf die
eigenen Gemütsbewegungen des Kindes zu bemerken ist. Darauf
folgt einige Monate später das Verstehen hinweisender Gebärden,
und diesem wieder, meist erst gegen Ende des ersten Lebens-
jahres, das Verstehen einzelner Wörter, das sich darin verrät, daß
18*
2 70 Die Sprachlaute.
das Kind nach dem Gegenstand oder der Person, die genannt wer-
den, blickt. Doch ist es bemerkenswert, daß zwischen diesem Ver-
stehen gehörter Worte und der eigenen Anwendung derselben zum
Zweck der Benennung immer noch eine geraume Zeit liegt; daher
es in dieser Entwicklung eine kurze Periode geben kann, in der
das Kind einerseits verständnislos Wörter nachspricht, anderseits
solche versteht, gleichwohl aber selbst noch nicht im eigentlichen
Sinne spricht, das heißt Worte in der Absicht der Benennung ge-
braucht.
Der Eintritt in dieses letzte Stadium, in das der eigentlichen
Sprachbildung, ist demnach durch das Zusammentreffen zweier
Momente bestimmt: der Lautnachahmung, wie sie in der Echo-
sprache ihren Ausdruck findet, und des Verstehens gehörter
artikulierter Laute, das sich an das Verstehen mimischer und panto-
mimischer Ausdrucksbewegungen als ein letzter Vorgang anschließt.
Mit diesem fällt jedoch der verständnisvolle Gebrauch der Worte
zeitlich noch nicht zusammen; sondern erst, nachdem Nachahmung
und Verständnis, beide unabhängig voneinander, eine Zeitlang ge-
übt worden sind, treten die ersten mit der Absicht der Mitteilung
gebrauchten sprachlichen Benennungen auf. Zunächst sind es Per-
sonen und Vorkommnisse der täglichen Umgebung, die das Kind
zur Benennung anregen oder es veranlassen, ihm vorgesprochene
Wörter in gleicher Bedeutung nachzusprechen: so in den bekannten
Lallwörtern Mama^ Papa^ ferner atta für das Fortgehen einer Per-
son, viimi für die Milchfiache und dergleichen mehr. Diesen Er-
eignissen, die in der Regel in die Wende des ersten und zweiten
oder in die ersten Monate des zweiten Lebensjahres fallen, folgen
dann die weiteren Wortbildungen der Kindersprache meist so rasch,
daß schon in der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres für die
das Interesse erregenden Gegenstände der Umgebung zureichende
Bezeichnungen vorhanden sind. Bei einem Mädchen, dessen erste
mit dem Zweck der Benennung gebrauchte Sprachlaute genau in
den 12. Monat fielen, zählte ich im 19. Monat bereits 66 Wörter,
die sich einen Monat später abermals um 12 vermehrt hatten. Bei-
spiele dieser Wortbildungen sind: Oggo Onkel, Dada Tante, Opapa^
Omama Großpapa, Großmama, Eje Marie, Wida Friedrich, Mann
Mann, Mnc Junge, Pipi Vogel, Wauwan Hund, Hotto Pferd, Mi
Ansrebliche Worterfindung des Kindes.
277
Katze, Mh Kuh, Wa Wagen, Agga Auge, Mon Mond, Muni guten
Morgen , Nan gute Nacht , Ü Hütchen , Gag Kleid , Jüja Schleier,
Aga Jacke, Ua Schuh, Bo Boden, Bat Band, Bit Buch, Mia Finger,
Miawiit Fingerhut, Giiga Kuchen, Dida (Tiktak) Uhr, Aga Kaffee,
Joj Schoß, adda spazieren gehen, teaii aufstehen usw. Erst nach
dieser Zeit der ersten Wortbildungen vermehren sich auch die häu-
figer gebrauchten artikulierten Gefühlslaute. So sind von der zwei-
ten Hälfte des zweiten Lebensjahres an Laute wie chi^ np ^ id^ ol^
tscJii^ pu^ kch^ mp, scJii^ klii u. a. öfter zu hören. Gegen die Mitte
des dritten Lebensjahres pflegen die sämtlichen in der Sprache der
Umgebung vorkommenden Laute auch in der Sprache des Kindes
und in den bloßen Gefühlsartikulationen, die längere Zeit neben der
eigentlichen Sprache fortbestehen, eine Rolle zu spielen. Dabei
werden freilich noch verschiedene Laute miteinander verwechselt,
eine Erscheinung, die aber nur zum allergeringsten Teil in einer
wirklichen Unfähigkeit der Artikulation, sondern zumeist in ganz
andern Bedingungen ihren Grund hat, auf die wir, da sie die Eigen-
tümlichkeiten der Kindersprache überhaupt bestimmen, unten noch
zurückkommen werden.
2. Angebliche ^A^orte^findung des Kindes.
Bei Müttern und Ammen herrscht weitverbreitet die Ansicht,
das Kind erfinde sich seine Sprache selber, und von frühe an wende
es diesem Zwecke seine Aufmerksamkeit und Überlegung zu. Die
Entstehung dieser Ansicht ist begreiflich genug. Das Kind bringt
seine ersten, noch bedeutungslosen artikulierten Laute spontan her-
vor; und wenn es dann später diese Laute zu wirklichen Wörtern
verbindet, so läßt sich zwar der Einfluß des Vorsprechens nicht
ganz übersehen, aber in vielen Fällen liegt er doch nicht ohne wei-
teres zutage. Dazu kommt der eigenartige Charakter der Kinder-
sprache, der zugleich dem Wesen des Kindes durchaus angemessen
zu sein scheint. Auffallend ist es aber doch, daß die nämliche
Ansicht fast ausnahmslos auch noch von den pädagogischen Beob-
achtern der Kindersprache und von vielen Psychologen geteilt wird.
Dies läßt sich wohl nur daraus erklären, daß in der Psychologie
jener Mütter und Ammen, die von der wunderbaren Erfindungs-
2^8 I^is Sprachlaute.
kraft des Kindes erfüllt sind, ein Vorurteil vorkommt, das sich mit
merkwürdiger Beharrlichkeit auch in der Psychologie der Gelehrten
behauptet hat: das Vorurteil, daß der Mensch von Haus aus ein
Wesen sei, das in seinen Handlungen von logischen Reflexionen
bestimmt werde. Diese Psychologen zweifeln z. B. nicht daran,
daß jede Empfindung, etwa die Empfindung blau, die uns der blaue
Himmel verschafft, ein »Urteil« sei, oder sich mit einem solchen
verbinde, weil diese Empfindung irgendeinen, wenn auch noch so
primitiven, »Denkakt« ausmache^). Ebenso wird in dem Gefühl der
Lust oder Unlust nicht selten eine Beziehung zur Güte oder
Schlechtigkeit, Nützlichkeit oder Schädlichkeit der Reize gesehen.
Und daß vollends jede Willenshandlung aus einer Vergleichung und
Bevorzugung der gewollten Handlung hervorgehe, ist noch heute
eine weitverbreitete Überzeugung. Ich glaube nicht, daß in allen
diesen Fällen, wenn man sich auf die unbefangene Auffassung der
Tatsachen selbst beschränkt, ohne ihnen nachträgliche Reflexionen
über sie unterzuschieben, im Ernst von einer Nachweisung solcher
logischer Vorgänge die Rede sein kann. Dennoch ist es wohl be-
greiflich, daß das aus der Vulgärpsychologie übernommene Vor-
urteil bis zu einem gewissen Grad auch noch der wissenschaftlichen
Analyse standhält, weil ja die logische Reflexion selbst die Atmo-
sphäre ist, in der sich diese Analyse bewegt. So kommt es denn
leicht, daß namentlich der von der Philosophie herüberkommende
Psychologe geneigt ist, die Reflexionen, die er über die Objekte
seiner Beobachtung anstellt, in die Objekte selbst zu verlegen, so
daß die Kunst, die Dinge objektiv zu beurteilen, die sonst in der
Regel durch die wissenschaftliche Reflexion gefördert wird, gerade
hier, wo es sich um die unbefangene Auffassung des Menschen
handelt, mehr als anderswo durch die nämliche Reflexion von Grund
aus verdorben werden kann^).
In der Anwendung auf die Psychologie des Kindes äußert sich
nun jener Standpunkt der Vulgärpsychologie vor allem darin, daß
er auf jede Frage , die das Verhalten des Kindes dem objektiven
i) Vgl. z.B. Franz Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, I, 1874,
S. 182.
2) Vgl. hierzu die Bemerkungen der Einleitung, S. 1 1 ff.
Angebliche Worterfindmig des Kindes. 2 70
Beobachter stellen mag, von vornherein die Antwort bereit hat.
Denn da alle psychischen Vorgänge ihrem eigentlichen Wesen nach
logische Denkakte sein sollen , so erscheinen hier die Handlungen
des Kindes im allgemeinen als vollkommen eindeutige Symptome.
Wenn z. B. das neugeborene Kind auf süße und bittere Geschmacks-
reize in verschiedener Weise den Mund verzieht, gerade so wie
dies der Erwachsene tut, so wird das als ein Zeugnis dafür be-
trachtet, daß jenes ebenso wie dieser Abscheu oder Wohlgefallen
empfinde. Wenn das Kind sein Auge einem äußeren Lichte zu-
wendet, so soll es dadurch seine Aufmerksamkeit kundgeben ; starrt
es das Licht lange und auffallend an, so wird dies als ein Zeichen
der Verwunderung oder vielleicht gar des Nachdenkens betrachtet.
Daß es alles dies möglicherweise sein könnte, sofern man die
Symptome für sich , ohne alle Rücksicht auf die sie begleitenden
Bedingungen ins Auge faßt, ist natürlich nicht zu bestreiten. Gewiß
ist aber, daß die genannten Erscheinungen eine solche Deutung
noch nicht rechtfertigen, sondern daß andere, unzweideutige Merk-
male gegeben sein müssen, ehe wir über den Charakter der zu-
grunde liegenden psychischen Vorgänge oder auch nur darüber
entscheiden können, ob es sich wirklich um psychische Vorgänge
handelt. Denn in Wahrheit sind alle jene Erscheinungen viel-
deutiger Art, und bei dem Ungeheuern Einfluß, den vererbte Orga-
nisationsbedingungen, wie sie in besonders venvickelter Form in
den Nervenzentren vorauszusetzen sind, auf die Lebensäußerungen
ausüben, ist die bloße Analogie gewisser Bewegungen mit unseren
eigenen willkürlichen Handlungen für die psychologische Natur der
Prozesse selbst durchaus nicht entscheidend. Hier bietet nun aber
gerade die Sprache den großen Vorzug, daß sie uns eine genauere
Einsicht in die Bedingungen ihrer Entstehung und eine voUkomm-
nere Beherrschung dieser Bedingungen gestattet als die meisten
andern Vorgänge der psychischen Entwicklung. Indem nämlich
die Sprache von Anfang an im Verkehr mit der Umgebung
sich bildet, wird ihre Entwicklung in viel höherem Grad als
die der sonstigen psychischen oder psychophysischen Funktionen
der Kontrolle durch die objektive Beobachtung zugänglich. Denn
jener Verkehr ist ein äußerer Vorgang, den wir bei zureichender
Sorgfalt wenigstens in dem Sinne vollkommen zu beherrschen
280
Die Sprachlante.
vermögen, daß sich nichts in ihm ereignet, was wir nicht sofort in
seiner äußeren Entstehungsweise und seinen objektiven Rückwir-
kungen verfolgen können. Freilich bedarf es dazu einer täglichen,
ja stündlichen Beobachtung des Kindes und womöglich einer ver-
ständnisvollen Mit\virkung aller Personen, die mit dem Kinde ver-
kehren, damit jede neu auftretende Erscheinung in ihrem Ent-
stehungsmoment registriert und auf ihre Bedingungen zurückgeführt
werden könne. Wenn daher manche zweifellos sonst sorgfältige
Beobachter zu Schlüssen gelangt sjnd, die sich bei Einhaltung
der angedeuteten Vorsichtsmaßregeln nicht bestätigen, so trägt
daran, wie ich glaube, lediglich jene logische Interpretation der
Vulgärpsychologie die Schuld, die sie von vornherein geneigt
machte, die Sprache im wesentlichen als eine »Erfindung« des Kindes
anzusehen, und von der beherrscht sie begreiflicherweise vor allem
bemüht sein mußten, den Spuren dieser erfinderischen Tätigkeit
nachzugehen. Auf die Nachweisung der äußeren Einflüsse, die
hierbei mitwirken mochten, wurde dann natürlich nicht die gleiche
Sorgfalt verwendet.
Schon die Auffassung des allerersten Stadiums der Sprachent-
wickluno-, iener meist von der siebenten Lebenswoche an allmählich
auftretenden artikulierten Laute, die noch keine Sprache sind, aber
sie vorbereiten, leidet unter der Geltendmachung dieses logischen
Gesichtspunktes. Die populäre Meinung sieht in ihnen »Vorübun-
gen«, in denen sich das Kind nicht ganz ohne eigene Absicht auf
das künftige Geschäft des Sprechenlernens vorbereite; und dieser
Meinung nähern sich auch die Schilderungen wissenschaftlicher
Beobachter ^elesrendich in bedenklichem Grade. Mindestens erachtet
man es für eine »zweckmäßige Einrichtung der Natur«, daß das Kind
alle die Laute, deren es später bedürfe, selbsttätig erzeuge und sich
durch ihre Wiederholung in deren Bildung vervollkommne. Nun kann
man es gewiß in retrospektiver Betrachtung für zweckmäßig halten,
daß das Kind in dem Augenblick, wo es zu sprechen anfängt, be-
reits über das Lautmaterial verfügt, dessen es bedarf. Aber ob-
jektiv betrachtet ist das nicht bloß zweckmäßig, sondern notwendig ;
denn es würde gar nicht einzusehen sein, wie eine Nachahmung von
Sprachlauten möglich sein sollte, ehe die dabei vorkommenden Laut-
artikulationen schon vorhanden sind. Subjektiv betrachtet kann
Angebliche Worterfindung des Kindes. 28 1
aber von Zweckmäßigkeit nicht geredet werden, weil das Kind mit
seinen der Sprache vorausgehenden Lauten überhaupt keinerlei Ab-
sicht, am allerwenigsten die, künftig sprechen zu wollen, verbindet.
Diese Laute sind reine Gefühlslaute, gerade so gut wie die in einem
noch früheren Stadium auftretenden Schreilaute. Sie unterscheiden
sich von letzteren nur dadurch, daß sie an mildere Gefühle, nament-
lich an mäßige Lustgefühle, gebunden sind. Psychologisch sind sie
also jedenfalls nur als Gefühlssymptome zu deuten, und wenn sie
späterhin außerdem das Material abgeben, aus dem eigentliche
Sprachlaute gebildet werden, so ist das kein anderer Zusammen-
hang zwischen dem Vorausgehenden und Nachfolgenden, als wie er
uns auch sonst überall in der Entwicklung psychischer Funktionen
begegnet.
Mehr als diese der Sprache vorausgehenden Lautartikulationen
haben nun aber die den Eintritt in die eigentliche Sprachentwick-
lung bezeichnenden Wortbildungen des Kindes die Aufmerksam-
keit psychologischer Beobachter gefesselt. Dabei konnte freilich
nicht verborgen bleiben, daß das Kind viele Worte von seiner
Umgebung aufnimmt und nachspricht. Doch ist es bezeichnend,
wie sehr selbst diese bekannte Tatsache nicht selten durch den
Begriff der »Erfindung« in ein Licht gerückt wird, das auch diese
nachgebildeten Sprachlaute zur Hälfte als eigene Erfindungen er-
scheinen läßt. Das Nachsprechen des Kindes wird nämlich un-
mittelbar mit seiner Neigung zu onomatopoetischen Wortbildungen
in Verbindung gebracht. Echosprache und onomatopoetische Wort-
erfindung sollen daher im wesentlichen Vorgänge gleicher Art sein.
Von den onomatopoetischen Bildungen bezeichnet z. B. Taine die
Laute koko für das Huhn, oiia-oiia für den Hund entschieden als
selbsterfundene, durch welche das Kind diese Tiere absichtlich
nachgeahmt habe. Als weitere Worterfindungen, die mehr in das
Gebiet der interjektionsartigen Ausdruckslaute fallen würden, führt
er Jiam für 'ich will essen^, tein im Sinn eines Demonstrativs für
gib, nimm, sieh'' an'). In Darwins Beobachtungen beschränkte
sich die angeblich »selbständige« Erfindung auf den Laut mum^
^) Taine, Revue philos. I, 1876, p. 5. Über den Verstand, deutsch von L. Sieg-
fried, 1880, I, S. 287 ff.
282 Die Sprachlaute.
den das Kind in ähnlichem Sinne wie das von Taine bemerkte ham
anwandte, für den Wunsch zu essen oder auch für das Substan-
tivum "^Essen", daher es später diesen Laut sogar in Zusammen-
setzungen gebrauchte, z. B. shii-minn für Zucker, black-sliu-imnn
für Lakritzen'). Sully beobachtete bei einem 8 Monate alten Knaben,
also in einer Zeit, die früher liegt als die eigentliche Sprachbildung,
die Laute ma-nia als Zeichen der Trauer, da-da als Zeichen der
Freude. Ferner hält er da für einen bei englischen und deutschen
Kindern instinktiv gebrauchten Demonstrativlaut, und ata oder
tata für ein Lautzeichen, welches den Abgang einer Person be-
deute^). Ziemlich reich ist endlich das Vokabularium selbsterfun-
dener Lautzeichen bei K. C. Moore. Sie beobachtete um die
82. Woche folgende »erfundene und in Gebrauch behaltene Namen«:
lum für Katze , bizz für den eigenen Schatten , baJidiz für eine an
der Decke des Schlafzimmers befindliche Figur, alah für ein oft
gesehenes kleines Mädchen; ferner »erfundene Wörter, die nur ein-
mal gebraucht und wieder vergessen wurden«: babax für einen
Türhaken (hinge) , blcbs für eine Leiste (ledge) am Piano , piecc it
für "^in Stücke brechen" (to break into pieces)^).
Natürlich ist es völlig unmöglich, bei diesen Berichten nach-
träglich festzustellen, was wirklich eigene Tat des Kindes, und was
ihm etwa aus seiner Umgebung unbemerkt überliefert worden sei_
Aber so viel ist ohne weiteres ersichtlich, daß zahlreiche der an-
gegebenen »Erfindungen« entweder gewissen Wörtern aus der Sprache
der Erwachsenen so ähnlich oder in der traditionellen Kindersprache
seit alter Zeit so heimisch sind, daß sie von vornherein als der
Entlehnung dringend verdächtig angesehen werden müssen. Dahin
gehören das koko des französischen Kindes für das Huhn, das mit
cocque^ tein für nimm, das mit ticns zusammenhängt, blebs^ das wahr-
scheinlich direkt durch unvollkommenes Nachstammeln aus ledge
entstanden ist, piece it^ das aus break into pieces verkürzt wurde.
Die von Sully schon im 8. Monat beobachteten Laute ma-ma und
da-da fallen noch in die Zeit der reinen artikulierten Gefühlslaute,
i) Darwin, Mind, Vol. II, 1876, p. 293.
2) Sully, Untersuchungen über die Kindheit, deutsche Ausg. 1892, S. 130 f.
3) Moore, Mental Development of a Child, 1896, p. 125. Psychological Review,
Suppl. Nr. 3.
Angebliche Worterfindung des Kindes. 283
WO der erste Laut der gewöhnliche Begleiter der natürlichen Wein-
bewegungen ist, während der zweite zu denen gehört, die das Kind
neben andern bei behaglicher Gemütsstimmung hervorbringt. Das
demonstrative da des deutschen und englischen steht aber ebenso
wie das tem des französischen Kindes unter dem Verdacht der Ent-
stehung aus den bekannten Demonstrativwörtern da, das^ engl, that,
und ata oder tata für die Entfernung einer Person gehört ebenso-
gut wie die onomatopoetischen Tierlaute zu dem alten Inventar der
Kindersprache. Zweifelhafter verhält es sich mit den offenbar nahe
übereinstimmenden Wörtern kam und mum^ die Taine und Darwin
für den Begriff des Essens beobachteten. Ob, wie Preyer") annimmt,
harn als eine Nachbildung von faim zu deuten sei, scheint mir eben
wegen dieser Übereinstimmung zweifelhaft, um so mehr, da ähnliche
Laute mehrfach in der gleichen Bedeutung beobachtet worden sind.
So berichtet schon Samuel Heinicke, ein igjähriger Taubstummer
habe neben andern gewohnheitsmäßig für gewisse Gegenstände ge-
brauchten Ausdruckslauten auch das Wort inuni in der Bedeutung
'essen' gebraucht^). Auch kann wohl die später zu erwähnende
Tatsache, daß in zahlreichen Sprachen zur Bezeichnung der Funk-
tionen der Artikulationsorgane Laute Verwendung finden, bei denen
diese Funktionen selbst mitwirken, in diesem Fall als ein Zeugnis
für eine natürliche Entstehung der Laute angeführt werden^). Eine
andere Frage aber ist es, ob diese Laute nicht, ebenso wie die
mancherlei onomatopoetischen Tiernamen, dem Kinde von seiner
Umgebung mitgeteilt wurden. Ist es doch eine beliebte Gebärde
der Mütter und Wärterinnen, ehe sie dem Kind et^vas zu essen
geben, die Eßbewegungen nachzuahmen. Dem entspricht, daß imiin
in der Bedeutung "^still' ein englisches Wort ist, das offenbar aus der
gleichen Ausdrucksbewegung entstand. Es bleiben so schließlich
noch einige der von K. C. Moore verzeichneten Wörter übrig, die
1) Preyer a. a. O. S. 428.
2) Heinicke, Beobachtungen über Stumme, S. 137. Die andern von Heinicke
angeführten Wörter des Taubstummen sind zum Teil dunkel ; einige dürften eben-
falls mit Nachahmungsgebärden des Mundes zusammenhängen. So nannte er den
Hund Beyer, vielleicht in Nachahmung der Bellbewegungen, das Kind Ttitteit, mög-
licherweise nach den Saugbewegungen; 'Gott bewahre' übersetzte er in Iieschbefah,
eine offenbare Nachahmung der wahrgenommenen Mundartikulationen.
3) Vgl. unten III, 2.
284 ^'s Sprachlaute.
sich wie vollkommen willkürliche, ohne alle Beziehung zu ihrer Be-
deutung entstandene Worterfindungen ausnehmen. Über ihre Herkunft
läßt sich natürlich nichts vermuten. Gleichwohl lehren Beobach-
tungen über die Entstehung ähnlicher scheinbar ganz willkürlicher
Bezeichnungen, daß man in solchen Fällen noch nicht berechtigt
ist, von einer freien Erfindung des Kindes zu reden. So erinnere
ich mich, daß ich bei der Beobachtung eines meiner Kinder mehrere
Tage von der Frage beunruhigt wurde, wie das Kind dazu kam,
einen Stuhl giik zu nennen, bis ich ermittelte, daß das Kinder-
mädchen mehrmals eine künstliche Katze auf den Stuhl gesetzt hatte
und mit einer hinweisenden Gebärde auf diese dem Kinde zurief
"guck] giick^^ (von gucken provinziell = sehen) — die gewohnte Art,
in der sie das Kind aufforderte, nach einem Gegenstand hinzusehen.
Das Kind hatte aber diese Aufforderung nicht auf das Sehen be-
zogen, sondern zunächst als eine Benennung des Stuhles, und dann
in zweiter Linie auch als eine solche der Katze aufgefaßt. Aus
dieser Erfahrung läßt sich die Lehre entnehmen, daß ein neues und
nicht ohne weiteres erklärbares Wort im Mund eines Kindes darum
noch lange keine eigene Erfindung desselben sein muß, da bei der
ersten Assoziation eines Lautes mit einem Gegenstand oft der selt-
samste Zufall mitspielen kann. Höchstens durch eine fortwährende
sorgfältige Kontrolle aller Einflüsse, wie sie außerordentlich schwer
auszuführen ist, kann man hier hoffen, in jedem einzelnen Falle dem
Ursprung eines neu beobachteten Wortes auf die Spur zu kommen.
Unter diesen Umständen ist es nun um so bemerkenswerter,
daß in einer Anzahl streng unter Anwendung der gebotenen Vor-
sichtsmaßregeln ausgeführter Beobachtungen nicht ein einziges
Wort als von dem Kinde selbständig erfunden nachge-
wiesen werden konnte. Hierher gehört in erster Linie die
Beobachtungsreihe Preyers »über die Urlaute und Sprachanfänge
eines während der ersten drei Jahre täglich beobachteten Kindes«,
jedenfalls die eingehendste und sorgfältigste, die wir besitzen. Sie
führte in der Frage der Worterfindung zu dem Ergebnis, daß das
einzige Wort, das möglicherweise das Kind selbständig erfunden
haben konnte, ein schon zu Ende des 1 1 . Monats beobachtetes
atta oder Jiatta^ Jiötta war, das vorkam, wenn jemand das Zimmer
verließ, oder wenn das Licht ausgelöscht wurde. Aber Preyer selbst
Angebliche Wortertindung des Kindes. 285
läßt dahingestellt, ob nicht auch dieses Wort ein nachgesprochenes
sei ; und da atta in dem Sinne, in dem es hier gebraucht wurde, ein
bekanntes Wort der konventionellen Kindersprache ist, so hat diese
Vermutung offenbar die größte Wahrscheinlichkeit für sich"). Dies
Ergebnis Preyers ist übrigens um so bemerkenswerter, weil dieser
Beobachter selbst sich jener Art logischer Interpretation psychischer
Vorgänge, aus der die Annahme der ;> Erfindung« der Sprache durch
das Kind hervorgegangen ist, durchweg zuneigt. Er würde also von
vornherein schwerlich abgeneigt gewesen sein, eine solche Erfindung
zu konstatieren, wenn sie sich nur hätte nachweisen lassen.
Ich selbst habe in zwei Fällen die Entwicklung der Sprache in
der Weise verfolgt, daß ich über jedes neu auftretende Wort und
seine Bedeutung sorgfältig Buch führte und sofort seinen Ursprung
zu ermitteln suchte, während zugleich alle Personen der Umgebung
angewiesen waren, auf die in Betracht kommenden Erscheinungen
zu achten. Als Resultat ergab sich, daß bei dem einen dieser
Kinder kein einziges Wort, das in der Zeit der eigentlichen Sprach-
bildung mit dem ersichtlichen Zweck der Benennung entstand, ur-
sprüngliches Eigentum des Kindes war. Die Beobachtungen bei
dem andern Kinde führten zu dem gleichen Ergebnis, mit der Aus-
nahme, daß für eine einzige Benennung die selbständige Lautbildung
nicht als absolut ausgeschlossen gelten konnte. Dieser Ausnahme-
fall betraf aber nicht eigentlich ein Wort, sondern ein Geräusch, das
von dem Kinde, wie es schien, nachgeahmt wurde. Wenn man
nämlich einen Schlüsselbund vor ihm schüttelte, so brachte es mit
der Zunge den vibrierenden Laut l-l-l-l-l hervor, und es gebrauchte
dann diesen Laut auch beim Anblick eines einzelnen Schlüssels.
Aber in diesem Fall ist es wieder sehr wohl möglich, daß das von
dem Kinde gehörte Wort "^Schlüssel' auf jenen Laut eingewirkt hatte.
Der Fall erinnert zugleich an eine Beobachtung Steinthals, der ein
Kind beim Anblick rollender Fässer in die Laute lii-lu-lu ausbrechen
sah. Steinthal betrachtete diese Laute als eine spontane onomato-
poetische Nachbildung der gesehenen RoUbevvegung. Auch hier
dürfte es sich aber um den Versuch einer Nachbildung des Wortes
rollen handeln^].
ij Preyer a. a. O. S. 372.
-) Steinthal, Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft, 1871, S. 382.
2S(') Die Sprachlaute.
Nach allen diesen Beobachtungen nehmen die Wortbildungen
der Kindersprache jedenfalls zum größten Teil, aller Wahrschein-
lichkeit nach aber ausnahmslos nicht in dem Kinde selbst ihren
Ursprung, sondern sind diesem von den umgebenden Personen mit-
geteilt. Dieses Resultat bestätigt vollkommen das, was sich eigent-
lich schon aus dem S. 275 geschilderten Verhältnis der ersten
Sprachäußerungen zu gewissen andern in die gleiche Periode fallen-
den Erscheinungen erschließen läßt. Die eine dieser Erscheinungen
ist die Echosprache, die zweite das Auftreten von Gebärden,
die deutlich ein eingetretenes Wortverständnis verraten, wie das Hin-
blicken nach Personen oder Gegenständen, deren Namen genannt
werden. Für die Motive, die der ursprünglichen Benennung zugrunde
liegen, ist es in hohem Grade charakteristisch, daß diese beiden
Erscheinungen dem spontanen Gebrauch der Sprache vorauszugehen
pflegen. Das Kind spricht verständnislos Wörter nach, und es ver-
steht einzelne der von seiner Umgebung gebrauchten Wörter, ehe
es selbst ein Wort zur Bezeichnung irgend eines Gegenstandes an-
wendet. Daraus geht unzweifelhaft hervor, daß in dem Augenblick,
wo dies geschieht, die Bedingungen einer nachahmenden Wort-
bezeichnung vollkommen im Kinde bereit liegen. Es braucht nun
nur noch die beiden bisher getrennt geübten Funktionen, Wortwahr-
nehmung und Wortverständnis, miteinander zu verbinden, um sich
die Wortsprache anzueignen. Jede unbefangene Beobachtung be-
stätigt, daß dies der wirkliche Weg der individuellen Sprachent-
wicklung ist, und daß die entgegenstehende Annahme teils auf
unzulänglicher Beobachtung, teils und hauptsächlich auf der Fälschung
des wirklich Beobachteten durch die Einmengung vulgärpsycho-
logischer Vorurteile und Reflexionen beruht. Dieser letztere Fehler '
wurzelt um so tiefer, als er noch über die Periode der ersten Wort-
bildung hinaus die Beurteilung über das Verhalten des Kindes zu
bestimmen pflegt. So bemerkt Preyer, die » Begriff bildung« sei von
den ersten Anfängen der Wortbildung an da und gestatte dem
Kinde, Wörter, die man ihm mitgeteilt, beliebig in ihrer begriff-
Ähnlich. werden wohl mehrere andere angeblich »erfundene« Wörter zu deuten sein,
die Ament (Die Entwicklung von Sprechen und Denken, 1899, S. 63) von verschie-
denen Beobachtern anführt, z. B. tidu für Vogel (Piepvogel?), adt für Kuchen
(essen?) u. a.
Angebliche Worterfindung des Kindes. 287
liehen Bedeutung zu erweitern oder auf neue Begriffe zu über-
tragen^); und Taine meint, in vielen Fällen, wo dem Kind ein
Wort mitgeteilt werde, sei es erst das Kind selbst, das seine Be-
deutung bestimme: »wir haben ihm den Ton gegeben, es hat den
Sinn dazu erfunden«. Im großen ganzen »erlerne es daher die
fertige Sprache wie ein wahrer Musiker den Kontrapunkt, ein wahrer
Dichter die Prosodie«. Worterfindung und Aneignung mit will-
kürlicher Umformung der Begriffe sollen auf diese Weise fort\vährend
ineinander greifen. Das von Taine beobachtete Kind gebrauchte
z. B. das Wort bebe anfänglich nur für das kleine Jesuskind, das man
ihm auf einem bestimmten Gemälde gezeigt hatte. Dann zeigte
man ihm andere Kinder und endlich sein eigenes Bild im Spiegel,
indem man dasselbe Wort "^bebe' sagte. »Hiervon ausgehend hat
das Kind den Sinn des Wortes erweitert; 'bebe' nennt es nun
alle kleinen Figuren, z. B. die halbgroßen Gipsfiguren auf der
Treppe« usw.*).
Es scheint mir, der Fehler, den die vulgäre Reflexionspsycho-
logie bei der Beurteilung der von dem Kinde herbeigeführten Wort-
übertragungen begeht, läßt sich nicht deutlicher kenntlich machen,
als es durch dieses Beispiel geschieht. Wenn wir nachträglich die
verschiedenen Bedeutungen, die das Kind einem und demselben
Wort im Verlauf der Zeit gibt, auf ihr logisches Verhältnis prüfen,
so ergeben sich natürlich Verallgemeinerungen, Verengerungen und
sonstige Umwandlungen der Begrift'"e. Diese Begriffsoperationen
verlegt man nun in das Kind selber. Man nimmt an, dieses
ändere den Sinn eines Wortes willkürlich nach seinen Bedürfnissen
^) Preyer, Seele des Kindes, 4 S. 380, und an andern Stellen.
2) Taine a. a. O. S. 286 ff. Wenn auch nicht alle psychologischen und päda-
gogischen Beobachter des Kindes so weit gehen, wie hier von Taine und andern
Vertretern der »Erfindungstheorie« geschieht, so huldigen doch die meisten insofern
einer ähnlichen Interpretationsweise, als sie in reinen Assoziationswirkungen, wie den
oben geschilderten, bald Umfangserweiterungen der Begriffe, bald Urteile oder Schlüsse
erblicken. Vgl. z. B. Ament, Die Entwicklung von Sprechen und Denken beim
Kinde, 18S9, S. 148 ff., Begriff und Begriffe in der Kindersprache, 1902, S. 142 ff.
Compayre, Die Entwicklung der Kindesseele, übers, von Ufer, 1900, S. 310 ff.,
Bd. I u. a. Vgl. dazu auch die kritischen Bemerkungen von E. Meumann, Die
Sprache des Kindes, 1903, S. 43 f. Über die ziemlich ausgedehnte neuere Literatur
zur Sprache des Kindes vgl. Meumann, ebenda S. 82, und das Referat von H. Gutz-
mann, Archiv für die ges. Psychol., Bd. I, 1903, S. 7 ff.
288 ^i^ Sprachlaute.
und womöglich infolge einer Überlegung. Aber nicht nur erklären
sich alle jene Erfolge vollkommen zureichend aus naheliegenden
Assoziationswirkungen, sondern sie sind auch gelegentlich von Er-
scheinungen begleitet, die direkt auf bestimmte Wahrnehmungs-
assoziationen hinweisen, während sie jeder Art logischer Reflexion
widersprechen. Wenn das Kind Taines das Wort bebe von dem
Jesuskind des einzelnen Gemäldes allmählich auf alle möglichen
kleinen Menschengestalten übertrug, so ist das um so weniger zu
verwundern, weil man es schon gelehrt hatte, das Wort auf sehr
verschiedene analoge Fälle anzuwenden. Die Assoziation ähnlicher
Vorstellungen hätte also bei ihm eine merkwürdig unentwickelte
sein müssen, wenn es nicht zu den vielen Fällen der ihm gezeigten
Anwendung auch noch einige andere von ähnlicher Beschaffenheit
hinzugefügt hätte. Das letztere wird dem Kind um so leichter, je
unbestimmter vielfach die Vorstellungen sind, die es sich bildet,
weshalb man auch bei ihm Ähnlichkeitsassoziationen zwischen Gegen-
ständen beobachten kann, zwischen denen wir selbst nimmermehr
solche bilden würden. Besonders spielen dabei die unvollkommenen
Tiefenvorstellungen des Kindes, mit denen wieder seine höchst
schwankenden Größenvorstellungen zusammenhängen, eine Rolle.
So kann man leicht sogar in einem schon vorgerückteren Stadium
beobachten, daß ein Kind etwa eine kleine Wasserpfütze und einen
See für gleiche oder sehr ähnliche Dinge hält, oder daß es für den
Unterschied des von ihm aus dem Material seines Baukastens ge-
bauten und eines wirklichen Hauses kein rechtes Maß hat. Helm.-
holtz erzählt, als kleiner Knabe habe er, auf dem Arm seiner Mutter
sitzend, von dieser verlangt, sie solle ihm die Dachdecker vom
nächsten Turm, die er für kleine Puppen hielt, herabholen'). Wenn
demnach das Kind meist in viel weiterem Umfang Ähnlichkeits-
assoziationen ausführt als der Erwachsene, so beruht das nicht auf
einer umfassenderen Tätigkeit der »Vergleichung«, sondern umge-
kehrt darauf, daß es leichter Gegenstände verwechselt, die nur eine
entfernte Ähnlichkeit haben, und daß bei ihm namentlich Größen-
und Entfernungsunterschiede noch fast gar keine Rolle spielen.
Dagegen kann man nicht minder beobachten, daß es zu solchen
Helmholtz, Physiologisclie Optik,^ S. 770.
Angebliche Worterfindung des Kindes. 280
Assoziationen, bei denen Reflexionsmomente zu assoziativen Wir-
kungen verdichtet sind, und die sich bei uns ohne weiteres voll-
ziehen, nicht oder erst dann gelangt, wenn es durch den über-
einstimmenden Namen zu einer Assoziation veranlaßt wird. Diese
bleibt aber dann zunächst eine reine Wortassoziation. So wurde
es einem Kinde, nachdem es einen Stuhl von einer bestimmten
Form tili genannt hatte, zuerst schwer, dasselbe Wort auf Stühle
von ganz anderer Form zu übertragen. Es zeigte also in dieser
Beziehung immer noch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Hunde,
dem man durch assoziative Übung das Kunststück beigebracht hat,
eine bestimmte Tür zuzuschlagen, der aber nicht sofort veranlaßt
werden kann, die nämliche Leistung auch an einer andern zu
wiederholen ']. Ein anderes Kind übertrug dagegen das Wort dül
sofort von einem Stuhl auf ein Sofa^). Sicherlich wird man diesen
Unterschied nicht darauf zurückführen können, daß das erste dieser
Kinder nur Begriffe von beschränktem, das andere solche von
weitestem Umfang gebildet habe, sondern eben nur darauf, daß
dort die Assoziation zufallig an einem Merkmal haften blieb, das
bloß dem einen Stuhl zukam, et^va an seiner Stellung im Zimmer,
während sie hier offenbar von der sich häufiger wiederholenden
Vorstellung des Sitzens gelenkt wurde. In der Tat lassen sich in
der Periode der Sprachentwicklung, um die es sich hier handelt,
durchaus keine Merkmale nachweisen, die über die Absicht, jedes-
mal nur den einzelnen konkreten Gegenstand zu benennen,
hinausgehen. Auch das Kind, das ein Sofa als Stuhl bezeichnet,
will damit keinen alle Sitzgelegenheiten umfassenden Allgemein-
begrifif ausdrücken, sondern eben nur das eine Objekt, auf das es
den Namen durch Assoziation übertragen hat. Eine solche Asso-
ziation tritt aber ein, sobald irgendeine Ähnlichkeit oder eine
äußere Beziehung gegeben ist, welche zureicht, um bei dem An-
blick des neuen Gegenstandes das nämliche Wort zu reproduzieren,
das sich mit dem Anblick des früheren kompliziert hatte. Nun
setzen natürlich alle Begriffe Assoziationen voraus; aber von einer
wirklich eingetretenen Begriffsbildung können wir erst dann reden.
^) Vgl. meine Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele, ^ S. 412.
2) Nach einer Beobachtung von Prof. K. Brugmann.
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. ig
2QO Die Sprachlaute.
wenn zwischen den Vorstellungen Beziehungen entstehen, die in
Urteilen ihren Ausdruck finden. Eine Subsumtion der mit dem
gleichen Wort benannten Gegenstände unter eine und dieselbe
Gattung kann vollends erst stattfinden, wenn Vergleichungen zwi-
schen den Gegenständen ausgeführt werden, auf Grund deren ein
allgemeinerer, ihnen übergeordneter Begriß" entsteht. Gewiß kom-
men Anfänge solcher Begriffsbildung auch beim Kinde vor. Aber
sie gehören einer weit späteren Periode an, in der ihm die Sprache
schon ein verhältnismäßig geläufiges Werkzeug geworden ist.
Deutliche Belege für diesen rein assoziativen Charakter der ur-
sprünglichen Namenübertragungen bieten sich insbesondere auch
bei solchen Benennungen, die aus mehr oder minder zufälligen
äußeren Berührungsassoziationen entstanden sind. Hierher gehört
der oben berichtete Fall, wo ein Kind das Wort giick^ durch das
es auf eine künstliche Katze, die auf einem Stuhl stand, aufmerk-
sam gemacht werden sollte, zunächst auf den Stuhl bezog, dann
aber auch auf die Katze selbst, so daß nun das gleiche Wort zwei
gänzlich verschiedene Bedeutungen angenommen hatte. Einen ähn-
lichen Fall erzählt Romanes nach einer Beobachtung Dar\vins an
dessen Enkelkinde. Das Kind gebrauchte das Wort quak nicht
bloß zur Bezeichnung der Enten, in welcher Bedeutung es ihm mit-
geteilt worden war, sondern auch zu der des Wassers, und von da
aus übertrug es dann das gleiche Wort einerseits auf alle Vögel
und fliegenden Insekten, und anderseits auf alle möglichen fließen-
den Substanzen'). Man wird schwerlich fehlgehen, wenn man nach
Analogie mit dem vorigen Fall annimmt, daß hier der Laut, der
mit der hinweisenden Gebärde auf eine im Wasser schwimmende
Ente verbunden war, gelegentlich einmal mit der Ente und bei
einer andern Gelegenheit mit dem Wasser assoziiert wurde, worauf
sich dann alles Weitere vermöge der oben erörterten Ahnlichkeits-
assoziationen von selbst ent^vickelte. Oft bildet gerade die Verschie-
denheit der mit dem gleichen Wort bezeichneten Gegenstände einen
sprechenden Beleg für die bloß nach irgendeiner zufälligen Ähnlich-
keit gebildete Assoziation. So übertrug ein 17 Monate altes Kind das
Wort eijebapp für die Eisenbahn, die es als Spielzeug besaß, ohne
^) Romanes, Die geistige Entwicklung des Menschen. Deutsche Ausg. S. 283
Angebliche Worterfindung des Kindes. 201
weiteres auf das Bild mehrerer in gleichen Abständen hintereinander
gehender Hunde ^).
Darf man nun aber aus allen diesen Beobachtungen noch nicht
schließen, daß das Kind auch späterhin auf bloße Assoziationsbil-
dungen beschränkt bleibe, sondern eben nur dies, daß die eigent-
liche Begrififsbildung einem späteren Stadium angehört und mit der
ersten Aneignung der Sprache nichts zu tun hat, so gilt dies auch
für den Ursprung der Sprache selbst. Daß das Kind unter den
normalen Verhältnissen seiner Entwicklung die Sprache nicht selbst-
tätig erzeugt, sondern daß sie ihm von seiner Umgebung mit-
geteilt wird, ist zweifellos. Dies schließt aber natürlich nicht aus,
daß es irgendeine Sprache, irgendeine Art und Weise, seine Vor-
stellungen und Gefühle durch Laute kundzugeben — nicht »erfinden«
würde, denn dieser Ausdruck ist kein adäquater Begriff für die
hier stattfindenden Vorgänge — wohl aber selbständig erzeugen
und ausbilden würde, wenn nicht die ihm von außen mitgeteilte
Sprache dem zuvorkäme. Wäre es möglich, Kinder, ohne ein
Wort vor ihnen auszusprechen, aufwachsen zu lassen, so würde ver-
mutlich neben der natürlichen Gebärdensprache auch eine natür-
liche, wenngleich vielleicht sehr unvollkommene Lautsprache bei
ihnen entstehen. Aber dies würde nach allem, was wir bei der
Sprachentwicklung des Kindes beobachten, in einer andern Weise,
und es würde sicherlich sehr viel später geschehen"^). Die Sprach-
bildung unserer Kinder ist, weil sie unter dem Einflüsse der reden-
den Umgebung stattfindet, eine verfrühte Entwicklung. Sie
wird hervorgerufen, lange bevor sie spontan erfolgen würde. Es
verhält sich mit ihr nicht anders als mit allen ihr nachfolsfenden
Formen geistiger Entwicklung. Was sich die Gattung in allmäh-
') Das nämliche Kind hatte, im 13. Monat stehend, das Wort ein bißchen (für
'behutsam'), das ihm zugerufen wurde, als es nach der Brille seines Vaters griff, auf
die Brille übertragen, nach der es jedesmal griff, wenn das Wort in ganz anderem
Zusammenhang vorkam. (Mitteilung von Prof. Brugmann.'
2) Einige namentlich in der älteren Literatur vorkommende Angaben über Kinder,
die sich, zusammen aufwachsend, eine eigene Sprache gebildet haben sollen, sind
wohl ein für allemal in das Gebiet der Fabel zu verweisen. Da genauere Angaben
über jene eigenartige Sprache fehlen, so liegt möglicherweise eine Verwechselung
mit den gewöhnlichen artikulierten Gefühlslauten vor.
19*
20 2 Die Sprachlaute.
lichem Fortschritt durch die Arbeit zahlloser Generationen erringen
mußte, das ist für den Einzelnen von früh an ein überlieferter
Besitz.
3. Psychophysische Bedingungen der individuellen
Sprachentwicklung.
Unter den Ergebnissen, die wir der Beobachtung der Sprach-
entwicklung des Kindes entnehmen können, steht die Tatsache
obenan, daß die ursprüngliche Entstehung artikulierter Laute und
die Anwendung dieser Laute zur Benennung von Gegenständen zwei
nach ihren inneren und äußeren Bedingungen völlig auseinander-
fallende Vorgänge sind. Die ursprünglichen artikulierten Laute sind
reine Gefühlsäußerungen. Als solche sind sie psychische Symptome,
so gut wie die Wortbildungen. Aber sie sind im Unterschied von
diesen keiner andern Beschränkung unterworfen als der, daß sie,
im Gegensatz zu den Schreilauten, mäßige Gemütsbewegungen
begleiten. Irgendeine speziellere Beziehung zwischen der Art der
Gefühlserregung und der Beschaffenheit der Laute läßt sich hier
gerade so wenig wie bei den analogen Gefühlsäußerungen vieler
Tiere auffinden. Demnach müssen sie wohl, gleich diesen, auf eine
physiologische Anlage zurückgeführt werden, vermöge deren das
Kind ebenso auf Gefühlserregungen mit artikulierten Lauten reagiert,
wie es etwa auf süße, saure und bittere Geschmacksreize mit den
entsprechenden mimischen Bewegungen antwortet. Der Unterschied
beider Fälle ist nur der, daß die ursprünglichen Geschmacksreak-
tionen wahrscheinlich rein physiologische Reflexe in niederen Ner-
venzentren sind, da sie bereits von der Geburt an beobachtet wer-
den, während die artikulierten Lautreaktionen Lustgefühle voraus-
setzen, die in der frühesten Lebenszeit noch nicht vorkommen und
physiologisch wahrscheinlich erst auf Grund einer umfänglicheren
Entwicklung der Leitungsbahnen des Großhirns möglich sind. In
der Tat lassen sich die erwähnten Lautartikulationen nach Ursprung
wie Wirkung durchaus den mimischen Ausdrucksbewegungen an die
Seite stellen, mit dem einen Unterschied, daß die artikulierten Laut-
äußerungen bald sehr viel mannigfaltiger werden. Daß das mensch-
liche Kind schon in sehr früher Zeit über ein so reiches Resfister
Psychopliysische Bedingungen der individn eilen Sprachentwicklung. 293
von Lautreaktionen verfügt, die nach ihrer psychischen Bedeutung
schwerlich in gleichem Grade nuanciert sind, dies kann aber nur auf
einer vererbten physiologischen Anlage beruhen. Das Kind bringt
— so werden wir annehmen können — infolge seiner Abstammung
von einer unzählbaren Reihe von Ahnen, die alle schon im Besitz
der Sprache gewiesen sind, die Anlage zu zahlreichen, schon in den
ersten Lebenswochen sich ausbildenden zentralen Leitungen zur
Welt mit, so daß sich seine Gefühle, sobald diese Entwicklung voll-
endet ist, außer in mimischen Bewegungen auch in Lautartikulationen
äußern. Dabei sind die zentralen Verbindungen, von denen die
Innervation der Stimmorgane abhängt, von vornherein so mannig-
faltig, daß der einzelne Laut ohne merkliche Änderung der Gefühls-
qualität in weitem Umfang wechseln kann. Die artikulierten Laute
des Kindes sind somit Ausdrucksbewegungen, die in ihrer Viel-
gestaltigkeit weit über das nächste Bedürfnis, dem sie dienen, hin-
ausgehen, weil sie eben Produkte vererbter Anlagen sind, auf welche
die verwickeitere Funktion, die später auch im individuellen Leben
aus ihnen hervorgeht, in der generellen Entwicklung bereits ein-
gewirkt hat.
Diese nahe Beziehung der Lautartikulationen zu den sonstigen
Ausdrucksbewegungen läßt sich nun auch daraus erkennen, daß
sich bei jenen, ebenso wie bei diesen, sehr früh schon gewisse in-
dividuelle Nuancen ausprägen, die allmählich zunehmen, und aus
denen sich später die Sprechweise des einzelnen Menschen entwickelt.
Noch größere Unterschiede zeigen in dieser Beziehung die verschie-
denen Nationen. Wie sehr Lautartikulation und Tonmodulation bei
dem Deutschen, Engländer, Franzosen, Italiener abweichen, ist ja
allbekannt. Daß aber diese Unterschiede nicht bloß von den An-
forderungen, die der Lautcharakter der Sprache an die Sprachorgane
stellt, sondern bis zu einem gewissen Grad auch von Rassenver-
schiedenheiten in der physischen Bildung der Artikulationswerkzeuge
abhängen, lehren die bekannten Erfahrungen über die Aneignung
fremder Sprachen, nach denen selbst bei vollkommener Übung in
der Regel noch die Artikulationsweise der Muttersprache ihren Ein-
fluß ausübt. Natürlich stehen diese beiden Momente in Wechsel-
wirkung: die Eigenschaften der Lautorgane wirken auf die Sprache,
und diese wirkt wieder auf jene zurück. Durch Umgewöhnung und
2QA. Die Sprachlante.
Übung können daher schließlich auch solche Stellungen und Be-
wegungen entstehen, die dem individuellen Sprachorgan ursprüng-
lich nicht eigen waren. Deshalb ist es nicht leicht, mit Sicherheit
festzustellen, ob diese Anpassung des Organs an die Sprache die
Wirkung bloß individueller Einübung, oder ob sie in irgendeinem
Grade in der angeborenen Organisation bereits vorgebildet sei. Be-
denkt man, wie sehr der Artikulationsmechanismus mit den mimi-
schen Bewegungen und durch diese mit der dauernden Gesichts-
bildung zusammenhängt, so ist von vornherein ein gewisser Grad
angeborener Anlage auch hier nicht ausgeschlossen. Sind doch
bekanntlich einzelne rassenphysiognomische Merkmale zuweilen selbst
bei stammverwandten Nationen, z. B. Deutschen und Engländern,
bereits in sehr früher Lebenszeit zu erkennen. Auch scheinen
schon in den Lallsilben der Säuglinge Rassenunterschiede vorzu-
kommen, wenn die folgende Zusammenstellung der von Preyer und
von K. C. Moore mitgeteilten Laute einen Schluß zuläßt. Als Zeit-
punkt ist in beiden Fällen die 12. bis 14. Lebenswoche gewählt").
Deutsches Kind. Kind englischer Zunge,
am, ma, ör, rö, ar, ra, hu, ua, om, in, eng, gr-r-r-r, bo-wo, ang, diddle, ing,
ab, la, ho, mö, nä, na, an, mg, mb, bow-wow, th, udn, pop-pä-pä-bä, udu,
gr, ha, bu, me, nt. bob-bä, um-go, good, momä.
Nun mag man dem Spiele des Zufalls einen noch so großen
Einfluß einräumen und zugeben, daß große Verschiedenheiten in
ähnlichem Sinn auch bei Kindern gleicher Rasse nicht fehlen; den-
noch erscheint der Unterschied bedeutend genug und auch im all-
gemeinen dem Lautcharakter der beiden Sprachen angemessen^).
^) Ich habe aus der Tabelle von K. C. Moore die Schreilaute, sowie einige
Laute, die annähernde Wiederholungen der bereits notierten sind, aus der Aufzeich-
nung Preyers die reinen Vokallaute, weil für die Artikulation minder charakteristisch,
hinweggelassen. Vgl. die OriginaltabeUen bei Preyer a. a. O. S. 344, Moore S. 116.
2) Natürlich würde diese Frage erst durch die planmäßige Sammlung ähnlicher
Beobachtungen aus einer entsprechend frühen, der eigentlichen Sprachbildung vor-
ausgehenden Lebenszeit bei Kindern verschiedener Nationen zu entscheiden sein.
Eine Zusammenstellung von Wörtern der japanischen Kindersprache, ebenso einige
Angaben über onomatopoetische Verdoppelungslaute der chinesischen Kindersprache,
die mir zur Verfügung stehen, gehören einer späteren Zeit an. Wenn in diesen
Fällen die Laute den eigentümlichen Charakter des nationalen Idioms aufweisen, so
ist dies natürlich nicht beweisend, da sie bereits unter dem Einflüsse der Nach-
ahmuns stehen.
Psychophysische Bedingungen der individuellen Sprachentwicklung. 2Q5
Werden dergestalt wahrscheinlich selbst die Anlagen zu der beson-
deren Nuancierung der Lautbildungen, wie sie den verschiedenen
Sprachen eigentümlich sind, in gewissem Grade vererbt, so ist aber
um so mehr anzunehmen, daß jene Fülle artikulierter Gefühls-
äußerungen, der wir vom zweiten Lebensmonat an beim Kinde
begegnen, mit der allgemeinen Erwerbung der Sprache durch die
Gattung zusammenhängt. Da in den vorsprachlichen Artikulations-
lauten des Kindes neben den häufiger gebrauchten, den späteren
Sprachlauten einigermaßen ähnlichen immer gelegentlich auch
andere, ganz abweichende vorkommen, so liegt übrigens in dieser
großen Mannigfaltigkeit von Bildungen wohl zugleich die Erklärung
dafür, daß sich das Kind, sobald es in die Periode der eigentlichen
Sprache eingetreten ist, leicht ein völlig fremdes Lautsystem an-
eignen kann, dessen Bewältigung dem Erwachsenen weit schwerer
wird. Die kindlichen Sprachorgane können sich eben in dieser Zeit
noch, unbeschadet der etwa vorhandenen vererbten Anlage, jedem
möglichen Lautsystem, das ihnen durch die Umgebung dargeboten
wird, anpassen^).
Für die individuelle Sprachentwicklung ist es nun offenbar von
größter Bedeutung, daß die Reize, durch die jene vererbten An-
lagen zur Funktion erregt werden, selber nicht dem Vorgange der
Sprachbildung angehören. Nur hierdurch wird es möglich, daß die
Aneignung der Sprache in eine Periode des individuellen Lebens
fällt, in der die Fähigkeit zur spontanen Erzeugung derselben noch
lange nicht vorhanden sein würde. Denn diese Aneignung besteht
eben lediglich darin, daß das Kind die Laute, die es bis dahin als
bloße Gefühlsäußerungen hervorbrachte, unter dem Einflüsse des
erwachenden Nachahmungstriebes nach den von den Personen der
Umgebung vorgesprochenen Lauten umbildet. Auch die ersten
Lautnachahmungen geschehen daher in jener behaglichen Luststim-
mung, die das Kind überhaupt zur Lautbildung anregt, und sie
beruhen offenbar darauf, daß die Art der Gefühlsäußerung direkt
^) So hat man mehrfach beobachtet, daß Kinder europäischer Missionare Sprach-
laute, die ihren Eltern unüberwindliche Schwierigkeiten bereiteten, z. B. die Schnalz-
laute der Hottentotten, spielend erlernten. Auch solche Aneignungen fallen aber
schon in die spätere Zeit der Sprachbildung.
2q6 Die Sprachlaute.
durch den vorgesprochenen Laut bestimmt wird. So entsteht in
der Regel zuerst jene verständnislose »Echosprache«, die die eigent-
liche Sprache vorbereitet. In diesem Stadium wird demnach zu
dem gehörten Wort und der gesehenen Lautartikulation eines der
bereits eingeübten Lautgebilde, das einen ähnlichen Schalleindruck
hervorbringt, assoziiert. Dies ist eine Gleichheitsassoziation, die sich
im Gebiete des Gehörssinnes abspielt, aber teils durch die objektive
Komplikation mit dem Gesichtsbilde, teils durch die subjektive mit
den Bewegungsempfindungen des Sprachlautes vervollständigt wird.
Der Bildung dieser assoziativen Nachahmung liegt daher allerdings
bereits eine Funktion der Aufmerksamkeit zugrunde, in der sich
das erste Erwachen intellektueller Tätigkeit ankündigt. Aber diese
Funktion besteht doch nicht in der Nachahmung selbst, die sich
durch reine Assoziation vollzieht, sondern vielmehr in der erleich-
terten Apperzeption äußerer Reize, die sich in solcher Assoziation
verrät. Dem geht dann unter der Wirkung dieser zunehmenden
Aufmerksamkeit auf Sinnesreize eine zweite Assoziation zur Seite :
das ist die durch die Gebärden und Blicke der Personen der Um-
gebung vermittelte Assoziation bestimmter Worte mit den Gegen-
ständen. Erst wenn beide Assoziationen gebildet sind, ist der
weitere Schritt ihrer Verbindung möglich. Diese ist demnach eine
Verbindung zweiter Stufe. Als solche, nicht als direkte Beziehung
des selbsterzeugten Wortes auf das Objekt, charakterisiert sie sich
schon dadurch, daß jene beiden Assoziationen eine Zeitlang un-
abhängig nebeneinander bestehen, ehe sie sich zu dieser Resultante
vereinigen. Abgesehen von der stärkeren Spannung der Aufmerk-
samkeit, welche die Vereinigung der zwei unabhängig entstandenen
Assoziationen erfordert, erweist sich aber auch hier der Prozeß als
ein rein assoziativer. Als solcher läßt er sich seinen Hauptbestand-
teilen nach in die Gleichheitsassoziation des gehörten Wortes mit
dem selbsterzeugten Sprachlaut und in die Berührungsassoziation
mit der hinweisenden Gebärde und mit dem durch sie bezeichneten
Gegenstande zerlegen, wozu als komplikatives Mittelglied noch die
Empfindung der eigenen Artikulationsbewegungen hinzukommt.
Eine wichtige Rolle bei dieser Entwicklung spielt endlich die
Gebärde. Sie ist es, die am frühesten von dem Kinde »verstanden«,
das heißt als eine Andeutung davon aufgefaßt wird, daß mit dem
Psych ophysische Bedingungen der individuellen Sprachentwicklung. 207
Worte der gezeigte Gegenstand gemeint sei. Diese Auffassung ist
aber freilich ebenfalls nicht ohne weiteres vorhanden, sondern sie
entsteht bei den ersten Benennungen infolge wiederholter hin-
weisender Gebärden. Auch hier wird man daher annehmen dürfen,
daß zunächst die Wahrnehmung der Gebärde mit der des Gegen-
standes ein Ganzes bildet, das mit dem Wort assoziiert wird, worauf
dann erst die Gebärde durch ihre relativ gleichförmige Wiederholung
hinter dem gezeigten Objekt zurücktritt. Auf diese Weise ist es
gewissermaßen eine Verbindung von Gebärdensprache und Laut-
sprache, die' dem Kind allmählich die freie Verfügung über die
mitgeteilten Wörter verschafft, und die zugleich den Übergang von
den vorwiegend durch äußere Verbindungen der Eindrücke er-
weckten Assoziationen zu den apperzeptiven Verbindungen ver-
mittelt').
Die allmähliche Entwicklung der apperzeptiven Funktionen aus
den Assoziationen tritt in diesem Fall augenfällig darin zutage, daß
die nächste Verbindung, die wegen der elektiven Wirkung der
Aufmerksamkeit als eine apperzeptive betrachtet werden muß, zu-
gleich ein unmittelbares Ergebnis der vorausgehenden Assoziationen
ist. Aus der Assoziation zwischen Sprachlaut, Gebärde und Gegen-
stand sondern sich für die Apperzeption Sprachlaut und Gegenstand
als die beiden zusammengehörigen Bestandteile. Dies kann aber
nur geschehen, weil die das Mittelglied bildende Gebärde durch
die Bedingungen der Assoziation selbst schon zurückgedrängt wird.
Ist einmal erst irgendein Wort durch jene assoziative Auslese ohne
die Gebärde und ohne sonstige ursprünglich begleitende Neben-
vorstellungen als Zeichen eines bestimmten Gegenstandes apperzi-
piert worden, so bedarf es nun in künftigen Fällen jener assoziativen
Eliminationsprozesse nicht mehr, sondern bei jedem andern Gegen-
stande wird das gleichzeitig ausgesprochene Wort ohne weiteres als
das ihm zugehörige Zeichen aufgefaßt. Die zuerst nur durch den
^ Die große Bedeutung der Gebärde für die Sprachentwicklung des Kindes ist
sehr deutlich auch daran zu beobachten, daß das Kind selbst sehr häufig Gebärden
früher als Sprachlaute zur Bezeichnung von Gegenständen anwendet, wobei es diese
Gebärden nur mit beliebigen Gefühlslauten begleitet. Bei der Gebärde, namentlich
der hinweisenden, ist eben die Beziehung zu dem Gegenstand eine unmittelbare,
während sie bei dem Wort erst durch assoziative Einübung entstehen muß.
2g8 Die Sprachlaute.
Mechanismus der Assoziationen entstandene Auslese ist so zu einer
gewollten geworden. Bestand bei der ursprünglichen Nachahmung
der Sprachlaute der Willensvorgang nur in der Richtung der Auf-
merksamkeit auf den gehörten Laut und auf das durch die Gebärde
gezeigte Objekt, so betätigt er sich nun auch darin, daß er unter
allen den Eindrücken, die in einem Moment zusammentreffen, ge-
rade diese zwei, den Sprachlaut und den zu ihm gehörigen Gegen-
stand, als zusammengehörige herausgreift. Damit ist aber die Ap-
perzeption des einzelnen Eindrucks in eine apperzeptive Ver-
bindung übergegangen.
4. Psychologische Eigenschaften der kindlichen Sprache.
Wenn in solcher Weise im allgemeinen jedes Wort der kind-
lichen Sprache eine bloße Nachahmung eines vorgesprochenen
Wortes ist, wie erklären sich dann aber die Eigenschaften dieser
Sprache? Bekanntlich haben besonders die onomatopoetischen
Wörter derselben die Annahme veranlaßt, das Wort werde min-
destens in vielen Fällen von dem Kinde selbst »erfunden«. Denn
diese Lautnachahmungen erscheinen nicht bloß an sich als natür-
liche, der Auffassungsstufe des Kindes entsprechende Bildungen,
sondern sie sind auch in gewissem Grade, analog wie die Ge-
bärden, eine Art Universalsprache. Allerdings fehlt es in dieser
nicht an dialektischen Unterschieden, in denen sich die Spuren des
Einflusses der allgemeinen Sprache der Umgebung verraten : so
wenn das deutsche Kind den Hund ivmi-ivau^ das französische oua-
oua^ das niederländische luaf-waf, oder wenn das deutsche das Huhn
ghik-gluk oder tuk-tuk^ das französische kok-kok nennt u. dgl. Der
bemerkenswerteste Unterschied ist aber wohl der, daß die Neigung
zu onomatopoetischen Wortbildungen außerordentlich variiert. Wäh-
rend sie sich bei den europäischen Nationen im wesentlichen auf
einige Tiernamen und wenige Vorgänge des täglichen Lebens, wie
das Essen, das Klingeln der Hausglocke u. dgl., beschränkt, sind
z. B. die japanische und die chinesische Kindersprache überaus reich
an solchen Formen"). Viele dieser Formen sind in die tägliche
') Die folgende kleine Tabelle ist ein Auszug aus einer im ganzen 53 onomato-
Psychologische Eigenschaften der kindlichen Sprache. 2QQ
Umgangssprache übergegangen, wie sich denn namentlich das Japa-
nische, ähnlich den malaio - polynesischen Sprachen, durch den
reichen Gebrauch von Verdoppelungsformen auszeichnet, von denen
manche ursprünglich der Kindersprache entlehnt sein mögen. Ander-
seits ist es aber doch wahrscheinlich, daß die Motive, die allgemein
als psychologische Ursachen der Lautwiederholung vorkommen, in
jenen Sprachen überhaupt sehr viel wirksamer gewesen sind, so
daß nun diese Eigenschaft auch wieder die Kindersprache beein-
flußte ').
Demnach ist der internationale, hierin der Gebärdenmitteilung
verwandte Charakter der Kindersprache zwar ein Zeugnis für die
unmittelbare Verständlichkeit ihrer onomatopoetischen Lautbildungen,
ohne daß diese darum ein ursprüngliches Eigentum des Kindes
selbst zu sein brauchen. Wohl aber werden wir, gemäß der all-
gemeinen Entstehungsweise der kindlichen Wortbildungen, schließen
dürfen, daß es besondere, von denen der sonstigen Sprache im
allgemeinen abweichende Motive sind, welche die Personen der Um-
gebung im Verkehr mit dem Kinde zu jenen eigentümlichen Wort-
bildungen veranlassen — oder irgend einmal veranlaßt haben, denn
eine große Anzahl dieser Wörter ist ja ebenso ein überliefertes Gut
wie die sonstige Sprache. Doch in jedem Falle bleibt es die Eigen-
art solcher Lautbildungen, daß sie für diesen spezifischen Zweck
überliefert sind, und daß bei ihnen die Affinität zwischen Laut und
Bedeutung, wenn nicht dem Kinde, so mindestens dem Erwachsenen
gegenwärtig ist, daher er denn auch leicht den überkommenen
Wortschatz mit analogen, selbstgeschaffenen Bildungen vermehrt.
Eben deshalb werden wir aber annehmen dürfen, daß die nämlichen
poetische Wörter umfassenden Sammlung der japanischen Kindersprache , die ich
der Güte des Herrn J. Jrie in Sendai verdanke: dö-äö Pferd, mö-?nö Kuh, wan-wan
Hund, nya-nya Katze, ziu-ziu Maus, ka-ka Krähe, kokko Huhn, hokekio Nachtigall,
po-po Taube, zion-zion Sperling, gizzion Heimchen, biin-bun Biene, pi-pi Flöte,
sin-sian oder gon-gon große Glocke, zirin-zirin kleine Glocke, don-don Trommel,
gara-gara Wagen, goro-goro Donner, koji-kon Husten, mon-vion Buchstabe (Nach-
ahmung der Lippenbewegungen), fti-fti Feuer (von der Mundbewegung beim An-
blasen desselben), uma-uma Essen (Eßbewegungen), ita-ita schmerzhaft, auch Messer
'Ausruf bei der Schmerzempfindung), pappa Tabak (vom »paffen« des Rauchers).
^) Über die psychologischen Ursachen der Verdoppelungserscheinungen im all-
gemeinen vgl. unten Kap. V, Nr. V, 3.
7 0O Die Sprachlaute.
psychologischen Bedingungen, die uns bei diesen fortwährend neu
entstehenden Bestandteilen begegnen, bei der ursprünglichen Bildung
jeder Kindersprache wirksam waren. Solcher Motive gibt es im all-
gemeinen zwei. Das erste besteht in dem Bestreben, die eigene
Wortbildung dem leicht verfügbaren Lautvorrate des Kindes und den
in den vorsprachlichen artikulierten Lautbildungen am häufigsten
auftretenden Verbindungen anzupassen; das zweite in dem Triebe,
das Wort so zu bilden, daß es durch sich selbst verständlich werde.
Beide Motive entspringen wieder in keiner Weise aus irgendeiner
Reflexion über Mittel und Zweck, sondern sie bestehen in Trieben,
das heißt in einfachen, durch die unmittelbare Wahrnehmung und
die an sie gebundenen Gefühle veranlaß ten Willenserregungen und
Handlungen. Der erste dieser Triebe stimmt mit dem Nachahmungs-
trieb des Kindes, wie er sich in der Echosprache äußert, wesentlich
überein, und er wird selbst durch die Echosprache stark angeregt.
Kann man doch, wenn erst dieses Stadium eingetreten ist, nicht
selten beobachten, daß Mutter und Kind einander wiederholt irgend-
ein Wort zurufen, das im Grunde für beide Teile die Bedeutung
eines Echowortes hat, weil es bloß aus der Lust an der Wieder-
holung hervorgeht. Bei dem gewöhnlichen Vorsprechen kommt zu
dieser Äußerung des Nachahmungstriebes als zweites Motiv die
Absicht, einen bestimmten Gegenstand durch Laut wie Gebärde
dem Kinde kenntlich zu machen. Dies ist kein einfacher Gefühls-
impuls mehr, sondern meist schon ein komplizierter Willensvorgang.
Immerhin folgt auch er nicht selten triebartig den Motiven, die sich
aus der Situation ergeben. Demnach wird die Benennung von selbst
halb Nachahmung der kindlichen Lalllaute, halb Nachbildung irgend-
eines am Gegenstande wahrgenommenen Merkmals. Das Produkt
dieser Mischung der Motive ist notwendig irgendeine onomato-
poetische Wortbildung. Da das Kind gerade in der Periode, die
der eigentlichen Sprachbildung vorausgeht, ohnehin stark zu Laut-
wiederholungen neigt, an denen sich sein erwachendes rhythmisches
Gefühl erfreut, so erklärt es sich schon hieraus, daß sich diese
Neigung auch der Kindersprache mitteilt oder vielmehr instinktiv
von der Umgebung des Kindes ihr mitgeteilt wird, indem sich
dabei nur die mehrfache Wiederholung in der Regel auf die ein-
fache Verdoppelung einschränkt. In geringerem Grade wirken dann
Psychologische Eigenschaften der kindlichen Sprache. -joi
gelegentlich auch die von den Objekten selbst hervorgebrachten
Laute mit, wie bei 'wau-wau' für den Hund, ''hot-hot' für das
Pferd. Aber entscheidend ist dieses Motiv jedenfalls nicht, da es bei
andern Namen, wie z. B. bei 'Papa^ und 'Marna^ ganz hinwegfällt.
Nach allem dem ist die kindliche Sprache ein Erzeugnis der
Umgebung des Kindes, an dem das Kind selbst wesentlich nur
passiv mitwirkt. Diese Mitwirkung besteht hauptsächlich darin, daß
das Kind die Laute am leichtesten nachahmt, die am
deutlichsten von ihm gesehen werden, daher diese nun auch
für den Lautvorrat der Kindersprache bestimmend sind. Dazu
kommt dann, daß der Erwachsene, der mit dem Kinde verkehrt,
instinktiv seine Äußerungen dem wirklichen oder vermeintlichen
Anschauungskreise des Kindes anpaßt, indes die dem Kinde ver-
möge natürlicher Gefühlsmotive eigene Neigung zu Lautwieder-
holungen die onomatopoetische Gestaltung der Wörter beeinflußt.
Eine wesentliche Rolle bei der Mitteilung der Bedeutungen spielt
endlich die meist triebartig mit dem Worte verbundene Gebärde,
die durch ihre unmittelbare anschauliche Beziehung zu dem Gegen-
stand dem Kind am frühesten verständlich ist und am frühesten
und selbständigsten von ihm wiederholt wird. Für das Problem,
wie die Sprache ursprünglich entstanden ist, bietet somit die Analyse
der kindlichen Sprachentwicklung keine unmittelbar verwertbaren
Ergebnisse, immerhin aber einige indirekte Wegweiser in der bei
ihr so augenfällig hervortretenden instinktiven Anpassung des Reden-
den an Anschauungen und Gefühle des Angeredeten, sowie in
der Bedeutung der Gebärde für die erste Verständigung durch die
Lautsprache ^).
^) Mit dem Ergebnis, daß die kindliche Sprache nicht von dem Kind »erfunden«,
sondern ihm unter den oben erörterten Bedingungen des wechselseitigen Verkehrs
von der Umgebung mitgeteilt ist, erledigt sich von selbst die in verschiedenen
Schriften über die Sprache des Kindes wiederkehrende Behauptung, die Entwick-
lung der kindlichen Sprache sei >eine abgekürzte Wiederholung der Sprachentwick-
lung überhaupt«, — ein Satz, von dem man sogar behauptet hat, er sei ein »ebenso
sicher begründetes biogenetisches Grundgesetz der Sprache wie jenes der Embryo-
logie«. (Ament, Die Entwicklung von Sprechen und Denken, S. 42.) In Wahrheit
ist die Entwicklung der kindlichen Stimmlaute eine annähernde Wiederholung der
allgemeinen Entwicklung der Stimmlaute genau bis zu dem Zeitpunkt, wo die
Sprache anfängt, also im Stadium der unartikulierten Schreilaute und allenfalls
auch noch der unartikulierten sinnlosen Gefühlslaute; darüber hinaus ist sie es nicht
'02 Die Sprachlaute.
5. Lautvertauschungen und Lautverstümmelungen
in der Kindersprache.
Sind die bisher betrachteten Eigenschaften der Kindersprache
Wirkungen des Verkehrs mit der Umgebung, an denen diese im
allgemeinen mehr beteiligt ist als das Kind, so verhält sich dies
nun wesentlich anders bei einer letzten Reihe von Erscheinungen,
die so gut wie ausschließlich in dem sprechenden Kinde selbst
ihre Quelle haben: das sind die Lautvertauschungen und die so-
genannten »Lautverstümmelungen« der Kindersprache. Sie sind zu-
gleich diejenigen Erscheinungen, die am längsten andauern, so daß
ihre letzten Spuren in der Regel noch zu beobachten sind, wenn
im übrigen eine vollständige Aneignung der Sprache eingetreten ist.
Die herrschende Meinung geht dahin, alle diese Lautveränderun-
gen seien durch das Unvermögen des Kindes bestimmte Laute
hervorzubringen veranlaßt. Das Kind substituiere daher regelmäßig
dem schwierigeren Laut einen leichteren. Fritz Schultze suchte
das Prinzip dieser Substitution auf die Regel zurückzuführen, für den
unaussprechbaren Laut setze das Kind den ihm nächstverwandten,
mehr. Ähnlichkeiten mit den Lautsystemen der Naturvölker, speziell der Polynesier,
die H. Gutzmann (Zeitschrift für pädagogische Psychologie, I, 1899, S. 28 ff.) als
beweisend ansieht, sind dies um so weniger, als die Eigenschaften und die genea-
logischen Zusammenhänge der polynesischen Sprachen annehmen lassen, daß diese
dereinst ein reicheres Lautsystem besaßen, und daß sie überhaupt lautlich sehr
starke Veränderungen erfahren haben. (Fr. Müller, Expedition der Novara, Lingui-
stischer Teil, 1867, S. 290.) Auch stehen z. B. die melanesischen Sprachen jeden-
falls nicht höher in ihrer Entwicklung; gleichwohl sind sie verhältnismäßig reich
namentlich auch an konsonantischen Lauten. (Vgl. H. C. von der Gabelentz, Die
melanesischen Sprachen, I, S. 253, 266.) In dem lautgeschichtlich am zuverlässig-
sten durchforschten Gebiet aber, in dem der indogermanischen Sprachen, scheint
der Lautbestand der uns erreichbaren Urzeit nicht ärmer, sondern reicher zu sein
als der der meisten Sprachzweige, die aus der Ursprache hervorgegangen sind. Wir
werden in der Tat in Kap. IV sehen, daß es gewisse allgemeine psychophysische
Bedingungen gibt, die diese allmähliche Lautvereinfachung und -Verarmung der
Sprachen im Lauf ihrer fortschreitenden Entwicklung begreiflich machen. Wenn
gewisse Analogien der kindlichen Sprache mit der der Naturvölker trotzdem exi-
stieren, so liegen sie, wie sich später zeigen wird, auf einem ganz anderen Gebiet:
auf dem der Wort- und Satzfügung, und sie lassen sich nicht aus einem »biogene-
tischen Grundgesetz«, wohl aber aus den allgemeinen Eigenschaften eines unent-
wickelten Bewußtseins ableiten. (Vgl. Kap. VII.)
Lautvertauschimgen und Lautverstümmelungen in der Kindersprache. 30^
mit geringerer physiologischer Schwierigkeit sprechbaren ein, und
wenn es auch diesen nicht zu beherrschen vermöge, so lasse es den
Laut ganz weg^). Dieser Regel haben andere Beobachter teils zu-
gestimmt, teils widersprochen. Im ganzen ist aber dabei nicht das
Prinzip als solches, sondern nur die demselben beigegebene Regel,
die übrigens Schultze selbst nur als eine Anregung zu weiteren
Forschungen bezeichnete, beanstandet worden^). Ich bin im Gegen-
teil geneigt, dem von Schultze aufgestellten Satze, daß bei den
Lautumwandlungen des Kindes die Verschlußstelle von hinten nach
vorn verlegt wird, von den gutturalen und palatalen zu den
labialen und dentalen Artikulationen, eine gewisse Geltung ein-
zuräumen. Dagegen glaube ich, daß das ziemlich allgemein an-
genommene Prinzip, das Kind substituiere überall da andere Laute,
wo ihm die geforderten unmöglich oder schwierig sind, nicht auf-
rechterhalten werden kann. Diese Annahme wird, wie mir scheint,
einfach dadurch widerlegt, daß das Kind meistens schon in den
Anfängen seiner nachahmenden Sprachbewegungen im vollen Be-
sitz aller der Artikulationen ist, die zu den verschiedenen Laut-
bildungen erfordert werden, indem es dieselben fortwährend in den
der eigentlichen Sprache vorausgehenden Gefühlslauten verwendet.
Dazu kommt, daß die gleichen Laute in gewissen Wörtern vermieden
und gleichzeitig in andern gebraucht werden. Das nämliche Kind,
welches das Kind 'Tind' und die Pfeife Teipe' nennt, spricht etwa
das Wort Gasse ''Gack' und Vater 'Faata' aus. Nicht in dem Un-
vermögen, die Laute überhaupt hervorzubringen , sondern in andern
Bedingungen müssen also diese Umwandlungen ihren Grund haben.
In der Tat ergibt die Beobachtung des Kindes selbst und die
nähere Betrachtung der stattfindenden Lautumwandlungen zwei
Bedingungen, die es vollkommen begreiflich machen, daß trotz
der Fähigkeit, die geforderten Laute zu erzeugen, mehr oder minder
eingreifende Veränderungen beim Nachsprechen derselben entstehen
müssen. Die erste dieser Bedingungen besteht in der unvollkom-
menen akustischen wie optischen Apperzeption der Laute
^) Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes, 1880, S. 34 ff.
*) So besonders von Preyer, Seele des Kindes,^ S. 346, 434, sowie neuerlich
von W. Ament, Die Entwicklung von Sprechen und Denken usw., S. 65 ff.
304 I^i^ Sprachlaute.
und Lautbewegungen, die zweite in den innerhalb der zusammen-
hängenden Rede eintretenden, beim Kinde wesentlich gesteigerten
Kontaktwirkungen der Laute.
Zunächst wird die erste Entstehung nachahmender Artikulations-
bewegungen nicht bloß dadurch bestimmt, daß die Laute gehört,
sondern wesentlich auch dadurch, daß die Lautbewegungen ge-
sehen werden. Blindgeborene Kinder beginnen daher viel später
nachzusprechen als sehende, und in den meisten Fällen sogenann-
ter »Hörstummheit«, bei der die Entwicklung der Sprache trotz
vorhandener Hörfähigkeit und anscheinend zureichender Intelligenz
ausbleibt, erweisen sich Defekte des Sehens mindestens als mit-
beteiligt'). Solche Sehdefekte hemmen freilich noch aus einem
andern Grunde die Wortnachahmung: sie hindern die Assoziation
zwischen Wort, Gebärde und Gegenstand. Aber eine wesentliche
Seite dieses hemmenden Einflusses wird man immerhin auch darin
erblicken m.üssen, daß der von den gesehenen Artikulationsbewe-
gungen ausgehende Antrieb hinwegfällt. Beobachtet man doch
gerade in der ersten Zeit der Wortbildung, besonders auch bei der
sogenannten Echosprache, daß das Kind dem Sprechenden auf-
merksam das Wort vom Munde abliest, ehe es dasselbe wiederholt.
Es ahmt also gleichzeitig den akustischen und den optischen Ein-
druck des Wortes, und zunächst sogar vorzugsweise den letzteren
nach, da die gesehene Artikulationsbewegung einen weit stärkeren
Impuls zur Mitbewegung hervorbringt als der gehörte Laut. Hieraus
erklärt sich ohne weiteres das starke Übergewicht der labialen
und dentalen Laute in der Kindersprache: das Kind ahmt eben
vor allem diejenigen Komponenten der Lautbewegungen nach, die
es sieht. Erst in zweiter Linie steht die Ungenauigkeit der Gehörs-
wahrnehmung, die es dann freilich wesentlich mitbedingt, daß das
Kind so lange Zeit bei seinen falschen Artikulationen verharrt. In
dieser Beziehung zeigt sich aber beim Kinde nur in verstärktem
Maße, was wir fortwährend auch in der Rede des erwachsenen
Menschen beobachten können, wo dieser Laute nachbildet, die
') A. Liebmann , Vorlesungen über Sprachstörungen . Heft 3 : Hörstummheit,
1898, S. 16. Über kindliche Sprachstörungen und Sprachhemmungen überhaupt vgl.
H. Gutzmann, Des Kindes Sprache und Sprachfehler, 1894. Sprach entwicklung des
Kindes und ihre Hemmungen, 1902.
Lautvertauschungen und Lautverstümmelvingen In der Kindersprache. ■^05
seinem Sprachorgan ungewohnt sind. Unsere eingeübten Wort-
vorstellungen sind Komplikationen von Lautempfindungen und Arti-
kulationsempfindungen, und die VVorteindrücke werden erst von
dem Augenblick an verhältnismäßig treu apperzipiert , wo ihnen
die entsprechenden Lautempfindungen früherer gleicher Eindrücke
assimilierend entgegenkommen, und wo sie sich zugleich unmittelbar
mit den zu ihnen gehörigen Artikulationsempfindungen assoziieren.
Darum vermögen wir nur solche Sprachlaute vollkommen richtig
zu hören, die wir auch selbst richtig erzeugen können. Wer im
eigenen Sprechen das linguale mit dem gutturalen r oder die Tenuis
mit der Media verwechselt, dem entgehen die Unterschiede meist
auch beim Hören der Laute. Nicht anders verhält es sich bei der
Aneignung einer fi-emden Sprache, die darum in ihrem Laut-
charakter stets nach den geläufigen Lauten der eigenen umgemodelt
wird. Nun sind beim Kind alle diese Assoziationen von Laut-
und Artikulationsempfindungen noch unausgebildet, und ebenso
stehen ihm anfänglich assimilierende Wortgebilde noch nicht oder
nur in abgeänderter Beschaffenheit zu Gebote. Es ist daher selbst-
verständlich, daß sich die Sprachlaute, in denen es die unvollkom-
men gehörten und gesehenen Laute nachbildet, nur sehr allmählich
mit der Sprache seiner Umgebung in Einklang setzen können.
Zu diesen abändernden Einflüssen, denen der einzelne Laut als
solcher unterworfen ist, kommen aber als ein zweites die Lautform
wesentlich bestimmendes Moment die Kontaktwirkungen der
Laute, die durch ihre Verbindung zu zusammengesetzten Wort-
gebilden eintreten, und die wiederum nach denselben allgemein-
gültigen Gesetzen erfolgen, nach denen wir sie überall in der Sprache
wirksam finden, denen aber allerdings die kindliche Sprache nicht
nur in stärkerem Grade, sondern auch überwiegend in anderer Rich-
tung unterworfen ist, als die seiner Umgebung. Alle diese unter
den Bezeichnungen der »progressiven und regressiven Assimilatio-
nen und Dissimilationen« bekannten Wirkungen werden uns als
normale sprachliche Erscheinungen im folgenden Kapitel näher be-
schäftigen. Hier sei nur so viel bemerkt, daß sie als psychophy-
sische, gleichzeitig auf Assoziationen der Lautvorstellungen und
auf mechanischen Bedingungen der Artikulationsbewegungen be-
ruhende Vorgänge zu deuten sind, die sich mit der Geschwindig-
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. 20
2o6 Die Sprachlaute.
keit des Redeflusses steigern, mit der wachsenden Übung der
Artikulations- und der ihnen parallel gehenden Vorstellungsbewegun-
gen aber abnehmen. Nun besitzt natürlich das Kind zunächst
diese Übung in sehr geringem Maße, und auch die Vorstellungs-
bewegung ist bei ihm eine sehr verlangsamte gegenüber dem
normalen Bewußtsein. Daraus erklärt sich zunächst, daß die
Sprache des Kindes geradezu überfüllt ist mit diesen Kontakt-
wirkungen, durch welche die Laute einander angeglichen oder durch
Dissimilation gesondert oder ganz unterdrückt werden. Es erklärt
sich aber aus der langsameren Vorstellungsbewegung des Kindes
insbesondere auch noch die andere Tatsache, daß bei ihm die
progressiven Assimilationen weitaus überwiegen. Aus einer
großen Zahl solcher Kontakterscheinungen vermag ich nur sehr
wenige regressive Assimilationen anzuführen; sie sind durchweg
zugleich solche, bei denen ohnehin die Richtung der selbständigen
Lautvertauschung dieser Veränderung begünstigend entgegenkommt.
So wott für fort, DiitJie für Käthe, Nanone für Kanone. Diesen
Beispielen steht eine große Menge progressiver Assimilationen teils
für sich teils mit Lautvertauschungen und Dissimilationen vermischt
gegenüber, z. B. Nana für Nase, Tata für Tante, Munn für Mund,
Nann für Nacht, Gag für Kleid, Giiga für Kuchen, Dcdde für Decke,
Bebe für Besen, Bübü für Bücher, Bibbe für Bitte, Joj iviX Schoß,
Äuau für Auge, Mormor für Morgen, Dodonana für Promenade usw.
Die Assimilationen sind, wie man sieht, bald konsonantische, bald
vokalische, am häufigsten aber beides zugleich, während nicht selten
außerdem Dissimilationen mitspielen. Letztere kommen übrigens
auch gelegentlich, namentlich bei dem Zusammentreffen von Kon-
sonanten, für sich allein vor: so in Faata für Vater, Aam für Arm,
Baat für Bart. Jenes Überwiegen der progressiven Assimilation
ist besonders deshalb bemerkenswert, weil in allen Kultursprachen
indogermanischer und semitischer Herkunft überwiegend die um-
gekehrte, regressive Form der Assimilation vorkommt, während in
andern Sprachen, z. B. in den ural-altaischen, ähnlich wie beim Kinde,
die progressive, und zwar vorzugsweise die vokalische Assimilation
vorherrscht. Die Erklärung dieser Erscheinungen wird uns später
beschäftigen. Hier mußten sie nur als diejenigen Momente hervor-
gehoben werden, die vor allem andern die Lautabweichungen der
Primäre und sekundäre Interjektionen. j07
Kindersprache bedingen. Zugleich sieht man unmittelbar an den
obigen Beispielen, wie sehr diese Erscheinungen die der Kinder-
sprache eigenen Lautwiederholungen begünstigen. Indem die voran-
gehende Silbe auf die nachfolgende assimilierend einwirkt, bringt sie
eben ohne weiteres eine Lautwiederholung hervor.
III. Naturlaute der Sprache und ihre Umbildungen.
I. Primäre und sekundäre Interjektionen.
»Naturlaute« nennen wir, wenn der Begriff im Zusammenhange
mit dem des Sprachlautes und zugleich im Gegensatze zu diesem
gebraucht wird, alle Stimmlaute der Tiere und des Menschen, die
der Wortsprache vorausgehen oder als Überlebnisse eines vor-
sprachlichen Zustandes in sie hineinreichen. In diesem Sinne sind
die sämtlichen natürlichen Stimmlaute der Tiere und die Laut-
äußerungen des Kindes, bevor es zu sprechen anfängt, Naturlaute.
Diese bilden aber nicht bloß bei jedem einzelnen Menschen und
darum, wie wir vermuten können, auch bei den hypothetischen
Urmenschen eine Vorstufe der Sprache, sondern sie reichen in die
Sprache selber hinein. Das Kind, nachdem es sprechen gelernt
hat, fährt fort , seine lebhafteren Gefühle in Naturlauten zu äußern.
Beim entwickelten Menschen treten diese zurück: sie werden mehr
und mehr von der Sprache verdrängt, indem auch die lebhafteren
Gefühle allmählich in sprachliche Formen eingekleidet werden.
Aber ganz verschwinden sie niemals. Vielmehr dauern sie in den
beiden Gattungen fort, in die sie sich schon bei manchen Tieren
und beim Kind in den ersten Lebenswochen geschieden haben:
als unartikulierte Schreilaute, die sich allerdings beim erwachse-
nen Menschen durchgehends auf die äußersten Grade des Schmerzes
oder allenfalls noch der Wut oder des Jubels einschränken, und
als artikulierte Gefühlslaute, die im ganzen mäßigere Gefühle
ausdrücken, infolge der fortschreitenden Ablösung durch die Sprache
aber ebenfalls seltener und auf intensivere Gefühle zurückgedrängt
werden.
Die in der Sprache stehen gebliebenen Reste dieser reinen
Naturlaute sind die primären Interjektionen. »Primär« wollen
io8 Die Sprachlaute.
wir sie nennen, weil sie die ursprünglichsten sind, und weil sie den
Charakter von Naturlauten vollständig bewahrt haben. Mit der
eigentlichen Sprache in gar keiner inneren Verbindung stehend,
bilden sie gleichsam vereinzelte Trümmer einer vorsprachlichen Stufe,
die den Zusammenhang der Rede unterbrechen. Dahin gehören
Laute wie im Deutschen oh^ acJi^ ak, au^ weJi^ lia^ Jie^ ei^ j^i-ii-^i Rufe,
die in den Sprachen der modernen Kulturvölker nur gering an Zahl
sind, im Griechischen und Lateinischen aber in mannigfaltigeren
Abstufungen vorkommen und, wie es scheint, häufiger gebraucht
wurden. So hat das Lateinische als Rufe der Freude io^ iii^ ha^
euoe^ des Schmerzes vae ^ Jieu^ eJieu^ ohe^ au^ der Verwunderung o^
en, ecce^ hiii^ hem^ vah, des Zurufs hetis^ ö, eho^ proh, die sämtlich
in die Literatursprache, namentlich der Komödiendichter, über-
gegangen sind, und wozu gelegentlich auch noch andere, mehr zu-
fällige Gefühlslaute kommen, die kein festes Bürgerrecht in der
Sprache erworben haben. Denn gerade dieses Gebiet ist momenta-
nen Neubildungen besonders leicht zugänglich. Auch die Sprachen
primitiver Kulturvölker sind reich an primären Interjektionen^). Da-
bei tragen alle diese Gefühlslaute in den verschiedensten Sprachen
namentlich insofern einen verwandten Lautcharakter, als die Natur-
laute für heftige erregende Affekte die hohen, solche für deprimie-
rende Gefühle die tieferen Vokalklänge enthalten. Doch ist es
sichtlich nicht sowohl die Kultur an sich, die diese Zahl allmählich
beschränkt, als vielmehr die von der Sitte gebotene Mäßigung der
Affektäußerungen. Der antike Mensch gibt seine Freude v/ie
seinen Schmerz ungehemmter in Gebärden wie Lauten kund. So
werden bekanntlich die Helden Homers gelegentlich schreiend und
laut jammernd geschildert, wobei es freilich der epische Dichter
meist dem Hörer überläßt, sich die Laute hinzuzudenken. Auf der
i) In W. von Humboldts Werk über die Kawi-Sprache (ergänzt von Buschniann
in, S. 982) sind aus dem Tongischen 10, aus dem Tahitischen 8 primäre Inter-
jektionen aufgeführt. Ungefähr die gleiche Zahl erreicht Riggs in der Dakota-
Sprache (Contributions to the North American Ethnol. Vol. IX, 1893, p. 54), wobei
es freilich im letzteren Falle zweifelhaft ist, ob nicht einige von sekundärer Natur
darunter sind. Vgl. auch Steinthals Verzeichnis der Interjektionen in den Mande-
Negersprachen, S. 132, 184. Leider sind in den meisten neueren Wörterverzeich-
nissen und Grammatiken von Sprachen der Naturvölker die Interjektionen wenig
oder gar nicht berücksichtigt.
Primäre und sekundäre Interjektionen. ^OQ
Bühne, wo die Handlung nicht bloß erzählt, sondern unmittelbar
vorgeführt wird, äußern die tragischen Helden ihren Schmerz in
Lauten, die zu einem großen Teil dem Gebiete beliebig wechselnder
primärer Interjektionen angehören, wie: anaital^ TtartarcTcaTcaima-
TtaTircaTtaital, iiii, axTaxal usw. (Sophokles, Philoktet, 742 — 800).
Der heutige Übersetzer ist nicht mehr imstande, diese Schmerzens-
laute treu wiederzugeben; er sieht sich genötigt, sie teilv/eise in
Sätze zu übertragen, wie: 'o weh mir Armen', *^o Schmerz' u. dgl.
Hierin spiegelt sich aber ein Vorgang, der wahrscheinlich, solange
die Sprache besteht, wirksam gewesen ist: der allmähliche Ersatz
der primären durch sekundäre Interjektionen, wobei wir mit
dem letzteren Namen diejenigen reinen Gefühlsäußerungen bezeichnen
wollen, die in andere sprachliche Formen eingekleidet werden. Dahin
gehören also Rufe wie: ""Ztt/', 'me hercle', ""apage', ""mein Gott', ""mein
Himmel', ""Jesus Maria', 'Donnerwetter', ""Blitz usw., sowie die aus
solchen Wörtern und aus primären Interjektionen zusammengesetz-
ten Gebilde wie: ""o Himmel', ""potztausend', ""ach Gott'. Wenn
wir die Sprache der griechischen und römischen mit der unserer
heutigen Dramatiker, selbst solcher vergleichen, die beflissen sind,
die Redeweise des gewöhnlichen Lebens so naturgetreu wie mög-
lich abzuschildern, so gewinnt man den Eindruck, daß sich bei
dem modernen Menschen der Naturlaut des Gefühls durch zu-
nehmende assoziative Übertragung mehr und mehr in Worte um-
gesetzt habe. So erklärt es sich, daß in den modernen Sprachen
die Zahl der primären Interjektionen eine außerordentlich spärliche
geworden, daß aber die der sekundären um so mehr gewachsen ist.
Dieser Prozeß ist vermutlich noch nicht abgeschlossen. Denn
sollten auch die primären Interjektionen etwa schon auf dem für
sie erreichbaren Minimalstand angelangt sein, so werden doch
sekundäre immer wieder neu geschaffen, und jedes Zeitalter gibt
ihnen sein eigenes Gepräge. Das Altertum ruft die Götter an, das
Mittelalter setzt die Personen der heiligen Familie und der Heiligen
an deren Stelle. In beiden Fällen sind es offenbare Gebetsformeln,
die zuerst zu Flüchen und dann zu unbestimmteren Interjektionen
geworden sind. Bei dem modernen Menschen endlich sind es
Wettererscheinungen und Zahlen — die letzteren natürlich von
Geldwerten herstammend — die für sich allein oder mit Fragmen-
5 I o Die SprachlavTte.
ten der früheren Formeln gemischt die Stelle der Götter und
Heiligen einnehmen. So in Ausdrücken wie: 'Donnerwetter^ "^alle
Hager, 'potztausend', 'Kreuzdonnerwetter' und ähnlichen.
2. Wortformen mit Affektbetonung: Vokativ und Imperativ.
An die sekundäre Interjektion schließt sich unmittelbar, gewisser-
maßen als eine auf eine bestimmte Vorstellung bezogene Unterform
derselben, der sprachliche Ausdruck des Vokativs an. Mit Recht
haben schon die alten Grammatiker ihn für keinen echten Kasus
gehalten. Er ist im Grunde nichts anderes als der interjektional
verwendete, entweder mit einem interjektionalen Zeichen allge-
meinerer Art versehene oder auch nur von der entsprechenden Be-
tonung begleitete Nominalstamm. Wenn ich 'Karl' rufe, um ent-
weder einer Person mit Namen Karl meine Verwunderung oder
meine Mißbilligung oder meinen Wunsch, daß sie stillstehe, aus-
zudrücken, so ist die Bedeutung des Wortes keine andere als die
der Interjektionen oh oder eh oder he^ mit dem einen Unterschiede,
daß dort die Interjektion gleichzeitig eindeutiger und vieldeutiger
geworden ist: eindeutiger hinsichtlich der Person, auf die sie sich
bezieht, vieldeutiger hinsichtlich der Gefühle, die sie ausdrückt. So-
lange wir uns der allgemeinen Interjektionen bedienen, wenden wir
für Freude, Verwunderung, Schmerz usw. verschiedene Laute an.
Hier dagegen drückt das eine Wort 'Karl' alle diese Gefühle zu-
gleich aus. Freilich mindert sich auch dieser Unterschied dadurch,
daß die Tonmodulation, in der das Wort gesprochen wird, jene An-
lässe ziemlich treu widerspiegelt. Wie ein Eigenname, so können
dann aber natürlich auch andere Wörter, die irgendeine das Gefühl
erregende Vorstellung bezeichnen, die Stelle einer Interjektion ein-
nehmen. So wenn im Kriege der Ruf 'der Feind' den plötzlich
wahrgenommenen Anmarsch feindlicher Truppen ankündigt, oder
wenn jemand bei den entsprechenden Anlässen 'Feuer', 'Diebe',
'Mörder ruft. Alle solche Ausrufe haben den Charakter sekundärer
Interjektionen, mit der besonderen, durch die Verhältnisse, unter
denen sie entstehen, nahegelegten Bedingung, daß der Name des
den Affekt erregenden Gegenstandes der Interjektion eine spezielle
sprachliche Einkleidung gibt. So trägt denn auch der Vokativ
Wortformen mit Affektbetonung: Vokativ und Imperativ. jji
Überall da, wo er in der Sprache einen besonderen Ausdruck ge-
funden hat, diesen Charakter einer an eine konkrete Vorstellung ge-
bundenen Interjektion an sich. In den indogermanischen Sprachen
geschieht dies häufig durch das Vorrücken des Akzents auf die An-
fangssilbe. So wird TtuTiqQ zu Ttäreq^ altind. Diyäiis {Zevg) zu Di-
yäus, usw. Umgekehrt kann aber auch die interjektionale Betonung
dadurch bewirkt werden, daß die letzte Silbe verlängert wird oder
der Akzent auf sie rückt, oder auch indem besondere interjektionale
Elemente dem Wort angehängt oder vorangestellt werden'). Manche
Sprachen, wie z. B. das Litauische, besitzen diese letztere, übrigens
auch anderwärts der Volkserzählung zukommende Eigenschaft in hohem
Maße. Dabei wird dann stets die Interjektion mit einem irgend-
einen Vorgang schildernden Verbum, als eine Gefühlsverstärkung
desselben, verbunden^). Wenn in andern Fällen solche spezifische
Rufformen keinen besonderen grammatischen Ausdruck gefunden
haben, so ist das wahrscheinlich nur ein scheinbarer Mangel, da
unwillkürlich bald die Anfangs-, bald die Endsilbe oder auch, bei
einsilbigen Wörtern, das ganze Wort stärker betont und nicht selten
zugleich verlängert wird. Wir rufen Finer^ Diebe, Otto oder Otto,
Marie oder Marie usw.
Man hat solche Rufformen auch als abgekürzte Sätze betrachtet,
bei denen das gerufene Wort Subjekt, das Prädikat aber aus der
gesamten Situation zu ergänzen sei. Der Ruf 'Karf oder 'Feuer^
bedeute etwa *^Karl komm hierher' oder 'es ist Feuer ausgebrochen'
usw. ^). Nun mag es sein, daß jemand mit einem solchen Ruf wirk-
i) So wurden nach den Angaben der indischen Grammatiker die Endungen -ä,
-äi, -all im Vokativ auf drei Moren gedehnt. (Die Pluti der Inder, Jak. Wacker-
nagel, Altindische Grammatik, I, 1896. S. 297 ff.) Auch die besonders in Personen-
namen häufig vorkommende Gemination eines Konsonanten inmitten des Wortes
ist nach Brugmanns Vermutung aus einer ursprünglich nur im Vokativ vorhandenen
Lautverstärkung zu erklären, die dann auf die übrigen Kasus übergegangen ist, wie
in griech. (Z'tA/itof, lat. Gracchus, Varro, Mummius, ahd. Aggo, Itta.
2) Leskien, Indogermanische Forschungen herausg. von Brugmann und Streit-
berg, Bd. 13, S. 165 ff. In gewissem Grad ist diese Unterbrechung durch Inter-
jektionen eine allgemein verbreitete, den Ausdruck belebende Erscheinung, beson-
ders innerhalb der Volkserzählung, z. B. 'bums, da lag er', — 'patsch, da war er
gefangen u. dgl. Auch darin bewährt sich hierbei die Interjektion als ein Ausdruck
des Affekts, daß sie verschwindet, sobald die Erzählung einen ruhigen, epischen Stil
annimmt.
3) Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte,^ S. 116.
212 Die Sprachlaute.
lieh den Wunsch verbindet, Karl solle herkommen, oder andere
möchten auf das ausgebrochene Feuer, auf die entsprungenen Diebe
aufmerksam werden, so daß die diese Rufe begleitenden Bewußt-
seinszustände durch die Sätze 'Karl komm hierher^ *^seht das Feuer^,
"^haltet die Diebe' logisch interpretiert werden können. Doch selbst
in diesen Fällen oder in den noch eindeutigeren, in denen etwa
ein Verkäufer ausruft *^Äpfel, Äpfel', in denen ein Gast dem Kellner
zuruft *^ein Glas Bier' u. dgl. , dürfen wir doch nicht übersehen,
daß die Übertragung in einen Satz immer eine logische Interpreta-
tion bleibt, die den psychologischen Zustand des Bewußtseins des-
halb nicht getreu wiedergibt, weil auch dann, wenn die Interpretation
richtig ist, der Satz nicht im ent\vickelten, sondern im unentwickel-
ten Zustand im Bewußtsein steht, als eine Gesamtvorstellung, die sich
nur in bezug auf die im Ruf ausgedrückten Bestandteile gegliedert
hat^). Der Ausdruck dieser Bestandteile ist aber durch den hinzu-
tretenden Affekt bestimmt, der den Ruf zugleich zu einer besonders
gearteten Interjektion macht. Als solche zeichnet ihn nur der
außerdem vorhandene Vorstellungsinhalt aus, durch den er even-
tuell in einen Satz übergehen kann, ohne darum doch selber ein
Satz zu sein.
Eine Strecke näher auf dem Wege vom Naturlaut zum Satze
stehen dem letzteren die eigentlichen Imperative, zu denen unter
den obenerwähnten Wortverbindungen schon diejenigen gezählt wer-
den können, die irgendeiner bestimmt gerichteten Aufforderung
dienen. Umgestaltungen der Lautform von interjektionalem Cha-
rakter zeigt allerdings der Imperativ im ganzen seltener als der
Vokativ. Bald kommen bei ihm Lautverkürzungen, bald inter-
jektionale Präfixe oder Suffixe vor'']. Gleichwohl nimmt er unter
den Verbalformen eine durchaus analoge Stellung wie der Vokativ
unter den Nominalbildungen ein. Auch er ist der Ausdruck einer
interjektional betonten konkreten Vorstellung. Doch bringt der
1) Vgl. Kap. Vn, Nr. I, 5.
2) So noch im Deutschen, z. B. bliiiwa Jierre bim ('schlag zu, o Herr, schlag
zu'), wo bliuwä eine Erweiterung der 2. Pers. Sing, durch die Interjektion ä ist.
(Weinhold, Mittelhochdeutsche Grammatik,^ 1883, S. 345.) In den Sprachen der
Naturvölker finden sich vielfach analoge Erscheinungen. (Vgl. z. B. Humboldt, Kawi-
Sprache, III, S. 872 f.)
Wortformen mit Affektbetonung: Vokativ und Imperativ. -31?
Charakter der Verbalbegriffe einen gewissen Unterschied mit sich.
Eine gegenständliche Vorstellung kann im allgemeinen in den wech-
selndsten Gedankenverbindungen vorkommen. Jene nachträgliche
grammatische Interpretation, die zu einem interjektional gebrauchten
Gegenstandsbegriff einen Satz ergänzt, ist daher vieldeutig, und dem
entspricht in den meisten Fällen die Bewußtseinslage dessen, der
die nominal geformte Interjektion gebraucht. Anders bei dem Ver-
balbegriff. Die Handlung, die er ausdrückt, ist in dem Augenblick
der Anwendung des Wortes in der Regel eindeutiger Art; und wo
die Verbalvorstellung ohne alle Zeitbeziehung, aber versehen mit
dem interjektionalen Akzent auftritt, da ist darum auch der mit ihr
im Bewußtsein des Redenden verbundene weitere Vorstellungsinhalt
in diesem weit unmittelbarer gegenwärtig und von dem Hörenden
unzweideutiger zu ergänzen als im vorigen Falle. Zurufe wie *^gib\
''komm'', ""geh', "^bring', "^hilf usw. pflegen uns daher schon voll-
ständig als Äquivalente von Sätzen zu gelten. Sie sind das freilich
genau genommen auch nicht. Doch in dem allmählichen Übergange
von der reinen Interjektion zum ausgebildeten Satze bezeichnen sie
immerhin wegen der prädizierenden Funktion, die dem Verbum an-
haftet, eine letzte Stufe. Den verbalen Imperativen stehen dann
aber gewisse befehlend gebrauchte Adverbien oder adverbiale No-
minalverbindungen gleich, denen nach ihrer eigenen Natur oder
vermöge der Situation, in der sie vorkommen, der ergänzende Ver-
balbegriff eindeutig zugeordnet ist, wie *^zu Hilfe', 'herbei^*, 'fort',
*^hinweg' u. a. Ihrer ursprünglichen Bedeutung nach sind alle diese
Redeformen sekundäre Interjektionen. Als solche sind sie Glieder
einer Entwicklung, die in dem Moment beginnt, wo der in der
Interjektion ursprünglich ausgedrückte Naturlaut mit der Sprache in
Wechselwirkung tritt, indem er Wörter der Sprache in Interjektionen
umwandelt und diese dann wiederum allmählich in Sätze einfügt.
Der Endpunkt dieser Entwicklung ist naturgemäß da gegeben, wo
die Interjektion auch im sprachlichen Ausdruck zu einem vollstän-
digen Satze geworden ist.
"ijA Die Sprachlaute.
3. Naturlaute als Grundbestandteile von Wortbildungen.
Neben dem Übergange der Interjektion aus ihrer primären in
diese sekundären Formen gibt es nun noch einen zweiten Weg,
auf dem der Naturlaut Eingang in die Sprache finden kann. Er
besteht darin, daß ein solcher unmittelbar von der Sprache aufge-
nommen und in sprachliche Formen gekleidet wird, so daß er wie
eine Wurzel erscheint, die einer Wortbildung oder einer Reihe von
Wortbildungen zugrunde liegt. Die primäre Interjektion ist dem-
nach Ausgangspunkt zweier divergierender Entwicklungen: auf der
einen Seite assimiliert der natürliche Gefühlslaut vorhandene Wörter
der Sprache, mit denen er sich zuerst verbindet, um dann ganz in
ihnen unterzugehen; auf der andern Seite geht er selbst in die
Sprache über und wird Anlaß zu Wortbildungen, die in ihrer Be-
deutung den an die Gefühlslaute gebundenen Vorstellungen ent-
sprechen. Im ersten Falle wird der Naturlaut durch das Wort
verdrängt, das psychologisch ihm äquivalent geworden ist; im
zweiten dringt er umgekehrt in das Wort ein und verliert dadurch
allmählich seinen ursprünglichen Gefühlswert, um, gleich andern
Wortbildungen, eine objektive, begriffliche Bedeutung anzunehmen.
Die Zahl der so an der Wortbildung teilnehmenden Naturlaute scheint
in den einzelnen Sprachen eine sehr verschiedene zu sein. Am
allgemeinsten ist dieser Übergang bei denjenigen Interjektionen, die
lediglich Ausdruckslaute von Gemütserregungen sind, wie im griech.
ololvZto (heule), cdatw, ay^o^iai (ächze), aXci)ML,(.o (schreie, hauptsäch-
lich vom Kampfgeschrei gebraucht), oder im lat. jilidare (heulen),
jubüare (jubeln), ejidare (jammern) ; ebenso im Deutschen die Verba
heulen^ ächzen^ das Substantivum WeJi mit seinen Ableitungen (weh-
klagen, Wehgeschrei u. a). Manche dieser Ableitungen sind alt, wie
das deutsche heulen (ahd. hiinvübn^ eigtl. 'jubeln'), und es kann
dann natürlich die Entstehung aus einer Interjektion einigermaßen
fraglich sein; in andern Fällen, wie bei ächzen und Weh^ handelt
es sich um neue Wortbildungen, denen die entsprechenden Ge-
fühlslaute jedenfalls lange vorausgegangen sind. In noch andern
kann sich die Interjektion auf einen objektiven Vorgang beziehen
und mit einem entsprechenden onomatopoetischen Verbum in Zu-
Natnrlaute als Grundbestandteile von Wortbildungen. ^ I 5
sammenhang stehen, wie paff mit paffen^ phimps mit phnnpsen u. ä.
Auch hier ist, da es sich meist um neue Wortbildungen handelt,
wohl in der Regel die Interjektion früher als das Verbum, wenn
auch zuweilen schon die erstere an bereits vorhandene, sinnver-
wandte Wörter sich anlehnen kann^).
Abgesehen von der immerhin im allgemeinen beschränkten An-
zahl von W^örtern, die mit primären Interjektionen zusammenhängen,
kann nun aber die Frage entstehen, ob nicht auch solche Gefühls-
aute, die, ohne der Klasse der allgemein verbreiteten Interjek-
tionen anzugehören, unter besonderen Bedingungen, wie z. B. unter
den künstlichen Ausdrucklauten, als Gefühlsäußerungen vorkommen,
auf gewisse Wortbildungen eingewirkt haben. In der Tat gibt es
ein Wortpaar, für das ein solcher Ursprung mit großer Wahrschein-
lichkeit angenommen werden kann: das ist die Benennung von
Vater und Mutter. Hier hat schon im i8. Jahrhundert de la
Condamine^) auf die weite Verbreitung von Namen, die unsern
Kinderlauten Papa und Mama ähnlich sind, hingewiesen. Eine um-
fassende Zusammenstellung solcher Namen hat dann Buschmann in
seiner Schrift »Über den Naturlaut« ^] gegeben. Sie erstreckt sich
über eine große Zahl der verschiedensten Sprachen von Natur- wie
Kulturvölkern"*]. Buschmann unterscheidet für die Benennung des
i; Einen Beleg für diese in der Regel anzunehmende Priorität der Interjektion
bildet wohl auch die Tatsache, daß z. B. das Litauische, das, wie oben (S. 311)
bemerkt, in der Erzählung die interjektionalen Zwischenrufe oft im Übermaß zeigt,
besonders reich an entsprechenden onomatopoetischen Verben ist. Vgl. das Ver-
zeichnis bei Leskien, a. a. O. S. 183 ff. Ein Beispiel aus einem weit entfernten
Sprachgebiet ist femer das Runa simi oder Keshua (Peru^ , das eine Fülle von pri-
mären Interjektionen besitzt, aus deren jeder mit Hilfe des Verbums iiiy 'sagen' ein
zusammengesetztes Verbum gebildet werden kann, das 'jammern'', 'überrascht sein' usw.
ausdrückt (Middendorf, Das Runa simi oder die Keshua-Sprache, 1890, S. 125 f.)
eine Erscheinung, in der sich offenbar eine analoge Verbindung, wie wir sie in
unserm Verbum 'wehklagen' besitzen, in weiterer Ausdehnung wiederholt.
2) Voyage dans l'Interieur de TAmerique meridionale, 1745.
3) Über den Naturlaut. Berlin 1853. Über die Namen für Vater und Mutter
in den indogermanischen Sprachen handelt außerdem Delbrück, Abh. der sächs.
Ges. d. Wiss. Phil.-hist. Kl. Bd. 11, S. 381 ff. Eine vergleichende Zusammenstellung
aus verschiedenen Sprachgebieten folgt unten (4 a'.
4 Eine nach Koelles Polyglotta Africana und andern Quellen verfaßte Tabelle
teilt John Lubbock mit (Die Entstehung der Zivilisation, deutsche Ausg. 1875.
Die Sprachlaute.
Vaters die vier typischen Laute: pa, ap, ta^ at^ für die der Mutter:
ina^ ain^ na^ an — Laute, die sich in den Einzelsprachen in
verschiedenen Modifikationen finden, wie z. B. pa in den Formen
ba^ bo^ fa^ bi^ bau usw. Außerdem können sie entweder in dem
Zustande des unveränderten Naturlautes vorkommen, wie in dem
Papa und Mama unserer Kindersprache, oder sie können von der
Sprache assimiliert sein, wie in Vater und Mutter. Sicherlich würde
sich das von Buschmann mitgeteilte, mehr als zweihundert Einzel-
sprachen umfassende Verzeichnis heute bedeutend vervollständigen
und teilweise berichtigen lassen; das allgemeine Ergebnis würde
dadurch keine nennenswerte Veränderung erfahren. Daß man in
einem solchen Zusammentreffen ein Werk des Zufalls vor sich habe,
ist aber ausgeschlossen. Die auf Grund der Theorie der Ableitung
aller Wörter aus Begriffswurzeln versuchte Zurückführung unseres
Vater- und Mutternamens auf gewisse allgemeinere Begriffe, wie
die des 'Beschützens' und des 'Ernährens', müßte daher, auch wenn
sie im übrigen psychologisch haltbar wäre, gegenüber diesem offen-
kundigen Zusammenhang mit bestimmten Naturlauten zurücktreten^)
Die Naturlaute, um die es sich hier handelt, unterscheiden sich
aber von den oben betrachteten primären Interjektionen wesentlich
dadurch, daß sie im Vergleich mit diesen in ihrem Gefühlscharakter
indifferent sind. Als Interjektionen kommen Laute wie pa^ ta^ ma
usw. wohl nur ausnahmsweise vor. Dagegen gehören sie zu den
frühesten Lalllauten des Kindes in dem die eigentliche Sprachbil-
dung vorbereitenden Stadium und dabei zugleich zu denjenigen
Lauten, die das Kind aus den oben (S. 303 f.) angeführten Gründen
bei der Nachahmung von Lautartikulationen am frühesten verwendet.
Demnach dürfen wir schließen, daß, wie überall, so auch hier diesen
Lauten nicht von dem Kinde selbst, sondern von seiner Um-
gebung ihre Bedeutung angewiesen wurde. Wie die ersten Sprach-
laute des Kindes überhaupt früher auf Personen, wegen der größeren
Aufmerksamkeit, die diese erregen, als auf Gegenstände bezogen
S. 354 ff.). Sie ist nicht ganz so umfangreich wie die Buschmanns und bezieht sich
zum Teil auf andere Einzelsprachen, in dem Hauptergebnis stimmt sie aber mit jener
überein.
^) Über diese Ableitungen aus allgemeinen Begriffswurzeln sowie über die Wurzel-
theorie überhaupt vgl. unten Kap. V, Nr. III, 4.
Schallnachahmungen und Lautbilder. t j y
werden, so stehen naturgemäß unter diesen Personen die nächsten,
die Eltern, wieder im Vordergrunde. Auf sie werden daher in jenem
ersten wechselseitigen Nachsprechen, das sich aus Anlaß der Echo-
sprache zwischen dem Kind und seiner Umgebung entwickelt, die
frühesten artikulierten Laute von selbst bezogen. In den unent-
wickelteren Sprachen sind dann die so entstandenen Namen auf der
Stufe einfacher oder durch Verdoppelung erweiterter Naturlaute, wie
in unserem *^Papa' und ""Mama", stehen geblieben. In den Kultur-
sprachen hat auch hier, ähnlich wie bei den aus Interjektionen her-
vorgegangenen Wortbildungen, der Naturlaut nur die Wurzel abge-
geben, aus der ein Wort hervorging, das sich im übrigen an die
sonstigen typischen Formen der Wortbildung anlehnte. *^Vater' und
'Mutter' unterscheiden sich daher in ihrer formalen Bildung nicht
mehr von andern Wörtern, wie 'Bruder' und 'Schwester', die völlig
unabhängig von irgendwelchen Naturlauten entstanden sind, und
denen sich die ersteren offenbar durch eine naheliegende Assoziation
in ihrer Form angeglichen haben. Dadurch, daß sie aus Natur-
lauten von indifferentem Gefühlswert entsprungen sind, nehmen nun
aber die Namen für Vater und Mutter eine eigentümliche Aus-
nahmestellung ein. Denn weder läßt sich in andern Fällen ein
analoger Vorgang tatsächlich nachweisen, noch ist es überhaupt
wahrscheinlich, daß die besonderen Bedingungen, die in diesem
Fall die Assimilation des Naturlautes begleiteten, irgendwo in ähn-
licher Weise wiederkehrten.
IV. Lautnachahinungen in der Sprache.
I. Schallnachahmungen und Lautbilder.
In allen Sprachen begegnen uns Wörter, die in ihrer Lautbil-
dung eine so unmittelbare Beziehung zu den Gegenständen oder
Merkmalen, die sie bedeuten, erkennen lassen, daß sie gewöhnlich
als »Lautnachahmungen« bezeichnet werden. Leicht lassen sich
diese Wortbildungen in zwei Klassen ordnen. Die erste umfaßt
solche Fälle, wo der Sprachlaut einem objektiven Lautvorgang ähn-
lich ist. So bei den Tiernamen Rade, Krähe, Kuckuck, Uhu, bei
denen, analog wie bei den onomatopoetischen Tiernamen der
2 1 8 Die Sprachlaute.
Kindersprache, die von den Tieren hervorgebrachten Laute wahr-
scheinlich auf die Wortbildung eingewirkt haben; ferner bei Wörtern
wie: bellen^ donnern, flüstern, gackern, glucksen, kichern, klatschen,
klirren, knistern, knirschen, krachen, krähen, krächzen, kreischen,
munkeln, niiirren, pajfcn, pfeifen (aus lat. pipare], prusten, puffen,
rasseln, räuspern, stöhnen, summevL, ticken, zirpen, zischen, zn'it-
schern u. a. ') Man kann sie, weil bei ihnen der Sprachlaut Nach-
ahmung eines äußeren Schalles ist, speziell als Schallnach-
ahmungen bezeichnen. Außer ihnen umfaßt aber der weitere
Begriff der sogenannten »Lautnachahmung« noch solche Wörter, in
denen irgendein mit keinerlei Schallbildung verbundener Vorgang
durch einen Laut wiedergegeben wird, und wo demnach mittels
einer Übertragung des auf einen andern Sinn, meist den Gesichts-
sinn, stattfindenden Eindrucks in eine Lautform diese dem äußeren
Vorgange nachgebildet scheint. Hierher gehören Wörter wie:
bummeln, baumeln, flimmern, hätscheln, krabbeln, kribbehi, pfuscJien,
torkeln, wimmeln u. a., wozu noch manche kommen, bei denen es
zweifelhaft ist, ob bei ihnen nicht Schallnachahmungen mindestens
mitwirkten , \\\& z. B. : JiuscJien, lullen, rempeln, schlottern, stolpern,
tätscheln und viele andere. Wir wollen diese Nachbildungen äußerer
Vorgänge, bei denen eine eigentliche Schallnachahmung entweder
ausgeschlossen oder zweifelhaft ist, einstweilen der Kürze wegen
Lautbilder nennen. Natürlich ist die Frage, ob eine »Schallnach-
ahmung« vorliegt, im allgemeinen sicherer zu entscheiden als die,
ob man in einem gegebenen Wort ein »Lautbild« des Gegenstandes
zu sehen habe. In der Tat hat man zuweilen nicht bloß Wörter
wie die oben aufgeführten, sondern auch solche wie 'hart', "^süß*,
'bitter', oder 'Schmerz', 'Liebe', 'Zorn', 'Haß' und andere für sinnliche
Nachbildungen der Begriffe gehalten, und in ähnlichem Sinn ist
schon den elementaren Sprachlauten, namentlich den Vokalen, ein
auf ihrem Klangcharakter beruhender Gefühls- und Bedeutungswert
zugeschrieben worden^). Solche Vermutungen mögen hier ganz
^) Eine größere Zahl solcher verhältnismäßig junger » Onomatopoetica « aus
deutschem Sprachgebiet hat H.Paul, Prinzipien ^ S. i6o f. zusammengestellt. Die
oben ausgewählten sind nur die häufiger gebrauchten.
2) Vgl. z. B. Jacob Grimm, Über den Ursprung der Sprache,^ 1852, S. 39 f.
K. W. L. Heyse, System der Sprachwissenschaft, 1856, S. 77 ff. C. L. Merkel, Phy-
siologie der menschlichen Sprache, 1866, S. 79 ff.
Schallnachahmungen und Lautbilder. 3 IQ
außer Betracht bleiben, da bei ihnen die Gefahr einer nachträglichen
und umgekehrten Assoziation allzu nahe liegt: der Begriff hat in
diesem Falle wahrscheinlich dem ihn bezeichnenden Wort seine
eigentümliche Gefühlsfärbung erst mitgeteilt, worauf dann diese für
eine ursprüngliche Eigenschaft des Wortes selbst oder einzelner
Lautelemente desselben gehalten wird. Mag übrigens der Kreis der
unmittelbaren Beziehungen von Laut und Bedeutung etwas weiter
oder enger gezogen werden, sicher ist jedenfalls, daß solche Be-
ziehungen in einer Anzahl von Fällen existieren, und daß sie sich,
rein symptomatisch betrachtet, in die beiden Klassen der »Schall-
nachahmungen« und der »Lautbilder«, wenn wir diese in dem obigen
Sinne verstehen, unterscheiden lassen. Sicher ist aber allerdings
auch, daß alle diese Fälle, selbst wenn man die zweifelhaften mit-
rechnen wollte, gegenüber der Ungeheuern Menge anderer, wo gar
keine Beziehung nachzuweisen ist, eine verschwindende Minderheit
bilden.
Trotzdem ist es offenbar nicht gerechtfertigt, wenn man wegen
der geringen Anzahl sogenannter »Onomatopoetica« auf ihre Existenz
überhaupt keinen Wert legt. In der Sprache ist jede Erscheinung,
die irgendeine Affinität zwischen Laut und Bedeutung erkennen
läßt, von Interesse, mag sie nun oft vorkommen oder nicht. Ebenso
bildet der Umstand, daß es sich in solchen Fällen häufig um neue
Wortbildungen handelt, keinen Grund gegen den Wert der Er-
scheinung. Diese Argumente stehen schon unter der stillschweigen-
den oder ausdrücklichen Voraussetzung, alles, was sich heute im Leben
der Sprache ereignet, lasse auf deren frühere Entwicklungszustände
keine Schlüsse zu. So bemerkt L. Geiger, die Worte besäßen »erst
in ziemlich späten Schichten eine gewisse Neigung, den Objekten
schildernd nahe zutreten«. Wörter wie Rabe^ Krähe ^ Kuckuck^ donnern^
schwirren u. a. seien zwar im Laufe der Zeit zu Lautnachahmuneen
o
geworden, ihren Wurzeln liege aber eine solche Beziehung fern').
Wird hier immerhin noch eine sekundäre Wirkung der Vorstellung
auf den Laut zugestanden, so sind nun manche Sprachforscher ge-
neigt, selbst innerhalb dieser Grenzen eine solche Affinität möglichst
') Lazarus Geiger, Ursprung und Entwicklung der menschlichen Sprache und
Vernunft, I, 1868, S. 168. Vgl. a, L. Noire, Logos, Ursprung und Wesen der Be-
griffe, 1885, S. 105.
T.20 Die Sprachlaute.
ZU beschränken. Sobald diese in verwandten Sprachen oder in
älteren Sprachformen des gleichen Gebiets nicht existiert, so gilt sie
ihnen als eine nichtssagende, zufällige Erscheinung^).
In diesen Anschauungen spiegelt sich deutlich die merkwürdige
Mischung von Romantik und Skepsis, die in der heutigen Sprach-
wissenschaft als das natürliche Produkt ihres Ursprungs aus der
romantischen Geistesströmung und des allmählichen Hineinwachsens
dieser in das Zeitalter des positivistischen Kleinbetriebs hervorgegangen
ist. Max Müller, dessen linguistische wie mythologische Theorien im
einzelnen längst obsolet geworden sind, ist hier immer noch der
typische Repräsentant der geltenden Meinungen ^). Sie lassen sich in
bezug auf die vorliegende Frage in die zwei Sätze zusammenfassen :
i) Wo eine Beziehung zwischen Laut und Bedeutung nicht in den
Urbestandteilen einer Sprache, den Wurzeln, aus denen die Wörter
abzuleiten sind, nachzuweisen ist, da existiert sie überhaupt nicht.
2) Jede Lautänderung, die im Laufe der geschichtlichen Entwicklung
der Sprache eingetreten ist, muß auf rein lautgesetzliche Vor-
gänge zurückgeführt werden, die als solche mit der Bedeutung der
Wörter gar nichts zu tun haben.
Daß die »Wurzeln« selbst, wie wir später sehen werden, Produkte
einer grammatischen Abstraktion sind, die willkürlich und im Wider-
spruch mit allen Erscheinungen der Sprache zu wirklichen Urwörtern
gemacht wurden, charakterisiert die romantische Grundlage dieser
Auffassung^). Daß dieses Phantasiegebilde einer Ursprache, nach-
dem es der wirklichen Sprache substituiert ist, zu einem von allen
psychologischen Einflüssen unberührt bleibenden Objekt einer irgend-
wo in den Wolken schwebenden historischen Gesetzmäßigkeit erhoben
wird, nach deren Bedingungen man nicht zu fragen habe, charak-
terisiert aber jenen historischen Skeptizismus, wie er in dieser Form
wiederum eigentlich nur auf dem Boden der Romantik möglich war.
Nun ist freilich die Unhaltbarkeit eines solchen Standpunktes bereits
allerorten zutage getreten. Den mannigfachen psychophysischen Kon-
takt- und Assoziationswirkungen, die überall die sprachlichen Gebilde
^) Vgl. z. B. Sütterlin, Das Wesen der sprachlichen Gebilde, S. 34.
2) Max Müller, Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache, Bd. i, 1863,
S. 307 ff., 6. Aufl. (1892), S. 455 ff.
3) Vgl. unten Kap. V, Nr. III.
Schallnachahmungen und Lautbilder. 221
nach Laut wie Bedeutung verändern, hat die Sprachwissenschaft
bereitwillig ihre Tore öffnen müssen. Aber man fügte sich doch nur
notgedrungen, wenn ein anderer Ausweg schlechterdings nicht zu
finden war, der Herbeiziehung solcher psychologischer und psycho-
physischer Einflüsse. Diese deckten sich nun im wesentlichen mit
dem Gebiet der früheren grammatischen »Ausnahmen«. Nur hatte
sich das Verhältnis zwischen Regeln und Ausnahmen dadurch in
eigentümlicher Weise gestaltet, daß man für die Ausnahmen plau-
sible psychologische Gründe geltend machte, während die Regeln
in dem geheimnisvollen Dunkel einer unerforschlichen historischen
Gesetzmäßigkeit verblieben. Für die regelmäßigen sprachlichen Bil-
dungen stehen so im wesentlichen noch heute die beiden oben
formulierten Dogmen in unbeschränkter Geltung, obgleich sie nicht
bloß willkürliche, sondern im Grunde sehr unwahrscheinliche An-
nahmen sind. Denn wenn überhaupt assoziative Beziehungen irgend-
welcher Art zwischen dem Lautcharakter und dem Begriffsinhalt
eines Wortes entstehen, so wird dies wohl zu jeder Zeit ge-
schehen können. Nur werden solche da, wo sie einer jüngeren
Zeit angehören, selbstverständlich leichter nachweisbar sein. Ver-
mögen wir doch absolut nicht zu übersehen, welche Neben-
momente der Tonlage, des Tonwechsels und der sonstigen nur
mangelhaft durch die Tradition erhaltenen Erscheinungen in einer
frühen Zeit wirksam gewesen sein mögen. Die Behauptung, ono-
matopoetische Beziehungen seien nur von Wert, wenn sie einer
ursprünglichen, nicht wenn sie einer jüngeren Sprachstufe angehören,
ist daher genau in ihr Gegenteil umzukehren. Für die assoziativen
Kräfte, die überhaupt in der Sprache wirken, sind die uns näher
liegenden Formen die wertvolleren, weil in ihnen jene Wechsel-
wirkungen am wenigsten durch andere, unserer Nachweisung sich
entziehende Einflüsse getrübt sind. Wo sich dann aber auf einer
früheren Sprachstufe analoge Beziehungen, wie sie sich gelegent-
lich noch heute bilden, auffinden lassen, da ist es natürlich vollends
unzulässig, diese für zufällig oder bedeutungslos zu erklären, weil
sie in sonst verwandten Sprachen nicht existieren. Wörter wie
knirschen^ kichern^ glucksen^ klatschen^ prusten und viele andere
hören doch darum nicht auf onomatopoetisch zu sein, weil sie in
dieser Form dem neuhochdeutschen Sprachgebiet ausschließlich
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. n-t
• 22 Die Sprachlaute.
eigen sind. Warum sollten nun z. B. analoge Wortgebilde im
Hebräischen nicht onomatopoetisch sein, weil sie es in andern semi-
tischen Sprachen nicht sind, oder weil die zweisilbigen Wortstämme,
mit denen hier nicht selten der onomatopoetische Charakter zu-
sammenhängt, den sonst verwandten hamitischen Sprachen nicht
zukommen? Es ist klar, daß hier nicht etwa bloß der historische
dem psychologischen Gesichtspunkt substituiert, sondern daß das
wirkliche geschichtliche Werden der Sprache auf eine noch dazu
großenteils hypothetische Urgeschichte reduziert wird. Mit der Unter-
schätzung der lebendigen Wirklichkeit verbindet sich dann zugleich
eine ins Äußerste getriebene Skepsis gegenüber allen Erscheinungen,
in denen gewisse tatsächliche, aber geschichtlich nicht näher zu ver-
folgende Beziehungen hervortreten. Ein Beispiel mag genügen,
diesen extremen Historismus zu kennzeichnen. Oben ist schon der
Tatsache gedacht worden, daß gewisse Lalllaute des Kindes, wie /«,
da^ nta^ na u. a., vielfach in den Namen für Vater und Mutter vor-
kommen, wobei zugleich die Explosivlaute den Vater-, die Resonanz-
laute den Mutternamen kennzeichnen. Da diese Beziehung in hunder-
ten von Sprachen wiederkehrt, so ist für jeden, der die Prinzipien
der empirischen Wahrscheinlichkeit nicht etwa für eine leere Er-
findung der Mathematiker ansieht, der Zufall ausgeschlossen. Dem
extremen Sprachhistoriker gilt die Frage trotzdem als zweifelhaft.
Denn es kommen ja einige Fälle vor, in denen sich das gewöhn-
liche Verhältnis umkehrt, indem der Vater Mama und die Mutter
Papa oder ähnlich genannt wird"). Man fordert also eine absolute
Ausnahmslosigkeit. Daß diese in solchem Fall einer an Unmög-
lichkeit grenzenden Unwahrscheinlichkeit gleichkommen würde, be-
denkt man nicht.
Wie das erste, so ist nun aber auch das zweite der oben formu-
lierten Dogmen unhaltbar. Zunächst sind ja die lautgesetzlichen
Vorgänge an sich nicht sowohl letzte Erklärungsgründe als vielmehr
Probleme, die überall der physiologischen oder psychologischen
Interpretation bedürfen. In diesem Sinne gibt es daher eine rein
historische Erklärung dieser Vorgänge überhaupt nicht, sondern das
historisch Gewordene, mag es so umfassend oder so beschränkt sein
I) Sütterlin a. a. O. S. 31.
Schallnachahmungen und Lautbilder. '\2'l
wie es wolle, fordert stets eine Zurückfuhrung auf seine Ursachen
und Motive. Nun sind aber die geschichtlichen Tatsachen überall,
und so auch im Gebiet der Sprachgeschichte, höchst komplexer Art.
Selbst da, wo eine bestimmte Lautbildung auf einen lautgesetzlichen
Vorgang von allgemeinerer Verbreitung zurückgeführt werden kann,
bleibt daher erstens die Frage nach den Bedingungen jenes Vor-
ganges eine offene, und ist zweitens die Mitwirkung besonderer
Motive, die in dem speziellen Fall unterstützend oder modifizierend
in ihn eingreifen, nicht ausgeschlossen. Auch das mag durch ein
Beispiel belegt werden, bei dem sich, weil es einer neueren Periode
der Sprachgeschichte angehört, die Interferenz der Wirkungen ver-
hältnismäßig sicherer nachweisen läßt. Wir legen heute den beiden
Worten Rade und Rappe eine onomatopoetische Färbung bei:
in dem Raben meinen wir das krächzende Geschrei des Vogels
zu hören, bei dem Rappen denken wir an das trapp trapp des
Pferdes, das ja gelegentlich auch als eine onomatopoetische Um-
bildung des Verbums traben gebraucht wird. Nun lehrt aber die
Sprachgeschichte, daß die Differenzierung der Wörter Rabe und
Rappe erst in neuhochdeutscher Zeit und wohl gleichzeitig mit der
Übertragung des Namens von dem schwarzen Vogel auf ein schwarzes
Pferd eingetreten ist Ursprünglich war das Wort nur Vogelname und
wurde in der Regel in Niederdeutschland Rabe^ in Oberdeutschland
Rappe ausgesprochen. Das Neuhochdeutsche hat also die Wörter diffe-
renziert, indem es die Benennung des Vogels dem niederdeutschen,
die des Pferdes dem oberdeutschen Sprachgebiet entnahm. Folglich
ist — so schließt man vom rein historischen Standpunkt aus —
diese Differenzierung eine »zufällige«, und eine onomatopoetische
Bedeutung besitzen die Wörter überhaupt nicht'). Nun würde dieser
Schluß offenbar selbst dann nicht bindend sein, wenn die Differenzie-
rung auf die hochdeutsche Schriftsprache und Sprechweise beschränkt
geblieben wäre. Denn da der Zufall auch für die Sprachgeschichte kein
Begriff von erklärendem Wert ist, so würde immer noch die Frage
bleiben, warum das Neuhochdeutsche überhaupt diese Scheidung vor-
genommen hat, und warum sie nicht »zufällig« in entgegengesetzter
^) Delbrück, Gründfragen der Spracliforschung, S. 155. Vgl. über diese und
ähnliche Erscheinungen unten Kap. VIII, Nr. I, 2.
324 ^i^ Sprachlaute.
Richtung erfolgt ist. Und hier bliebe dann die wahrscheinlichste Inter-
pretation die, daß die Assoziation mit dem Ruf des Vogels einerseits
und mit dem Pferdegetrappel anderseits diese Richtung veranlaßt habe.
Eine solche Deutung wird nun aber in hohem Grade durch den Um-
stand verstärkt, daß, wie die vorhandenen Dialektwörterbücher lehren,
jene Unterscheidung auch in die Dialekte eingedrungen ist, so daß
heute im Niederdeutschen das schwarze Pferd ebenfalls Rappe, nicht
Rabe, und im Oberdeutschen der Vogel sehr häufig Rabe, das Pferd
aber stets Rappe genannt wird. Offenbar ist in diesem Fall die histo-
rische Verfolgung des Vorgangs deshalb besonders belehrend, weil
sie augenfällig zeigt, wie sich in solchen Entwicklungen die rein
lautlichen Differenzienmgen mit den psychologischen Assoziationen
zwischen Laut und Bedeutung durchkreuzen können, und wie irrig
daher der so oft stillschweigend oder ausdrücklich befolgte Grundsatz
ist, da, wo irgendein Vorgang auf lautgeschichtliche Bedingungen
zurückgeführt sei, werde damit die Mitwirkung anderer Momente von
selbst hinfällig. Das Gegenteil ist richtig: bei einer so kom-
plexen Funktion wie der Sprache ist eine komplexe Be-
schaffenheit der Ursachen von vornherein wahrscheinlich.
Hiernach werden wir im Gegensatze zu den oben formulierten
Grundsätzen eines einseitigen Historismus die folgenden drei Gesichts-
punkte als diejenigen festhalten dürfen, die unter den obwaltenden
Bedingungen brauchbare, wenn auch bei der Unsicherheit und der
schwankenden Natur der Erscheinungen nicht immer entscheidende
Kriterien für das Vorhandensein irgendwelcher psychologischer Be-
ziehungen zwischen Laut und Bedeutung abgeben können :
1. Wo in einer Sprache bestimmten Variationen der Bedeutung
solche des Lautes in einer so großen Zahl gleicher oder analoger
Fälle parallel gehen, daß dadurch die Annahme eines Zufalls aus-
geschlossen ist, und wo diese Variationen zugleich einer unmittelbar
wahrzunehmenden Empfindungs- und Gefühlswirkung der Laute ent-
sprechen, da darf mit Wahrscheinlichkeit eine Beziehung zwischen
Laut und Bedeutung vermutet werden.
2. Lautgesetzliche Änderungen und psychisch bedingte Modifi-
kationen der Laute schließen sich nicht notwendig aus, da den
komplexen Vorgängen hier wie überall im allgemeinen auch kom-
plexe Ursachen zugrunde liegen. Dabei können die psychischen
SchallnachahTtiUTicfen und Lnutbilder.
325
Bedingungen bald die lautgesetzlichen Wirkungen unterstützen, bald
über ihr ursprüngliches Gebiet ausdehnen, bald sich mit ihnen zu
Differenzierungen der Bedeutung verbinden. Wo die Vermutung
einer solchen Komplikation der Ursachen vorliegt, da bildet dann
das Vorkommen analoger Erscheinungen unter ähnlichen, einfacheren
Bedingungen ein Kriterium ihrer Wahrscheinlichkeit.
3. Beziehungen zwischen Laut und Bedeutung werden voraus-
sichtlich vor allem da unserem psychologischen Verständnis näher
zu bringen sein, wo ihre Entstehung einer verhältnismäßig neuen
Stufe der Sprachentwicklung zugehört, weil hier die unmittelbaren
Wirkungen der Laute unserer Beobachtung leichter zugänglich, und
andere, die psychologischen Beziehungen der Laute komplizierende
Erscheinungen, wie Sprechrhythmus und Tonfall, den uns aus
der lebenden Sprache geläufigen voraussichtlich ähnlicher, also
unbekannte Nebenwirkungen relativ ausgeschlossen sind. Wo sich
aber auf älteren Sprachstufen Beziehungen zwischen Laut und Bedeu-
tung überhaupt finden, da sind dieselben naturgemäß nach Analogie
der Fälle zu beurteilen, die in der lebenden Sprache vorkommen.
Diese Gesichtspunkte stehen in vieler Beziehung im Gegen-
satz zu verbreiteten Anschauungen. Denn in der Regel legt man
auf jene bekannte Anwendung der empirischen Wahrscheinlichkeit,
welche die allgemeine Methodenlehre als das »Prinzip der sich be-
gleitenden Veränderungen« bezeichnet, in der Sprachwissenschaft
nur geringes Gewicht. Dem methodologischen Grundsatz aber, daß
komplexe Erscheinungen meist auch komplexe Ursachen voraus-
setzen, substituiert man zumeist den andern: wo irgendeine einzelne
Bedingung einer Erscheinung nachgewiesen oder wahrscheinlich ge-
macht sei, da seien mitwirkende Ursachen ausgeschlossen. Endlich
pflegt man selbst da, wo es sich lediglich um Tatsachen der Er-
fahrung handelt, noch immer zuweilen den Erscheinungen, die
unserer Beobachtung näher liegen, solche vorzuziehen, die einer
entfernteren Vergangenheit angehören oder sich gar in der hypo-
thetischen Vorgeschichte der Sprache ereignet haben.
-2 20 I^ie Spraciilaute.
2. Allgemeine Bedeutung der Lautnachahmung.
Das Wort »Lautnachahmung« kann von vornherein in doppeltem
Sinne verstanden werden. Man kann es entweder als eine »Nach-
ahmung des Lautes« oder als eine »Nachahmung durch den Laut«
interpretieren. Nicht selten ist ihm ausschließlich die erste Bedeu-
tung gegeben worden. Damit wird dann der Begriff auf die Gruppe
der oben als »Schallnachahmungen« bezeichneten Erscheinungen
eingeschränkt. Während die Gegner der Onomatopöie vorzugs-
weise diesen engeren Begriff bekämpften, steckten deren Anhänger
in der Regel das Gebiet viel weiter ab: überall wo der Laut auch
nur einen Gefühlston anklingen läßt, der durch das Objekt erregt
zu sein scheint, waren sie geneigt eine »Lautnachahmung« anzu-
nehmen^). Nun ist, wenn wir uns streng auf die Tatsachen be-
schränken, ohne weiteres ersichtlich, daß es zahlreiche Fälle gibt,
in denen schon deshalb von einer Nachahmung eines Schalleindrucks
nicht die Rede sein kann, weil der benannte Vorgang oder Gegen-
stand gar keinen Eindruck auf unsern Gehörssinn macht, während
gleichwohl das Wort als ein »Lautbild« gelten muß. Auch handelt
es sich gerade hier meist um sprachliche Neuschöpfungen, bei
denen, weil irgendwelche lautgeschichtliche Bedingungen gar nicht
mitgewirkt haben, ein im weiteren Sinn onomatopoetisches Motiv
nicht bezweifelt werden kann. Wenn aber Wörter wie bummeln^
baumeln^ krippeln^ torkeln^ pfuschen^ wimmeln gerade so gut wie
donnern^ klirren^ knarren^ rasseln^ murren als Lautnachahmungen
von uns empfunden werden, so kann die allgemeine Bedeutung
solcher offenbar nur darin bestehen, daß sie Nachahmungen durch
den Laut, nicht oder doch nur in gewissen Fällen auch Nach-
ahmungen des Lautes sind. Hierdurch wird jedoch zugleich der
Zweifel angeregt, ob selbst da, wo für unser Ohr das Wort eine
Schallnachahmung bedeutet, der Sprechende selbst damit die Ab-
^) »Allen Sinnen liegt Gefühl zum Grunde«, sagt Herder in seiner Schrift über
den Ursprung der Sprache, »und dies gibt den verschiedenartigsten Sensationen
schon ein so inniges, starkes, unaussprechliches Band, daß aus dieser Verbindung
die sonderbarsten Erscheinungen entstehen. . . . Wir sind voll solcher Verknüpfungen
der verschiedensten Sinne.« (Herders sämtl. Werke, Ausgabe von Suphan, V, S. 6i.)
Allgemeine Bedeutung der Lautnachahmung. ^27
sieht verbunden habe, den gehörten Schall durch einen Sprachlaut
nachzuahmen.
Wird die Frage so gestellt, so kann nun in der Tat die Ant-
wort kaum zweifelhaft sein. Eine absichtliche Nachbildung der
durch einen äußeren Vorgang erregten Schallempfindung würde
nicht bloß mit der Existenz von Lautbildern , die sich auf lautlose
Eindrücke beziehen, schwer zu vereinigen sein, sondern sie würde
auch psychische Vorgänge voraussetzen, die im gewöhnlichen Ver-
lauf der Sprachäußerungen nicht oder nur unter Bedingungen vor-
kommen, die gerade in diesem Fall äußerst unwahrscheinlich sind.
Zuvörderst ist es nämlich klar, daß der Prozeß der Nachbildung
irgendwelcher unhörbarer Vorgänge durch Laute, wie er bei den
oben so genannten »Lautbildern« vorliegt, an und für sich von
weit allgemeinerer Art ist als das Gebiet der bloßen »Schallnach-
ahmung«. Denn da bei dem ersteren Sinneseindrücke von jeder
möglichen Beschaffenheit durch Sprachlaute wiedergegeben werden,
so ist nicht einzusehen, warum dies nicht auch bei den Schall-
eindrücken in analoger Weise sollte geschehen können. Dann ist
aber die »Schallnachahmung« nur eine besondere, durch nichts als
durch den Eindruck auf den Gehörssinn ausgezeichnete Art von
Lautbildern. Dazu kommt das noch entscheidendere Bedenken,
daß eine »Schallnachahmung« im eigentlichen Sinne, das heißt als
absichtliche Nachahmung eines äußeren Schalls durch die Sprach-
organe, tatsächlich nur unter Bedingungen vorkommt, die im all-
gemeinen bei der Neubildung von Wörtern nicht vorauszusetzen
sind. Wenn wir z. B. Tierlaute oder Sprachlaute anderer Menschen
oder sonstige zufällige Naturlaute willkürlich nachahmen, so ist die
Lage, in der sich bei solchen Gelegenheiten unser Bewußtsein be-
findet, sicherlich nicht diejenige, die bei der Bildung wirklicher
Wörter angenommen werden kann. Bei der willkürlichen Nach-
ahmung wird, wo sie auch vorkommen mag, unmittelbar immer
nur die Wiedergabe des Lautes selbst bezweckt, niemals die Be-
zeichnung des Gegenstandes. Wo sich etwa die letztere Absicht
regt, da handelt es sich um einen selbständigen, erst zu der Nach-
ahmung hinzutretenden Vorgang. Wir mögen also willkürlich her-
vorgebrachte Lautnachahmungen unter Umständen nachträglich be-
nützen, um sie zur Namengebung zu verwenden; dagegen läßt sich
2S Die Sprachlaute.
eine Umkehrung dieses Prozesses, wie sie vorausgesetzt wird, wenn
man den Vorgang onomatopoetischer Wortbildung als eine Nach-
ahmung des Lautes auffaßt, nirgends nachweisen. So ist es ja
auch bei der Entwicklung der kindlichen Sprache aus der »Echo-
sprache« nicht die Absicht der Mitteilung, aus der die Nachahmung
entspringt. Vielmehr ist umgekehrt die Nachahmung zunächst da, und
dann erst bemächtigt sich der Trieb nach Mitteilung der durch die
Nachahmung zur Verfügung gestellten Bezeichnungen in dem an-
gemessenen Sinne. Auch die Nachahmung ist aber hier wiederum
keine willkürliche, sondern triebartig folgt dem gehörten Laute die
Artikulationsbewegung, die dann von selbst einen analogen Laut
hervorbringt. Direkt wirkt also der gehörte Laut nur auf die Arti-
kulation der Sprachwerkzeuge, erst indirekt auf den Sprachlaut
selbst. Die Unhaltbarkeit des Begriffs der Lautnachahmung in dem
vulgären Sinn einer absichtlichen Wortschöpfung, die den gehörten
Schall benützt, um sein akustisches Bild vor dem Hörer zu wieder-
holen, liegt demnach darin, daß sie in die Auffassung der sprach-
bildenden Vorgänge den Begriff der Erfindung hinüberträgt. Nun
können künstliche Worterfindungen und sogar ganze künstliche
Sprachen bekanntlich vorkommen; auch können die ersteren, wie
vor allem die Geschichte der wissenschaftlichen Terminologie lehrt,
in die allgemeine Sprache übergehen. Doch die onomatopoetischen
Wörter sind in der Regel nicht solche Kunsterzeugnisse, sondern
Gebilde der natürlichen Sprache, deren individuellen Ursprung wir
meist auch da nicht mehr nachweisen können, wo es sich um Wort-
schöpfungen aus nächster Vergangenheit handelt. Sie tragen so in
jeder Beziehung die Merkmale einer aus der fortwirkenden Macht
ursprünglicher sprachbildender Kräfte entstandenen Neuschöpfung
an sich. Der individuelle Ursprung entzieht sich aber hier nicht
zum wenigsten um deswillen unserer Nachweisung, weil das ein-
zelne Erzeugnis absichtslos aus Motiven hervorgeht, die so all-
gemeingültiger Art sind, daß sie sich in dem Hörer unmittelbar
erneuern, und daß demjenigen, der das Wort geschaffen hat, seine
eigene Urheberschaft verborgen bleiben kann.
Das Ergebnis, daß eine onomatopoetische Wortbildung von
absichtlicher Nachahmung wie von direkter Nachbildung des Schall-
eindrucks gleicherweise verschieden ist, legt nun eine Annahme
Allgemeine Bedeutung der Lautnachahmung. ^29
nahe, die besonders von Steinthal näher ausgeführt wurde. Ent-
steht der Laut als eine absichtslose Reaktion auf den Eindruck, so
scheint er zunächst dem Gebiet der Reflexe verwandt zu sein.
Die Beziehung zum Gegenstand würde sich dann dem allgemeinen
Prinzip der Reflexbewegungen unterordnen, nach welchem diese ver-
möge der vererbten und erworbenen Anlagen des zentralen Nerven-
systems den Sinnesreizen in einer dem Ort und der Art des Ein-
drucks adäquaten Weise mechanisch zugeordnet sind (S. 41). Ist
der Laut nur bei einer beschränkten Anzahl onomatopoetischer Wort-
bildungen eine direkte Nachahmung des äußeren Schalls, so scheint
ferner der nächste Ausweg, um über jene allgemeinere Beziehung
Rechenschaft zu geben, der zu sein, daß man das Gefühl zu Hilfe
nimmt, das durch seine mannigfachen Assoziationen und Analogien
bei den Empfindungen der verschiedenen Sinne überall geeignet
ist, das Mittelglied zu bilden, das den Eindruck mit dem durch
ihn ausgelösten Laute verbindet. Das onomatopoetische Lautge-
bilde, mag es eigentliche Schallnachahmung oder bloßes »Lautbild«
im Sinne der obigen Unterscheidungen sein, wird daher von Steinthal
als ein »Reflex« aufgefaßt, der in seiner Form von der Beschaffen-
heit des Objektes abhänge, und dessen Verwandtschaft mit diesem
durch die analogen Gefühle vermittelt sei, die durch den Eindruck
des Objektes und durch den des Lautes erweckt werden. Dem-
nach soll jede Lautnachahmung einerseits auf einem gänzlich willen-
losen Vorgang, anderseits aber auf einer indirekten, durch das
begleitende Gefühl erzeugten Assoziation mit dem Gegenstande
beruhen^).
Diese Auffassung begegnet aber schon deshalb Bedenken, weil
sie den Begriff des »Reflexes« in einem seiner physiologischen
Anwendung widersprechenden Sinne verwendet. Denn sie J dehnt
dessen Geltungsbereich auf psychophysische Vorgänge aus, die er
nach seinem ursprünglichen Inhalt von sich ausschließt. Auch für
die Psychologie besteht nämlich der Wert dieses Begriffes gerade
darin, daß er eine wohl definierbare wichtige Gruppe rein physio-
logisch bedingter, ohne begleitende psychische Vorgänge
^) Steinthal, Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft, 1871, S. 376ff.
Ursprang der Sprache,* 1888, S. 368 ff.
250 Die Sprachlaute.
verlaufender Bewegungen umfaßt. Sind solche Vorgänge in der
Form von Empfindungen und Gefühlen vorhanden, so nennen wir
eben die eintretende Handlung nicht mehr eine Reflexbewegung,
sondern eine Trieb- oder einfache Willenshandlung, da jener gleich-
zeitige Empfindungs- und Gefühlsinhalt psychologisch durchaus die
Rolle eines die Handlung bestimmenden Motives spielt, dessen
Wirksamkeit sich von derjenigen der Motive zusammengesetzter
Willenshandlungen nur dadurch unterscheidet, daß es das allein
vorhandene und darum auch das allein wirksame Motiv ist^). Liegt
demnach zwischen Reflex- und Triebbewegung das unmittelbar
unterscheidende Merkmal nur in dem begleitenden Bewußtseins-
vorgang, so hängt nun damit auch der weitere Unterschied zu-
sammen, daß die Bewegung, wo sie rein physisch bedingt ist,
ohne weitere Folgewirkungen abläuft, während Empfindung und
Gefühl stets Nachwirkungen zurücklassen, vermöge deren sich
an die Triebhandlung weitere psychische oder psychophysische
Vorgänge anschließen können. In der Tat trifft dies ganz beson-
ders da zu, wo die Triebbewegung in einer durch den Eindruck
eines gesehenen oder betasteten Objektes ausgelösten Lautäuße-
rung besteht. Denn indem die Gehörsempfindungen mit den Ein-
drücken der andern Sinne mannigfaltige Komplikationen bilden
können, die sich durch Wiederholung befestigen, wird hier der
Übergang der Lautäußerung in den Sprachlaut unmittelbar nahe-
gelegt. Tragen auf diese Weise die onomatopoetischen Lautbil-
dungen gerade in dem, was ihnen ihre Bedeutung in der Sprache
verleiht, Eigenschaften an sich, die sie von den eigentlichen Reflexen
wesentlich unterscheiden, so wird demnach der Ausdruck »Sprach-
reflex« in diesem Zusammenhang zu vermeiden und durch das zu
ersetzen sein, was die Bewegung wirklich ist: durch den Begriff
einer Triebbewegung, die, weil sie die Sprachorgane ergreift,
von selbst mit Lautbildung verbunden ist.
Hieran schließt sich dann sofort die weitere Frage, was dem auf
solche Weise hervorgebrachten Laute die Eigenschaften verleiht,
durch die er auch dem Hörer als ein dem objektiven Eindruck ähn-
licher oder sonst irgendwie angemessener erscheint. Erfolgt die
Vgl. oben Kap. I, S. 37 ff., und Physiol. Psychologie,^ m, S. 258 ff.
Allgemeine Bedeutung der Lautnachahmung. ^^l
Lautäußerung als eine einfache Triebbewegung, so wird damit die
naive Annahme, daß sie absichtliche Nachahmung eines Schall-
eindrucks oder absichtliche Übertragung irgendeines andern Sinnes-
reizes in ein Schallbild sei, von selbst hinfällig. Denn die Beziehung
zwischen Laut und Bedeutung kann nun keine im voraus ge-
wollte, sondern nur eine nachträglich entstandene sein.
Der Laut wurde nicht gebildet, weil er eine bestimmte Ähnlich-
keit mit dem objektiven Eindruck besaß, sondern er wurde umge-
kehrt dem Eindruck ähnlich, weil die Artikulationsbewegung, aus
der er hervorging, dies notwendig so mit sich führte. Hierdurch
werden wir auf das hingewiesen, was den Laut selber erst hervor-
bringt: auf die Lautbewegung der Sprachorgane. Unmittelbar
sind es ja nicht die Laute, sondern die Lautbewegungen, die durch
den äußeren Eindruck triebartig ausgelöst werden. Hier bieten aber
offenbar alle Arten sogenannter »Lautnachahmung« den ausge-
zeichneten Fall dar, daß diese Bewegungen irgendeine äußere Be-
wegung oder die unmittelbare Wirkung einer solchen, die noch
deutlich den Bewegungsmodus erkennen läßt, nachbilden. Daß
dies willkürlich geschehe, ist wiederum durch die Natur der ur-
sprünglichen Triebbewegungen ausgeschlossen. Wie vielmehr jeder
lebhaft erregte Beobachter einen Bewegungsvorgang, den er sieht,
mit Mienen und Gebärden begleitet, so und nicht anders haben wir
uns jene Lautbewegungen zu denken: als Bewegungen, die, in-
dem sie die durch den Eindruck erregten subjektiven Gefühle aus-
drücken, unwillkürlich auch den das Gefühl erregenden Vorgang
selbst nachbilden. Solche Mitbewegungen, an die sich sofort Über-
tragungen sonstiger Sinneseindrücke in Gebärdenbewegungen an-
schließen können, sind gerade so gut wie alle andern ursprünglichen
Gebärden unwillkürliche Akte; aber sie sind nicht bloße Reflexe,
sondern Triebhandlungen, in denen sich die vorhandene psychische
Erregung äußert. Nach diesem Zusammenhange mit den sonstigen
Gebärdenbewegungen werden wir eine solche nachahmende oder
nachbildende Bewegung der Artikulationsorgane wohl am zutref-
fendsten als eine Lautgebärde bezeichnen. Die Beziehung zwi-
schen dem objektiven Eindruck und der Lautnachahmung wird dann
aber näher dahin festzustellen sein, daß diese in keiner Weise eine
Nachahmung des Lautes, sondern eine unwillkürliche Nachahmung
■1-12 Die SpracUaute.
des äußeren Vorganges durch den Laut ist, die in der Überein-
stimmung der triebartig entstehenden Lautgebärde mit dem äußeren
Eindruck ihre eigentliche Quelle hat. Unter »Lautgebärden« können
wir hiernach mimische Bewegungen der Artikulationsorgane ver-
stehen, die zumeist der Kategorie der nachbildenden Gebärden an-
gehören, und die sich von andern Gebärden nur dadurch unter-
scheiden, daß sich mit ihnen ein zunächst den begleitenden Affekt
ausdrückender Stimmlaut verbindet, der durch die mimische Be-
wegung seine eigentümliche Artikulation und Modulation erhält. So
ist in diesem Falle der Sprachlaut eine Verbindung von Gebärde
und Laut, in der dieser durch jene bestimmt wird").
Das aufgestellte Prinzip macht nun vor allem die zweite Klasse
onomatopoetischer Bildungen, die der Lautbilder, leicht verständ-
lich. Um hier, wo von einer wirklichen Nachahmung des Lautes
nicht die Rede sein kann, über die nicht zu verkennende Beziehung
zwischen Laut und Bedeutung Rechenschaft zu geben, bezeichnet
man in der Regel diese Erscheinungen unterschiedslos als »Laut-
metaphern« oder »Lautsymbole«. Der irgendeinem andern Sinnes-
gebiet angehörige Eindruck soll in einen verwandt erscheinenden
Schalleindruck übertragen werden^). Nach der oben gegebenen
Erläuterung des Vorganges handelt es sich jedoch hier offenbar
überhaupt um keine Übertragung. Nicht durch den Laut selbst,
sondern durch die Artikulationsbewegung wird ja zunächst der
äußere Eindruck nachgeahmt. Bei dieser mimischen Gebärde be-
darf es aber keines Übergangs auf ein anderes Sinnesgebiet, son-
1) Den Ausdruck »Lautgebärde« hat bereits Heyse (System der Sprachwissen-
schaft, S. 73), aber in einem wesentlich andern, engeren Sinn angewandt. Er nennt
so die meist von Gebärden begleiteten interjektionalen Zurufe wie si, he, holla\
synonym gebraucht er daher auch für sie den Ausdruck »Begehrungslaute«. Nach
den oben gewählten Bezeichnungen sind diese Interjektionen nicht Lautgebärden,
sondern unmittelbare Gefühlslaute, die nur als Begleiter anderer Gebärden, also bloß
mittelbar, eine Beziehung zu einem äußeren Objekt gewinnen können.
2) Heyse, System der Sprachwissenschaft, S. 93 ff. Heyse selbst faßt übrigens
den Begriff der »Lautmetapher« ziemlich weit, da er Wörter wie 'sanft', 'scharf,
'weich', 'hell', 'lind' und viele andere hierher rechnet, die jedenfalls nicht zu den
»Lautgebärden« in dem oben begrenzten Sinne gehören, und bei denen überhaupt
zweifelhaft ist, ob die Lautnachahmung, die man ihnen zuschreibt, nicht erst auf
der gewohnheitsmäßigen Assoziation des Lautes mit dem Begriff beruht. (Siehe
oben S. 318.)
Lautgebärden zur Bezeichnung der Artikulationsorgane. -i-y-i
dern die äußere Bewegung oder der als Bewegung aufgefaßte Ein-
druck wird unmittelbar durch die Gebärde wiedergegeben. Diese
nachahmende Bewegung der Gebärde, die sich dann von selbst
auch dem Laute mitteilt, ist es, nicht ein als Metapher oder Sym-
bol aufzufassendes Lautbild , das bei Wörtern wie bummeln , flim-
mern^ kribbeln^ torkeln^ wimmeln und ähnlichen den Eindruck einer
Nachbildung der Wirklichkeit hervorbringt. Nicht der Laut als
solcher ist also die Quelle dieses Eindrucks, sondern die Artikulations-
bewegung, namentlich die fein nuancierte Bewegung der Zunge und
der Lippen. Die Wirkung dieser mimischen Gebärde auf den
hervorgebrachten Laut muß dann allerdings auch bei solchen
durch den Laut selbst gar nicht nachzubildenden, weil selbst laut-
losen Eindrücken die Wirkung der Gebärde verstärken. Denn der
Laut ist wieder innig mit der Lautbewegung assoziiert, so daß er
in dem Hörer die ähnliche mimische Bewegung hervorzubringen
strebt. Aber der Satz, daß die durch einen äußeren Eindruck er-
weckten Lautgebärden in erster Linie mimische Bewegungen und
dann erst sekundär zugleich Laute sind, gilt selbstverständlich auch
für die Schallnachahmungen. Bei Wörtern wie klatschen ,
knistern, kracken, sföhnen, summen usw., bei denen der wahr-
genommene Eindruck selbst ein Laut und das Wort ein ihm ähn-
licher Laut ist, wird gleichwohl der gehörte Schall entweder un-
mittelbar von einer Artikulationsbewegung begleitet, oder diese
assoziiert sich ohne weiteres mit ihm. Nur die Wirkung des mit
der Lautgebärde verbundenen Lautes wird in diesem Fall voraus-
sichtlich eine stärkere sein als vorhin, weil hier der Laut als solcher,
nicht bloß durch die mimischen Bewegungen, die er anregt, an den
ursprünglichen Eindruck gebunden ist und so nachträglich als eine
unmittelbare Wiedergabe desselben erscheint.
3. Lautgebärden zur Bezeichnung der Artikulationsorgane.
Die Zurückführung der Schallnachahmungen wie der Lautbilder
auf Lautgebärden macht eine Gruppe von Erscheinungen sofort
verständlich, auf die der Begriff der »Lautnachahmung« unter keinen
Umständen anwendbar ist, von denen man aber sagen könnte, sie
seien ihrer Natur nach in eigentlicherem Sinne Lautgebärden als
334 ^i^ Sprachlaute.
alle andern. Diese Erscheinungen bestehen darin, daß Organe
und Tätigkeiten, die zur Bildung der Sprachlaute in Be-
ziehung stehen, sehr häufig mit Wörtern benannt wer-
den, bei deren Artikulation die gleichen Organe und
Tätigkeiten mitwirken. Demnach erinnern diese Wortbildungen
an gewisse in der Kindersprache vorkommende Ausdruckslaute, wie
z. B. an die früher erwähnten Laute für "^essen": mum^ ham^ am
(S. 283). In der Tat mag es sein, daß hier, ähnlich wie bei den
Namen für Vater und Mutter, eine gewisse Nachwirkung der kind-
lichen Lalllaute nicht ausgeschlossen ist. Von dem Lautwandel
scheinen ferner auch diese Erscheinungen nicht wesentlich berührt
zu werden, da bei dem durch ihn bewirkten Wechsel der Laute
diese immerhin in derselben Lautklasse verbleiben, so daß die Be-
ziehung zu dem Artikulationsorgan nicht verloren gehen kann.
Übrigens ist es charakteristisch, daß sich die hierher gehörigen
Lautbilder ausschließlich auf solche Organe und deren Funktionen
beziehen, die der Sitz deutlicher Artikulationsempfindungen sind: so
in erster Linie auf Zunge und Mund, dann aber auch auf Nase und
Zähne.
So enthält vor allem der Name für das Hauptorgan der Laut-
artikulation, die Zunge, in zahlreichen Sprachen einen lingualen
oder dentalen Konsonanten als den Hauptträger des Wortes. Da
diese beiden Geräuschlaute in gleicher Weise unter ausgeprägter
Mitwirkung der Zungenbewegung entstehen, so hat der Unterschied,
ob lingual oder dental, sowie der Übergang des einen Lautes in
den andern durch eintretenden Lautwandel in diesem Fall keine
Bedeutung. Ähnlich kehrt in den Bezeichnungen des Mundes und
gewisser mit ihm zusammenhängender Tätigkeiten, wie schließen
(griech. ^ivto)^ essen (chines. ««;«, jav. mangan), still sein (hebr.
alam^ latein. mutus], der labiale Resonanzlaut wieder. In manchen
Sprachen scheint der vom Ausatmungsstrom begleitete labiale Ex-
plosivlaut gleichzeitig dem Begriff des Blasens und dem des Mun-
des zugrunde zu liegen: so im hebr. paah blasen, peh Mund. In
noch andern Sprachen, besonders in solchen des malaio-polyne-
sischen Gebiets, ist ein Ausdruckslaut, der vielleicht mit der
mimischen Nachbildung des Vogelschnabels zusammenhängt, auf die
Bezeichnung des menschlichen Mundes übergegangen: so gibt es
Lautgebärden zur Bezeichnung der Artikulationsorgane. ^35
im Malaiischen neben einem älteren Wort muliit für Mund auch
ein neueres chotok^ welches ursprünglich Schnabel bedeutet, im
Javanischen wird aber nur das Wort chochot für beide Begriffe ge-
braucht^). Alle diese Beziehungen sind keineswegs allgemeingültiger
Art. In vielen Fällen sind die Benennungen der Sprachorgane
offenbar ganz andern, für uns nicht mehr erkennbaren Ursprungs.
Doch der Zusammenhang mit Gebärdebewegungen der Artikulations-
organe ist immerhin häufig genug, um einen Zufall auszuschließen.
Übrigens ist derselbe wieder am häufigsten für die Zunge, etwas
seltener für die übrigen Organe und ihre Tätigkeit nachzuweisen^).
Im Unterschied von den gewöhnlichen »Lautnachahmungen«,
die sich in sehr vielen Fällen als sprachliche Neubildungen er-
weisen, kommen diese unmittelbaren Ausdruckslaute der Sprach-
organe gleicherweise in älteren wie in neueren Sprachformen vor;
sie scheinen daher ebenso zu den ursprünglichsten wie zu den
i) Vgl. die Worttafel bei W. von Humboldt, Kawi-Sprache, II, S. 250.
2) Zur Veranschaulichung des oben Bemerkten lasse ich hier eine Zusammen-
stellung von Wörtern verschiedener Sprachen für die genannten Organe und Tätig-
keiten folgen, die ich hauptsächlich Humboldts Kawi-Sprache, Koelles Polyglotta
Africana und Adelung -Vaters »Mithridates< entnehme. Dieses Material entspricht
natürlich in vieler Beziehung, namentlich was die Schreibung der Laute betrifft,
nicht mehr den heutigen Anforderungen. Doch darf man wohl voraussetzen, daß
die hier allein in Betracht kommenden Hauptunterschiede der Laute dabei hinreichend
zum Ausdruck kommen.
Zunge: Tiirk. dil, Ungar, hyelo, Javan. hilat^ Madec. kla^ Polyn. ehlo^ Mal. hda,
Austral. tiillmt, Afrik. (Bomu) telam, Südafr. (Basdnde) ludlmi, Mozamb. limi.
Mund: Mongol. am, Samoj. namo, Mal. mulut, Afrik. (Fulbe) bütom, Südafr.
(Ründa) mülam, Madec. niuluh.
Essen: Chines. nam, Javan. inangan, Tahit. ajnu, Madec. human, Surinam.
njam, Austral. nomang, Südafr. (Susu) nimiu.
Stille sein: Tahit. natmi, Fidschi hamu, Peruan. amu, Mpongwe-Indian. imafnu,
Hebr. alam.
Blasen: Mal. piiptit , Tongan. btibu, Neuseel. ptipiti, Austral. bobtm, Kafir.
pupuza, Galla bufa, Peruan. pumöni, Finn. pukkia, Hebr. päah, Nhd. pusten.
Für die relative Häufigkeit dieser Ausdruckslaute mag es ein gewisses Maß ab- ,
geben, daß unter den 200 von Koelle (Polyglotta Africana, 1854) aufgeführten afri-
kanischen Sprachen nach Ausscheidung aller irgend zweifelhaften Formen für die
Zunge etwa 100, für den Mund bloß 53 als Lautgebärden gedeutet werden können.
Natürlich kommt dabei in Betracht, daß vielfach Wörter gleicher Abstammung
mehreren Sprachen gemeinsam sind. Da dies aber auch für die abweichenden Wort-
bildungen gilt, so wird man jenes Maß immerhin als ein annäherndes betrachten
dürfen.
236 Die Sprachlaute.
unvergänglichsten Erscheinungen der Sprache zu gehören. Dies er-
klärt sich wohl aus den Bedingungen ihrer Entstehung. Können wir
nämlich die »Schallnachahmungen« und die »Lautbilder« als nach-
bildende Lautgebärden von ursprünglich übereinstimmendem
Charakter auffassen, die sich erst sekundär, durch die Wirkung, die
bei der ersteren Form der gehörte Laut auf den Redenden wie
Hörenden ausübte, gesondert haben, so scheinen die Ausdruckslaute
für die Artikulationsorgane und ihre Bewegungen die Bedeutung
hinweisender Lautgebärden zu besitzen. Auf diese Weise ergibt
sich eine vollständige Analogie mit den beiden allgemeineren Klassen
der nachbildenden und der hinweisenden Gebärden. Zugleich ist
aber im vorliegenden Fall der Unterschied beider Gebärdeformen
ein relativ geringerer als sonst. Denn die nachbildende Lautgebärde
erscheint lediglich als eine Übertragung der demonstrativen Be-
wegungen der Sprachorgane auf äußere, ebenfalls durch charakte-
ristische Bewegungen sich auszeichnende Objekte, so daß hier die
beiden Arten der Lautgebärde die natürlichen und notwendigen
Modifikationen einer und derselben Grundform sind, die in gewissem
Sinne nachbildend und hinweisend zugleich ist.
4. Natürliche Lautmetaphern.
Unter einer »Lautmetapher« verstehen wir im allgemeinen eine
Beziehung des Sprachlautes zu seiner Bedeutung, die sich dadurch
dem Bewußtsein aufdrängt, daß der Gefühlston des Lautes dem an
die bezeichnete Vorstellung gebundenen Gefühl verwandt ist. Solche
Metaphern sind künstlich, wenn der Dichter oder Redner die
Schallfärbung und den Rhythmus seiner Worte so wählt, daß sie
den Gefühlston des Gedankeninhalts wiedergeben. Dabei kann zu-
gleich die Lautmetapher ohne scharfe Grenze in die Lautnachahmung
übergehen. So bleibt der homerische Vers (Od. XI, 598): avTLg
eTtetra Ttedovde yivlivöero Iccag avaid^g noch im wesentlichen in den
Grenzen der Lautmetapher, die Übersetzung von Voß : *^Hurtig mit
Donnergepolter entrollte der tückische Marmor"" ist aber fast voll-
ständig zur Schallnachahmung geworden. In dem Schillerschen Lied
von der Glocke nähern sich die Verse 'Von dem Dome schwer und
bang tönt die Glocke Grabgesang" der Schallnachahmung, die Schluß-
Natürliche Lautmetaphern. ■? ■? y
verse 'Ziehet, ziehet, hebt, sie bewegt sich, schwebt" enthalten keine
Spur einer solchen, aber sie haben den allgemeinen Charakter der
Lautmetapher. Natürliche Lautmetaphern werden wir nun nach
Analogie dieser Beispiele solche Wortbildungen nennen, die auf dem
Wege der natürlichen Sprachentwicklung entstanden sind und zu-
gleich eine durch den Gefühlston des Lautes vermittelte
Beziehung zwischen diesem und seiner Bedeutung erkennen lassen.
Während die künstliche Lautmetapher, da sie ein gegebenes und
an sich im allgemeinen nicht metaphorisches Lautmaterial verwendet,
erst in größeren Wortverbänden und Satzfügungen zur Geltung
kommt, haftet diese natürliche Lautmetapher dem einzelnen Worte
selbst an. Nun braucht auch eine dichterische Lautmetapher kein Er-
zeugnis planmäßiger Absicht zu sein, sondern sie kann sich ungesucht
darbieten, lediglich unter der Wirkung des Triebes, den Ausdruck
adäquat der Vorstellung zu gestalten. Der Gegensatz des »Künst-
lichen« und »Natürlichen« bezieht sich also hier weniger auf die
Entstehung der Lautmetapher selbst als auf die der Spracherzeug-
nisse, in denen sie vorkommt. Dieser Unterschied kann dann aber
freilich zugleich den andern mit sich führen, daß die künstliche
Lautmetapher zu einer absichtlichen wird, vv^ie das bei dem an-
geführten Hexameter von Voß zweifellos der Fall ist.
Hat schon die künstliche Lautmetapher infolge der Mannigfaltig-
keit der Gefühlsassoziationen der Klänge eine gewisse Unbestimmt-
heit und Vieldeutigkeit, so gilt dies nun in noch höherem Grade von
den natürlichen Lautmetaphern, da diese dem Laut des ein-
zelnen Wortes anhaften, so daß ihnen alle die Mittel der Klang-
verbindung und des Rhythmus, deren sich poetische Lautmetaphern
bedienen, abgehen. Statt dessen kommt bei ihnen durchweg ein
anderes Moment zur Geltung, das im allgemeinen zugleich das einzig
sichere Kriterium für ihre Unterscheidung von zufälligen oder auf
eingeübter Assoziation beruhenden Beziehungen zwischen Laut und
Bedeutung bildet. Es besteht darin, daß die natürliche Lautmetapher
stets ein Glied in einer Reihe zusammengehöriger Erscheinungen ist,
aus deren Vergleichung erst der metaphorische Charakter des einzel-
nen Lautes erschlossen werden kann. »Natürliche Lautmetaphern«
setzen also stets korrelative Veränderungen von Laut und Bedeu-
tung voraus. Die Erscheinungen sind also nur dann mit einiger
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. 22
238 Die Sprachlaute.
Sicherheit als Lautmetaphern aufzufassen, wenn das einzelne Wort
nicht für sich allein dasteht, sondern Wörter von verwandtem, aber
etwas abweichendem Laut- und Bedeutungsinhalt neben sich hat,
während zugleich die Lautvariation, die beim Übergang des einen
Wortes zum andern stattfindet, mit einem Wechsel des sinnlichen
Gefühlstones der Laute verbunden ist, dem eine analoge Verände-
rung im Gefühlston der Bedeutungen parallel geht. Hierdurch wird
sofort eine große Zahl von Wörtern, in denen man oft mit Vorliebe
Lautmetaphern gesehen hat, von diesem Gebiet ausgeschlossen, weil
bei ihnen jenes Kriterium korrelativer Lautänderungen fehlt. Dahin
gehören Wörter wie Lieber, Schmerz, lind, sanft, hart usw. Von
andern wie snß, bitter, spitz, stumpf muß es wenigstens dahingestellt
bleiben, da eine umgekehrte Assoziation, bei der die dem Worte
beigelegte Bedeutung erst für den Gefühlston bestimmend geworden
ist, nicht unbedingt ausgeschlossen werden kann. (Vgl. oben S. 318.)
Auch unter diesen zweifelhaften Beispielen sind es darum wieder
solche, die, wie süfi und bitter, Gegensätze des Gefühls andeuten,
bei denen eine Lautmetapher noch am wahrscheinlichsten ist").
Beschränken wir uns auf Fälle, in denen das angegebene Merk-
mal zutriftt, so können namentlich folgende Erscheinungen mit
Wahrscheinlichkeit als natürliche Lautmetaphern angesehen werden:
i) die Bezeichnungen von Vater und Mutter mit ihren meist den
konsonantischen Bestandteilen dieser Wörter anhaftenden, dem Gegen-
satz des starken und des schwachen Geschlechts entsprechenden Laut-
farbungen; 2) die Lautabstufungen bei Wörtern, die verschie-
dene räumliche Entfernungen entweder direkt ausdrücken, wie
die Ortsadverbien, oder stillschweigend enthalten, wie die Demon-
strativ- und Personalpronomina, indem hier in vielen Fällen der
größeren Entfernung der stärkere Laut entspricht; 3) die Laut-
variationen bei Wörtern, die verschiedene Modifikationen einer
und derselben Tätigkeit bezeichnen, wobei die jedesmalige Laut-
färbung die der Bedeutungsmodifikation entsprechende Gefühlsfärbung
wiedergibt.
') Über die Wörter für süß und bitter in verschiedenen Sprachen vgl. übrigens
unten Kap. Vm, Nr. IV.
Natürliche Lautmetaphern. •25g
a. Lautmetaphern in den Wörtern für Vater und Mutter.
Der großen Analogie zahlreicher und zum Teil weit entlegener
Sprachen in den Namen für Vater und Mutter ist schon oben als
eines Zeugnisses für den Übergang gewisser Naturlaute in die Sprache
gedacht worden (S. 315 f.). In den dort erwähnten je vier Typen,
pa^ ap^ ta^ at für den Vater, ma^ am^ na^ an für die Mutter ist aber
zugleich ein Lautunterschied ausgeprägt, nach welchem dem stärkeren
Geschlecht der stärkere, dem schwächeren der schwächere Laut
entspricht, insofern wir diese Unterscheidungen des stärker und
schwächer für den Gegensatz der labialen oder dentalen Explosiv-
laute / und t gegenüber den labialen oder nasalen Resonanzlauten
111 und n hier der Kürze wegen anwenden dürfen. Denn gewiß
sind ja diese Bezeichnungen auch mit Rücksicht auf den Gefühlston
der Laute nicht erschöpfend, da namentlich die längere Dauer und
der klangartige Charakter der Resonanzlaute die Gefühlswirkung der-
selben wesentlich mitbedingt. Daß diese Regelmäßigkeit eine zu-
fallige sei, ist aber wieder durch die Zahl der Fälle ausgeschlossen.
Zwar begegnen uns einigemal die Laute pa oder ta im Namen der
Mutter, ma oder na in dem des Vaters. Doch während es Dutzende
von Sprachen gibt, in denen jene Laute im angegebenen Sinn ein-
ander gegenüberstehen, scheint nicht ein einziges Mal die umgekehrte
Korrelation vorzukommen, also z. B. gleichzeitig mama für Vater
und papa für Mutter. Dagegen findet sich in diesen und andern
Fällen gelegentlich ein vokalischer Lautunterschied, der einen ähn-
lichen Gegensatz auszudrücken scheint, indem der stärkere Vokal,
a oder ?/, für den Vater, der schwächere e oder /, für die Mutter
charakteristisch istM.
^) Einige Beispiele aus Buschmanns Tabellen (a. a. O. S. 14 ff.) mögen diese
Verhältnisse veranschaulichen. Ich wähle die Beispiele so, daß möglichst die ver-
schiedenen obenerwähnten Fälle in ihnen repräsentiert sind. Das Übergewicht der
Laute /a, ta für Vater, ma, na für Mutter tritt dadurch numerisch nicht so stark
wie in den Originaltabellen her%'or.
Asiatisch-europäische Sprachen:
Semitisch Türkisch Mongolisch Tungusisch Finnisch Baskisch
Vater: ab ata, aba aba ami oeta, atya aita
Mutter: am ana ege aenni ejine ama
340
Die Sprachlaute.
Für diese Korrelation, die durch ihre große Häufigkeit den Zu-
fall ausschließt und durch die Beschaffenheit der Lautgebilde den
Gedanken an die Lalllaute des Kindes unmittelbar nahelegt, sind im
allgemeinen drei Erklärungen gegeben worden. Erstens meint man,
der Laut ina sei der frühere und der häufigere unter den vorsprach-
lichen Artikulationen des Kindes; darum sei er für die Mutter ge-
wählt worden, worauf der andere pa allein für den Vater übrig-
blieb'). Diese Deutung scheitert jedoch aus mehreren Gründen.
Zunächst ist es überhaupt nicht richtig, daß der w^-Laut der ur-
sprünglichere 'und der häufigere sei. Wenigstens gilt das nicht,
wenn man an die Lalllaute des Kindes denkt, unter denen ba ba^
pa pa^ da da usw.. Laute, die den Vater zu charakterisieren pfle-
gen, weit überwiegen^). Sodann aber müßte nach dieser Theorie
notwendig erwartet werden, daß der ;/z«-Laut als Muttername der
frequentere, der /«-Laut als Vatername der seltenere sei. Wiederum
ist aber, wie schon eine flüchtige Durchmusterung der Vokabula-
rien lehrt, das Gegenteil richtig-^). Nach einer zweiten Hypothese
Vater:
Mutter :
Vater :
Mutter :
Afrikanische Sprachen:
Kosah Bechuana Mozambique Suaheli Kongo
vao baato tete, titi habe tata
mao naacho matna. amao amowo mania
Galla Hottentottisch
aba
hada
Amerikanische Sprachen:
Lummi-Ind. Cataquina Kuki Khajin Dakota
man payu pah aviay atä
tan nayti nah hiey innan
tip
mama
Cherokee
atoteh
atsin?
Malaio-polynesische Sprachen:
Malaisch Javanisch Bugi Madecassisch Tagalisch Neuseeländisch
Vater: /a, baba hapa ama rai, baba awa matua tane
Mutter: avia ma ina reni ina matiia wahina
(Elter Mann, Elter Frau).
^] Sütterlin, Das Wesen der sprachlichen Gebilde, S. 31.
2) Dies lehren nicht bloß meine eigenen Aufzeichnungen, sondern auch die Mit-
teilungen von Preyer u. a. Vgl. z. B. Preyer, Die Seele des Kindes, 3 S. 370 ff.
424 ff. Moore, The Child, p. 116.
3) In Koelles Vokubularien afrikanischer Sprachen, die, wenn sie auch heutigen
lautphysiologischen Ansprüchen nicht mehr völlig genügen, für die verhältnismäßig
rohen Artikulationsunterschiede, um die es sich hier handelt, einen vergleichenden
Maßstab abgeben können, finde ich in einer Gesamtzahl von 200 Sprachen 158 Fälle
des Typus pa oder ta für Vater, und nur 99 Fälle des Typus 7na oder na für Mutter.
Im Mutternamen spielt eben die vokaHsche Dämpfung eine größere Rolle, und sie
Natürliche Lautmetaphem. 341
soll ebenfalls der Muttername der Ausgangspunkt der Unterschei-
dung gewesen und die Bezeichnung des Vaters daher nur als eine
zufällige Ergänzung desselben entstanden sein, der ma -'La.ut für die
Mutter soll aber an die Saugbewegungen des Kindes erinnern").
Abgesehen davon, daß die vorhin erwähnte größere Häufigkeit des
/«-Lautes für den Vaternamen auch mit dieser Interpretation un-
vereinbar ist, dürfte jedoch die Behauptung, das bald glucksende
bald schmatzende Geräusch des trinkenden Säuglings erinnere an
den Laut ;;/«, bei jedem, der Säuglinge beobachtet hat, erheblichen
Bedenken begegnen. Eher ließe sich, wenn man einmal zufällige
und einseitige Assoziationen zu Hilfe nehmen will, an die Möglich-
keit denken, daß zwar nicht unter den zur Zeit der Wortbildung
vornehmlich in Betracht kommenden Lallworten des Kindes, wohl
aber von frühe an unter den Schreilauten der Laut ma nicht selten
vorkommt. Da könnte dann allenfalls auf die Mutter, die das
schreiende Kind beruhigt, dieser Schreilaut übertragen worden sein.
Mag man das nun immerhin, nach dem Prinzip der Komplikation
der Bedingungen, als eine möglicherweise mitwirkende Ursache gel-
ten lassen, für die Gesamtheit der Erscheinungen würde auch diese
Interpretation unzulänglich sein, teils wegen des schon erwähnten
Übergewichts der pa- und /«-Laute für den Vater, teils weil sie
überhaupt für alle die Fälle nicht zutrifft, in denen die Unterschei-
dung ganz und gar dem Gebiet der Vokalbildung angehört, hier
dann aber nicht minder in einer den Zufall ausschließenden Regel-
mäßigkeit in dem oben angegebenen Sinne zu beobachten ist, wie
vor allem im Gebiet der amerikanischen und zum Teil auch der
ural-altaischen Sprachen. Dies führt zugleich auf die dritte der
möglichen Erklärungen, die jedenfalls den Vorzug hat, daß sie alle
Erscheinungen dieses Gebietes zusammenfaßt und für beide Eltern-
namen zutrifft, nicht den einen, und dazu noch den konstanteren,
als bloßes Produkt des Zufalls ansieht. Ein solcher Zufall wird
ohnehin schon dadurch unwahrscheinlich, daß hier die Lautgebilde
selbst zumeist in einer deutlich erkennbaren Korrelation stehen.
findet sich bei sonst abweichender Lautbildung auch da, wo der Vatername jenen
häufigsten Typen folgt.
I) Delbrück^ Grimdfragen der Sprachforschung, S. 78.
242 Die Sprachlaute.
Dabei können dann diese Lautbeziehungen äußerlich von sehr ver-
schiedener Beschaffenheit sein, während sie doch in dem psycho-
logischen Charakter der Lautdifferenzierung übereinstimmen. Laut-
gebilde wie papa und inaina auf der einen, ama und ina auf der
andern Seite sind ja an sich außerordentlich verschieden. Aber in
einer dem zweiten Wort eigenen Schwächung des Lautes stimmen
sie überein. Und da nun diese Form sich begleitender Verände-
rungen nicht auf wenige Fälle beschränkt ist, sondern in einer
großen Zahl der lebenden Sprachen immer und immer wieder-
kehrt, so haben wir allen Anlaß, einen psychologischen Grund zu
vermuten. Hierbei ist jedoch zu bedenken, daß nicht das Kind,
sondern die erwachsene Umgebung im Verkehr mit dem Kinde auch
diese Lautdifferenzierung geschaffen hat, da gerade die Namen für
Vater und Mutter, wie schon Preyer bemerkte, nachweislich immer
erst von außen dem Kinde dargeboten und von ihm meist nur all-
mählich richtig angewandt werden*). Eben darum nehmen nun
diese Namen an jenem allgemeinen Zug zu onomatopoetischen Bil-
dungen teil, die weder das Kind noch der Erwachsene für sich
zustande bringen würde, die sich aber mit instinktivem Zwang als
eine natürliche Ausdrucksform einstellen, wo sich die Umgebung
des Kindes diesem unter Benutzung seines Lautmaterials verständ-
lich machen will. Wo eine eigentliche Lautnachahmung nicht zu
Gebote steht, da greift dann die Mutter oder Amme zur Laut-
metapher, das heißt zu Lautbildern, die zu den Gegenständen selbst
keine objektiven Beziehungen haben , denen aber eine dem Unter-
schied der Objekte entsprechende Verschiedenheit des Gefühlstones
eigen ist. Somit ist die Entstehung der Bezeichnungen für Vater
und Mutter kein spezifischer Ausnahmefall, sondern sie zeigt nur in
einer stabil gewordenen Form eine Erscheinung, die sich in einer
vergänglicheren Weise in den fortwährend entstehenden und ver-
schwindenden Lautmetaphern der Kinderstube unter unsern Augen
ereignet. In dem Verkehr zwischen Mutter und Kind hat jeder
Sprachlaut seinen Gefühlston, mag er nun in die vorgefundenen
Vv^örter hineingelegt werden, oder mag er in neuen Lautbildungen
sich Luft machen.
i) Preyer, Seele des Kindes,^ S. 353. "Vgl. oben S. 276 ff.
Natürliche Lantmetaphern. -543
b. Lautmetaphern in Ortsadverbien und Pronominalformen.
Erscheint die vokalische Lautabstufung bei der Unterschei-
dung von Vater und Mutter als eine seltenere Lautmetapher, so
scheint dieselbe dagegen bei der Unterscheidung der Orts-
begriffe entschieden vorzuwalten. Sie besteht hier in einer Kor-
relation zwischen Lautsteigerung und Zunahme des
Raumes. In manchen Sprachen ist diese Beziehung eine so
regelmäßige, daß hier ebenso wie oben der Zufall nach den
Regeln der Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist. Besonders die
Sprachen der Natur- und primitiven Kulturvölker zeigen diese Er-
scheinung in augenfälliger Weise, während sie z. B. in den semi-
tischen und indogermanischen Sprachen entweder ganz fehlt oder
sich jedenfalls der sicheren Nachweisung entzieht. Ahnlich den
Ortsadverbien ""hier' und Mort' verhalten sich in dieser Beziehung
die Demonstrativpronomina "^dieser' und 'jener . Wie der entferntere
Ort, so wird die entferntere Person gewöhnlich durch Steigerung
des Vokaltones ausgedrückt, wobei durchweg ß, o und u als die
stärkeren, e und i als die schwächeren Vokale erscheinen. Daneben
kommen dann auch konsonantische Lautverstärkungen vor^).
Augenfällige Zeugnisse für das Vorkommen natürlicher Laut-
metaphern in diesen Fällen liefern die Sprachen mancher Natur-
') Das folgende Verzeichnis mag diese Sätze veranschaulichen.
Ortsadverbien.
Madecassisch Tahitisch Tagalisch Japanisch Dhimalisch Ossetisch
hier: io io nei dito ko ita am
dort: ao ia na taon ka uta um
Suluanisch Sahaptinisch Mutsunisch Tarahumaranisch Vai
hier: apa kina ne ibe m
dort: apo kuna nu abe nu
Demonstrativpronomina.
Javanisch
Neuseeländisch
Tagalisch
Tamulisch Dhimalisch
Sos
dieser : iki
tinei
dini
i iti
yo
jener: iku
tera
yari
a uti
na
Mande
Vai
Jorubanisch
Abchassisch
Magyarisch
dieser : nyin
me
tia
abri
ez
jener: wo
ke
ni
ubri
az
344 -^i^ Sprachlaute.
Völker namentlich da, wo sich in ihnen eine mehrfache Abstufung
solcher Unterschiede ausgebildet hat, eine Erscheinung, die nicht
ganz selten vorkommt, und die durchaus der konkreten Form des
Denkens in diesen Sprachen gemäß ist. So finden sich in den
polynesischen Sprachen im allgemeinen drei Ortsabstufungen mit
den Stammsilben «z, nei^ na und ra ; nur in einzelnen dieser Spra-
chen haben sich aber alle drei Abstufungen erhalten. Ebenso ver-
hält es sich mit den Abstufungen des Demonstrativpronomens, wo
das Neuseeländische die Steigerungsformen tenei^ tena^ tera (oder
enei^ eiia, era), Mieser', 'jener hier', "^jener dort', besitzt, die wieder
nichts anderes als pronominale Umwandlungsformen der drei Orts-
adverbien nei^ na, ra sind (*^hier', "dort', Mort in der Ferne' oder, von
der Zeit gebraucht, Mamals'j. Das Tahiti hat dafür die drei Stufen teie
Mieser', teienei '^ diQSQV dor^ und taua ra 'jener' ^). Der Übergang von
der ersten zur zweiten Stufe wird also meist durch Vokalsteigerung,
der von der zweiten zur dritten durch konsonantische Verstärkung
vermittelt. Ebenso besitzen die einander verwandten Mande-Neger-
sprachen für die Abstufungen der Orts- und der Personenbezeich-
nung zumeist Vokalsteigerungen, zuweilen aber auch Konsonanten-
verstärkungen : z. B. für 'dieser' und 'jener' im Soso yi und na, im
Mande 7iyin und luo, dagegen im Vai inc und ke\ für 'hier' und
'dort' hat das letztere wieder verschiedene Abstufungen, nämlich nie
und nu, oder auch nihne, mime \xnd Ji?iro^). Alle diese Erscheinun-
gen zeigen freilich zugleich, daß die Gefühlsbetonungen der Laute
keine konstanten, in allen Sprachen übereinstimmenden Werte sind.
Auch können sie ja nicht nur von Akzent und Dauer der Laute,
sondern vielleicht sogar von wechselnden Assoziationen abhängen.
Darum kann hier immer erst eine größere Zahl parallel gehender
Variationen von Laut und Bedeutung eine entsprechende Lautmeta-
pher wahrscheinlich machen.
Analoge Lautabstufungen scheinen endlich bei dem Personal-
pronomen weitverbreitet vorzukommen. Dieser Fall ist wohl
ebenfalls den räumlichen Entfernungsunterschieden zuzuordnen. Doch
1) Buschmann in Humboldts Kawi-Sprache, III, S. 819. Fr. Müller, Grundriß der
Sprachwissenschaft, II, 2, S. 29.
2) Steinthal, Die Mande-Negersprachen, S. 81 ff.
Natürliche Lautmetaphern.
345
dürfte in manchen Fällen noch ein anderes Moment mitwirken,
das der Lautmetapher ihren eigenartigen Charakter verleiht. Auf-
fallend häufig kommen nämlich für das '^Ich' die Resonanzlaute,
namentlich der labiale Resonanzton ?;/, in sonst gänzlich stammes-
fremden Sprachen vor. Da schon der Naturmensch nach weitver-
breiteten animistischen Vorstellungen sein Ich in das Innere seines
Körpers verlegt, so mag die Assoziation des bei verschlossenen
Lippen vorgebrachten Lautes mit dem eigenen Innern hier als eine
natürliche Lautmetapher für das Ich empfunden werden. In ein-
zelnen Fällen, wie z. B. im Lateinischen, Griechischen, Deutschen, ist
der labiale Resonanzlaut aus der Nominativform verschwunden, wäh-
rend er im Akkusativ erhalten blieb {cj^v — ;;/^, ü/i — mich). Diese
Lautanalogien haben bisweilen einen genealogischen Zusammenhang
der Sprachen oder eine äußere Übertragung vermuten lassen. Wenn
aber die Lautabstufungen ina^ ta^ sa^ mit denen das Sanskrit das
Ich, Du und Er bezeichnete, nicht nur mit dem Hebräischen ani^
atta, Im und dem moji^ ton^ son des Lappen, sondern auch mit dem
a;/, ad^ u [ai] des Somali, und selbst dem en^ z, a des Mande-
Negers und mit den gleichen Formen noch vieler andrer Sprachen
eine nähere oder entferntere Lautähnlichkeit haben, oder wenigstens
analoge Lautvariationen darbieten, so kann namentlich in den letz-
teren Fällen weder an ursprüngliche Verwandtschaft noch selbst an
eine frühe Übertragung gedacht werden']. Denn das Ich und das
Du (für die dritte Person tritt zumeist ein Demonstrativpronomen ein)
^) Die folgende Übersicht, ein kurzer Auszug aus den Paradigmen in Fr. Müllers
Grundriß der Sprachwissenschaft^ mag das oben Gesagte veranschaulichen.
Sanskr. Hebräisch Somali Lappisch Türkisch Mandschu Mongolisch
via [aham] ani an mon ben bi ben
ta [tvavi] atta ad ton sen si tschi
Im
Ol
tere
tere
Tumelisch
Madecassisch Hawaiisch
Javanisch
Südaustralisch
Loango
Kongo
ngi
alm
au
haku
ngai
i
meno
ngo
ano
koi
kowe
ninna
u
nge
ngu
iza
ja
hiya
pa
ka
oyandi
Amakosa
Mande
Lenni-Lennape
Sahaptin
mina
en
ni
in
wena
i
ki
im
Jena
a
neka
ipi
ja6 Die Sprachlante.
gehören überall zu den frühesten Bestandteilen der Sprache. Auch
ist hier der wirkliche genealogische Zusammenhang, wie er z. B. die
verschiedenen indogermanischen Sprachen verbindet, von der wahr-
scheinlich nur durch übereinstimmende Lautmetaphern vermittelten
Analogie, wie sie zwischen den indogermanischen und semitischen
oder gar den oben genannten afrikanischen Sprachgebieten existiert,
ohne weiteres zu unterscheiden. Dort tritt uns eine eigentliche
Lautverwandtschaft, hier bloß eine analoge Abstufung der Laute
bei im übrigen meist völliger Verschiedenheit derselben entgegen.
So finden sich denn auch in der Art dieser Abstufung die mannig-
faltigsten Unterschiede. Bald wird der Übergang von der ersten
zur zweiten und von dieser zur dritten Person durch Vokalände-
rung, bald durch einen Wechsel konsonantischer Laute, bald gleich-
zeitig durch beides ausgedrückt. Für die erste Person sind die
Resonanzlaute mit zurückgehaltenem Luftstrom nicht nur in den
indogermanischen, semitischen, finnischen, sondern auch in vielen
amerikanischen und afrikanischen Sprachen charakteristisch. Der
zweiten Person entspricht nicht ganz in gleicher, aber doch in
ziemlich weiter Verbreitung ein explosiver Zungenlaut t oder d^ wie
er wohl als eine hinweisende Zungengebärde gedeutet werden kann.
Beim Übergang zur dritten Person tritt dann meist ein Hauch- oder
Zischlaut (//?/, se^ son) an dessen Stelle, wobei man vielleicht daran
denken darf, daß der gleichzeitig explosive, aber gedehntere Laut
die größere Entfernung der Person ausdrückt. In den Sprachen
der Naturvölker überwiegen, bei manchen vielleicht unter dem Ein-
fluß des Schwindens konsonantischer Laute, die Vokalsteigerungen,
und nur in seltenen Fällen haben sich , möglicherweise unter dem
nämlichen Einfluß, die Unterschiede ganz verwischt.
c. Korrespondierende Laut- und Bedeutungsvariationen bei
Tätigkeitsbegriffen.
Eine dritte Reihe hierher gehöriger Erscheinungen besteht in
jenen Lautvariationen stammverwandter Wörter, bei denen die Ver-
änderung der Laute eine natürliche Lautmetapher für die gleichzeitige
Veränderung der Bedeutung ist. Im Unterschiede von den vorigen
Fällen, wo das Wort schon in seinem ursprünglichen Lautgehalt als
irgendwie adäquat seiner Bedeutung aufgefaßt werden konnte, ist
Natürliche Lautraetaphern. ^47
demnach hier eine solche Beziehung an dem ursprünglichen Wort-
stamm in der Regel nicht zu erkennen. Erst die von dieser an-
scheinend indifferenten Grundlage ausgehenden Lautvariationen lassen
sie hervortreten. Dahin gehören in erster Linie die von Pott nament-
lich auf dem Gebiet der indogermanischen Sprachen näher verfolgten
Erscheinungen der von ihm so genannten »Wurzelvariation« ^). Man
wird diese Bezeichnung beibehalten können, auch wenn man mit
Pott der Ansicht ist, die einzige empirische Bedeutung der »Wurzel«
bestehe darin, daß sie ein in einer Reihe zusammengehöriger Wörter
vorkommender übereinstimmender Lautkomplex sei ^). Die »Wurzel-
variation« besteht darin, daß uns Reihen von Wörtern entgegen-
treten, aus denen sich zwar kein identischer, aber doch ein ähn-
licher Lautkomplex herauslösen läßt. Hier kann nun zugleich in
vielen Fällen die Variation der Laute als natürliche Lautmetapher
für die Verschiedenheit der Begriffe gedeutet werden. Dabei bleibt
ganz dahingestellt, ob eines der auf solche Weise durch Lautanalogie
verbundenen Wörter früher war als das andere, wo sich dann dieses
nach jenem gebildet hätte, oder ob etwa die einzelnen Wörter eine
ursprünglich verschiedene Lautgestalt besaßen und sich erst sekundär
infolge der Beziehungen ihrer Bedeutung, die ja ebenfalls wieder
eine ursprüngliche oder eine gewordene sein kann, einander ange-
glichen haben. Alle diese und vielleicht noch andere Möglichkeiten
könnten in einzelnen Fällen zutreffen, und die wirkliche Entstehung
der Lautvariationen mag daher ein sehr vielgestaltiger Prozeß sein.
Für die vorliegende Frage ist dies gleichgültig. Denn, wie sich
auch die Erscheinungen entwickelt haben, unter allen Umständen
bezeugen sie eine Affinität zwischen Laut und Bedeutung, die in der
Zeit ihrer Entstehung wirksam war.
Die in Rede stehenden Korrelationen beziehen sich demnach
auf lautverwandte Wortreihen, denen sinnverwandte Begriffsreihen
gegenüberstehen, so daß man annehmen kann, der einer solchen
Reihe gemeinsame Lautcharakter drücke das in allen einzelnen
Vorstellungen Übereinstimmende aus, während die Lautmodifikationen
den Begriffsänderungen parallel gehen. Manche dieser Erscheinungen
') Pott, Etymologische Forschungen, 1,- S. 27, 167. 11,2 s. 272.
2i Vgl. unten Kap. V, Nr. HI, 2.
^ lg Die Sprachlaute.
reichen unmittelbar in das Gebiet der eigentlichen Lautgebärden
hinüber. Aber auch in diesen Fällen können in der nämlichen
Wurzelreihe Variationen vorkommen, bei denen wohl nur eine natür-
liche Lautmetapher vorliegt. So gibt es eine Reihe indogermanischer
Wurzeln, die mit dem Laute kr beginnen und die sämtlich den Be-
griff des Geräusches in irgendeiner Weise modifiziert ausdrücken.
Kommt noch der explosive Auslaut k hinzu, so wird daraus der
Begriff des lauten Geräusches; die einzelnen Modifikationen dieses
letzteren werden dann durch die verschiedenen vokalischen Inlaute
ausgedrückt: krak das plötzliche, laute Geräusch {(/.ociZto krächzen),
krank den dauernden, dumpferen lauten Schall [v.quvy)] Lärm), krik
den scharfen eindringenden Laut {/.guto kreischen, schwirren). Alle
diese Formen lassen sich zugleich als »Lautnachahmungen« deuten.
Sie verhalten sich ähnlich etwa unseren deutschen Wörtern schnarren^
sc/murren, sc/n^'irren u. a.
Die nämliche Erscheinung begegnet uns, zugleich in ihren mannig-
fachsten Übergängen zwischen direkter Lautgebärde und Laut-
metapher, in den semitischen Sprachen. Die Laut\"ariation besteht
hier in einem Wechsel des i\uslautes der in diesen Sprachen in der
Regel zweisilbigen Wortstämme \). So in der folgenden Wortreihe :
para lösen, parad trennen, parat von sich werfen, pat'avi teilen,
paras zerstreuen, paraz ausbreiten, parak brechen, parar spalten.
Die Beziehung zwischen Laut- und Bedeutungsvariation ist augen-
fällig; aber von einer eigentlichen Lautnachahmung läßt sich nur
selten reden. Höchstens findet sich insofern eine direkte Beziehung
zwischen Laut und Bedeutung, als die dauerndere Tätigkeit durch
einen dauernderen, die intensivere durch einen stärkeren Laut ver-
sinnlicht wird. So stehen sich z. B. parad trennen und parak
brechen, sarah ausbreiten und sarak aussprengen, parad trennen
und parar spalten, garab rauh sein und garar schnarren, gaal
^) Eingehend hat auf diese Gruppen zusammengehöriger Wortstämme Gesenius
hingewiesen in seinem > Ausführlichen Lehrgebäude der hebräischen Sprache«,
S. 183 ff., vgl. Hebr. Grammatik,i4 S. 71. In jedem hebräischen Lexikon fallen
diese zusammengehörigen dreikonsonantigen Wortstämme sofort in die Augen. Es
versteht sich übrigens von selbst, daß der onomatopoetische Charakter derselben
von der Frage ihres Ursprungs ganz unabhängig ist; wie denn ja auch im Deut-
schen Wörter wie klirren , knistern , klatschen , zwitschern u. a. deshalb , weil sie
OToßenteils Neubilduns:en sind, keineswess aufhören Lautnachahmimgen zu sein.
Natürliche Lautmetaphern. ^^g
wegwerfen und gaar zurückstoßen gegenüber. Nun läßt sich wohl
sagen, das explosive k im Auslaut mache im Vergleich mit andern
Lauten den Eindruck des Plötzlichen, Gewaltsamen, der Zitter-
laut r den einer intensiven, dauernden oder sich wiederholenden
Tätigkeit. Dennoch handelt es sich dabei offenbar um die Über-
tragung anderweitiger Sinneseindrücke in die Lautform oder vielmehr
in eine Lautgebärde, die entsprechende Modifikationen der Lautform
hervorbringt. Diese Übertragung beruht aber in erster Linie auf
der Verwandtschaft des den Eindruck und des die Lautgebärde und
den Laut begleitenden Gefühlstones, einer Assoziation, die wir oben
als die wesentliche Bedingung der natürlichen Lautmetapher kennen
lernten (S. 337).
Neben diesen, der »Wurzel Variation« der indogermanischen
Sprachen an die Seite zu stellenden Variationen des Auslautes der
VVortstämme besitzen übrigens die semitischen Sprachen noch eine
zweite mit der Wortflexion verbundene Form von Lautvariation,
die teils zu den Präfixbildungen, teils zu den Umlauterscheinungen
gehört, während sie im Hinblick auf die Richtung der Lautänderun-
gen wohl zugleich den natürlichen Lautmetaphern zugezählt werden
kann: es sind dies jene Konjugationsformen, welche die verschie-
denen Arten einer Handlung, die reflexive, passive, kausative, itera-
tive, bezeichnen. Diese Formen des sogenannten Niphal^ Pi'cl^ Pual,
Hipliilj Hophal^ Hitpael usw. verraten zum großen Teil schon in
ihren den einzelnen Flexionen des hebr. Verbums päal entnommenen
Benennungen eine metaphorische Beziehung zwischen Laut und Be-
deutung; und wo diese bei einzelnen Formen undeutlicher ist, wird
sie durch deren Einordnung in die Reihe wahrscheinlich. Zwei
direkt auf die Veränderung des begleitenden Gefühls hinweisende
Mittel sind es nämlich, die hier zur Anwendung kommen: erstens
die Erhöhung und Vertiefung des Vokaltones, von denen jene einer
erregenden, diese einer herabstimmenden Gefühlswirkung entspricht;
und zweitens Verstärkungen des Anlautes durch Präfixe. Diese
drücken im allgemeinen eine verstärkende, dabei aber je nach der
Beschafienheit der Verbindung wechselnde Modifikation der Be-
deutung, namentlich eine reflexive oder kausative oder eine Ver-
einigung beider, aus. Am klarsten tritt hier die natürliche Laut-
metapher in der Erhöhung und Vertiefung des vokalischen Inlautes
35© Die Sprachlaute.
hervor, während sich bei den mit Präfixen versehenen Formen dazu
noch eine Art hinweisender Lautgebärde zu gesellen scheint. So
enthält das Piel den reinen Begriff der Verstärkung und Wiederholung
der Handlung, z. B. schäal bitten, schiel betteln; im Pual ist im
Gegensatze dazu der Begriff des Leidens ausgeprägt: kätal schlagen,
kiittal geschlagen werden. Das Niphal steht an dem andern Ende
dieser Formenreihe: es enthält bloß die als Präfix hinzugefügte Laut-
gebärde, ohne Änderung des vokalischen Inlautes: satar verhüllen,
nistar sich verbergen. Eine Kombination beider Ausdrucksmittel
findet sich im Hiphil und Hitpael, von denen das erstere im allge-
meinen rein kausativ ist: kadasch heilig sein, hikdisch heiligen, für
heilig erklären; das zweite reflexiv und kausativ zugleich: hitkadesch
sich heiligen. Daneben steht die Form des Hophal, die wiederum
die passive Bedeutung durch die Vertiefung des Vokaltones anzeigt :
hokdasch geheiligt werden. Außer diesen Formen, in denen sich
Lautmetapher und Lautgebärde direkt zu verbinden scheinen, fehlt
es endlich nicht an solchen, in denen eine reine Lautnachahmung
hervortritt. So bei gewissen seltneren Konjugationen, die eigens dem
Ausdruck rasch sich wiederholender Bewegungen dienen und daher
auch nur bei den zu einer solchen Bildung herausfordernden Verbal-
stämmen vorkommen. Hierher gehören z. B. die Formen des semi-
tischen Palpel: von zalal klingen zilzel klingeln, von gara ziehen (den
Atem) gar gar gurgeln. Diese Erscheinungen zeigen deutlich, daß
die Einordnung einer Verbalform in ein allgemeingültiges Flexions-
schema die Mitwirkung onomatopoetischer Motive keineswegs aus-
schließt, sondern daß auch hier die Geltung des Prinzips des Zu-
sammenwirkens mehrfacher Ursachen bei komplexen Wirkungen
wahrscheinlicher ist als das Gegenteil. So könnte es z, B. sehr wohl
sein, daß das hebr. Pual zunächst durch eine rein äußere Ursache
den tiefen Inlaut gewonnen hat^j. Aber wenn dann dieser auch
auf alle anderen passiven Formen übergegangen ist i Hophal, Hotpael]
für die sich eine solche äußere Ursache nicht nachweisen läßt, so
würde immer noch ein an die passive Bedeutung als solche ge-
^) In der Tat wird im Ägyptischen das Passiv durch Suffigierung von ut oder
tu gebildet, woraus möglicherweise durch Eindringen des u in den Wortkörper die
Form des Pnal entstanden sein könnte. (Fr. Müller, Grundriß, III,^, S. 271. P. W.
Schmidt, Mitteilungen der anthropol. Ges. in Wien, Bd. 33, 1903, S. 371.)
Natürliche Lautmetaphern. 351
bundener Grund dieser Ausdehnung wahrscheinlich sein. Ebenso
kann man wohl bezweifeln, ob garah ziehen an und für sich schon
onomatopoetisch sei; daß gargar gurgeln eine wirkliche Lautnach-
ahmung ist, wird man aber schwerlich bestreiten. Man wird dem-
nach auch annehmen dürfen, daß das psychologische Motiv zur
Entstehung der Palpel-Yoxm in diesem Fall eben die entstehende
onomatopoetische Wirkung selbst gewesen sei.
Die zuletzt angeführten Beispiele bilden zugleich treffende Belege
für den allgemeinen Zusammenhang zwischen den natürlichen Laut-
metaphern und den eigentlichen Lautnachahmungen oder, wie wir
sie nach dem früher Gesagten besser nennen, zu den nachahmen-
den und hinweisenden Lautgebärden. Bei den Palpelformen
des Semitischen sind die Bewegungen der Artikulationsorgane so
treue Nachbildungen der gesehenen und gehörten Schallbewegungen,
daß der Laut von selbst zur Lautnachahmung werden kann. Aber
nur selten fordern die äußeren Eindrücke so unmittelbar zu ihrer Nach-
bildung heraus. Dann bleibt gleichwohl eine hinweisende Laut-
gebärde möglich, und sie tritt naturgemäß auf, sobald die Handlung
durch ihre Beschaffenheit zu einem Hinweis anregt. Diese Bedingung
ist nun in besonderem Grade bei den reflexiven und kausativen
Formen, bei denen vorzugsweise hinweisende Präfixe vorkommen,
erfüllt. Daß z. B. die Handlungen des Sichverbergens , des Heilig-
sprechens in ganz anderem Maß einen Hinweis veranlassen, als die
des Verhüllens, des Heiligseins, ist augenfällig. Dazu kommen end-
lich noch Modifikationen der Bedeutung, zu deren Ausdruck weder
nachahmende noch hinweisende Lautgebärden zur Verfügung stehen,
die sich aber um so entschiedener durch ihren eigentümlichen
Gefühlston auszeichnen. Hierher gehört namentlich einerseits die
Steigerung einer Handlung, wie sie entweder unmittelbar durch
intensivere Aktion oder mittelbar durch Wiederholung der nämlichen
Tätigkeit hervorgebracht werden kann, und anderseits die Umkeh-
rung dieses Vorganges, das Leiden, das durch das Erdulden einer
Handlung entsteht. Hier beginnt das Gebiet der reinen natürlichen
Lautmetaphern, die nun wohl durch die Gegensätze der Erhöhung
und der Vertiefung des Vokaltones ausgedrückt werden können.
Als bloße Empfindungen, ohne Rücksicht auf das begleitende Ge-
fühl betrachtet, haben diese Veränderungen gerade so wenig eine
ß c 2 Die Sprachlaute.
Beziehung zu den entsprechenden Variationen der Bedeutung, wie
hohe Töne zu hellen Farben und tiefe Töne zu dunkelm Lichte. Hier
wie dort wird diese Beziehung erst durch die Gefühle vermittelt,
welche die Empfindungen begleiten, und in beiden Fällen handelt es
sich in der Tat um die gleichen Gegensätze der erregenden und
deprimierenden Gefühle. Die intensivere oder wiederholte Tätig-
keit wirkt erregend, der Zustand des Leidens niederdrückend. Beide
finden so in Lautartikulationen ihren natürlichen Ausdruck, die sich
schon im Gebiet der ursprünglichen Naturlaute, bei den primären
Interjektionen, in der verschiedenen Vokalfärbung des Ausrufs kund-
geben (S. 308). Wie der Zuruf, der auf einen starken Sinneseindruck
reagiert und eventuell die Aufmerksamkeit eines Andern auf den
nämlichen Eindruck lenken soll, in hohen und hellen, der verhaltene
Schmerz in tiefen und dumpfen Vokaltönen der Interjektionen sich
äußert, so wird, wenn auch in abgedämpfterem Maße, infolge der
nämlichen Assoziationen der Gefühle der hohe Vokalton zum Aus-
druck des Intensiven und Iterativen, der tiefe zu dem des Passiven.
Diese reinen Gefühlsänderungen der Laute vermischen sich aber
ohne weiteres, und ohne daß sichtlich irgendwie ein Unterschied
zwischen diesen Ausdrucksmitteln zum Bewußtsein kommt, mit den
Lautgebärden, wie das so charakteristisch die gemischten Formen
des Hiphil, Hophal, Hitpael usw. zeigen. Kommt doch auch bei
ihnen in dem Präfix, das als Wirkung einer demonstrativen Laut-
gebärde aufgefaßt werden kann, neben dem Hinweis auch noch
die Steigerung und Vertiefung des Vokaltones in der Unterschei-
dung der aktiven und passiven Form zur Geltung. So müssen wir
uns denn überhaupt vorstellen, daß alle diese Mittel des Aus-
drucks, Lautgebärden verschiedener Art und Lautmetaphern, nicht
in der Wirklichkeit, sondern nur in unserer unterscheidenden psycho-
logischen Abstraktion voneinander zu sondern sind. Wie diese Aus-
drucksmittel ohne Wahl und Überlegung, rein triebartig zur An-
wendung kommen, als Reaktionen, die von selbst den Eindrücken
folgen, weil eine natürliche psychologische Affinität die Ausdrucks-
bewegungen mit den sie erregenden Reizen verbindet, so kommt
es auch in dem unmittelbaren Bewußtsein niemals zu einer Unter-
scheidung der verschiedenen psychologischen Bedingungen, unter
denen jene Affinität möglicherweise stehen kann. Vielmehr er-
Natürliche Lautmetaphern. jeq
scheinen Lautgebärden und natürliche Lautmetaphern gleicherweise
unmittelbar als adäquate Reaktionen auf den Eindruck. Durch dieses
Verhältnis rechtfertigt sich nun auch die Bezeichnung »natürliche
Lautmetaphern« für die zuletzt erörterte Gruppe von Erscheinungen.
Dem allgemeinen Begriff der »Metapher« fügen sie sich deshalb,
weil sie einerseits durch Gefühlsassoziationen vermittelte Über-
tragungen des Eindrucks auf ein anderes Sinnesgebiet, nämlich
direkt auf das der Artikulationsempfindungen, und dann weiterhin
indirekt auf das der Schallempfindungen sind, und weil anderseits
durch diese Übertragung die Gefühlswirkung des Eindrucks verstärkt
wird — zwei Merkmale, die der Metapher auch in ihren »künst-
lichen« Formen eigen sind^). »Natürlich« ist aber die ursprüngliche
Lautmetapher deshalb, weil sie unter der unmittelbaren Wirkung
der natürlichen Motive der Ausdrucksbewegungen entsteht, indem
sie die Lautgebärde je nach Umständen ergänzt oder verstärkt, ohne
daß ein bestimmtes Bewußtsein ihres Unterschiedes von dieser und
der stattfindenden Übertragung auf ein anderes Sinnesgebiet über-
haupt besteht. Diese Bedingungen bringen es dann freilich auch
mit sich, daß die natürliche Lautmetapher Wirkungen entfaltet, die
von denen der poetischen Metapher weit abliegen, und auf denen
eben ihre die nachahmenden und hinweisenden Gebärden ergänzende
Bedeutung beruht. Indem sie nicht bloß, wie die poetische Metapher,
der intensiveren Gefühlsbetonung einer im allgemeinen schon ohne
sie vorhandenen Vorstellung dient, sondern als unmittelbare Reak-
tion auf einen Eindruckt entsteht, erweckt sie durch ihre Asso-
ziation mit dem Eindruck überhaupt erst die Vorstellung. So wird
sie ein natürliches Ausdrucksmittel, nicht bloß, wie die
poetische Metapher, ein Verstärkungsmittel des Denkens. Als ein
solches Ausdrucksmittel vermengt sie sich aber unterschiedslos mit
den hinweisenden und nachahmenden Gebärden der Sprachorgane,
von denen sie sich eben nur dadurch unterscheidet, daß bei ihr die
Gefühlsassoziation wegen ihrer fast unbeschränkten Beziehungen auch
für solche Vorstellungen adäquate Ausdrucksformen liefert, die den
eigentlichen Lautgebärden, den hinweisenden wie den nachahmenden,
unzugänglich sind.
') Vgl. Kap. VIII, Nr. V.
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. 23
^e^ Die Sprachlaute.
5. Psychologische Entstehung der Lautgebärden
und Lautmetaphern.
Gegen diese Betrachtungsweise bleiben, wenn man von der offen-
bar unwahrscheinlichen Annahme absieht, daß es sich hier überall
nur um Spiele des Zufalls handle, zwei Einwände, die in der Tat
in den Augen vieler gewichtig genug gewesen sind, um dem gan-
zen Gebiet der Naturlaute, der Lautnachahmungen und der Laut-
metaphern zwar ein gewisses Recht einzuräumen, dieses aber zu-
gleich so zu beschränken, daß es für die Probleme der Entstehung
und Entwicklung der Sprache kaum in Betracht kommt. Der erste
Einwand besteht in dem verhältnismäßig späten und darum mög-
licherweise sekundären Ursprung mancher dieser Erscheinungen.
Der zweite beruft sich auf die weit überwiegende Zahl sprachlicher
Formen, bei denen irgendeine Beziehung zwischen Laut und Be-
deutung überhaupt nicht nachzuweisen ist. Daß der erste Einwand
für viele Fälle zutrifft, für andere wenigstens nicht unbedingt zurück-
gewiesen werden kann, wurde schon hervorgehoben (S. 319 f.)-
VVortstämme, die jetzt für uns in deutlicher Lautaffinität zueinander
stehen, können diese erst durch sekundäre Veränderungen erlangt
haben, ursprünglich also einander fremd sein; und solche Er-
scheinungen wie die Lautmetaphern in den Konjugationsformen
der semitischen Sprachen sind zwar alt, aber wiederum nicht ur-
sprünglich, da sie verwandten Sprachen fehlen. Offenbar handelt
es sich also hier überall um sekundäre Bildungen. Gleichwohl
beruht dieser ganze Einwand teils auf einer Verkennung der wirk-
lichen Natur der psychogenetischen Sprachprobleme, teils auf einer
irrigen Abschätzung der Bedeutung, die den heute oder in näherer
geschichtlicher Vergangenheit nachweisbaren Tatsachen für die Be-
urteilung früherer, unserer Beobachtung entzogener Vorgänge zu-
kommt. Die Bedingungen, von denen die Beziehungen der Laute
zu ihren Bedeutungen abhängen, lassen sich der Natur der Sache
nach mit einiger Sicherheit nur an den lebenden oder an den für
uns in zureichenden Überlieferungen lebendig gebliebenen Sprachen
beobachten. Wollen wir aber über Zustände, die diesen unserer
Beobachtung direkt oder indirekt zugänglichen vorausgegangen sind,
Psychologische Entstehung der Lautgebärden und Lautmetaphern. ^55
begründete Vermutungen aufstellen, so wird zu solchen in erster
Linie die gehören, daß sich die allgemeinsten Eigenschaften des
Menschen nicht geändert haben, seit es eine Sprache gibt. Es
mag darum sein, daß von allem dem, was ursprünglich an Laut-
gebärden und natürlichen Lautmetaphern in menschlichen Sprachen
vorhanden war, heute überhaupt nichts mehr existiert. Daß aber
die Sprache zu irgendeiner Zeit jener sinnlichen Ausdrucksmittel
entbehrt habe, die sie uns heute in manchen ihrer Bestandteile un-
mittelbar verständlich machen, dies ist gerade so unwahrscheinlich,
wie es etwa die Annahme sein würde, der Unterschied hoher und
tiefer Töne, heller und dunkler Farben sei für den Urmenschen von
absolut andersartigen Gefühlswirkungen begleitet gewesen als für
den heutigen, oder jener habe etwa seine Freude durch stöhnende,
seinen Schmerz durch jubelnde Laute geäußert u. dgl.
Schwerer wiegt auf den ersten Blick der zweite Einwand: alle
Läutgebärden und Lautmetaphern seien doch immer nur ein ver-
hältnismäßig kleiner Teil des Lautbestandes einer Sprache. Gerade
dann, wenn wir die psychologischen Bedingungen der sprachlichen
Vorgänge der wirklichen Sprache entnehmen wollen, liegt hier die
Folgerung nahe, daß den angeführten Momenten nur eine unerheb-
liche Rolle neben andern uns unbekannten Bedingungen zukomme.
Anderseits lassen sich aber doch zwei Gesichtspunkte gegen eine
auf diese Bemerkung gestützte Unterschätzung der Lautgebärden
und natürlichen Lautmetaphern geltend machen. Erstens ist zu
bedenken, daß wir andere Motive für eine Beziehung zwischen
Laut und Bedeutung, die uns den Laut als einen unmittelbar sich
darbietenden und verständlichen Ausdruck der Vorstellung begreifen
ließe, überhaupt nicht kennen. Eine ganz willkürliche oder zufällige
Assoziation zwischen Laut und Bedeutung könnte daher zwar als
eine mögliche, keinesfalls jedoch als eine natürliche, dem Ausdruck
eines bestimmten seelischen Vorgangs adäquate Beziehung gelten.
Zweitens liegt in den starken Wandlungen, denen der Lautbestand
der Wörter im Laufe der Zeit unterworfen ist, ein zureichender
Grund dafür, daß deutliche Beziehungen zwischen Laut und Begriff
zu den relativ seltenen, und daß sie zumeist zu den jüngeren Er-
scheinungen der Sprache gehören. Denn es darf hier überall nicht
übersehen werden, daß, so wichtig eine solche Affinität bei der
23*
' :; ^ Die Sprachlante.
ersten Entstehung eines Wortes sein mag, diese für die weitere Er-
haltung desselben in der Regel nicht von Belang ist, falls nicht, wie
bei den eigentlichen Lautgebärden, der Trieb zur Nachbildung be-
sonders geweckt wird. Im allgemeinen erhält sich daher die Be-
deutung des Wortes in der Tat nur durch die äußere gewohnheits-
mäßige Assoziation oder, wenn die Bedingungen dazu günstig sind,
durch neu hinzutretende Assoziationen, ohne daß dabei der Laut-
charakter des Wortes eine Rolle spielt.
Daß jedoch diese Tatsache mit einer ursprünglichen Afiinität
zwischen Laut und Bedeutimg sehr wohl vereinbar sein kann, lehrt
die Gebärdensprache, imd lehren im Grund alle jene Erscheinungen,
bei denen ein analoger Übergang ursprünglich psychisch vermittelter
Voi^änge in gewohnheitsmäßige automatische Verbindungen nach-
zuweisen ist. Auch die Gebärden gehen ja in eingeübte und kon-
ventionelle Zeichen über. Nur liegt bei ihnen dieser Übergang
wegen der fortwährenden Neubildung und der sinnlichen Anschau-
lichkeit der Gebärden in der Regel in so naher Vergangenheit, daß
nur bei einer kleinen Zahl die ursprüngliche ps}'chologische Bedeu-
ümg zweifelhaft sein kann. Wenn sich dieses Verhältnis bei der
Lautsprache umkehrt, so bleibt dies auch dann noch begreiflich,
wenn wir annehmen, in ihr sei ursprünglich alles ein ebenso natür-
liches und ps\'chologisch wohl moti\^ertes Ausdrucksmittel gewesen.
Nun würden aber bei dieser Annahme keine anderen Beziehungen
zwischen Laut und Bedeutung verständlich sein als diejenigen, die
uns bei den hinweisenden und nachahmenden Lautgebärden einer-
seits und bei den natürlichen Lautmetaphem anderseits begegnet
sind. In der Tat entsprechen diese drei Formen bedeutsamer
Lautbewegimgen durchaus den drei Arten von Gebärden, die
wir im vorigen Kapitel kennenlernten: den hinweisenden, nach-
bildenden imd symbolischen, nur daß bei der letzteren Gat-
tung in Anbetracht der willkürlichen erfinderischen Tätigkeit, der
die Gebärdensprache in höherem Grad unterv.orfen ist, der Über-
gang in das eigentliche Symbol näher liegt als bei der Lautsprache.
Darum köimen wir wohl von natürlichen Metaphern, nicht aber
berechtigterweise von >Laut5\'mbolen< reden, während die hierher
gehörigen Gebärden wirkliche Symbole sind. Denn das Symbol liegt
dem bezeichneten Gegenstand gleichzeitig femer und naher als die
P^TchoIogisjrhe Entsteh:!!!^' ce' Ls.Ti'^'^birceTi "znd l^z^^tntzz.o-f^n. -?-
'_ ■^ = j^ - 3j I
Metapher: femer, wdl sich bei ihm eine zusam m enges etzte Vorstel-
lung z\^"ischen die Ausdmcksbewegung und ihre Beceu^Jng einschiebt
näher, weil diese Vorstellung infolge ihrer zusammengeseizteren Be-
schaffenheit ein deutlicheres Zeichen des Begriffes sein kann. Die
natürliche Lautmetapher besteht demnach lediglich in der Über-
tragung einer Vorstellung in eine Ausdrucks- und Lautbewegung, die
durch die Assoziation der an beide gebundenen übereinstimmenden
Gefühle vermittelt wird. Bei der sj-mbolischen Gebärde wird durch
diese Gefühlsassoziation erst noch eine zwischenliegence Vorstd-
lung eru^eckt, die durch die Verbindung ihrer Teile nach ihrem all-
gemeinen Gefühlscharakter dem s\Tnboli=ierten Begriffe verwandt
erscheint In diesem Sinn ist Erhöhung und Vertiefung des Lautes
für den Ausdruck der intensiveren Tätigkeit imd des Leidens eine
Lautmetapher; die gerade und die schiefe Bewegung des Zege-
fingers vom Mimd aus fiir die Begrine der Wahrheit imd Lüge
sind Gebärdens\Tnbole. Aus diesem Verhältnis erklärt es sich
zugleich, daß die Sprache zwar natürliche Lautmetaphem in Fülle,
aber natürliche Laut5\-mbole nicht besitzt. Der Laut als solcher
kann immer nur bestimmte Gefühle und, insofern an den Laut
eine Vorstellung geknüpft wird, auch eine diesen Gefühlen ent-
sprechende Modifikation der \'orstellung erwecken. Er ist aber
als Bewegung wie als Laut ein zu einfaches sinnliches Gebilde
um ohne weiteres einen nicht in der unmittelbaren Anschauimg
vorhandenen Begriff sinnlich vertreten zu können. Dazu bedarf
es hier schon der aus Worten zusammengesetzten Rede, die erst
fähig wird ein gegliedertes Ganzes der Anschauung im Bewußt-
sein wachzunifeiL Dies verhält sich anders bei der Gebärde, die
wegen der deutlichen Sichtbarkeit ihrer räumlichen Erscheinungs-
weise jenen für das S\Tnbol erforderlichen Zusammenhang un-
mittelbar zu erzeugen vermag. Hier ist also cle Gebärde dem
Sprachlaut überlegen. Freilich ist das nur eine Überlegenheit der
imvollkonmineren Entwicklungsstufe, mit der zugleich die Beschrän-
kung der Grebärde auf S}Tnbole einfachster sinnlicher Art rz-
sammenhängt.
W ären alle Sprachlaute auf hinweisende imi nacnshmende
Lautgebärden und auf natürliche Lautmetaphem zuriici-cnifuhren.
so würde die Sprache hinsichtlich des Lautmaterials, aus dem sie
■Jpg Die Sprachlaute.
besteht, vollständig erklärt sein, ähnlich wie uns die Gebärdensprache
in ihrem Aufbau aus einzelnen ausdrucksvollen Gebärden im wesent-
lichen vollständig erkennbar ist. Auch dann würde aber die Laut-
sprache sicherlich nicht jener Mannigfaltigkeit der Ausdrucksformen
für den gleichen Begriff ermangeln, die bei dem gegenwärtigen, für
uns zumeist undurchsichtigen Zustand ihres Lautmaterials an den
Ungeheuern Verschiedenheiten menschlicher Sprachen einen wesent-
lichen Anteil hat, und durch die sie sich von der gleichartigen
Beschaffenheit der Gebärdensprache unterscheidet. Zu einem
wesentlichen Teile liegt dies jedenfalls in den nämlichen Ursachen
begründet, die zwar die Gebärde, jedoch nicht den Laut als solchen
zum Symbol werden lassen, sondern ihn auf das unbestimmtere
Gebiet natürlicher Lautmetaphern einschränken. Denn jene Ur-
sachen sind auch in dem Verhältnis der hinweisenden und nach-
ahmenden Lautgebärden zu den entsprechenden Formen äußerer
Gebärden erkennbar. Wie die Lautmetapher, so ist die Laut-
gebärde vieldeutig. Sogar im engsten Umkreis der Onomatopöie,
bei der eigentlichen Schallnachahmung, ist die Artikulationsbewegung
nicht bloß von dem objektiven Laut, sondern von der Art, wie er
apperzipiert wird, abhängig. Darum können selbst für eine und
dieselbe Schallvorstellung die nachbildenden Wörter verschiedener
Sprachen sehr voneinander abweichen. Vollends wo Gefühlsasso-
ziationen mit ins Spiel kommen, wie bei den Lautmetaphern, da
können bald wechselnde Gefühle an eine und dieselbe Vorstellung
geknüpft, bald übereinstimmende in sehr verschiedener Weise aus-
gedrückt werden. Was die eine Sprache durch die Verstärkung
eines konsonantischen Lautes, das deutet die andere durch eine Er-
höhung des Vokaltones, wieder eine andere durch ein interjektions-
artig wirkendes Prä- oder Suffix an usw., und manche dieser Aus-
drucksmittel, namentlich solche, die dem Gebiet der Tonmelodie
und des Sprechtaktes angehören, sind in den uns erhaltenen Über-
lieferungen älterer Sprachformen wahrscheinlich unerkennbar ge-
worden. Zu jenem Wechsel der psychischen Wirkungen kommen
dann noch Verschiedenheiten der physischen Organisation der Laut-
werkzeuge, die notwendig selbst dann, wenn die psychischen Motive
dieselben bleiben, den Lautausdruck verschieden gestalten können.
Alle diese wechselnden Eigenschaften sind aber endlich infolge
Psychologische Entstehung der Lautgebärden und Lautmetaphem. tcq
der Vorgänge des Lautwandels in einem fortwährenden Flusse
begriffen. Dieser verändert den Lautbestand der Wörter unablässig,
und er kann dadurch die ursprüngliche Beziehung zu dem sinn-
lichen Eindruck völlig unkenntlich machen oder aber auch um-
gekehrt Beziehungen hervorbringen, die dem ursprünglichen Sprach-
laute fehlten.
Viertes Kapitel.
Der Lautwandel.
I. Die Lautgesetze in der Sprachwissenschaft.
I. Das Postulat der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze.
Die Erscheinungen des Lautwandels verdanken die bevorzugte
Stelle, die sie in der sprachwissenschaftlichen Forschung einnehmen,
wohl in erster Linie dem Umstände , daß sie ein Gebiet bilden,
auf dem mehr als auf irgendeinem andern eine strenge Gesetz-
mäßigkeit das Leben der Sprache zu beherrschen scheint. Zwar
folgen Wortbildung und Satzfügung im allgemeinen nicht minder
festen Gesetzen. Aber da es sich bei ihnen mehr um dauernde
Zustände handelt, so erwecken sie nicht so unmittelbar wie die
Veränderungen der Laute den Eindruck eines kausalen Zusammen-
hangs, der an die Regelmäßigkeit gewisser Naturvorgänge erinnert.
Die Beobachtung dieser Regelmäßigkeit ist es, die zu dem in
der neueren Sprachwissenschaft energisch betonten Postulat der
»Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze« geführt hat. Ein solches
Postulat konnte natürlich niemals in dem Sinne verstanden werden,
daß man Gesetze annahm, die in jedem einzelnen Fall zur Wirkung
gelangten, sondern nur in dem andern, daß die Lautgesetze, gerade
so wie die Naturgesetze, ausnahmslos dann wirken, wenn sie nicht
durch andere Gesetze oder durch singulare Ursachen, die ihnen
entgegenwirken, aufgehoben werden'). Nicht um die ausnahmslose
^) In diesem Sinne, nämlicli mit der Voraussetzung, daß Ausnahmen von den
Lautgesetzen immer nur Fälle bezeichnen könnten, in denen der zu erwartende Laut-
wandel, aus bestimmten, erkennbaren Ursachen nicht eingetreten ist, interpretiert
schon A. Leskien, der zuerst den Ausdruck »Ausnahmslosigkeit« in diesem Zusammen-
hange gebraucht hat, jene Forderung (Die Deklination im Slavisch-Litauischen und
Das Postulat der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze. •j5j
Geltung irgendeines einzelnen Gesetzes handelt es sich also dabei,
sondern um eine ausnahmslose Gesetzmäßigkeit, das heißt
um den Grundsatz, daß für jede geschichtliche Lautänderung irgend-
eine Ursache, sei es nun ein in weitem Umfang gültiges Laut-
gesetz, sei es eine beschränktere, nur für eine Reihe von Fällen
oder vielleicht sogar nur für einen einzelnen Fall geltende Be-
dingung anzunehmen ist. Die in diesem Sinne verstandene »Aus-
nahmslosigkeit der Lautgesetze« kehrt vor allem ihre Spitze gegen
die Ausnahmen der alten Grammatik, die auf der Voraussetzung
beruhten, daß irgendeine Abweichung von einer sonst gültigen
Regel als ein Spiel des Zufalls oder einer willkürlichen Laune an-
zusehen sei. Sieht man von dieser polemischen Spitze ab, so
würde aber der Ausdruck offenbar zweckmäßiger durch den andern
einer »allgemeingültigen Gesetzmäßigkeit des Lautwandels« ersetzt
werden. Auch die Naturgesetze gelten ja nicht ausnahmslos, da
ihre Wirkungen im einzelnen Fall durch hinzutretende Bedingungen
abgeändert oder ganz aufgehoben werden können. Dabei sind
freilich auf den Gebieten, wo eine exakte mechanische Analyse der
Erscheinungen möglich ist, die Wirkungen aller Gesetze in dem
Sinn unaufhebbar, daß sie in der resultierenden Wirkung genau so
weit zutage treten, als sie nicht durch bestimmte Ursachen kom-
pensiert werden. Wo es sich um sogenannte »empirische Gesetze«
handelt, da kann jedoch im allgemeinen von einer irgendwie nach-
weisbaren Wirkung derselben bei Erscheinungen, die dem Gesetze
tatsächlich nicht folgen, aber nach ihrem allgemeinen Charakter
ihm folgen könnten, meist nicht die Rede sein; sondern solche
empirische Gesetze gelten entweder, oder sie gelten nicht, und
wenn sie nicht gelten, so können wir unter günstigen Bedingungen
die Ursachen nachweisen, die ihre Geltung verhindern, oder die
anderweitigen Gesetze, die für sie eintreten; wir sind aber nicht im-
stande, dem nicht zur Anwendung kommenden Gesetze selbst noch
irgendeine Partialwirkung innerhalb der zusammengesetzten Er-
scheinung zuzuweisen. Das Gesetz z. B. , daß der Kohlenstoff ein
Germanischen, 1875, S. 2; Preisschrift der Jablonowskischen Ges. zu Leipzig, Nr. XIX).
Ähnlich sprechen sich Osthoff und Bmgmann aus (Morphologische Untersuchungen
auf dem Gebiete der indogermanischen Sprachen, I, Vorwort, S. XIII).
ß62 Der Lautwandel.
»vier wertiges« Element ist, bewährt sich bei einer bestimmten
Kohlenstoffverbindung, oder es bewährt sich nicht; das sogenannte
Dovesche »Drehungsgesetz der Winde« trifft in einem bestimmten
Falle zu, oder es trifft nicht zu. Der Grund dieses Verhaltens ist
unschwer einzusehen. »Empirische Gesetze« nennen wir im all-
gemeinen im Gegensatze zu den abstrakten und axiomatisch an-
genommenen Gesetzen der Mechanik komplexe Gleichförmigkeiten
des Geschehens, die wir nicht oder mindestens nicht vollständig in
die Summe der Bedingungen zerlegen können, die ihnen zugrunde
liegen. Ein solches Gesetz gilt daher nur so lange, als die sämt-
lichen zur Erhaltung jener Gleichförmigkeit erforderlichen Bedingun-
gen vorhanden sind. Es hört auf zu gelten in dem Augenblicke,
wo die dem Enderfolg entgegenwirkenden Bedingungen überwiegen.
Wenn nun vollends auf den Inhalt eines empirischen Gesetzes
psychologische Momente von mitbestimmendem Einflüsse sind, wie
das bei den »Lautgesetzen« von vornherein wahrscheinlich ist, da
wird es zweifelhaft, ob überhaupt auch nur für die einfachsten Fälle
jene Voraussetzung einer Verbindung an sich unauf hebbarer Wir-
kungen, wie wir es dem Schema des Kräfteparallelogramms ent-
nehmen, zutreffend sei. Wo z. B. dem Bewußtsein verschiedene
Assoziationen zur Verfügung stehen, da vollzieht es irgendeine
von ihnen, und für diese werden gewiß entscheidende Gründe
wirken; aber die andern beteiligen sich nicht etwa nach Maßgabe
der sie in das Bewußtsein hebenden Kräfte, sondern sie beteiligen
sich in der Regel gar nicht. Oder wenn wir zwischen verschiedenen
Motiven des Handelns schwanken, so kann der Kampf der Motive
ein deutlich in unserem Bewußtsein verlaufender Vorgang sein; doch
nachdem die Entscheidung erfolgt ist, pflegen die überwundenen
Motive in der resultierenden Handlung nicht mehr nachzuwirken.
Ob diese Fälle auf das allgemeine Verhalten sogenannter empiri-
scher Gesetze zurückzuführen seien, oder ob bei ihnen besondere
Eigenschaften der psychischen Kausalität in Rechnung kommen,
mag hier dahingestellt bleiben, der Erfolg ist jedenfalls der näm-
liche: von einer ausnahmslosen Geltung kann unter keinen Um-
ständen die Rede sein. Die einzige Bedeutung, die diesem Aus-
druck in Anwendung auf die Lautgesetze beigelegt werden kann,
ist also die, daß die Veränderungen der Sprachlaute einer strengen
Teleologische Hypothesen über die Ursachen der Lautänderungen. ^63
Kausalität unterworfen sind, die teils in bestimmt formulierbaren
Gesetzen von weitverbreiteter Geltung, teils in nachweisbaren ein-
zelnen Ursachen, die jene Geltung in besonderen Fällen aufheben,
ihren Ausdruck findet").
2. Teleologische Hypothesen über die Ursachen der
Lautänderungen.
Indem das Postulat der »Ausnahmslosigkeit« durch die ihm aus-
drücklich oder stillschweigend gegebene Deutung nicht bloß die
Lautgesetze selbst mit den Naturgesetzen in Analogie bringt, son-
dern auch für die Ursachen, welche die Wirksamkeit dieser Gesetze
stören, eine Unterordnung unter gesetzmäßige Bedingungen fordert,
richtet nun aber jener Begriff seine Spitze nicht allein gegen die
Ausnahmen der alten Grammatik, sondern nicht minder gegen
eine Interpretation sprachlicher Vorgänge, welche diese auf gewisse
Zweckmäßigkeitsmotive zurückführt.
Von den Vertretern dieser teleologischen Erklärungsweise, die
während einer längeren Zeit in der neueren Sprachwissenschaft vor-
herrschte, wurde anerkannt. Regeln wie Ausnahmen seien von be-
stimmten Ursachen abhängig. Nur hielt man daran fest, die Sprach-
forschung müsse, wie die Naturforschung, vor allem »normale und
abnorme Erscheinungen unterscheiden«. Dann lasse auch das Ab-
norme »durch Zusammenstellung verwandter Abnormitäten selbst
wieder eine gewisse Ordnung erkennen« ^). Durch diese Vergleichung
war, da das Pathologische mit dem Physiologischen in den all-
gemeinen Eigenschaften des Lebens übereinkommt, eigentlich schon
gefordert, daß für Regel wie Ausnahme die Ursachen auf dem
gleichen Gebiete zu suchen seien. In der Tat bemühte man sich
daher, alle Lautänderungen auf gewisse > Triebe« zurückzuführen.
') Die logische Seite dieser Frage ist näher erörtert in mtinem Aufsatz »Über
den Begriff des Gesetzes, mit Rücksicht auf die Frage der Ausnahmslosigkeit der
Lautgesetze«, Phil. Stud. III, S. 196 ff. Über die Anwendung des Gesetzesbegriffs
überhaupt und über den Begriff des »empirischen Gesetzes« insbesondere vgl. Logik,
n,2 2, S. 129 ff. Über gewisse Grenzfälle einer wirklichen oder scheinbaren »Aus-
nahmslosigkeit« der Lautgesetze vgl. übrigens unten Nr. VI, 5.
2) Curtius, Grundzüge der griech. Etymologie,S S. 90.
■i()A Der Lautwandel.
denen man zwecktätig wirkende psychische Motive unterlegte. Ob
diese Motive zugleich als willkürliche gedacht waren, mag dahin-
gestellt bleiben; es genügt, daß man von ihnen nach Analogie be-
kannter willkürlicher Zweckmotive Gebrauch machte. Solcher Triebe
wurden hauptsächlich drei angenommen: erstens das Streben nach
Bequemlichkeit, zweitens das Streben bedeutsame Laute zu erhalten
oder zum Zwecke der Unterscheidung der Begriffe zu sondern, und
drittens der Trieb nach Gleichförmigkeit, der unter der Wirkung
anderer Wortformen »falsche Analogien« veranlasse, das heißt Laut-
bildungen, die den regelmäßigen Lautgesetzen widersprechen. Von
diesen Trieben sollten die beiden ersten, der nach Bequemlichkeit
und der ihm bis zu einem gewissen Grade das Gleichgewicht hal-
tende nach Unterscheidung, die normalen Erscheinungen bestimmen,
worunter man die regelmäßigen Lautgesetze und gewisse wünschens-
werte Einschränkungen derselben verstand. Aus »falschen Analogie-
bildungen« dagegen sollte ein jenen regelmäßig wirkenden Kräften
entgegengesetztes, abnormes Verhalten hervorgehen. Demgemäß
nahm man zugleich an, die beiden ersten Triebe seien in den älteren
Zeiten der Sprachentwicklung fast ausschließlich herrschend gewesen,
während der letzte , abnorme mehr den späteren Stadien des Ver-
falls der sprachlichen Formen und der Verwischung bedeutsamer
Unterschiede angehöre ').
Diese Auffassung verwickelt sich nun aber schon innerhalb der
von ihr gemachten Voraussetzungen mit sich selbst in einen eigen-
tümlichen psychologischen Widerspruch. Gerade das, was sie vor-
zugsweise als das Normale und Ursprüngliche ansieht, die Laut-
gesetze, führt sie nämlich auf das Streben nach »Bequemlichkeit«
zurück, also auf eine Eigenschaft, die bereits der Grenze des
abnormen Verhaltens nahekommt. Damit stimmt überein, daß
i) Der hier kurz gekennzeichnete psychologische Standpunkt ist von einer Reihe
von Forschern festgehalten vs^orden, die dabei zugleich von dem Streben geleitet
waren, willkürlichen etymologischen Versuchen durch strengere Betonung der Laut-
gesetze zu steuern. Hierher gehören namentlich G. Curtius, A. Schleicher, Benfey,
Pott, Max Müller u. a. Am eingehendsten wurden diese Anschauungen, besonders
auch in ihrer psychologischen Begründung, von Curtius vertreten in seiner Griech.
Etymologie,5 S. 21 ff., 409 ff. und an andern Orten. Vgl. bes. die Streitschrift: Zur
Kritik der neuesten Sprachforschung, 1885, und die Erwiderung K. Bmgmanns, Zum
heutigen Stand der Sprachwissenschaft, 1885.
Teleologische Hypothesen über die Ursachen der Lautänderungen. ^65
»Verwitterung« und »lautlicher Verfall« der Sprache, ohne Frage
pathologische Zustände, als das Ergebnis dieser Kräfte der Sprach-
entwicklung betrachtet werden. Daß eine Verfallserscheinung das
Normale und Gesetzmäßige sein soll, ist aber nicht minder wider-
spruchsvoll wie das andere, daß der »konservative Trieb«, der
diesem Verfalle zum Trotz bedeutsame Unterschiede bewahre, auf
der einen Seite als ein Zeichen ungeschwächter Nachwirkung der
ursprünglichen sprachbildenden Kräfte, auf der andern aber doch,
dem »Gesetzmäßigen« gegenüber, das ja dem unaufhaltsamen
Verfall entgegenführt, als etwas Abnormes angesehen wird. Dazu
kommt, daß auch der »falschen Analogie« unter Umständen ein
der lautgesetzlichen Zerstörung entgegenwirkender Einfluß nicht
abgesprochen werden kann. So ergibt sich ein merkwürdiges
Resultat: am Erfolge gemessen erscheint das Abnorme zumeist als
das erhaltende und gesunde, das Normale als das kranke und
zerstörende Prinzip. Dieses paradoxe Ergebnis fällt natürlich vor
allen Dingen auf Rechnung des Umstandes, daß diese Gegen-
überstellungen von »normal« und »abnorm«, von »physiologisch«
und »pathologisch« selbst »falsche Analogien« sind. Das nämliche
gilt von den bildlichen Ausdrücken »Verwitterung« und »Verfall«.
Sie erwecken unvermeidlich die Vorstellung eines rückläufigen Zer-
setzungsprozesses. Nun ist aber nicht im mindesten einzusehen,
warum, wenn beispielsweise eine Aspirata gh^ dh, bh im Laufe des
regelmäßigen Lautwandels in eine Spirans %^ d- ^ r/), oder auch in
eine einfache sogenannte Media g^ d, b^ oder wenn endlich diese
in eine Tenuis k, t^ p übergeht, solches als »Verwitterung« oder
»Verfall« zu deuten sei. Man könnte mit demselben Rechte meinen,
der Übergang der Media in die Tenuis bezeichne eine Erhebung
der Sprache zu größerer Kraft, was ungefähr auf das Gegenteil
der Verwitterungstheorie hinauskäme']. Mit welchem Rechte will
man ferner behaupten, der Übergang eines Vokals a m e oder ?,
oder eines a m 0 oder gar, wie z. B. im Althochd., in 7co sei eine
Verfallserscheinung? Ebensogut kann man sagen, bei der Bildung
1) In der Tat ist diese Auffassung schon von Jakob Grimm und dann von
G. Curtius selbst in einer älteren Abhandlung (Kuhns Zeitschr. für vergl. Sprach-
forschung II, 1853, S. 331) angedeutet worden. Vgl. unten Nr. III, 6.
•i66 Der Lautwandel.
des a sei die Mundartikulation und folglich die Innervation ver-
hältnismäßig einfacher als bei den andern Vokalen, demnach be-
zeichneten diese eine höhere Stufe der Lautentwicklung. Natür-
lich wird man am besten weder das eine noch das andere tun,
sondern daraus, daß solche Lautänderungen in sehr verschiedener
Richtung vor sich gehen, schließen, irgendeine konstante Richtung
in bezug auf Erleichterung oder Erschwerung der Artikulation be-
stehe überhaupt nicht; dies um so mehr, da jene Begriffe selbst
wieder relative sind, die von dem jedesmaligen Zustand der Sprach-
organe abhängen. Laute, deren Hervorbringung bei einem be-
stimmten Zustande »bequem« ist, können möglicherweise bei einem
andern unbequem werden. Es ist aber durchaus nicht ausgeschlossen,
daß solche verschiedene Zustände der Organe innerhalb einer län-
geren Zeit bei einer und derselben Sprachgemeinschaft bestehen.
Leidet so die Vergleichung des regelmäßigen Lautwechsels mit
einem Verwitterungsvorgang unter einem falschen Bilde, das selbst
wieder durch eine fehlerhafte psychologische Begrififsbildung, den
»Bequemlichkeitstrieb«, veranlaßt ist, so steht nun aber der zur
Erklärung gewisser Ausnahmeerscheinungen herbeigezogene »Er-
haltungstrieb« ganz und gar unter dem Banne der alten Erfindungs-
theorie. Einen Trieb, der allgemein auf die Erhaltung der sprach-
lichen Laute gerichtet wäre, könnte man sich ja noch als eine ein-
fache Betätigung von Gedächtnisassoziationen denken. Aber ein
Trieb, dem das Gedächtnis nur da zu Hilfe kommt, wo es sich
um die Erhaltung »bedeutsamer Unterschiede« handelt, ein solcher
Trieb wäre nur als die Äußerung einer bedachtsam handelnden
Intelligenz möglich, die wir hier, angesichts der bekannten Tatsache,
daß die Sprache zufällige Lautübereinstimmungen bei totaler Ver-
schiedenheit der Bedeutungen duldet, billig bezweifeln dürfen.
Gegenüber dieser Annahme eines Erhaltungstriebes wurde end-
lich in der Anerkennung sporadischer »Analogiebildungen«, das
heißt solcher Abweichungen von den Lautgesetzen, die durch das
Walten mehr äußerlich wirkender Laut- und Begrififsassoziationen be-
dingt seien, auch dem Gebiet der unwillkürlichen seelischen Vor-
gänge ein gewisser Spielraum eingeräumt. Es ist aber bezeichnend,
daß, solange man den angedeuteten teleologischen Standpunkt fest-
hielt, gerade dieser Einfluß der Assoziationen eigentlich nur als ein
Annahme physischer und psychischer Momente der Lautentwicklung. ^57
Notbehelf zugelassen war. Schon der Ausdruck »falsche Analogien«
ist dafür charakteristisch. Der konservative Trieb, obgleich an sich
den Lautgesetzen gegenüber etwas Abnormes, galt doch noch als
eine berechtigte Reaktion gegen die allzu zerstörende Wirksamkeit
dieser Gesetze. Die falsche Analogie dagegen erschien als etwas
absolut Unlogisches und zugleich Zweckloses, als eine »Mißbildung
und Verirrung gegenüber der gesunden Bildung« ').
3. Annahme physischer und psychischer Momente der
Lautentwicklung.
Bezeichnenderweise war es zunächst weniger die innere Unwahr-
scheinlichkeit der von der teleologischen Erklärung angenommenen
»Triebe« selbst, als das Widerstreben gegen dieses angeblich plan-
lose Abirren der durch Analogie beeinflußten Lautänderungen, was
den Widerspruch herausforderte. Sollte überhaupt die Idee einer
strengen Gesetzmäßigkeit durchgeführt werden, so war das Bild eines
zufälligen »Mitlaufens mit einer andern Herde« unmöglich mehr zu
dulden, sondern man fühlte sich gedrungen, dem Zufall die Natur-
notwendigkeit, der vorbedachten Willkür den Zwang absichtslos
wirkender psychischer Motive gegenüberzustellen. Für beide Begriffe
boten, wenn man alle sonst angenommenen Bedingungen möglichst
ausschied, die Lautgesetze einerseits, die Analogiebildungen ander-
seits die gewünschten Anhaltspunkte. Das Lautgesetz repräsentierte
das Prinzip der strengen Gesetzmäßigkeit, die Analogie erschien als
ein Resultat bewußtloser psychischer Kräfte, das die allgemeinere
Wirksamkeit der Lautgesetze zuweilen unterbreche, um so mehr
aber mit ihnen zusammen der »Ausnahmslosigkeit der Gesetze« als
Stütze diene. Denn genau da, wo der physische Mechanismus der
Lautgesetze ein Ende habe, beginne der psychische der von Asso-
ziationen geleiteten Analogiebildungen. So wurden beide als das
physiologische und das psychologische Moment des Laut-
wechsels unterschieden und ihnen die Forderung an die Seite ge-
stellt: sobald eine lautliche Erscheinung aus den physischen Laut-
gesetzen nicht abzuleiten sei, müsse man sie auf den psychischen
Curtius, Zur Kritik der neueren Sprachforschung, S. 44.
^68 Der Lautwandel.
Mechanismus der Analogie zurückzuführen suchen. Ein letzter Rest
jener Unterscheidung des Normalen und Abnormen, mit der die
Abstraktion der Lautgesetze begonnen hatte, blieb aber auch hier
noch in dem methodologischen Prinzip erhalten: an die Erklärung
einer Erscheinung durch Analogiebildung solle immer erst dann
gedacht werden, wenn sich alle lautgesetzlichen Interpretationen als
unmöglich herausstellten ').
Hiernach ist es keineswegs bloß die Betonung der strengen Kausa-
lität des Lautwechsels, sondern eigentlich in noch höherem Grade
die Hervorhebung der »blind waltenden« Gesetzmäßigkeit, was diese
Auffassung von den vorangegangenen Anschauungen scheidet, und
worin zugleich ihr Hauptfortschritt diesen gegenüber begründet liegt.
Von einer gewissen Inkonsequenz und Willkür war aber auch die
neue Doktrin nicht frei. Die stärkste, die ihr als eine Art Erbstück
von den Regeln und Ausnahmen der alten Grammatik noch anhaftete,
die nämlich, daß die »Analogie« immer nur im Notfall und »so
sparsam wie möglich« herbeigezogen werden solle, wurde allerdings
bald überwunden. Indem das »psychologische Moment« in den
Vordergrund trat, war man um so mehr geneigt, in ihm ein wich-
tiges neues Erklärungsprinzip zu sehen, als sich hier das Merk-
würdige ergab, daß man die »Regel«, nämlich die den Lautgesetzen
folgenden Veränderungen, als etwas zunächst noch ganz Unerklär-
liches hinnehmen mußte, während man die »Ausnahmen«, die Ana-
logiewirkungen, als psychologisch begreifliche Erscheinungen be-
trachten lernte. So konnte es nicht ausbleiben, daß das Erkennbare
dem Unerkennbaren auch in der Wertschätzung den Rang streitig
machte, und daß man allmählich dazu geführt wurde, Analogien und
Lautgesetze einander gleichzustellen ^). Immerhin blieb auch jetzt
1) H. Paul in seinen und Braunes Beiträgen zur Geschichte der deutschen Sprache
und Literatur, VI, 1879, S. I ff. Osthoff, Das physiologische und psychologische
Moment der sprachlichen Formenbildung, 1879. Misteli, Lautgesetz und Analogie,
Zeitschrift für Völkerpsychologie, XI, 1880, S. 410.
2) Bezeichnende Äußerungen vgl. bei Brugmann, Zum heutigen Stand der Sprach-
wissenschaft, S. 81, 85 ff. Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte,3 S. 96 ff. Sogar
eine Bevorzugung der Analogie in ihrem Werte für die Sprache tritt nicht selten
hervor. So heißt es bei Brugmann (S. 81 f.): »Der Lautwandel beeinträchtigt die
Gruppierung (zusammengehöriger Wortgruppen), lockert die Verbände, indem er
zwecklose Unterschiede zwischen zusammengehörigen Formen schafft«. Dagegen >ist
Annahme physischer und psychischer Momente der Lautentwicklung. -jög
noch eine qualitative Unterscheidung, zu der ein positiver Rechts-
grund um so weniger vorlag, als die Ursachen der eigentlichen
Lautgesetze, wie gesagt, als unerkennbar angesehen wurden. Sind
sie aber dies, so ist ofifenbar jene Gegenüberstellung des »physio-
logischen« oder »mechanischen« und des »psychologischen« Momen-
tes vorläufig ganz hypothetisch. In der Tat läßt es sich mindestens
ebensogut denken, daß allmählich wirkende psychische Bedingungen
die letzten Ursachen der regelmäßigen Lautänderungen seien, als daß
rein äußere Einflüsse, etwa solche des Klimas, der Naturumgebung
oder der Ernährung, eine Umwandlung der physischen Organisation
bewirkt haben, von der die Sprachorgane mit ergrififen wurden.
Auch wird die Art, wie Lautgesetze und Analogiebildungen fort-
während ineinander greifen, offenbar viel verständlicher, wenn man
sie nicht als disparate, einander entgegenwirkende Kräfte, sondern
als Bedingungen auffaßt, die schließlich beide irgendwie in der
psychophysischen Natur des Menschen begründet sind. Damit stimmt
überein, daß wir einerseits wegen der gedächtnismäßigen Reproduk-
tion lautgesetzlicher Formen notwendig bei diesen eine Mitwirkung
der nämlichen Assoziationen voraussetzen müssen , die man zur Er-
klärung der Analogiebildungen heranzieht, und daß anderseits die
Assoziationen, wie alle psychischen Vorgänge, durch Einübung in
automatische Verbindungen übergehen, so daß diejenigen Erschei-
nungen, die von vornherein auf die Seite der psychischen Momente
verlegt werden, mit der Zeit auf die der physischen zu stehen kommen.
Nicht bloß sukzessiv wandelt sich aber auf solche Weise das, was
wir auf Grund gewisser in die Augen fallender Merkmale ein Phy-
sisches nennen, in ein Psychisches, und umgekehrt dieses in jenes
um, sondern vielfach durchkreuzen sich beide von Anfang an so
innig, daß sie gar nicht voneinander gesondert werden können, weil
mit jedem Moment der einen Art auch eines der andern hinweg-
fallen müßte.
ein Mittel zur Reaktion in der Analogiebildung gegeben. Jede Sprache ist unauf-
hörlich damit beschäftigt, unnütze Ungleichmäßigkeiten zu beseitigen« usw.
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. 24
370
Der Lautwandel.
4. Komplikation der Ursachen des Lautwandels.
Machen die angedeuteten Umstände eine strenge Scheidung der
physiologischen und der psychologischen Faktoren dieser Vorgänge
überhaupt unmöglich, so kommt nun noch der weitere Umstand
hinzu, daß die Annahme, jeder Lautwechsel sei entweder auf all-
gemeine Lautgesetze oder auf Analogiebildungen zurückzuführen,
an eine Voraussetzung geknüpft ist, die in der Wirklichkeit wahr-
scheinlich niemals vollständig zutrifft. Dies ist die Voraussetzung,
daß die Sprachgemeinschaft eine in sich geschlossene sei, also
nicht durch äußeren Verkehr und die an ihn gebundenen Sprach-
mischungen beeinflußt werde. Man pflegt darum die Geltung aller
bei jener Zweiteilung der Erscheinungen in Frage kommenden
Wirkungen auf einen bestimmten Dialekt und auf eine bestimmte
Periode der Sprachentwicklung zu beschränken. Nun lassen sich
aber weder die Grenzen einer Periode noch die eines Dialektes fest
bestimmen, und überdies finden sich namentlich in einem Kulturvolke
durch das Zuströmen einzelner Individuen aus fremden Dialekten
und durch den in der Literatur vermittelten Austausch so kontinuier-
liche Abweichungen von dem angenommenen Stabilitätszustande,
daß dieser zu einer Abstraktion wird, zu der die Wirklichkeit immer
nur Annäherungen bieten kann').
Auch da, wo derartige äußere Einflüsse hinwegfallen sollten,
bildet jedoch das »psychische« so wenig wie das »physische« Mo-
ment der Lautentwicklung einen einheitlichen Begriff, sondern dieser
zerlegt sich jedesmal in eine Vielheit von Bedingungen. Mag nun
gleich unter den psychischen Bedingungen die »Analogie« der Inter-
pretation einen sehr weiten Spielraum bieten, so ist doch kaum
anzunehmen, daß es außer ihr keinerlei psychologische Ursachen
geben könne, die auf die Gestaltung der Laute einwirken. Legen
doch schon die beim Zusammentreffen gewisser Laute innerhalb
derselben Wörter oder benachbarter Wörter entstehenden Laut-
änderungen (das »Sandhi« der indischen Grammatiker) den Zweifel
nahe, ob nicht auch hier psychische Motive wirksam seien, die dann
jedenfalls nicht auf »Analogien« zurückzuführen sind. Ferner ist der
I) Vgl. Hugo Schuchardt, Über die Lautgesetze, 1885, S. 10 ff.
Komplikation der Ursachen des Lautwandels. •^ 7 I
»Nachahmungstrieb« oder vielmehr die Summe eigentümlicher Asso-
ziations- und Willensmotive, die wir unter diesem Namen zusammen-
fassen, und die wir in der Gebärdensprache eine so große Rolle
spielen sahen"), möglicherweise auch bei der Lautsprache von nicht
zu unterschätzendem Einfluß. Freilich wird er nur dann auf weitere
Kreise wirken können, wenn ihm sonst begünstigende Bedingungen
entgegenkommen. Welcher Art aber diese seien, das läßt sich von
vornherein kaum bestimmen. Zudem brauchen die Assoziationen,
die den Lautwandel beeinflussen, nicht allein von der Sprache selbst,
sondern sie können ebenso von irgendwelchen andern Lebensgebieten,
von der Sitte und von den mythologischen Vorstellungen ausgehen
und auf die Sprache übergreifen. Man denke nur an die bei manchen
amerikanischen Stämmen bestehende Sitte, beim Sprechen den Mund
nicht zu schließen, eine Gewohnheit, durch die sich das ganze Laut-
system dieser Sprachen verändert hat. Darf man nun aber vielleicht
auch mit Recht annehmen, daß solche Einflüsse nur in ganz singu-
lären Fällen eine so starke und dauernde Wirkung ausüben, und
daß sie daher gegenüber den allgemeineren Formen der Veränderung
vorläufig außer Betracht bleiben mögen, so bleibt doch schließlich
noch eine Gruppe von Tatsachen übrig, die von nicht geringerer
Bedeutung zu sein scheint, und die den Lautgesetzen so wenig wie
den ^> Analogiebildungen < unterzuordnen ist. Sie besteht in allen
den Erscheinungen, die auf eine Wechselwirkung zwischen
Laut und Bedeutung hinweisen. Ihnen wird man um so weniger
die Aufnahme unter die allgemeinen Ursachen der Lautänderungen
versagen können, als uns schon die Untersuchung der Sprachlaute
eine Menge solcher Assoziationen in den natürlichen Lautgebärden
und Lautmetaphern kennen lehrte. So gut wie die Neuschöpfung
von Wörtern, werden sie natürlich auch den Lautwandel beeinflussen,
sei es daß sie erhaltend, oder daß sie verändernd auf den Lautwert
eines Wortes wirken. Ahnliches wird man überall da annehmen
dürfen, wo sich bestimmte Lautelemente mit bestimmten Begriffs-
modifikationen assoziiert haben, wie z. B. im Griechischen der z-Laut
mit der Bedeutung des Optativs usw. Daß sich solche begriß"liche
mit andern, rein lautlichen Assoziationen mannigfach durchkreuzen,
') Vgl. oben Kap. 11, S. 244.
24=*
■1^2 ^^^ Lautwandel.
deren Wirkungen verstärken oder aufheben können, scheint un-
zweifelhaft. Doch muß es genügen, hier auf diesen Punkt hinzu-
weisen. Denn die Frage dieser Wechselbeziehungen hängt so eng
mit den allgemeinen Erscheinungen des Bedeutungswandels zu-
sammen, daß sie uns erst bei diesem näher beschäftigen kann^).
Im Hinblick auf diese große Mannigfaltigkeit der Umstände, die
bei den Vorgängen des Lautwandels in Betracht kommen, ist es viel-
leicht begreiflich, daß man sich in der Sprachwissenschaft in der Regel
auf die Nachweisung der allgemeinsten, für eine große Zahl einzelner
Fälle geltenden Einflüsse beschränkt, und daß man nach dem Grund-
satze handelt: sobald für eine gegebene Erscheinung eine Ursache
nachgewiesen sei, so werde dadurch von selbst die Aufsuchung
weiterer Bedingungen überflüssig. Mag nun aber auch dieser Grund-
satz als provisorische Maxime bis zu einem gewissen Grade gerecht-
fertigt sein, auf sachliche Richtigkeit kann er keinen Anspruch er-
heben. Denn das Prinzip der Einheit der Ursache hat in diesem
Falle keinerlei Wahrscheinlichkeit für sich. Erscheinungen von so
verwickelter Natur sind in der Regel weder im ganzen noch in einem
einzelnen Fall durch eine einzige Kategorie von Bedingungen zu
erschöpfen. Nicht das Prinzip der Einfachheit, sondern das der
Komplikation der Ursachen ist daher dasjenige, das von vorn-
herein der Beurteilung des Tatbestandes zugrunde gelegt werden sollte.
II. Individuelle und generelle Formen der Lautänderung.
I. Lautwandel und Lautwechsel.
Wie bei allen Erscheinungen, die zum Gebiet völkerpsycholo-
gischer Betrachtung gehören, das Individuum und die Gemeinschaft
in fortwährender Wechselwirkung stehen, so gilt dies naturgemäß
auch von den Wandlungen der Sprachlaute. Eine generelle Geltung
kann aber im allgemeinen nur eine solche Abweichung erlangen,
die aus Bedingungen hervorgeht, denen auch die andern Mitglieder
der Sprachgemeinschaft unterworfen sind.
^) Vgl. den Abschnitt über die Erscheinungen des korrelativen Laut- und Be-
deutungswandels in Kap. VIII, Nr. I.
Lautwandel und Lautwechsel.
373
Nun bringen es die physiologischen Verhältnisse der Lautbildung
mit sich, daß der individuelle Ursprung einer Lautänderung im
allgemeinen ein doppelter sein kann: entweder ein allmählicher
und stetiger, bei dem zwischen dem Ausgangs- und dem End-
faut möglicherweise eine unendliche Anzahl von Zwischenstufen
liegt, oder ein plötzlicher und sprungweiser, bei dem mit
einem Male der Anfangs- in den Endlaut übergeht. Man pflegt
diese beiden Fälle als die des stetigen und des springenden
Lautwechsels zu bezeichnen, und demnach wohl auch, da der Be-
griff des »Wandels« die Nebenbedeutung eines stetigen Vorgangs
angenommen hat, den ersteren einen »Lautwandel«, den letzteren
einen »Lautwechsel« im engeren Sinne des Wortes zu nennen').
Der Gegensatz dieser beiden Formen der Lautänderung hängt
naturgemäß mit dem physiologischen Charakter der beiden Laute,
die als Anfangs- und Endlaut den Prozeß der Veränderung ein-
schließen, zusammen. Ein stetiger Lautwandel kann nur zwischen
solchen Lauten stattfinden, die durch alle möglichen Übergangsstufen
ineinander übergeführt werden können. Dagegen ist zwischen Lauten,
bei denen ein solcher Übergang ausgeschlossen ist, nur ein springender
Lautwechsel möglich. So kann z. B. a in c oder 0, 0 in ?/, e m z, oder
es kann d einerseits in t^ anderseits in dli^ dz^ z ganz allmählich durch
minimale Veränderungen der Mundstellungen übergehen. Dagegen
kann p m. q^ t m. f oder re in er nur plötzlich überspringen, weil
es zwischen den Artikulationsstellungen des Anfangs- und des End-
lautes keine Zwischenstellungen gibt, die eine Reihe allmählicher
Übergänge bilden könnten. Begegnet man in der Sprache Laut-
änderungen, die sich individuell durch stetige Abstufungen der ersten
Art hervorbringen lassen, so pflegt man daher anzunehmen, daß
sie auch generell Erzeugnisse eines stetigen Lautwandels seien. So
wenn mhd. lüite in nhd. Leute ^ ahd. gasti in gesti 'Gäste', urgerm.
*fad-er {-d- = engl. ///) ^) in nhd. Vater, lat. ag-nus in ang-niis über-
gegangen ist. Begegnet man anderseits solchen Lautänderungen,
^) Sievers, Grundzüge der PhonetIk,4 1893, S. 246, und in Pauls Grundriß der
germanischen Philologie,^ I, 1897, S. 309.
2) Mit einem Sternchen werden hier und im folgenden überall, nach dem in
der Sprachwissenschaft eingeführten Usus, solche Wörter bezeichnet, die lautgesetz-
lich erschlossen, aber nicht direkt belegt sind.
xy^ Der Lautwandel.
die sich individuell nicht stetig erzeugen lassen, so führt man sie
auf einen springenden Lautwechsel zurück. So wenn griech. *goUros
in TtoTSQog^ lat. *pmq2ie in qiiinqiie ^ ahd. brestan in nhd. bersten
überging.
So wichtig nun dieser Unterschied für die physiologische Ent-
stehungsweise des Lautwechsels sein mag, so erweist er sich doch
in doppeltem Sinn als ein fließender. Erstens ist es natürlich nicht
ausgeschlossen, daß auch derjenige Wechsel, der seiner physiolo-
gischen Natur nach ein stetiger sein kann, im einzelnen Fall als
ein springender vorkommt; und wahrscheinlich würde er sich um
so mehr als ein solcher darstellen, je mehr man auf sein individuelles
Vorkommen zurückzugehen vermöchte. Beim Übergange von gasti
in gesti z. B. wird wohl der Einzelne gelegentlich einmal mehr nach
«, ein anderes Mal mehr nach e artikulieren, doch im ganzen wird
er in jedem besonderen Falle nicht um unendlich kleine, sondern
um beliebige endliche Größen seine Mundstellung ändern. Ferner
muß aber umgekehrt auch derjenige Lautwechsel, der individuell ein
springender war, bei seiner generellen Verbreitung zu einem an-
nähernd stetigen Vorgang werden. Denn wie sich schon bei dem
Einzelnen der Übergang von der alten zur neuen Lautform nicht
mit einem Mal als Regel durchsetzt, sondern zunächst zeit-
weise auftritt und dann durch Gewöhnung häufiger und häufiger
wird, so wird vollends nie eine Abweichung die ganze Sprach-
gemeinschaft gleichzeitig ergreifen, sondern allmählich durch eine
Periode gemischten Gebrauchs sich ausbreiten, um schließlich herr-
schend zu werden. Auf diese Weise kann jeder noch so allmähliche
Lautwechsel im individuellen Sinn als ein springender gelten,
der nur die Eigenschaft hat, in sehr vielen Abstufungen variieren zu
können; und umgekehrt kann jeder Lautwechsel, wie er auch indi-
viduell beschaffen sein mag, im generellen Sinn als ein allmäh-
licher und annähernd stetiger Vorgang angesehen werden.
Mag aber gleich jener Unterschied des Stetigen und des Plötz-
lichen, solange man nur die äußere Erscheinungsweise der Laut-
änderungen ins Auge faßt, individuell ein fließender und generell
ein verschwindender sein, so verhält es sich doch anders, sobald
man den ursprünglichen psychophysischen Bedingungen
der Lautänderungen nachgeht. Da diese Bedingungen notwendig
Lautwandel und Lautwechsel. 375
mit Einflüssen zusammenhängen, denen die individuellen Sprach -
Organe unterworfen sind, so ist es von vornherein denkbar, daß
ein Lautwechsel, der durch stetige Verschiebungen in der Stellung
der Artikulationsorgane hervorgebracht werden kann, unter andern
Bedingungen entstehe als ein solcher, der in jedem Einzelfalle nur
durch einen sprungweisen Übergang möglich ist. Sobald es sich
um diese physiologische Frage handelt, tritt daher naturgemäß der
Grundsatz in seine Rechte ein, daß sich kein Wechsel in einer
redenden Gemeinschaft vollziehen kann, der nicht in den Eigen-
schaften der Individuen und in den Einwirkungen, denen sie unter-
worfen sind, vorgebildet wäre. Darum setzt die Analyse der gene-
rellen eine solche der individuellen Bedingungen des Lautwandels
voraus, und diese können möglicherweise je nach der Beschaffenheit
der Lautübergänge abweichen, da Unterschieden der physischen
Vorgänge auch solche ihrer psychischen Bedingungen voraussicht-
lich entsprechen werden.
In der Tat wird nun diese Voraussage durch die Beobachtung
der unabhängig von allen generellen Lautänderungen sich darbieten-
den individuellen Abweichungen der Lautbildung bestätigt.
Solche Abweichungen treten nämlich erstens dadurch ein, daß
jedes individuelle Sprachorgan für jede Artikulationsweise, die ihm
möglich ist, einen gewissen Spielraum der Artikulation be-
sitzt, innerhalb dessen stetige Veränderungen möglich sind, die,
sobald irgendwelche Einflüsse eine bestimmte Richtung begünstigen,
die Anlage zur Entstehung eines stetig eintretenden Lautwandels
enthalten. Zweitens beobachten wir, daß im Verlaufe der Rede
durch fehlerhafte Artikulation ein Überspringen aus einer be-
stimmten Artikulationsform in eine andere, die außerhalb jenes
Spielraums der normalen Bewegungsamplitude liegt, eintreten kann,
ein springender Lautwechsel also, den man in seinen die normale
Lautbildung beeinflussenden Formen je nach seinen besonderen
Eigenschaften entweder als eine Lautvermengung oder als eine
Wortvermengung bezeichnen kann: das erstere dann, wenn die
Abweichungen unter dem Einflüsse nahe benachbarter Laute ent-
stehen, das letztere, wenn sie infolge von Assoziationen mit andern,
durch den Inhalt des Gesprochenen lautlich oder begrifflich nahe-
gelegten Wörtern zustande kommen. Zu diesen Abweichungen
2^6 Der Lautwandel.
kommt endlich noch eine dritte, darin bestehend, daß das indivi-
duelle Sprachorgan die Laute einer fremden Sprache in ihrem
Lautvverte zu verändern pflegt, auf welche Veränderungen teils die
abweichende physische Anlage des Sprachorgans, teils Assoziationen
mit Wörtern der eigenen Sprache bestimmend einwirken. Das
Studium dieser drei Arten individueller Lautänderungen, des Spiel-
raums normaler Artikulationen, der Laut- und Wortvermengungen,
der Sprachmischungen, bildet so eine notwendige Vorbereitung zu
der psychophysischen Analyse jedes generellen Lautwandels. Denn
nach den Bedingungen dieser Vorgänge ist im allgemeinen anzu-
nehmen, daß sich die Ursachen der individuellen auch in den
generellen Lautänderungen wiederfinden werden. Dabei bieten aber
zugleich die individuellen Abweichungen besonders günstige Verhält-
nisse dar, um jede Form des Lautwechsels gewissermaßen in seinem
Entstehungsmoment zu beobachten, während uns die generellen Laut-
änderungen einer Sprache zunächst nur als abgeschlossene Wirkungen
unbekannter Ursachen entgegentreten. Auf die letzteren können wir
daher immer erst teils aus verschiedenen begleitenden Bedingungen,
teils aber mit Hilfe ihnen analoger individueller Abweichungen zurück-
schließen.
2. Spielraum der normalen Artikulationen.
Der Spielraum der normalen Artikulationen ist bei jedem einzelnen
Laut ein nicht unbeträchtlicher. Zugleich kann aber diesem Begriff
eine individuelle und eine generelle Bedeutung gegeben werden.
Der individuelle Spielraum äußert sich darin, daß der nämliche
Laut in verschiedenen Fällen innerhalb einer gewissen Breite variieren
kann, ohne von dem Redenden oder Hörenden als falsch aufgefaßt
zu werden. Dabei sind von diesem Begriff des individuellen Spiel-
raums diejenigen Lautmodifikationen auszuschließen, die von wech-
selnden objektiven Bedingungen, namentlich von den verschiedenen
Lautverbindungen abhängen. Denn hier handelt es sich in Wahrheit
gar nicht um denselben Laut, sondern um verschiedene Laute, die
wir nur wegen ihrer Ähnlichkeit gewöhnlich mit dem gleichen Zeichen
schreiben. Das a in laclien und laden ^ das e in geben und Pferd^
das p in Post und Pfeil^ vollends das betonte und das tonlose c in
Spielraum der normalen Artikulationen. ■in'j
geben ^ leben usw. sind wirklich verschiedene Laute, die in jeder
strengeren phonetischen Schrift unterschieden werden müssen, wobei
dann aber wiederum wegen der unendlichen Zahl solcher Abstufun-
gen eines Lautes nur die größeren Intervalle berücksichtigt werden
können. Doch abgesehen von diesen wirklichen Unterschieden gibt
es für einen und denselben, in einem bestimmten Wort und unter
sonst unverändert bleibenden Bedingungen vorkommenden Sprach-
laut gerade so gut einen gewissen Spielraum der individuellen Arti-
kulation, wie unsere sonstigen Bewegungen, z. B. Größe, Verlauf
und Richtung der Gehbewegungen, variieren können, auch wenn wir
im allgemeinen die einzelnen Schritte als gleich auffassen.
Einen noch weiteren Umfang hat der Spielraum in der zweiten,
allgemeinen Bedeutung, wo er die Breite der Abweichungen der
einzelnen Individuen einer Sprachgemeinschaft von der mittleren
durchschnittlichen Artikulationsform bezeichnet. Denn in diesem
generellen Spielräume sind alle individuellen Spielräume ent-
halten, derart, daß die häufigste Artikulationsweise des Einzelnen für
einen Laut in jenem eine ganz bestimmte Stelle einnimmt. Hier-
durch entsteht, zusammen mit den Eigentümlichkeiten von Tonfall
und Rhythmus, die individuelle Nuancierung der Sprache, die es
uns möglich macht, eine uns bekannte Person an ihrer Sprech-
weise unter Umständen aus tausend andern Stimmen heraus zu
erkennen.
In den beiden Bedeutungen, in denen hier der Begriff des Spiel-
raumes der Artikulation gebraucht wurde, repräsentiert nun aber
dieser Begriff keine einfache, etwa nur nach zwei entgegengesetzten
Richtungen veränderliche Größe, sondern er läßt sich als eine »vier-
fach ausgedehnte Mannigfaltigkeit« auffassen, insofern er sich aus
vier Spielräumen zusammensetzt: aus der räumlichen Variation
der Artikulationsstelle, der zeitlichen der Lautdauer, der
intensiven der Lautstärke, und der qualitativen der Tonhöhe.
In dem ersten dieser Spielräume bewegen sich die hauptsächlich-
sten Veränderungen des Geräusch- und Klangcharakters, die
den Sprachlaut als solchen kennzeichnen. Der zweite und dritte
kommen vorzugsweise in dem Zusammenhange der verschiedenen
Laute zur Geltung, indem der zweite die relative Dauer der einzel-
nen, der dritte den relativen Grad der Betonung bestimmt. Das
2^8 l^er Lautwandel.
nämliche gilt von dem vierten Spielräume, dem der Tonhöhe. Nur
kommt bei ihm außerdem in Betracht, daß er bis zu einem gewissen
Grade von dem ersten und dritten, dem Klangcharakter des Lauts
und der Lautstärke, abhängt, da namentlich gewisse Vokalklänge
höhere, andere tiefere Teiltöne enthalten, und da mit der Lautstärke
infolge der eintretenden größeren Spannung der Stimmbänder in
der Regel auch die Tonhöhe steigt. Weil bei der gewöhnlichen
Rede die Variationen der Tonhöhe nicht bedeutend zu sein pflegen,
so machen sie sich hier hauptsächlich in dieser Verbindung mit den
Abstufungen der Lautstärke geltend; daher man wohl auch beide
in dem Begriffe der »dynamischen« Variationen zusammenfaßt. Doch
abgesehen vom Gesang, wo es auf der Hand liegt, bilden immer-
hin schon in der gewöhnlichen Rede die Variationen der Tonhöhe
ein selbständiges Moment, in welchem namentlich gewisse Schwan-
kungen in den Gefühlsbetonungen der Wörter zum Ausdrucke
kommen. Durch die innerhalb jener vier Spielräume möglichen
Variationen sowie durch die Wirkungen, die diese Schwankungen
wieder aufeinander ausüben, ist nun fortwährend die Möglichkeit zu
allmählichen Lautänderungen gegeben. In der Tat sehen wir solche
regelmäßig bereits während des individuellen Lebens eintreten,
namentlich wenn zu den allgemeinen Bedingungen psychophysischer
Entwicklung noch besondere Einflüsse hinzutreten, wie sie Erziehung,
Bildung und Verkehr mit sich führen. Selten wird daher die Sprache
eines Menschen in zwei zeitlich weit auseinander liegenden Perioden
seines Lebens genau den gleichen Lautcharakter besitzen. Vielmehr
vollzieht sich hier in beschränktem Umfang ein stetiger Laut-
wandel, der sich dann naturgemäß bei dem Übergange von einer
Generation zur andern in dem Maße steigern muß, als sich bei
diesem Wechsel nicht nur die individuellen Wirkungen fortwährend
summieren, sondern auch in der Ausbreitung gewisser ursprünglich
individueller Abweichungen ein weiterer abändernder Einfluß hervor-
tritt, den die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens selbständig
mit sich führen.
Störungen der Lautbildung. 27g
3. Störungen der Lautbildung.
Von anderer Beschaffenheit ist die zweite Klasse der obenge-
nannten Bedingungen möglicher Artikulationsänderungen, die der
Artikulationsfehler. Gröbere Fehler von konstanter Beschaffenheit
sind Wirkungen pathologischer Zustände, die als solche außerhalb
des Kreises normaler Lautänderungen liegen, aber deshalb hier
herbeigezogen werden müssen, weil sie gewissen noch in die Breite
des normalen Lebens fallenden Erscheinungen analog sind. Nach
ihren Symptomen lassen sich die pathologischen wie die normalen
Artikulationsfehler in drei Klassen ordnen, zwischen denen übri-
gens mannigfache Übergänge vorkommen können: in die Laut-
erschwerungen (Dyslalien), die Lautv er mengungen (Paralalien)
und die Wortvermengungen (Onomatomixien). Dabei verstehen
wir unter den »Lautvermengungen«, deren es, ebenso wie der »Laut-
erschwerungen« , mehrere Formen gibt, speziell solche Störungen
der Lautbildung, die durch die Einwirkung von Lauten des glei-
chen Wortes oder dicht aneinander grenzender Wörter zustande
kommen, während wir Lautstörungen, die durch die Einwirkung
ganz verschiedener und nicht unmittelbar verbundener Wörter ent-
stehen, unter dem Begriffe der »Wortvermengung« (Onomatomixie)
zusammenfassen. Diese dritte Klasse wird von der zweiten in der
Regel nicht geschieden. Dennoch ist dies ebensowohl um des ver-
schiedenen Charakters der Erscheinungen willen, wie v/egen der
Beziehungen, die sie zu wesentlich verschiedenen Vorgängen des
generellen Lautwechsels darbieten, unbedingt erforderlich'].
') Zusammenfassende Darstellungen der pathologischen Sprachstörungen geben
A. Kußmaul, Störungen der Sprache, 1877, S. 186 ff., und A. Liebmann, Vorlesungen
über Sprachstörungen, Heft i — 4, 1898 — 1900. Neben den Dyslalien, Paralalien
und der Onomatomixie umfassen die zentral bedingten Sprachstörungen noch die
verschiedenen Formen der >Aphasie«, bei denen die Wortbildung entweder ganz
oder nach gewissen Richtungen hin aufgehoben ist, sowie die Erscheinungen der
Wortverwechselung und fehlerhaften Neubildung, die wir zur Unterscheidung von
der bloß auf falscher Lautartikulation beruhenden »Paralalie« als »Paraphasie« be-
zeichnen wollen. Die letztere ist häufig zugleich verbunden mit Fehlern der syn-
taktischen Satzfügung, der »Akataphasie«, wie sie Steinthal (Einl. in die Psychologie
und Sprachw. S. 479) zu nennen vorschlug. Die >Aphasie« und »Paraphasie« wer-
den uns, als Symptome, die für die psychophysischen Bedingimgen der Wortbildung
jSo Der Lautwandel.
a. Lauterschwerungen.
Die Lauterschwerungen oder Dyslalien können entweder
auf fehlerhafter Bildung der peripheren Sprachwerkzeuge oder auf
zentralen Innervationsstörungen, oder sie können endlich — und in
gewissem Grad ist das wahrscheinlich die Regel — auf beiden
Momenten zugleich beruhen. Ihre Symptome bestehen in einer
Erschwerung der Artikulation, die entweder alle Laute oder bloß
einzelne treffen kann. Ist dabei die Fähigkeit der Erzeugung der
Laute vorhanden und ihre Hervorbringung nur durch organische
Bedingungen erschwert, so entstehen die Erscheinungen des Stam-
meins und Silbenstolperns. Bei ihnen pflegen sich stets mit
peripheren Erschwerungen zentrale Innervationsstörungen zu ver-
binden. Als der mildeste Fall der letzteren Art ist der Mangel an
Übung in deutlicher Artikulation, wie er als Folge fehlerhafter
Erziehung und Selbsterziehung sehr häufig vorkommt, hierher zu
rechnen. Ebenso wird das durch periphere Erschwerungen oder
mangelnde Sprachübung entstehende Stammeln durch die Angst-
gefühle, die das Sprechen begleiten, und die auch mit sonstigen
Störungen der Koordination der Bewegungen verbunden sind, er-
heblich gesteigert. Hier grenzt übrigens das Abnorme oft dicht an
das noch Normale. Denn jenes besteht eigentlich nur in einer
schon bei ganz geringfügigen Anlässen eintretenden Erschwerung
des Sprechens, ähnlich derjenigen, die auch dem gesunden Sprach-
organ unter etwas schwierigeren Bedingungen widerfährt. Minde-
stens bedarf es einer besonderen Übung, um nicht bei dem Ver-
suche, schwer zu artikulierende oder ungewöhnlich lange Wörter
und Phrasen schnell auszusprechen, dem Stammeln und Silben-
stolpern anheimzufallen: so bei dem bekannten *^Fritz frißt frische
Fische' usw.
bedeutsam sind, im nächsten Kapitel beschäftigen. In den pathologischen Arbeiten
werden die Störungen der Lautbildung und der Wortbildung im allgemeinen nicht
zureichend geschieden, daher man auch meist die Bezeichnungen »Paralalie« und
»Paraphasie« promiscue auf beide anwendet. Eine Art Mittelglied zwischen diesen
Gruppen bildet die »Wortverm engung«, insofern sie Laut- und Wortbildungsfehler
zugleich ist. Wir reihen sie aber hier wegen ihrer nahen Beziehungen zu gewissen
allgemeinen Erscheinungen des Lautwandels den »Paralalien« an.
Störungen der Lautbildung. ßgl
Wesentlich verschieden von diesen mit den Artikulations-
erschwerungen der normalen Sprache verwandten Erscheinungen
des Stammeins sind die des Stottern s. Sie beruhen auf einer
tetanischen krampfhaften Innervation der Artikulationsorgane, sind
also, wie aus ihren Symptomen hervorgeht, vorwiegend zentralen
Ursprungs, wobei jedoch wiederum periphere Ursachen ihren Ein-
tritt begünstigen können. Auch der auffallende Einfluß psychischer
Bedingungen, die Verstärkung des Übels durch Angstgefühle, seine
Milderung durch methodische Erziehung und vor allem durch
Übung in willkürlicher langsamer Artikulation, bestätigt in diesem
Falle die zentrale Entstehungsweise. Auf gemischte Ursachen sind
schließlich die auf einzelne Laute beschränkten Artikula-
tionsfehler zurückzuführen, insofern bei ihnen ebenso die man-
gelnde Beweglichkeit der äußeren Organe auf die Innervation wie
umgekehrt die mangelnde Übung dieser auf die Organe zurück-
wirken kann. Die beschränkten Artikulationsfehler dieser Art führen
regelmäßig zu Lautvertretungen. Dabei lassen sich zwei verschie-
dene Grade der letzteren unterscheiden. Der stärkere besteht in der
Substitution eines Lautes von ganz abweichender Artikulationsform,
z. B. in der Vertretung der Gaumenlaute durch Resonanzlaute, der
Lippenlaute durch Zungenlaute oder umgekehrt. Dies sind Lautver-
tretungen, wie man sie auch beim Kind in der Zeit des Sprechen-
lernens (S. 302 ff.), sowie bei der Assimilation der Wörter einer
Sprache durch eine andere von abweichendem Lautsystem be-
obachtet. Der schwächere Grad der Lautvertretung äußert sich
in der Vertauschung nahe verwandter Laute, wie z. B. in dem
Ersatz des Zungen -r durch das Rachen- r, der Tenuis /, /', /
durch die Media b^ g, d usw., Fälle, die bereits durchaus in die
Breite normaler Abweichungen und dialektischer Unterschiede hin-
überspielen. Abgesehen von diesen eigentlich nicht hierher, son-
dern zu den generellen Lautabweichungen der Sprache gehörenden
Erscheinungen, bilden die Dyslalien denjenigen Grenzfall individueller
Lautstörungen, wo diese ihrer Natur nach individuell bleiben.
Denn indem die besonderen zentralen und peripheren Momente, die
eine derartige Erschwerung der Artikulation herbeiführen, aus sin-
gulären Bedingungen der psychophysischen Organisation entsprin-
gen, verschwinden sie im allgemeinen mit dem Individuum, bei
2 §2 Der Lautwandel.
dem sich jene Bedingungen vorfanden. Darin unterscheiden sie
sich wesentlich von den folgenden Lautstörungen , bei denen eine
jede individuell eintretende Abweichung in vielen andern Individuen
analoge Bedingungen vorfindet, so daß wenigstens einzelne der in-
dividuell entstandenen Lautabweichungen zu genereller Verbreitung
gelangen können.
b. Laut vermengung an.
Im Unterschiede von den verschiedenen Formen der Dyslalie
bleiben bei den Lautvermengungen oder Paralalien die einzel-
nen Lautbildungen an sich normal, aber ihre Ordnung in der Zu-
sammenfügung zum Worte wird gestört. In diesem Symptom liegt
schon deutlich ausgesprochen, daß ausschließlich zentrale Ursachen,
und zwar solche, die den höheren Zentralgebieten angehören, der
pathologischen Paralalie zugrunde liegen. Während uns ferner bei
den Dyslalien, soweit sie zentral bedingt sind, überall nur Störun-
gen der Reflex- oder Koordinationsverbindungen begegnen, ohne
daß diesen physiologischen Vorgängen, die sich durchgängig in
den niedrigeren Nervenzentren abspielen, psychische Abweichungen
parallel gehen, sind umgekehrt bei den krankhaften Formen der
Paralalie solche in der Regel vorhanden. So beobachtet man denn
auch die auffallendsten dieser Lautvermengungen in der Sprache
Geisteskranker'). Zu den noch in die Breite des normalen Lebens
fallenden »Paralalien« gehören viele Erscheinungen des sogenannten
Versprechens. Sie sind ziemlich regelmäßige Begleitsymptome
der »Zerstreutheit«, können aber außerdem durch eine ungewöhn-
liche Geschwindigkeit des Redeflusses unterstützt werden^). Hier-
^) Über die Sprache Geisteskranker vgl. Snell, Allg. Ztschr. f. Psychiatrie, IX,
1852, S. II if. Brosius, ebenda XIV, 1857, S. 37 ff.
2) Meringer und Mayer, Versprechen und Verlesen. Eine psychologisch-lin-
guistische Studie, 1895. Viele der in dieser Schrift sorgfältig gesammelten Beispiele
gehören allerdings nicht hierher, sondern teils zu der unten zu besprechenden Wort-
vermengung (Onomatomixie), teils in das Gebiet der dem nächsten Kapitel vorzu-
behaltenden Wortbildungsfehler (Paraphasien). Der populäre Begriff des »Ver-
sprechens« umfaßt eben unterschiedslos alle diese - Sprachstörungen , die wesentlich
abweichende psychologische Bedingungen darbieten. Meringer und Mayer dehnen
aber auch, wie ich glaube, den Begriff des »Versprechens« in einigen Fällen auf
Redeformen aus, die zwar ungewöhnlich, deshalb aber doch nicht den Sprach-
störangen zuzurechnen sind, so z. B. auf die Vermischung bildlicher Ausdrücke, wie
Störungen der Lautbildung. ^S-
aus ergibt sich, daß auch diese normalen Artikulationsfehler über-
wieg-end infolge psychischer Ursachen entstehen, denen gegenüber
periphere Bedingungen nur von sekundärer und untergeordneter
Bedeutung sind. Denn der Zustand der »Zerstreutheit« pflegt in
einer Ablenkung der Aufmerksamkeit zu bestehen, die ein Ab-
schweifen auf assoziierte, namentlich auch auf die unmittelbar nach-
folgenden oder vorausgehenden Lautvorstellungen möglich macht.
Suchen wir die pathologischen Paralalien sowie die gewöhnlichen
Erscheinungen des »Versprechens«, soweit sie dem Gebiete der
oben definierten eigentlichen Lautvermengungen angehören, nach
psychologischen Gesichtspunkten zu ordnen, so lassen sich die-
selben zunächst in die drei Klassen der Einschaltungen, der
Auslassungen und der Umstellungen der Laute unterscheiden.
Die erste dieser Erscheinungen, die Einschaltung, findet sich in
pathologischen Fällen außerordentlich häufig. Sie kann sich hier
zu Einfügungen ganzer Wort- und Satzbildungen erweitern oder auch
aus völlig sinnlosen Lautbildungen bestehen. In allen diesen Fällen
sind die eingeschalteten Laute durch ihre häufige Wiederholung in
hohem Grad eingeübt, so daß sie offenbar meist absichtslos und
nur dunkel bewußt auftreten. Sie werden vor allem da in den Zu-
sammenhang der Rede eingefügt, wo diese aus irgendeinem Grunde
vorübergehend stockt; doch können sich in extremen Fällen die
Schaltlaute auch fortwährend und zwangsweise der Artikulation auf-
drängen'). Die nämlichen Erscheinungen kommen übrigens in allen
ihren Formen, nur in der Regel in geringeren Graden, als soge-
nannte »üble Gewohnheiten« auch bei sonst normalen Menschen
vor. Einschaltungen unartikulierter geräusperter Zwischenlaute be-
obachtet man namentlich bei solchen, die häufig öffentlich vortragen,
z. B. bei akademischen Lehrern und Parlamentsrednern. Offenbar
bildet gerade bei ihnen das Stocken des Gedankenflusses besonders
leicht Anlaß zu einer unwillkürlicheu Ausfüllung der Pausen, die
sie in der poetischen Redeweise vorkommt. Shakespeares Worte im Hamlet »Or
to take arms against a sea of troubles, and by opposing end them« halte Ich nicht
mit den Verff. für eine falsche Kontamination (S. 58), sondern für eine sehr schöne
Metapher. Denn die Verstärkung des Eindnicks durch eine Verbindung der Bilder
ist eine berechtigte Eigentümlichkeit der Metapher. (Vgl. unten Kap. VIII, Nr. V, 4.)
'] Kraepelin, Psychiatrie,^ I, S. 146.
384
Der Lautwandel.
dann zur Gewohnheit wird, so daß sie schließlich auch da eintritt,
wo jene ursprüngliche Ursache hinwegfällt. Innerhalb längerer
Wörter sind Schaltlaute als Silbenwiederholungen, z. B. Indedetermi-
nisimis für Indcterininisimis^ oder als einfache Trennungen zweier
Laute, z. B. netonatoriim für neonatorum^ beim gewöhnlichen Ver-
sprechen nicht ganz selten. Eine besondere Modifikation der Ein-
schaltungsgewohnheiten ist es, wenn manche Personen die Schluß-
worte der Sätze zu wiederholen pflegen. Da der Satzschluß in der
Regel mit einer Pause des Vorstellungsverlaufes zusammenfällt, so
ist dies übrigens nur ein spezieller Fall der allgemeinen Tatsache,
daß die Schaltlaute vorzugsweise in derartigen Zwischenpausen auf-
treten.
Die zweite Klasse der Paralalien besteht in der Auslass ung
von Lauten. Sie geht leicht durch Auslassung ganzer Wörter in
die syntaktischen Sprachfehler über. Bei der Lautfolge im einzel-
nen Worte tritt die Auslassung besonders bei längeren Wörtern
ein , und es sind hier vorzugsweise die mittleren Laute , die aus-
fallen: die Lautbildung eilt ihrem Ende zu. So in der Ideenflucht
der Irren, wo leicht nicht nur Worte, sondern ganze Satzteile aus-
fallen können; aber auch beim gewöhnlichen Versprechen, nament-
lich in sehr schneller Rede: z. B. Snbstution für Substitution ^ Cha-
raktologie für Charakterologie ^ aller Leute für allerlei Leute u. ä.
Durch die schon hier sichtlich in die Erscheinung tretende Wirkung
des Folgenden, das zu früh im Bewußtsein aufsteigt und daher die
Lautbewegungen überstürzt, geht diese Verkürzung in die Erschei-
nungen der folgenden Klasse über.
Diese dritte Klasse ist die der Umstellungen. Eine Um-
stellung von Lauten ist in doppelter Weise möglich. Entweder
wird ein späterer Laut vor einem andern, der ihm vorausgehen
sollte, gebildet; oder ein früherer Laut folgt einem andern nach,
der eigentlich später kommen sollte. Wo es sich um eine reine
Umstellung handelt, da sind natürlich beide Fälle immer zugleich
vorhanden: jede Antizipation ist für den Laut, der durch den vor-
ausgenommenen zurückgedrängt wird, eine Postposition, und um-
gekehrt. Doch sind die Störungen von verschiedenen Neben-
symptomen begleitet, die bald auf die eine, bald auf die andere
Erscheinung als die primäre und für beide zugleich auf abweichende
Störungen der Lautbildung. 7 8 c
Ursachen hinweisen. Die Vorausnahme besteht nämlich entweder
in einer einfachen Umstellung, wobei ein einzelner Laut oder ein
ganzer Lautkomplex mit einem folgenden vertauscht wird, wie z. B.
bei der Umwandlung von begleiten in gebleiten^ von Raum und Zeit
in Zaum und Reit^ von Rotkohl in Kohlrot. Oder sie ist mit laut-
lichen Veränderungen verbunden, bei denen sichtlich die ursprüng-
liche Lautform auf die veränderte noch eingewirkt hat, wie z. B.
bei dem Übergänge von Totschläger in Schlagtoter. In beiden
Fällen kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Vorausnahme
eines im regelmäßigen Vorstellungsverlaufe nachfolgenden Gliedes
die Ursache, und die eintretende Veränderung der wirklich nach-
folgenden bloß eine Folge jener Antizipation ist. Diese selbst be-
ruht aber offenbar darauf, daß die Wortvorstellungen samt den an
sie gebundenen Artikulationsimpulsen dem Fluß der Rede voraus-
eilen. Im Verlaufe der normalen Rede ist fortwährend die Hem-
mungsfunktion des Willens dahin gerichtet, Vorstellungsverlauf und
Artikulationsbewegung miteinander in Einklang zu bringen. Wird
die den Vorstellungen folgende Ausdrucksbewegung durch mecha-
nische Ursachen verlangsamt, wie beim Schreiben oder aber auch
bei der Rede des Stammelnden, so treten daher solche Antizipa-
tionen besonders leicht ein. Wir verschreiben uns schon unter
normalen Verhältnissen leichter als wir uns versprechen, und in den
Schriftstücken der Idioten und paralytischen Geisteskranken ist,
neben der Auslassung von Silben oder Buchstaben, die Voraus-
nahme nachfolgender Schriftzeichen eine häufige Erscheinung. Bei
den nämlichen Kranken findet man aber auch nicht selten das
Symptom des sogenannten »Silbenstolperns«, das eben aus solchen
Vorausnahmen der Laute und den ihnen folgenden Wirkungen be-
steht. Die häufigste dieser Wirkungen ist die, daß während der
Antizipation einer folgenden Wortvorstellung auch die normale Asso-
ziation der Laute, namentlich wenn diese durch mehrfache Anwen-
dung eingeübt ist, auf die momentane Artikulation einwirkt, wodurch
sich dann diese aus beiden Wirkungen zusammensetzt: so bei der
Umkehrung von Totschläger in Schlagtoter.
Von allen diesen Erscheinungen unterscheiden sich durchaus
diejenigen Symptome, die entstehen, wenn ein bestimmter Laut
oder Lautkomplex eine verspätete Wirkung auf das Bewußtsein
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. 25
• 36 Der Lautwandel.
ausübt. Eine solche kann unabhängig von gleichzeitigen Voraus-
nahmen, die dann stets als das Primäre anzusehen sind, nur in der
Form einer Nachwirkung stattfinden, bei der ein vorangegangener
Laut noch als Vorstellung im Bewußtsein bleibt, während sich die
folgenden Sprachbewegungen bereits abspielen. Dadurch entsteht
aber entweder eine Vermischung jenes vorausgegangenen mit dem
augenblicklich geforderten Laut oder eine völlige Verdrängung des
letzteren durch jenen. So in Ar trillerte für Artillerie^ Pomode
für Pomade^ Rautenkraune für Rautenkrone. Besser als die Aus-
drücke Antizipation und Postposition drücken daher die andern der
Vorausnahme und Nachwirkung das Verhältnis der Vorgänge
aus. Zugleich machen es diese Ausdrücke unmittelbar verständlich,
daß die durch Vorausnahme der Artikulationen entstehenden Sprech-
fehler im allgemeinen häufiger sind als die aus der Nachwirkung
der Laute entspringenden. Daß der Vorstellungsverlauf schneller
dahineilt als die Sprachbewegungen, ist eben eine sehr leicht vor-
kommende, namentlich aber eine jeden Nachlaß der normalen
Willenshemmung begleitende Erscheinung. Darum versprechen wir
uns in dieser Weise so leicht, wenn wir »zerstreut« sind. Dagegen
verschwindet das gesprochene Wort in der Regel sehr schnell aus
dem Bewußtsein, und nur ausnahmsweise, wenn aus irgendwelchen
Gründen die Vorstellungsbewegung gehemmt ist, bleibt dasselbe
noch, während sich schon ein neues Wort zur Apperzeption drängt.
Einen Fall dieser Art haben wir bei den regelmäßig progressiven
Lautangleichungen der kindlichen Sprache beobachtet, wo eben
offenbar die Schwerfälligkeit der Vorstellungsbewegung, die aus dem
Mangel an Übung entspringt, die Quelle der Erscheinung ist (S. 306).
Wegen ihrer wesentlich verschiedenen Bedingungen kommen übri-
gens die Vorausnahme und die Nachwirkung der Laute selten neben-
einander, und namentlich innerhalb einer und derselben Umstellung
fast niemals vor. Nur die pathologischen Fälle bieten hierzu ge-
legentliche Beispiele, wie in Rartrillerie für Artillerie. Doch mögen
hier noch besondere Ursachen, in diesem Beispiel wahrscheinlich
eine abnorme Neigung zur Artikulation des r, hinzukommen.
Störungen der Lautbildung. -igy
c. Wortvermeng ungen.
Durch ihre dem eigenen Verlauf der Vorstellungen und Arti-
kulationen entgegengesetzte Richtung nähern sich die Nachwirkungen
der Laute bereits der dritten Klasse individueller Sprachstörungen,
den Wortvermengungen , unter denen wir hier Artikulationsfehler
verstehen, die infolge von Assoziationen mit andern laut- oder
begriffsverwandten Wörtern eintreten. Von den Erscheinungen des
gewöhnlichen Versprechens gehört hierher wahrscheinlich die aus-
nehmend häufige Verwechselung von Fisc/i und Schijf ^ wo sowohl
das erste für das zweite wie das zweite für das erste Wort ein-
treten kann. Zwar läßt sich dies Beispiel auch als eine Vor-
ausnahme der Laute deuten. Doch stehen beide Wörter jedenfalls
unter einer wechselseitigen lautlichen und begrifflichen Assoziations-
wirkung, die wahrscheinlich zusammen den Austausch vermitteln.
Häufiger kommen ähnliche Erscheinungen in der Form falscher
Wortzusammensetzungen vor, wobei die Bestandteile aus verschie-
denen assoziativ verbundenen Wörtern bestehen, z. B. Zwittellaut^
zusammengesetzt aus Mittellaut und Ztvitterlaut. Namentlich kurz
vorher gesprochene Laute oder Wörter assoziieren sich leicht auf
diese Weise mit den nachfolgenden. Jemand hat z. B, eben von
Gegenstä?iden gesprochen und redet dann von der "^Verschärfung
der Gegenstände^ statt der 'Verschärfung der Gegejisätze^ . Oder:
''erworbene Körperveränderungen erwerben sich nicht' statt ^ver-
erben sich nicht', konkret und kontrakt statt abstrakt usw. '). Auch
bei Geisteskranken sind derartige Phänomene nicht selten. Sie
kommen hier besonders in der Form der Neubildung von Wörtern
vor, die freilich manchmal ganz willkürliche oder zufällig aufge-
griffene Lautgebilde sein können, oft aber auch aus der Asso-
ziation zweier irgendwie lautlich verwandter oder sonst in Beziehung
stehender Wörter hervorgehen, wie z. B. Idensität aus Identität
und Intensität^ Kontraktionskohäsion durch Lautassoziation von
Kontraktion und Kohäsion u. a. Mehr als in solchen einzelnen
Wortbildungen gibt sich übrigens die ungeheure Macht der
^) Eine Reihe hierher gehöriger Beispiele s. bei Meringer und Mayer a. a. O.
S. 44 ff-
25*
388
Der Lautwandel.
Lautassoziationen bei der Ideenflucht der Irren in den Wortwieder-
holungen zu erkennen, bei denen Laute, die ursprünglich vielleicht
zufällig zusammengeraten sind, fortwährend in der nämlichen äuße-
ren Assoziation wiederkehren").
Abgesehen von diesen Fällen des normalen Zerstreutseins oder
der pathologischen Gedankenverwirrung, die beide auf die gleiche
Ursache, auf die Vorherrschaft loser Assoziationen bei schweifender
Aufmerksamkeit, zurückführen, kommt die Onomatomixie aber auch
noch unter einer wesentlich andern Bedingung vor, nämlich bei
mangelnder Übung im Gebrauch der Sprache überhaupt oder ge-
wisser in dem gegebenen Zusammenhang benutzter Wörter, an deren
Stelle sich dann andere irgendwie lautverwandte ganz oder teilweise
einschieben. So nicht selten beim Reden in einer fremden Sprache,
als Bestandteil des sogenannten Radebrechens. Dann aber auch
bei der verwandten Erscheinung des »Messingisch«, den Vermischun-
gen von Dialekt und Schriftsprache bei solchen, die in der letzteren
ungeübt sind, oder endlich oft besonders drastisch in der Ver-
mischung von Fremdwörtern. Fritz Reuter bietet namentlich in der
»Stromtid« dafür zahlreiche Beispiele, z. B. Elemente statt Eleven^
Gregoriiis für Chirurgiis ^ Operamente statt Operationen (Assozia-
tion mit Sakramente)^ qualifikaziert statt qualifiziert, nach Analogie
von Qualifikation, "^ich bin dem Herrn Großherzog sein Fasan , statt
Vasall usw. In diesen Fällen ist es die unzureichende Festigkeit
der Assoziation zwischen dem Begriff und dem zugehörigen Wort,
die eine teilweise oder vollständige Verdrängung durch ein anderes
lautverwandtes Wort oder auch, wie z. B. in qualifikaziert, eine
Vermengung mit einer andern Ableitungsform des gleichen Wortes
herbeiführt.
Diesen Erscheinungen nahe verwandt sind schließlich die falschen
Wortbildungen in der Sprache des Kindes, die besonders in den
späteren, der vollen Beherrschung der Sprache unmittelbar voran-
gehenden Stadien vorkommen, am meisten in der Zeit zwischen
dem dritten und sechsten Lebensjahr, aber auch noch darüber hinaus
in einzelnen Fehlgriffen andauernd. Vermengungen der Stamm-
bestandteile laut- oder begfriffsverwandter Wörter finden sich in der
Beispiele vgl. bei Brosius a. a. O. S. 52 ff. Kraepelin, a. a. O. S. 146 ff.
Störungen der Lautbildung. agg
Kindersprache selten; augenscheinlich weil der Wortvorrat über-
haupt noch ein beschränkter ist. Um so mehr wirken die Ab-
wandlungsformen des gleichen Wortes oder verschiedener Wörter
aufeinander ein und bewirken dadurch die mannigfachsten Ver-
mengungen der Wortformen. So bildete ein Kind das Substantiv
Setz statt Sitz durch Assoziation mit setzen, zu Ameise einen
falschen Singular Äinaiis nach Analogie zu Maus, Mäuse. Am
verbreitetsten sind aber, offenbar wegen ihrer die sichere Ein-
übung erschwerenden Mannigfaltigkeit, die durch Assoziationen
bewirkten Abweichungen der Verbalflexion. Sie können in den
verschiedensten Richtungen auftreten. Besonders das deutsche Prä-
teritum mit seinem Wechsel zwischen starker und schwacher Form
und seinen verschiedenen vokalischen Umlauten innerhalb der
ersteren bietet Anlaß zu außerordentlich häufigen Vermengungen.
So bildete ein von mir beobachtetes Kind scJiaß zu schießen,
offenbar durch Vermengung mit aß zu essen, dagegen Iß zu essen
durch Vermengung mit ließ zu lassen. Zugleich ist bei allen
diesen Vermengungen verschiedener Wortformen leicht zu bemer-
ken, daß die am häufigsten gebrauchten, weil sie eben die ein-
geübteren sind, am leichtesten Assoziationswirkungen äußern. Hier-
aus erklärt sich, daß die anomalen, aus abweichenden Wort-
stämmen gebildeten Formen leicht nach Analogie der normalen
Bildungen umgewandelt werden: also guter statt besser, vieler
statt mehr, Svir binnen statt Vir sinc^ u. dgl. Auch die Erschei-
nung, daß das Kind beim Gebrauch der Genera das Neutrum
bevorzugt oder allein anwendet, gehört hierher. Infolge des ver-
schwenderischen Gebrauchs der Diminutivbildungen in der Kinder-
sprache hat in dieser das Neutrum von vornherein das Über-
gewicht, und die Macht der Übung verschafft ihm daher in zweifel-
haften Fällen stets die Vorherrschaft. Endlich wird hierdurch die
Tatsache verständlich, daß die überwiegende Richtung der Ver-
tauschungen im Deutschen beim Nomen wie Verbum in der Rich-
tung von der starken zur schwachen Form geht. Da die schwachen
Formen an und für sich schon die Mehrheit bilden und außerdem
durch die übrigen Formen des gleichen Wortes begünstigt werden,
so erkennt man darin wiederum die Wirkung der größeren asso-
ziativen Übung. So bildet das Kind mit Vorliebe Formen wie
390
Der Lautwandel.
gebte^ gehte^ trinkte für gab^ ging^ trank usw."). Zu diesen Wir-
kungen der assoziativen Angleichung anderer Wortformen an die
häufigsten und geübtesten gehört ohne Zweifel auch die in die
früheste Zeit der Aneignung der Sprache fallende Ersetzung aller
mösflichen andern Verbalformen durch den Infinitiv. Sie ist die
unmittelbare Folge des ausgedehnten Gebrauchs, den in unseren
modernen Sprachen der Infinitiv in seinen Verbindungen mit den
Hilfsverben findet. Indem in solchen Verbindungen wie 'ich will
gehend Verde gehend *^soll gehen', *^muß gehen' usw. durch alle
Personen der Einzahl und Mehrzahl hindurch immer das Wort
'gehen' als konstanter Bestandteil wiederkehrt, wird es naturgemäß
zu derjenigen Form, die zum Ausdruck aller möglichen Modifika-
tionen des Begriffs dient, solange die für diese in der Sprache vor-
handenen Ausdrucksformen noch nicht geläufig sind. Auch diese
Erscheinung ist also eine Wirkung der Assoziationsübung, die nicht
im geringsten etwa mit der abstrakteren Bedeutung des Infinitivs
zusammenhängt, für die das Kind in dieser Lebenszeit überhaupt
kein Verständnis hat. Wie andere Sprachfehler, so kann übrigens
auch dieser bei fortdauerndem Mangel an Übung in begrifflicher
Sonderung der Redeteile aus der Kindheit in die spätere Lebenszeit
mit hinübergenommen werden, wo er dann manchmal irrtümlicher-
weise für absichtlichen Lakonismus gehalten wird.
Diese Erscheinungen der Kindersprache gleichen bereits so sehr
den in der normalen Sprachentwicklung vorkommenden sogenannten
»Analogiebildungen«, daß man vielfach nicht nur auf ihre unver-
kennbare Verwandtschaft hingewiesen, sondern sogar vermutet hat,
die »Analogiebildungen« seien ursprünglich aus der Kindersprache
in die allgemeine Sprache eingedrungen. Diese Annahme ist
aber kaum wahrscheinlich. Einerseits ist nicht einzusehen, warum
nicht dieselben Assoziationsmotive, die beim Kinde wirksam sind,
auch in der allgemeinen Sprache zur Geltung kommen sollten.
^) Weitere hierher gehörige Beispiele vgl. bei Gust. Lindner, Aus dem Natur-
garten der Kindersprache, 1898, S. loi fF., und W. Ament, Entwicklung von Sprechen
und Denken, S. 166 fF. Analoge Beobachtungen an französischen Kindern bei
E- Egger, Observations et reflexions sur le developpement de l'intelligence et du
langage chez les enfants, 1879, p. 40. Compayre, Entwicklung der Kindesseele,
S. ^16 ff.
Störungen der Lautbildung. jQI
Anderseits weichen die Veränderungen dieser durch ihre allmähliche
und stetige Entwicklung so sehr ab von der irregulären, vielfach
von Fall zu Fall wechselnden Wortvermischung des Kindes, daß
ein Zusammenhang zunächst doch nur in der Verwandtschaft der
Vorgänge zu bestehen scheint. Gerade dieser Zusammenhang ist
es aber, der auch hier die individuellen Erscheinungen für das Stu-
dium der generellen wertvoll macht, weil wir bei jenen die Vor-
gänge, die uns hier im allgemeinen nur in ihren Resultaten entgegen-
treten, noch in ihrer unmittelbaren Entstehungsweise beobachten
können.
Überblickt man die gesamten Laut- und Wortvermengungen,
wie sie in der Breite des normalen Lebens bald infolge schwei-
fender Aufmerksamkeit, bald als Wirkungen sich überstürzenden
Redeflusses oder, wie beim Kind, als solche mangelnder Artiku-
lationsübung, und in gesteigerten Maß endlich bei der sogenannten
Ideenflucht der Geisteskranken beobachtet werden, so sind es offen-
bar zwei Punkte, in denen alle diese Erscheinungen übereinstimmen.
Erstens vollziehen sie sich stets absichtslos. Die Fehler des ge-
vvöhnlichen Versprechens werden entweder von dem Redenden selbst
gar nicht bemerkt oder verspätet, nachdem das falsche Wort längst
ausgesprochen ist. Das gilt selbst von den auffallendsten dieser
Sprechfehler, von den Laut- und Worteinschaltungen, wie sie als
gewohnheitsmäßige Ausfüllungen der Redepausen bei Gesunden und
besonders bei Geisteskranken vorkommen. Auch diese fühlen sich
widerstandslos der Macht der in ihrem Bewußtsein auftauchenden
und die Artikulationsorgane zur Mitbewegung hinreißenden Laut-
vorstellungen, selbst wenn solche aus ganzen Wortgruppen und
Sätzen bestehen, preisgegeben. Zweitens spielen bei der Erzeugung
dieser Sprachfehler gelegentlich wohl mechanische Erschwerungen
der Artikulation eine gewisse Rolle. Doch sind sie in vielen Fällen,
namentlich bei den Lautversetzungen und Wortvermengungen, ganz
ausgeschlossen. So ist gebleiten nicht leichter als begleiten^ Artril-
lerie ist schwieriger als Artillerie usw. Was dagegen niemals
fehlt, das sind gewisse psychische Einflüsse. Dahin gehört zu-
nächst als positive Bedingung der ungehemmte Fluß der von den
gesprochenen Lauten angeregten Laut- und Wort assoziationen.
Ihm tritt der Weefall oder der Nachlaß der diesen Lauf hemmenden
;92
Der Lautwandel.
Wirkungen des Willens und der auch hier als Willensfunktion sich
betätigenden Aufmerksamkeit als negatives Moment zur Seite. Ob
jenes Spiel der Assoziationen darin sich äußert, daß ein kommen-
der Laut antizipiert oder ein vorausgegangener reproduziert oder
ein gewohnheitsmäßig eingeübter zwischen andere eingeschaltet wird,
oder endlich darin, daß ganz andere Worte, die mit den gespro-
chenen Lauten in assoziativer Beziehung stehen, auf diese herüber-
wirken — alles dies bezeichnet nur Unterschiede in der Richtung
und allenfalls in dem Spielraum der stattfindenden Assoziationen,
nicht in der allgemeinen Natur derselben. Auch kann es in man-
chen Fällen zweifelhaft sein, welcher Form man eine bestimmte
Störung zuzurechnen, oder ob man sie nicht mit größerem Rechte,
nach dem Prinzip der Komplikation der Ursachen, auf ein Zu-
sammentreffen mehrerer Motive zurückzuführen habe. So kann die
Umwandlung von begleiten in gebleiten auf Vorausnahme: sie kann
aber auch auf freier Assoziation zahlreicher Wörter mit der An-
fangssilbe ge ^ oder sie kann endlich auf der speziellen Assoziation
mit dem begriffsverwandten geleiten beruhen. Netonatorum kann
als einfache Einschaltung eines Lautes, es kann aber auch als Vor-
ausnahme des t der vorletzten Silbe gedeutet werden. Pomode
ist zunächst wohl eine Lautnachwirkung, doch ist daneben die Asso-
ziation mit Kommode nicht ausgeschlossen; bei Zaum und Reit ist
die Vorausnahme wahrscheinlich das primäre Moment, aber die
Existenz der Wörter Zaum und reiten und der Umstand, daß diese
selbst wieder begrifflich assoziiert sind, hat vielleicht mitgewirkt.
Übrigens bilden die verschiedenen Formen assoziativer Einflüsse
nsofern zugleich eine Stufenreihe der Symptome, als infolge der
natürlichen Richtung des Redeflusses die Vorausnahmen am leich-
testen vorkommen, die Nachwirkungen und die Übergänge auf
andere Wortgebilde aber, wenigstens innerhalb der Grenzen der
durch unsere Kultursprachen vermittelten Redeübung, höhere Grade
der Störung bezeichnen. Darum finden sich die Vorausnahmen in
den gewöhnlich beobachteten Fällen des Versprechens am häufig-
sten; die Nachwirkungen und die Vermengungen disparater Wörter
werden nur bei hohen Graden der »Zerstreutheit«, außerdem bei
noch mangelnder Redeübung, wie beim Kinde, oder endlich als
Symptome geistiger Paralyse wahrgenommen.
Sprachmischungen und Mischsprachen. tqt
Alle diese Ergebnisse stehen im vollen Einklang mit bekannten
experimentellen Beobachtungen über Laut- und Wortassoziationen.
Ermittelt man in einer großen Zahl von Fällen die auf ein zuge-
rufenes, vorher nicht erwartetes Wort im Bewußtsein aufsteigenden
Vorstellungen, so zeigt sich, daß schon beim normalen Menschen
reine Lautassoziationen überwiegen, d. h. solche, bei denen das
Wort ein anderes lediglich nach der Lautähnlichkeit oder nach
sonstigen äußeren Beziehungen, z. B. nach häufiger Verbindung,
wachruft. Sie nehmen unter allen nach irgendwelchen Merkmalen
gebildeten Assoziationsklassen numerisch stets die erste Stelle ein,
da sie nach den besonderen individuellen Anlagen zwischen 25 und
30 Prozent aller Fälle schwanken^). Mit dem Nachlaß hemmender
und regulierender Willenseinflüsse auf den Vorstellungsverlauf nimmt
nun aber die Menge dieser reinen Lautassoziationen noch erheblich
zu. Diese Zunahme ist daher eine der gewöhnlichsten Erscheinun-
gen der geistigen Störung, derart, daß zuweilen beinahe alle in der
angegebenen Weise erregten Assoziationen Lautassoziationen sind.
Mehr noch als die quantitative Zunahme ist hierbei die veränderte
Verteilung der Assoziationen charakteristisch. Die sprachlichen Ver-
bindungen selbst werden nämlich bei fortschreitender geistiger Para-
lyse immer äußerlicher, der Einfluß des Begriffswertes der Wörter
und ihrer logischen Verbindungen tritt immer mehr zurück, bis
schließlich nur noch Klangähnlichkeit, Tonhöhe und Rhythmus eine
Rolle spielen'').
4. Sprachmischungen und Mischsprachen.
Mit der Betrachtung des Einflusses der Sprachmischungen auf
die individuelle Lautbildung betreten wir bereits ein Gebiet, auf
dem die individuellen unmittelbar in generelle Erscheinungen des
^; Trautscholdt, Philos. Studien, I, 1883, S. 218. AschafFenburg, Kraepelins
Psychologische Arbeiten, I, 1896, 8*64, 72. A. hat die bei Tr. in eine Klasse
zusammengefaßten Wortassoziationen in die vier Rubriken der sprachlichen Remi-
niszenzen, Wortergänzungen, der sinnvollen und der sinnlosen Reime verteilt. Be-
rücksichtigt man dies, so sind die numerischen Ergebnisse der beiden Beobachter
nahe übereinstimmend.
2) Aschaffenburg, ebenda II, 1899, S. 4 ff., 14, 49 f.
394
Der Lautwandel.
Lautwechsels übergehen. Indem der Einzelne aus einer fremden
Sprache ein Wort aufnimmt, ändert er dessen Lautcharakter nach
der Anlage seiner Sprachorgane und nach den besonderen Laut-
und Begriffsassoziationen, die in ihm bereit liegen. Auf diese Weise
ist die entstehende Lautänderung zunächst ein individueller Vor-
gang, Aber da fast überall, wo sich dieser Vorgang ereignet,
ähnliche Bedingungen bei einer größeren Zahl von Menschen
wiederkehren, so entsteht aus dieser individuellen sofort eine gene-
relle Erscheinung, bei der nun die Einzelnen in eine Wechsel-
wirkung miteinander treten, infolge deren die größeren individuellen
Unterschiede allmählich sich ausgleichen. Die Sprachmischung kann
auf diesem Wege, wenn die Zufuhr fremden Sprachgutes zunimmt,
die der Gemeinschaft ursprünglich eigentümliche Sprache mehr und
mehr umgestalten und sie in eine Mischsprache überführen. Gleich-
wohl nähert sich die Sprachmischung in doppeltem Sinne noch dem
Bereich des individuellen Lautwechsels. Erstens handelt es sich bei
den in der Gegenwart oder in einer näher zurückliegenden Vergan-
genheit entstandenen Mischungen, auf die wir hier diesen Ausdruck
einschränken, um Erscheinungen, die in ihrem Werden und Wach-
sen noch mehr oder minder der direkten Beobachtung zugänglich
sind; und zweitens gestattet es dieser Umstand, daß wir wenigstens
in einzelnen Fällen einigermaßen imstande sind, die individuellen
Faktoren nachzuweisen, aus denen sich die allgemeinen Wirkungen
zusammensetzen ^).
Der Eintritt eines Einzelnen mit fremder Muttersprache in eine
bestimmte Sprachgemeinschaft pflegt einen Austausch herbeizu-
führen, der sich auf alle Bestandteile der Sprache, auf Laute, Wör-
ter und Satzfügungen, erstrecken kann. Dieser Austausch steigert
sich, wenn mehrere mit dem gleichen fremden Idiom in dieselbe
Gemeinschaft aufgenommen werden, und mit der wachsenden Zahl
^) Auf die Wichtigkeit des Studiums der Sprachmischungen für die Laut- und
Begriffsseite der Sprache hat besonders eindringlich H. Schuchardt hingewiesen und
sie an mannigfachen Beispielen erörtert: Slawo-Deutsches und Slawo-Italienisches,
1884, und Zeitschrift für romanische Philologie, herausgeg. von G. Gröber, XII,
1888, S. 242, 301 ff., Xin, 1889, S. 463 ff. (Negerportugiesisch und Indoportugie-
sisch.) Vgl. a. Windisch, Zur Theorie der Mischsprachen und Lehnwörter, Ber. der
Sachs. Ges. der Wiss. 1897, und Paul, Prinzipien,3 S. 365 ff.
Sprachmischungen und Mischsprachen. Tgc
nähert er sich zugleich der Grenze, wo ein Gleichgewicht zwischen
Nehmen und Geben hergestellt werden kann. Während das Idiom
des einzelnen Einwanderers in der Regel sehr bald spurlos in der
Masse verschwindet und schließlich ihm selber entfremdet wird, er-
hält eine zusammengehörige Gruppe, indem sie unter sich die alte
Muttersprache pflegt, diese länger und entwickelt einen größeren
Einfluß auf die Umgebung"). Das Maß dieses Einflusses, mit dem
die eigene Widerstandskraft gegen die fremde Sprache gleichen
Schritt hält, ist nun aber von verschiedenen Faktoren abhängig,
und es verteilt sich auf die Bestandteile der Sprache in sehr un-
gleichem Grade. So ist der Einfluß kulturell höher stehender Indi-
viduen begreiflicherweise im allgemeinen größer, und infolge dieses
Übergewichts teilt bei Rassenmischungen die höhere Rasse leichter
der niederen ihre Sprache mit als umgekehrt. Ferner ist es eine
Begleiterscheinung dieser überwiegenden Wirkung, daß die auf-
genommene fremde Sprache relativ wenig verändert wird,
während die Muttersprache derer, die sich das neue Idiom
aneignen, durch Aufnahme fremder Bestandteile entartef").
So ist das alemannische Deutsch der Elsässer durch den Einfluß
des Französischen, so das Deutsch der in Amerika eingewanderten
Deutschen unter dem Einfluß des Englischen zur Mischsprache gewor-
den, während das Französisch der ersteren, das Englisch der letz-
teren weit weniger von ihrer ursprünglichen deutschen Muttersprache
beeinflußt werden. Dabei verhalten sich aber die einzelnen Bestand-
teile der Sprache in diesem Wettkampf der Kulturen wesentlich
verschieden. Was die Sprache der höheren Kultur in die der nie-
deren überträgt, das ist hauptsächlich ein Teil des Wortschatzes.
Das neue Wort als Zeichen eines neuen Begriffs wird mit diesem
selbst aufgenommen. Viel widerstandsfähiger als gegen die Einfuhr
fremder Wörter verhält sich eine Sprache gegen die Aufnahme
fremder Satzfügungen ' und Wortabwandlungen. Dies ist leicht be-
greiflich, da diese Formen von den psychischen Gesetzen abhängen,
nach denen die Vorstellungen verbunden werden. Diese Gesetze
') Über einzelne Bedingungen solcher Ausbreitung finden sich lehrreiche Aus-
führungen mit Bezug auf die slawischen Sprachmengungen in Österreich bei Schuchardt,
Slawo-Deutsches usw., S. ii ff.
2) Vgl. Schuchardt, Slawo-Deutsches usw. S. 35 f. Windisch a. a. O. S. 104.
iQÖ
Der Lauhvandel.
können natürlich beharren, selbst wenn sich ein großer Teil des
Wortschatzes verändert hat. So läßt das Judendeutsch auch da,
wo es alle hebräischen Wortabkömmlinge abgestreift hat, und wo
die, die es reden, vielleicht keines einzigen hebräischen Wortes
mehr kundig sind, dennoch in Satzkonstruktion und Rhythmus deut-
lich den Einfluß der hebräischen Sprache erkennen.
Ähnlich ist nun aber auf der andern Seite das Lautmaterial,
aus dem die Wörter einer Sprache bestehen, sehr viel beharrlicher
und widerstandsfähiger gegen individuelle Einflüsse als der Wort-
vorrat. Dies gibt sich daran zu erkennen, daß nicht bloß bei der
Übertragung einzelner Lehnwörter, sondern auch bei der Aufnahme
ganzer Wortverbindungen und bei der Entstehung wirklicher Sprach-
mischungen nicht der Lautbestand der aufnehmenden, son-
dern der der aufgenommenen Sprache die wesentlichsten
Veränderungen erfährt. Das Lehnwort wird durch Lautver-
tretungen und Lautangleichungen, aufgenommene Phrasen werden
außerdem durch Einschiebung geläufiger Wortbildungen aus der
eigenen Sprache assimiliert. Dabei ist es augenfällig, daß im ge-
raden Gegensatze zu der Aufnahme der begrifflichen Seite des Wort-
vorrats diese lautliche Umbildung um so eingreifender, die An-
eignung also um so vollständiger zu sein pflegt, auf einer je niedri-
geren Kulturstufe sich die aufnehmende Sprachgemeinschaft befindet.
So erfahren die Wörter europäischer Sprachen die stärksten Um-
wandlungen, wenn sie in die Sprachen der Naturvölker übergehen'').
Diese Umwandlungen sind denen der kindlichen Sprache insofern
ähnlich, als die Assimilation des dargebotenen an das eigene Laut-
material in beiden Fällen eine möglichst vollständige ist. Hierin
liegt zugleich die Erklärung für jenen über\viegenden Einfluß, den
bei der Sprachmischung die primitivere Rasse auf das Lautmaterial
der Sprache ausübt. Dieses Übergewicht beruht hier nicht sowohl
auf einer positiven Einwirkung, als auf dem Unvermögen, den neu
sich darbietenden Lautgebilden die eigenen Artikulationsbewegungen
willkürlich anzupassen.
^) Vgl. Beispiele aus dem kreolischen Romanisch bei Schuchardt, Gröbers Zeit-
schrift, Xn, S. 245 fF., XIII, S. 467 ff., dazu die Lautumwandlungen der Kindersprache,
oben Kap. III, S. 302 ff.
Sprachmischungen und Mischsprachen. ^gy
Abweichend von diesen Erscheinungen bei der Mischung fremder
Sprachen verhalten sich in mancher Beziehung die allmählichen
Übertragungen und Ausgleichungen, die man da beobachtet, wo
Dialekte einer und derselben Sprache miteinander in Berührung
treten. Diese Vorgänge sind deshalb von besonderem Interesse,
weil sich dabei in gewissem Grad unter unsern Augen Ereignisse
vollziehen, die zweifellos bei allen allmählich und stetig geschehen-
den Lautänderungen der Sprache wirksam sind. So beobachtet
man, daß innerhalb eines Bezirks mit kleineren dialektischen Ab-
weichungen besonders die größeren Städte, wie sie die ländliche
Bevölkerung namentlich in dem arbeitskräftigen und neuen Ein-
drücken zugänglichsten Lebensalter anziehen, so auch in der
Sprache allmählich ihre Umgebung sich angleichen. Mit städtischen
Lebensanschauungen und Sitten bringt der Dienstbote und Fabrik-
arbeiter die städtische Sprechweise in seine alte Heimat mit^). Noch
schärfer prägen sich diese Erscheinungen da aus, wo abweichendere
Dialekte aneinander grenzen. Auch in diesem Fall pflegt die An-
gleichung die Regel einzuhalten, daß die in Wirtschaft und Verkehr
zurückstehenden Gebiete vorwiegend von den fortgeschritteneren
beeinflußt werden, nicht umgekehrt. Dabei schreitet sie in be-
stimmten Stadien vor, indem sie von solchen Lautgebilden ausgeht,
die in den häufiger gebrauchten Wörtern vorkommen, um von da
aus langsamer auf die Gesamtheit der Laute überzugreifen ""). In
beiden Fällen ist es die jüngere Generation, bei welcher die Ver-
änderung beginnt. Zunächst ist es wahrscheinlich das fortgeschrittenere
Jugendalter, die Generation der jugendlichen Dienstboten und wan-
dernden Arbeiter, die fremde Laute und Worte in ihre Heimat ein-
führen. Dann ist es das Kindesalter in dem Stadium der sich
vollendenden Aneignung der Sprache, das die Neuerungen bereit-
willig aufnimmt, während das reifere Geschlecht und namentlich die
Generation der Alten auch hier noch an dem Überkommenen fest-
hält. So entspringt dieser Einfluß der jüngeren Generation wohl
aus zwei ineinander greifenden Momenten: aus dem lebhafteren
^) Vgl. einige Beispiele aus deutschem Sprachgebiet bei Otto Bremer, Deutsche
Phonetik, 1893, Vorwort S. X.
2) Rousselot, Les modifications phonetiques du langage etudiees dans le patois
d'une famille die Cellefrouin (Charente', 1901, p. 147 ff., 348.
Der Lautwandel.
Verkehr, der die reifere Jugend beeinflußt, und aus der größeren An-
passungsfähigkeit der Sprachorgane, an der mit dieser in noch
höherem Maße das Kindesalter teilnimmt. In einzelnen dieser Er-
scheinungen hat man eine Stütze für die Annahme eines individuellen
und zufälligen Ursprungs solcher Veränderungen gesehen. Der
ländliche Arbeiter bringe etwa eine neue Aussprache aus der Stadt
in seine Dorfgemeinde mit, weil ihm jene als die vornehmere er-
scheine. Nun soll gewiß nicht geleugnet werden, daß gelegentlich
einmal etwas derartiges vorkommt. Aber diese singulären Fälle
willkürlicher Nachahmung sind offenbar auf die regelmäßigen Er-
scheinungen der Ausbreitung und Angleichung der Lautformen im
wesentlichen ohne Einfluß. Der individuelle Fall verschwindet wir-
kungslos, wenn er einem weiter verbreiteten Vorgang sich einreiht.
(Vgl. oben Einl. S. 13 ff.) So können wohl auch einmal Sprach-
fehler von Einzelnen nachgeahmt werden. Doch der Zwang, den
sie den Sprachorganen aufnötigen, läßt sie bald spurlos wieder ver-
schwinden. Die dauernden Wandlungen der Laute verbreiten sich
aber unwillkürlich, und ohne daß die Beteiligten selbst davon ein
deutliches Bewußtsein besitzen, indem ihnen offenbar, im Gegensatze
zu jenen gezwungenen Nachahmungen, die Artikulation willig ent-
gegenkommt. Dafür spricht denn auch, daß das Jünglingsalter bei
der ersten Aufnahme des Fremden, dagegen das frühere Kindesalter
bei der weiteren Ausbreitung desselben die Hauptrolle spielt. Der
individuelle Einfluß gewinnt eben dann erst die zureichende Macht
zur Hervorbringung allgemeiner Veränderungen, wenn er durch die
unabhängige Wiederholung in zahlreichen Einzelfallen zu einem
generellen wird, und namentlich dann, wenn ihm in der Bevölke-
rung selbst schon allgemeine Anlagen forderlich sind. Die Träger
dieser Anlagen sind aber wiederum vornehmlich die Angehörigen
der neuen Generation mit ihren bildsameren Organen und ihrer
höheren Rezeptivität für neue Eindrücke').
^) Auch Rousselot betont diese generelle Natur der sprachlichen Veränderungen :
>Le point de depart d'une Evolution phonetique ne reside pas dans une cause ac-
cidentelle. Les transformations de cette nature restent Isoldes: ce sont les d^fauts
de langue, et ceux qui en sont affliges ne fönt pas ecole; on les cite, on ne les
imite pas.« Und weiter: >La cause determinante de l'^volution est d'ordre general;
eile agit sur la masse de la population. Cest une sorte d'^pidemie ä laquelle per-
Sprachmischungen und Mischsprachen. -jgg
Bei allen jenen Lautänderungen, die im Gefolge der Sprach- und
Dialektmischung eintreten, sind übrigens sichtlich zwei physiologische
Momente wirksam, ein akustisches und ein motorisches. Beide
sind infolge der unmittelbaren Verbindung der Sprachlaute und
Artikulationsempfindungen fest assoziiert. Das fremde Wort wird
zunächst als Lautbild geläufigen Lauten der eigenen Sprache an-
geglichen, wobei die Veränderung, die es erfährt, mit dem Abstand
der abweichenden Artikulationsgewohnheiten zunimmt. Dieser Um-
bildung des akustischen Eindrucks entsprechend werden dann bei
der Übertragung des gehörten Lautes in eigene Sprachbewegungen
diese noch einmal im Sinne der eingeübten Bewegungsformen ver-
schoben. Darum pflegt beim Nachsprechen eines Fremdwortes dem
Radebrechenden selbst die Abweichung seiner Aussprache nicht
ganz zu entgehen ; aber er hält doch seine Aussprache da schon für
richtig, wo sie dies in Wahrheit noch lange nicht ist. Worte, die
ein Mensch nicht korrekt aussprechen kann, vermag er wegen der
mangelhaften Wirkung der Artikulationsempfindung innerhalb der
Wortkomplikation auch nicht richtig zu hören ^). Er überträgt sie
daher in die nach Laut und Bewegungsempfindung nächsten aus
dem ihm geläufigen Vorrat, wobei jedoch immerhin der gehörte
Laut eine gewisse Wirkung im Sinne seiner ursprünglichen Artiku-
lationsweise ausübt. Was die Art, in der der Gebildete und der
Mann aus dem Volk ein ihm neues Fremdwort nachspricht, unter-
scheidet, das ist darum vor allem die durch die mannigfaltigere
Übung gesteigerte Fähigkeit des ersteren, jener von dem gehörten
Laut ausgeübten äußeren Wirkung nachzugeben und auf diese Weise
akustisch wie motorisch Sprachlaute zu unterscheiden und zu repro-
duzieren, die ursprünglich außerhalb des Umfangs der ihm gewohnten
Artikulationen lagen. Ebenso ist dann wieder vermöge der oben
sonne n'echappe.« Wenn dann freilich dieser Vergleich mit der Ausbreitung einer
Epidemie Rousselot zu der Hypothese einer mehr oder weniger plötzlich eintreten-
den Blutänderung führt, die das pneumogastrische Nervensystem affiziere, und er für
diese Hypothese die geringere Widerstandskraft des Kindesalters gegen das Neue
anführt, so ist er, wie ich glaube, hier an den näherliegenden, und gerade mit
dem Einfluß des jugendlichen Alters auf diese Änderungen unmittelbarer zusammen-
hängenden psychophysischen Bedingungen vorübergegangen. Vgl. Rousselot a. a. O.
P- 350, 352-
') Vgl. die Parallelerscheinungen aus der Kindersprache, Kap. lU, S. 303 ff.
400
Der Lautwandel.
erörterten Bedingungen durchweg bei der jüngeren Generation die
Anpassungsfähigkeit größer als bei der älteren. Wo wirkliche
Sprachmischungen eintreten, wie in den Grenzgebieten verschiedener
Nationen, teilt sich dann diese Erweiterung des Laut- und Artiku-
lationsumfanges größeren Kreisen der Bevölkerung mit. Die Macht
der ursprünglich eingeübten Bewegungsformen ist aber auch in
solchen Fällen noch daran zu erkennen, daß der Lautcharakter der
aufgenommenen fremden Sprache dann am wenigsten gefälscht wird,
wenn sie ausschließlich zur Anwendung kommt. Hier greift nun
die für den Wortschatz geltende Regel, daß die aufgenommene
Fremdsprache unverändert bleibt, mit einer gewissen Annäherung,
wenngleich nicht im selben Maß, auch für die Sprachlaute Platz.
Dies trifft aber für die ursprüngliche Muttersprache nicht mehr zu,
sondern hier ist die für den Wortschatz geltende Kehrseite der
obigen Regel, daß die Muttersprache stark durch aufgenommene
Fremdwörter verunstaltet wird, in bezug auf den Lautbestand der
Wörter mit der entgegengesetzten verbunden, daß der aus der
fremden Sprache aufgenommene Wortvorrat durch den
Lautcharakter der Muttersprache korrumpiert wird. So
kann man leicht beobachten, daß die Elsässer und die gleich ihnen
in manchen Kantonen stark von der französischen Sprache beein-
flußten Schweizer das Französische auf zwei verschiedene Arten
aussprechen, die namentlich bei Ungebildeteren sehr beträchtlich
abweichen können: als ein erträglich reines Französisch, wenn sie
sich französisch unterhalten, und als ein sehr stark durch das Ale-
mannische lautlich verderbtes Französisch in den einzelnen franzö-
sischen Wörtern oder Phrasen, die sie in ihre deutsche Unterhaltung
einstreuen. Ähnlich verhält es sich mit den Deutschamerikanern,
wo sie in größeren Mengen zusammenwohnen. Neben einem ver-
hältnismäßig reinen Englisch herrscht bei ihnen ein Deutsch, das
durch zahlreiche englische Wörter verunstaltet ist; diese englischen
Wörter sind aber dialektisch gänzlich verderbt, und sie kommen in
solch verderbter Form nur in diesem eigentümlichen »Slang« vor.
Zum Teil erklärt sich diese Erscheinung wohl daraus, daß ver-
schiedene Sprachen abweichende Konfigurationen der Sprachwerk-
zeuge erfordern, die in dem Fluß der Rede nicht plötzlich gegen-
einander ausgewechselt werden können. Mag das aber auch die
Spraclimischvingen und Mischsprachen. 401
ursprüngliche Bedingung sein, so wirkt doch im weiteren Verlaut
jedenfalls noch mit, daß eine solche Mischsprache ein Idiom für sich
ist, das nicht bloß als Ganzes, sondern in allen seinen Bestandteilen
von der angeeigneten fremden Sprache unterschieden wird. Das
scheinbar gleiche und nur lautlich abweichende Wort in beiden
Sprachen ist daher in Wahrheit dennoch nicht völlig das gleiche
Wort. Wesentliche Bedingung für den Eintritt aller dieser Erschei-
nungen bleibt es aber stets, daß der eindringenden fremden Sprache
eine einigermaßen geschlossene Gemeinschaft oder mindestens eine
größere Zahl von Individuen, die durch Verkehr und gemeinsame
Sprache zusammengehalten werden, gegenübersteht'').
Auch diese Tatsachen lehren, daß der allgemeine Lautcharakter
einer Sprache eine verhältnismäßig stabile, viel weniger individuell
bestimmte Eigenschaft ist als ihr begrifflicher Wortvorrat. Mag der
Einzelne unter günstigen Umständen durch Worte und selbst Satz-
wendungen die Sprache dauernd beeinflussen, dem überlieferten
Lautbestand gegenüber ist das Individuum in der Regel machtlos
Im engsten Kreise kann es wohl durch seine Sprechweise auf andere
einwirken. Solche Einflüsse äußern aber nur dann dauernde Wirkun-
gen, wenn sie in einer großen Zahl weiterer Individuen der gleichen
Abänderungsrichtung begegnen, wenn sich also das Individuelle durch
vielfache Wiederholung der gleichen Bedingungen von selbst zum
Generellen erweitert.
^) Als Beispiel der obenerwähnten Wirkung auf die assimilierten fremden Ele-
mente mögen die folgenden Sätze aus dem »Pennsylvania-Dutch< dienen, die ich
einer von M. Grünbaum (Mischsprachen und Sprachmischungen, Virchows und
Holtzendorffs Vorträge, 1886, S. 42) mitgeteilten Geschäftsreklame einer pennsyl-
vanischen Zeitung entnehme. Die zugrunde liegende Muttersprache ist der Pfälzer
Dialekt, der in seinem Lautcharakter vollständig erhalten geblieben ist und diesen
den aufgenommenen englischen Wörtern mitgeteilt hat. »Sagt der Pit (Peter) :
wann sei Lebtag Leut mich geplihst (to please) han, so warens de zweh Deutsche.
. . Do hab ich mir von denne a Suht (suite) kaft, un nau (now) fihl ich mich so
stolz wie e General . . . Well, loß der Stiem raus (let the steam out), do muß ich
anne . . . wir sind determt (determined) Bissness (business) zu tun.«
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. 26
AQ2 Der Lautwandel.
5. Grundformen des generellen Lautwandels.
Von drei verschiedenen Gesichtspunkten kann man bei dem
Versuch einer Klassifikation der Erscheinungen des Lautwandels
ausgehen: von einem »logischen«, einem »psychophysischen« und
einem »soziologischen«. Vom logischen Standpunkt aus ist es
lediglich der Geltungsbereich der die einzelnen Erscheinungen be-
herrschenden Lautgesetze, ohne jede Rücksicht auf den eigentüm-
lichen Inhalt derselben, der für die Gruppierung der Tatsachen in
Betracht kommt. Neben diesem Umfang der Gültigkeit kann außer-
dem noch die Eigenschaft bestimmter Gleichförmigkeiten des Ge-
schehens, miteinander verbunden vorzukommen, als ein formales Merk-
mal angesehen werden, so daß also z. B., wenn innerhalb eines
Sprachgebietes der Übergang der Aspirata in die Media und der-
jenige der Media in die Tenuis sich begleitende Veränderungen sind,
diese letzteren als der Inhalt eines allgemeineren Lautgesetzes gelten.
Nun kann es, wie oben bemerkt wurde (S. 360), »ausnahmslose Laut-
gesetze« höchstens dann geben, wenn die Konkurrenz mit andern
Gesetzen nicht verändernd einwirkt. Es liegt aber in der Natur der
Sache, daß es sich dabei in der Regel um gewisse Grenzfälle handeln
wird, bei denen zu irgendwelchen Ursachen bestimmter Laut-
änderungen spezielle Bedingungen hinzutreten, welche die Wirksam-
keit konkurrierender Ursachen ausschließen. So kommt es, daß
diejenigen Lautgesetze, die eine solche Ausnahmslosigkeit für sich
in Anspruch nehmen können, meist nicht allgemeinster, sondern
umgekehrt speziellster Art sind, und daß sie, wenn man ihnen eine
allgemeine Formulierung zu geben sucht, nicht selten den Charakter
von Regeln mit Ausnahmen oder sogar von Ausnahmen zu all-
gemeineren Regeln annehmen^). Wohl aber gibt es Lautgesetze,
die gegenüber andern in doppelter Beziehung eine ausgezeichnete
^) Dahin gehören z. B. die von Delbrück (Gnmdfragen der Sprachforschung,
S. 102) angeführten Fälle »ausnahmsloser Lautgesetze«, daß im Griechischen am
Ende des Wortes i und d abfallen und m in n übergeht (z. B. jutXi aus */uiXiT,
vgl. Gen. fXiXiT-og, aXXo& aus *«AAo = lat. aliud, "innov = lat. eqmim), Beispiele,
wo eben die ausschließlich für das Ende des Wortes geltende Erscheinung das
sogenannte Gesetz sofort als eine Ausnahme zu der sonst bestehenden Konstanz
jener Laute kennzeichnet.
Grundformen des generellen Lautwandels. 40^
Stellung einnehmen: erstens insofern die einzelnen Tatsachen, die
unter sie gehören, an Zahl besonders groß sind, und zweitens in-
sofern, als sie eine ungewöhnlich große Menge regelmäßig koexi-
stierender Vorgänge umfassen. Wir wollen den durch diese beiden
Eigenschaften formal ausgezeichneten Lautwandel den regulären,
und die für ihn geltenden empirischen Gesetze die »regulären Laut-
gesetze« nennen. Alle diejenigen Veränderungen, die nur einzelne
Tatsachen der Lautgeschichte oder beschränkte Gruppen solcher
umfassen, und bei denen die regelmäßig begleitenden Veränderun-
gen fehlen oder ebenfalls von beschränktem Umfange sind, wird
man dann als singulären Lautwandel bezeichnen können.
Nach dem zweiten, dem psychophysischen Gesichtspunkte
zerfallen die Erscheinungen des Lautwandels nach den für sie nach-
zuweisenden Bedingungen ihrer Entstehung innerhalb eines indivi-
duellen Sprachorgans in Formen stetiger und in solche sprung-
weiser Änderungen. Hierbei sind aber diese zeitlichen Verschieden-
heiten nur äußere Symptome wichtigerer innerer Unterschiede.
Physiologisch können nämlich die stetigen Lautänderungen nur
zwischen Lauten von verwandter Artikulationsform vor sich gehen,
die sich nach den früher (S. 377) erwähnten vier Richtungen des
Artikulationsraumes, der Lautdauer, der Tonhöhe und der Laut-
stärke verändern. Der sprunghafte Lautwechsel dagegen vollzieht
sich zwischen allen möglichen an sich völlig unverwandten Lauten,
und es ist bei ihm nur die allgemeine Veränderung der Artiku-
lationsform von Bedeutung. Psychologisch beruht ferner der
stetige Lautwandel auf langsam vor sich gehenden Veränderungen
der gesamten psychophysischen Organisation und demnach auf ent-
sprechenden allmählichen Veränderungen der Bedingungen, denen
diese Organisation im Laufe der Zeiten ausgesetzt ist. Infolge-
dessen entgehen die Lautänderungen nicht bloß der unmittelbaren
Wahrnehmung der Individuen, von denen sie erlebt werden, son-
dern sie lassen sich mit Sicherheit überhaupt erst in verhältnis-
mäßig großen Zeitabständen feststellen. Über ihre Bedingungen
herrscht aber teils wegen dieser Allmählichkeit der Vorgänge, teils
wegen der ungemein zusammengesetzten Beschaffenheit verändern-
der Ursachen große Unsicherheit. Dies ist wesentlich anders bei
jenen Lautändemngen , die sich zwar ebenfalls nur allmählich und
26*
404
Der Lautwandel.
stetig über eine redende Gemeinschaft ausbreiten, die aber von dem
individuellen Sprachorgan jedesmal plötzlich vollzogen werden. Hier
ist der Umfang der stattfindenden Abweichung größer, daher sich
oft in verhältnismäßig kurzer Zeit ein Wechsel bestimmter Laut-
formen nachweisen läßt. Außerdem sind auch die Bedingungen,
welche die Veränderungen bewirken, enger begrenzt. Sie bestehen
hier durchweg in einzelnen, verhältnismäßig leicht nachweisbaren
assoziativen Einwirkungen verschiedener Lautgebilde aufeinander, zu
denen häufig noch unterstützende physiologische Bedingungen hin-
zukommen. Demnach fällt im ganzen die psychophysische Ein-
teilung mit der logischen in dem Sinne zusammen, daß der
reguläre Lautwandel einerseits ein stetiger und anderseits ein
allgemeiner ist, so daß er sich allmählich über die ganze Sprache
oder mindestens über große Gebiete derselben ausbreitet, während
der singulare in den besonderen Wirkungen der Laut-
bestandteile einer Sprache aufeinander seine konkreten psy-
chophysischen Ursachen hat.
Die unter dem dritten, dem soziologischen Gesichtspunkte
sich darbietenden Unterschiede endlich gehen in ihren Hauptgruppen
der logischen und der psychophysischen Einteilung parallel. Der re-
guläre und stetige Lautwandel ist stets derjenige, von dem zugleich
vorausgesetzt werden darf, daß er die sprechende Gemeinschaft in
weitem Umfang umfaßt, daß er also in seinem Gesamtverlauf ein
kollektiver Vorgang ist. Der singulare wird zwar ebenfalls nie
in einem einzigen Individuum allein entstehen, da ihm eine Ver-
breitung nur dann gesichert ist, wenn seine Bedingungen hinreichend
häufig sind. Immerhin sind vermöge der beschränkteren Natur dieser
Bedingungen die Ausgangspunkte dieses Lautwandels voraussichtlich
begrenztere. Dies bestätigt die Erfahrung, da überall wo die An-
fänge solcher Veränderungen aufzufinden sind , diese auf einen
räumlich wie zeitlich bestimmt begrenzten Ursprung hin-
weisen.
Hiernach stimmen die Ergebnisse der logischen, psychophy-
sischen und soziologischen Betrachtung in dem Sinne überein, daß
die beiden Hauptformen des Lautwandels nach jeder dieser Rich-
tungen charakteristische Unterschiede darbieten. Weiterhin lassen
sich dann aber die Hauptformen des singulären Lautwandels
Grandformen des generellen Lautwandels. 4O5
aus dem Verhältnis ableiten, in dem die soziologischen zu den
individuellen psychologischen Bedingungen stehen. Bezeichnen näm-
lich die verschiedenen Klassen der unter normalen wie abnormen
Verhältnissen als individuelle Abweichungen vorkommenden Laut-
und Wortvermengungen die überhaupt möglichen Richtungen, nach
denen Lautänderungen innerhalb einer geschlossenen Sprachgemein-
schaft möglich sind, so sind es anderseits allgemeingültige psycho-
physische Momente sowie besondere soziologische Bedingungen, die
jene Abweichungen in bestimmte Grenzen einschränken und gewissen
unter ihnen einen Vorrang verschafifen. In erster Linie steht hier
die Ausschaltung allzu großer Abweichungen von dem
gegebenen Zustand, ein allgemein für das Verhältnis der indivi-
duellen zu den ihnen entsprechenden generellen Veränderungen gül-
tiges Gesetz, das wir kurz als das Prinzip der soziologischen
Auslese bezeichnen können. Durch diese Auslese bleiben nament-
lich die beiden ersten Arten allgemeiner Sprachfehler, die Einschal-
tungen und Auslassungen von Lauten, in ihrer generellen Ver-
breitung durchaus in jene Grenzen eingeschränkt, wo sie zugleich
eine physiologische Erleichterung der Artikulation bewirken. Da die
Motive, die zu einer solchen Erleichterung drängen, wiederum nahe
mit allgemeinen Veränderungen zusammenhängen, so sind gerade
solche erleichternde »Dissimilationen« sowie die der beschleunigten
Artikulation sich fügenden Lautabschwächungen, die allmählich in
eine völlige Elimination gewisser Laute übergehen, sehr allgemeine
Begleiterscheinungen des regulären Lautwandels. Eine selbständigere
Bedeutung besitzen die Vorausnahmen und die Nachwirkungen
der Laute. Für beide gilt die in dem Prinzip der soziologischen
Auslese begründete Einschränkung, daß, im Unterschiede von den
weit umfangreicheren individuellen Sprachfehlern analoger Art, bei
dem generellen Lautwechsel nur benachbarte Laute solche Ein-
flüsse äußern. Wir können daher diese Erscheinungen, die ge-
wöhnlich »regressive und progressive Assimilationen« genannt wer-
den, als assoziative Kontaktwirkungen der Laute bezeichnen.
Das Attribut »assoziativ« weist darauf hin, daß, wie bereits die Be-
trachtung der entsprechenden individuellen Artikulationsfehler ge-
zeigt hat, trotz mithelfender physiologischer Momente das haupt-
sächlich wirksame Motiv in Lautassoziationen besteht. Solche sind
A.o6 ^^^ Lautwandel.
nun auch bei der letzten Gruppe von Lautänderungen anzutreffen,
die den »Wortvermengungen« parallel gehen. Wir wollen sie, da
in diesem Falle die Assoziationen von mehr oder minder fern lie-
genden Lautgebilden ausgehen, die assoziativen Fernewirkungen
der Laute nennen. Bei ihnen wird, im Vergleich mit den außer-
ordentlich mannigfaltigen individuellen Sprachfehlern von gleichem
psychologischen Charakter, wiederum in hohem Grade die sozio-
logische Auslese wirksam, da hier nur gewisse oft wiederkehrende
Verbindungen, die durch grammatische und begriffliche Beziehungen
nahegelegt werden, einen dauernden Einfluß auf die Sprache ge-
winnen. Die große Mehrzahl zufälliger individueller Entgleisungen
dagegen geht spurlos an ihr vorüber.
Während die bisher unterschiedenen Lautänderungen Vorgänge
sind, die sich in einer geschlossenen Sprachgemeinschaft lediglich
durch die in der Sprache selbst und in den allgemeinen Kultur-
einflüssen gelegenen Bedingungen vollziehen können, tritt diesen
endlich eine letzte Gruppe von Lauterscheinungen gegenüber, an
denen sich die Einflüsse fremder Sprachgemeinschaften oder
einzelner ihnen entlehnter Wortgebilde verraten. Hier müssen frei-
lich für uns die möglicherweise sehr umfangreichen Sprachmischun-
gen ganz außer Betracht bleiben, die, einer vorhistorischen Zeit
angehörend, vielleicht für den Lautbestand der uns überlieferten
»Ursprachen« bestimmend gewesen sind. Die dahin gehörigen
Fragen mögen noch einmal Aufgaben der prähistorischen Sprach-
forschung werden, der psychologischen Untersuchung bieten sie
keinerlei Angriffspunkte. Wohl aber hat diese diejenigen Erschei-
nungen der Sprachmischung, die als Wirkungen des Völkerver-
kehrs fortwährend in die Entwicklung der Sprache eingreifen, in
die bei ihnen wirksamen psychischen Vorgänge zu zerlegen. Solche
Erscheinungen sind die Lautänderungen bei der Wortentlehnung.
Geht man von den direkt beobachteten Tatsachen der Sprach-
mischung zu diesen assoziativen Fernewirkungen der Laute
bei der Wortentlehnung über, so findet nun wiederum das Prin-
zip der soziologischen Auslese seine Anwendung, insofern die Wort-
entlehnung überhaupt, gegenüber den die ganze Sprache umgestal-
tenden eigentlichen Sprachmischungen , einen verhältnismäßig zu-
rücktretenden Bestandteil der Sprachentwicklung bildet.
Grundformen des generellen Lautwandels. 407
Indem die hier aufgezählten Formen des Lautwandels, abgesehen
von noch spezielleren Ursachen, die sich unserer Nachweisung ent-
ziehen, sowie von den später zu erörternden Wechselwirkungen
von Laut- und Bedeutungswandel, fortwährend nebeneinander auf
die Sprache einwirken, ist diese von einer Fülle sich durchkreu-
zender Gesetze beherrscht, deren jedes naturgemäß nur gelten
kann, wenn es nicht durch andere, im gegebenen Fall zwingendere
Gesetze aufgehoben wird. Unter diesen Gesetzen treten zunächst
die des regulären Lautwandels den mannigfachen einzelnen Kon-
takt- und Assoziationswirkungen gegenüber, die wir auf singulare
Lautgesetze zurückführen können. Da jene im ganzen die kon-
stanteren, diese die variableren sind, so erklärt sich daraus hin-
reichend die verbreitete Vorstellung, daß der reguläre Lautwandel
die eigentlichen, im engeren Sinne so zu nennenden »Lautgesetze«
in sich schließe, deren Geltung nun in einzelnen Fällen durch spe-
zielle Bedingungen aufgehoben oder modifiziert werde. Da ferner
der reguläre Lautwandel, wie das seine größere Regelmäßigkeit
schon mit sich bringt, im allgemeinen bei sehr wechselnden Ver-
bindungen der Laute vorkommen kann, so pflegt man ihn auch den
»selbständigen« zu nennen und ihn als solchen speziell dem aus
Kontaktwirkungen hervorgehenden als dem »abhängigen« oder
»kombinatorischen« gegenüberzustellen. Nun ist aber klar, daß
in dem verbreiteteren Vorkommen an und für sich noch keinerlei
Beweisgrund für die Annahme liegen kann, hier sei es der einzelne
Laut als solcher, der eine von äußeren Bedingungen völlig unab-
hängige Veränderung erfahren habe, wie dies der Ausdruck »selb-
ständig« andeutet. Vielmehr kann es sehr wohl sein, daß solche
äußere Bedingungen dabei nur in einer viel größeren Zahl von
Fällen und unter sonst mannigfach variierenden Umständen auf den
Laut eingewirkt haben. In der Tat ist ja ein im strengen Sinne
»selbständiger« Lautwandel schon deshalb ein Ding der Unmöglich-
keit, weil der einzelne Sprachlaut kein isoHertes Gebilde, sondern
ein aus dem Wortzusammenhang durch Abstraktion gewonnenes
Element ist. Wenn aber der einzelne Laut durchweg in Verbindung
mit andern Lauten steht, so kann er unmöglich absolut selbstän-
dige, von diesen Verbindungen unabhängige Veränderungen er-
fahren. In Wirklichkeit bestätigen das auch, wie wir unten sehen
4o8
Der Lautwandel.
werden, die Erscheinungen, indem sie zeigen, daß die sogenann-
ten »Lautgesetze« selbst wiederum nur Abstraktionen aus gewissen
durchschnittlichen Lautänderungen sind, die in den einzelnen Fällen
durch den Zusammenhang mit andern Lauten mannigfach modi-
fiziert erscheinen. Demnach wollen wir den Ausdruck »selbstän-
diger« Lautwandel um so mehr vermeiden, weil er zwischen den
beiden Klassen mehr oder minder regulärer und relativ singulärer
Lautänderungen eine Kluft errichtet, die tatsächlich nirgends exi-
stiert. Auch hat die Vorstellung, daß der Laut als solcher ge-
wissermaßen die Tendenz in sich trage, ganz unabhängig von den
Schicksalen, die er als Lautelement des Wortes haben mag, eine
ihm immanente Entwicklung zu durchlaufen, beinahe etwas Mysti-
sches an sich, da sie eben den Einzellaut aus allen den Beziehungen
loslöst, ohne die er doch in der Wirklichkeit nicht vorkommt. In-
dem sie aber dazu verführt, immer wieder das alte Schema der
grammatischen Regel und ihrer Ausnahmen auf die Lautgesetze zu
übertragen, erweckt sie von vornherein die Vorstellung, die eigent-
lichen Lautgesetze beruhten auf spezifischen, von Kontakt- und
Assoziationseinflüssen gänzlich verschiedenen Kräften. Da diese auf
die einzelnen Laute selbständig wirken sollen, so liegt es dann
außerdem nahe, sie wiederum auf eine einzige allgemeine Ursache
zurückzuführen, über die man sich nun in mancherlei vagen Ver-
mutungen ergeht. Natürlich sind aber alle diese Voraussetzungen
von vornherein ebenso unwahrscheinlich, wie es die Annahme eines
selbständigen Lautwandels überhaupt ist. Denn unter je mannig-
faltigeren Bedingungen der reguläre Wandel vorkommt, um so
wahrscheinlicher ist es, daß er sich nicht durch die Einfachheit, son-
dern umgekehrt durch die Komplikation der Ursachen unterscheidet ;
und bei den singulären Lautänderungen wird die Zurückführung auf
bestimmte einzelne Bedingungen eben deshalb leichter möglich sein,
weil hier die Erscheinungen selbst im ganzen von einfacherer Natur
sind. Das für die nähere Untersuchung maßgebende Merkmal ist
daher nicht dies, daß die regulären Lautänderungen strengeren Ge-
setzen folgen als die singulären ; mindestens muß dies vorläufig ganz
dahingestellt bleiben. Noch weniger ist es zulässig, von vornherein
anzunehmen, beidemal seien die Erscheinungen auf wesentlich ver-
schiedene Ursachen zurückzuführen. Vielmehr bleibt der einzige
Grundformen des generellen Lautwandels. ^OQ
Unterschied, den wir ohne vorzugreifen machen dürfen, der, daß
singulare Veränderungen durchweg auf bestimmte einzelne Be-
dingungen zurückführbar sind, die wir entweder direkt nachweisen
oder mit verhältnismäßiger Sicherheit aus den näheren Umständen
erschließen können, während sich die Ursachen des regulären
Lautwandels zunächst unserem Nachweis entziehen. Damit wird
aber für die Untersuchung beider Gruppen von Erscheinungen eine
Maxime maßgebend, die zu der gewöhnlich befolgten den vollen
Gegensatz bildet. Während diese unter der immer noch herrschen-
den Vorstellung steht, der reguläre Lautwandel sei eine Art allge-
meinverbindlicher Norm, der die singulären Erscheinungen infolge
irgendwelcher Ausnahmebedingungen widerstreiten, haben wir hier
lediglich der Maxime zu folgen, daß man bei einer Klasse zu-
sammengehöriger und überall einander durchkreuzender Erschei-
nungen nicht vom Unbekannteren und darum voraussichtlich Ver-
wickelteren zum Bekannteren und Einfacheren, sondern umgekehrt
von diesem zu jenem überzugehen hat. Zunächst werden daher die
Fälle verhältnismäßig leicht zu durchschauender Lautänderungen zu
durchforschen und damit gewisse unzweifelhaft vorhandene Ursachen
des Lautwandels festzustellen sein, um dann erst zur Untersuchung
derjenigen Erscheinungen fortzuschreiten, bei denen dies bis dahin
nicht in gleicher Weise gelungen ist. Demnach gehen wir aus von den
assoziativen Kontaktwirkungen der Laute. Von ihnen führt
dann die Betrachtung naturgemäß zu solchen Veränderungen, die
wir als die assoziativen Fernewirkungen der Laute zusammen-
fassen können. An diese schließen sich, mehr als eine besondere
Gruppe denn als eine spezifische Art solcher Fernewirkungen, die
vorzugsweise bei Wortentlehnungen stattfindenden Laut- und
Begriffsassoziationen an. Nachdem wir durch die Betrachtung aller
dieser Fälle singulären Lautwandels mit den Bedingungen vertraut
geworden sind, unter denen in einzelnen, durch die Gunst der Um-
stände zugänglicheren Fällen Lautänderungen bedingt werden, wollen
wir uns schließlich den Erscheinungen des regulären Lautwan-
dels zuwenden, bei denen dies nicht zutrifft, die nun aber wegen
ihrer weitgreifenden geschichtlichen Zusammenhänge ein besonderes
Interesse in Anspruch nehmen.
4IO
Der Lautwandel.
III. Assoziative Kontaktwirkungen der Laute.
I. Regressive und progressive Lautinduktion.
Als Kontaktwirkungen sollen hier alle diejenigen Lautände-
rungen bezeichnet werden, die sich unmittelbar als Folgen der Ein-
wirkung eines Lautes auf einen andern, der sich in seiner Nähe,
also in der Regel in unmittelbarer Wortverbindung mit ihm befindet,
darstellen. Für die Kontaktwirkungen ist es demnach kennzeich-
nend, daß nicht bloß der Lautwandel selbst, sondern auch der ihn
herbeiführende äußere Anlaß direkt unserer Beobachtung gegeben
ist. Durch dieses Merkmal unterscheiden sich die Kontaktwirkungen
von allen andern Formen des Lautwechsels, bei denen die Be-
dingungen der Veränderung entweder in mehr oder weniger weit
zurückliegenden Tatsachen der Sprachgeschichte oder in andern,
mit den veränderten Lauten selbst nicht unmittelbar verbundenen
sprachlichen Erscheinungen bestehen. Übrigens sind auch bei den
Kontakt^virkungen nur die äußeren Bedingungen der Vorgänge in
gewissen die Veränderung bewirkenden Lauten unserer direkten
Beobachtung zugänglich; auf die Gründe, aus denen ein einzelner
Laut wirklich auf einen andern einwirkt, läßt sich erst aus der Ver-
gleichung einer größeren Anzahl analoger Erscheinungen und aus
Beobachtungen über die bei dem Kontakt der Laute obwaltenden
physischen und psychischen Bedingungen zurückschließen.
Bezeichnen wir, nach dem Vorbilde der für gewisse physikalische
und physiologische Ferne- und Nahewirkungen eingeführten Namen,
denjenigen Laut, von dem eine verändernde Wirkung ausgeht, als
den > induzierenden«, den, der die Veränderung erleidet, als den
»induzierten«, so können nun sowohl bei unmittelbarer Berührung
des induzierenden und induzierten Lautes, wie bei mittelbarer, wo
sich zwischen beide noch andere Lautelemente einschieben, Kontakt-
erscheinungen stattfinden. Immer jedoch besteht die Bedingung,
daß beide Laute einander nahe genug seien, um sowohl physisch
wie psychisch eine direkte Einwirkung möglich zu machen, —
physisch, insofern die beiden Artikulationsbewegungen einander
schnell genug folgen; psychisch, insofern vorausgesetzt werden
Regressive und progressive Lautinduktion. ah
darf, daß sich beide Laute während einer gewissen Zeit zusammen
im Bewußtsein befinden. Ferner kann die Kontaktwirkung eine
einseitige sein, so daß von den zwei in Beziehung tretenden Lauten
der eine der induzierende, der andere der induzierte ist; oder es
kann eine Wechselwirkung vorliegen, wo dann jeder Laut indu-
zierend und induziert zugleich ist. Von diesen beiden möglichen
Fällen ist der erstere jedenfalls der weitaus häufigere: die Kontakt-
wirkungen der Laute sind durchweg einseitiger Art. Wir müssen
also annehmen, daß, welches auch die inneren Ursachen der Laut-
änderungen sein mögen, diese im allgemeinen jedesmal an die vor-
herrschende physische oder psychische Wirkung eines bestimmten
Lautes auf einen andern gebunden sind.
Unter den in dem obigen Sinne zu definierenden Kontakterschei-
nungen nehmen diejenigen die erste Stelle ein, bei denen sich
die Wirkung auf die Erzeugung eines qualitativen Lautwechsels
beschränkt, ohne daß Lautverlust oder Einschaltung von Lauten
stattfindet: die Fälle der sogenannten »kombinatorischen Laut-
änderungen« der Sprachwissenschaft. Sie lassen sich in verschie-
dene Unterformen unterscheiden, indem alle prinzipiell möglichen
Fälle hier auch in Wirklichkeit, obgleich in sehr verschiedener
Häufigkeit vorkommen. Die Lautinduktion kann nämlich sowohl
in qualitativ entgegengesetzten Formen wie in zeitlich entgegen-
gesetzten Richtungen stattfinden. Die qualitativen Gegensätze
bestehen darin, daß der induzierende Laut entweder den indu-
zierten sich ähnlich, oder aber daß er ihn sich unähnlich macht,
— daß er also im ersten Fall eine qualitativ attrahierende, im
zweiten eine abstoßende Wirkung ausübt. Dort pflegt man die
Erscheinung als »Assimilation«, hier als »Dissimilation« zu bezeich-
nen. In jedem dieser Fälle kann aber außerdem die zeitliche
Richtung der Wirkung eine entgegengesetzte sein, indem ein Laut
entweder auf einen ihm vorausgehenden oder auf einen ihm nach-
folgenden induzierend einwirkt : im ersten Falle nennt man die Wir-
kung eine »regressive«, im zweiten eine »progressive«. Demnach
zerfallen die Erscheinungen der eigentlichen Lautinduktion in vier
Formen: in eine regressive und progressive Assimilation,
und in eine regressive und progressive Dissimilation. Unter
diesen Formen überwiegen weitaus die Assimilationen und ebenso
41.
Der Lautwandel.
überwiegen wiederum, wenigstens in den uns näher stehenden Kultur-
sprachen, die regressiven Wirkungen. Die häufigste unter den
genannten Erscheinungen ist daher überhaupt die »regressive Assi-
milation« oder diejenige Kontaktwirkung, bei der ein bestimmter
Laut einen ihm in der Rede vorausgehenden in solcher Weise in-
duziert, daß dieser ihm gleich oder ähnlich wird.
Auf die abweichenden Bedingungen der regressiven und der
progressiven Assimilation weist nun schon die Tatsache hin,
daß jede dieser entgegengesetzt gerichteten Formen einer Attraktion
in der Regel auf Laute von verschiedenem Klangcharakter ihre
Wirkungen ausübt. Bei der gewöhnlichen » regressiven Assimi-
lation« gehören die aufeinander einwirkenden Laute am häufigsten
der Klasse der konsonantischen Geräuschlaute an; der »progressiven
Assimilation« unterliegen öfter die Vokale und die Halbvokale. Wo
die Vokale überhaupt eine assimilierende Wirkung äußern, sei es
eine regressive oder progressive, da geschieht dies außerdem
niemals in unmittelbarer Berührung, wie zumeist bei den Konso-
nanten, sondern über zwischenliegende Konsonanten hinweg. So
gehören zu den gewöhnlichsten regressiven Assimilationen Übergänge
wie adshnüare in assimilare^ adferre in ajferre^ adgrcdi in aggredi,
adtrahere in attrahere^ conligere in colligerc usw., ferner von agnus
in angnus^ snpmus in siimmus^ scdla in sella^ oder im Italieni-
schen fiotto aus lat. ßuctiis, fatto aus /actus, im Deutschen hatte
aus hatte ^ empfangen, empfinden aus entfangen, ent finden, griech.
ifxßdXXio aus 6vßd?.lco, lllehrcü aus kvlsinio usw. Die Kontakt-
wirkung besteht hier teils in einer völligen, teils in einer bloß par-
tiellen Angleichung, in einer Annäherung der Artikulation des voran-
gehenden an den nachfolgenden induzierenden Laut: ersteres z. B. in
snpmus — sumtnus, adsimilare — asshnilare, habte — hatte, letzteres in
agnus — angniis, entfangen — empfangen, IvßaÜM — lußäU.oj. Viel
seltener ist die progressive Assimilation konsonantischer Laute, wie
in klimmen aus klimben, lat. forfcx aus forpex, vulva aus vidba
u. a. , Fälle, die zugleich an Erscheinungen der Dissimilation, der
Elision und der Umstellung der Laute, mit denen sie im Erfolg zu-
sammentreffen, nahe angrenzen'). Umgekehrt ist dagegen die vo-
') Eine systematische Übersicht über alle diese, hier nicht näher zu erörternden,
aber in den wesentlichen Motiven mit den Formen der Assimilation und Dissimila-
Regressive und progressive Lautinduktion. ^I^
kaiische Assimilation in regressiver Richtung eine verhältnismäßig
seltene Erscheinung. Doch gehören hierher wahrscheinlich Fälle
wie im lat. similis (simul), facilis (facultas), wo die adjektivische
Endung auf den Stammvokal zurückgewirkt zu haben scheint, ferner
der Umlaut im Deutschen, wie der Übergang von ahd. gasti in
gesti^ mhd. geste 'Gäste'', fallit in fellit 'fällt "*, handi in hendi
'Hände', briit in plur. brinti 'Bräute' usw., in welchen Fällen
wieder in der Regel eine bloße Annäherung des vorausgehenden
an den nachfolgenden Vokal, keine völlige Angleichung zu beobach-
ten ist. Um so häufiger ist progressive Assimilation der Vokale.
So lat. fulguris aus *ßdgoris ('vgl. temporis)^ ahd. hdhona aus
höhana 'von oben'. Vor allem aber gehören hierher die Erschei-
nungen der sogenannten »Vokalharmonie< in den ural-altaischen,
den malaiischen und polynesischen Sprachen. In den beiden
letzteren Sprachgruppen hängt dieselbe mit den hier außerordent-
lich verbreiteten Verdoppelungserscheinungen zusammen, die es
bewirkt haben, daß viele Wörter dieser Sprachen überhaupt nur
noch als Verdoppelungsformen vorkommen. Da man in solchen
Fällen meist annehmen darf, daß die einfache Form die ursprüng-
liche sei, so kann diese dann zugleich als der induzierende Laut
betrachtet werden; und da die Betonung auf dem inlautenden Vo-
kal liegt, so sind hier wahrscheinlich ähnliche assimilierende Be-
dingungen wie bei der eigentlichen Assimilation wenigstens von
mitbestimmender Wirkung. In der Tat zeigen diese Sprachen auch
da, wo keine eigentliche Wiederholung vorliegt, eine große Neigung
zur Bildung zweisilbiger Wörter mit gleichen, durch einen konsonan-
tischen Laut getrennten Vokalen. Noch charakteristischer äußert
sich die progressive Vokalassimilation in den uralischen und altai-
schen Wortbildungen, wo dasselbe Suffix in seinen übrigen Bestand-
teilen konstant zu bleiben, in seinen vokalischen Elementen aber
derart zu variieren pflegt, daß diese jedesmal dem vokalischen Inlaut
des vorangehenden Wortstammes angeglichen sind. So heißt im
tion übereinstimmenden Erscheinungen für das indogermanische Gebiet ^bt Brug-
mann, Kurze vergl. Grammatik, S. 225 ff. Für die romanischen Sprachen findet sich
reiches Material bei Meyer-Lübke, Gramm, der romanischen Sprachen, Bd. I, S. 315 ff.
Charakteristische Beispiele vorzugsweise aus dem gleichen Sprachgebiet sind heraus-
gehoben von E. Wechssler, Gibt es Lautgesetze? S. 140 ff.
414
Der Lautwandel.
Jakutischen aga-lar Väter, äsä-lär Bären, ogo-lor Kinder, ebenso
aga-ttmi vom Vater, äsä-ttän vom Bären, ogo-tton vom Kinde.
Ähnlich im Türkischen sev-mek lieben, bak-mak erblicken, mä-mäk
kennen usw.
Gegenüber diesen mannigfaltig variierenden Vorgängen der Assi-
milation ist die Dissimilation die weit seltenere Erscheinung.
Ausschließlich von konsonantischen Lauten als induzierenden Ele-
menten ausgehend, erstrecken sich ihre Wirkungen in der Regel
ebenfalls auf solche; doch können auch Vokale, die zwischen Kon-
sonanten eingeschaltet werden, als Erzeugnisse der Dissimilation
vorkommen. Die regressive Richtimg der Wirkung ist wieder die
vorwaltende, ohne daß jedoch die progressive ganz fehlt. In beiden
Formen scheint die Dissimilation auf den älteren Entwicklungs-
stufen der indogermanischen Sprachen allgemeiner gewesen zu sein,
was zumeist wohl mit dem häufigeren Vorkommen der eine solche
besonders leicht veranlassenden echten Aspiraten zusammenhängt.
Denn im Sanskrit und Griechischen werden die verbreitetsten dieser
Erscheinungen durch das von Graßmann aufgestellte »Gesetz der
Hauchdissimilation« beherrscht: »Wenn in zwei Konsonantengruppen
eines Wortes, die durch einen Vokal getrennt sind, Aspiraten vor-
kommen, so wird eine derselben, in der Regel die erste, ihrer
Hauchung beraubt« ^). So hat sich durch regressive Dissimilation
ein idg. *dhidheti in skr. dadhäti^ gr. ri^rjOL^ *-9-Qscpco in Tqecpio,
*d-QiXÖg [d-Qi^'j in rgiy^ög umgewandelt. Der Effekt bleibt der-
selbe, wenn bei der Wiederholung gleicher Laute der vorangehende
in eine andere, verwandte Lautgruppe überspringt, wie beim Über-
gang von gr. ^r]QrjTriQ in -d-rjXrjTiJQ , väqva^ in laQvaB, lat. pere-
grimis in ital. pellegrmo^ veneniun in veleno^ arbor in albero u. a. *).
Progressive Dissimilationen kommen vereinzelt im Lateinischen sowie
in modernen Sprachen, in den letzteren namentlich bei der Auf-
nahme von Fremdwörtern vor. So schwankt die Endung des latei-
nischen Adjektivs zwischen -alis und -aris: die im einzelnen Falle
übliche Form ist aber in der Regel von der dissimilierenden Wirkung
des vorausgehenden Stammkonsonanten abhängig. Demnach stehen
^) Graßmann, Kuhns Zeitschr. für vergl. Sprachw. XII, 1863, S. iioff.
2) Brugmann, Kurze vergl. Grammatik der indogerm. Sprachen, 1902, S. 39 ff.
M. Grammontj La dissimilation consonantique (These de Paris), 1895.
Regressive und progressive Lautinduktion. ^ j c
sich einerseits pliiralis^ ruralis^ muralis^ anderseits singularis^ sola-
ris^ cappillaris u. a. gegenüber^). Progressive Dissimilationen bei
der Aufnahme von Fremdwörtern sind Turteltaube^ engl, turtle aus
turtur^ engl, pnrple aus purpiira^ marble aus marnior u. a.
Mit der Assimilation und Dissimilation stehen endlich noch
gewisse andere Veränderungen der Lautgestalt der Wörter, nämlich
die Weglassung und Zufügung, die Umstellung und Zusammen-
ziehung von Lauten, in naher Beziehung. Unter ihnen sind Weg-
lassung, Umstellung und Zusammenziehung offenbar der Assimilation,
und zwar speziell der regressiven, verwandt. Denn der nämliche
Zusammenhang der Rede, der auf einen gegebenen Laut einen
nachfolgenden einwirken läßt, wird natürlich auch die Ausstoßung
der zwischen beiden vorhandenen Lautelemente bewirken können,
wobei es dann, da das einzelne Wort nicht für sich allein steht,
gleichgültig ist, ob die ausgestoßenen Teile dem Inlaut oder dem
An- oder Auslaut angehören (Elision, Aphäresis und Apokope der
Grammatiker). So ist lat. ne-unqiiam in nunquam^ ante-ea in antea^
griech. yeveaog in yevsog, xf^qiETOi in yaqieoi^ im Deutschen tadelen
in tadeln^ weralt in werlt^ Welt, oder lat. gnotus in notus, historia
in ital. storia^ griech. yiqovx (Vokativ) in yeqov, deutsch herriro
in he7'ro, herre^ Herr, ime, ire in ihm, ihr übergegangen usw.
Ähnlich beruht die Umstellung (Methathesis) auf der Antizipation
eines folgenden Lautes, die der bei der regressiven Assimilation be-
obachteten analog ist und sich nur durch ihre in den sonst ab-
weichenden Bedingungen begründete Form der Wirkung unterscheidet:
so in den Doppelformen v.aqxEqöc, und xQateQÖg, deutsch Born und
Bronn ^Brunnen^, ital. formento aus lat. frumentum, roman. por, pour
aus lat. pro. Als eine Assimilation und Elision zugleich läßt sich
schließlich die Zusammenziehung betrachten, wie xovvoua aus xh
ovo^ia, ndrunt für noverunt usw. Dagegen ist die Zufügung von
Lauten nur eine modifizierte Dissimilation: so der Übergang von
griech. ^OY-XrircLÖg in lat. Aesculapnis, ferner die Bildung der Formen
promptus, sumptus für promtiis, sumtus usw. Endlich kann auch
die Elision gleichzeitig die Bedeutung einer Dissimilation besitzen:
so beim Übergang von gr. (pqaxqla in (paxqia, von afÄq)i(poQsvg in
Pott, Etymologische Forschungen,^ n, S. 96.
4i6
Der Lautwandel.
äf.i(poQevg, wo eben durch den Wegfall der Lautwiederholung die
dissimilatorische Wirkung erzielt wird.
2. Theorie der Kontaktwirkungen.
a. Ästhetische, teleologische und psychologische Deutungen.
So klar bei allen diesen Erscheinungen, bei der Assimilation, der
Dissimilation und den ihnen verwandten Vorgängen der Ausschaltung,
Umstellung, Kontraktion und Einfügung von Lauten die äußeren
Bedingungen der Lautänderungen in Gestalt bestimmter, unmittelbar
sich berührender oder benachbarter Laute vor Augen liegen, so
wenig hat man sich bis dahin über die inneren, physiologischen
oder psychologischen Ursachen dieser Erscheinungen einigen
können. Die alten Grammatiker sahen den Wohllaut für den
treibenden Grund derselben an, und noch heute ist diese Meinung
nicht ganz verschwunden, indem man euphonischen oder allgemeiner
ausgedrückt ästhetischen Motiven wenigstens eine mitwirkende
Bedeutung zugesteht^). Diese Annahme ist aber nach allem, was
oben über die Bedingungen des Lautwandels überhaupt bemerkt
wurde, unzulässig^). Sie ist dies nicht deshalb, weil nicht in der
Tat Sprachlaute mehr oder minder wohlgefällige Klangverbindungen
bilden könnten, sondern weil dies eine von Bedingungen objektiver
w^ie subjektiver Art abhängige Nebenwirkung, kaum jemals die
Ursache des Lautwechsels selbst ist.
Noch länger als die ästhetische hat sich die teleologische Auf-
fassung in der Form der »Bequemlichkeitstheorie« erhalten^). Was
im allgemeinen von ihrer Anwendung auf die Erscheinungen des
Lautwandels gesagt wurde, gilt auch hier (S. 364 ff.). Daß die meisten
Assimilationen und Dissimilationen eine gewisse »Erleichterung der
Artikulation« mit sich führen, ist unbestreitbar. Der Fehler liegt nur
darin, daß man diesen Erfolg wieder zur Ursache macht, was er
unmöglich sein kann, da der »Bequemlichkeitstrieb« kein psychisches
Motiv ist, das wir als solches bei den sprachlichen Vorgängen eine
^) Vgl. z. B. W. Scherer, Zur Geschichte der deutschen Sprache,^ S. 36.
2) S. oben S. 363 ff.
3) Vgl. z. B. G. V. d. Gabelentz, Die Sprachwissenschaft, 1891, S. 203 ff.
Theorie der Kontaktwirkungen. aij
Rolle spielen sehen. Entscheidend sind hier vor allem die diesen
generellen analogen individuellen Kontaktwirkungen, die uns bei
den Erscheinungen des sogenannten »Versprechens« entgegentreten,
und die, vollkommen unwillkürlich sich einstellend, von dem Sprechen-
den entweder erst nachträglich oder überhaupt nicht bemerkt werden
(S. 379 0".). Sind diese Erscheinungen Wirkungen eines physischen
oder psychischen Mechanismus, bei dem von zwecktätigem Handeln
nicht die Rede sein kann, so muß das aber auch von dem »kom-
binatorischen Lautwandel« der Sprache gelten, der, abgesehen davon
daß er allgemein geworden ist, offenbar in seinen Entstehungs-
bedingungen mit jenen individuellen Erscheinungen zusammenfällt.
Auch weist unter den Tatsachen der sprachlichen Kontaktwirkungen
selbst schon das auffallende Übergewicht der regressiven Assimilation
oder Dissimilation in den uns bekannten Kultursprachen auf solche
absichtslos und unbewußt wirkende Bedingungen hin. Denn hier
liegt es überaus nahe, an die sich der unmittelbaren Beobachtung
aufdrängende Erscheinung zu denken, daß der Fluß unserer Ge-
danken nicht selten dem Fluß unserer Worte vorauseilt. Es leuchtet
aber ein, daß infolgedessen eine Artikulationsbewegung bereits aus-
geführt oder wenigstens vorbereitet werden kann, ehe sie eigentlich
an der Reihe ist ').
Da nun das gleiche Prinzip auf die progressive Assimilation und
Dissimilation offenbar keine Anwendung finden kann, so griff Stein-
thal diesen scheinbaren Gegensatz der Erscheinungen auf, indem er
ihn unmittelbar auf einen Gegensatz der Bedingungen selbst bezog.
War es ihm auf der einen Seite unzweifelhaft, daß die regressiven
Kontaktwirkungen auf dem der Lautbewegung vorauseilenden Fluß
der Vorstellungen, also auf einer psychischen Ursache beruhten, so
glaubte er umgekehrt schließen zu dürfen, bei allen progressiven
sei eine rein physische Abhängigkeit anzunehmen. Demnach unter-
^) Der erste, der in diesem Sinne die regressive Assimilation aufgefaßt hat,
scheint, nach einer Bemerkung W. Scherers, Th. Jacobi gewesen zu sein (Scherer,
Zur Geschichte der deutschen Sprache,^ S. 35). Wie sehr er sich aber dabei den
Vorgang als einen rein psychischen denkt, geht daraus hervor, daß er ihn als eine
»Antizipation des Ableitungs- oder Endvokals in der Vorstellung« bezeichnet. In
der »Vorstellung« mögen die Vokale als die klangreicheren Laute die wirksameren
sein, mit Rücksicht auf die Artikulationsbewegungen stehen sie jedenfalls hinter den
Konsonanten zurück.
Wundt, Völkerpsychologie I, i, 2. Aufl. 27
Der Lautwandel.
schied er zwischen psychisch und physisch bedingten Vorgängen
der Lautattraktion. Jenen wies er die regressiven, diesen die pro-
gressiven Wirkungen zu. Indirekt machte er für die letzteren
freilich ebenfalls psychische Motive insofern verantwortlich, als er,
der hergebrachten »Bequemlichkeitstheorie« sich anschließend, »Eile,
Nachlässigkeit und Schlaffheit« als ihre wesentlichsten Ursachen be-
trachtete'). Diese Annahmen haben unter Sprachforschern und
Psychologen eine ziemlich weite Verbreitung gefunden, so daß sie
wohl noch gegenwärtig als die vorherrschenden gelten können^).
Gleichwohl läßt sich eine solche Gegenüberstellung psychisch
und physisch bedingter Lautänderungen nicht aufrechterhalten.
Gerade hier sind die normalen und pathologischen »Lautvermen-
gungen«, bei denen wir uns in der günstigen Lage befinden, analoge
Erscheinungen in ihrer individuellen Entstehung verfolgen zu können,
entscheidende Belege für eine andere Auffassung^). Nach den dort
gewonnenen Ergebnissen bildet nämlich nicht nur der dem ge-
sprochenen Wort vorauseilende Verlauf der Vorstellungen ein wesent-
liches Moment bei der Antizipation von Lauten, sondern auch dem
umgekehrten Vorgang, der Einwirkung vorausgehender auf nach-
folgende Laute, liegt nicht minder ein psychisches Moment, eine
Nachwirkung des vorausgegangenen Klanges im Bewußtsein, zu-
grunde. Ganz besonders die auffallenden Steigerungen dieser Nach-
wirkung, wie sie in pathologischen Fällen vorkommen, bilden hierfür
überzeugende Belege. Freilich ist im normalen Bewußtsein der
^) Steinthal, Zeitschr. für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, I, 1860,
S. 93 ff. Vgl. bes. S. 125 f.
2) Vgl. z. B. Misteli (Lautgesetz und Analogie, Zeitschr. f. Völkerpsychologie usw.
XI, 1880, S. 388 ff.), der die Möglichkeit einer merklichen psychischen Tätigkeit
bei der progressiven Assimilation dadurch für widerlegt hält, daß dieselbe entweder
einen rückwärts gekehrten Ablauf der Lautbilder oder ein langsameres Denken als
Sprechen voraussetzen würde, was beides unmöglich sei. Doch scheint Misteli die
von ihm beibehaltene scharfe Scheidung einer »regressiven oder psychischen« und
einer »progressiven oder leiblich mechanischen Assimilation< eigentlich auch nur
widerwillig zuzugestehen, da er gegen Bmgmann, der (Morpholog. Untersuchungen,
I, S. IV ff.) auch für diese Erscheinungen die Notwendigkeit einer Erforschung der
psychischen Bedingungen betont hatte, den Standpunkt festhält, alles, was den Laut
selbst angehe, gehöre in die Lautphysiologie, und diese habe wenigstens bei dem
gegenwärtigen Stand der Forschung möglichst die Psychologie von sich fern zu
halten (S. 397 ff.).
3) Vgl. oben S. 382 ff.
Theorie der Kontaktwirkungen. ^jq
Kulturvölker der vorwärts gerichtete Drang der Vorstellungen über-
wiegend, und die Nachwirkungen verschwinden hier, wenigstens beim
erwachsenen Menschen, verhältnismäßig rasch, während sie beim
Kinde viel länger andauern, wie das starke Übergewicht progressiver
Lautangleichungen in der Kindersprache zeigt (S. 306). Nicht bloß
bei den beiden Formen der Assimilation, sondern auch bei der
Dissimilation, sowie bei den übrigen hierher gehörigen Vorgängen
der Einschaltung, Ausstoßung und Zusammenziehung der Laute sind
jedoch assoziative Einflüsse als notwendige Bedingungen voraus-
zusetzen. Bei der Ausstoßung und Zusammenziehung ergibt sich
das schon aus ihrer engen Beziehung zur regressiven Assimilation.
Da sie eigentlich nichts anderes sind als sehr intensive Wirkungen
der nachfolgenden Laute auf die vorangehenden (S. 384 ff.), so ist
natürlich auch derselbe Einfluß der vorauseilenden Vorstellungs-
bewegung nur in höherem Grade anzunehmen. Ebenso setzt die
Dissimilation analoge psychische Bedingungen voraus. Die Wirkung
ist hier bloß insofern verschieden, als sie nicht in angleichendem,
sondern in differenzierendem Sinn erfolgt. Darum ist es kein wesent-
lich anderer Vorgang, der supmus in sicmmus^ agnus in angnus^ und
der umgekehrt sumtus in swiiptus^ dhidJieti in dadhäti^ rlS-rjai über-
führt, oder der in pluralis und singidaris die gleiche Adjektivendung
jedesmal in einer von dem Stammkonsonanten abweichenden Rich-
tung gestaltet. Man muß sich bei allen diesen Erscheinungen
gegenwärtig halten, daß der einzelne Laut nie für sich allein,
sondern immer nur in dem Zusammenhang einer bestimmten Laut-
folge im Bewußtsein existiert. Wie der rasche Übergang der labialen
Tenuis in den entsprechenden Resonanzlaut die erstere verschwin-
den läßt [supmus in summus\ so schiebt sich umgekehrt bei dem
Übergang des labialen Resonanzlautes in die dentale Tenuis von
selbst, und um so leichter, je rascher der Übergang erfolgt, zwi-
schen beide die labiale Tenuis ein [sumtus in sumptus). Ahnliche
Wirkungen können dann aber auch über zwischenliegende Laute
hinausreichen: so in singuralis^ pluralis^ marble für marmor u. dgl.,
wo überall der Wechsel zwischen verwandten und leicht ineinander
übergehenden Lauten im Vergleich mit der Wiederholung der gleichen
Konsonanten als eine bei rascher Artikulation unbewußt sich ein-
stellende Anpassung an den Fluß der Rede auftritt; daher denn
27*
420
Der Lautwandel.
auch schon bei den Erscheinungen des »Versprechens« und ebenso
in der Kindersprache solche Dissimilationen vermischt mit Assimi-
lationen, Lautausstoßungen und -kontraktionen vorkommen (S. 3026".).
Der Irrtum Steinthals, der in diesen Fällen, sobald die Wirkung
regressiv erfolgt, einen psychischen Vorgang sieht, aber in progres-
siver Richtung einen solchen für unmöglich hält, wurzelt schließlich in
einer allgemeineren psychologischen Voraussetzung, die nach allem,
was wir aus experimentellen Ermittelungen über den Verlauf der
Bewußtseins Vorgänge wissen, falsch ist: in der Voraussetzung näm-
lich, daß in einem gegebenen Augenblick immer nur eine einzige
Vorstellung im Bewußtsein anwesend sei'). Daraus würde sich
natürlich ebensogut die Unmöglichkeit einer regressiven wie die
einer progressiven Wirkung folgern lassen. Denn wäre jeweils nur
eine Vorstellung möglich, so würde das notwendig der im Augenblick
ausgesprochene Laut sein, neben dem weder ein später kommender
noch ein früher dagewesener Platz fände. Steinthal hatte dieser
Folgerung durch seine Hypothese der »schwingenden Vorstellungen«
zu entgehen versucht. Jeder Satz verläuft, wie er meint, »punktuell«
durch unser Bewußtsein; aber das eben gesprochene Wort kommt
nicht sofort mit seinem Verschwinden im Unbewußten zur Ruhe,
sondern es befindet sich noch während einer gewissen Zeit im er-
regten Zustand. Ebenso seien die kommenden Worte bereits in
einer gewissen Bewegung im unbe\\aißten Hintergrund der Seele,
ehe sie ins Bewußtsein eintreten, so daß dadurch auch das momentan
gesprochene Wort mit dem vorausgehenden und nachfolgenden in
Verbindung treten könne ^). Dies würde freilich an und für sich
wieder ebensogut eine vorwärts wie rückwärts gerichtete Wirkung
erzeugen können. Aber es soll dann noch das weitere Moment
hinzukommen, daß der physische Mechanismus der Sprachorgane
bis zu einem gewissen Grade selbständig abläuft, wie eine aufgezogene
Uhr, ohne daß er in jedem Augenblick mit der Vorstellungsbewegung
gleichen Schritt halten müßte. Da nun die Gedanken rascher fließen
als die Worte, so soll im allgemeinen der Vorstellungs verlauf, für
dessen Glieder jener Satz von der punktuellen Ausdehnung des
i) Steinthal, Einleitung in die Psych ol. und Sprachw., 1871, S. 134.
2) Ebenda S. 237 ff. Zeitschr. für Völkerpsych. I, S. ili.
Theorie der Kontaktwirkungen. ^21
Bewußtseins allein gilt, dem Verlauf der Worte meist um eine ge-
wisse Strecke voraus sein. Dadurch werde dann unmittelbar die
regressive Wirkung als eine psychisch bedingte begreiflich, wogegen
es naheliege, die progressive aus eben jener Trägheit der Artiku-
lationsorgane abzuleiten, die das Vorauseilen des Gedankenlaufs
möglich macht').
Diese ganze Betrachtungsweise steht und fällt, wie man sieht,
mit der Annahme der punktuellen Enge des Bewußtseins. Schon
in der Hilfshypothese der »schwingenden Vorstellungen« liegt aber
eigentlich das Eingeständnis der Unhaltbarkeit dieser Annahme.
Denn die Tatsachen, denen zuliebe sie gemacht ist, beweisen
unbefangen betrachtet, daß es eine solche punktuelle Enge nicht
gibt. Wie ließe es sich auch sonst begreifen, daß in jedem Augen-
blick einer zusammenhängenden Rede die Prägung des Gedankens
offenbar nicht bloß durch die momentan ausgedrückte Vorstellung,
sondern gleichzeitig durch die vorangehenden und die nachfolgenden
bestimmt wird? Die Lehre von den »schwingenden Vorstellungen«
ist hier nur ein Notbehelf, um diese Tatsache mit der Hypothese,
der sie in Wahrheit widerspricht, zu vereinigen. Denn das Wesen
dieser »schwingenden Vorstellungen« besteht eigentlich darin, daß
den unbewußten Vorstellungen die bekannten Wirkungen der be-
wußten zugeschrieben werden. Sie sollen sich genau so wie diese
verhalten, abgesehen davon, daß sie eben nicht im Bewußtsein sind.
Woher wissen wir aber, daß sie das nicht sind, und was berechtigt
uns darum, dem »Unbewußten« eine Wirkimg zuzuschreiben, die
wir uns durchaus nur als eine bewußte denken können? Offenbar
bloß der Umstand, daß wir diese Vorstellungen nicht ohne weiteres
bemerken und beobachten können. Das würde aber immer nur
rechtfertigen, sie nicht als »unbewußte«, sondern als »unbemerkte«
zu bezeichnen, das heißt anzunehmen, neben den klarer bewußten
Vorstellungen, über die wir uns deutliche Rechenschaft geben, seien
auch noch andere, dunklere vorhanden. Daß dies im Fluß der ge-
sprochenen Rede in der Regel teils diejenigen Wort- und Begriffs-
vorstellungen sein werden, die den unmittelbar deutlich aufgefaßten
vorausgehen, teils diejenigen, die ihnen nachfolgen, liegt auf der
') Zeitschr. f. Völkerpsychol. I, S. 126 f.
422
Der Lautwandel.
Hand. Auch steht dies mit den Beobachtungen, die wir unter den
zur Entscheidung dieser Frage geeignetsten experimentellen Be-
dingungen machen können, im Einklang. Bei momentaner Ein-
wirkung einer größeren Anzahl von Gesichtseindrücken unterscheiden
wir neben dem sehr beschränkten Umfang deutlich apperzipierter
Reize andere, die dunkler aufgefaßt werden, und endlich noch andere,
bei denen wir nur noch ein unbestimmtes Dasein im Bewußtsein
konstatieren können. Lassen wir Taktschläge in regelmäßigen Zeit-
intervallen einwirken, so läßt sich die Grenze feststellen, wo plötz-
lich eine Zusammenfassung der vorhergegangenen mit den gegen-
wärtigen nicht mehr möglich ist, weil jene, dunkler und dunkler
werdend, schließlich den Umfang des Bewußtseins überschreiten").
Aber nicht bloß diese auf ganz anderem Wege gewonnenen Beob-
achtungen beweisen die Undurchführbarkeit der Hypothese von der
»punktuellen Enge des Bewußtseins«, auch die Erscheinungen selbst,
die der Fluß der Rede darbietet, sind unterstützende Zeugnisse gegen
jene offenbar nicht aus Beobachtungen, sondern aus der meta-
physischen Hypothese einer punktuellen Unteilbarkeit der Seele her-
stammende Voraussetzung. In dem Augenblick, in dem ich einen
Satz auszusprechen beginne, steht das Ganze des Gedankens schon
in allgemeinen Umrissen, mit etwas deutlicherer Ausprägung einzelner
Hauptvorstellungen, vor mir; und in dem Augenblick, in dem ich
den Satz vollendet habe, überblicke ich meist noch einmal dieses
Ganze, während sich oft gleichzeitig schon der folgende Gedanke
unbestimmt ankündet ^). Dabei ist von einem Hin- und Herschwingen
abwechselnd über die Schwelle des Bewußtseins tretender und wieder
unter sie sinkender Vorstellungen nichts zu bemerken, sondern der
ganze Vorgang spielt sich in der Regel vollkommen stetig und ruhig
ab, und als besonders charakteristische Symptome der dunkler be-
wußten Inhalte tritt überall nur ihr Einfluß auf die Gefühlslage
hervor.
b. Psychophysische Theorie der Lautinduktion.
Nach allen oben erörterteten Tatsachen kann es nicht zweifelhaft
sein, daß ein im Fluß der Rede auftretender Sprachlaut einem
Grandriß der Psychologie,^ S. 253 ff. Vgl. auch unten Kap. V, Nr. II.
Weiteres hierüber in Kap. V, Nr. IQ, 5, und in Kap. VII.
Theorie der Kontaktwirkungen- 42''
doppelten psychischen Einfluß ausgesetzt ist: einerseits der
Wirkung, welche die nachfolgenden, teilweise selbst schon in sprach-
licher Form im Bewußtsein anklingenden Vorstellungen auf ihn aus-
üben, anderseits aber auch der Nachwirkung, die von dem ge-
sprochenen Wort im Bewußtsein zurückgeblieben ist. Welcher
dieser beiden Einflüsse überwiegt, oder ob beide in gewissem Grade
sich mischen, das hängt natürlich von besonderen Bedingungen
individueller oder genereller Art ab. In diesem Sinn ist daher die
Erscheinung, daß in bestimmten Sprachen die regressive und in
andern ebenso ausgeprägt die progressive Richtung der Verände-
rungen vorwaltet, zu beurteilen. Eigentlich ist dieser Unterschied
selbst schon ein Zeugnis dafür, daß auch bei der progressiven
Form psychische Bedingungen nicht fehlen können. Denn ein
solcher fast zum Gegensatze sich zuspitzender Unterschied läßt sich
doch kaum anders als aus einer verschiedenen psychischen Anlage
begreifen. Wo die regressive Assimilation vorherrscht, wie bei den
Indogermanen, da wird man annehmen müssen, daß die Gedanken-
bewegung vorzugsweise vor\värts, den kommenden Vorstellungen
zugewandt sei. Jene Tendenz nach wachsender Geschwindigkeit des
Redeflusses, wie sie sich als Produkt der intellektuellen Kultur ein-
gestellt hat, mußte zugleich die vorwärts eilende Richtung der Vor-
stellungsbewegung erzeugen, die in der Rückwirkung der kommen-
den Laute auf die vorangegangenen ihren Ausdruck findet. In
dieser Hinsicht ist es bedeutsam, daß sich in den älteren Formen der
indogermanischen Sprachen noch am häufigsten Erscheinungen der
entgegengesetzten, progressiven Wirkung vorfinden (S. 41 3 f.), und
daß diese noch heute in der Sprache des Kindes fast die allein-
herrschende ist (S. 306). Nicht minder ist es charakteristisch, daß
sie als bleibende Erscheinung ganz besonders in Sprachgebieten vor-
kommt, in denen überhaupt eine Neigung zu Lautwiederholungen
besteht (S. 413). Die progressive Wirkung selbst wird man daher
im allgemeinen als die ursprünglichere, als diejenige ansehen dürfen,
die sich naturgemäß als nächste Folge der Lautäußerung einstellt.
Die »Vokalharmonie« ist eben nur ein spezieller Fall von Laut-
wiederholung. Nun kann man die letztere in ihren sonstigen, be-
reits in das Gebiet der Wortbildungsprozesse hereinreichenden For-
men unmöglich für einen bloß »leiblich mechanischen« Vorsfanpf
424
Der Lantvrandel.
halten. Schon durch diesen Zusammenhang wird also eigentlich
die Annahme eines rein physischen Ursprungs der vonvärts gerich-
teten Laut\virkungen widerlegt").
i^ Eine im obigen Sinne psychologische, in einigen Punkten der hier gegebenen
ähnliche Erklärung hat, \s"ie ich einer Notiz von Sievers (Grundzüge der Phonetik.*
S. 252) entnehme, bereits Böthlingk Jen. Lit.-Ztg. 1874, S. 767) von der ver-
schiedenen Richtung der Lautwirkungen bei dem »kombinatorischen Lautwandel«
gegeben : >Ein indogermanisches Wort«, sagt er, »ist in dem Maß eine wirkliche
Einheit, daß der Sprechende schon beim Hervorbringen der ersten Silbe das ganze
Wort sozusagen im Geist ausgesprochen hat. Nur auf diese Weise ist es zu er-
klären, daß zur Erleichterung der Aussprache einer nachfolgenden Silbe schon die
vorangehende modifiziert wird. Ein Indi^-iduum der ural-altaischen Völkergrappe
stößt, unbekümmert um das Schicksal des Wortes, die erste Silbe desselben, den
Träger des Hauptbegriffs, ohne weiteres heraus; an diese reiht er dann die weniger
bedeutsamen Silben in etwas roher Weise an, indem er gleichsam erst in dem
Augenblick an Abhilfe denkt, wenn er nicht mehr weiter kann.« Zu dem ersten
Teil dieser Erklärung bemerkt Sievers mit Recht, daß man ihr im allgemeinen zu-
stimmen könne, jedoch mit der Einschränkung, daß von einem »Bestreben nach
Erleichterung« nicht geredet werden sollte, da willkürlich und bewußt die Assimi-
lationen nicht seien. Auch beschränkt sich, wie aus den oben angeführten Be-
obachtungen her\'orgeht. das Vorauseilen der Vorstellungen keineswegs auf die Teile
des nämlichen Wortes. Weiterhin bedarf aber die Schilderung des Bewußtseins-
zustandes bei der progressiven Assimilation insofern der Richtigstellung, als eine
»Abhilfe« im Augenblick der Aussprache nicht vorliegt, da man unter dieser doch
wiedermn nur ein willkürliches zwecktätiges Handeln verstehen kann. Bei der
»Vokalharmonie« stellt sich -s-ielmehr ein dem vorangegangenen gleicher Klang
lediglich deshalb ein, weil derselbe unmittelbarer dem Bewußtsein gegenwärtig ist
als der in einem andern Lautgebilde von sonst gleicher Bedeutung gebrauchte. In
sn'-mek wird also z. B. der vokalische Inlaut des Suffixes unmittelbar von dem
vorangegangenen Stammvokal attrahiert. und nur die konsonantischen Bestandteile
folgen der ganzen Gruppe übereinstimmender Suffixe von gemeinsamer Lautform,
wie bak-mak, tnä-tnäk usw. Es würde aber unberechtigt sein, dies auf eine beson-
dere Trägheit des Redenden zurückzuführen. Sie beruht darauf jedenfalls ebenso-
wenig wie die verwandte Erscheinung der Wortwiederholung, die im Gegenteil,
wie wir sehen werden, meist aus einem Trieb nach energischer Betonung der Vor-
stellungen hervorgeht. Eher wird man sagen können, die progressive Assimilation
sei die natürliche und darum ursprüngliche Form der Lautwirkung im Bewußtsein,
solange nicht durch die zunehmende Schnelligkeit der Gedankenbewegung eine
relativ stärkere Wirkung der kommenden Laute auf die vorangehenden eingetreten
ist. Dafür spricht vor allem auch ihr Übergewicht in der frühesten Kindersprache.
In diesem Sinne würde sie also in ihrer einseitigen Ausbildung als ein Zeichen
primitiverer geistiger Kultur zu deuten sein, wobei freilich beachtet werden muß,
daß von einem gewissen Punkt an die Sprache stabiler wird, so daß daher der
Zustand einer Sprache nicht den Zustand der heutigen Kultur eines Volkes, son-
dern denjenigen spiegelt, in dem jene letzte Stabilisierang der Wortformen ein-
getreten ist. Auch ist nicht zu vergessen, daß die Ursachen der progressiven wie
Theorie der Kontaktwirkungen. ^2';
Verfolgt man die Assoziationswirkungen in ihren besonderen
Gestaltungen bei den verschiedenen Kontakterscheinungen der
Sprache, so zeigen sich nun aber schließlich doch besonders in den
elementaren Prozessen, welche die komplexen Assoziationen zusam-
mensetzen, charakteristische Unterschiede bei den Assimilationen
und Dissimilationen einerseits, bei den regressiven und progressiven
Lautinduktionen anderseits. Bei den Assimilationen ist unter allen
Umständen die Assoziationswirkung eine direkte: der induzierende
Laut ist in dem Augenblick, wo er auf den induzierten einwirkt, im
Bewußtsein derart aktuell, daß er sich entweder ganz an die Stelle
des ursprünglich vorhandenen Lautes drängt oder diesen in seinem
Lautcharakter sich angleicht. Die assoziativen Elementarwirkungen
sind also hier wesentlich Gleichheitsassoziationen, und wo eine
völlige Angleichung nicht zustande kommt, da ist dies nur darauf
zurückzuführen, daß der ursprüngliche Laut noch eine partielle
Nebenwirkung geltend macht, — zugleich ein Fall, der besonders
deutlich die Entstehung einer solchen ^»Ahnlichkeitsassoziation« aus
einer Mischung gleicher und verschiedener Elementarwirkungen ver-
deutlicht. Demnach sind die Lautassimilationen psychologisch be-
trachtet simultane Assoziationen. Der induzierende Laut ver-
drängt den induzierten ganz oder teilweise, ohne daß in dem Moment,
wo sich die Assoziation vollzieht, etAvas anderes als die vollendete
Assoziationswirkung im Bewußtsein ist: der Vorgang ist so auch im
psychologischen Sinn eine »Assimilation«, da wir mit dem letzteren
Namen eben eine solche simultane Assoziation von Elementen eines
und desselben Sinnesgebiets verstehen'). Nicht ganz so einfach liegen
die Verhältnisse bei den Dissimilationen. Dies hat aber offenbar
darin seinen Grund, daß man unter diesem Namen überhaupt ziemlich
der regressiven Attraktionserscheinungen fortan in jedem Sprachbewußtsein neben-
einander wirksam bleiben, daher denn auch beide nebeneinander bestehen können,
wobei nur eine verschieden starke Neigung in der einen oder andern Richtung nach-
zuweisen ist. Ein Zeugnis hierfür ist das Rumänische, in welchem die Vokalharmonie
in beiden Formen ziemlich häufig ist (Ad. Storch, Vokalharmonie im Rumänischen,
Diss. Leipzig 1899;, während sie in andern romanischen Sprachen selten und nur in
regressiver Richtung vorzukommen scheint 'Meyer-Lübke , I, S. 286 f.). Inwieweit
übrigens bei den Rumänen die Nachbarschaft der Türken und Magyaren mit ihrer
progressiven Vokalassimilation eingewirkt haben mag, bleibt dahingestellt.
') Grundriß der Psychologie,^ S. 274 ff.
A26 Der Lautwandel.
verschiedenartige Erscheinungen zusammenfaßt. Vor allem lassen sich
hier wohl drei Gruppen solcher Erscheinungen unterscheiden, je
nachdem gleichzeitig Lautverlust oder aber Lautwechsel ohne Laut-
verlust oder endlich Lautvermehrung mit oder ohne Lautwechsel
stattfindet.
Der erste dieser Fälle, die dissimilatorische Elision, nähert
sich in seinen Bedingungen am meisten der Assimilation. Wie bei
der letzteren ein vorangehender und ein folgender Laut miteinander
zu einem einheitlichen Lautgebilde verschmelzen, so verdrängt bei
jener der eine den andern ganz aus dem Bewußtsein, indem sich
unter der Wirkung des vorandrängenden Vorstellungsverlaufs die
Artikulationsorgane auf einen folgenden Lautkomplex einstellen, ehe
noch der momentan erzeugte vollständig hervorgebracht ist. Von
den sonstigen im raschen Redefluß entstehenden Elisionen unter-
scheidet sich die dissimilatorische nur dadurch, daß bei ihr der Aus-
fall durch die folgende Wiederholung des gleichen Lautes unter-
stützt wird, wie in (puTQia für cpQarQia, a/^KpoQSvg für ccfxcpicpoQevg^
semestris für s^nimestris , gratulari für gratitiilari usw. Alle diese
Fälle reichen in das Gebiet der Wortbildung durch Wortzusammen-
setzung hinüber. Indem bei dieser die Beschleunigung des Rede-
flusses eine wesentliche Rolle spielt, erklärt es sich zugleich, daß
hier die Veränderung durchweg in regressiver Form erfolgt. So
finden sich denn zahlreiche Analoga nicht nur in den Erscheinungen
des Versprechens, sondern auch in denen des Verschreibens , wo
das wiederholte Vorkommen desselben Buchstabens eine besonders
häufige Ursache von Elisionen ist.
Der zweite Fall ist die eigentliche Dissimilation, eine Laut-
induktion, bei der von zwei gleichen in kurzem Abstand sich wieder-
holenden Lauten der eine nach einer abweichenden, aber verwandten
Lautgruppe hin verändert wird, wie z. B. ^d-qecpu) in TQecpco, ^rjQrjTrjQ
in d-rilrjxriQ^ venenum in veleiio^ turtur in turtle usw. Auch hier
setzt die Erscheinung, ebenso wie die Lautassimilation, eine assozia-
tive Wechselwirkung der aufeinander folgenden Lautgebilde voraus:
ohne diese würde ja ein momentan noch nicht ausgesprochener
Laut ebensowenig dissimilativ wie assimilativ wirken können. Wäh-
rend derselbe bei der Assimilation die Artikulationsbewegung un-
mittelbar nach sich zieht, modifiziert er diese bei der dissimila-
Theorie der Kontaktwirkungen. ^27
torischen Lautänderung im Sinn eines erleichterten Übergangs auf
einen andern dominierend gewordenen und deshalb der Verän-
derung widerstehenden Laut. Bei der eigentlichen Dissimilation
srewinnt dann die relative Assoziationskraft der in Wechsel-
Wirkung tretenden Laute den entscheidenden Einfluß: der durch
Assoziationshilfen wiederstandskräftigere Laut bleibt bestehen, der
schwächere verändert sich. Hieraus ergibt sich meist sofort die
Richtung der dissimilierenden Wirkung. So entsteht einerseits sin-
gjilaris durch Assoziation mit singiili^ anderseits aber pluralis
durch Assoziation mit phires. Natürlich wird übrigens dieser Unter-
schied der assoziativen Hebung auch bei den dissimilatorischen
Elisionen in der Regel eine mitwirkende Rolle spielen. So wird
z. B. in einem Wort wie äficpupooevg der zweite Bestandteil durch
die gleichzeitige Assoziation von Laut und Bedeutung mit fpoQsvg,
(poQct usw. gehoben. Sobald daher das zusammengesetzte Wort
zu einer neuen Worteinheit verschmolzen ist, kann das Ganze leicht
zu af.i(poQsvg, unmöglich aber etwa zu *äf.ifpiQEvg verstümmelt
werden. Man wird demnach den Unterschied der Wirkungen zwi-
schen Assimilation und Dissimilation auch darauf zurückführen
können, daß bei der Assimilation der Einzellaut als solcher, bei der
Dissimilation der ganze Lautkomplex, in dem jener das herr-
schende Element bildet, assoziativ wirksam wird. Damit stimmt
überein, daß namentlich die konsonantischen Assimilationen häufiger
im unmittelbaren Kontakt der Laute, die entsprechenden Dissimi-
lationen aber erst auf größere Entfernungen hin zu wirken pflegen;
und hiermit hängt offenbar wieder zusammen, daß eigentlich nur
die Assimilationen reine Kontakterscheinungen sind, während bei
den Dissimilationen bereits Fernewirkungen, nämlich Assoziationen
mit andern Wortgebilden, mitspielen^).
^) An assoziative Fernewirkungen hat wohl auch Brugmann gedacht, wenn er die
Dissimilation darauf zurückführt, daß ein Sprachgebilde »durch andere mit ihm asso-
ziierte nicht in allen Teilen die genügende 'etymologische' BeHchtung« habe. (Kurze
vergleichende Grammatik S. 40, vgl. auch Ber. der sächs. Ges. d. Wiss., Phil.-hist.
Kl. 1900, S. 394 ff., und Grundriß, I, S. 850 ff.) Analog Grammont (a. a. O.), wenn
er die Dissimilation >la loi du plus fort« nennt. Vgl. Wechssler, Gibt es Laut-
gesetze? S. 155 ff. Psychologisch scheint es mir auch hier geboten, den möglicher-
weise der Mißdeutung ausgesetzten Begriff des Etymologischen ganz aus dem Spiel
zu lassen, überdies aber die Bedingungen der stärkeren Wirkung positiv auszudrücken:
428 Der Lautwandel.
Der dritte Fall, die dissimilatorische Einschaltung, kommt
teils im unmittelbaren Kontakt der Laute in der Form einer dem
natürlichen Mechanismus der Bewegungen folgenden konsonantischen
Übergangsartikulation vor, wie in siimptiis für siimtiis^ teils in der
Form vokalischer Zwischenlaute zwischen zwei Konsonanten, wie in
lat. Aesculapius für gr. Ao/.XiqTtLÖg. polynes. igolide für engl, gold,
franz. canif für niederl. knijf (Messer), lansequenct für deutsch lands-
knecht u. a. ^). Wie diese Beispiele lehren, finden sich solche Laut-
einschaltungen, ebenso wie die ihnen entgegengesetzten Elisionen und
Lautverstümmelungen, besonders häufig bei der Aufnahme von
Fremdwörtern, wo dann neben der Anpassung an die gewohnte
Artikulationslage der Sprachorgane wohl auch noch Assoziationen mit
geläufigen Wortvorstellungen der eignen Sprache einwirken können,
etwa bei Aesculapius solche mit Wörtern wie aes ^ aesculus usw.
Auch die Kindersprache ist reich an Einschaltungen, die durch
diese Verhältnisse ihres Vorkommens sowie durch ihre häufige Ver-
bindung mit den unter den gleichen Bedingungen stehenden Erschei-
nungen der Elision schon darauf hinweisen, daß bei ihnen die rein
mechanische Seite der Artikulation die Hauptrolle spielt, indes die
gelegentlich mitwirkende assoziative Angleichung an andere Wörter
auch hier wieder die Erscheinung den assoziativen Fernewirkungen
nähert.
Während so die Assimilation und Dissimilation der Laute nur
äußerlich als Gegensätze erscheinen, innerlich aber, nach den sie
bestimmenden psychophysischen Bedingungen, einander nahe ver-
wandt sind, ist dies wesentlich anders bei den über beide Erschei-
dann bestehen diese eben darin, daß die eine >Lautung< gegenüber der andern
dnrch Hilfsassoziationen gehoben und darum zur dominierenden geworden ist. Das-
selbe gilt natürlich für die spärlichen Fälle rein vokalischer Dissimilationen: so
wenn z. B. societas nicht in *sociitas (vgl. novitas) übergegangen ist, wo die Asso-
ziation mit socius erhaltend auf das erste i eingewirkt haben wird. Cl)rigens kommt,
wie dieses Beispiel zeigt, die vokalische Dissimilation, im Gegensatze zur konsonan-
tischen, vorzugsweise im unmittelbaren Kontakt der Laute vor, wogegen umgekehrt
die vokalische Assimilation ^die sogenannte Vokalharmonie) in die Entfernung, die
konsonantische Assimilation im unmittelbaren Kontakt der Laute wirkt, ein doppelter
Gegensatz, der aus den Bedingungen der Lautartikulation in beiden Fällen leicht er-
klärlich ist.
^t Weitere Beispiele aus romanischem Sprachgebiet s. bei Wechssler, Gibt es
Lautgesetze? 1900, S. 153 f.
Theorie der Kontaktwirkungen. ^,q
nungen sich verteilenden Gruppen regressiver und progressiver
Kontaktwirkungen. Indem bei den ersteren der Laut noch nicht
als akustischer Eindruck vorhanden ist, wohl aber sich die ihm ent-
sprechende Artikulationsbewegung bereits stark, zum Bewußtsein
drängt, ist bei ihnen die Artikulationsempfindung der in der Laut-
komplikation dominierende Bestandteil, neben dem zwar der akusti-
sche, vermöge seiner innigen Assoziation mit jener Empfindung,
nicht fehlt, aber doch verhältnismäßig zurücktritt. Umgekehrt ver-
hält es sich bei den progressiven Erscheinungen. Hier wirkt mehr
als die vorangegangene Artikulationsempfindung des induzierenden
Lautes dieser selbst als unmittelbarer akustischer Eindruck nach.
Hieraus erklärt es sich, daß die regressive Wirkung bei den Assi-
milationen vorzugsweise die für die Bewegungsempfindung deutlich-
sten Lautelemente, die Konsonanten, die progressive die akustisch
wirksamsten, die Vokale, trifft. Wie aber auf diese Weise die
psychische Wirkung eines Lautes stets eine zweiseitige ist, ebenso
hat jeder eine rüclavärts und eine vorwärts gerichtete physische
Wirkimg, die von der Einübung bestimmter Lautverbin-
dungen abhängt. Auch physiologisch ist ja der einzelne Sprach-
laut nichts für sich allein Bestehendes, sondern, wie er nur in be-
stimmten Wortverbindungen vorkommt, so wird er in diesen Ver-
bindungen je nach ihrer relativen Häufigkeit mehr oder minder
fest eingeübt. Ganz abgesehen von dem Vorauseilen der Vorstel-
lungen stellen sich also schon infolge dieser mechanischen Einübung
oft verbundener Bewegungen die Sprachorgane bereits auf einen
kommenden Laut ein, während der gegenwärtige eben erst aus-
gesprochen wird. Damit tritt dann von selbst je nach Umständen
eine Angleichung des gesprochenen Lautes an einen folgenden, oder
die völlige Elimination eines solchen, oder endlich, wenn der Über-
gang der Artikulationen einen Wechsel der Lautbewegungen begün-
stigt, eine Dissimilation ein. Alle Kontaktwirkungen finden auf diese
Weise in dem Prinzip der mechanischen Einübung oft ver-
bundener Bewegungen ihre physiologische Erklärung. Eine
solche Übung wird aber wieder um so merklicher sein, je rede-
geübter im allgemeinen ein Volk, und je mehr es zu rascher Ver-
kettung der Laute beanlagt ist. So begreift sich auch von dieser
Seite aus die Bevorzugung der regressiven Veränderungen besonders
430
Der Lautwandel.
der Assimilationen in denjenigen Sprachen , deren Entwicklungs-
geschichte auf eine früh errungene Kultur hinweist. Dieses physi-
sche und das obenerwähnte psychische Moment werden sich nun
voraussichtlich bei allen regressiven Kontaktwirkungen als parallel
laufende Erscheinungen verbinden, was nicht ausschließt, daß im
einzelnen Fall bald mehr das eine, bald mehr das andere in den
Vordergrund tritt. Dies ist darum möglich, weil die mechanische
Einübung dazu führt, daß Artikulationen zusammen eingeübt und
infolgedessen automatisch verbunden werden, ohne daß die Laut-
vorstellung stets gleichen Schritt damit hält. Namentlich werden
wir daher voraussetzen dürfen, daß bei den Kontaktwirkungen un-
mittelbar aufeinander folgender Laute dies mechanische Moment zur
Hervorbringung des Lautwechsels genügt, ohne daß dasselbe in
merklichem Grade von einer Vorausnahme der Lautvorstellungen
begleitet zu sein braucht. Wo dagegen eine regressive Assimilation
oder Dissimilation über zwischenliegende Laute hinaus stattfindet,
da wird im allgemeinen die Wirkung stets als eine psychophy-
sische in dem Sinn aufzufassen sein, daß die bloße mechanische
Einübung immer nur direkt aneinander grenzende Bewegungen zu
völliger oder teilweiser Verschmelzung bringen kann, während eine
rückläufige Wirkung, die weitere Strecken umspannt, nicht wohl
ohne eine gleichzeitige Vorausnahme der Vorstellungen möglich
ist Dazu können dann endlich noch Assoziationen mit außerhalb
stehenden, aber laut- und bedeutungsverwandten Wortgebilden, also
assoziative Fernewirkungen, treten. Sie erweisen sich besonders
bei den dissimilatorischen Lautänderungen wirksam, indem sie hier
durch die Fixierung eines dominierenden Lautgebildes für die Rich-
tung der Dissimilationen bestimmend werden.
Wie bei den regressiven, so sind nun aber auch bei den progressi-
ven Kontaktwirkungen physische Bedingungen wohl überall von mit-
wirkender Bedeutung. Ist es dort die Einübung oft verbundener
Artikulationen, so kann es hier die Einstellung auf eine soeben aus-
geführte Bewegung sein, die den Einfluß ausübt. So schwierig eine
Lautbewegung an sich sein mag, einmal ausgeführt kommt sie
wesentlich leichter zustande. Das Symptom unvollkommner Übung
in irgendeiner Klasse mechanischer Leistungen pflegt sich daher
stets in der Neigung zur Wiederholung der zuletzt ausgeführten Be-
Allgemeine Formen assoziativer Femewirkung. ^^l
wegungen zu äußern. Bis zu einem gewissen Grade bleibt natürlich
diese Neigung auch bei fortgeschrittener Übung erhalten. Demnach
übt fortwährend auch physisch ein vorangegangener Laut eine Art
Attraktionswirkung auf einen nachfolgenden aus. Dies zeigt zu-
gleich, daß die progressiven Assimilationswirkungen auch vom Ge-
sichtspunkte der physischen Einübung aus die primitiveren, einer
ursprünglicheren Stufe sprachlicher Übung entsprechenden Formen
sind, zu denen dann freilich die allgemeinen Anlagen fortan be-
stehen bleiben, so daß sie nicht sowohl direkt als indirekt, durch
den wachsenden Einfluß der Einübung zusammengesetzter Artiku-
lationsverbindungen, in den Hintergrund gedrängt werden.
Hiemach läßt sich das Ergebnis dieser Analyse dahin zusammen-
fassen, daß bei jeder Art dieser Erscheinungen psychische und phy-
sische Ursachen zusammenwirken. Dabei gehören aber die psychi-
schen Ursachen zu jenen elementaren Assoziationswirkungen,
vermöge deren jeder psychische Vorgang nach zwei Richtungeu
hin in assoziativen Beziehungen stehen kann und in der Regel auch
wirklich steht, wenngleich die eine Richtung durch das Überge\ncht
der andern kompensiert zu werden pflegt. Die phj^sischen Ursachen
fallen dagegen in das Gebiet der Übungs Vorgänge, und zwar
werden die regressiven Erscheinungen als Folgen der Mit-
übung bestimmter Artikulationsbewegungen mit andern, mit denen
sie oft verbunden waren, die progressiven als Folgen jener un-
mittelbaren Übung aufzufassen sein, die eine Wiederholung der
Bewegung erleichtert.
IV. Assoziative Femewirkungen der Laute.
I. Allgemeine Formen assoziativer Fernewirkung.
Von > Fernewirkungen der Laute« werden wir, wenn wir diesen
Begriff im Verhältnis zu den Nahe- oder Kontaktwirkungen be-
stimmen, überall da reden können, wo gewisse Lautelemente eines
Wortes nicht durch andere, im selben oder in einem angrenzenden
Wort vorkommende Laute beeinflußt werden, sondern wo sich
irgendein im Augenblick nicht unmittelbar gegebenes Wort oder
eine entsprechende Wortsippe als der Grund der Lautänderung
Der LautwandeL
herausstellt Auch auf die Femewirkungen können wir daher, um
die Richtung derselben anzugeben, die oben gebrauchte Unterschei-
dung induzierender und induzierter Laute anwenden. Dabei
ist aber, wenn eine solche Feme^'irkung zw"ischen zwei Wörtern
odo" Wor^nippen annehmbar sein solL stets erforderlich, daß die-
selben in irgendeinem Verhältnis stehen, das eine Assoziation
zwischen ihnen ermöglicht Denn daß eine Lautinduktion zwischen
Wönem. die durch den unmittelbaren Zusammenhang der Rede
ear nicht verbunden sind, anders als durch Vermitteluns: bestimmter
ps>"chischer Assoziationen zustande komme, erscheint hier von
vornherein ausgeschlossen. Auch imter dieser Voraussetzimg kann
übrigens die Frage, ob eine bestimmte assoziati\"e Beziehung wirk-
lich stattgefunden habe, im einzelnen Falle ZAveifelhaft bleiben, weil
ja eben hier immer nur der Effekt einer Liduktionswirkung ge-
geben ist. während die induzierenden Momente selbst bloß er-
schlossen werden können. Dieser Schluß kann nun namentlich
deshalb xmsicher sein, weil teils mehrere induzierende Momente,
teils andere verändernde Bedingungen möglicherueise im gleichen
Sinne wirken. Schon über die tatsächlichen Beziehungen der Er-
schdnungen. die dner psychologischen Interpretation zugnmde zu
legen sind, bleiben darum hier nur mehr oder minder wahrschein-
liche Aufstellungen möglich. Diese werden sich jedoch um so mehr
der Grenze der Gewißheit nähern, je zahlreichere einander ähnliche
Fälle für eine bestimmte Form der Beziehung aufgefunden werden
können, und je größer die psychologische Wahrscheinlichkeit ist
daß gewisse Wörter, zwischen denen eine Femewirkimg angenom-
men wird, wirklich miteinander assoziiert werden.
Die Sprachwissenschaft hat die sämtlichen Erscheinungen sol-
cher assoziativer Femewiikungen der Laute > Analogiebildungen«
genannt ein Ausdruck, der den äußeren Erfolg der Wirkung, freilich
aber auch nur diesen, vollkommen treffend bezeichnet Bei jeder
Analogiebildung wirkt irgendein Wort so auf ein anderes ein, daß
dieses ihm in seinem Lautcharakter analog wird. Besser noch als
> Analogiebildung« deutet daher auch der ebenfalls oft gebrauchte
Ausdruck »Angleichimg« die äußere Beschaffenheit des Vorganges
an. Zugleich weist dieser Ausdruck darauf hin. daß den Analogie-
büdimgen unter den Kontaktwirkungen die > Assimilationen « am
AllgemeiBe Fonnen assoziativer Femewirkang. 4^^
nächsten stehen. Wie diese als Angleichungen benachbarter Laute,
so können jene als >Angleichungen durch femewirkende Assozia-
tion* definiert werden. Der Arten solcher Angleichung können wir
aber im allgemeinen zwei unterscheiden: die eine woUen wir als
^Angleichung grammatischer Formen < oder kürzer als > grammati-
sche Angleichung* . die andere als >Angleichung nach logischen
Beziehungen der Begriffe«; oder als »begriffliche Angleichung< be-
zeichnen. Jede dieser Arten läßt sich dann wieder in zwei Unter-
arten zerlegen: die grammatische Angleichung in die > Angleichung
verschiedener grammatischer Formen desselben Wortes t. wir wollen
sie kurz die > innere grammatische Angleichung« nennen, imd in
die :> Angleichung übereinstimmender grammatischer Formen ver-
schiedener Wörter«, sie sei die »äußere grammatische Angleichung^
genannt. Die zweite Hauptform, die »begriffliche Angleichung =: ,
zerfällt ebenfalls in zwei Gruppen von Erscheinungen: die eine wird
durch »Angleichungen an Wörter von ven\'andter Bedeutung « , die
andere durch ■:> Angleichungen an Wörter von gegensätzlicher Bedeu-
tung« gebildet; jene mögen abkürzend »Angleichungen durch Ähn-
lichkeit« , diese »Angleichungen durch Kontrast« genannt werden ').
^ . \ on den genannteii Klassen der »Analogiebildung« liat ursprünglicli die erste
vorzugsweise die Aufinerksamkeit der Sprachforscher auf sich gelenkt. Hier hat
zuerst H. Paul die oben erwähnten beiden Unterarten scharf geschieden. Die An-
gleichung verschiedener grammatischer Formen desselben Wortes aneinander nennt
er »Analogiebildung durch stoffliche Ausgleichung«, die Angleichung übereinstim-
mender grammatischer Formen verschiedener Wörter »Analogiebildung durch formale
Ausgleichung«, weU dort der Wortkörper selbst eine Ausgleichung ursprünglicher
Lautunterschiede zeige, während hier bloß zwischen formal zusammengehörigen
\N örtem verschiedenen Stoffs die ausgleichende Wirkung stattfinde. 'Paul, in den
Beiträgen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, herausgegeben von
Paul und Braune. Yl. 1879, S. 7 ff.) Wesentlich auf der Grundlage dieser Panischen
I. nterscheidung haben dann H. Osthoff, Das physiologische und psychologische
Moment in der sprachlichen FormenbUdung, 1879, S. 22 ff., und \Mieeler. Analogy
and the scope of its application in language Comell L'niversitv, Studies in classical
Philology , 18S7, p. 8 ff., die Analogiebildungen behandelt. Ich habe es vorgezogen,
um den Unterschied von der zweiten Klasse dieser Erscheinungen kenntlich zu
machen, beide Gruppen unter der Benennung der »grammatischen Angleichungen«
zusammenzufassen, wodurch dann die weitere Unterscheidung in »innere« innerhalb
der Abwandlungen eines und desselben Wortstammes und »äußere« (zwischen
grammatischen Formen ganz verschiedener Wortstämme von selbst gegeben ist.
L*brigens sei schon hier bemerkt, daß diese Unterscheidung nur eine vorläufige ist,
da. wie wir unten sehen werden, in den einzelnen Fällen die »inneren« und die
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. ->8
434
Der Lautwandel.
2. Grammatische Angleichungen.
a. Innere grammatische Angleichungen.
Unter diesen verschiedenen Formen von Angleichungsvorgängen
stehen die inneren grammatischen Angleichungen offenbar
den im unmittelbaren Kontakt der Laute erzeugten Lautassimilatio-
nen am nächsten. Zwar treffen die induzierend aufeinander wirken-
den Laute nicht im selben Worte zusammen, aber sie gehören Wörtern
an, die als Ableitungen aus einem und demselben Wortstamm ein-
ander so nahe stehen, daß die Gelegenheit zur Assoziation dieser
Wortformen fortwährend geboten ist, daher denn auch hier ver-
hältnismäßig am wenigsten ein Zweifel über die Existenz und Rich-
tung wirklicher Assoziationen obwalten kann. Wenn z. B. der Plural
des Präteritums von sterben aus dem noch im älteren Neuhoch-
deutsch vorkommenden stürben in starben übergegangen ist, so hat
sichtlich der Singular starb hier eine angleichende Wirkung ausge-
übt. Umgekehrt, wenn im Präteritum zu werden die ältere Singular-
form ward gegenwärtig zwar nicht ganz verschwunden, aber doch
durch die neue Form wurde zurückgedrängt ist, so hat hier der
Plural wurden induzierend gewirkt. Ähnliche Umwandlungen sind
ick horte ^ aus dem mittelhochd. ich horte durch Angleichung an das
> äußeren« Assoziationsmomente stets zusammenwirken, und es sich also höchstens
um ein Übergewicht der einen oder der andern Richtung handeln kann. Die
»begrifflichen Angleichungen« sind in ihrer Bedeutung für die Lautentwicklung be-
sonders von K. Bragmann hervorgehoben und in die beiden Formen der »Anglei-
chung gegensätzlicher Begriffe« und der »Angleichung infolge von Begriffsverwandt-
schaft« unterschieden worden, für welche beide Formen er zugleich zahlreiche Belege
besonders aus den älteren Formen der indogermanischen Sprachen beibrachte.
(Bmgmann, Gnindriß der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen,
1886 — 93, vgl. den Sachindex unter »Angleichung« und die dabei angeführten einzel-
nen Stellen des Textes.) Unter den gleichen Gesichtspunkten behandelt M. Bloom-
field eine Reihe von ihm so genannter »Assimilationen und Adaptationen« (American
Journal ofPhilology, XII, 1891, p. 14 ff., XVI, 1895, P- 420 ff.). Ebenso W. Meyer-
Lübke speziell für das Gebiet der romanischen Sprachen, Gramm, der rom. Spr., I,
1890, II, 1894: siehe die Sachregister unter »Anbildung« und »Angleichung«.
Manche Fälle, die diese Autoren zu dem Prinzip des Gegensatzes stellen, glaube
ich dem der Verwandtschaft unterordnen zu müssen. Doch ist dies bei der nahen
Beziehung, in der hier überhaupt Verwandtschaft und Gegensatz stehen, nicht von
wesentlicher Bedeutung.
Grammatische Angleichnngen. 4-%'^
Präsens tc/i h'öre entstanden, du fliegst^ er fliegt^ du kriechst^ er
kriecht aus du fleugst, er fleugt^ du kreuchst^ er kreucht durch An-
gleichung an icli fliege^ ich krieche. Oder das Adjektivum rauh
statt des älteren rauch durch Angleichung an den Komparativ
raiiJier usw. In manchen dieser Fälle sind die ursprünglichen For-
men nicht vollständig durch die neuen, durch Angleichung gebildeten
verdrängt worden, sondern sie bestehen für gewisse Nuancen des
Begriffs, wie zuard neben ivurde^ oder in der poetischen Redeweise,
wie fleugt neben fliegt^ noch fort. Nicht selten begegnen wir ferner
solchen Wortformen, die in der Art ihres Gebrauchs derart zwie-
spältig sind, daß sich bei ihnen die induzierende Wirkung und das
Beharrungsvermögen der ursprünglichen Form die Wage zu halten
scheinen, wie m gesendet neben gesandt, gewendet neben geivandt usw.
Auf früheren Stufen der Sprachentwicklung scheinen die inneren
grammatischen Angleichnngen namentlich auch bei jener allmählichen
Reduktion der Kasusformen der Nomina, der Genera, Tempora und
Modi des Verbums beteiligt zu sein, die z. B. in den indogermani-
schen Sprachen einen durchgehenden Zug bildet'). Zuweilen ist
hier wohl die Angleichung der Laute verschiedener, ursprünglich
nach Begriff wie Laut abweichender Formen das primäre gewesen.
Nachdem sich erst der Lautunterschied verwischt hatte, wurde dann
auch der begriffliche Unterschied allmählich verdunkelt, was frei-
lich nur geschehen konnte, indem an die Stelle des ursprünglich
durch die Flexionsform ausgedrückten konkreteren Begriffsverhält-
nisses ein allgemeineres trat. So hat mutmaßlich diese zunächst
den äußeren Lautkörper der Worte treffende Assoziationswirkung
in ihren Folgen eine indirekte Wirkung auch auf die Entwicklung
der Begriffe ausgeübt.
b. Äußere grammatische Angleichnngen.
Wesentlich anders verhält es sich nach Bedingungen wie Wir-
kungen mit den äußeren grammatischen Angleichnngen. In-
dem bei ihnen nicht verschiedene Abwandlungsformen eines und
desselben Wortes, sondern umgekehrt analoge grammatische For-
men verschiedener Wörter zueinander in Beziehung treten, ist die
Vgl. Kap. VI, Nr. U und lü.
28=*
436 Der Lautwandel.
induzierende Wirkung an und für sich eine entferntere, kann aber
dadurch verstärkt werden, daß sie von einer größeren Zahl von
Wörtern ausgeht. So hat sich im Neuhochdeutschen die Genitiv-
endung -es vom Gebiet der Nominalstämme mit ursprünglich vokali-
schem Auslaut zum Teil auf das der konsonantischen Stämme aus-
gedehnt. Nach Analogie der Formen des Tages^ des Wolfes usw.
sagen wir so statt des älteren des Vater, des Bruder jetzt des Vaters,
des Bruders', ebenso haben die alten Genitive des Hahnen, des
Schwanen den neuen des Hahnes, des Schivaties Platz gemacht.
Anderseits freilich fehlt es auch nicht an der umgekehrten In-
duktionswirkung, wenn sie gleich die seltenere ist: statt, wie im
älteren Neuhochdeutschen, des Hirtes, des Rabens heißt es jetzt des
Hirten, des Raben. Vielleicht ist hier zunächst die Angleichung an
andere einen Stand oder Beruf ausdrückende W'örter der schwachen
Deklination, wie des Grafen, des Boten, wirksam gewesen. In nicht
wenigen Fällen schwankt übrigens auch dann wieder die Form
zwischen verschiedenen Wirkungen, wie in des Nachbars und des
Nachbarn, des Bauers und des Bauern, des Bares und des Bären.
Eine weitere Angleichung dieser Art besteht darin, daß der in ge-
wissen Fällen regelmäßig bestehende Umlaut des Plurals auf den
Plural anderer Nomina, dem er ursprünglich nicht zukommt, ein-
gewirkt hat. So hatte gast ursprünglich den Plur. gasti, \\as durch
regressive Assimilation in nhd. Gäste überging, und danach sind dann
Plurale wie Wolfe, Vögel, Äcker gebildet worden. Nicht minder
zahlreich sind ähnliche Angleichungsvorgänge im Gebiet verbaler
Formen. Im ganzen ist auch hier der Übergang der sogenannten
starken in die schwachen Formen überwiegend. So sind er buk,
viuld, glomm, boll in er backte, mahlte, glimmte, bellte übergegangen.
Doch stehen dem auch Angleichungen umgekehrter Richtung gegen-
über, wie /rzV^ statt /rm/^, /r«^ statt yV^^/^. Immerhin kommen im
letzteren Falle neben den neu gebildeten die älteren Formen noch
im Gebrauch vor. Des öfteren finden sich solche Übergänge und
Mischformen auch in Dialekten, wie gelitten statt geläutet, gewunkeii
statt gewinkt. In den meisten dieser Fälle äußerer grammatischer
Angleichung ist es augenfällig, daß ein bestimmtes Wort, das auf
ein anderes mutmaßlich eingewirkt haben könnte, nicht anzugeben
ist: er buk kann in er backte unter der Einwirkung von machte,
Grammatische Angleichungen. 4^y
brachte ebenso wie von leötc^ legte usw., er preiste in er priefi
unter der von ließ wie von gab^ ging^ stand usw. übergegangen
sein. Höchstens wird man vermuten dürfen, daß den im Klang
ähnlicheren Wörtern eine intensivere Wirkung zukam, daß also
ließ mehr auf prieß eingewirkt haben mag als gab oder stand^
viachte mehr auf backte als lebte oder lobte. Im ganzen aber wird
in jedem einzelnen Falle solch äußerer Angleichung eine von un-
bestimmt vielen Wörtern ausgehende Attraktion anzunehmen sein,
wobei natürlich diese Wirkungen bald in gleichem, bald in ent-
gegengesetztem Sinne stattfinden konnten. Im letzteren Fall können
sie dann leicht zur Bildung von Doppelformen führen, die entweder
als rein lautliche Schwankungen bestehen bleiben oder sich zugleich
mit einer Differenzierung der Begriffe verbinden. Da solche ver-
schieden gerichtete Attraktionen bei den äußeren grammatischen
Angleichungen natürlich ungleich häufiger vorkommen als bei den
inneren, so hat, während diese ihrem natürlichen Verlaufe nach
leichter zur Reduktion grammatischer Formen und dadurch zum
Zusammenfließen gewisser Begriffsverhältnisse führen, die äußere
Angleichung wohl häufiger den Erfolg einer Neubildung, nament-
lich in den älteren Stadien der Sprachentwicklung, in denen solche
Prozesse an und für sich wegen der im nächsten Kapitel zu erörtern-
den Bedingungen der Wortbildung einen weiteren Spielraum ein-
nehmen^ .
Erscheinen nach dieser Richtung der Assoziationen innere und
äußere grammatische Angleichung, so verwandt sie nach der Natur
der psychischen Vorgänge sind, gewissermaßen als Gegensätze, so
werden sie nun aber dadurch wieder einander näher gerückt, daß
jeder Vorgang der einen Art, z. B. jede zwischen den xA.b Wandlungen
eines und desselben Wortes sich bewegende Assoziation, auch Vor-
gänge der andern Art, Assoziationen mit den analogen Abwandlungs-
formen anderer Wörter, nahelegt, und ebenso umgekehrt. Hat
sich also auch der Plural stürben zunächst durch Angleichung an den
') Zahlreiche Beispiele für die Reduktion wie Neubildung grammatischer Formen
infolge solcher Assoziationen vgl. bei Brugmann, Grundriß, Sachindex unter »Ana-
logiebildung« und die zugehörigen Stellen des Textes, speziell für das Englische
bei Wheeler, Analogy, p. 12, 21 ff., für die romanischen Sprachen bei Meyer-Lübke
11, S. 403 ff., 426 ff.
438 Der Lautwandel.
Singular starb in starben umgewandelt, so können immerhin andere
im Inlaut übereinstimmende Singular- und Pluralformen wie gab — -
gaben ^ machte — machten^ legte — legten usw. als äußere Hilfskräfte
mitgewirkt haben. Und wenn auf der andern Seite bei der äußeren
Angleichung auf die Umwandlung von Bildungen wie biik^ vmJil^
glomm in backte^ mahlte^ glimmte in erster Linie die analogen Abwand-
lungsformen anderer Wortstämme, wie machte^ brachte^ dachte usw.
eingewirkt haben werden, so läßt sich doch die Annahme nicht ab-
weisen, daß nebenbei auch eine Art innerer Angleichung stattge-
funden habe, indem die Präsensformen backe ^ ^naJile^ glimme auf
jene Formen des Präteritums herüberwirkten und zu ihrem allmäh-
lichen Verschwinden beitrugen. Mag sich hier die rein sprachliche
Betrachtung mit der Annahme derjenigen Wirlamgen begnügen, die
mutmaßlich als die Hauptwirkungen anzusehen sind, der Psychologie
liegt es ob, womöglich die Gesamtheit der Momente in Rechnung
zu ziehen, die an einem bestimmten Vorgange beteiligt waren. Nun
steht psychologisch betrachtet jede Wortform, sobald es sich über-
haupt um assoziative Fernewirkungen handelt, jedenfalls unter dem
Einfluß unabsehbar vieler Attraktionskräfte, die von den zu ihr in
Beziehung stehenden Vorstellungsresiduen ausgehen. Daß solche
assoziative Beziehungen innere wie äußere sein können, das lehrt
gerade die Existenz der beiden Hauptformen sogenannter »Analogie-
bildungen«. Da aber im allgemeinen bei jeder äußeren Angleichung
immer zugleich irgendwelche Motive einer inneren und ebenso bei
jeder inneren Motive einer äußeren tatsächlich obwalten, so werden
wir psychologisch gezwungen anzunehmen, daß strenggenommen
beide assoziative Fernewirkungen immer ineinander eingreifen,
und daß sich im einzelnen Fall aller Wahrscheinlichkeit nach nur
ihre relative Stärke unterscheidet, indem bei der inneren An-
gleichung die äußere und bei der äußeren die innere als
Hilfswirkunsf hinzukommt.
3. Begriffliche Angleichungen.
a. Angleichung durch Begriffsverwandtschaft.
Von den zumeist vorzugsweise unter dem Begriff der »Analogie-
bildungen« zusammengefaßten Wirkungen und Wechselwirkungen
Begriffliche Angleichungen. ^,g
der grammatischen Abwandlungsformen, die sich deutlich bis in das
gegenwärtige Leben der Sprache herab verfolgen lassen, unter-
scheiden sich die begrifflichen Angleichungen schon äußer-
lich dadurch, daß ihre Wirksamkeit wohl durchweg entweder in eine
frühere Zeit der Sprachentwicklung oder, sofern sie einer späteren
Periode angehören, in Zeiten rascher Umbildung durch Einwirkung
von Volksdialekten, Sprachmischungen u. dgl. fällt. Dies begreift
sich leicht, da es sich hier um Lautumwandlungen handelt, die zu-
meist in die Vorgänge der Wortbildung selbst eingreifen, und bei
denen daher das Wort als solches gewissermaßen noch im Flusse
der Entwicklung begriffen ist. So treten uns namentlich Bezeich-
nungen für korrelate Begriffe schon in früher Zeit oft in lautlich
verwandten Formen entgegen, die wegen dieses Parallelismus von
Laut und Begriff mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine ursprüng-
liche Angleichung durch Ähnlichkeit der Bedeutung zurück-
geführt werden können. Als sicher erwiesen kann aber freilich der
Angleichungsvorgang nur dann gelten, wenn das eine Glied eines
solchen Wortpaares auf einer älteren Stufe nachgewiesen werden
kann, wo es jene Lautähnlichkeit noch nicht besaß, und namentlich
läßt sich auch nur in diesem Fall die Richtung bestimmen, in der
die induzierende Wirkung stattfand. So haben sich wahrscheinlich
schon in urindogermanischer Vorzeit die Endungen der Namen für
Schwester und Bruder, *suesör und *bhratdj-^ sowie für Vater und
Mutter, pater und mater^ in Angleichung aneinander gebildet. Ähn-
lich scheinen im Gebiete der Pronomina vielfach solche Laut-
beziehungen nach Verwandtschaft der Begriffe entstanden zu sein,
indem die Lautformen der verschiedenen Personenbezeichnungen,
das ich, du, er, einander angeglichen wurden. So lassen die Be-
zeichnungen der drei Personen in den ural-altaischen Sprachen, wie
im Lappischen mon — ton — son^ im Magyarischen en — te — ö^ deutlich
eine Angleichung des Vokalklangs erkennen, derart, daß die auf
den konsonantischen Lauten ruhende Verwandtschaft der verschie-
denen Sprachen älter ist als die im allgemeinen auf eine engere
Sprachgruppe beschränkte Analogie der Vokalklänge. In den indo-
germanischen Sprachen sind bei der allmählichen Reduktion der
Kasusformen des Nomens neben grammatischen Lautangleichungen
jedenfalls auch Assoziationen nach begrifflicher Verwandtschaft
440
Der Lautwandel.
wirksam gewesen^). Besonders ausgeprägt, namentlich in bezug auf
die Richtung der stattgehabten Angleichung, erscheinen jedoch die
Wirkungen dieser Vorgänge bei gewissen Verbal- und Nominal-
formen von ähnlicher Bedeutung, aber abweichender Abstammung,
wenn das eine der begriffsverwandten Wörter in einer Lautmodi-
fikation vorkommt, die auf die angleichende Wirkung des andern
Wortes zurückgeführt werden kann. So hat gr, aqvio *^schöpfe*
die Nebenform ccQvaaco, die unter der Wirkung von acpvoato
"^schöpfe' entstanden zu sein scheint. So ist ferner (päqvyS, für
ein ursprüngliches (pccqv^ 'Schlund' eingetreten, offenbar durch
Angleichung an läqvy'^ '^Kelilkopf\ So hat sich ferner ital. ßir-
7ieccio *^ Diebstahl' wahrscheinlich nach ladroneccio^ franz. rougeole
'Röteln' nach veröle 'Pocken' gebildet usw.
b. Angleichung durch Kontrast der Begriffe.
Noch häufiger scheint die zweite Form begrifflicher Angleichung
zu sein, die nach Kontrast der Begriffe, Sie findet, wie das die
Natur des logischen Gegensatzes mit sich bringt, regelmäßig zwischen
Gliedern eines Begriffspaares statt, was bei der vorigen Form zwar
ebenfalls vorkommen kann, aber doch nicht überall zutrifft, da sich
z. B. die Angleichungen der Personenbezeichnungen meist zwischen
mehr als zwei Gliedern bewegen. Übrigens bildet der Kontrast
auch hier eigentlich nur einen Grenzfall der Verwandtschaft, insofern
eine Angleichung durch Gegensatz bloß stattfinden kann, wenn sich
die gegensätzlichen Begriffe als die Endglieder eines und desselben
Begriffskontinuums betrachten lassen, wie groß und klein, gut und
schlecht, schwer und leicht usw. So vermutet man, daß in den
Präpositionen Ivq,^ elg 'in', 'hinein' das g zu der einfacheren lokalen
Präposition ev 'in' nach Analogie von £| 'aus' hinzugefügt worden
sei, so daß nun die begrifflichen Gegensätze des 'herein' und 'heraus'
durch den gleichen Endlaut zusammengehalten werden. Ähnlich
ist oTZLoS-e 'hinten' für das ältere orcid'e wahrscheinlich durch An-
gleichung an TtQoa&e 'vorn' gebildet. Im Lat. entstand, wie man
annimmt, aus einem ursprünglichen Neutrum minus 'die Minderheit'
das Adjektivum minor^ minoris durch Angleichung an major^ majoris.
I) Vgl. Kap. VI, Nr. II.
Begriffliche Angleichungen. 44 i
Das altlat. ningiUiis statt millus "^keiner* scheint eine Angleichung an
singulus *^ein einziger' zu sein. So wird ferner senecta *^das Greisen-
alter^ nach Analogie von juventa 'die Jugend', aber wohl auch um-
gekehrt Juventus nach Analogie von senectiis^ senectiitis gebildet;
meridionalis ist an die Stelle des regulär gebildeten meridialis "^mit-
täglich' getreten, nach dem Vorbilde von septentrionalis *^mitternächt-
lich'. Im ital. greve aus lat. grave 'schwer' ist der lautgesetzlich
nicht begründete Übergang des a in e mutmaßlich in Anlehnung
an /cve 'leicht' aus lat. iez'zs erfolgt. Aus lat. reddere 'wiedergeben'
hat sich, wohl durch Einwirkung von prendere 'nehmen', ital. re?idere^
franz. rendre gebildet. Im Deutschen sind Sotmner und Winter^
ahd. sumar, zvmtar^ ein Begriffspaar, bei dem das zweite nach dem
ersten Worte gebildet zu sein scheint. Der irreguläre Genitiv Nachts
ist wahrscheinlich durch Angleichung an Tags^ das dialektisch vor-
kommende heute Morgend nach Analogie von heute Abend ent-
standen usw. ^).
c. Komplikationen der Angleichungsvorgänge.
Die verschiedenen Formen sogenannter »Analogiebildung«, die
grammatische und die begriffliche Angleichung infolge von Ver-
wandtschaft und Gegensatz, sind nun keineswegs überall getrennt
voneinander vorkommende Erscheinungen, sondern sie können in
der mannigfaltigsten Weise ineinander eingreifen, sich unterstützen
oder sich entgegenwirken und sich in einzelnen Fällen wohl auch mit
den oben behandelten Nahewirkungen der Laute, den Assimilationen
und Dissimilationen, verbinden. So fügen z. B. unsere zahlreichen
deutschen Komposita mit genitivischer Bildung des ersten Wort-
bestandteils bekanntlich an dieses nicht selten das Genitivsuffix -i-
auch dann an, wenn das Wort für sich allein diese Genitivendung
nicht hat: wir sagen nicht bloß Kriegsgeschrei ^ Ratsversammlung ^
Berufswahl^ sondern auch Regierungsrat^ Grimdungsfest usw. Aber
diesen stehen andere Beispiele gegenüber, wo die gleiche Endung
nicht in das Kompositum eingedrungen ist, obgleich das Simplex
sie hat, wie in Hofrat^ Vaterhaus^ Jubeljahr u. a. Hier werden wir
') Vgl. über diese Erscheinungen außer Brugmann a. a. O. noch Wheeler,
Analogy, p. 19 ff. und Meyer-Lübke, I, 11 im Register unter » Angleichung c.
442
Der Lautwandel.
demnach annehmen dürfen, daß die echten Genitivbildungen von
Wörtern wie Ratsversammliing ^ Berufsiuahl usw. auf die andern
Komposita angleichend eingewirkt haben, daß dies aber hauptsäch-
lich in solchen Fällen geschehen sei, wo der Lautübergang von
dem ersten zum zweiten Teile des Kompositums dies begünstigte.
Wir dürfen also wohl diese Erscheinung als ein Mischprodukt aus
Angleichung an verwandte grammatische Formen und aus dissimi-
lierender Kontaktwirkung der Laute betrachten. Häufiger noch
kommen Komplikationen der verschiedenen Arten begrifflicher An-
gleichung untereinander sowie mit den grammatischen Angleichungen
vor. So hatte ^lala "^sehr^ ursprünglich wohl zwei Komparativ-
formen: f-ialiov {fj-dliGTa) und *f.ifAlov. Der Übergang dieses
*fX€klov in (.läXXov kann dann einerseits aus der grammatischen
Angleichung an (.läXa, fxäliaTa^ anderseits aus der begrifflichen
Angleichung an Bildungen, die irgendwelche andere Größenbestim-
mungen ausdrücken, wie taxa^ -d-äooov {Tcr/jov), raxiora, eläaaoi'y
eXaxLora, abgeleitet werden. Bei den mannigfaltigen assoziativen
Beziehungen, in denen das einzelne Wort zu andern Wörtern steht,
ist in diesen und allen ähnlichen Fällen in der Tat die Komplikation
der Motive wahrscheinlicher als die isolierte Wirksamkeit eines
einzelnen. Im allgemeinen werden wir daher auch hier nach dem
Prinzip der »Komplikation der Bedingungen« den Lautcharakter, den
das einzelne Wort im Laufe seiner Entwicklung annimmt, als das
Erzeugnis einer Vielheit mannigfach interferierender Ursachen an-
sehen müssen, die sich teils unterstützen, teils auch einander ent-
gegen wirken können, so daß sich in bestimmten Wörtern gewisse
Lautmetamorphosen nicht vollziehen, die in andern, sonst ihnen
parallel gehenden eingetreten sind. So ist im Präsens des Verbum
subst, sif-ii "^ich bin' die erste Person Plur. aus Eif.i£v in EO(.iiv über-
gegangen, augenscheinlich durch eine von den Mehrheitsformen der
zweiten Person loröv, iori ausgeübte Attraktion, die gleichzeitig als
eine grammatische und als eine begriffliche, letztere vermittelt durch
die in beiden Fällen vorhandene Mehrheitsvorstellung, betrachtet
werden kann. Es handelt sich also hier um eine Interferenz gleich
gerichteter Einflüsse. Dagegen ist im Imperf. des gleichen Verbums
die analoge Angleichung nicht erfolgt: neben rjorov, rjors ist hier
rji.i£v stehen geblieben, nicht in rjGixev übergegangen. Den Grund
Psychologische Theorie der assoziativen Ferne\virkungen. ^a2
hierzu kann man aber in den zahlreichen andern Verbalformen mit
der gleichen Pluralendung finden, wie sXrjf-isv, €ßi]i.i£v^ saßrjf-iev, eine
Wirkung, die selbst wieder als die Verbindung einer äußeren gram-
matischen Angleichung mit einer durch die Mehrheitsvorstellung
vermittelten Begriffsassoziation betrachtet werden kann, durch welche
die angleichende Wirkung der Formen i]ötov^ rjars paralysiert wurde,
— also in diesem Fall eine Interferenz entgegengesetzt gerichteter
Einflüsse, w^obei der eine, offenbar derjenige, der sich aus den
meisten Einzelkräften zusammensetzt, obsiegte^).
4. Psychologische Theorie der assoziativen Fernewirkungen.
a. Entstehung der Ferne Wirkungen aus elementaren Assoziationen.
Greifen auf diese Weise die vier oben unterschiedenen Grund-
formen psychischer Angleichungsvorgänge in so mannigfacher
Weise ineinander ein, daß der einzelne Fall wohl zumeist aus
einem Zusammen- und Gegenwirken verschiedener Bedingungen
hervorgegangen ist, so deutet nun aber schon das Wort »An-
gleichung«, das einen für alle Fälle gemeinsamen Begriff bezeich-
net, sowenig es auch über die Vorgänge selbst irgend etwas aus-
zusagen vermag, auf einen im ganzen übereinstimmenden Charakter
aller dieser assoziativen Fernewirkungen und zugleich auf Beziehun-
gen zu den oben erörterten Kontaktwirkungen hin. Dies bewährt
sich auch darin, daß beide, die Ferne- wie die Nahewirkungen der
Laute, in den Formen, in denen sie uns in der Sprache begegnen,
an individuelle Abweichungen erinnern, die auf den nämlichen
physischen und psychischen Bedingungen beruhen. Wie die Laut-
veränderungen infolge von Kontaktwirkungen in den verschiedenen
Lautvermengungen (Paralalien) ihre Vorbilder haben, so finden sich
solche zu den mannigfaltigsten »Analogiebildungen« vor allem in
jenen Erscheinungen der Wortverm engung (Onomatomixie), wie sie,
zusammen mit Paralalien, bei dem »Versprechen« des Zerstreuten,
bei dem Gebrauch einer nicht geläufigen Sprache oder einzelner
Wörter einer solchen oder endlich bei dem Kind in der Periode
I) Vgl. Bnigmann, Berichte der kgl. sächs. Ges. d. Wiss., Phil.-hist. Kl. 1897,
S. 185 fF.
AA± Der Lautwandel.
der Aneignung der Sprache vorkommen (S. 302 ff.). Hierbei besteht
der Unterschied zwischen den Erscheinungen des Versprechens der
Redegeübten und den Sprachfehlern der Sprechenlernenden im
wesentlichen nur darin, daß bei jenen irgendeine ganz zufällige
Wortassoziation die Abweichung herbeiführt, die dann bei klarer
Besinnung leicht als Fehler erkannt wird, während bei diesen dem
Kinde selbst die Abweichung von dem Sprachgesetz ebensowenig
wie die Übereinstimmung mit demselben direkt zum Bewußtsein
kommt. Hier zeigen nun jene Wortvermengungen des gewöhn-
lichen Versprechens deutlich, daß die Ursachen zu solchen Ab-
weichungen in jedem Bewußtsein vorhanden sind. Zugleich wird
es aber begreiflich, daß diese die bestimmte, vorzugsweise den
Abwandlungsformen der Wörter zugekehrte Richtung nur da an-
nehmen, wo eben die eigentümlichen Bedingungen hinzutreten, die
bei der Aneignung einer Sprache obwalten. Nun bleiben diese Be-
dingungen in einem gewissen Grad immer bestehen. Eine jüngere
Generation eignet sich die überlieferte Sprache von neuem an, und
in geringerem Umfange bleibt auch der Sprachgeübte den Wirkun-
gen, die verwandte Wortbildungen auf die Aussprache des einzel-
nen Wortes ausüben, fortan ausgesetzt. Auf einer je früheren Stufe
der Kultur sich die Sprachgemeinschaft befindet, je weniger nament-
lich die Sprache durch die Literatur fixiert ist, einen um so größeren
Spielraum müssen natürlich solche individuelle Einflüsse gewinnen.
So führt auch hier, gerade so wie bei den Kontaktwirkungen der
Laute, diese Betrachtung zu dem Ergebnis, daß jede in der
Sprache zur Herrschaft gelangte Abweichung von den Laut- und
Formgesetzen infolge grammatischer oder begrififlicher Angleichun-
gen ursprünglich ein individueller Vorgang war, der, während eine
Menge ähnlicher individueller Abweichungen spurlos verschwand,
durch begünstigende Bedingungen sich verbreitete, bis seine Wir-
kung schließlich allgemein wurde. Damit ist nicht gesagt, daß
eine solche Abweichung nur in einem einzigen Individuum ihren
Ursprung genommen habe. Vielmehr, je günstigere Bedingungen
der Verbreitung sie vorfand, um so mehr wird auch schon ihre Ent-
stehung erleichtert gewesen sein, so daß viele Einzelne unabhängig
voneinander den gleichen Wirkungen unterlagen.
Mit diesem individuellen Ursprung der generellen Erscheinungen
Psychologische Theorie der assoziativen Femewirkungen. 44 S
ist für die Natur der Prozesse vor allem dies sichergestellt, daß
auch hier von einer teleologischen, Willkür und Absicht zu Hilfe
rufenden Interpretation unmöglich die Rede sein kann. Denn alle
jene individuellen Erscheinungen treten ganz von selbst, ungewollt
und zunächst ohne jedes Bewußtsein der wirklich stattfindenden
Abweichung ein. Wie die individuelle, so kann also auch die gene-
relle Erscheinung nur in einem psychischen oder physischen Mecha-
nismus oder, da die Sprache eine doppelseitige Funktion ist, in
einem psychophysischen begründet sein. Nun weisen in psycholo-
gischer Hinsicht alle diese Erscheinungen so zwingend auf Vor-
gänge der Assoziation hin, daß die Ausdrücke »Analogiebildun-
gen« und »sprachliche Assoziationen« vielfach schon als gleichbe-
deutend gebraucht worden sind^). Aber so zweifellos es sein mag,
daß überall Assoziationsprozesse vorliegen, so ist doch auch hier
mit diesem allgemeinen Ausdruck wenig getan, solange man sich
nicht nähere Rechenschaft darüber gibt, wie die Assoziationen
beschaffen sind. Das Wort > Assoziation« selbst sagt nicht mehr,
als daß infolge irgendwelcher Beziehungen zwischen psychischen
Inhalten lediglich vermöge der Eigenschaften, die diese selbst be-
sitzen, also ohne Zutun unseres Willens oder vermittelnder intellek-
tueller Vorgänge, eine Verbindung zwischen jenen Inhalten einge-
treten sei. Und man redet von einem »Mechanismus der Assozia-
tionen«, um anzudeuten, daß keine außerhalb der assoziierten Vor-
stellungen liegenden psychologisch nachweisbaren Ursachen, wie
z. B. Willenshandlungen oder logische Überlegungen, die Verbin-
dung erzeugt haben. Doch mit diesem in seiner Allgemeinheit
höchst unbestimmten Begriff ist für die beschreibende Analyse des
Tatbestandes selber so gut wie nichts gewonnen, und die ohne
Rücksicht auf überlieferte psychologische Begriffe gebrauchten Aus-
drücke »Analogiebildungen« und »Angleichungen« sind insofern
sogar zutreffender, als sie wenigstens das jedesmalige Endergebnis
des sprachlichen Vorgangs deutlich bezeichnen. Ja, nimmt man den Be-
griff der »Assoziation« in demjenigen Sinn, in dem ihn die sogenannte
»Assoziationspsychologie« des i8. Jahrhunderts ausgebildet hat, und
in dem er von vielen Psychologen noch gegenwärtig festgehalten
I) Vgl. oben S. 367 f.
446
Der Lautwandel.
und speziell auch auf diese sprachlichen Vorgänge angewandt wird,
so muß man noch einen Schritt weiter gehen, — dann ist jener
Ausdruck nicht nur zu unbestimmt, sondern in dieser Anwendung
geradezu falsch: Assoziationen in dem hergebrachten Sinne
sind die sogenannten Analogiebildungen und Anglei-
chungen überhaupt nicht. Jenem Begriff gemäß soll nämlich
die Assoziation ein Vorgang sein, der im allgemeinen auf zwei
Vorstellungen A und B sich erstreckt, von denen die eine die
andere in das Bewußtsein hebe, weil sie ihr irgendwie ähnlich, oder
weil sie gewohnheitsmäßig oft mit ihr verbunden gewesen sei.
Man unterscheidet danach die Ahnlichkeits- und die Berührungs-
assoziation, die manche Psychologen auch auf eine Form zu re-
duzieren suchen, indem sie entAveder die Berührung auf Ähnlichkeit
oder — und dies wohl häufiger — die Ähnlichkeit auf Berührung
zurückführen^). Auch bei diesem Streite wird jedoch daran festge-
halten, daß die Assoziation in jedem einzelnen Fall auf einer irgend-
wie entstandenen Affinität zwischen je zwei Vorstellungen beruhe,
die bei der Anziehung, die sie aufeinander ausüben, im wesentlichen
unverändert bleiben. Wenn A von einem direkten Eindrucke her-
stammt und B ein dem A assoziiertes Erinnerungsbild ist, so soll
dieses B zwar manchmal, gerade so gut wie der Eindruck A selbst,
unvollständig oder undeutlich wahrgenommen werden. Aber dies
soll nicht hindern, daß in einem gegebenen Assoziationsakt jeweils
nur ein bestimmtes A mit einem bestimmten B verbunden w-erden
kann. Kommt irgendeine dritte Vorstellung C mit ins Spiel, so
soll das eben nur in einem neuen Assoziationsakt geschehen
können. Dieser Voraussetzung eines von Vorstellung zu Vorstellung
reichenden Bandes entspricht es denn auch ganz, daß man jede
Assoziation als einen sukzessiven Vorgang auffaßt, weil zuerst das
eine Glied A der Verbindung und dann das andere B im Bewußt-
sein auftrete. Das Schema, nach dem man die gewöhnlichen Er-
innerungsvorgänge — nicht beobachtet, aber mit einem gewissen
Schein von Wahrscheinlichkeit logisch gegliedert hatte, w^urde hier
zum Schema der Assoziation und Reproduktion überhaupt. Wenn
irgendein Eindruck an ein früheres Erlebnis erinnere, dann sei, so
Grundriß der Psychologie,^ S. 267 ff.
Psychologische Theorie der assoziativen Femewirkungen. 447
reflektierte man, zuerst der Eindruck da und hierauf das Gedächtnis-
bild; ähnlich schlinge daher überall die Assoziation ihre Bande
zwischen unsern Vorstellungen. Wie der Eindruck das Erinnerungs-
bild, so könne dieses ein anderes Erinnerungsbild emporheben.
Auf solche Weise sollen Assoziationsreihen von mehr oder minder
großer Ausdehnung entstehen, in denen die folgenden Vorstellungen
immer an die früheren anknüpfen, mögen sie nun mit den unmittel-
bar vorangegangenen Gliedern der Reihe oder mit weiter zurück-
liegenden verbunden sein.
Mißt man die grammatischen und begrifflichen Angleichungen
der Sprache an diesem überlieferten Schema der Assoziation, so
kann es keinem Zweifel unterliegen, daß beide Begriffe nicht im
geringsten sich decken. Erstens ist es in den meisten Fällen
nicht ein einzelnes Wort, dem ein anderes angeglichen wird, son-
dern eine Vielheit, nicht selten eine unbestimmte Vielheit von Wör-
tern. Zweitens wirkt, wo je einmal die vorwiegende Assoziation
eines bestimmten Wortes nachweisbar ist, dieses nicht als ganzes,
sondern in irgendeinem einzelnen Lautbestandteil, während seine
andern Elemente völlig wirkungslos bleiben. Drittens kann ein
und dasselbe Wort verschiedenen, von ganz abweichenden Wörtern
ausgehenden Wirkungen unterworfen sein, — Interferenzphänomene,
die bald Verstärkung, bald Komplikation der Wirkungen, bald aber
auch Kombinationen verschiedener nebeneinander stattfindender
Lautinduktionen erzeugen können. Viertens endlich ist von einer
Sukzession der Vorstellungen in keinem einzigen Beispiel dieser
Angleichungsvorgänge, mögen sie auf eine Mehrheit nebeneinander
hergehender Wirkungen oder nur auf eine einzige hinweisen, irgend
etwas wahrzunehmen. Daß das induzierende und das induzierte
Wort im unmittelbaren Zusammenhang der Rede sich berühren,
ist nur ein seltener Ausnahmefall, der bereits auf der Übergangs-
stufe zur Kontaktwirkung steht. Freilich ist aber auch bei dieser,
wie war sahen, das eigentliche Motiv der Wirkung nicht eine dem
üblichen Schema entsprechende »Reproduktion und Assoziation«,
sondern es besteht in der Vorausnahme und Nachwirkung bestimmter
Laute und Lautbewegungen, die sich unwillkürlich und bei den
Assimilationen vollkommen simultan mit dem gesprochenen Laute
verbinden (S. 422 ff).
448
Der Lautwandel.
In der Tat lassen sich daher die sämtlichen Formen der An-
gleichung, der grammatischen wie der begrifflichen, nur als simul-
tane Assoziationen oder, wie wir diese nennen, wenn es sict um
Verbindungen innerhalb eines und desselben Sinnesgebietes handelt,
als psychische Assimilationen verstehen, an denen aber nicht,
wie die alte Assoziationstheorie voraussetzt, fest begrenzte fertige
Vorstellungen, sondern Vorstellungselemente beteiligt sind.
Das Produkt dieser elementaren Verbindungen steht als eine einheit-
liche Vorstellung im Bewußtsein, und erst durch die psychologische
Analyse der unmittelbaren Bedingungen und der entfernteren Vor-
bedingungen, unter denen es entstand, kann es einigermaßen in
seine Bestandteile zerlegt werden. Solche Assimilationen begegnen
uns schon im Gebiet der normalen Sinneswahrnehmung überall. Der
Vorstellungsinhalt irgendeiner Wahrnehmung erklärt sich im allge-
meinen niemals zureichend aus der Zusammensetzung des Eindrucks,
sondern er besteht immer zugleich aus Assoziationen mit den Ele-
menten vorangegangener Vorstellungen, mit denen sich die Ele-
mente des wirklichen Eindrucks wechselseitig assimiliert haben.
Darum nimmt, auch abgesehen von der verschiedenen Beschaffen-
heit der Sinnesorgane und dem verschiedenen Standpunkt der Be-
trachtung, vermutlich kein Mensch einen Gegenstand genau ebenso
wie ein anderer wahr. Jeder bringt zu dem Eindruck wieder andere
Bedingungen hinzu, andere Vorstellungselemente, die zu dem
gegebenen Objekt in irgendwelche Beziehungen treten können, sei
es daß sie sich angleichen und dadurch den Eindruck verstärken,
sei es daß ihnen aus vorangegangenen Verbindungen Elemente
anhaften, die dem unmittelbaren Eindruck fehlen. Alle diese Be-
dingungen treten uns am deutlichsten bei jenen künstlichen Stei-
gerungen und willkürlichen Variationen der Assimilationswirkungen
entgegen, wie sie sich bei den experimentell erzeugten Sinnes-
täuschungen beobachten lassen'). Auf diese simultanen Assozia-
tionen den von Leibniz in wesentlich anderem Sinne geschaffenen
Begriff der »Apperzeption« zu übertragen, ist schon deshalb unzu-
lässig, weil dadurch jene simultanen Vorgänge von der Gesamtheit
^) Grundriß der Psychologie,S S. 276 ff. Grundzüge der physiol. Psychol.^ II,
S. 564 ff., m, S. 528 ff. Phil. Stud. XIV, S. 32 ff.
Psychologische Theorie der assoziativen Fernewirkungen. 449
der übrigen Assoziationen, mit denen sie auf das engste zusammen-
hängen, und zu denen sie die mannigfachsten Übergänge darbieten,
getrennt werden, so daß die falsche Vorstellung einer spezifischen
Verschiedenheit der Vorgänge selbst erweckt wird^).
Wie die Erscheinungen der normalen Illusionen bei der Sinnes-
wahrnehmung, so bilden nun die Analogiebildungen und Anglei-
chungen innerhalb der Sprache ein Gebiet, auf welchem sich die
völlig passive, ohne jede Beteiligung unseres WoUens und Denkens
erfolgende und dabei doch überaus fruchtbare und schöpferische
Wirksamkeit der Assimilationen auf das klarste entfaltet. Zugleich
bilden diese Erscheinungen ein für das Studium der psychischen
Prozesse höchst wertvolles Beobachtungsmaterial, einerseits weil uns
hier die Vorgänge selbst unter wesentlich andern und verwickeiteren
Bedingungen entgegentreten als bei den Sinneswahrnehmungen,
und anderseits weil die Zeugnisse der Sprachgeschichte in der
Regel bestimmtere Hinweise auf die Ursachen der Vorgänge und
das Verhältnis der in assimilative Wechselwirkung tretenden Ele-
mente enthalten. Dies zeigt sich auch daran, daß in diesem Fall
die Erscheinungen schon für die äußere Beobachtung in mehrere,
scharf zu unterscheidende Gruppen auseinander treten, deren Eigen-
tümlichkeiten jedesmal auf Unterschiede der psychischen Bedin-
gungen selbst hinweisen. Hierdurch bilden diese Assimilationsvor-
gänge auf dem Gebiet der Sprache ganz besonders schlagende
Belege für das sich bei allen assoziativen Prozessen bewährende
Prinzip, daß eine Assoziation überhaupt nicht zwischen
Vorstellungen, sondern immer nur zwischen Vorstellungs-
elemcnten stattfindet, indem gleiche Elemente mit glei-
chen, berührende mit berührenden früherer Vorstellunsren
'} Es ist bezeichnend, daß dieser von Herbart eingeführte, nach unserer heutigen
Kenntnis der Assoziationen unbrauchbar gewordene Begriff der »Apperzeption« auch
heute noch hauptsächlich von Philosophen angewandt wird, die in bezug auf die
Assoziationen selbst an dem unzulänglichen Schematismus der Assoziationspsycho-
logie festhalten. So stützen sich hier zwei unhaltbare Begriffe wechselseitig. Daß
man bei dieser irreführenden Anwendung des Apperzeptionsprinzips zugleich einer
passenden Bezeichnung für die elementaren Funktionen des Willens und der Auf-
merksamkeit verlustig geht, wird sich, abgesehen von den hierher gehörigen Tat-
sachen der Individualpsychologie, auch bei den sprachlichen Vorgängen der W^ort-
bildung und Satzfügung deutlich ergeben. (Vgl. Kap. V und VII.'
Wundt, Völkerpsychologie I, I. 2. Aufl. 20
45 o
Der L&arvrandel.
sich zu verbinden streben. Da nun aber solche Elemente nie-
mals in isoliertem Zustande, sondern sowohl vor wne nach eingetre-
tener Assimilation immer nur in ihrer Verbindung mit andern Be-
standteilen als vorstellbare psychische Inhalte vorkommen, so können
sie überhaupt nur als Dispositionen unserer Seele gedacht werden,
denen zugleich irgendwelche ph\-sisclie Dispositionen in den Sinnes-
zentren entsprechen werden, und die jeweils erst in dem Moment
in vorstellbare psychische Inhalte übergehen, wo sie sich mit wei-
teren Elementen verbinden, mögen nun letztere durch unmittelbare
Sinneseindrücke er^veckt werden oder selbst zu den ^\-iede^ aktuell
gewordenen Dispositionen gehören. Die in einem gegebenen Augen-
blick im Bewuiätsein auftauchende, aus Elementen zahlreicher und
zum Teil weit abweichender früherer Eindrücke aufgebaute Vorstel-
lung wird daher als Ganzes \\-ie in allen ihren Teilen stets nur in
dem Augenblick zu einer wirklichen Vorstellung, wo sich die
assimilative Verbindung vollzieht. \'orher sind die Elemente bloß
als latente psychische Kräfte vorhanden gewesen, die sich erst in
ihrer nachherigen Beteiligung an einer gegebenen Vorstellungs^\^r-
kung zu erkennen geben. Den Dispositionen, insofern sie in dieser
Weise zugleich latente psychische Kräfte sind, lassen sich nun bild-
lich, wenn wir die \'erhältnisse der physischen Kräfte auf sie über-
tragen denken, immer attraktive imd repulsive Wirkungen zuschrei-
ben: attrakti\-e. die gleiche und berührende Elemente in das Be-
wußtsein zu heben streben: repulsive, durch die sonstige Elemente,
die ihnen widerstreiten, unter der Schwelle des Bewußtseins gehalten
werden. Gerade für dieses Wechselspiel der Attraktion imd Re-
pulsion der Vorstellungselemente j das wir gelegentlich schon bei
den Wahmehmuncrsvorsränsfen beobachten, bieten die analogen Er-
scheinongen auf dem Gebiet der Sprache die deutlichsten Belege.
besond«3^ in jenen Fällen, wo zwei Angleichimgsprozesse mitein-
ander in Wettstreit geraten und der Enderfolg dann eine Verbin-
dung mehrerer partieller Angleichungen aufweist. Wenn z. B. *uf).).oy
nicht in *ui^iLXor. wie die Angleichung an verwandte Komparativ-
formen vermuten ließe, sondern durch eine nebenher gehende An-
gleichung an uöjjx, die \\-ahrscheinüch noch durch eine von analo-
gen Steigerungsbegriffen, w-ie &äGaov, (Ääaaov ausgehende} Attrak-
tion unterstützt wurde, in uäkkor übergegangen ist. so hat hier die
Psychologische Theorie der assoziativen Femewirkangen. ^r I
von dem «-Laut ausgeübte angleichende Wirkung zugleich eine
Repulsion auf den r-Laut ausgeübt, die stärker war als die sonst
diesem zur Seite stehenden attrahierenden Kräfte.
Um die Wirkungen, aus denen solche den sprachlichen Ana-
logiebildungen zugrunde liegenden psychischen Assimilationen her-
vorgehen, richtig zu würdigen, muß man bedenken, daß alle jene
Erscheinungen nur einzelne Fälle sind, in denen vermöge beson-
derer, irgendeine Abweichung vom normalen Verhalten herbei-
führender Bedingungen die Attraktionen und Repulsionen psychi-
scher Elemente deutlicher hervortreten. In Wahrheit besteht aber
alles Sprechen in fortwährenden Analogiebildungen und Angleichun-
gen, und wir würden niemals zur Beherrschung einer Sprache
gelangen, wenn nicht fort und fort Dispositionen zur Assoziation
der Vorstellungselemente entstünden und sich verstärkten. Ohne
Zaudern bilden wir in einer uns geläufigen Sprache die Kasus-
formen des Substantivs, die Abwandlungen des Verbums oder selbst
Wortzusammensetzungen, ohne sie uns im einzelnen Fall direkt
angeeignet zu haben. Wir tragen gewissermaßen paradigmatische
Vorstellungsreihen als latente Kräfte in uns, deren Latenz aber eben
darin besteht, daß sie uns nicht, wie die Paradigmen der wirklichen
Grammatik, in Gestalt bestimmter einzelner Vorstellungen gegeben
sind, sondern daß sie nur in der Form elementarer funktioneller
Anlagen in uns liegen, von denen jeweils diejenigen aktuell werden,
die durch die gegebene Bewußtseinslage begünstigt sind. Wenn
wir eine einzelne grammatische Form bilden, so werden wir uns
daher nur sehr selten und unter Ausnahmebedingungen irgendeiner
andern Wortvorstellung beAvußt, der sie analog ist. Vielmehr wirken
die zugehörigen und im Augenblick disponibeln Elemente wie eine
Totalkraft, die uns bloß in ihrem Effekt, nicht in den zahllosen
einzelnen Komponenten gegeben ist, aus denen sie sich zusammen-
setzt. Ein überraschendes und freilich auch nur partiell erhellendes
Licht fällt auf diese Vorgänge erst da, wo sie etwa einmal in
ungewöhnlicher Form verlaufen, wo also statt der erwarteten
andere Attraktionswirkungen, sogenannte »falsche Analogien«, zu-
stande kommen. Sie spielen in der Tat im Gebiet der Sprache
etwa dieselbe Rolle wie in dem der Sinneswahrnehmung die > nor-
malen Sinnestäuschungen . In Wirklichkeit sind diese ebensowenig
452
Der Lautwandel.
Urteilsfehler, als die man sie früher häufig betrachtet hat, wie die
sogenannten falschen Analogien Sprachfehler sind. Wie vielmehr
jene aus den schon bei der normalen Sinneswahrnehmung wirk-
samen Gesetzen, so sind auch diese aus den Assoziationsgesetzen
hervorgegangen, die sich überall in der Sprache betätigen. Nur
der Umstand, daß die Assoziationen der Elemente infolge bestimm-
ter Bedingungen ungewöhnlicher Art sind, gibt ihnen ihre eigen-
artige Stellung und zugleich ihren großen heuristischen Wert. Beide
Fälle gehören zu jenen, wo die Natur für uns experimentiert, in-
dem sie eine Veränderung der Bedingungen herbeiführt, die einer
willkürlichen Variation derselben gleichkommt.
b. Psychologische Analyse der vier liauptformen der
Lautangleichung.
Betrachtet man die vier oben unterschiedenen Gruppen der An-
gleichung sprachlicher Formen nach den durch diese Zurückführung
auf elementare psychische Assimilationen geforderten Gesichtspunk-
ten, so zeigt sich kein wesentlicher Unterschied der Elementarpro-
zesse selbst. Wohl aber führen die Erscheinungen zur Annahme
einer verschiedenen und für jede Gruppe höchst charakteristischen
Verteilungs weise der Elementarwirkungen. Hierbei ist, wie bei
allen sprachlichen Erscheinungen, jede Vorstellung als Komplikation
eines begrifflichen Inhalts und einer zugehörigen Lautvorstellung
aufzufassen. Wegen der Festigkeit dieser Komplikation wird im all-
gemeinen eine Assoziation der begrifflichen immer auch eine solche
der lautlichen Elemente herbeiführen; es wird aber auch umgekehrt
die Lautattraktion eine Assoziation der Begriffe veranlassen können.
Zugleich bringt es die Verkettung der sprachlichen Komplikationen
mit sich, daß keine der erwähnten Attraktionsvvirkungen jemals für
sich allein vorkommt, sondern daß es sich überall nur um vorwie-
gende Richtungen handeln kann.
In einer Hinsicht stimmen nun trotz sonstiger Verschiedenheit
der Bedingungen die vier Gruppen der Angleichungsprozesse über-
ein. Das ist die allgemeine Richtung, in der die lautändernden
Kräfte wirken. Unterscheiden wir die Lautelemente eines Wortes
in solche, die dem in dem Worte ruhenden, relativ konstant blei-
benden Grundbegriff angehören, und in andere, die den verschie-
Psychologische Theorie der assoziativen Fernewirkungen. /i c z
denen Modifikationen entsprechen, in denen jener Grundbegriff in-
folge seiner Beziehungen zu andern Begriffen vorkommt, so können
wir die Elemente der ersten Art als die Grundelemente, die der
zweiten als die Beziehungselemente des Wortes bezeichnen').
Die Unterscheidung dieser Elemente berührt sich zwar mit der
grammatischen Unterscheidung des Wortstammes und der Flexions-
bestandteile, aber sie ist von allgemeinerer Bedeutung. Indem wir
uns nämlich dabei das Wort nicht in einen einzigen konstanten
Grundbestandteil und in einen oder einige Beziehungsbestandteile
zerlegt denken, sondern in seine Lautelemente, die je nach ihrer
Bedeutung Grundelemente oder Beziehungselemente sein können,
entspricht es dem fließenden Charakter der in der Sprache ausge-
drückten Begriffe und Begriffsbeziehungen, daß auch dieses Ver-
hältnis zwischen Grundelementen und Beziehungselementen ein
fließendes ist. Gewisse Elemente, die sich in zahlreichen Umwand-
lungsformen als Grundelemente bewähren, können in andern in die
Reihe der Beziehungselemente übertreten, während bei der Stabili-
sierung gewisser Flexionsformen und bei der Wortkomposition um-
gekehrt Beziehungselemente zuweilen zu Grundelementen werden
oder auch zu selbständigen Beziehungswörtern sich verbinden kön-
nen. Angesichts des nie rastenden Wirkens der sprachbildenden
Vorgänge beanspruchen daher jene Bezeichnungen an und für sich
nur eine relative Bedeutung: Grundelemente sind überall nur die-
jenigen Lautelemente, die innerhalb einer Reihe zusammengehöriger
Laut- und Begriffsänderungen konstant bleiben und eben darum
für den Redenden die Träger des Grundbegriffs sind; Beziehungs-
elemente diejenigen, die durch ihr Gebundensein an die Beziehungen
und Verbindungen, in die der Begriff tritt, von selbst die Bedeutung
variabler Begrififsmodifikationen annehmen.
Fassen wir in diesem relativen, aber in jedem einzelnen Fall
der Anwendung doch eindeutigen Sinne jenen durch die natürliche
Stellung des Wortes in der Rede gegebenen Gegensatz auf, so bil-
den nun die sämtlichen oben betrachteten Angleichungsvorgänge,
wenn wir für sie wieder den Begriff der »Lautinduktion« benützen.
'i Näheres über die Bedeutung dieser Elemente für die Wortbildung vgl. unten
Kap. V, Nr. m.
454
Der Lautwandel.
ein Gebiet von Vorgängen, wo die induzierten Lautbestandteile
durchaus nur den jeweiligen Beziehungselementen des Wortes
angehören. Dagegen zerfallen sie nach der Stellung der indu-
zierenden Bestandteile von vornherein in zwei Klassen: in der
einen sind diese induzierenden Bestandteile ebenfalls Beziehungs-
elemente, — dies bildet den Fall der »grammatischen Angleichun-
gen« ; in der andern sind sie Grundelemente, — dies ist der Fall
der »begrifflichen Angleichungen « . Dabei treten nun aber neben
diesen dem Vorgang den entscheidenden Charakter aufprägenden
Assoziationen stets noch andere als Hilfskräfte auf, so daß eben-
sowohl bei den grammatischen Angleichungen Attraktionen von
Grundelementen wie bei den begrifflichen Angleichungen solche
von Beziehungselementen mitwirken. Diejenige Wirkung, die wir
in einem gegebenen Fall speziell als die »induzierende« heraus-
greifen, bezeichnet daher stets nur die zunächst der Beobachtung
sich aufdrängende Seite der Erscheinung, niemals den ganzen
Komplex mannigfach gerichteter attraktiver und repulsiver Kräfte,
die an dieser beteiligt sind. Hiernach lassen sich im ganzen vier
typische Formen assoziativer Verbindungen unterscheiden, die den
vier oben betrachteten symptomatischen Gruppen entsprechen. Um
sie mittelst kurzer symbolischer Ausdrücke zu erläutern, sollen be-
liebige Grundelemente eines Begriffs durch Buchstaben der ersten,
Beziehungselemente durch solche der zweiten Hälfte des Alphabets
angedeutet werden , so daß also A B M iV und E F S T zwei
Wörter nebst den an sie gebundenen Begriffen andeuten, die in
allen ihren Elementen abweichen, A B M iV und A B S T solche,
die in ihren Grundelementen übereinstimmen, A B M N und
EFM N andere, bei denen das gleiche für die Beziehungs-
elemente gilt, endlich ABMT und A C S T, AB MS und
CDMT usw. solche, die verschiedene Arten partieller Über-
einstimmung darbieten. Nun sind an sich nur zwischen überein-
stimmenden Elementen assimilierende Wirkungen möglich. Durch
diese können dann aber nach dem Prinzip der Kontiguität weitere,
bloß in äußerer Verbindung stehende in das Bewußtsein gehoben,
oder aber vorhandene, die in der neu gebildeten Verbindung
keine Stelle finden, aus ihm verdrängt werden. Derartige Wir-
kungen können nach mannigfachen Erfahrungen, die sich uns
Psychologische Theorie der assoziativen Fernewirkungen. 45 c
im Gebiet der Sprache darbieten, nicht bloß zwischen den Ele-
menten verschiedener, sondern auch zwischen denen der gleichen
Vorstellungen, insbesondere also zwischen den Laut- und Begrififs-
elementen eines Wortes stattfinden. Wollen wir eine schematische
Übersicht über die verschiedenen typischen Formen der oben be-
handelten Angleichungsvorgänge gewinnen, so erscheint es daher
zweckmäßig, für die Begrifiselemente symbolische Zeichen zu wählen,
die je nach Bedürfnis die isolierte oder die vereinigte Wirkung der
verschiedenen Bestandteile einer Komplikation andeuten. Wir be-
zeichnen daher eine Komplikation aus Laut- und Begrififselementen,
wie oben, mit großen Buchstaben und wählen diese Symbole über-
all da, wo eine gleichzeitige assoziative Wirkung der vereinigten
Laut- und Begriffselemente anzunehmen ist. Dagegen sollen Laut-
elemente, wo sie für sich allein wirksam sind, durch die kleinen
Buchstaben des lateinischen Alphabets a^ b^ c . . . oder in^ n, o . . .^
und Begrififselemente, sofern sie ohne die zugehörigen Lautelemente
v/irken, durch die griechischen Buchstaben a, ß, y . . . angedeutet
werden. Dabei werden im letzteren Fall diese Symbole nur für die
Grundelemente des Wortbegriffs angewandt, da, wie die Erschei-
nungen begrifflicher Angleichung, bei denen eine solche selbständige
Wirksamkeit der Begrififselemente allein in Frage kommt, zeigen,
Attraktionswirkungen, die vom Lautwert der Worte unabhängig
sind, überhaupt nur den Grundelementen zukommen. Weiterhin
soll die Hauptrichtung der Assoziationen durch ausgezogene, die
Neben- oder Hilfswirkungen sollen durch unterbrochene Linien
angedeutet werden. Solche Elemente endlich, die durch die beglei-
tenden repulsiven Wirkungen verschwinden, sind in eckige Klam-
mern eingeschlossen, und die Hauptrichtung der Induktion wird
durch einen Pfeil angedeutet. Jeder symbolischen Wortformel ist
zur Verdeutlichung ein Wortbeispiel beigefügt.
Typus I. (Innere grammatische Angleichung.)
A B S [z. B. starb)
T A B[M] r (stürben
M I 1 I
ABS r fstarben bdST efST g k S 7' usw.
-n —r —r- -r
(gab
tat
machte
gaben
taten
machten'
bd S
efS
ghS
456 Der Lautwandel.
Typus II. (Äußere grammatische Angleichung.)
A B S [z. B. backe) (mache lache krache
: machte lachte krachte)
A B[M] (buk) c d S c f S g h S
A B S T (backte) c d S T e f S T g k S 7
"T ^^ IT -^
Typus III. (Angleichung durch Begriffsverwandtschaft.)
a ß s t{v\[z. B. ucpvaaio) \
I I I I j [oQVßßio vvaau) Tirvcaui]
T a c s [uQVU)) > (ß = schöpfe)
' I I I I \ efstghstikst usw.
a c s t {uQVGata) ] I \ 1
Typus IV. (Angleichung durch Begriffsgegensatz.)
a ß b s t [z. B. it. leve)\
?l^ ' ' ' ' \ n ß = leicht (brevis)
I n y d [v\ (lat. gravis) >
Y I I I I i a y ^ schwer c e s t
n y d s t (it. greve) / :
Aus diesem Schema erhellt zunächst, daß die beiden Formen
grammatischer Angleichung (Typus I und II), solange man von
dem Verhältnis der Hauptrichtung und der Nebenrichtungen der
Assimilation abstrahiert, im wesentlichen übereinstimmen. Der Unter-
schied beider liegt besonders darin, daß, was bei der einen Form
Hauptwirkung ist, bei der andern zur Nebenwirkung wird, und um-
gekehrt. Damit hängt der weitere in dem Schema ausgedrückte
Unterschied zusammen, daß bei dem ersten Typus die assoziative
Verbindung der Grundelemente eine größere Rolle spielt, wodurch
diese Form den begrifflichen Angleichungsvorgängen des Typus
III und IV näher steht. Diese beiden Typen selbst sind dann
wieder von im ganzen übereinstimmendem Charakter, indem bei
beiden sogar die Richtung der Hauptwirkung die nämliche ist
und nur die Beimischung eines Kontrastfaktors {ß und y) zu den
gleichen Begriffselementen a einen Unterschied begründet. Damit
steht in Verbindung, daß die Angleichung durch Kontrast einen
Grenzfall bildet, wo äußere Hilfswirkungen verhältnismäßig zurück-
treten und oft wohl sfanz verschwinden können. Dies ist durch
Physiologische Einflüsse bei den Lautangleichungen. ^cy
die Natur des Kontrastes bedingt, nach der ein gegebener Be-
griff in einem bestimmten Gedankenzusammenhang jeweils einen
bestimmten Gegenbegriff fordert. Übrigens ist es für beide be-
griffliche Angleichungsformen charakteristisch , daß , wie bei ihnen
die Hauptkräfte von Begriffselementen ausgehen, die unabhängig
von ihren Lautkomplikationen wirken, so als äußere Hilfskräfte
umgekehrt reine Lautwirkungen, die von den begrifflichen Bedeu-
tungen der Wörter unabhängig sind, unterstützend eingreifen.
6. Physiologische Einflüsse bei den Lautangleichungen.
Erscheint nach der in dem obigen Schema gegebenen Zerglie-
derung der Angleichungsvorgänge der Ausdruck, diese seien »psy-
chisch bedingte Formen des Lautwandels« , gerechtfertigt, insofern
ja eben diese Zergliederung überall auf Verbindungen elementarer
Assoziationen zurückführt, so schließt das nun aber keineswegs aus,
daß nicht auch hier den Assoziationen gewisse physiologische
Bedingungen zur Seite stehen. In der Tat wird diese Annahme
schon durch die allgemeine Erwägung nahegelegt, daß alle Asso-
ziationen ihrem wesentlichen Charakter nach mit den Übungsvor-
gängen eng zusammenhängen , daß aber diese stets entweder rein
physische oder aber psychophysische Funktionsänderungen sind:
das erstere bei der Funktionsübung der niederen Nervenzentren
oder der peripheren Organe, wie der Muskeln und Drüsen, das
letztere bei den mit Veränderungen in den höheren Zentralgebieten
vor sich gehenden Prozessen. So begreiflich es demnach ist, daß
wir solche Vorgänge der Übung und Mitübung auf die psychische
Seite stellen, solange sie sich uns vorwiegend in psychischen
Symptomen zu erkennen geben, so kann dies doch an jener prin-
zipiellen Auffassung nichts ändern, daß sie, als psychophysische
Vorgänge, nur die verwickeltsten und höchsten Erscheinungsformen
der alle Lebensprozesse beherrschenden Gesetze der Veränderung
der Funktion durch die wiederholte Ausübung der Funktion selber
sind. Diese prinzipielle Auffassung findet aber im vorliegenden
Fall ihre besondere Rechtfertigung noch darin, daß die Sprache
mehr als irgendeine andere psychische Leistung die Kennzeichen
einer psychophysischen Funktion an sich trägt, die von den äußeren
458
Der Lautwandel.
motorischen und akustischen Hilfsmitteln der Lauterzeugung an bis
zu den Verbindungen der akustischen Zentren verschiedener Ord-
nung auf physischer Grundlage ruht. Diese Bedeutung der physio-
logischen Übung tritt nun auch in einzelnen die assimilativen Ferne-
wirkungen begleitenden Erscheinungen selbständig zutage. Besonders
gehören hierher zwei Tatsachen. Die trste besteht in der über-
wiegenden Wirkung solcher Lautverhältnisse, die von vornherein
schon durch ihre größere Häufigkeit bevorzugt sind. So verdrängen
bei den grammatischen Angleichungen , wo nicht besondere Erhal-
tungsbedingungen mit eingreifen, die häufigeren Flexionsformen all-
mählich die selteneren. So sind ferner unter den begrifflichen
Angleichungen die durch Kontrast den durch Ähnlichkeit vermittel-
ten überlegen, wahrscheinlich deshalb, weil im selben Maß, als
der Kontrast das wirksame Begriffsverhältnis auf Korrelatbegriffe
einschränkt, er wegen der großen Häufigkeit der Verbindung dieser
Begriffe ein Übergewicht in ihrer gemeinsamen funktionellen Ein-
übung behauptet. Die zweite Tatsache besteht in dem von Anfang
an unwillkürlichen Eintritt der Veränderungen. Diese Art der Ent-
stehung enveckt unmittelbar den Eindruck eines psychischen Mecha-
nismus, der zugleich ein physischer sein muß, da die Lautbildung
als solche dem Gebiet physischer Vorgänge angehört. Gerade bei
den Sprachorganen läßt aber, wie auch sonst die Erfahrung viel-
fach zeigt, die Wiederholung einer bestimmten Bewegung diese
leicht auch da entstehen, wo eigentlich eine andere gewollt wurde,
lediglich deshalb, weil die Organe nun einmal auf eine bestimmte
Aufeinanderfolge der Artikulationsbe\\'egungen eingeübt sind. Mag
es z. B. noch so wahrscheinlich sein , daß aQvco , als es sich in
aQvaoco umwandelte, zunächst der assoziativen Wirkung des be-
griffsverwandten dcpvaoio gefolgt ist: ohne die entsprechende Ein-
übung der der Endung -vggw eigenen Lautbewegungen, die wieder
halb als assoziatives, halb als rein mechanisches Moment infolge
der in dieser Abfolge eingeübten Bewegungen die Veränderung er-
leichterte, würde der Wandel der Laute nicht erfolgt sein. So darf
durchweg auch für diese der Wirksamkeit der psychischen Asso-
ziationsgesetze besonders günstigen Erscheinungen assoziativer Ferne-
wirkungen der Satz als gültig angesehen werden, daß jeder Laut-
wandel ein psychophysischer Vorgang ist.
Haimtformen der WortentleliTiung. as^q
V. Laut- und BegriflFsassoziationen bei Wort-
entlehnungen.
I. Hauptformen der Wortentlehnung.
Mit den soeben betrachteten assoziativen Fernewirkungen der
Laute berühren sich sehr nahe diejenigen Erscheinungen, die in-
folge der Einführung eines nach Laut wie Bedeutung frem-
den Wortes in eine Sprache eintreten. Auch hier entstehen natur-
gemäß Assoziationen mit andern, bereits geläufigen Wörtern von
ähnlichem Klangcharakter, die teils als bloße Lautgebilde, teils auch
durch ihren Begriffswert auf das neuaufgenommene Wort herüber-
wirken. Die Wortentlehnung ist demnach ein Produkt der Sprach-
mischung. Dabei ist aber der Begriff der letzteren hier im wei-
testen Sinne zu nehmen. Denn die Erscheinungen der Wortentlehnung
stellen sich überall da ein, wo überhaupt ein unverstandenes Wort
in einer Sprache Eingang findet, mag es nun einer fremden Sprache
oder einem andern Dialekt oder vielleicht auch nur einer älteren
Periode der gleichen Sprache angehören. Diese geschichtlichen
Bedingungen ihrer Entstehung bewirken zugleich psychologische
Eigentümlichkeiten, durch die sich der Prozeß der Wortentlehnung
von den gewöhnlichen »Analogiebildungen« wesentlich unterscheidet.
Geht man nämlich von den vier oben unterschiedenen Formen
assoziativer Fernewirkungen aus, so umfassen diese nur jene näher
zusammengehörigen Vorgänge, bei denen diejenigen Lautbestand-
teile eines Wortes, die als die Träger seiner Grundbedeutung be-
trachtet werden können, während des Lautwechsels unverändert
geblieben sind, bei denen also nur seine Beziehungselemente, nicht
aber die Grundelemente einer von andern Wörtern ausgehenden
assimilierenden Wirkung unterlagen. (Vgl. das Schema auf S. 455 f)
Nun ist es unvermeidlich, daß die Assoziationswirkungen, denen
alle Bestandteile der Sprache ausgesetzt sind, da und dort über
diese Grenze hinausstreben. In Anbetracht der festen Verbindung
von Begriff und Wort sind aber die Grundelemente des letzteren
unter normalen Bedingungen weit stabiler als die Beziehungsele-
mente, die leicht, ohne daß damit der begriffliche Wert des Wortes
i^O I^cr Lautwandel.
selbst oder auch nur seiner Abwandlungsformen alteriert wird, die
mannigfachsten Veränderungen erfahren können. Diese Verhältnisse
werden jedoch wesentlich abweichende, sobald ein der Sprache bisher
fremdes Wort in sie eingeführt wird. Ihm gegenüber existiert jenes
der Verbindung von Laut und Bedeutung anhaftende sichere Gefühl
des Unterschieds zwischen Grund- und Beziehungselementen nicht
mehr. Jetzt ist daher das ganze Wort in allen seinen Bestand-
teilen gleichmäßig den verändernden Wirkungen der von außen
einwirkenden Assoziationskräfte ausgesetzt. Den beiden Haupt-
klassen der grammatischen und der begrifflichen Angleichungen
schließen sich demnach alle Umwandlungen, die infolge dieser weiter
um sich greifenden Wechselwirkungen entstehen können, als eine
dritte Klasse an, bei der weder Beziehungs- auf Beziehungselemente,
wie bei der ersten, noch Grundelemente auf Beziehungselemente,
wie bei der zweiten Klasse, sondern Grundelemente auf Grund-
elemente assimilierend einwirken. Auch diese Klasse zer-
fällt dann aber wieder in zwei Gruppen von Erscheinungen. Bei
der ersten wirld: ein Wort oder eine Anzahl von Wörtern auf den
gesamten Lautkörper eines gegebenen Wortes ein, um ihn eventuell
bis zur Unkenntlichkeit zu verändern, ohne daß dabei der Begriffs-
wert desselben wesentlich alteriert ward : dies ist der Fall der Wort-
entlehnung mit reiner Lautassoziation oder der gewöhnlich
sogenannten »Wortassimilation«. Bei der zweiten Gruppe wirkt ein
einzelnes Wort, seltener eine bestimmte Gruppe von Wörtern ver-
möge der Lautassoziationen, in denen sie zu einem gegebenen Worte
stehen, auf dieses ein, indem sie es sich wiederum in erster Linie
lautlich, dann aber auch in gewissem Grade begrifflich assimilieren,
so daß der ursprüngliche Begriff des Wortes dadurch zwar nicht ver-
drängt wird, aber eine eigentümliche Färbung gewinnt, die ihm vor
dieser Einwirkung nicht zukam: dies ist der Fall der Wortent-
lehnung mit Begriffsassoziationen oder der sogenannten
»Volksetymologie«. Wir können demnach unter Benutzung der
gleichen Symbole beide Gruppen als einen Typus V und VI den
obigen vier hinzufügen.
Wortentlelinungen mit reiner Lautassoziation. 46 1
Typus V. (Wortentlehnung mit reiner Lautassoziation.)
ti ß a b in n (z. B. fenestrum'i (Lager abd. legar Maser ahd. masar) ')
u ß a c xa. t (Fenster ahd. venstar) c c s p c d s t usw.
II II II
Typus VI (Wortentlehnung mit Begriffsassoziationen.)
(Arm) (Brast)
« /S ab m n (z. B. arcuballista) y am — d' c f
^ K ß y ö a c m t (Armbrust)
I I M I II
2. ^A^o^tentlehnungen mit reiner Lautassoziation.
Die »Wortassimilation« ist die einfachere dieser Erscheinungen.
Sie ist diejenige, bei der die bloßen Lautassoziationen und sie be-
gleitend die physischen Bedingungen der Lauterzeugung vorwalten.
Zugleich ist sie aber, wie die früher (S. 393 ff.) erwähnten Beobach-
tungen bei Sprachmischungen begreiflich machen, wesentlich ab-
weichend nach der Stufe der Kultur, auf der sie stattfindet. In
seiner ursprünglichen, Grund- wie Beziehungselemente des Wortes
gleichmäßig ergreifenden Gestalt vollzieht sich der Vorgang nur,
wenn die Aufnahme durch die mündliche Rede geschieht, und be-
sonders wenn sie der Ausbildung einer Schriftsprache vorausgeht,
also in einer frühen Kulturepoche des assimilierenden Volksgeistes.
Je mehr sich dagegen die eigene Sprache gefestigt und die Auf-
merksamkeit auf die Eigentümlichkeit des Fremdwortes geschärft
hat, um so mehr zieht sich der Assimilationsprozeß auf die Be-
ziehungselemente zurück und läßt den eigentlichen Wortkörper
selbst unangetastet. Deutlich erhellt dieser Unterschied in solchen
Fällen, wo eine Sprache auf verschiedenen Stufen ihrer Entwick-
lung aus einer und derselben fremden Sprache das gleiche Wort
I) Natürlich sollen diese Beispiele wieder, ähnlich wie die oben (Typus I — IV)
bei den äußeren Wirkungen der Assoziation angeführten, nicht sagen, daß speziell
von den Lautelementen der hier angeführten Wörter eine nachweisbare Attraktion
ausgegangen sei, sondern sie sollen nur andeuten, daß zur Zeit der Assimilation
überhaupt lautverwandte Wörter existierten, die attrahierend wirken konnten.
462
Der Lautwandel.
in verschiedenen, wenn auch verwandten Bedeutungen assimiliert
hat, wie bei manchen dem Lateinischen und Romanischen ent-
nommenen deutschen Lehnwörtern. So ist schon in sehr früher
Zeit Vog-t (ahd. fögcit) aus lat. vocatus^ dann viel später im mhd.
und nhd. Advokat aus dem gleichbedeutenden advocatus gebildet
worden. Ähnlich Meister' (ahd. meistar) aus lat. magistcr, dem
etwa seit dem 1 7 . Jahrh. das unverändert, jedoch in anderer Bedeu-
tung rezipierte Fremdwort Magister gefolgt ist; ferner Speise (ahd.
sptsa), das aus dem neulat. spesa = spensa eigentlich "^ Aufwand'
entlehnt wurde, während aus dem gleichen Wort in viel späterer
Zeit (17. Jahrh.) das der ursprünglichen Bedeutung näher liegende
Spese ('Geschäftsspese') in den kaufmännischen Verkehr Aufnahme
fand. Ähnlich sind zu verschiedenen Zeiten Segen und Signal aus
Signum^ Kreuz und Kruzifix aus crux^ crucifixnm entstanden usw. ^).
Wenn man diese Unterschiede der Aneignung fremden Sprach-
gutes in früherer und in späterer Zeit in der Regel darauf zurück-
führt, daß sich die Sprache dort noch in einem »bildsameren« Zu-
stande befunden habe als hier, so ist das natürlich eine nichtssagende
Redeweise. Der eigentliche Grund kann allein darin liegen, daß
die physischen und psychischen Bedingungen, die überhaupt bei
der Wortassimilation eine Rolle spielen, auf einer Stufe primitiverer
Kultur intensiver wirken, während sie doch ihrem allgemeinen Cha-
rakter nach, wie sich aus der allgemeinen Übereinstimmung der
Erscheinungen schließen läßt, hier wie dort die nämlichen sind. Die
physiologischen Bedingungen für die Umwandlung eines gehörten
Lautes bei seiner Reproduktion durch die eigenen Sprachorgane
sind aber doppelter Art: sie sind sensorische, insofern der aku-
stische Eindruck innerhalb einer gewissen Breite schwankt; und sie
sind motorische, insofern jedes Sprachorgan dem Lautsystem der
eigenen Sprache adaptiert ist und daher vermöge der von ihm
erworbenen mechanischen Übung fremde Laute bei der Reproduktion
im Sinne der gewohnten umw^andelt. Lifolge jener doppelseitigen
Natur der Sprachfunktionen, nach der jedes Denken von Worten
zum leisen Sprechen zu werden strebt, und nach der sich jedes
^) Vgl. F. Kluges Verzeichnis lateinischer Lehnwörter in den altgermanischen
Sprachen, in Pauls Grundriß der german. Philologie,^ I, S. 333 ff.
Wortentlehmingen mit reiner I,autassoziation. ^53
Hören von Worten mit dem Impuls zur Nachbildung der Sprachlaute
verbindet, greifen nun diese akustischen und motorischen Umbil-
dungen fortwährend ineinander ein: der Laut wird anders gehört,
weil er anders gesprochen wird; und er wird anders gesprochen,
weil er anders gehört wird. Schon innerhalb der verschiedenen
Dialekte einer und derselben Sprache ist diese Wechselwirkung
deutlich zu bemerken: Lautunterschiede, die den Genossen des einen
Dialekts im Sprechen wie Hören geläufig sind, werden von denen
des andern, solange sich jene Unterschiede innerhalb enger Grenzen
bewegen, auch akustisch nicht unterschieden. Hier macht sich eben,
wie schon bei den individuellen Wortassimilationen der kindlichen
Sprache (S. 302 ff.), die Tatsache geltend, daß jeder Sprachlaut eine
Komplikation ist, in welche die eigene Artikulationsempfindung mit
eingeht, so daß, wenn diese unverändert bleibt, auch die Änderungen
der begleitenden Gehörsempfindung schwerer bemerkt werden. Zu
diesen psychologischen Momenten kommt dann noch als eine weitere
wichtige psychophysische Bedingung, daß in der Sprachgemeinschaft,
die ein Fremdwort aufnimmt, Vorstellungsresiduen besonderer
Art zu assimilativer Wechselwirkung mit neuen Eindrücken bereit
liegen. In eine in völlig fremder Sprache gehörte Rede ist der
Hörende fortwährend geneigt die ihm vertrauten Laute und Worte
hineinzuhören, ähnlich wie wir auch in beliebige unartikulierte Ge-
räusche oder Naturlaute, in das Klappern der Mühlräder, das Ticken
des Uhrpendels, die Stimmlaute der Tiere, bekannte Sprachlaute
hineinhören können. Auf diese Weise ist jede durch einen akustischen
Eindruck geweckte Lautvorstellung ein Assimilationsprodukt, in
welchem die reproduktiven Elemente, die dem Schatz geläufiger
Wortvorstellungen entstammen, um so leichter den überwiegenden
Bestandteil bilden, je fremdartiger die gehörten Laute selbst sind.
Alle diese psychophysischen Momente zusammengenommen verleihen
der Wortassimilation ihren eigenartigen Charakter und unterscheiden
sie von den auf die formalen Wortbestandteile beschränkt bleibenden
Angleichungsvorgängen.
a()a Der Lautwandel.
3. Wortentlehnungen mit Begriffsassoziationen.
Die sogenannten -Volksetymologien« sind Erscheinungen, die
sich in allen ihren Eigenschaften den ursprünglichen Wortassimila-
tionen anschließen. Doch unterscheiden sie sich dadurch, daß die
bei der gewöhnlichen Wortassimilation ganz im Hintergrund bleiben-
den begrifflichen Elemente der früheren Wortvorstellungen in doppel-
ter Weise entscheidend an dem Vorgang teilnehmen. Erstens sind
sie es, die die Auffassung des Wortes und dessen Reproduktion be-
stimmen. Zweitens verleihen sie dem durch das assimilierte Wort
ausgedrückten Begriff selbst eine eigentümliche Färbung, die ihn
den assimilierenden Begriffselementen nähert. Diese Verhältnisse
finden in dem auf S. 461 dargestellten Schema (Typus VI) darin
ihren Ausdruck, daß das neu gebildete Wort nach seinem begriff-
lichen Aufbau aus direkten, ursprünglichen Elementen (a, ß), die in
der Regel das Übergewicht behalten, und aus reproduktiven, die
durch die Lautassoziation geweckt werden {y, d), gemischt ist. Hier-
mit verbindet sich dann von selbst die diese Klasse von Angleichungen
unterscheidende Eigenschaft, daß sich bei ihren ausgeprägten Formen
überhaupt nicht mehr Haupt- und Nebenwirkungen unterscheiden
lassen, sondern daß an jedem Vorgang zwei Hauptwirkungen be-
teiligt sind (bei Typus VI durch die zwei Pfeile angedeutet), die
eben durch ihre Verbindung das Eigenartige der Erscheinung aus-
machen. Genauer läßt sich demnach die »Volksetymologie« als
eine »Wortassimilation mit begrifflicher Umbildung des Wortes
durch die assimilierenden Elemente« oder, wenn man diese Defini-
tion in einen kurzen Ausdruck zusammenfassen will, als eine -lautlich-
begriffliche Wortassimilation« bezeichnen, im Unterschiede von der
»rein lautlichen« des Typus V. Wie bei dieser, so stellt sich aber
auch bei jener, und zwar wegen des Übergreifens der Assoziation
auf die begrifflichen Elemente in noch höherem Grade, der End-
erfolg des Prozesses als ein Produkt der Wechselwirkung direkter
und reproduktiver Elemente dar, an dem bald die einen bald die
andern überwiegend, bald auch beide ziemlich gleichmäßig beteiligt
sein können. Übrigens ist die »Volksetymologie« insofern eine
spezielle Form der Wortassimilation, als sie gleichfalls das Wort als
Wortentlehnungen mit Begriflfsassoziationen. 465
Ganzes ergreift. Nur hierdurch ist es möglich, daß sie den Begriffs-
inhalt des Wortes in mehr oder minder weitgehendem Maße ver-
ändert, da der Begriffsinhalt im allgemeinen an das Wortganze
gebunden ist. Daß diese Vorgänge durch den Ausdruck »Volks-
etymologie« psychologisch in ein falsches Licht gerückt werden, ist
hiernach einleuchtend. Mit der reflektierenden Worterklärung des
Etymologen sind sie in Wahrheit absolut unvergleichbar. Sie unter-
scheiden sich von ihr ebenso nach ihren äußeren wie nach ihren
inneren Merkmalen. Die wirkliche Etymologie sucht das Wort auf
ein verloren gegangenes oder wenigstens aus dem Bewußtsein ver-
schwundenes Stammwort von irgendwie verwandter Bedeutung zurück-
zuführen; die »Volksetymologie« substituiert umgekehrt ein Wort
mit bekannter Bedeutung einem andern, wodurch dieses zugleich
mehr oder weniger in seiner Bedeutung verändert wird. Vor allem
aber ist die sogenannte Volksetymologie, wie die Wortassimilation
überhaupt, ein rein assoziativer, dem psychophysischen Mechanis-
mus der Sprachfunktionen zugehöriger Vorgang, von der rein laut-
lichen Wortassimilation eben nur dadurch verschieden, daß mit den
Lauten zugleich begriffliche Elemente assoziativ gehoben werden
und infolgedessen ihrerseits wieder auf die Lautassoziation zurück-
wirken können.
Mit Rücksicht auf ihr Verhältnis zu den lautlichen Wortassimila-
tionen lassen sich nun die lautlich-begrifflichen oder die »Volksetymo-
logien« wieder in zwei Gruppen sondern, deren eine jenen noch
näher steht, während bei der zweiten das begriffliche Moment der
Assoziation überwiegt. Die erste können wir als »Wortassimilationen
mit begrifflichen Nebenwirkungen«, die zweite als »Wortassimilationen
mit Begriffsumwandlungen« bezeichnen^).
^) Eine reiche Sammlung hierher gehöriger Erscheinungen aus dem Gebiet der
deutschen Sprachgeschichte bietet neben zwei Aufsätzen von W. Förstemann, der
zuerst den Namen »Volksetymologie« eingeführt hat (in Kuhns Zeitschrift für vergl.
Sprachforschung, I, 1852, S. i ff., XXIII, 1877, S. 375 ff.), das Buch von K. G. An-
dresen, Über deutsche Volksetymologie,5 1889. Vieles, aber nicht immer Zuverläs-
siges aus dem Gebiet der Sprichwörter und sprichwortähnlichen Redensarten ent-
hält unter anderm auch H. Schrader, Der Bilderschmuck der deutschen Sprache
(o. J.). Überhaupt ist die »Volksetymologie« neuerdings ein beliebtes Thema. Meist
wird jedoch der Gegenstand nur als eine Art sprachlicher Kuriosität behandelt.
Eine Übersicht der Hauptliteratur über den Gegenstand und zugleich eine kurze
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. 30
466 I^sr Lautwandel.
a. Wortassimilationen mit begrifflichen Nebenwirkungen.
Bei dieser Gruppe unterscheidet sich die lautliche Seite des Vor-
ganges nicht von einer gewöhnlichen rein lautlichen Wortassimilation.
Nur entsteht als Nebenwirkung infolge der partiellen oder totalen
Übereinstimmung des assimilierten Produktes mit einem bekannten
Wort eine nebenhergehende Assoziation mit dem an dieses Wort
gebundenen Begrift. Doch wirkt diese Assoziation nicht in erheb-
licher Weise auf das Lautgebilde selbst ein. Die begriffliche Färbung,
die das assimilierte Wort annimmt, erscheint daher als ein zufälliges
psychologisches Nebenprodukt der Wortassimilation: diese würde
eine rein lautliche geblieben sein, hätte sich nicht der Gleichklang
mit einem geläufigen Wort eingestellt. Dabei kann natürlich dieser
assoziierte Begriffsinhalt von dem wirklichen des Wortes sehr weit
abliegen, und es pflegt darum bei dieser ersten Gruppe die Neben-
vorstellung selbst nur in der Form einer unbestimmten Komplikation
mit dem Hauptbegriff vorzukommen, die je nach besonderen Be-
dingungen auch ganz verschwinden kann, wodurch der Vorgang in
eine rein lautliche Wortassimilation übergeht.
Beispiele, die dieser Gruppe vonviegend lautlicher Assimilationen
angehören, finden sich weit verbreitet in der Sprache. So in Wörtern
wie Damhirsch aus lat. dama 'Hirsch', Leinwand aus mhd. Itnwät
durch Assoziation mit dem etymologisch unverwandten Gnvand,
Kammer tiidi urspr. Tuch von Cambray^ deutsch Kamerich ^ Maul-
esel von lat. mulus usw. In allen diesen Fällen fehlt zwar nur dann
die durch die Lautangleichung des Wortes erweckte Nebenvorstellung,
wenn ein bestimmtes Wort durch häufigen Gebrauch so geläufig
geworden ist, daß es sich in ein einfaches Begriffszeichen ohne alle
Nebenvorstellungen umgewandelt hat. Aber auch wo dies nicht
zutrifft, ist die Nebenvorstellung nur lose mit der Hauptvorstellung
verknüpft. Bei dem "^Mauleser denkt man etwa an das Maul des
Esels, bei dem ""Kammertuch' an die Kammer, in der es aufbewahrt
oder in der es gemacht wird, oder man empfindet vielleicht auch
das Wort, analog wie in 'Kammerherr' u. dgl., als eine Art Wert-
Darstellnng der Entwicklung der theoretischen Anschauungen über denselben gibt
J. Kjederqvist, in Sievers' Beiträgen zur Geschichte der deutschen Sprache, Bd. 27,
1902, S. 409 ff.
Wortentlehnungen mit Begriffsassoziationen. ^67
prädikat. Für die psychologische Entstehung solcher Assozia-
tionen bleibt es jedoch bezeichnend, daß eine, wenn auch noch so
unbestimmte, Verbindung der Vorstellungen immerhin möglich sein
muß, wenn diese den Inhalt des Begriffs ergreifende Angleichung
überhaupt eintreten soll. Wo das nicht der Fall ist, da kann sich eine
vollkommene lautliche Übereinstimmung zweier Wörter herstellen,
mag sie nun auf dem Weg sonstiger lautgesetzlicher Änderungen
oder auf dem einer rein lautlichen Wortassimilation entstehen, ohne
daß an irgendeinen begrifflichen Zusammenhang gedacht wird. So
empfinden wir zwischen bedauern^ eigentl. betaiiern (wie noch Lessing
schreibt) von mhd. türen^ und dauern = "^beharren' von lat. durare^
oder zwischen befehlen^ empfehlen von mhd. bevelen, empfelen und
fehlen = mhd. vaelen lat. fallere nicht den geringsten Zusammen-
hang, gerade so wenig wie zwischen Ton = Lehm und Ton = toyius
(musikalischer Ton), zwischen Tau = Strick (Schiffstau) und Tau =
engl, dcw (feuchter Niederschlag), Lehre und Leere und vielen andern
lautlich entweder ganz oder nahe zusammenfallenden, aber begriff-
lich auseinanderliegenden Wörtern. Es muß also stets eine gewisse
Assoziationsmöglichkeit hinzukommen, wenn sich mit der lautlichen
auch noch eine begriffliche Assoziation verbinden soll, während es
zugleich als ein begünstigendes Moment wirkt, wenn das die Asso-
ziation anregende Wort von seltenerem, das der assoziierten Neben-
vorstellung entsprechende von häufigerem Gebrauch ist. So werden
ja Wörter wie Damm^ Kammer^ Maul usw. viel mehr verwendet
als Damhirsch^ Kammertuch ^ Maulesel. Dieser Einfluß der rela-
tiven Häufigkeit entspricht aber durchaus den allgemeinen Assozia-
tionsbedingungen. Je eingeübter ein Wort ist, um so mehr ist es
geneigt, bei jedem Anlaß mit seinen lautlichen wie begrifflichen
Elementen deutlich bewußt zu werden. Ein seltenes Wort dagegen
wirkt zunächst nur als Lautgebilde, und es bedarf einer gewissen
Zeit, bis der begleitende begriffliche Bestandteil apperzipiert wird.
Mittlerweile ist, wenn das an sich seltene Wort einen beweglicheren
Bestandteil hat, dieser als selbständiger Begriff bereits aktuell ge-
worden, und der Gesamtbegriff, der sich nun allmählich ebenfalls
aufarbeitet, findet jenen bereits vor, mit dem er sich daher alsbald
assoziiert. Dies kann aber natürlich nicht geschehen, wenn die be-
grifflichen Elemente beider Wörter gleich geläufig, und wenn sie
30*
^68 ^s"" Lautwandel,
überdies zureichend voneinander verschieden sind. Dann wird viel-
mehr der in dem gehörten Wort liegende Begriff sofort herrschend
und läßt den durch den Gleichklang etwa assoziierbaren gar nicht
neben sich aufkommen. Letzteres geschieht in der Tat in Wörtern
wie befehlen^ empfehlen^ bedauern^ die uns ungefähr ebenso geläufig
wie fehlen oder dauern geworden sind, und wo trotz der Laut-
angleichung an diese keine Spur einer begrifflichen Assoziation zu
bemerken ist.
Hiermit hängt eng zusammen, daß die Bedingungen für lautlich-
begriffliche Wortassimilationen am günstigsten dann sind, wenn
das gehörte Wort an sich der begrifflichen Beziehungen für den
Hörenden entbehrt, wenn es also z. B. einer fremden Sprache oder
einer zur Fremdsprache gewordenen älteren Sprachstufe angehört.
Hier kommen dann auch am ehesten Assoziationen mit völlig hetero-
genen, lediglich durch den Wortklang erweckten Vorstellungen vor,
die nun auf den Lautcharakter des Wortes stark angleichend zurück-
wirken können. Dahin gehört z. B. die populäre Umgestaltung des
Ufigiientnm Neapolitammi in umgewendeten Napoleon^ des Emplas-
triim diachylon in Diakonuspflaster ^ der Species lignorum in spitze
Lenore^ des Unguentum in Unnvand^ der Morsellen ("von Morsum
Bissen^ in Mamsellen usw. '). Ebenso gewisse aus fremden Sprachen
aufgenommene sprichwörtliche Redensarten wie 'sein Glück in die
Schanze schlagen', wo die Chance des Spiels in eine Schanze
(Festungsschanze) verwandelt worden ist, oder dialektische Über-
tragungen von Redensarten, wie blutjung für bluttjung^ blutt dial. =
bloß^ also ungefähr so viel wie 'jung wie ein Vogel der noch nicht flügge
ist', pudelnaß wahrscheinlich für pfudelnaß^ pfudel = Pfütze^ also
eigentlich 'naß wie eine Pfütze'. In allen diesen Fällen besitzen
natürlich die Nebenvorstellungen, die hier das Wort selbst umge-
prägt haben, eine verschiedene Stärke. Sie sind am schwächsten
bei dem 'umgewendeten Napoleon' und ähnlichen anscheinend durch
reine Lautassoziation entstehenden Gebilden, bei denen nur an Stelle
einer ursprünglich schon willkürlichen Benennung eine ebensolche
^) Eine ziemlich reiche Zusammenstellung derartiger volkstümlicher Namen für
Arzneimittel gibt C. Müller (Dresden) in der Zeitschrift des deutschen Sprachvereins,
II. Jahrg. Nr. 4, 1896.
Wortentlehnungen mit Begriffsassoziationen. 469
andere getreten ist'). Tiefer greift dieser Einfluß in den andern
Fällen, wo eine dem Gegenstand inadäquate, aber doch irgendwie
mit ihm vereinbare Vorstellung erweckt wird. Hier bleibt der Ge-
danke in einem dem ursprünglichen angenäherten Sinn überhaupt
nur dadurch erhalten, daß die so verdrängte Vorstellung selbst eine
bloße Nebenvorstellung war, und daß daher bei dem ganzen Pro-
zeß die Hauptvorstellung nach Laut wie Begriff unverändert blieb.
Statt 'naß wie eine Pfütze' denlct der Redende nun 'naß wie ein
in Wasser gebadeter Pudel'; statt an den 'blutten', noch nicht flügge
gewordenen Vogel denkt er etwa an die roten Wangen eines ge-
sunden Kindes: statt an die 'Chance' des Spiels an die glückliche
Belagerung einer 'Schanze', falls er sich überhaupt, nachdem die
Redensarten hinreichend eingeübt sind, noch an die Bedeutung des
Wortes erinnert. Denn allerdings wird hier die inadäquate Be-
schaffenheit der Vorstellungen schon darin bemerkbar, daß sich
die syntaktische Verbindung durchaus nicht der neuen Neben-
vorstellung angepaßt hat. Dies ist aber zugleich ein Symptom da-
für, daß diese neue Nebenvorstellung überhaupt nur dunkler im
Bewußtsein ist.
b. Wortassimilationen mit Begriffsumwandlungen.
Durch die eingreifenden Rückwirkungen, die in Fällen wie den
zuletzt erwähnten die durch die Lautassimilation erweckten, eigent-
lich dem Gegenstand heterogenen Vorstellungen auf den begriff-
lichen Inhalt eines Wortes ausüben, nähern sich diese Beispiele
schon bedeutend der zweiten Gruppe dieser Erscheinungen, den
Wortassimilationen mit Begrififsumwandlungen. Was jene Fälle
immer noch von dieser Gruppe scheidet, ist die inadäquate Be-
' Daß übrigens auch in diesen Fällen gelegentlich eine Begriffsassoziation mit-
spielen kann, bemerkt Kjederqvist. Ein Landapotheker meinte, wie er mitteilt, die
Bauern dächten bei dem »umgewendeten Napoleon« an die Hemden und Kleidungs-
stücke, die sie zuerst umwenden müßten, ehe sie dieselben mit der Salbe bestrichen
(a. a. O. S. 443). Daß die Apotheken die reichsten Fundstätten solcher Umbildungen
sind, hat natürlich seinen guten Grund in der Fülle unbekannter Namen, die hier
dem Kunden aus dem Volk entgegentreten. Doch mag auch noch eine leise Er-
innerung an den zum Teil sehr seltsamen Drogenschatz der vormaligen Apotheken
mitwirken, zu denen z. B. Eselspfoten, Krebsaugen, die Asche alter Schuhe (cineres
calceorum vetustorum) und vieles ähnliche gehörten.
470
Der Lautwandel.
schafifenheit der erweckten Nebenvorstellungen, die es dort zu
einer festen Assoziation mit dem ursprünglichen Begriff nicht
kommen ließ. Doch finden sich in dieser Beziehung offenbar
wieder die verschiedensten Abstufungen und Übergänge: ein Wort
wie "^pudelnaß' z. B. steht einer neu gebildeten Vorstellung mit fester
Assoziation ihrer Bestandteile schon viel näher als 'blutjung' oder gar
als die "^Schanze', in die das Glück geschlagen wird. Dies ist nun
aber das Wesentliche bei den wirklichen Bergriffsumwandlungen,
daß der lautliche und der begriffliche Bestandteil des Wortes zu-
gleich und zum Teil jeder durch den andern geändert wird, so daß
sich am Ende des Prozesses das durch die doppelte Assimilation
veränderte Wort ebenso als ein einheitliches Laut- und Begriffs-
gebilde darstellt wie vorher. So ist der Friedhof in unserer heu-
tigen Sprache ein unmittelbar die Vorstellung des Friedens in sich
schließender Begriff" geworden, verschieden von dem FreitJiof mhd.
vritJiof^ dem "^eingefriedigten Hof, der er einst war. Ebenso wird
die Si'mdfltit heute als ein echtes Kompositum zum Begriff Sünde
verstanden, obgleich sie erst durch eine teils lautliche teils begriff-
liche Angleichung aus der sin-vluot^ der "^allgemeinen Flut' (von
ahd. mhd. sin 'überall, immer') entstanden ist. Ähnliche Beispiele
sind Liebstöckel als Verdeutschung von Levisticum^ Pfeffennünzc als
Umwandlung von Pfejferminze^ Beifuß für das ältere biboz^ von
bozen stoßen, also wörtlich 'das dazu gestoßene' (Kraut), Fälle, in
denen überall Assoziationen mit dem Stengel oder den Blättern
oder der Wurzel der Pflanze mitgewirkt haben werden. Weitere
Assimilationen dieser Art sind Trampeltier für Dromedar (von d^of-iag
Läufer), Maulwurf für moltwurfc ^ von mhd. molte 'Staub', also
'Staubwerfer', Murmeltier für mus montamis (Bergmaus), Umwand-
lungen, bei deren erster die Vorstellung, daß der Maulwurf die Erde
mit dem Mund aufwerfe, wirksam war, während die zweite auf die
murmelnde Stimme des Tieres bezogen wird, von der hier dahin-
gestellt bleiben mag, ob sie nicht ebenfalls bloß in der Vorstellung
existiert. Ähnliche Beispiele, deren Entstehungsweise hiernach keiner
Interpretation bedarf, sind Höhenrauch für älteres Heirauch von hei
'heiß, trocken', Armbrust aus arcuballista von arcus 'Bogen' und
ballista 'Wurfmaschine', Hängematte^ das zunächst von dem hollän-
dischen hangmat herstammt, zu dem seinerseits wieder du Ponceau
Beziehungen der Wortentlehnungen zu den andern assoziativen Fernewirkungen. 471
und Pott das Urwort in dem in verschiedenen amerikanischen
Sprachen vorkommenden Wort für 'Bett' [hamac^ aniacd) vermuten').
Ganz in dieselbe Klasse gehören manche neuere Umbildungen,
wie im Schwedischen die von Stipendium in st'öpeng nach st'o^
= sföd (südschwedisch) 'Unterstützung' und peng 'Pfennig', oder
niederd. die von Odontine (einem aus England eingeführten Zahn-
mittel) in in de tene 'in die Zähne' ^), sowie andere dem Beobach-
tungsgebiet der Landapotheke entnommene Verdeutschungen, wie
Tinctura aniara in Martertropfen., Tinctura asae foetidae in Aas-
tropfen und ähnliche. Auch sprichwörtliche Redensarten gehören
hierher, z. B. das ivütende Heer für Wotans { Wiiotanes) Heer., 'einem
den Rang ablaufen für rank ablaufen., rank = 'Nebenweg', in ana-
loger Bedeutung wie im nhd. Ranke usw. In allen diesen Fällen läßt
sich annehmen, daß lautliche und begriffliche Assimilationen einander
vollkommen parallel gegangen sind, so daß, wenn auch die Laut-
umwandlung zunächst der frühere Prozeß gewesen sein wird, doch
die durch sie hervorgerufene Begrififsumwandlung alsbald wieder auf
die Lautsrestalt des Wortes zurückwirken mußte.
4, Beziehungen der W^ortentlehnungen zu den andern
assoziativen Fernewirkungen.
Während die vorangegangenen, ausschließlich die Beziehungsele-
mente der Wörter ergreifenden Wortentlehnungen allgemeine, von
früh an in allen Sprachen vorkommende Erscheinungen sind, ge-
hören die lautlich-begrifflichen Assimilationen im allgemeinen mehr
den späteren Stadien der Sprachentwicklung an. Auch scheinen sie
ebenso häufig Produkte der Dialektmischung wie der eigentlichen
Sprachmischung zu sein. Auf diese mit eigentümlichen Bedin-
gungen der Kulturentwicklung zusammenhängenden Momente ist es
wohl zurückzuführen, daß unter den neueren Sprachen die deutsche
reicher als andere an > Volksetymologien« zu sein scheint. Bei dem
ursprünglichen Mangel an Benennungen für die Gegenstände, mit
') Pott, Doppelung, 1862, S. 81 ff., wo noch einige weitere Beispiele erläutert
sind.
2) Kjederqvist, a. a. O. S. 432 ff.
472
Der Lautwandel.
denen der Fortschritt der Kultur bekannt machte, war die deutsche
Sprache darauf angewiesen, teils aus dem Lateinischen und aus den
romanischen Sprachen Fremdwörter aufzunehmen, teils sich aus
eigenem Vorrat durch Dialektübertragungen zu ergänzen. Immerhin
finden sich auch auf andern Sprachgebieten zahlreiche hierher
gehörige Erscheinungen'^). Unter den älteren Sprachen ist beson-
ders das Griechische ziemlich reich an lautlich-begrifflichen Assimi-
lationen, wie schon die bekannten Umdeutungen alter mythologischer
Namen lehren, so die des Hirtengottes Ildv in einen »Allgott«
{ncäv '^alles"), des Kqövog in ein mythologisches Symbol der 'Zeit'
[yiqövog], des Ji/töXXcov XuKSlog, des ""leuchtenden' {lucco leuchte),
in einen "^Wolfstöter' AvxozroVog, des ägyptischen Horpe cJirat
fHorus das Kind') in einen l^qnov.qäxr^g 'Herrn der Sichel' (von
aqii^ Sichel), wobei im letzteren Fall auch noch die Auffassung der
dem Gott auf den Bildwerken beigegebenen Geißel als einer Sichel
mitwirkte. Diese und ähnliche Beispiele sprechen genugsam für die
Neigung auch des griechischen Volksgeistes, das Unverständliche
oder unverständlich Gewordene durch Angleichung an geläufige Be-
griffe und Wörter zu assimilieren.
Nach allem dem dürfen wir wohl die lautlich-begrifflichen An-
gleichungen als ebenso allgemeingültige Erscheinungen wie die
übrigen Angleichungsvorgänge ansehen. Sie bilden aber zugleich
insofern die letzte Stufe aller assoziativen Fernewirkungen, als bei
ihnen die Vorgänge selbst ebenso wie die Bedingungen, unter denen
sie entstehen, am verwickeltsten sind. In dieser Beziehung bilden alle
diese Prozesse, von den einfachen assoziativen Wechselwirkungen
zwischen den lautlichen Beziehungselementen der Abwandlungen
eines und desselben Wortes an bis zu den eventuell alle Laut-
und Begriffselemente umfassenden Umgestaltungen der Wörter oder,
wie sie die populäre Reflexionspsychologie nennt, den »Volks-
') Vgl. für das Lateinische und Griechische Otto Keller. Lateinische Volks-
etymologie und Verwandtes. 1891 (Anhang: Griechische Volksetj-mol.) ; für das Indo-
germanische überhaupt, besonders das Griechische Brugmann, Grundriß der vergl.
Grammatik, an den im Index unter »Volksetymologie« angeführten Stellen; für die
romanischen Sprachen Diez, Etymologisches Wörterbuch,5 1887, und Meyer-Lübke,
Gramm, der roman. Sprachen, I, 1890, im Sachregister unter »Volksetymologie«.
Auch Andresen hat in der Einleitung zu seiner »Deutschen Volksetymologie« einiges
aus andern Sprachgebieten zusammengetragen, a. a. O. S. 26 ff.
Allgemeine Bedingungen des regulären Lautwandels. 475
etymologien«, eine Stufenreihe von Vorgängen, in der jede Form
assimilativer Beziehung, die aus allgemeinen psychologischen Grün-
den überhaupt möglich ist, auch wirklich vorkommt. Dabei ist
aber diese Stufenreihe doch insofern in gewissem Sinn eine stetige,
als jene Assoziation, die einer Form ihr eigentümliches Gepräge ver-
leiht, immer nur diejenige Erscheinung ist, die am stärksten an den
Endprodukten des Prozesses hervortritt, während insbesondere bei
den einfacheren dieser Vorgänge stets Nebenwirkungen vorkommen,
die den Übergang zu der nächsten Stufe vorbereiten. So ver-
bindet sich jede innere mit äußeren, freilich aber auch jede äußere
mit inneren grammatischen Angleichungen. So greifen begriffliche
und grammatische Angleichungen mannigfach ineinander ein, und
in den begrifflichen Angleichungen der Beziehungselemente bereiten
sich, da dabei die Grundelemente des Wortes bereits als assi-
milierende Kräfte auftreten, die lautlichen und lautlich-begrifflichen
Wortassimilationen vor. Das seelische Leben ist eben auch hier
ein Zusammenhang ineinander eingreifender und vielfach ineinander
fließender Vorgänge, die leicht über die Grenzen hinausreichen, die
wir ihnen durch die Unterordnung unter gewisse Begriffe ziehen.
VI. Regulärer stetiger Lautwandel.
I. Allgemeine Bedingungen des regulären Lautwandels.
Die Frage, warum ein Volk den Lautbestand eines Wortes im
Laufe der Jahrhunderte schließlich bis zur Unkenntlichkeit verändern
kann, läßt sich in allgemeingültiger Weise unmöglich beantworten.
Wir müßten, um dies zu leisten, über Art und Umfang aller der
Wandlungen Rechenschaft geben, die durch innere Kultur und
äußere Einflüsse in dem ganzen geistigen und körperlichen Wesen
der redenden Gemeinschaft eingetreten sind. Wir können nur fest-
stellen, daß sich solche Wandlungen unaufhaltsam vollziehen, und
daß sie schon in Zeiträumen eintreten, in denen man ihnen in der
Regel nur wenig Beachtung schenkt. Betrachten wir die Porträt-
bilder eines Lukas Kranach und Hans Holbein, in denen sie Ge-
lehrte und städtische Patrizier ihrer Zeit und Umgebung dargestellt
474
Der Lautwandel.
haben, so treten uns hier meist starkknochige, wie aus Holz ge-
schnitzte Gesichter entgegen, wie sie uns heutzutage in der Studier-
stube oder in den Straßen unserer deutschen Städte nicht mehr
und nur noch da und dort bei dem Bauer, der hinter seinem Pfluge
hergeht, begegnen. Freilich fehlt es nicht an einzelnen Ausnahmen;
denn natürlich handelt es sich hier nur um den Gesamteindruck, den
wir bei der Durchmusterung einer größeren Zahl von Werken der
deutschen Porträtkunst jener Zeit empfangen, besonders wenn wir
sie mit solchen der in der Literatur und der äußeren Kultur des
Lebens zur gleichen Zeit fortgeschritteneren europäischen Völker
vergleichen. Wie die deutsche Sprache noch zu Leibniz' Zeit für
den Ausdruck von Stimmungen wie Begriffen im Vergleich mit der
italienischen, französischen, englischen ein ungefüges Werkzeug war,
so erscheint auch der durchschnittliche deutsche Typus als der
rohere, ursprünglichere. In der Tat ist ja nicht zu zweifeln, daß
sich mit den Veränderungen der Körpergestalt und namentlich des
mimischen Ausdrucks auch Veränderungen der Sprachorgane ver-
binden. Leider ist aber der Phonautograph erst eine moderne Er-
findung. In der Zukunft mag es möglich sein, Aussprache, Beto-
nung, Schnelligkeit und Rhythmus der Rede, wie sie innerhalb einer
bestimmten Epoche gewesen sind, künftigen Generationen aufzube-
wahren. Uns entgeht dieses Hilfsmittel. Wir können uns keine
Vorstellung davon machen, wie Friedrich der Große wirklich ge-
sprochen hat; und nicht einmal dies vermögen wir uns zureichend
zu vergegenwärtigen, wie zu seiner Zeit im allgemeinen gesprochen
worden ist. Wohl gibt uns die Literatur einer Zeit ein allgemeines
Bild ihrer Sprache. Aber diesem Bild fehlt eine Menge feinerer
Züge, die der schriftliche Ausdruck nicht wiedergeben kann, und
die sich von Generation zu Generation leise verändern. Vor allem
Geschwindigkeit, Rhythmus und Tonbewegung lassen sich durch
keine schriftliche Aufzeichnung festhalten, höchstens kann man sie
mit einer gewissen unbestimmten Annäherung aus den sonstigen
Eigenschaften der Sprache erschließen. Darum ist nicht bloß die
Sprache Luthers, sondern auch die Gottscheds, ja in einem ge-
wissen Grade selbst die Schillers und Goethes in diesen durch
keine Überlieferung bewahrten Eigenschaften anders gewesen als
die unsere. Wo mehrere Generationen nebeneinander leben, da ver-
Allgemeine Bedingungen des regulären Lautwandels. Ane
nehmen wir letzte Andeutungen solcher Wandlungen noch in der
Sprechweise der Alten und Jungen.
Welches sind nun die Ursachen dieser wahrscheinlich bald
schneller bald langsamer sich vollziehenden Veränderungen des
durchschnittlichen physischen wie psychischen Habitus, zu denen
die allmähliche Veränderung der Sprechweise vielleicht als eines
ihrer empfindlichsten Merkmale gehört? Ganz im allgemeinen lassen
sich wohl drei solcher Ursachen namhaft machen : erstens der Ein-
fluß der äußeren Naturumgebung, zweitens die Vermischung
von Völkern und Rassen verschiedener Abstammung, und drit-
tens der Einfluß der Kultur, wenn wir unter diesem letzten Be-
griff alles zusammenfassen, was innerhalb einer Sprachgemeinschaft
unabhängig von den beiden zuerst genannten Bedingungen einen
Wandel der physischen und geistigen Formen des Lebens hervor-
bringt. Natürlich können diese drei Arten von Ursachen neben-
einander wirksam, und die eine kann wieder auf die andere von
Einfluß sein. Im allgemeinen wird man aber doch nach der Be-
schaffenheit derselben voraussetzen dürfen, daß die Naturbedingungen
größerer räumlicher oder zeitlicher Entfernungen bedürfen, um
merkliche Abweichungen hervorzubringen, und daß der Einfluß der
Rassenmischung vorzugsweise an eingreifende geschichtliche Vor-
gänge geknüpft ist, die stärkere Völkerbewegungen herbeiführen.
Den Wirkungen der Kultur werden dagegen hauptsächlich die lang-
samen und stetigen Veränderungen vorbehalten bleiben, die sich
immer und überall ereignen, auch wenn die äußeren Bedingungen
konstant bleiben. Bei der Würdigung dieser Einflüsse werden aber
vor allem zwei Gesichtspunkte zu beachten sein, die bei den ana-
logen Entwicklungsproblemen der Naturwissenschaft bereits ihre
Fruchtbarkeit bewährt haben. Der erste besteht darin, daß aus der
allmählichen Anhäufung kleiner Wirkungen große Veränderungen
entstehen können. Der zweite läßt sich in die schon bei den Be-
ziehungen zwischen Laut und Bedeutung erwähnte Regel fassen,
daß komplexe Erscheinungen auch aus komplexen Bedingungen
hervorzugehen pflegen. Dabei wird nun der erste dieser Sätze zu-
gleich in dem Sinne durch den zweiten modifiziert, daß neu hinzu-
tretende Einflüsse auf Tendenzen, die bis dahin mehr oder weniger
latent geblieben waren, als auslösende Kräfte wirken können, indem
476
Der Lantwandel.
sie verhältnismäßig rasch Veränderungen erzeugen, die durch andere,
stetig wirkende Kräfte bereits vorbereitet waren, aber eines von
außen kommenden Anstoßes bedürfen, um ins Leben zu treten.
Solche Auslösungen lange vorbereiteter Wirkungen sind es, die,
wie wir vermuten dürfen, bei den organischen Arten jene plötz-
lich auftretenden Mutationen zustande bringen, aus denen mit über-
raschender Schnelligkeit neue Varietäten entspringen können^). Bei
der Sprache ist ein solches Zusammenwirken plötzlich eintretender
neuer Bedingungen mit langsam und stetig sich vollziehenden Ver-
änderungen der funktionellen Anlagen von vornherein um so wahr-
scheinlicher, als sie vermöge ihrer Gebundenheit an die Gemein-
schaft ein Beharrungsvermögen besitzt, wie es den rein individuellen
Lebensäußerungen nicht eigen zu sein pflegt. Denn wo diese sich
unbeschränkt entfalten können, da wird dort durch den Einfluß der
Umgebung die individuelle Abweichung unterdrückt, selbst wenn
die Neigung zu ihr eine weitverbreitete sein sollte, und erst irgend-
ein äußerer Anstoß, der die Macht der überlieferten Gewohnheit
erschüttert, läßt die vielleicht längst vorbereitete Neuerung zum
Durchbruch gelangen. Dies ist ein Vorgang, der in allen sozialen Ent-
wicklungen wiederkehrt, in Mythus und Sitte so gut wie in der Sprache.
Die wirklichen Erscheinungen stehen darum auch hier im vollen
Gegensatze zu jenem Schema, nach welchem die individualistische
Reflexion die völkerpsychologischen Vorgänge zurechtlegt. Die von
dem Individuum ausgehenden Einflüsse verschwinden, von wenigen,
zumeist einer höheren Kultur angehörenden Grenzfällen abgesehen,
wirkungslos, und dies geschieht infolge der Ungeheuern Macht der
überkommenen Lebens- und Denkformen selbst dann, wenn die
Tendenz zu einer bestimmten Neuerung schon eine gewisse Ver-
breitung erlangt hat. Erst wenn der günstige Augenblick gekommen
ist, ereignet sich der Übergang zur neuen Form, und dies geschieht
nun um so plötzlicher, je mehr jener zuvor schon in zahlreichen
Individuen vorbereitet war. Der günstige Augenblick ist aber durch-
weg in neu hinzutretenden Bedingungen gegeben, welche die Macht
der auf allen Stufen des geistigen Lebens wirksamen erhaltenden
Kräfte schwächen. Kann es auf diese Weise geschehen, daß irgend-
') Hngo de Vries, Die Mutationstheorie. Bd. i, 1901.
Allgemeine Bedingungen des regulären Lautwandels. 477
eine Veränderung der sozialen Einflüsse Wirkungen erzeugt, die
direkt gar nicht von ihr selbst verursacht sind, sondern für die sie
nur gewissermaßen die Bahn freimacht, so ist nun aber natürlich
auch der andere Fall nicht ausgeschlossen, daß gewisse Momente,
die an sich heterogener Natur sind, direkt in übereinstimmendem
Sinne zusammenwirken. Je mehr daher von vornherein jeder Ver-
such, irgendwelche lautgesetzliche Veränderungen aus einer einzigen
Bedingung abzuleiten, berechtigten Zweifeln begegnen muß, um so
mehr wird es gleichwohl erforderlich, die Haupteinflüsse, die wir mit
einiger Sicherheit annehmen dürfen, zunächst soviel als möglich
einzeln in ihren entweder direkt nachweisbaren oder zu vermuten-
den Wirkungen zu prüfen, um dann die wahrscheinlichen Erfolge
ihrer Verbindung erwägen zu können.
Die Komplikation der Bedingungen, die auf solche Weise bei
den meisten Lautänderungen vorauszusetzen ist, fällt nun naturge-
mäß gerade bei dem regulären, stetigen Lautwandel am schwer-
sten ins Gewicht. Ist sie auch bei den oben erörterten Kontakt-
und Fernewirkungen der Laute sicherlich nicht minder vorhanden,
so hat sich hier doch schon in den Erscheinungen selbst gewisser-
maßen eine Auslese wenigstens der zunächst eingreifenden äußeren
Ursachen vollzogen. Da sich nämlich als solche bei den Kontakt-
wirkungen gewisse angrenzende Laute, bei den Fernewirkungen
aber bereit liegende Vorstellungsassoziationen erweisen, so geben
diese nächsten Ursachen hier zugleich die leitenden Gesichtspunkte
an die Hand, nach denen sich die entfernteren physischen und psy-
chischen Bedingungen wenigstens mit großer Wahrscheinlichkeit
ermitteln lassen. Das ist anders bei dem regulären Lautwandel. Er
dokumentiert sich eben durch die relative Unabhängigkeit von solchen
unmittelbar nachweisbaren Kontakt- und Assoziationswirkungen wie
nicht minder durch seine Ausdehnung über das ganze Gebiet
der Sprache ohne weiteres als ein Vorgang, dessen entscheidende
Ursachen weiter zurückliegen und daher entweder, da wir diese
entfernteren Bedingungen überhaupt nicht kennen, unbestimmbar
bleiben oder doch jedenfalls erst auf Grund einer Erwägung aller
möglichen Umstände mit einiger Wahrscheinlichkeit zu ermitteln
sind.
478
Der Lautwandel.
2. Einfluß der Naturumgebung.
Unter den obengenannten drei Kategorien möglicher Ursachen
hat man dem Einflüsse der äußeren Naturbedingungen eine
besonders wichtige Bedeutung beigemessen^). Zu dieser Annahme
führte mit einer gewissen Folgerichtigkeit die Voraussetzung, daß
der reguläre Lautwandel physisch bedingt sei, im Gegensatze zu
den psychisch bedingten assoziativen Lautänderungen. Aber zunächst
ist diese Voraussetzung selbst, wie schon oben bemerkt wurde,
eigentlich eine petitio principii. Ob bei jenen allgemeinen Ver-
änderungen der psychophysischen Organisation, die den lautgesetz-
lichen Verändenmgen zugrunde liegen, das Physische oder das
Psychische das Primäre in der Reihe der Bedingungen sei, wissen
wir nicht; jedenfalls ist das erstere nicht ohne weiteres vorauszu-
setzen. Gibt es doch im Gegenteil eine Menge von Erscheinungen,
namentlich alle die, bei denen die willkürliche Einübung bestimmter
physischer Leistungen eine Rolle spielt, wo die Ausgangspunkte
der physischen Vorgänge auf psychischer Seite liegen. Gerade die
Sprache bietet hierfür ein deutliches Beispiel in den Rückwirkungen,
welche die Sprachfunktionen auf die physische Bildung der Sprach-
organe und dadurch indirekt auf den mimischen und physiognomischen
Ausdruck ausüben. Es gibt wenige Sprachen, die trotz ihrer genea-
logischen Verwandtschaft doch so auffallende Verschiedenheiten ihres
Lautsystems zeigen und darum eine so abweichende Konfiguration
der Sprachorgane erfordern wie das Hochdeutsche und das Eng-
lische; und die auf den ersten Blick erkennbaren physischen Rassen-
unterschiede beider Völker bestehen zu einem großen Teil in den mit
der Sprache zusammenhängenden physiognomischen Unterschieden.
Man kann aber oft beobachten, daß in England geborene Kinder
deutscher Eltern die nämlichen physiognomischen Züge annehmen.
Die frühe Einübung der Sprachorgane gewinnt also hier das Über-
gewicht über die angeborenen Rassenmerkmale. Auch bei dem
erwachsenen Deutschen, der nach England auswandert, sind manch-
mal Spuren dieser Umwandlung zu bemerken. Sie sind aber hier
^) H. Osthoff, Das physiologische und psychologische Moment der sprachlichen
Formenbildung, S. 19 flf.
Einfluß der Naturumgebung. ^jg
geringer, offenbar weil die große Bildsamkeit der kindlichen Organe
bei ihm nicht mehr vorhanden ist. In andern Fällen haben zwar
die klimatischen und die sonstigen Unterschiede der Naturumgebung
einen deutlichen Einfluß auf den gesamten physischen Habitus aus-
geübt. Doch die nebenhergehenden Einflüsse der Kultur und der
Rassenmischung sind so groß, daß es völlig unsicher bleibt, inwie-
weit eingetretene Lautmodifikationen auf solche Natureinflüsse zurück-
zuführen sind. So hat besonders der angelsächsische Typus in
Amerika wie in Australien charakteristische Umwandlungen erfahren.
Auch ist es bemerkenswert, daß der echte Yankeetypus in Ame-
rika vor allem dann sich ausprägt, wenn Rassenmischungen an-
scheinend nicht erfolgt sind. Aber da, wie wir sehen werden,
Rassenberührungen nicht weniger als Rassenmischungen die
Sprache beeinflussen können, und da gewisse Besonderheiten des
amerikanischen Englisch, wie die Unterdrückung und Schwächung
gewisser Laute, wohl eher zu der Eigenart der amerikanischen Kul-
tur, zu der Hast des Lebens und der sorgloseren Behandlung des
überkommenen Sprachgutes, in Beziehung gebracht werden können,
so bleibt es hier sehr zweifelhaft, ob oder inwieweit die Natur als
solche zu den verändernden Bedingungen zu zählen sei.
Von größerer Bedeutung scheinen auf den ersten Blick zwei
andere Zeugnisse zu sein, die man denn auch vorzugsweise für einen
direkten klimatischen Einfluß auf den Lautbestand der Sprache an-
geführt hat. Das eine besteht in der Tatsache, daß die Sprachen
von Gebirgsvölkern , welcher Abstammung sie auch seien, ob sie
die deutschen Alpen oder den Kaukasus oder die hohen Kordilleren
bewohnen, auffallend reich an Gutturallauten sind; die andere in der
Beobachtung, daß stammesfremde Sprachen nicht selten in ihrem
Lautbestand übereinstimmen, wenn sie in Gebieten von gleichen
geographischen Bedingungen gesprochen werden. Die Allgemein-
gültigkeit der ersten dieser Beobachtungen mag hier dahingestellt
bleiben — für die Gebirgsvölker Hochasiens z. B. scheint sie nicht
zuzutreffen — , sicher ist aber, daß die semitische Rasse, deren
Sprachen sich durch einen besonderen Reichtum an Kehllauten
auszeichnen, in vielen ihrer Abzweigungen seit unvordenklichen
Zeiten keine Berggegenden bewohnt hat. Auf der andern Seite ist
die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß nicht das Gebirgsklima
480 Der Lautwandel.
als solches, etwa sein Einfluß auf Lungen und Kehlkopf, sondern
die mit dem Gebirgsleben verbundene Lebens- und Sprechweise,
wie z. B. die Gewohnheit an lautes, von Berg zu Berg erschallen-
des Rufen, zu dem das Leben der Hirten auf einsamer Alm heraus-
fordert, die eigentliche Ursache dieser Anlage der Sprachorgane sei.
Noch weniger entscheidend ist das zweite Zeugnis, der übereinstim-
mende Lautvorrat sonst abweichender Sprachen unter gleichen kli-
matischen Bedingungen. Gerade da, wo die Behauptung zutrifft,
bei den Sprachen des Kaukasus, sind die auf dieser Völkerstraße
seit uralten Zeiten eingetretenen Mischungen und Berührungen der
Rassen ein näherliegender und wahrscheinlicherer Grund für die
Ausgleichung der Lautsysteme. Dies gilt um so mehr, als in sol-
chen Fällen, wo die geographischen Verhältnisse diese Einflüsse
verhindern oder nur in spärlichen Zuzügen möglich machen, trotz
übereinstimmender klimatischer Einwirkungen und bei sonst großer
Verwandtschaft der Sprachen die Lautsysteme wesentlich abweichen
können. So finden sich starke Lautunterschiede zwischen den ma-
laiischen und polynesischen und wiederum zwischen diesen und
den mikronesischen Dialekten, ebenso zwischen den verschiedenen
Sprachen der nordamerikanischen Ureinwohner, darunter solchen,
die in benachbarten, klimatisch wenig verschiedenen Gebieten ihre
Wohnsitze hatten. Im ersten dieser Fälle ist das Meer, im zweiten
das Leben in abgeschlossenen Horden dem Verkehr hinderlich
gewesen. Nach allem dem wird man schließen können, daß ein
direkter Einfluß des Klimas oder sonstiger äußerer Naturbedingungen
auf das Lautsystem wohl an sich nicht unmöglich ist, insofern an
den Unterschieden des allgemeinen physischen Habitus, der jeden-
falls in einem gewissen Grad einem solchen Einfluß unterworfen
ist, auch die Sprachorgane teilnehmen. Immerhin sind in den Fäl-
len, wo sich hieran denken ließe, regelmäßig auch noch andere
Einflüsse, namentlich Sprachmischungen und Kulturbedingungen,
wirksam; und vieles spricht dafür, daß diese von überwiegender
Bedeutune sind.
Mischungen und Berührungen der Völker. 48 1
3. Mischungen und Berührungen der Völker.
Wesentlich anders verhält es sich mit dem Einfluß der Mi-
schungen und der durch den Völkerverkehr eintretenden Be-
rührungen der Völker. An Völkerwanderungen hat es wohl
keiner Zeit gefehlt, mögen sie nun als große Massenbewegungen
oder als allmähliche Zuzüge Einzelner oder endlich, was wahrschein-
lich bei den großen historischen und vorhistorischen Völkerwande-
rungen die Regel war, als Einwanderungen kriegerischer Stämme
erfolgt sein, denen die Herrschaft über eine numerisch stärkere
Urbevölkerung zufiel. Besonders bei dieser mutmaßlich häufigsten
Form mußten aber tief eingreifende Sprachmischungen eintreten, die
voraussichtlich nicht zum wenigsten das Lautsystem der Sprachen
ergriffen haben. Da die meisten und die für die Ausbildung unserer
Kultursprachen wichtigsten dieser Wanderungen entweder vorge-
schichtlich sind oder in einer der Sprachgeschichte unzugänglichen
Zeit erfolgten, so sind wir freilich hinsichtlich dieser Quelle laut-
licher Umgestaltungen vielfach ganz auf Vermutungen angewiesen.
Im allgemeinen darf man aber als wahrscheinlich voraussetzen, daß
die Tatsachen, die bei der heutigen Entstehung der Mischsprachen
beobachtet werden, auch für jene vorgeschichtlichen Sprachmischun-
gen gelten'). Danach wird es in der Regel die Rasse der höheren
Kultur gewesen sein, die der niedrigeren ihren Wortvorrat und, wo
einigermaßen das Verhältnis einem numerischen Gleichgewichte nahe
kam, auch das grammatische System ihrer Sprache mitteilte, wo-
gegen das Lautsystem, gleich den Merkmalen der physischen
Organisation , umgekehrt durch seine größere Beharrlichkeit der
Mehrheit ihren vorwiegenden Einfluß sicherte. Dem Verhältnis
höherer und niederer Kultur wird bei den ursprünglichen Völker-
wanderungen wohl das der physisch stärkeren oder durch kriege-
rische Organisation überwiegenden zur schwächeren Horde entspro-
chen haben. Mag demnach der an Zahl zurücktretende, aber herr-
schende Teil einer Mischbevölkerung mit den sozialen Formen des
Lebens und den meisten sittlichen und religiösen Anschauungen
auch die sprachliche Form, in die der Mensch seine Vorstellungen
') Vgl. oben S. 393 ff.
Wundt Völkerpsychologie I, I. 2. Aufl. oj
482 I^er Lautwandel.
und Gefühle kleidet, der Gesamtheit mitteilen, — in dem Laut-
charakter der Sprache wird, wie in der Haarfarbe, der Körpergröße
und den allgemeinen Gemüts- und Charakteranlagen, schließlich die
unterdrückte, scheinbar verschwundene Rasse ihre Spuren zurück-
lassen. Das ist in der Tat in allgemeinen Zügen wohl der Gang
der Entwicklung der modernen romanischen Sprachen aus dem
Lateinischen oder der des modernen Englisch gewesen, hier nur
mit der besonderen Modifikation, daß zwei erobernde Stämme, der
germanische und der romanische, der Sprache ihre hauptsächlichsten
Eigenschaften gaben: der erste den grammatischen Bau und die
ursprünglichen Bestandteile des Wortschatzes, der zweite den größten
Teil der Begriffe und Wörter, die einer fortgeschritteneren Kultur
angehören. In dem eigentümlichen Lautsystem dieser Sprache
haben aber allem Anscheine nach die keltischen und sonstigen
älteren Bewohner Britanniens, von denen im übrigen Form und In-
halt der Sprache fast unberührt geblieben sind, ihre Spuren zurück-
gelassen. Von diesen Gesichtspunkten aus werden die gewaltigen
Differenzierungen, die in den Lautbildungen sonst genealogisch
zusammenhängender Sprachen eingetreten sind, wohl verständlich,
wenn sich auch bei unserer Unkenntnis der vorhistorischen und
selbst vieler der in geschichtlicher Zeit erfolgten Völkermischun-
gen Art und Umfang dieses Einflusses zumeist unserer Schätzung
entziehen.
Mit den Mischungen gehen die Berührungen der Völker und
der einzelnen Stammesgruppen, wie sie durch den Grenzverkehr und
die Einwanderung bedingt sind, Hand in Hand. Natürlich lassen
sich die Wirkungen der Mischung und Berührung im allgemeinen hier
ebensowenig wie diese Vorgänge selbst auseinanderhalten. Immer-
hin weisen viele Erscheinungen darauf hin, daß schon der bloße
Verkehr weitgreifende Einflüsse mit sich führen kann, ohne gleich-
zeitig mit erheblichen Rassen- oder Stammesmischungen verbunden
zu sein. So besitzen z. B. die konsonantischen Lautvertretungen
in denjenigen Zweigen der ural-altaischen Sprachen, deren Träger
früh schon in einen Verkehr mit germanischen Stämmen getreten
sind, wie besonders im Finnischen und Magyarischen, gegenüber den
isolierter gebliebenen Sprachen der gleichen Völkerfamilie häufig
einen der unten zu erwähnenden germanischen Lautverschiebung
Mischlingen und Berührungen der Völker. 430
verwandten Charakter'). Da diese Verschiebungen aber immerhin
nicht in gleicher Weise reguläre Erscheinungen sind wie die ver-
wandten Vorgänge auf germanischem Sprachgebiet, so unterstützt
dies die Vermutung, daß hier nicht ein originärer Lautwandel, sondern
der Einfluß benachbarter germanischer Stämme vorliegt. Der Um-
stand, daß solche Lautvertretungen durchaus das den finnischen
Idiomen ursprünglich eigene Sprachgut ergriffen haben, macht es
jedoch wahrscheinlich, daß es sich hier mehr um Berührungs-
wirkungen als um Sprachmischungen handelt. Einen noch prägnan-
teren Fall ähnlicher Art bildet eine Erscheinung, die allerdings
an sich nicht dem regulären Lautwandel, sondern den oben be-
sprochenen Wirkungen der Lautassimilation zugehört, die aber durch
die eigentümlichen Verhältnisse ihres Vorkommens auf die Wir-
kungen der Sprachberührungen hinweist. Das Rumänische bietet
eine große Zahl von Vokalumwandlungen, die nach dem Prinzip
der Vokalharmonie erfolgt sind, indem sie in der Angleichung
zweier Vokale in zwei aufeinander folgenden Silben besteht, wie
z. B. riimiinek für lat. romanescus u. a. Die Erscheinung ist den
übrigen romanischen Sprachen, ebenso wie dem Lateinischen, Deut-
schen und Slawischen, fremd; sie ist jedoch den ural-altaischen Spra-
chen und so auch dem an das rumänische Sprachgebiet grenzenden
Türkischen und Magyarischen eigen. Vermutlich hat also das Ru-
mänische aus diesen die Neigung zur Vokalharmonie entnommen.
Daß aber auch hier wieder die Erscheinung nicht oder zum ge-
ringsten Teil auf Sprachmischung beruht, wird dadurch wahrschein-
lich, daß die aus dem Lateinischen und Slawischen stammenden
Wörter sie, ihrem allgemeinen Übergewicht in der Sprache ent-
sprechend, vorzugsweise darbieten. Auch hat sie sich darin ge-
wissermaßen dem sonst abweichenden Charakter der Sprache an-
gepaßt, daß sie in progressiver wie regressiver Richtung vorkommt,
d. h. ebenso als Wirkung des vorangehenden auf den nachfolgenden
wie des nachfolgenden auf den vorangehenden Vokal, während sie
in ihrer eigentlichen Heimat nur in der ersteren, progressiven Form
existiert^).
') Vgl. die Beispiele konsonantischer Vertretungen bei Fr. Müller, Grundriß,
Bd. 2, n, S. 192 ff.
2) Ad. Storch, Vokalharmonie im Rumänischen. Diss. Leipzig 1899.
31*
484
Der Lautwandel.
4. Einflüsse der Kultur,
Die Einflüsse der durch Wanderung und Verkehr vermittelten
Mischung und Berührung der Völker reichen nun vielfach schon in
die allgemeineren der Kulturentwicklung hinüber. Da der Be-
griff der Kultur zunächst eine Erhebung über den Zustand der
bloßen Natur bezeichnet, so entsteht aber bei jeder Anwendung
dieses Begriffs vor allem die Frage nach dem Grade der Kultur,
das heißt nach dem Maß jener Erhebung, sowie die nach der auf-
oder absteigenden Richtung der Kulturbewegung, ohne daß damit
selbstverständlich qualitative Veränderungen der Kulturwerte bei
gleich geschätzter Größe derselben ausgeschlossen wären. Insofern
nun der Naturzustand, als die der tierischen Existenz sich nähernde
untere Grenze, durch körperliche wie geistige Merkmale charakteri-
siert ist, bezieht sich auch der Begriff der Kultur gleichzeitig auf
das körperliche und auf das geistige Sein des Menschen. Da aber
allerdings als die Grundbedingung der Erhebung über den Natur-
zustand die Entwicklung der geistigen Fähigkeiten gelten muß, so
fällt das Schwergewicht des allgemeinen Kulturbegriffs auf die
psychische Seite. Die physischen Veränderungen gelten uns hier
wesentlich nur als äußere Symptome für die Veränderungen der
psychischen Kulturmotive. In diesem Sinn ist die Kultur in ihrem
eigensten Wesen Kulturentwicklung und als solche die haupt-
sächlichste Äußerung der in einer bestimmten Kulturgesellschaft
vorhandenen geistigen Entwicklung. Vermöge des engen Zu-
sammenhangs physischer und psychischer Funktionen ist sie jedoch
stets zugleich von äußeren Lebensbedingungen abhängig und wirkt
ihrerseits wieder zurück auf die körperliche Organisation. So wird
denn auch im einzelnen Fall oft kaum mehr zu ermitteln sein, wel-
cher unter diesen sich wechselseitig steigernden Kulturfaktoren der
ursprünglichere gewesen sei.
Indem nun die Veränderungen der Kultur nach ihrer geistigen
Seite wesentlich auch in der Entstehung neuer Begriffe und in der
Umbildung vorhandener ihren Ausdruck finden, ist es in erster Linie
der Wortvorrat der Sprache, der von ihr berührt wird. Wo neue
Kulturbestandteile von außen zufließen, da wird mit der Sache meist
Einflüsse der Kultur.
485
auch das Wort aufgenommen : darum sind in allen Sprachen Lehn-
wörter das nächste Symptom äußerer Kultureinwirkungen. Wo
anderseits selbständig aus gegebenen Kulturelementen neue entstehen,
da helfen Wortzusammensetzung und Bedeutungswandel vorhandener
Wörter den neu erwachten Bedürfnissen ab. Alles das kann sich
ereignen, ohne daß irgendeine Änderung an dem Lautmaterial der
Sprache vor sich gehen müßte. Wir dürfen daher wohl schließen,
daß die Kultur im allgemeinen weniger direkt als indirekt die
Sprachlaute beeinflußt, sei es daß Gewohnheiten und Sitten auf
die Formen der Rede und damit auch auf die Laute der Sprache
verändernd einwirken, sei es daß in dem Verlauf der psychischen
Vorgänge Änderungen eintreten, die für Tonfall, Rhythmus und
Schnelligkeit der Artikulationen bestimmend sind.
Das erste der hier angedeuteten Momente, die Sitte, scheint vor
allem in den Sprachen mancher primitiver Kulturvölker tiefgreifende
Änderungen des Lautsystems erzeugt zu haben. So ist es eine
Eigentümlichkeit einiger Sprachen nord- und mittelamerikanischer
Indianerstämme, daß in ihnen die Lippenlaute nicht oder nur spur-
weise vorkommen. Im Irokesischen fehlen die Laute /, ph^ b^ bJi^
w, a', um vorzugsweise durch Lingual- und Dentallaute ersetzt zu
werden. Im Tscherokesischen finden sich zwar die tönenden Lippen-
laute zu und ;ä, aber die labialen Explosivlaute mangeln. Die Sprache
der Koloschen endlich besitzt den Resonanzlaut ;w, sonst fehlen auch
hier die Labiallaute^). Nun wird man sicherlich nicht daran denken
können, daß diese Laute, die zu den frühesten Lalllauten der Kinder
gehören, an sich irgendeinem Sprachorgan ursprünglich physische
Schwierigkeiten bereitet hätten. Aber es ist so sehr die Sitte
dieser Stämme, bei offenem Munde zu artikulieren, daß es der
Irokese z. B. für unanständig hält, das Gegenteil zu tun. Wie diese
Sitte entstanden ist, wissen wir nicht, — möglicherweise hängt sie
mit dem Streben zusammen die Lautgebärden der Zunge bei
gewissen ausdrucksvollen Lauten sichtbar zu machen. Wahrschein-
lich ist dieser Ursprung selbst dem Gedächtnis entschwunden; aber
die so erzeugten Lautänderungen mit ihren Rückwirkungen auf die
Sprachorgane sind erhalten geblieben"). Auf einer eigentümlichen
^) Vgl. die Lauttabellen bei Fr. Müller, n, i, S. 206, 223, 239.
2) Nicht direkt hierher zu zählen sind solche Lautmängel, die nicht, wie die
486 Der Lautwandel.
Bevorzugung gewisser Laute, die wohl erst im Laufe der Zeit ent-
standen sein kann, scheint ferner der auffallend klangvolle Charakter
der polynesischen Sprachen zu beruhen. Die Konsonanten dieser
Sprachen werden nachlässig gesprochen und oft miteinander ver-
wechselt. Die Vokale, die nur in den fünf einfachen Formen «, e, z,
<7, z^, nicht in diphthongischen Verbindungen vorkommen, sind daher
die Hauptträger des Wortes, auf deren Klangqualität und Quantität
streng gehalten wird. Dadurch gewinnen diese Sprachen einen
ungewöhnlich musikalischen Charakter, indem sich in ihnen das
Prinzip der Tonmodulation offenbar mehr als sonst mit dem der
Lautartikulation verbindet. (Vgl, oben Kap. III, S. 263 ff.) Ähnlich
scheinen die eigentümlichen Tonabstufungen der indo-chinesischen
Sprachen, die hier zum Teil dem Ausdruck bestimmter Begriffs-
änderungen dienen, zu den gleichzeitig eingetretenen Abschleifungen
der Laute in unmittelbarer Beziehung zu stehen^). Natürlich ist
dabei an eine willkürliche Unterdrückung oder Bevorzugung nicht
zu denken. Vielmehr lassen sich diese Veränderungen wiederum
nur als solche betrachten, die mit innerer Notwendigkeit und zum
Teil zugleich in Wechselwirkung miteinander erfolgten.
Bei dieser Korrelation der Erscheinungen spielt nun das In-
einandergreifen äußerer und innerer Kultureinflüsse sichtlich eine
wichtige Rolle. Stehen unter den äußeren die Mischungen und Be-
rührungen der Völker in erster Linie, so wird unter den inneren
dem wachsenden Vorrat an Vorstellungen, der Verfeinerung der
Gefühle und Affekte und der im allgemeinen wachsenden geistigen
Regsamkeit die vorwiegende Bedeutung beizumessen sein, wobei
dann diese Verhältnisse im einzelnen wieder auf das mannigfaltigste
wechseln und sich steigern können. Daß sich hier irgendwelche
obigen infolge gewisser Artikulationsgewohnheiten bei sonst normaler Beschaffen-
heit der Sprachorgane vorkommen, sondern durch die Verstümmelung oder Defor-
mation der Teile rein mechanisch bedingt sind: so die mangelnde Aussprache der
Dentallaute infolge des Ausbrechens oder Ausfeilens der Schneidezähne bei manchen
australischen und südafrikanischen Stämmen und die verschiedenen Lautdefekte in-
folge der bei südamerikanischen und afrikanischen Völkern bestehenden Sitten des
Lippenpflockes, der Durchbohrung der Lippen oder der Nasenscheidewand.
I) Misteli (Steinthal), Charakteristik der hauptsächlichsten Typen des Sprach-
baues, 1893, S. 203 ff. Conrady, Eine indochinesische Kausativ-Denominativ-Bildung
1896.
Einflüsse der Kultur. 487
konstant und gleichförmig wirkende Ursachen feststellen lassen, die
auch nur für ein Volk während einer längeren Zeit ausschließlich
maßgebend wären, ist natürlich ausgeschlossen. Insbesondere ist es
aber von vornherein höchst unwahrscheinlich, daß auch nur einzelne
Bedingungen überall wieder genau die gleichen Wirkungen hervor-
bringen, da ja die einzelne Ursache voraussichtlich jedesmal wieder
mit abweichenden weiteren Einflüssen sich kompliziert. Wenn z. B.
der phonetische Charakter der aus dem Vulgärlateinischen stammen-
den Wörter in den einzelnen romanischen Sprachen ein vielfach
abweichender geworden ist, obgleich in den meisten derselben augen-
scheinlich die Tendenz zur Kürzung und wechselseitigen Assimilation
der Laute vorherrscht, so ist das bei der Ungeheuern Mannigfaltigkeit
der sonstigen Bedingungen nicht zu verwundern. Eine Sprache, die
eine so ausgeprägte Tonmodulation besitzt wie das Französische,
und eine andere, die umgekehrt eine stark dynamische Akzentuierung
erworben hat wie das Italienische, sie müssen schon um dieses einen
Unterschiedes willen notwendig dem in ihnen beiden lebenden Trieb
nach Verkürzung der Lautform, aus welcher Ursache dieser auch
immer in ihnen entstanden sein mag, in sehr verschiedener Weise
Folge leisten. Angesichts der Ungeheuern Abweichungen, welche
zuerst Sprachmischung und Entlehnung und dann in einem weiteren
Stadium der Kulturentwicklung die oben besprochenen Erscheinungen
der Ausgleichung benachbarter Dialektformen ausüben, wird man
sich in der Tat das Ineinandergreifen der verschiedenen Faktoren,
die zusammenwirken mußten, um eine unserer heutigen Literatur-
sprachen zustande zu bringen, nicht kompliziert genug vorstellen
können, und man wird hier im allgemeinen nur daran festhalten
dürfen, daß die entscheidenden unter diesen Einflüssen genereller
Natur waren. Sollen jedoch unter diesen generellen Kulturein-
flüssen die allgemeinsten, auf die, so verschieden sie im einzelnen
wirken mögen, doch immer und immer wieder die Erscheinungen
als nächste bedingende Momente hinweisen, hervorgehoben werden,
so dürften vornehmlich zwei in den Vordergrund zu stellen sein.
Der eine besteht in dem Tempo der Rede, der andere in den
Verhältnissen der Betonung. Dabei werden unter den letzteren
wieder die zum größten Teil noch der näheren Aufklärung bedürf-
tigen Verhältnisse der musikalischen und der dynamischen Betonung,
488 Der Lautwandel.
sodann aber auch die zumeist wenigstens der geschichtlichen Nach-
weisung leichter zugänglichen Verschiebungen der letzteren in Be-
tracht kommen.
5. Tempo der Rede und Wortbetonung,
a. Allgemeine Wirkungen der Artikulationsgesch windigkeit.
Unter den genannten Bedingungen ist das Tempo der Rede wohl
eine der eingreifendsten, obgleich sie bis jetzt von selten der Sprach-
forscher nur wenig beachtet wurde. Daß mit einem rascheren
Wechsel der psychischen Erregungen, wie ihn neben anderem die
wachsende Kultur in der Regel hervorbringen wird, auch die Ge-
schwindigkeit der Rede einigermaßen gleichen Schritt halten muß,
ist ja von vornherein nicht unwahrscheinlich. Natürlich brauchen
diese Wirkungen weder bei allen Nationen, denen wir eine auf-
steigende Kulturent\vicklung zuschreiben, in gleicher Weise und zur
gleichen Zeit, noch brauchen sie aus den früher erörterten Gründen
überhaupt gleichförmig zu erfolgen. Vielmehr wird auch hier gelten,
daß solche Veränderungen nach dem früher (S. 476) erwähnten Mu-
tationsprinzip zwar in der Regel langsam und stetig sich vorbereiten,
daß sie selbst aber doch meistens infolge irgendeines auslösenden
Impulses plötzlich zum Durchbruch gelangen und nun in rapider
Entwicklung, von der jüngeren Generation anfangend, bis zu einem
neuen Punkt relativen Stillstandes anwachsen. Mehr als in dem
Tempo der Rede selbst, für das uns unmittelbare Zeugnisse kaum
zu Gebote stehen, besitzen wir in dieser Beziehung ein chararakte-
ristisches Zeugnis aus einer noch der Gegenwart naheliegenden Zeit
in einem andern, in mancher Beziehung unmittelbareren Ausdrucks-
mittel der Gefühle und Affekte, in der Musik. Bekanntlich hören
wir selbst Beethovens Symphonien heute in der Regel in einem
schnelleren Tempo vorgetragen, als in dem sie ursprünglich kom-
poniert waren ; und noch größer ist dieser Unterschied bei Meistern
wie Haydn oder Mozart, Händel oder Bach, wenn nicht in diesen
Fällen der Charakter der Kompositionen auch noch heute zu einem
bedächtigeren Tempo zwingt. Die merklich gewordene Erhöhung
der Orchesterstimmung der Instrumente ist wahrscheinlich ein hier-
mit zusammenhängendes Phänomen, denn der schnellere Schritt der
Tempo der Rede und Wortbetonung. 489
Töne fordert im allgemeinen auch eine höhere Tonlage. Nun ist
freilich die Stimmung unserer Instrumente konventionell. Aber diese
Konvention ist doch aus dem musikalischen Bedürfnis hervorgegangen ;
und wir können kaum zweifeln, daß, analog wie sich das musika-
lische Tempo in den Jahrhunderten geändert hat, so auch das
durchschnittliche Tempo der Rede ein anderes geworden ist. Ob-
gleich uns dieses Tempo selbst nicht erhalten geblieben ist, so
spiegelt sich doch in dem Stil, in der umständlicheren Form der
grammatischen Konstruktionen deutlich genug die Veränderung, die
bereits seit Gottscheds Zeiten in der gewöhnlichen Form der deut-
schen Rede vor sich gegangen sein mag. Dabei ist es wiederum
für die Wechselbeziehung zwischen Denken und Sprechen bezeich-
nend, daß zur selben Zeit, da sich der deutsche Stil noch in schwer-
fällig gravitätischen oder in der vulgären Unterhaltung in plumpen
und ungelenken Schritten bewegte, das Französische schon eine
sehr viel srrößere Geschmeidisfkeit und darum sicherlich auch eine
größere Geschwindigkeit der Diktion erlangt hatte. Darum kann
man sich in solchen Fällen die geistige Organisation der damals
noch häufiger als jetzt vorkommenden Menschen, die in zwei Sprachen
zu denken und zu sprechen pflegten, kaum anders denn als eine
auch hinsichtlich des Tempos zwiespältige vorstellen. Ein Leibniz
und ein Friedrich der Große haben gewiß französisch schneller ge-
dacht und gesprochen, als wenn sie sich der deutschen Sprache
bedienten. Nun wissen wir freilich nicht, wie unsere althochdeutschen
Vorfahren oder wie die Goten oder gar die Urgermanen gesprochen
haben, abgesehen von den indirel<ten Zeugnissen, die wir den
grammatischen Formen entnehmen können. Gerade diese Formen
lassen aber auf ein langsameres, sozusagen majestätisch einher-
schreitendes Tempo der Rede schließen; ja in dieser Beziehung
finden sich selbst zwischen dem Gotischen und dem Althochdeut-
schen und zwischen diesem wieder und dem Mittelhochdeutschen
Unterschiede, die überall mit dem volleren Klang auch den lang-
sameren Gang der auf einer früheren Lautstufe stehen gebliebenen
Sprachform annehmen lassen. Mit feiner poetischer Intuition hat
das Gustav Frey tag in seinen »Ahnen« zum Gehör gebracht, indem
er seine althochdeutschen Helden Ingo und Ingraban in einem Stil
reden läßt, der freilich so, wie ihn der Dichter erfindet, sicherlich
490
Der Lautwandel.
nirgendwo und nirgendwann vorgekommen ist, der aber doch durch
die Art der grammatischen Konstruktion und namentlich durch die
Einfügung gewisser regelmäßig wiederkehrender Redeformen, die
an den homerischen Stil erinnern, wie »auf der Männererde«, den
Eindruck gediegener und schwerfälliger Langsamkeit hervorbringt.
Doch wir besitzen, abgesehen von diesem immerhin etwas un-
bestimmten allgemeinen Eindruck von Sprache und Stil, noch ein
anderes Zeugnis im Gebiet der Lautformen selbst in jenen Kontakt-
wirkungen der Laute, die, wie wir sahen, mit zwingender Gewalt
auf den Einfluß einer beschleunigten Rede hinweisen: so vor allem
die Erscheinungen der sogenannten » regressiven « und ein nicht
unbeträchtlicher Teil auch der »progressiven Lautassimilationen«,
(Vgl. oben S. 422 ff.) Dieses Zeugnis ist um so wertvoller, weil es
sich geradezu auf alle uns bekannteren Kultursprachen und auf die
verschiedensten Perioden der Sprach- und Kulturentwicklung erstreckt.
Wenn lat. siipnius in summus^ sedla in sella^ f actus in ital. fatto^
fluctiis in fiotto^ deutsch Jiabtc in hatte, entfinden in empfinden, oder
auch (progressiv) viilba in vulva, klimben in klimmen überging usw.,
so liegt der Beweis für den Zusammenhang dieser Veränderungen
mit einer Beschleunigung der Artikulationsbewegungen schon darin,
daß sich alle diese Wörter sehr leicht von selbst aus der ersten in
die zweite Lautform umwandeln, sobald wir rasch artikulieren. Aller-
dings geschieht das nicht überall gleich vollständig: entfinden geht
z. B. leichter in empfinden über als ßuct?is in fiotto. Aber hier ist
eben auch die Veränderung noch durch eine dissimilatorische Vokal-
bildung kompliziert, und sie hat daher mutmaßlich eine längere
Zeit gebraucht, um sich vollständig durchzusetzen. Bei allem dem
stimmen diese durch den Kontakt der Laute eingetretenen Um-
wandlungen darin überein, daß sie auf eine irgend einmal eingetretene
Beschleunigung in dem Tempo der Rede hinweisen, was natürlich
dazwischen liegende Stadien des Stillstandes oder einer retrograden
Bewegung und nebenhergehende andere Einflüsse, wie Sprach- und
Völkermischungen, nicht ausschließt. Darum würde es verkehrt sein,
solche Veränderungen überhaupt etwa gar zu einem Maß der Kultur
zu nehmen, also z. B. daraus, daß das Italienische stärkere Symptome
des durch die Geschwindigkeit der Rede bewirkten Lautwandels
bietet als das Lateinische, schließen zu wollen, daß in ihm das ab-
Tempo der Rede und Wortbetonung. ^gi
solute Tempo der Rede wesentlich verändert oder überhaupt schneller
geworden sei. Vielmehr liegt darin immer nur ein Zeugnis dafür,
daß alle jene Einflüsse auf die jüngere Sprachform länger und eben
darum schließlich stärker eingewirkt haben als auf die ältere, gerade
so wie ja auch die jüngere Kultur keineswegs immer die höhere
zu sein braucht. Wohl aber wird aus jenen Veränderungen, die
der Kontakt der Laute herbeigeführt hat, zu schließen sein, daß
die Beschleunigung des Tempos ein Faktor ist, der zu Zeiten auf
jede der Kultursprachen gewirkt hat; und schwerlich wird dieser
Faktor auf die direkt nachweisbaren Kontaktwirkungen beschränkt
geblieben sein, sondern er wird aller Wahrscheinlichkeit nach schließ-
lich den Lautbestand der Sprache als solchen mehr oder minder ein-
greifend verändert haben.
b. Vokalkontraktionen und Lautschwächungen.
In der Tat bietet nun die Sprache eine große Zahl von Erschei-
nungen dar, die hierfür eintreten. Vor allem gehört dahin das
zum Teil noch in das Gebiet der Lautassimilationen hinüberreichende
Phänomen der Vokalkontraktion. Sie vollzieht sich bald in der
Form der Verschmelzung zweier aufeinander folgender Vokale in
einen einzigen, der einem von ihnen oder beiden ähnlich ist, oder
zu einem artikulatorisch zwischen ihnen liegenden Laut, bald in der
Auswerfung des einen Vokals, bald endlich auch in einer durch
Elision eines zwischenliegenden Konsonanten vermittelten Verbin-
dung. Zusammenziehungen wie griech. rjQog aus eaQog, (pilslre aus
(pikiere^ (pLXov(.iev aus cpileof-ier, f,uG&iü aus /.iiod-ocoj €a[.iev aus ur-
griech. eaif^ev u. a. sind hier naheliegende Beispiele^). Eine zweite,
ebenfalls weitverbreitete Erscheinung besteht in den in der mannig-
faltigsten Weise wieder sich äußernden Lautschwächungen am
Ende der Wörter, Man nehme qualitative Übergänge wie im
Lateinischen prodtt aus "^prodät (zu dö dare)^ artifex aus ^ artifax
(zu facio)^ vivunt aus vivont^ oder Kürzungen der Endvokale bei
') Brugmann, Griech. Grammatik,^ S. 58 ff. Auch die romanischen Sprachen
sind reich an hierher gehörigen Erscheinungen, die sich nur bei ihnen vielfach zu-
gleich mit dissimilatorischen Elisionen und selbständigen Änderungen des Vokal-
klangs verbinden. Vgl. Meyer-Lübke, Grammatik der romanischen Sprachen, Bd. I,
S. 98 ff.
492
Der Lautwandel.
gleich bleibender Qualität wie lego aus "^ legö (gr. Ae/w), auctor aus
altlat. aiictdr [mictdris]^ oder endlich den völligen Silbenschwund im
Auslaut, wie in mors aus ^mortis, ager aus *agros^ acer aus agris^).
Ähnlich im Deutschen leiten zu ahd. ltda?t^ Bahre zu öä7'a^ Wunder
zu ivuntar^ zeigen zu zeighi^ leben zu leben usw. Hier ist überall
schon im Mittelhochdeutschen die Schwächung eingetreten. Aber
sie ist in diesem, wie manche Erscheinungen schließen lassen, noch
nicht so weit wie in der heutigen Sprache fortgeschritten gewesen.
So sind Formen wie Tags für Tages ^ dem Mann für de77i Manne
erst in verhältnismäßig neuer Zeit allgemein geworden; und diese
Kürzungen sind zum Teil auch da eingedrungen, wo in der Schrift
der Vokal noch bewahrt blieb: wir sprechen nicht Tages^ sondern
Tag^s, und ähnlich inmitten des Wortes, z. B. der andere, nicht der
andere^ indem der stumme Vokal nur noch als ein fast verschwin-
dender Übergangslaut erscheint.
Zu dieser Schwächung und Abwerfung der Vokale bieten nun
auch die Änderungen der konsonantischen Laute am Ende des Wortes
parallele Erscheinungen. So ist im Lateinischen namentlich der
Schwund des Schluß-w, obgleich dasselbe noch geschrieben wird,
im poetischen Metrum deutlich zu bemerken; auch in die romanischen
Sprachen hat sich dies fortgesetzt. Doppelkonsonanten sind ferner
durchweg zu einfachen zusammengezogen worden, wie lac aus ^lact
[lactis]^ cor aus "^ cord [cordis) usw. ^). Im Deutschen besteht die
bemerkenswerteste Erscheinung dieser Art darin, daß im Wortschluß
die tönende Media in einen kurzen tonlosen Verschlußlaut, eine
stimmlose Tenuis, überzugehen pflegt. So schreiben wir zwar aus
Rücksicht auf den grammatischen Zusammenhang Tag^ Tages und
La?id, Länder^ wir sprechen aber in Wirklichkeit Tak^ Tages^ Lant^
I) Vgl. Ferd. Sommer, Handbuch der lateinischen Laut- und Formenlehre,
1902, S. 155 fiF.
-) Nur das Schluß-j bildet im Lateinischen eine Ausnahme, indem es zu einer
gewissen Zeit ausfiel, wenn ein Wort mit anfangendem Konsonanten folgte, wie in
omnibii{s] princeps. Dieser Fall reicht aber wieder in die Kontaktwirkungen der
Laute hinein, und er ist wohl als eine in der Volkssprache eingerissene dissimila-
torische Elision aufzufassen, die dann später von der Schriftsprache unter dem Ein-
flüsse des vor Vokalen stets erhalten gebliebenen Schlußlautes wieder getilgt wurde.
Vgl. Sommer a. a. O. S. 302 ff. und über Dissimilationen oben S. 414 ff.
Tempo der Rede vind Wortbetonung. ^g^
Länder'^]. Zugleich bemerkt man übrigens hierbei, daß diese Unter-
schiede nicht unbeträchtlich variieren können, und daß darauf
namentlich die Länge des vorangehenden Vokals von Einfluß ist.
Sprechen wir das Wort Tag kurz und scharf, so tritt der harte
Schlußlaut sehr deutlich hervor; sprechen wir es gedehnt, so er-
mäßigt er sich und geht in eine tonlose Media oder Spirans über.
Die Aussprache variiert also zwischen täk^ tag und tä^^ wenn wir
mit g den stimmhaften, mit i den stimmlosen Konsonanten be-
zeichnen. Entsprechende Unterschiede sind denn auch dialektisch
vorhanden, indem der Schlußkonsonant bald mehr nach der stimm-
losen Media, bald mehr nach der Spirans hin abweicht, und sie sind
zum Teil wenigstens mit entsprechenden Unterschieden in der Länge
des Vokallautes kombiniert.
c. Lautänderungen der Verschlußlaute.
Aus diesen Beobachtungen erhellt zunächst, daß die Scheidung-
der Formen des sogenannten selbständigen und des kombinatorischen
Lautwandels in keiner Weise streng durchgeführt werden kann. Da
in der Sprache kein einziger Laut für sich allein existiert, so ist
auch jede Lautänderung in einem gewissen Grade durch die Ver-
bindung mit andern Lauten beeinflußt. Es ergibt sich aber auch
weiterhin, daß bei dieser nie fehlenden Verbindung der Laute die
Schnelligkeit ihrer Aufeinanderfolge eine entscheidende Rolle spielt.
Besonders deutlich lassen sich diese Schwankungen je nach der Art
und der Geschwindigkeit der Aufeinanderfolge bei der willkürlichen
experimentellen Variation dieser Bedingungen nachweisen. Als
Beispiele seien hier die Lippenexplosivlaute />, b in ihren Wand-
lungen verfolgt, da sie bei der oberflächlichen Lage der Verschluß-
stelle der Beobachtung am leichtesten zugänglich sind. Als kombi-
natorisch verwendeten Vokal wollen wir der Gleichförmigkeit wegen
überall das a wählen. Es seien ferner bezeichnet mit p^^ ^'' die
stark, mit p'^ F die schwach aspirierten Laute, mit p und t die ge-
schärften tonlosen Verschlußlaute (Affricatae), mit b die gewöhnliche
tönende Media, und endlich mit p und b die tonlosen Lippenlaute.
Es treten dann bei wechselnder Stellung und Kombination mit langen
^) Vgl. Sievers, Phonetik,4 S. 265 f.
494
Der Lautwandel.
und kurzen Vokalen die folgenden Veränderungen der beiden Ver-
schlußlaute von selbst ein:
p'^a , p a^ apa , apa^ ap
* d^ä , bä^ abä ^ iä ^ äb^ äp.
Der Sinn dieser beiden Reihen ergibt sich ohne weiteres aus der
obigen Interpretation der Bezeichnungen. Zunächst hat der Unter-
schied der beiden Anfangsglieder [p^ä und b^ä) die Bedeutung, daß
die Stärke der Aspiration bei dem weicheren Explosivlaut immer
schwächer als bei dem harten, und daß sie dort überhaupt nur bei
starker Betonung des kommenden Vokals vorhanden ist, sonst aber
ganz schwindet [Fa und ba). Tritt der Verschlußlaut in die Mitte
zweier Vokale, so verschwindet die Aspiration, und es bleibt nur
die Neigung zu einer Verschärfung des Lautes. Am Schluß des
Wortes weicht endlich, wenn ein langer Vokal vorangeht, die tönende
der tonlosen Media, und diese bei verkürztem Vokal dem tonlosen
harten Verschlußlaut [ab und ap).
Die Ursachen dieses durch die Position bewirkten Lautwandels
sind nun offenbar wieder keine rein physiologischen, sondern im
eigentlichen Sinne des Wortes psychophysische. Dies gilt vor
allem von den Lautänderungen am Ende des Wortes, den Schwä-
chungen und Elisionen der Vokale und dem Übergang der tönenden
in kurze und tonlose Verschlußlaute, sowie von den im Gegensatz
zu ihnen stehenden Modifikationen der gleichen Laute am Wortan-
fang. Jedes einigermaßen selbständig zu denkende Wort bildet
nämlich, so eng es sich auch in den Zusammenhang der Rede ein-
fügt, doch bis zu einem gewissen Grad ein Ganzes für sich, indem
der ihm zukommende spezifische Bedeutungsinhalt notwendig einen
gleichzeitigen Wechsel der Vorstellungen mit sich führt, ausgenommen
natürlich Enklitika, deren selbständige Schreibung ohnehin im all-
gemeinen willkürlich ist. Demnach bildet jedes neue Wort einen
momentanen Haltepunkt der Rede, so daß sich die Kraft der Arti-
kulation vor allem auf den Wortanfang konzentriert. Umgekehrt
verhält sich der Schluß des Wortes. Ist der Anfang intoniert, so
ist namentlich bei einem kürzeren Worte für den Redenden der
psychische Prozeß der Wortbildung vollendet: nur der physische
Vorgang der Artikulation folgt noch mechanisch dem zuvor ge-
Tempo der Rede und Wortbetonimg. ^gg
gebenen Impuls. Darum ist das Ende des Wortes vorzugsweise der
Lautschwächung und Lautkürzung ausgesetzt. Ist der Schlußlaut
ein Vokal, so wird dieser kürzer oder seine Klangfarbe dumpfer;
bei den Geräuschlauten weicht der leichtere, tönende einem härte-
ren, tonlosen Verschlußlaut. In diese Bedingungen greifen dann
noch Akzentuierung und Dauer der inlautenden Vokale wesent-
lich modifizierend ein, während zugleich physiologische Bedingun-
gen die hieraus entspringenden begleitenden Veränderungen der
Verschlußlaute bestimmen. So ist die Aspiration der harten Ex-
plosivlaute am Anfang des Wortes um so mehr eine mechanische
Notwendigkeit, je dauernder der folgende Vokal ist [p^Ti und p^a).
Die weiteren Verändungen ergeben sich von selbst aus den für
An- und Auslaut geltenden psychophysischen Momenten einerseits
und den aus Betonung und Dauer der Laute hervorgehenden mecha-
nischen Vor- und Rückwirkungen anderseits, wie aus den obigen
Reihen für den Wandel des /- vmd (5-Lautes hervorgeht.
Unverkennbar haben nun aber diese mit der Aneinanderreihung
der Laute zusammenhängenden Lautvariationen noch eine andere,
über diesen nächsten Bereich ihrer Wirkungen hinausgehende Be-
deutung. Die Veränderungen, die sich innerhalb eines zusammen-
hängenden Lautkomplexes als die Folgen der Beschleunigung oder
Hemmung der Bewegung einstellen, werden nämlich in einem ge-
wissen Umfang auch als allgemeine Veränderungen mehr oder
weniger in jedem Lautzusammenhang wiederkehren, teils weil sich
die Einstellung auf die neue Artikulationslage überhaupt fester ein-
geübt hat, teils weil die an bestimmten Punkten durch den Lautzu-
sammenhang erzeugten Veränderungen assoziativ auf andere Fälle,
ganz wie bei den sogenannten »Analogiebildungen«, herüberwirken.
So sind es Kontakt- und Fernewirkungen der Laute, die überall
in das Gebiet des sogenannten »selbständigen« Lautwandels ein-
greifen. Natürlich lassen sich die im letzteren Fall sich ergebenden
Wirkungen des häufigen Gebrauchs nicht mehr ohne weiteres mittels
einer experimentellen Variation der Bedingungen feststellen, oder
mindestens würde dies umständlichere Verfahrungsweisen mit
statistischer Verwertung der Beobachtungen erfordern. Wohl aber
gibt uns hier die geschichtlich eingetretene Veränderung gewisse
Hinweise, falls wir uns nur die experimentell konstatierten Einflüsse
aq() Der Lautwandel.
der Geschwindigkeit und Betonung über eine längere Zeit ausge-
dehnt oder durch hinzutretende Bedingungen verstärkt denken. Dieses
Prinzip läßt sich namentlich auf gewisse Veränderungen der harten
Explosivlaute anwenden. Bei der Betrachtung der obigen beiden
Reihen für die Variationen der Lippenlaute/ und d fällt ja ohne wei-
teres auf, daß die Breite der experimentell herzustellenden Schwan-
kungen des weichen Verschlußlautes sehr viel größer als die des
harten ist. Jener kann zwischen tönender und tonloser, zwischen
aspirierter und unaspirierter Form wechseln, und er kann unter be-
stimmten Bedingungen in den tonlosen harten Explosivlaut p über-
gehen, während der letztere immer nur die verschiedenen Stufen
aspirierter Aussprache mit dem kurzen Verschluß ohne Aspiration
als Grenzfall durchwandert. Dennoch gibt es auch hier einen ein-
greifenden Wechsel, der, wie die Geschichte zeigt, in den verschie-
densten Sprachen als Folge eines länger dauernden Gebrauchs ein-
getreten ist, und der auch sporadisch in der inviduellen Beobachtung
vorkommt; letzteres freilich nur bei willkürlichen Experimenten
oder aber beim Sprechenlernen des Kindes. Da beobachtet man
nämlich, daß ein Lautgebilde wie p'mif mit mehr oder weniger
starker Aspiration des harten Anfangslautes gelegentlich durch dissi-
milatorische Erleichterung zunächst in pfimt und dann, bei noch
weiter beschleunigter Rede, in fiint übergeht. Der letztere Über-
gang läßt sich leicht mechanisch erzwingen, wenn man das Wort
mehrmals nacheinander oder in Kombinationen wie fmif pfiint
fünf pfiint fünf pfiint . . spricht. Diese verwandeln sich fast un-
vermeidlich in fünf fiint fünf fitnt fünf fiint ... Es besteht also
auch für die harten Explosivlaute wenigstens innerhalb einer länger
dauernden Reihe von Veränderungen die Möglichkeit einer weiteren
Umwandlung, die auf der im Anlaut stets vorhandenen Verbin-
dung dieser Laute mit einer Aspiration beruht. Denn aus dieser
geht nun, unter Einschaltung eines dissimilatorischen Zwischen-
stadiums, das auch dauernd erhalten bleiben kann, eine Spirans
hervor, die je nach der Verbindung mit andern Lauten bald tonlos
(/, w), bald tönend ist (zy, v). So sprechen wir in der Tat das Wort
Pfund im Hochdeutschen pfiint\ wir finden aber daneben als dia-
lektische Abweichungen sowohl die Form ;f)unt wie fnnt. Auch
von diesen Veränderungen können nun wahrscheinlich Assozia-
Tempo der Rede und Wortbetonung. aqj
tionswirkungen ausgehen. Die Umwandlung in die Spirans wirkt
auf andere, minder zwingende Fälle hinüber. Dabei kommt dann
namentlich in Betracht, daß in einem früheren Stadium der Sprache
aspirierte Formen infolge einer langsamen Redeweise leichter auch
im Inlaut der Wörter vorkommen konnten, wo sie jetzt ver-
schwunden sind. So war die ursprüngliche Wortform für den
Apfel wahrscheinlich ^ap'nl^ woraus schon im Althochdeutschen
nebeneinander die Formen apfiil und affnl [affoltra Apfelbaum),
im Neuhochdeutschen Apfel und daneben niederd, Appel hervorge-
gangen sind.
Wie hier die geschichtliche Entwicklung der Laute Änderungen
erzeugt hat, die sich unter Umständen unwillkürlich in dem Mechanis-
mus unseres gewöhnlichen Sprechens ereignen, so lassen nun anderseits
auch die in der Sprache anscheinend fixierten Laute deutliche Nuancen
der Klangfärbung und Tonhöhe erkennen, so daß ein und dasselbe
Lautzeichen, mag man noch so sehr den üblichen Buchstabenbezeich-
nungen durch weitere phonetische Symbole zu Hilfe kommen, eigent-
lich immer eine Fülle individueller Laute unter sich begreift. Diese
Lautschwankungen erweisen sich aber durchweg als Kontaktwir-
kungen, bei denen die Vokale ebenso von den umgebenden Konso-
nanten wie diese hinwiederum von den zwischen ihnen liegenden
und besonders von den vorausgehenden Vokalen abhängen. Neh-
men wir z. B. eine Reihe von Wörtern wie Dach^ Sache ^ pocJie^
suche, Zeche ^ Sichel usw., so ist die Spirans in keiner dieser Wörter
der gleiche Laut, sondern die Verengerungsstelle, die dem Reibungs-
geräusch seinen Klangcharakter gibt, richtet sich in erster Linie
nach dem vorangehenden Vokalklang, auf den die Artikulationsor-
gane noch eingestellt sind, wenn der Geräuschlaut beginnt; sie
richtet sich aber auch etwas nach dem folgenden Laut und ist
z. B. eine andere, wenn das Wort mit der Spirans schließt, als
wenn dieser wieder ein Vokal nachfolgt. So liegt in Dach die
verengerte Stelle weiter zurück als in Sache ^ und sie rückt dann
mit der Erhöhung des vorausgehenden Vokals immer weiter nach
vorn. Die gewöhnliche phonetische Unterscheidung dieser pala-
talen Spirans in eine vordere ^i ("''^^)j und in eine hintere /^
[Dach] greift daher nur gewisse Grenzfälle heraus, zwischen denen
alle möglichen Übergänge stattfinden können. Dabei sind diese
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. 32
4q8 Der Lautwandel.
Variationen in erster Linie v^on dem vorausgehenden, in geringerem
Grade von dem nachfolgendem Vokal bestimmt. So ziehen die
hohen Vokale e, i und ihre Verbindungen, wie eii., ei, ä, ?V, die
vordere Spirans Xt^ ^^^ tieferen Vokale «, o, ii die hintere i^
nach sich. Aber indem hierbei jedesmal die Vokaleinstellung auf
den folgenden und bis zu einem gewissen Grad auch auf den
vorangehenden palatalen Verschluß herüberwirkt, hat in jedem ein-
zelnen dieser Fälle die Spirans wieder einen etwas abweichenden
Charakter. Selbst auf die Stimmbänder wirkt diese Adaptation
an den Vokal zurück, indem der Laut /^ im allgemeinen tonlos,
y^ aber von langsamen tönenden Schwingungen begleitet ist, die
zunächst wahrscheinlich in der Mundhöhle, namentlich am Gaumen-
segel entstehen, dann aber durch Resonanz auch dem Kehlkopf
sich mitteilen. Wie der Konsonant dem Vokal, so adaptiert sich
aber umgekehrt dieser jenem. So ist der rt'-Laut schon ein
anderer in Dadi als in Sache. Dort ist seine Klangfarbe heller
als hier, wo die Einstellung auf das e der folgenden Silbe bereits
trübend zurückwirkt. Ähnlich variiert das englische ih in laut-
lich einander so nahestehenden Wörtern wie ethe}- (Äther) und
either (jeder): dort ist es interdental und tonlos, hier postdental und
tönend usw. ^).
Auf diese Weise ist jeder Sprachlaut eigentlich ein unendlich
variables Gebilde. Seine jedesmalige Färbung ist aber abgesehen
von andern Bedingungen, die auf ihn wirken mögen, zunächst ein
Produkt der Kontaktwirkungen, die durch seine Verbindung mit
andern Lauten entstehen, und diese sind, wie die Kontaktwirkungen
überhaupt, stets zugleich von der Geschwindigkeit der Artikulation
I) Herr Dr. Felix Krüger hatte die Güte, an einem von ihm für anderweitige
Beobachtungen über Sprechmelodie und ähnliches verwendeten Apparat die akusti-
schen Eigenschaften solcher Wortgruppen wie der obenerwähnten zu untersuchen.
Dabei wurde der Stimmton mittels der Schwingungen des Schildknorpels nach
einem schon von Rousselot angewandten, aber wesentlich vervollkommneten Ver-
fahren registriert, während gleichzeitig der Exspirationsdruck durch die direkte Ein-
wirkung des Luftstroms auf eine Mareysche Hebelvorrichtung ermittelt wurde, und
zum Zweck der Zeitbestimmungen eine Stimmgabel von bekannter Tonhöhe ihre
Schwingungen auf die gleiche berußte Papierfläche aufzeichnete. Dabei lassen sich
namentlich mit Hilfe der Kombination der Exspirationskurve und der Stimmtonkurve
die obenerwähnten Erscheinungen überaus deutlich objektiv feststellen.
Tempo der Rede und Wortbetonung. ^gg
abhängig". Die Kontaktwirkungeii an sich reichen demnach weit
über jenes engere Gebiet der progressiven und regressiven Assimi-
lationen und Dissimilationen hinaus, das oben zunächst unter jenem
Namen zusammengefaßt wurde, und es umfaßt eine Fülle fei-
nerer Abänderungen der Laute, die von einer Lautverbindung zur
andern wechseln können. Mögen nun diese auch in den unserer
unmittelbaren Beobachtung zugänglichen Grenzen nur relativ un-
bedeutende Schwankungen hervorbringen , so können sie doch
möglicherweise zu großen Umwandlungen führen, falls ihnen nur
die Gelegenheit gegeben sein sollte allmählich anzuwachsen, da-
durch, daß sich ihre Ursachen häufen oder stetig im gleichen
Sinne fortdauern. Offenbar sind daher, gegenüber diesen notwen-
dig von früh an in der Sprache wirksamen Kontakten, jene un-
mittelbar auf solche zurückführenden Erscheinungen der Assimi-
lation, Dissimilation usw. relativ junge und durch die Möglichkeit
der Vergleichung eines vor und nach eingetretener Lautänderung
bestehenden Zustandes besonders augenfällige Beispiele eines um-
fassenden Prozesses, der sich in den mannigfachsten Verzweigun-
gen von den Urzeiten der Sprache an bis in die Gegenwart er-
streckt.
Mit den zuletzt betrachteten Erscheinungen stehen nun sichtlich
die Lautumwandlungen, die man besonders in den germanischen
Sprachen in dem Gesetz der Lautverschiebungen zusammen-
faßt, zu denen sich aber auch in andern, zum Teil weit entfernten
Sprachgebieten analoge Erscheinungen vorfinden, in nahem Zusam-
menhang. Jener von Jakob Grimm entdecld:e regelmäßige Laut-
wandel besteht übrigens aus zwei zeitlich weit voneinander ablie-
genden Vorgängen. Die erste oder gemeingermanische Laut-
verschiebung liegt in der vorhistorischen Zeit. Da sie alle ger-
manischen Sprachen erfaßt hat, so läßt sich annehmen, daß zur
Zeit, da sie erfolgte, die Germanen noch ein einziges Volk von
nicht allzu großer Verbreitung waren. Wesentlich abweichend ver-
hält sich die zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung,
die in historischer Zeit, etwa in der Periode der Merowinger, all-
mählich entstand, dabei jedoch auf einen Teil der deutschen Stäm-
me, nämlich auf die oberdeutschen und einige benachbarte der
Franken und Sachsen, beschränkt blieb. Demnach zeigen, abge-
32*
500
Der Lautwandel.
sehen von dem Gotischen, das ausgestorben ist, und von dem
Nordgermanischen, das sich früher als die andern von dem Urger-
manischen geschieden hat, noch heute das Englische, Niederlän-
dische und Niederdeutsche im ganzen einen Zustand, der der ersten
Lautverschiebung entspricht, während das Althochdeutsche mit
seinen Weiterentwicklungen in das Mittel- und Neuhochdeutsche
durch die zweite Lautverschiebung beeinflußt ist. Auch bei dieser
hat aber der Prozeß nicht stillgehalten, sondern mit den übrigen
Lauten sind die Verschlußlaute noch weiteren Veränderungen unter-
worfen gewesen. So sind denn überhaupt jene beiden Perioden
des Lautwechsels nicht als Zeiten alleinstehender Umwälzungen an-
zusehen, zwischen denen der Lautbestand unverändert geblieben
wäre, sondern sie bezeichnen nur Kulminationspunkte eines Pro-
zesses, wo durch besondere Bedingungen ein ungewöhnlich rascher
Wandel eintrat. Wie wenig hier von einem Stillstande die Rede
sein kann, das bezeugt, abgesehen von den fortwährenden, bis in
die Gegenwart reichenden Veränderungen, die Tatsache, daß in der
Zeit zwischen der ersten und der zweiten Lautverschiebung die
Spaltung des Urgermanischen in seine Töchtersprachen zum großen
Teil eingetreten ist. So sind denn auch die einzelnen Lautumwand-
lungen, aus denen sich die zweite, und ohne Zweifel nicht minder
diejenigen, aus denen sich die erste Verschiebung zusammensetzte,
keineswegs alle gleichzeitig vor sich gegangen, sondern sie haben
teils eine Lautgruppe nach der andern, teils einen und denselben
Laut je nach seinem Vorkommen in verschiedenen Wörtern nicht
auf einmal ergriffen. Am gleichförmigsten verhalten sich schon
innerhalb der ersten Lautverschiebung die harten Verschlußlaute^).
Was im Indogermanischen als Tenuis vorausgesetzt werden darf
und im Sanskrit, Griechischen und Lateinischen durchweg diesen
Charakter bewahrt hat, das ist im allgemeinen in den germanischen
I) Vgl. rücksichtlich der Verschiedenheiten der drei Klassen von Verschluß-
lauten, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, Sievers, Grundzüge der
Phonetik, '^ S. 127 ff., und speziell mit Rücksicht auf die Fragen der Lautverschiebung
Kräuter, Zur Lautverschiebung, 1877. Hinsichtlich der näheren sprachgeschicht-
lichen Verhältnisse sei außerdem für die erste Lautverschiebung auf W. Streitberg,
Urgermanische Grammatik, i8g6, S. 97 ff., und F. Kluge, in Pauls Grundriß, I,^
S. 365 ff., für die zweite auf O. Behaghel, ebenda S. 722 ff., verwiesen.
Tempo der Rede und Wortbetommg. 501
Sprachen ursprünglich in die Spirans übergegangen: / in/, t in dz
(engl. tJi\ k in ch oder in //, z. B. lat. pallidtis, engl, fallow *fahl*,
lat. tuli., tolerare^ got. dziilan ''dulden', lat. capio^ got. Jiafjan 'heben'.
Was im Indogermanischen eine Media war [b^ d^ g) und ebenfalls
in den klassischen Sprachen Media blieb, ist dagegen im Germa-
nischen zu einer Tenuis geworden, z. B. das b in lat. liibricus
^'schlüpfrig', got. sliupan "schlüpfen', das d in lat. diio^ engl, two
"zwei', g in gr. yövv^ got. kniit 'Knie'. Etwas verwickelter verhiel-
ten sich die aspirierten Laute, welche nicht bloß im Germa-
nischen, sondern auch im Griechischen und Lateinischen, die in den
vorigen Fällen den vorauszusetzenden Urzustand des Indogermani-
schen relativ unverändert bewahrt haben, Lautverschiebungen er-
fuhren. Das Indogermanische enthielt, wie man annehmen muß,
zwei Reihen aspirierter Verschlußlaute, die Tenues aspiratae,
/'*, ^^ k'\ und Mediae aspiratae, b'\ d'\ g^\ von denen die erste-
ren in kleinerer, die letzteren in größerer Zahl vertreten waren. Im
Griechischen haben sich diese aspirierten Laute wohl am längsten
erhalten, die Tenues aspiratae unverändert, die Mediae aspiratae,
nachdem sie in Tenues aspiratae umgewandelt waren. Später sind
aber alle diese aspirierten Verschlußlaute durch Lockerung der Ver-
schlußstelle in Spiranten übergegangen, und im Lateinischen ist
diese Erweichung der ursprünglichen Aspiratae von früh an vor-
handen, auch hat sie sich zuweilen mit einer Verschiebung der
Artikulationsstelle, z. B. mit dem Übergang von labialem in velaren
Verschluß, verbunden. So ist griech. ocpallio urspr. sp'hallo^ dann
sfallo gesprochen worden, dem altind. dlmmas entspricht griech.
■O-uaog, wo & ebenfalls zuerst als aspirierte Tenuis, später, ähnlich
dem engl, t/i, als Spirans gesprochen wurde; ebenso wurde ein
indogerm. *g^ortos im Griech. zu /o^rog, im Lat. zu Jiortus usw.
Diesem Verhalten der beiden klassischen Sprachen entspricht nun
das Germanische durchaus bei der Tenuis aspirata: /'', k^\, ^ werden
in der Regel zu // oder /, dz (engl. ///), // ermäßigt, z. B. griech.
Ofpc(?Juo, lat. /a//o, ahd. fallan 'fallen', idg. '^kJiabJiemi^ lat. Jiabeo^
ahd. Jiabicn 'haben'. Dagegen sind die Mediae aspiratae b^^ d^, g'^
wechselnderen Schicksalen unterworfen gewesen, wobei insbesondere
auch die Stellung zu benachbarten Lauten eine wichtige Rolle spielte.
Im allgemeinen sind sie nämlich durch ein Zwischenstadium von
502
Der Lautwandel.
Media aspirata oder tönender Spirans in die reine tönende Media
b^ d^ g übergegangen, während der Einfluß der Stellung hauptsäch-
lich in der Verschiedenheit der Laute im An-, In- oder Auslaut des
Wortes und in der Abhängigkeit von dem etwa vorausgehenden
Vokal hervortritt. Man vergleiche z. B. die Aussprache des g in
Gabe und legen oder in Tag (= tak] und Tages ^ in lagcn^ legen ^
liegen^ lügen usw. Die gleiche Schreibung, die sich der gewöhn-
lichen Buchstabenzeichen bedient, birgt hier erhebliche Unterschiede,
die bald als verschiedene Stufen, bald auch als verschiedene Diffe-
renzierungen des eingetretenen Lautwandels angesehen werden
können.
Die zweite, hochdeutsche Lautverschiebung läßt sich nun
in einem gewissen Sinn als eine auf bestimmte Dialekte beschränkte
Weiterentwicklung der ersten betrachten. Charakteristisch ist in die-
ser Beziehung, daß die durch diese entstandenen Spiranten an der
zweiten keinen Anteil nehmen, so daß sich dieselbe im wesentlichen
auf die Verschlußlaute /, /, k und b^ d, g beschränkt. Von ihnen
gehen die Tenues durchweg in Spiranten über: so entsprechen sich
got. sliupan und ahd. sliofan *^schlüpfen^, engl, tzvo und hochd. zicei^
got. kniu und ahd. chnin 'Knie^ Die ersteren Formen repräsentieren
den durch die erste, die letzteren den durch die zweite Verschie-
bung hergestellten Zustand. Irregulärer ist wiederum die Verände-
rung der Mediae. Doch ist hier bei d und ^ der Übergang in die
Tenuis vorherrschend, z. B. got. dags^ engl, day^ ahd. tac 'Tag',
niederl. liggen^ ahd. licken (neben ligen) *^liegen^ Bei der labialen
Media ist dieser Übergang nur vorübergehend in einzelnen Fällen
eingetreten, und auch bei den übrigen ist nicht selten eine Rück-
wärtsbewegung vorgekommen [licken in liegen).
Jakob Grimm hat den ganzen Vorgang der germanischen Laut-
verschiebung, der so trotz der angedeuteten Schwankungen und der
Zusammensetzung aus mehreren voneinander unabhängigen Laut-
wandlungen einen in seiner allgemeinen Richtung einheitlichen Cha-
rakter zeigt, mit einem Rade verglichen, das sich immer in einer
und derselben Richtung um seine Achse drehe. Die drei Laut-
formen der Media, der Tenuis, der Aspirata und Spirans betrachtete
er gewissermaßen als die drei Speichen dieses Rades (Fig. 35), und
in der Media, als dem zwischen den Gegensätzen der andern mitten-
Tempo der Rede und Wortbetonung.
503
Temas,
Aspirnta-
inne liegenden Laute, glaubte er den Ausgangspunkt der ganzen
Bewegung sehen zu können. Das Gesetz lautete dann einfach:
»Media geht über in Tenuis, Tenuis in Aspirata und Aspirata wie-
der in Media« ^). Bei der Anwendung dieses Bildes ist aber nicht
bloß keine Rücksicht darauf genommen, daß die Lautverschiebung
kein simultaner, alle Phasen eines Umlaufs mit einem Mal um-
fassender Vorgang ist; sondern es sind auch Lautgruppen in eine
einzige vereinigt, die in pho-
netischer Hinsicht ebenso wie
nach ihrer Stellung im Prozeß
der Lautverschiebung eine ab-
weichende Bedeutung haben:
so besonders die Tenues aspi-
ratae, Mediae aspiratae und
Spirantes. Auch ist nicht zu
übersehen, daß das Schema
nur die Hauptstationen des
Vorgangs veranschaulicht und
dabei nicht nur von den
Zwischenstufen überhaupt,
sondern auch davon abstra-
hiert, daß gerade diese Zwischenstufen wieder in verschiedenen
Fällen variieren können. Endlich und hauptsächlich bleibt bei
jeder solchen abstrakten Formulierung des Verschiebungsgesetzes
der große Einfluß, den benachbarte Laute und die Stellung des
Lautes im Wort ausüben, ganz außer Betracht. Dieser modifiziert
aber das Ergebnis so bedeutend, daß jede einzelne Lautverschie-
bung, sobald diese Bedingungen irgendwie wechseln, wieder etwas
abweicht.
Überblickt man nun zunächst die allgemeine Richtung der Laut-
änderungen sowie die Abweichungen, die sie im einzelnen darbieten.
Fig. 35. Schema der germaniFchen Laut-
verschiebungen nach Grimm.
^) Jakob Grimm, Geschichte der deutschen Sprache,"* I, S. 276. Bei Grimm
lautet das Bild allerdings etwas anders. Nach dem Vorgang von R. v. Raumer
(Über die Aspiration und die Lautverschiebung, 1837) vergleicht er die Lautver-
schiebung mit »drei Wagen, die in einem Kreis umlaufen«. In der Sache ist
natürlich kein Unterschied, aber das seither meist gebrauchte Bild des dreispeichigen
Rades ist einfacher und deutlicher.
504 üer Lautwandel.
SO springt in die Augen, daß diese Erscheinungen in beiden
Beziehungen im wesentlichen den Modifikationen entsprechen, welche
die drei Klassen der Verschlußlaute infolge der experimentellen
Variation der Artikulationsbedingungen erfahren. In den Verände-
rungen, die sich in der auf S. 493 ff. dargestellten Reihenfolge
an den labialen Verschlußlauten hervorbringen lassen, wiederholen
sich, wenn wir noch die unter bestimmten länger einwirkenden
Ursachen oder bei den Sprechversuchen des Kindes zu beobach-
tenden Übergänge in die Spirans hinzunehmen, beinahe Schritt
für Schritt gewisse Erscheinungen der Lautverschiebung. Sie ent-
sprechen dieser sowohl in ihrer allgemeinen Richtung wie in vielen
einzelnen Zügen: so in der größeren Zahl von Stufen, welche die
Media gegenüber der Tenuis durchlaufen kann, ferner in dem Ein-
fluß, den die Stellung im An-, In- oder Auslaut ausübt, endlich in
der Wirkung der Qualität, Dauer und Betonung der umgebenden
Vokale. So haben sich im Anlaut bei unmittelbar folgendem Vokal
noch heute die aspirierten Tenues erhalten, während sie im Inlaut
in Affrikatae oder weiterhin in Spiranten, und endlich im Auslaut
in stumme Explosivlaute übergegangen sind. Die Media aspirata
dagegen ist sehr frühe schon im Anlaut zur tönenden Media ge-
worden, während sie im Inlaut Affrikata blieb oder durch diese in
eine tönende Spirans überging, im Auslaut aber dem stimmlosen
Explosivlaut zustrebte: lauter Veränderungen, die im wesentlichen
mit den auf S. 494 verzeichneten Reihen übereinstimmen^). Aus
diesem Parallelismus darf man wohl den Schluß ziehen, daß die
im Germanischen in besonders weitem Umfang, in den andern indo-
germanischen Sprachen in engeren Grenzen, aber im ganzen in
') Delbrück hat gegen die Darstellung der Lautverschiebungen in der ersten
Auflage des vorliegenden Werkes eingewandt, die hier erwähnten Übergänge seien
von mir übersehen worden; aixch führt er dieselben als entscheidende Instanz gegen
den Zusammenhang der Verschiebungen mit der Artikulationsgeschwindigkeit an
(Grundfragen der Sprachforschung, S. 103). Offenbar hat Delbrück dabei nur das
in Fig. 35 symbolisierte Schema vor Augen gehabt und nicht beachtet, daß eben-
sowohl auf diese Zwischenstufen wie auf ihre Abhängigkeit von der Stellung im
An-, In- oder Auslaut im Text mehrfach hingewiesen ist (vgl. i. Aufl. S. 408, 415)-
Prüft man nun aber diese Zwischenstufen näher hinsichtlich ihres Vorkommens und
ihrer Artikulationsbedingungen, so sind sie, wie aus der obigen Darlegiing zu er-
sehen ist, nicht Zeugnisse gegen, sondern solche für die vorgetragene Theorie.
Tempo der Rede und Wortbetonung. =0^
Übereinstimmendem Sinn eingetretenen Lautverschiebungen der Kon-
sonanten Prozesse sind, die, ganz wie die vielfach gleichzeitig mit
ihnen erfolgten Vokalkontraktionen, Elisionen und Lautschwächun-
gen am Ende des Wortes, sowie in Übereinstimmung mit den
Kontaktänderungen der Laute, zum größten Teil als Wirkungen
der beschleunigten Artikulation zu deuten sind. Außerdem sind
aber alle diese Wandlungen nicht überall die nämlichen für einen
gegebenen Laut oder Lautkomplex, sondern sie sind von seiner
Stellung im Wort, von der Betonung, Dauer und Klangfarbe der
Nachbarlaute abhängig. In diesem Sinne fällt daher jeder reguläre
Lautwandel zugleich in das Gebiet der Kontaktwirkungen. Außer-
dem werden wir, gemäß den ausgedehnten Einflüssen der Laut-
wie Begriffsassoziationen , die uns früher in zahlreichen Erschei-
nungen begegnet sind, unbedingt voraussetzen dürfen, daß auch
bei der Ausbreitung bestimmter Lautänderungen assoziative Ferne-
wirkungen wirksam waren, durch die sich eine zuerst im engeren
Umkreis begonnene Veränderung auf das weitere Vorkommen der
gleichen Laute übertragen konnte, sofern nicht sonstige Bedin-
gungen, namentlich abweichende Kontaktverhältnisse störend in den
Weg traten.
Natürlich lassen nun aber diese allgemeinen Bedingungen hier
ebensowenig, wie bei den nach ihrem Ursprünge verwandten Assi-
milations- und Dissimilationswirkungen der Laute, irgendeinen Schluß
auf die besonderen historischen Anlässe zu, die etwa zu einer
solchen Lautänderung geführt haben. Niemand kann den Übergang
des Wortes supimts in sninmus oder bnunben in brummen auf ein
bestimmtes geschichtliches Ereignis zurückführen. Mit den ein-
zelnen Akten der germanischen oder irgendeiner andern Lautver-
schiebung verhält es sich nicht anders. Hier läßt sich immer nur
einerseits auf die allmähliche, weder alle Laute auf einmal, noch so-
fort den einzelnen ausnahmslos ergreifende Art des Vorgangs,
anderseits auf jenes Prinzip der Mutation hinweisen, nach dem sich
überall im organischen Leben bestimmte Änderungen langsam vor-
bereiten, um dann unter der Wirkung auslösender Kräfte mehr oder
minder plötzlich um sich zu greifen, ohne daß diese Kräfte selbst
in der Regel für uns nachweisbar sind (S. 476).
Um so wichtiger ist nun aber die Tatsache, daß die Lautver-
■o6 Der Lautwandel.
Schiebungen offenbar ebenso wie die Vokalkontraktionen, die Laut-
schwächungen und Kontaktwirkungen Erscheinungen sind, die in
den verschiedensten Sprachen nicht beliebig variieren können, son-
dern daß auch hier eine allgemeinere Gesetzmäßigkeit herrscht.
Obgleich die in unabhängigen Sprachgebieten vorkommenden Er-
scheinungen in diesem Falle wiederum niemals völlig identisch sind,
so verlaufen sie doch in übereinstimmender Richtung. Daß hier
nur von einer solchen die Rede sein kann, ist ja schon deshalb
selbstverständlich, weil die Ausgangspunkte der Veränderungen jedes-
mal abweichende sind, außerdem aber die weiter hinzutretenden
Einflüsse in der mannigfaltigsten Weise wechseln. Gegenüber dieser
Ungeheuern Variabilität der Bedingungen ist jedoch die trotzdem
zu beobachtende Übereinstimmung überraschend groß. Dies gilt
nicht bloß von den Vokalkontraktionen, Elisionen und Laut-
schwächungen, sondern sogar von dem Wandel der Verschluß-
laute. Ein merkwürdiges Beispiel bilden hier nach den Ermitte-
lungen C. Meinhofs die Bantusprachen Südafrikas. So finden sich
z. B. in dem Peli für die aus den gegenwärtig bestehenden Dia-
lekten zu erschließenden Konsonanten des » Ur-Bantu « folgende
Vertretungen : y^ für k. f für /, k für ng^ iit für nd^ inp für iiib^ nth
für nf^). Das sind Vertretungen, die hinsichtlich des Übergangs
der Tenuis in die Spirans vmd in gewissem Umfang auch der Media
in die Tenuis, der aspirierten in unaspirierte Laute einigen im Ger-
manischen eingetretenen Verschiebungen durchaus entsprechen^).
Andere Wandlungen weichen ab, zeigen dafür aber um so charak-
teristischer den Einfluß der Betonung und Dauer der umgebenden
Laute. So wird die Tenuis k in betonter Stammsilbe meist zur
1) C. Meinhof, Grundriß einer Lautlehre der Bantu- Sprachen, 1899, S. 31 ff.
und die Tabellen S. 194 ff.
2) Auf diese Analogien hat schon H. Meyer aufmerksam gemacht, Zeitschr. f.
deutsches Altertum u. deutsche Literatur, Bd. 54, 1901, S. loS. Gleichzeitig erhebt
aber Meyer gegen den Einfluß des Redetempos auf die Lautverschiebungen den Ein-
wand, daß sich zu keiner Zeit im germanischen Altertum ein Anlaß zu einer plötz-
lichen Beschleunigung nachweisen lasse. Dieses auch noch anderwärts geäußerte
Bedetiken beruht doch wohl auf der Nichtbeachtung des oben geltend gemachten, in
der organischen Natur mannigfach bestätigten Mutationsprinzips sowie auf der Unter-
schätzung jener Komplikation der Bedingungen, aus der die auslösenden Kräfte der
Wandlungen entspringen.
Tempo der Rede und Wortbetonung. cq?
Aspirata kJi. Besonders bemerkenswert ist endlich noch, daß bei
den dem Ackerbau lebenden Stämmen, die, in der Kultur höher
stehend, durch einen regeren Verkehr sich auszeichnen, der Laut-
wandel stärker um sich gegriffen hat als bei den nomadisierenden
Völkern').
d. Lautänderungen unter dem Einfluß des Akzentwechsels.
Zu den auf allgemeinen Kultureinflüssen beruhenden Änderungen
der Sprechweise gehören neben dem Tempo der Rede auch die
Veränderungen der Betonung, deren schon oben mehrfach gedacht
werden mußte, weil sie oft als komplizierende Nebenbedingungen
hinzutreten. Solcher Veränderungen lassen sich im allgemeinen
wieder zwei unterscheiden. Die eine besteht in dem Übergang aus
einer mehr dynamischen in eine mehr musikalische Betonung und
umgekehrt, die andere in dem Ortswechsel der Betonung, der
hauptsächlich beim dynamischen Akzent eintritt, dabei aber jedes-
mal zugleich gewisse Verschiebungen der Tonhöhe, also in diesem
Sinn Änderungen des Tonakzentes herbeiführt. Unter diesen Über-
gängen sind die der ersten Art oben schon als Momente erwähnt
worden, die offenbar in hohem Grade durch Vokaländerungen und
Elisionen sowie indirekt auch durch Wandlungen der Verschluß-
laute auf den Lautcharakter der Sprache einwirken, die aber wegen
unserer Unkenntnis der Ausgangspunkte und des Verlaufs solcher
Änderungen zumeist noch der näheren Analyse unzugänglich sind
(S. 468 ff.).
Viel deutlicher lassen sich im allgemeinen diejenigen Wirkungen
nachweisen, die mit den Verschiebungen der Betonung zusammen-
hängen. Sie treten zunächst an den Änderungen hervor, die der
Vokalklang erfährt, je nachdem er einer betonten oder unbetonten
Silbe angehört. Dabei durchkreuzt sich aber diese Wirkung wiederum
mit einer andern, die von der Qualität der umgebenden Verschluß-
laute abhängt. Indem diese die Mundhöhle in verschiedener Weise
verengern, wirken sie zugleich auf die Klangfarbe der umgebenden
Vokale ein, und diese Wirkung muß, wie schon W. Scherer hervor-
gehoben hat, um so stärker sein, je größer die Geschwindigkeit der
') Nach brieflichen Mitteilungen des Herrn C. Meinhof.
co8 Der Lautwandel.
Rede ist. Auch wird naturgemäß derjenige Vokal, der zu seiner
reinen Intonation die volle Öffnung des Mundraums erfordert, das
offene «, von solchen Trübungen am meisten getroffen. Kommt
dazu noch, wie z. B. im modernen Englisch, eine Artikulationsbasis,
die an und für sich das volle Ausströmen des Stimmklangs hindert,
so verliert die Sprache gänzlich den reinen a-Laut, und auch die
übrigen Vokale können an dieser je nach der Einstellung auf die
nachfolgenden Verschlußlaute wieder variierenden Trübung teil-
nehmen^). Dem gegenüber ist nun die dynamische Betonung im
allgemeinen stets von einer doppelten Wirkung begleitet: sie erhöht
den Vokalklang der betonten, und sie dämpft die Klangfarbe des
Vokals der folgenden unbetonten Silbe. Beide Wirkungen geben
sich deutlich an den Verschiebungen zu erkennen, die sie beim
Ortswechsel des Akzentes erfahren. Man nehme z. B. zusammen-
gehörige Wortpaare wie griech. Ttareoeg und än:c(TOQog, cpgeveg
und ucpQoveg, ipevdeg und ipsvdog, wo der Kontrast der helleren
Klangfarbe des e und der dumpferen des o regelmäßig den Orts-
wechsel des dynamischen Akzentes begleitet^). Daß es sich hier
um Erscheinungen handelt, die zwar durch die Komplikation mit
andern Ursachen mehr oder minder verdeckt werden können, an
sich aber auf allgemeingültigen psychophysischen Bedingungen der
Lautgebung beruhen, erhellt wieder daraus, daß sich analoge Wir-
kungen von selbst einstellen, wenn man experimentell in beliebige
Lautgruppen durch willkürlichen Wechsel der Betonung die gleichen
Bedingungen einführt. Wählt man auch hier um der Einfachheit
der Bedingungen willen Lautgruppen mit überall gleichem Vokal,
wie ä/c?, äpä^ äöä, aba und ähnliche, und registriert man die
Schwingungen der tönenden Laute, so ist, obgleich in diesem
Falle der Vokalklang für das Ohr kaum merklich geändert erscheint,
doch regelmäßig der betonte Vokal der höhere, was namentlich
dann deutlich hervortritt, wenn er zugleich gedehnt ist [apa^ äba).
Augenscheinlich setzt sich diese Wirkung aus einer physischen und
1) Scherer, Zur Geschichte der deutschen Sprache, ^ S. 56 ff. Victor, Elemente
der Phonetik,3 S. 279.
2) H. Örtel, Lectures on the Study of Language, 1901, p, 217. Über ent-
sprechende Erscheinungen im Altindischen vgl. J. Wackernagel, Altindische Gram-
matik, I, S. 64 ff.
Tempo der Rede und Wortbetonung. cqq
einer psychischen Komponente zusammen. Rein physikalisch be-
dingt nämlich schon die stärkere Bewegung der Stimmbänder nicht
bloß durch Beimischung höherer Obertöne eine schärfere Klang-
farbe, sondern sie erhöht auch den Grundton. Sodann aber ist
jeder Betonungswechsel mit einer psychischen Kontrastwirkung ver-
bunden, die wie jeder Kontrast das Moment der Selbstverstärkung
in sich trägt: der Kontrast der dynamischen Betonung assoziiert
sich also mit einem entsprechenden Kontrast in der Empfindung
der Tonhöhe, worauf die letztere unmittelbar den Stimmton selbst
verändert"). Diese Beobachtungen zeigen, daß dynamischer Akzent
und Tonakzent nicht bloß nebeneinader vorkommen, sondern daß
sie sich auch wechselseitig beeinflussen können. Wenn man der
einen Sprache, wie dem Englischen, dynamische Akzente, einer
andern, z. B. dem Französischen, Tonakzente zuschreibt, so handelt
es sich in der Tat immer nur um ein mehr oder minder. Auch
ein Wechsel zwischen beiden, wie er in der Geschichte mancher
Sprachen eingetreten ist, wird daher niemals in einem sprungweisen
Übergang, sondern lediglich darin bestehen, daß von den bei jeder
Betonung verbundenen beiden Faktoren der bisher mehr zurück-
tretende überwiegend wird. Dies kann natürlich so allmählich und
stetig geschehen, daß ein bestimmter Zeitpunkt des Wechsels nicht
anzugeben ist. Abgesehen von den Berührungen mit andern Sprachen
können hier allmähliche Änderungen in dem psychischen Charakter
des Volkes einen stetig wirkenden Einfluß äußern, da Akzent und
Sprechmelodie, wie wir bei der Erörterung der Satzbetonungen noch
sehen werden, in hohem Grade von dem Afiekt abhängen^).
Nun ist der Vokalismus der Sprache solchen durch musikalische
und dynamische Betonung erzeugten Lautänderungen zunächst
ij Auch hier verdanke ich Herrn Dr. F. Krueger die MitteiUing mehrerer Stimm-
tonkurven der obigen Lautgruppen, die, mittels der Registrierung der Schild-
knorpelschwingungen gewonnen, außerordentlich deutlich die Tonerhöhung der be-
tonten Silbe und die Zunahme dieser Tonerhöhung mit der relativen Stärke der
Betonung zeigen. Demzufolge Ist z. B. die Erhöhung des zweiten Vokals in apä
merklich größer als in aba, weil der starke und tonlose Explosivlaut eine schärfere
Akzentuierung der folgenden Silbe mit sich führt. Die Tonerhöhung selbst beträgt
in aba durchschnittlich etwas mehr als eine Sekunde, in apä kann sie ungefähr
eine Terz erreichen.
2) Vgl. Tl. II, Kap. VII, Nr. VH.
5IO
Der Lautwandel.
ausgesetzt. Denn die Vokale sind es, auf denen in beiden Fällen
die Betonung ruht, und an denen nicht minder das Sinken derselben
zum Ausdruck kommt. Aber indirekt können diese Momente doch
auch auf die angrenzenden Verschlußlaute zurückwirken, ebenso
wie umgekehrt die Vokale von den zwischen sie tretenden und
namentlich von den ihnen folgenden Konsonanten die Klangfärbung
empfangen, die der entsprechenden Mundstellung zukommt.
Unter den mannigfachen hierher gehörigen Erscheinungen sind
besonders die auf germanischem Gebiet unter dem Namen des
Vernerschen Gesetzes zusammengefaßten bemerkenswert^). Nach
diesem Gesetze sind nämlich die eingetretenen Lautverschiebungen
in dem Sinne von der Betonung abhängig, daß die endgültige Ver-
schiebung eine andere ist, wenn in der Zeit, da die Difierenzierung
der Laute erfolgte, die dem Verschlußlaut vorangehende, eine andere,
wenn die ihm nachfolgende Silbe betont war. In manchen Fällen
konnten dann diese Differenzierungen auch solche der Bedeutung
vermitteln. So gehen unsere beiden Wörter zeigen und zeihen
(verzeihen) wahrscheinlich auf ein und dasselbe indogermanische
Wort zurück, von dem auch lat. elico^ griech. deUwi-ii herstammen.
Im Urgermanischen Avar der k-Laut, gemäß der zwischen Griechisch-
Lateinisch und Germanisch geltenden Lautvertretung, in eine Spirans
übergegangen (daher got. gateilian erzählen). Im Althochdeutschen
findet sich dagegen eine Spaltung der Betonungen, der nun auch eine
Spaltung der Verschlußlaute parallel geht. Der dem betonten Vokal
folgende Konsonant ist tonlose Spirans: ziJian (zeihen), der dem be-
tonten Vokal vorausgehende dagegen ist tönende Media: zeigen
(zeigen). Zahlreiche Beispiele dieser konsonantischen Lautdifferen-
zierung infolge der Betonung finden sich auch im Gotischen'^). Ihre
Entstehung fällt in eine Zeit, wo noch nicht, wie in den späteren
germanischen Dialekten, der Akzent auf der Stammsilbe des Wortes
fixiert, sondern von wechselnder Lage war. Durchweg induziert
dabei der sinkende Ton eine Lockerung des vorangegangenen Ver-
schlusses, also stimmlose Spirans, umgekehrt die steigende Betonung
') Verner, Kuhns Zeitschr. f. vergl. Sprachwiss. XXITI, 1877, S. 97 ff. Vgl. a.
H. Paul, in Paul und Braune, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache, VI,
1879, S. 538 ff.
2) Vgl. Kluge, Pauls Grundriß,^ I, S. 506 ff.
Zur Theorie des regulären Lautwandels. c I I
den tönenden Verschlußlaut, der durch den festeren Verschluß die
folgende stärkere Exspiration und gleichzeitig durch die bereits in
Schwingung versetzten Stimmbänder die nachfolgende lautere Voka-
lisation vorbereitet. Demnach erscheint es unzulässig, den Verner-
schen Satz als ein Ausnahmegesetz anzusehen, das die regulären
Lautgesetze durchbreche. Könnte man doch ebensogut schließlich
die Tatsache, daß wir die harten Verschlußlaute im Anlaut ziemlich
stark aspiriert sprechen, oder daß in den Umwandlungen der tönen-
den Media mannigfache, von den umgebenden Lauten und der
Stellung im Wort abhängige Schwankungen vorkommen , als Aus-
nahmen bezeichnen. Jeder Lautwandel erfolgt unter den Bedin-
gungen, unter denen er steht, ausnahmslos. Diese Bedingungen
sind aber für keinen Laut völlig identisch, weil sich mit den relativ
gleichförmigeren Wirkungen der Geschwindigkeit der Rede, der
äußeren Einwirkungen und der Assoziationen verwandter Laute
immer noch mannigfach wechselnde Kontaktwirkungen der Laute
und der Betonung verbinden können. Darum ist der Begriff des
»regulären Lautwandels« schließlich ein Grenzbegriff, der Schwan-
kungen innerhalb eines mehr oder weniger großen Intervalls und,
wie gerade bei dem Fall des Vernerschen Gesetzes, eine Divergenz
der Lautentwicklunsfen nicht ausschließt.
6. Zur Theorie des regulären Lautwandels.
a. Physische, psychophysische und psychische Hypothesen.
Insoweit der reguläre Lautwandel nicht als ein der Erkenntnis
seiner Ursache völlig unzugänglicher Prozeß angesehen wird, be-
wegen sich die Versuche ihn zu erklären zwischen drei Möglich-
keiten. Die erste Hypothese führt ihn auf allmählich eingetretene
Änderungen der physischen Organisation zurück, die entweder aus
den eigenen Entwicklungsbedingungen des Organismus oder aus
äußeren Natureinflüssen hervorgegangen sein sollen. Die zweite
stellt die psychophysischen Wirkungen der Sprach- und Völker-
mischung in den Vordergrund. Eine dritte Gruppe bringt aus-
schließlich psychische Ursachen, und zwar in der Regel ästhetische
und teleologische Motive, zur Geltung. Über die erste, physische
512
Der Lautwandel.
Hypothese können wir hier kurz hinweggehen. Abgesehen von ihrer
Unbestimmtheit und von dem Umstand, daß es kaum möglich er-
scheint, Tatsachen, die auf so abweichenden physischen Bedingungen
beruhen, wie die Vokalkontraktionen und die Lautverschiebungen
der Konsonanten, aus irgendeiner übereinstimmenden physischen
Ursache unmittelbar abzuleiten, weisen die Änderungen der kör-
perlichen Organisation, namentlich soweit sie die Artikulationsorgane
betreffen, überall zugleich auf psychophysische oder psychische Be-
dingungen zurück. Allem Anscheine nach macht sich demnach diese
Hypothese in den wesentlichsten Punkten einer Umkehrung der
Kausalität schuldig: die Sprachorgane haben sich zunächst der
Sprache angepaßt, also mutmaßlich auch die Änderungen der ereteren
denen der letzteren, und erst infolge der bei allen solchen Erschei-
nungen stattfindenden Wechselwirkungen sind dann hinwiederum die
Organe für die erzeugten Laute bestimmend geworden. Die zweite,
psychophysische Hypothese greift dagegen zweifellos ein wichtiges
Moment aller Sprachentwicklung heraus. Aber sie vermag es nicht
im geringsten wahrscheinlich zu machen, daß dieses Moment das
, ausschließliche, oder daß es auch nur das hauptsächlich maßgebende
sei. Vielmehr gehen gerade die wichtigsten und regelmäßigsten
Erscheinungen, wie der Wandel der Verschlußlaute, die Kontraktionen
und Elisionen am Ende des Wortes, wenigstens in sehr vielen Fällen
unabhängig von irgendwie nachweisbaren Mischungseinflüssen vor
sich. So gewinnt es denn durchaus den Anschein, daß eben diese
Einflüsse, wo nicht ausgeprägte Fälle der Entstehung von Misch-
sprachen vorliegen, vornehmlich teils als auslösende Ursachen, teils
als begünstigende Bedingungen wirken: das erstere, indem sie zu
lange vorbereiteten Änderungen den Anstoß geben, das letztere, in-
dem sie die Ausbreitung bereits eingetretener Änderungen unterstützen.
Wesentlich anders verhält es sich mit den rein psychologischen
Hypothesen: der ästhetischen und der teleologischen. Sie gehen,
ohne Rücksicht auf irgendwelche äußere Bedingungen, auf die Er-
scheinungen des Lautwandels selbst zurück und suchen aus der
Vergleichung der gewandelten Laute mit den ursprünglichen die
treibenden Motive der Vorgänge zu entnehmen.
Unter ihnen greift nun die ästhetische Hypothese die nächst-
liegenden subjektiven Motive bei der Beurteilung menschlicher
Zur Theorie des regulären Lautwandels. - j •!
Handlungen heraus: wenn jemand statt einer Sache eine andere
bevorzugt, so sind wir geneigt zu urteilen, diese habe ihm besser
gefallen als jene. Eine solche Bevorzugung braucht natürlich nicht
als eine willkürliche betrachtet zu werden; man kann sie ebensogut, im
Hinblick auf die Allgemeinheit der Vorgänge, als ein instinktives
Handeln des > Volksgeistes« auffassen. In diesem Sinne hat in
der Tat Jakob Grimm das von ihm entdeckte Gesetz der germa-
nischen Lautverschiebung gedeutet. An sich erscheint ihm — darin
klingen romantische Einflüsse an — die Lautverschiebung als eine
»Barbarei und Verwilderung«, durch die sich die Sprache von ihrer
ursprünglichen »organischen Lautstufe« losgesagt habe. Aber auf
der andern Seite liegt ihm doch in dieser Tat des »Sprachgeistes«,
deren sich »andere, ruhigere Völker enthielten«, ein bewunderns-
werter Zug, »der mit dem gewaltigen das Mittelalter eröffnenden
Vorschritt und dem Freiheitsdrang der Deutschen zusammenhänge«^).
Ganz im Geiste dieser Auffassung sah noch G. Curtius in der Richtung
jener Lautverschiebung von der Aspirata hinweg zu der Media und
Tenuis den Ausdruck der »Tatkraft« und der »jugendlichen Rüstig-
keit« der Germanen^). Doch dieser Versuch scheitert schon an den
Tatsachen: jenem vermeintlich mit größerer Energie gepaarten
Übergang in die Tenuis steht nicht nur die Umwandlung der letzteren
in die Spirans, sondern auch die der Aspirata in die Media zur
Seite. Hier ist aber im ersten Fall die Ermäßigung des Verschlusses
jedenfalls bestimmter ausgeprägt, als die sie etwa begleitende Ver-
stärkung des Atemstroms; vollends im zweiten Fall besteht die
Veränderung in einer Abnahme statt in einer Zunahme der Energie.
So hat sich denn auch Curtius selbst später der zweiten, teleo-
logischen Auffassung zugewandt. Ein anderer Versuch ästhetischer
Erklärungsweise wurde von W. Scherer, allerdings unter wesent-
licher Zuhilfenahme teleologischer Motive, gemacht. Indem er das
Verlassen des bis dahin geltenden Systems der Verschlußlaute als
^) J. Grimm, Geschichte der deutschen Sprache,* I. S. 292.
2) Curtius in Kuhns Zeitschrift für vergl. Sprachforschung, 11, 1853, S. 331. Fast
genau mit dieser älteren Curtiusschen Ansicht kommt die neuerdings von James
Byrne (General Principles of the Structure of Language,= II, 1892, p. 187 f.) ent-
wickelte überein; auch sucht dieser Autor die Umwandlung der Aspirata in die
Media in etwas gekünstelter Weise dem gleichen Gesichtspunkt unterzuordnen.
Wundt Völkerpsychologie!, i. 2. Aufl. 33
514
Der Lautwandel.
eine lässige Funktionsweise der Sprachorgane deutet, bezieht er
diese »Lässigkeit« auf eine Abziehung der Aufmerksamkeit nach einer
andern Richtung hin. Eine solche Attraktion habe aber der Vokal-
klang ausgeübt: »ihn verlangte man, daran ergötzte man sich, das
andere war gleichgültig«. Diese Poesie der reinen Vokale besitze
vor allem das Althochdeutsche. Insbesondere die zweite Lautver-
schiebung glaubt daher Scherer auf den »musikalischen Sinn« der
Oberdeutschen zurückführen zu sollen^). Doch der volltönende
Klang ist den älteren Formen der Sprache überhaupt eigen, dem
Altindischen so gut wie dem Altgriechischen, und ob das Gotische,
das die zweite Lautverschiebung nicht mitgemacht hat, ihn weniger
besitze als das Althochdeutsche, darf man wohl bezweifeln. Der
gesetzmäßige Lautwandel überhaupt hat in seiner allgemeinen Ent-
wicklung sicherlich nicht dazu geführt, die Sprachen indogermanischer
Abkunft musikalischer zu machen — wie sich das vielleicht von den
polynesischen Sprachen behaupten läßt — , sondern eher zum Gegen-
teil dieses Erfolges. Die Lautverschiebungen selbst scheinen aber
im allgemeinen außerhalb dieser Veränderungen zu stehen, die weit
mehr durch die allmähliche Abschleifung und Verkürzung der Wort-
formen, also durch Elimination von Lauten, als durch die Wand-
lungen der Verschlußlaute herbeigeführt werden.
Hiervon geht nun die teleologische Hypothese aus, die im
allgemeinen bis zum heutigen Tage die Herrschaft geführt hat.
Wegen dieser herrschenden Rolle, welche sie in der Psychologie
aller Formen des Lautwandels, des singulären wie des regulären,
spielt, sind die beiden in ihr vereinigten Prinzipien der »Bequem-
lichkeit « und der » Erhaltung bedeutsamer Unterschiede « oben
schon besprochen, und es ist dort bereits auf die psychologische
Unmöglichkeit dieser beiden »Triebe« hingewiesen worden (S. 363 ff.).
Bei der besonderen Anwendung auf die regelmäßigen Lautver-
schiebungen sind aber beide wieder von verschiedenem Erklärungs-
wert. Der erste, der Trieb nach Bequemlichkeit, ließe sich mit
einem gewissen Rechte verteidigen. Wenn nicht bei allen, so trifft
es wenigstens bei mehreren der lautgesetzlichen Veränderungen zu,
daß die neuen Artikulationen leichter sind als die vorangegangenen.
') W. Scherer, Zur Geschichte der deutschen Sprache,^ 1878, S. 151 ff.
Zur Theorie des regulären Lautwandels. 5 I e
Aber alle diese Erleichterungen haben doch in doppeltem Sinn
eine bloß relative Bedeutung: erstens kommt es überall auf die
benachbarten Laute an, in deren unmittelbarer Nähe sich der dem
Wandel unterworfene befindet; und zweitens sind Betonung, Quan-
tität, Rhythmus und Geschwindigkeit der Aufeinanderfolge auf die
größere oder geringere Leichtigkeit einer einzelnen Lautbewegung
von entscheidendem Einfluß. Wörter wie Tä/, Pest^ Kind sprechen
wir aspiriert, T^al^ P^est^ K^ind^ und es wird uns sehr schwer,
sie unaspiriert zu sprechen; bei Wörtern wie Spafi^ Traube^ Acker
gelingt es kaum, die drei Laute p, /, k deutlich zu aspirieren. Nach
langem Vokal entsteht, wie schon oben bemerkt, leichter die
Media, z. B. räb^ täd^ läg^ dem kurz herausgestoßenen folgt die
Tenuis: räp^ tat^ lak. So gibt es denn auch Lautverbindungen, in
denen offenbar infolge derartiger Verhältnisse Laute unverändert
blieben, die sonst verschoben worden sind, wie z. B. die drei Ver-
schlußlaute in sp^ st^ sk — man vergleiche got. standan ahd. stän
^stehen', engl, to spare ahd. spar "^sparen' u. a. Auf diese Weise
ist der Eintritt oder Nichteintritt einer Lautverschiebung überall
mitbestimmt durch die Kontaktwirkungen der Laute. Insofern
aber diese ihrerseits wieder mitbestimmt sind durch die von ihnen
bewirkte Erleichterung der Artikulation, wird in der Tat die Annahme
nahegelegt, daß diese bei der Lautverschiebung eine wichtige Rolle
spielt. Eine andere Frage ist es jedoch, ob diese Erleichterung
da, wo sie tatsächlich eintritt, als Wirloing eines »Triebes nach
Bequemlichkeit« bezeichnet werden darf. Macht doch der Laut-
wandel gerade da, wo er unzweifelhaft die Artikulation erleichtert,
den Eindruck eines mit mechanischer Notwendigkeit und nicht
unter der Wirkung irgendeines bewußten oder selbst unbewußten
»Strebens« sich vollziehenden Vorgangs. Dieser Ausdruck schließt
eben unvermeidlich irgendein Willensmoment ein, von dem hier
nirgends die Rede sein kann. Mag man also immerhin zugeben,
daß der Hinweis auf die leichtere Artikulation einen richtigen Ge-
danken birgt, der nur in dem »Bequemlichkeitstrieb« einen unge-
eigneten Ausdruck fand, so ist die zur Ergänzung dieses Triebes
herbeigezogene Hypothese des »Strebens nach Erhaltung bedeut-
samer Unterschiede« völlig verfehlt^). Denn hier ist schon der
') Vgl. oben S. 366.
33*
c j 5 Der Lautwandel.
historische Ausgangspunkt unhaltbar, nach welchem ein bestimmter
Verschiebungsvorgang, und zwar derjenige, der dem ursprüng-
lichen Motiv der Bequemlichkeit am meisten unterworfen war,
überall der primäre gewesen sei, worauf dann die weiteren Ver-
schiebungen deshalb eintreten sollen, weil sonst eine allzu große
Anhäufung von Lauten einer Klasse entstünde. So meinte schon
Grimm, das erste sei gewesen, daß sich die tönende Media zur
tonlosen Tenuis »verdünnt«, worauf sich durch die weiteren Ver-
schiebungen erst wieder das »richtige Verhältnis der Laute« habe
herstellen müssen. Curtius verlegte jenen ersten Schritt in die Ab-
schwächung der aspirierten Verschlußlaute, um dann die übrigen
Verschiebungen dem Gesichtspunkt der zweckmäßigen Lautverteilung
unterzuordnen. Max Müller behauptete, bei den germanischen
Stämmen sei, als sie in den Verschiebungsprozeß eintraten, noch
eine Erinnerung an die dreifachen Verschlußlaute ihrer arischen
Vorfahren erhalten geblieben, und sie seien daher bemüht gewesen,
»so gut wie möglich diesem dreifachen Anspruch zu genügen«^).
Hier wird also gar das Differenzierungsbedürfnis damit motiviert,
daß den Urgermanen die Fähigkeit der Vergleichung mit dem vor
Beginn der Verschiebung vorhandenen Lautsystem zugeschrieben
wird.
Nun ist jede einzelne Lautverschiebung insofern ein unabhän-
giger Vorgang, als es keine gibt, die erst durch die absichtliche
Vergleichung mit andern Veränderungen veranlaßt wäre. Der ge-
setzmäßige Zusammenhang aller dieser einzelnen Verschiebungsakte
spricht aber zugleich dafür, daß es wesentlich übereinstimmende
Ursachen waren, unter denen sie erfolgten. Doch die eintretende
Wirkung ist überall von den begleitenden Bedingungen abhängig.
Abweichende Bedingungen ergaben sich nun bei einem und dem-
selben Laut je nach seinen Verbindungen mit andern Lauten.
So erklärt sich die Reihe der durch den Kontakt der Laute be-
gründeten Variationen. Eine übereinstimmende Natur der Ur-
sachen wird daher trotz solcher Verschiedenheit offenbar dann
I) Diese merkwürdige Vorstellung ist aus der ersten Auflage der >Vorlesungen
über die Wissenschaft der Spraclie< (1866, IT, S. 194) noch unverändert in die
neueste (1893, n, S. 224) übergegangen.
Zur Theorie des regfulären Lautwandels.
517
vorauszusetzen sein, wenn diese Wirkungen gleichwohl überein-
stimmende Richtungen erkennen lassen; und den Grund solcher
übereinstimmenden Richtungen wird man auch hier wieder am
wahrscheinlichsten in Bedingungen suchen dürfen, die uns heute
noch fortwährend in gewissen allmählich erfolgenden Lautände-
rungen entgegentreten. Hier spielen aber, wie uns sowohl die Er-
scheinungen des Versprechens wie die unserer Beobachtung er-
reichbaren singulären Lautänderungen der Sprache gelehrt haben,
ästhetische oder teleologische Motive nirgends eine nennenswerte
Rolle, sondern die Erscheinungen sind überall not\vendige Folgen
J)sychophysischer Bedingungen, die im allgemeinen gänzlich außer-
halb der Sphäre willkürlicher Beurteilung und Beeinflussung liegen.
b. Der reguläre Lautwandel als resultierende Wirkung der singulären
Lautänderungen.
Sucht man sich über die Gründe Rechenschaft zu geben, aus
denen die ästhetische und die teleologische Theorie der regulären
Lautänderungen, jede für sich allein und beide in ihrer Verbindung,
gescheitert sind und notwendig scheitern mußten, so liegen diese
nicht bloß in der mangelhaften Reflexionspsychologie, mit der sie
operierten, sondern noch in einem allgemeineren erkenntnistheore-
tischen Fehler, der freilich selbst mit jener Reflexionspsychologie
eng verbunden ist. Er besteht kurz gesagt darin, daß man gene-
relle Erscheinungen aus zufälligen individuellen Motiven abzuleiten
sucht; und er hängt zugleich mit der oben (S. 398) schon charak-
terisierten Hypothese zusammen, nach der jede generelle Erschei-
nung zuerst einmal in irgendeinem Individuum entstanden sei und
sich dann auf dem Wege der Nachahmung weiter verbreitet habe.
Dem gegenüber liegt jenen Hypothesen, die diese Vorgänge aus
Veränderungen der Naturbedingungen oder aus Völkerwanderungen
und Sprachmischungen ableiten wollen, immerhin der richtige Ge-
danke zugrunde, daß allgemeine Wirkungen insgemein auch all-
gemeine Ursachen voraussetzen. Aber obgleich es wahrscheinlich
ist, daß die genannten Momente nicht selten von mitwirkendem
Einfluß sind, so erweisen sie sich doch der Regelmäßigkeit und
allgemeinen Übereinstimmung der Erscheinungen gegenüber als
unzulänsflich. Dazu kommt, daß man auch hier für die Gesamtheit
e j 8 Der Lautwandel.
dieser Phänomene eine einzige Ursache oder mindestens eine fest
bestimmte Kategorie von Ursachen voraussetzt. Dieses Streben
nach einem einzigen, allgemeingültigen Erklärungsgrund hat aber
wiederum seine Quelle in einem Vorurteil, das in der häufig ge-
brauchten Bezeichnung »selbständiger Lautwandel« seinen Ausdruck
findet. Indem man diesen zu dem »abhängigen« oder »kombina-
torischen« in einen Gegensatz bringt, verbindet sich damit die
Vorstellung einer totalen Verschiedenheit beider Formen, derart,
daß von den Ursachen, die den kombinatorischen Wandel bestim-
men, bei dem selbständigen nicht die Rede sein könne. Vollends
aber gilt bei diesem die Mit^virkung assoziativer Einflüsse, wie sie
in den Fernewirkungen hervortreten, um so mehr als ausgeschlossen,
weil solche nicht sejten die Wirkungen des regelmäßigen Laut-
wandels aufheben können. So gilt denn dieser als die eigentliche
Norm. Der Ausdruck > Lautgesetze « wird nur auf ihn oder auf
sonstige Lautänderungen höchstens widerstrebend, um den fatalen
Begriff der »Ausnahme« zu vermeiden, angewandt. Jener »selb-
ständige« Lautwandel soll aber, wie das Wort andeutet, den ein-
zelnen Laut als solchen, ganz unabhängig von den Lautverbin-
dungen, in denen er steht, und natürlich auch von allen assozia-
tiven Einflüssen ergreifen.
Nun kommen Einzellaute, wie sie hier als Objekte einer selb-
ständigen Änderung vorausgesetzt werden, in der wirklichen Sprache
natürlich nicht vor. Sie sind im Grunde genommen Abstraktionen
des Grammatikers oder Phonetikers, der erst den einzelnen Laut
aus dem Zusammenhang der Rede loslöst. Da aber jeder Laut
nur in mancherlei Verbindungen mit andern Lauten existiert, so
kann er auch nur in diesen Verbindungen Wandlungen erfahren.
Damit wird es von vornherein höchst unwahrscheinlich, daß ein
solcher Wandel trotzdem, von allen begleitenden Lauten unab-
hängig, nur in dem isoliert gedachten Einzellaut selbst sein Objekt
haben sollte. In der Tat zeigt auch die Beobachtung, daß dies
niemals der Fall ist, und daß man nur dadurch zu dem Begriff
eines »unabhängigen« Lautwandels gelangen konnte, weil man von
mehr oder minder erheblichen Unterschieden der Laute, die nach-
weislich von ihrem Zusammenhang mit andern herrühren, abstra-
hierte. Die Belege hierzu sind uns oben überall begegnet. Sucht
Zur Theorie des regulären Lautwandels. n;ig
auch der Phonetiker solchen Unterschieden durch die Einführung
einer größeren Anzahl von Lautzeichen nachzukommen, so ist
doch nicht entfernt daran zu denken, daß er dabei die wirklichen
Unterschiede erschöpfen könnte. Nicht anders steht es mit den
Vokalen, die wieder, abgesehen von nicht unbeträchtlichen indi-
viduellen Abweichungen, teils von den vorangehenden, teils aber
und namentlich von den nachfolgenden Konsonanten, endlich von
der Betonung in ihrer Klangfärbung und Tonhöhe bestimmt sind,
wobei die letzteren Verhältnisse ebenso mit den variableren Motiven
der Affekterregung wie mit den konstanteren assoziativer Einübung
zusammenhängen. Diese Momente in ihrer Vereinigung bedingen
es dann, daß Akzent und Tonfall zu einer gegebenen Zeit, neben
fortwährenden leiseren, von der momentanen Gefühlslage und dem
spezifischen Inhalt des Gesprochenen abhängigen Schwankungen,
eine konstante Regelmäßigkeit zeigen, die sich nur innerhalb län-
gerer Zeiten oder unter dem Einfluß sonstiger starker Veränderun-
gen der Sprache wandeln können. Hier erhebt sich eben überall
auf der Basis des durch assoziative Gewöhnung stabil gewordenen
Besitzes ein Strom beweglicher Einflüsse, die dem Ausdruck seine
dem singulären Fall entsprechende Färbung geben.
Nach allem dem ist der reguläre Lautwandel kein Vorgang, der
eine fest bestimmte frühere Lautform mit einer ebenso bestimmt zu
fixierenden späteren stetig verbindet. Seinen Anfang wie sein Ende
bildet, wenn er noch so regulär verläuft, kein einzelner Laut, son-
dern ein Spielraum von Lautbildungen, wobei die im einzelnen Fall
wirklich vorhandene jeweils von den besonderen Bedingungen der
Lautumgebung und der Betonung abhängt. Und wie Anfang und
Ende, so sind alle zwischenliegenden Stationen durch Lautformen
bezeichnet, die sich innerhalb eines mehr oder weniger breiten
Intervalls feinerer Lautabwandlungen bewegen. Nun ist jede Varia-
tion, die ein Laut innerhalb eines solchen Spielraums erfährt,
nachweislich von den singulären Bedingungen abhängig, denen er
hierbei begegnet, also vom Kontakt mit andern Lauten, von asso-
ziativen Fernewirkungen, durch die verwandte oder ähnliche Wort-
und Lautformen angleichend aufeinander einwirken, und endlich
von den Verhältnissen der Betonung. Jener Spielraum selbst ist
also im einzelnen Fall eine Funktion der Einflüsse, die der singulare
520
Der Lautwandel.
Lautwandel mit sich führt: der Laut ist in dieser ihm eigenen
Variabilität selbst nichts anderes als ein Produkt der Wirkungen,
welche die Ursachen des singulären Laut\vandels auf ihn ausüben.
Mit dieser Abhängigkeit der Schwankungen des regulären Laut-
wandels vom singulären hängt nun noch eine weitere, durch die
Erfahrung bestätigte Beziehung beider zusammen. Es ist selbst-
verständlich, daß alle die psychophysischen Einflüsse, die auf die
Erscheinungen des singulären Laut^vandels einwirken, auch den
regulären nicht unberührt lassen können. Nun sind jene Einflüsse
bei den beiden Hauptformen des ersteren, den Kontakt- und den
Fernewirkungen, wieder von wesentlich abweichender, wenn auch
in gewissen Grundmotiven psychophysischer Entwicklung überein-
stimmender Art. Bei den Kontaktwirkungen, vor allem bei den
innerhalb der bekannteren Kultursprachen eine so große Rolle
spielenden regressiven Assimilationen, wirkt als nächstes, seiner-
seits wieder vornehmlich von psychischen Bedingungen abhängiges
Moment die Beschleunigung des Redeflusses. Diese Ursache ist
hier deshalb so zwingend, weil wir den ganzen Vorgang in der
Regel ohne weiteres experimentell nachahmen können: die meisten
Kontaktwirkungen treten sofort ein, wenn wir, von einem ihnen
vorausgehenden Lautstadium ausgehend, die Artikulation beschleu-
nigen. Dazu kommen dann noch die Wirkungen der Betonung,
die sich mit denen der Beschleunigung komplizieren. Nun muß
natürlich jeder Einfluß, der die Kontaktwirkungen verändert, auch
den Spielraum der Artikulationen, innerhalb deren sich der reguläre
Lautwandel bewegt, verändern, und zwar nicht bloß in seinem
Umfang, sondern vor allem darin, daß er die Lage des Intervalls
verschiebt, in welchem sich die um einen bestimmten mittleren
Normallaut gruppierten Variationen bewegen. Der reguläre Laut-
wandel selbst ist also nicht bloß in den von besonderen Bedin-
gungen abhängigen Schwankungen, sondern in seiner eigenen Be-
wegung von den gleichen Bedingungen abhängig, die den singu-
lären bestimmen: von den Kontaktwirkungen, der Lage der Beto-
nung, und somit von der im allgemeinen mit steigender Kultur und
geistiger Beweglichkeit zunehmenden durchschnittlichen Geschwin-
digkeit des Redeflusses.
Wie der Kontakt der Laute, so kann aber auch die assoziative
Zur Theorie des regulären Lautwandels. 52 I
Fernewirkung derselben, sobald sie in zahlreichen singulären Fällen
übereinstimmende Lautänderungen herbeiführt, auf den regulären
Lautwandel nicht ohne Einfluß bleiben. Nur ist dieser Einfluß, wie
in seinen Ausgangspunkten, so in seinen Erfolgen ein wesentlich
anderer. Während bei den Kontaktwirkungen der Mechanismus
der Artikulation das nächste, der psychische Mechanismus des
Vorstellungs- und Aff'ektverlaufs nur das entferntere Moment ab-
gibt, geht die assoziative Fernewirkung direkt auf diesen Verlauf
zurück. Darum nehmen die Assoziationseinflüsse mit wachsender
geistiger Beweglichkeit ebenso zu wie die Kontaktwirkungen. Aber
diese Einflüsse gehen nach einer andern Richtung. Wirken die
Lautkontakte differenzierend, indem sie jeweils die einzelne
Lautqualität den spezifischen, durch die Umgebung bestimmten
Artikulationsbedingungen anpassen, so wirken umgekehrt die Laut-
assoziationen uniformierend, indem sie solchen Lautgruppen und
Einzellauten, die durch häufigen Gebrauch in höherem Maß ein-
geübt sind, mehr und mehr das Übergewicht verschaflen über an-
dere, seltenere. Direkt nachweisen läßt sich begreiflicherweise diese
Wirkung nur da, w^o solche Lautangleichungen in die Wortbildung
eingreifen und entweder einzelne Abweichungen oder, wenn diese
sich häufen, schließlich neue Bildungsformen verursachen, wie uns
das überall bei den früher erörterten Beispielen assoziativer Ferne-
wirkungen entgegentrat (S. 443 ß".). Doch w^erden naturgemäß solche
Assoziationen und daraus entspringende Lautangleichungen überall
und auch in solchen Fällen stattfinden, wo sie sich nicht ohne
weiteres in der Umwandlung früher bestandener Flexionsformen
oder in der offenkundigen Anlehnung eines bestimmten Wortes
an ein anderes zu erkennen geben. Insbesondere werden diese
Fernewirkungen im Zusammenhange mit den Einflüssen der Laut-
kontakte in doppeltem Sinne vorauszusetzen sein. Erstens muß eine
durch Lautkontakt bewirkte Änderung der Artikulation um so mehr,
je häufiger sie sich wiederholt, den gesamten Zustand der Sprach-
organe und damit die Artikulationsbasis, die jede einzelne Laut-
gebung bestimmt, beeinflussen. Zweitens aber übt, wie gerade
die sogenannten »Analogiebildungen« in ihren nach rein lautlichen
Assoziationen auftretenden Formen zeigen, jeder häufig wiederholte
Laut eine assoziative Wirkung aus, die zu seiner Wiederholung
522
Der Lautwandel.
disponiert, so daß ein anderer, bis dahin verschiedener ihm ange-
glichen wird. Nimmt man nun diese uniformierende mit jener
differenzierenden Wirkung der Lautkontakte und wechselnden Be-
tonungsverhältnisse zusammen, so bietet sich für die Entstehungs-
möglichkeit irgendwelcher mehr oder minder regulärer, das heißt von
dem Zusammenhang der Laute innerhalb eines gewissen Spielraums
anscheinend unabhängiger Lautänderungen das folgende Bild. Unter
den Kontaktwirkungen der Laute wirken solche, die sich in einer
großen Zahl von Fällen wiederholen, auf den Artikulationsmecha-
nismus in ihrem Sinn umbildend zurück, und sie wirken außerdem
assoziativ auf die gleichen Laute, zunächst wenn sich diese in ähn-
lichen, dann aber auch wenn sie sich in etwas abweichenden Ver-
bindungen befinden, x^uf diese Weise bildet sich allmählich aus
einer Reihe von Fällen singulärer Lautänderungen ein regulärer
Lautwandel, der freilich in dem Spielraum, den er den Einflüssen
von Kontakt und Betonung im einzelnen Falle läßt, immer noch die
Spuren seines Ursprungs an sich trägt. Die Richtungen, in denen
sich der so entstandene reguläre Lautwandel bewegt, sind aber
wieder unter sich um so übereinstimmender, je mehr die Ausgangs-
punkte dieser Veränderungen, die einzelnen Kontakt^virkungen, aus
einer übereinstimmenden Ursache entspringen. Eine solche ist nun
in der Tat in der mit wachsender Kultur zunehmenden Sprach-
übung und in der hiermit zusammenhängenden Beschleunigung der
Artikulation gegeben. Für die Art wie, und insbesondere für die
Zeitpunkte wo solche Änderungen hervortreten, ist jedoch stets zu-
gleich eine Fülle äußerer Bedingungen von bestimmendem Einfluß.
Hier mögen teils plötzliche Völkerbewegungen, teils Berührungen
mit andern Dialekten oder Sprachen, teils Änderungen der Verkehrs-
verhältnisse als auslösende Kräfte wirken und verhältnismäßig rasch
Wandlungen hervorbringen, die vielleicht lange zuvor schon vorbe-
reitet waren, aber wirkungslos blieben, weil die nämlichen assozia-
tiven Fernewirkungen, die in günstigen Momenten die Ausbreitung
einer Lautänderung von einzelnen Kontaktwirkungen aus über das
ganze Gebiet der Sprache vermitteln, da, wo die auslösenden Be-
dingungen fehlen, als retardierende Momente wirken. Denn gerade
jene Assoziationen lassen hinwiederum die überlieferte Lautform
auch da noch festhalten, wo ihr der psychophysische Mechanismus
Zur Theorie des regulären Laiit\Yandels. ^2X
der Sprache eigentlich schon entwachsen ist. Darum ist es nun in
den Zeiten solcher Umwandlungen die junge, durch solche fest-
gefügte Assoziationen weniger gebundene Generation, die sich den
neuen Einflüssen zugänglicher zeigt.
Auf diese Weise stellt sich der Laut^vandel schließlich als ein
in allen seinen Erscheinungen gleichartiger und zusammen-
hängender psychophysischer Vorgang dar. Wohl steht dieser
Vorgang unter einer Fülle mannigfach ineinander greifender Be-
dingungen, die in einer zumeist unserer näheren Nachweisung ent-
zogenen Weise die Schnelligkeit der Veränderungen, ihre Inter-
missionen und dann wieder ihre oft plötzlichen Fortschritte veranlassen
mögen. Aber die durchgreifenden Ursachen selbst sind nicht für
die eine Gruppe von Erscheinungen diese, für eine andere jene,
sondern, wie die Sprache selbst ein organisches Ganzes ist, so ist
sie auch in allen ihren Teilen, in ihren begrenzteren wie in ihren
umfassendsten Wandlungen schließlich von dem gleichen Strom der
Entwicklung beherrscht, der sie als die nächste Ausdrucksform des
geistigen Lebens der Gemeinschaft in ihrem ganzen Sein, nach Laut
wie Begriffsinhalt, ergreift. Die entscheidenden Einflüsse sind dabei
die Kultureinflüsse, wie sie sich nicht zum geringsten Teil in der
Beweglichkeit der Vorstellungen und Gefühle und in dem Reichtum
und der zunehmenden Erleichterung der Gedankenverbindungen
äußern. Diese psychischen Wandlungen wirken naturnotwendig
zurück auf das ursprünglichste Organ des psychischen Lebens, auf
die Sprache; und sie wirken, wie alle Ursachen, zunächst auf einzelne,
der Veränderung durch geringere Widerstandskraft leichter zugäng-
liche Punkte. Solche Punkte sind jene Verkettungen der Artikula-
tionsbewegungen, die dem über sie weggleitenden Redestrom, sobald
sich dieser beschleunigt, besondere Schwierigkeiten bieten, indes
zugleich der Lauf der Vorstellungen der Trägheit der Bewegung
vorauseilt: so entstehen als die mutmaßlichen Ausgangspunkte aller
Veränderungen die Kontaktwirkungen der Laute. Sie bilden dann
die Herde, von denen aus sich die einmal eingeleiteten Wandlungen
durch die allezeit rege assoziative Verkettung der Worte und Laute
und durch die langsamer folgende Umbildung der Artikulations-
organe weiter ausbreiten. Daneben greifen dann in diese unter der
Macht der allgemeinen Kultureinflüsse stehenden Vorgänge noch die
524
Der Lautwandel.
spezielleren, von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit wechselnden
Bedingungen. So bildet hier, wie überall, nicht das Reguläre, sondern
das Singulare den Anfang. Dieses Singulare ist aber kein individueller,
an einem Einzelnen zufällig einmal sich ereignender Vorgang, sondern
es ist eine einzelne, durch einen bestimmten Lautkontakt oder durch
eine spezielle Assoziation ausgelöste Veränderung, die, weil die Be-
dingungen überall zu ihr bereit liegen, in unzähligen Fällen unab-
hängig sich wiederholen kann. Noch weniger ist es eine Ausnahme,
die eine über allen einzelnen Erscheinungen schwebende universelle
Gesetzmäßigkeit störend unterbricht. Vielmehr ist das Reguläre selbst
nichts anderes als die. Reihe übereinstimmender Vorgänge, die aus
einer Fülle singulärer Bedingungen von übereinstimmender Richtung
als notwendige Resultante hervorgeht.
Diese Auffassung bestätigt sich denn auch darin, daß uns die
Erscheinungen des regulären Lautwandels in ihrer ausgeprägtesten
Gestalt in den Sprachen der fortgeschrittensten Kulturvölker ent-
gegentreten. Bei ihnen haben offenbar die aus den allgemeinen
Kultureinflüssen hervorgehenden psychophysischen Ursachen, ab-
gesehen von den in solchen Entwicklungen überall vorkommenden
Intermissionen , am dauerndsten eingewirkt; und zugleich haben
hier die fortwährend dazwischentretenden neuen singulären Wir-
kungen an dem Zusammenhalt der Sprachgemeinschaft eine ge-
wisse Schranke gefunden. Je tiefer die Kulturstufe, um so mehr
überwuchern dagegen die singulären über die regulären Lautände-
rungen, so daß schließlich bei den zersprengt lebenden wilden
Stämmen, wie den brasilianischen Waldindianern, fast jede Horde
ihre besonderen Lautabweichungen zeigt, die vielleicht nach wenigen
Generationen wieder verschwinden und neuen Abweichungen Platz
machen können.
Ist diese Auffassung die richtige, so hat nun freilich diejenige
Betrachtungsweise, mit der man zuerst den Erscheinungen des Laut-
wandels gegenübertrat, ihre völlige Umkehrung erfahren. Dennoch,
so merkAvürdig sich diese Umkehrung auf den ersten Blick aus-
nehmen mag, so leicht verständlich, ja selbstverständlich ist sie.
Abgesehen von vereinzelten Fällen assimilativer Kontaktwirkungen
relativ späten Ursprungs, die der Aufmerksamkeit nicht leicht ent-
gehen konnten, mußten sich naturgemäß die regulären Erscheinungen
Zur Theorie des regulären Lautwandels. C2C
des Lauüvandels am frühesten der Beachtung aufdrängen. Sie
wurden daher als eine alles beherrschende Gesetzmäßigkeit betrachtet;
und wo sich nun Fälle darboten, die sich solcher Gesetzmäßigkeit
entzogen, da erschienen sie als Ausnahmen, die jedesmal aus beson-
deren Ursachen abzuleiten seien. So entstand der Begriff der
»falschen« Analogien, nach dem alle diese Fälle gewissermaßen als
Entgleisungen erschienen, die aus bösem Beispiel hervorgegangen
seien. Nun war es freilich von Anfang an merkwürdig, daß
man zwar diese singulären Ausnahmen meist mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit auf bestimmte psychophysische Ursachen zurück-
führen konnte, daß dagegen der Ursprung der regulären Ver-
änderungen völlig im Dunkeln blieb. Wo man sich je einmal in
hypothetischer Weise über diesen Ursprung Rechenschaft gab, da
waltete dann begreiflicherweise das Streben, jene eben wegen
ihrer Regelmäßigkeit auf eine einzige Ursache zurückzuführen, indes
für die singulären Veränderungen bereitwillig eine Komplikation
mannigfacher Einflüsse zugestanden wurde. Die nähere Betrachtung
hat uns gezeigt, daß gerade das Gegenteil richtig ist. Die Kontakt-
erscheinungen und die assoziativen Fernewirkungen sind nur deshalb
der Nachweisung ihrer Ursachen zugänglicher, weil sie unter ver-
hältnismäßig einfacheren Bedingungen stehen. Bei dem regulären
Lautwandel ist es dagegen die Komplikation der Bedingungen, die
durch die Interferenz zahlreicher bald in gleichem, bald in ab-
weichendem Sinne wirkender Ursachen Resultanten erzeugt, die in
zahlreichen Fällen trotz einzelner entgegenstehender Sonderwirkungen
von im ganzen übereinstimmendem Charakter bleiben, da sie nur in
geringem Grade durch die bei dem singulären Lautwandel relativ
isoliert hervortretenden Sonderwirkungen beeinflußt werden. So
kommt es, daß die fundamentalen Ursachen des Lautwandels zunächst
nicht aus den regulären Erscheinungen, bei denen die Komplikation
der Bedingungen viel zu groß ist, sondern mit annähernder Vollständig-
keit nur aus den singulären ermittelt werden können.
,6 Der Lautwandel.
VII. Allgemeiner Rückblick auf die Vorgänge
des Lautwandels.
Als die neuere Sprachwissenschaft zuerst es unternahm, die Vor-
gänge des Lautwandels bestimmten Gesetzen unterzuordnen, da
suchte sie, geleitet durch die verbreiteten Vorstellungen von der
Allgemeingültigkeit der Naturgesetze und von der Zufälligkeit alles
psychischen Geschehens, jene Gesetze vor allen Dingen als phy-
sische nachzuweisen. So entstanden zwei allgemeine Voraus-
setzungen, die für die Interpretation der Tatsachen bestimmend
wurden. Die erste bestand darin, daß physische und psychische
Bedingungen des Lautwandels streng zu sondernden Gebieten an-
gehörten, und daß daher das physisch Bedingte ebensowenig eine
psychologische wie umgekehrt das psychisch Bedingte eine physio-
logische Deutung zulasse. Die zweite Voraussetzung war, daß nur
auf physischem Gebiet eine strenge und, soweit nicht eben psy-
chische Einflüsse dazwischen kämen, eine ausnahmslose Gesetzmäßig-
keit herrsche, während auf psychischer Seite eine solche nicht zu
finden, hier vielmehr alles von Laune und Zufall abhängig sei.
Die zweite dieser Voraussetzungen ist, wie wir sahen, innerhalb
der Sprachwissenschaft selbst schon allmählich wankend geworden.
In dem Maß, als gerade die psychisch bedingten Lautänderungen
die Aufmerksamkeit fesselten, begann die Erkenntnis durchzudringen,
daß auch sie auf gewisse Regelmäßigkeiten zurückzuführen seien.
Dagegen blieb die erste Annahme im ganzen bestehen, und unter
ihrer Herrschaft mußte sich ein gewisser Wertunterschied der Vor-
gänge behaupten. Wie die psychologischen Assoziationsgesetze an
bindender Kraft hinter den Naturgesetzen zurückstehen, so meinte
man und meint man vielfach noch heute den rein physiologischen
Lautänderungen einen gewissen Vorzug einräumen zu müssen').
Dieser ganzen Betrachtungsweise wird nun schon dadurch der
Boden entzogen, daß die psychologische Analyse der einzelnen
Formen des Lautwandels den Begriff eines rein physisch be-
dingten, also unter Ausschluß aller und jeder psychischen Momente
') Vgl. oben S. 367 ff.
Allgemeiner Rückblick auf die Vorgänge des Lautwandels. e 2 7
eintretenden Wechsels überhaupt als einen innerlich unmöglichen
zurückweisen muß. Der Mensch ist so wenig ein reines Naturobjekt,
wie er ein rein geistiges Wesen ist, sondern er ist beides zugleich, ein
psychophysischer Organismus; und im Umkreis seiner Funktionen
ist es wieder besonders die Sprache, die in allen ihren Eigenschaften
den Charakter einer doppelseitigen Funktion an sich trägt. Anzu-
nehmen, daß es irgendeinen allgemeineren sprachlichen Vorgang
gebe, der aus rein physischen, oder einen andern, der ebenso aus
rein psychischen Bedingungen erfolgt sei, das ist daher eine Vor-
stellung, die von vornherein unter dem Verdacht einer willkürlichen
Abstraktion steht. Gewiß kann eine solche unter Umständen nütz-
lich oder für gewisse Zwecke vorübergehend notwendig sein. Nur
darf man nicht den ausnahmsweise zulässigen Standpunkt für die
vollständige Auffassung der Sache halten und ihn auch da noch
anwenden, wo es sich um eine erschöpfende Ermittelung der Be-
dingungen handelt. In diesem Fall ist vielmehr daran festzuhalten,
daß die Sprache im ganzen wie in allen ihren Bestandteilen eine
psychophysische Funktion ist, und daß es daher strenggenommen
keine einzelne Erscheinung, viel weniger ein ganzes Erscheinungs-
gebiet in ihr geben kann, das nur physisch oder nur psychisch
zu erklären wäre. Hierbei ist es natürlich nicht ausgeschlossen,
daß unserer Beobachtung bald die physische Seite der Vorgänge,
bald die psychische zugänglicher ist, oder daß wir sogar in bezug
auf die eine oder andere bloß auf mehr oder minder wahrscheinliche
Vermutungen angewiesen bleiben.
Ist der Lautwandel im allgemeinen psychophysisch bedingt, so
ist aber damit nicht gesagt, daß auch das Verhältnis der physischen
zu den psychischen Ursachen bei ihm überall das nämliche sei.
Vielmehr sind es gerade die in dieser Beziehung nachweisbaren
Unterschiede, mit denen die wesentlichen Eigentümlichkeiten der
einzelnen Formen des Lautwandels zusammenhängen. Dabei wird
jedoch, dem streng empirischen Standpunkt entsprechend, den
diesen Problemen gegenüber die sprachgeschichtliche wie die psy-
chologische Betrachtung einzunehmen hat, niemals auf irgendwelche
hypothetisch anzunehmende Parallelvorgänge zurückzugehen sein,
sondern wir können hier die Begriffe des Physischen und des Psy-
chischen durchaus nur in dem Sinn anwenden, in dem jeder dieser
528 Der Lautwandel.
beiden Bestandteile der Erfahrung entweder direkt in der Beobachtung
gegeben oder aus empirisch gegebenen Tatsachen zu erschließen
ist. So betrachtet scheinen sich nun der reguläre stetige Laut\vandel
oder das Gebiet der gewöhnlich sogenannten » Lautgesetze c und
jene »assoziativen Fernewirkungen«, bei denen sich teils die Laut-
teils die Begrififselemente der Wörter beeinflussen, am ehesten als
Gegensätze gegenüberzustehen. Bei dem regulären Lautwandel tritt
die physische Seite des Prozesses in den Vordergrund, die psychi-
schen Bedingungen bleiben im Dunkeln. Bei den mannigfachen
Vorgängen der »Angleichung« dagegen erscheint diese selbst un-
mittelbar als ein Resultat psychischer Assoziationen. Beide Momente
durchdringen sich endlich in einer Verkettung anscheinend simultaner
Wechselwirkungen bei den Kontaktwirkungen der Laute, die
einerseits durch die Regelmäßigkeit, mit der unter ähnlichen Be-
dingungen der Lautkombination ähnliche Wirkungen eintreten, ander-
seits durch die sichtliche Beteiligung von Lautassoziationen eine Art
Mittelglied zwischen den andern Formen des Lautwandels bilden.
Bei allen diesen Erscheinungen bleibt aber zu beachten, daß die
Bedingungen, die sich für unsere Analyse in eine Sukzession be-
stimmter Akte auflösen, in der Wirklichkeit wegen der Zusammen-
setzung der Erscheinungen aus einer Menge elementarer Wirkungen
einen einzigen, in jedem Augenblick aus verschiedenartigen Gliedern
gebildeten psychophysischen Vorgang bilden. Das zeigt sich schon
bei den anscheinend am meisten auf die physische Seite fallenden
Wortassimilationen, wo das entstehende Produkt freilich in hohem
Maße durch die disponibeln Vorstellungselemente, gleichzeitig aber
doch auch durch die einem bestimmten Lautsystem und bestimmten
Wortgebilden angepaßte Artikulationsübung bestimmt wird. Das
zeigt sich dann in anderer Weise vor allem beim regulären Laut-
wandel, in den überall Kontakt Wirkungen und Lautassoziationen
modifizierend eingreifen, und der schließlich auch in seinen nicht
direkt auf solche zurückzuführenden Erscheinungen von den näm-
lichen Bedingungen wie diese, nämlich in erster Linie von dem
Tempo der Rede und den Verhältnissen der Betonung bestimmt
wird. Damit erweist sich schließlich der reguläre Lautwandel selbst
nicht als ein spezifischer Vorgang, sondern als eine Reihe von Er-
scheinungen, in denen sich die Gesamtheit der singulären Bedingungen
Allgemeiner Rückblick auf die Vorgänge des Lautwandels. 52g
lautlicher Veränderungen, namentlich der Lautkontakte und der
Lautassoziationen, zu resultierenden Wirkungen verbindet.
Demnach sind die verschiedenen Vorgänge des Lautwandels über-
haupt nicht ein Gemenge verschiedenartiger physischer und psychi-
scher Prozesse, sondern sie bilden ein einheitliches psycho-physi-
sches Geschehen, das nur je nach der Ordnung und Verknüpfung
seiner einzelnen Momente, und je nachdem diese einer entfernteren
Vergangenheit oder einer uns in ihren psychischen Motiven noch
zugänglicheren Stufe der Sprachentwicklung angehören, verschiedene
Formen annimmt.
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. 24
Fünftes Kapitel.
Die Wortbildung.
I. Psychophysische Bedingungen der Wortbildung.
I. Zentrale Störungen der W^ortbildung.
Die Frage nach der Beteiligung physischer und psychischer
Faktoren an den Funktionen der Sprache, die bei der Betrachtung
der verschiedenen Formen des Lautwandels eine so wichtige Rolle
gespielt hat, ist auch für das Problem der Wortbildung von her-
vorragender Bedeutung. Und mehr noch als dort sind hier im Laufe
der Zeit Wandlungen der Anschauung eingetreten, die in diesem
Fall um so bemerkenswerter sind, weil sie nicht von irgendwel-
chen philosophischen Richtungen oder sprachwissenschaftlichen
Hypothesen, sondern von Tatsachen der Beobachtung ausgingen.
Diese Tatsachen sind zunächst auf dem Gebiete der Pathologie
der Sprachstörungen gewonnen worden.
Waren dereinst Sprachwissenschaft und Psychologie dahin über-
eingekommen, dem Sprachlaut, als einer ursprünglich unter der
Wirkung irgendwelcher Gefühle oder Affekte entstehenden Aus-
drucksbewegung, eine halb physische halb psychische Bedeutung
zuzuschreiben, so verhielt sich dies wesentlich anders mit dem
Wort. Dieses, als Ausdruck eines Begriffs, fiel, so schien es, so
gut wie der Begriff selber, ganz auf die psychologische Seite. Das
Wort bedürfe zwar, so dachte man sich, der physischen Hilfsmittel
der Lauterzeugung, etwa, wie die Willenshandlung der Wirksamkeit
der äußeren Bewegungsorgane ; aber das Wort als solches sei doch
nicht minder ein geistiges Erzeugnis, wie Begehren und Wollen
psychische, nicht physische Vorgänge sind. Diese Vorstellung, die
in reinlicher Sonderung die Sprachfunktionen zwischen Körper und
Zentrale Störungen der Wortbildung.
531
Seele verteilte, erhielt einen schweren Stoß, als Broca sein be-
rühmtes »Sprachzentrum« auffand'). Wenn es sich in den von ihm
und andern beobachteten Fällen zeigte, daß der Besitz der artiku-
lierten Sprache an die Integrität einer bestimmten, wohlumgrenzten
Stelle der dritten Frontalwindung {AI Fig. 36) der linken — in sel-
tenen Fällen und, wie es scheint, vorzugsweise bei linkshändigen
Menschen, der rechten — Hirnhälfte gebunden ist, so mußte ein
solches Zentrum offenbar als ein physiologisches Organ der Wort-
bildung im eigentlichsten Sinne angesehen werden, um so mehr, da
die Erzeugung der artikulier-
ten Laute als solcher dabei
erhalten sein kann, also nur
die Zusammenfügung der
Laute zu Worten aufgehoben
ist. Aus diesem Grunde pflegt
man denn auch die durch Ver-
letzungen des genannten Zen-
trums entstehenden Sprach-
störungen nicht als motori-
sche, sondern als ataktische
Aphasie zu bezeichnen.
Bald zeigte es sich jedoch,
daß nicht in allen Fällen
zentraler Sprachstörungen, die zu dem allgemeinen Symptomenbild
der »Aphasie« gerechnet werden können, eine Affektion der Broca-
schen Windung nachzuweisen ist. Da war es ein wichtiger Fort-
schritt auf der einmal betretenen Bahn, als neben jenem ersten
Zentrum ein zweites, sensorisches aufgefunden wurde, dessen Zer-
störung nicht die Fähigkeit der Wortartikulation sondern das »Wort-
gedächtnis« aufhebt, so daß zwar ein unmittelbar vorgesprochenes
Wort meist nachgesprochen wird, zu einem sinnlich wahrgenom-
menen oder erinnerten Gegenstand aber das zugehörige Wort man-
gelt. Das so entstehende Symptomenbild bezeichnet man als das der
amnestischen Aphasie. Als das bei ihr in der Regel affizierte
Zentralg-ebiet erwies sich in einer großen Zahl von Beobachtungen
Fig- 36.
Lage der Sprachzentren im Frontal-
und Temporalhirn.
I) Broca, Sur le siege de la faculte du langage, 1861.
34=*
532
Die Wortbildung.
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SCfiO
die der Brocaschen Windung gegenüberliegende Region der ersten
linken Temporalwindung (5 Fig. 36)'). Hiernach lag es nahe, diese
Region 5 ebenso als das zu einer sensorischen Leitung gehörige
Zentrum anzusehen, wie das Brocasche M als Ausgangspunkt einer
motorischen Leitung, wobei die letztere, zentrifugale zu den unter-
geordneten direkten Zentren der Lautartikulation gerichtet sei, die
erstere, zentripetale aber zunächst von dem allgemeinen Hörzentrum
herkomme. Übrigens zeigten die Beobachtungen, daß bei der
» ataktischen Aphasie «
immer zugleich die Ar-
tikulations empfindun-
gen gestört sind, so daß
hier, ähnlich wie in an-
dern motorischen Ge-
bieten der Hirnrinde, die
Zentra für die Bewe-
gungsempfindungen mit
denen für die Inner-
vationserregungen der
Muskeln entweder sich
decken oder nahe zu-
sammenfallen ; daher
man in den von M aus-
gehenden Bahnen zentrifugale und zentripetale Leitungen vereinigt
denken kann, wie dies die Pfeile in der schematischen Fig. 37 an-
deuten. Zwischen dem Gebiet 5 und dem direkten Hörzentrum,
das man in den weiter rückwärts liegenden Teilen des Schläfe-
lappens vermutet, konnte dann ein analoges Verhältnis voraus-
gesetzt werden wie zwischen der Brocaschen Region M und den
direkten motorischen Zentren. Wie in M die Verbindung der ein-
zelnen motorischen Impulse zu den regelmäßigen Artikulations-
Fig. 37. Lokalisationsschema der Sprachfunktionen
nach Lichtheim.
I) C. Wernicke, Der aphasische Symptomenkomplex, 1874. Das Symptomen-
bild der »amnestischen Aphasie« hatte übrigens schon bald nach Brocas Entdeckung
W. Ogle (1867) beschrieben, der auch zuerst auf den Zusammenhang der zuweilen
vorkommenden rechtsseitigen Lage der Sprachzentren mit der Linkshändigkeit auf-
merksam machte. (Philos. Transactions, vol. XLV, p. 279.)
Zentrale Störungen der Wortbildung. 5^^
bewegungen, so mochte in 5 die Kombination der Lauteindrücke
zu Wortvorstellungen erfolgen.
Die so gewonnene Sonderung schien sich der Mannigfaltigkeit der
wirklich vorkommenden Störungen gegenüber schon dadurch nütz-
lich zu erw^eisen, daß sie nicht bloß solche Formen der Aphasie
annehmen ließ , die in je einem der beiden Zentren M oder 5
allein, sondern je nach Umständen auch solche, die in beiden zu-
sammen oder in der zwischen ihnen liegenden Leitungsbahn, die
im Hintergrund der Sylvischen Spalte [FS] das Gebiet der soge-
nannten »Insel« durchsetzt, ihren Sitz haben mochten. Dies veran-
schaulicht das in Fig. 37 durch die ausgezogenen Linien dargestellte
Schema, wo i, 2, 3, 4 und 5 die möglichen Orte der Funktionsstörung
andeuten. War einmal der Begriff des »Sprachzentrums« dergestalt
erweitert und gegliedert, so ließ sich nun aber auf diesem Wege
leicht fortschreiten, um den mittlerweile sich mehrenden Beobach-
tungen über weitere Sprachstörungen gerecht zu werden, für welche
die bloße Unterscheidung eines »motorischen« und eines »senso-
rischen« Zentrums nicht zuzureichen schien. Dahin gehörten nament-
lich die Fälle der »Worttaubheit«, der »Wortblindheit« (Alexie) und
der Unfähigkeit zu schreiben (Agraphie), von denen sich zwar die
beiden ersteren als eigentümliche Unterformen der amnestischen,
die letztere als eine solche der ataktischen Aphasie betrachten
ließen, wobei aber doch jede ihre besondere zentrale Lokalisation
zu fordern schien. Denn die Worttaubheit, d. h. die Unfähigkeit
Worte zu verstehen bei vollkommener Fähigkeit Laute zu hören,
kann, wie die Beobachtung zeigt, sehr wohl ohne Wortblindheit
vorkommen; und ebenso kann diese oder die Unfähigkeit, trotz
sonstiger Erhaltung des Sehvermögens, die Schriftzeichen der Worte
zu erkennen, ohne gleichzeitige Worttaubheit bestehen. Diesen Ver-
hältnissen suchte man gerecht zu werden, indem man das Schema
der zwei Sprachzentren in der durch die unterbrochenen Linien der
Fig. 37 angedeuteten Weise ergänzte. Das sensorische Zentrum 5
betrachtete man nun speziell als akustisches Wortzentrum S (/^).
Ihm trat als sekundäres sensorisches Sprachzentrum das optische 0,
und ebenso dem motorischen M das Schreibzentrum E zur Seite
(Fig- 37). Für beide ließen sich freilich bestimmte Gebiete in der
Hirnrinde nicht mit Sicherheit nachweisen. Höchstens kann man
c ■^ 4 I^ic Wortbildung.
noch nach verschiedenen Beobachtungen annehmen, daß das Zen-
trum 0 wohl dem in der Rinde des Okzipitalhirns liegenden all-
gemeinen Sehzentrum benachbart sei, ähnlich wie das akustische
Wortzentrum 5 {Ä) dem allgemeinen Hörzentrum. Daneben lag
es dann aber natürlich nahe zu vermuten, daß auch noch andere,
namentlich sensorische Zentren in ähnlichen Verbindungen mit den
beiden Hauptzentren M und 5 stehen möchten. In Fig. 37 sind
diese weiteren Zentren, denen man zuweilen mit Kußmaul ein all-
gemeines »Begriffszentrum« substituierte, durch den kleinen Kreis C
angedeutet'].
Mit Hilfe des so gewonnenen anatomischen Schemas sah man
sich in den stand gesetzt, alle irgend möglichen Sprachstörungen
zentralen Ursprungs zu klassifizieren und gewissermaßen a priori
vorauszusagen. Bezeichnen wir die in den Zentren selbst sowie in
den Leitungsbahnen möglicherweise vorkommenden Unterbrechungen
der Funktionen durch die in Fig. 37 mit den Zahlen i, 2, 3 . .
versehenen kleinen Striche, so würden z. B. nach diesem Schema
nicht weniger als 13 einzelne Störungen möglich sein, die dann
natürlich noch in der verschiedensten Weise kombiniert und abge-
stuft vorkommen könnten. Durch die den einzelnen Zentren bei-
gelegte Bedeutung würde aber die Beschaffenheit einer jeden Funk-
tionsstörung von selbst gegeben sein. So müßte z. B. einer
Leitungsunterbrechung bei 3 eine Aufhebung der Lautsprache fol-
gen, während das Schreibvermögen, da die Leitungen ME und
0 E noch bestehen, erhalten bliebe. Aufhebung der Funktion
des Zentrums M bei i würde vollständige Aufhebung des Sprach-
vermögens herbeiführen, während , falls der sensorische Teil der
Zentren und Leitungsbahnen unversehrt bliebe, gehörte und ge-
schriebene Worte noch verstanden werden könnten. Eine Unter-
brechung bei 6 würde die Fähigkeit spontan zu sprechen be-
seitigen, da von dem > Begriffszentrum« C aus die Zuleitung einer
motorischen Wortinnervation nicht mehr möglich wäre. Dagegen
würden, wenn die Leitungen SM und 0 E erhalten sind, gehörte
Worte nachgesprochen und geschriebene oder gedruckte gelesen
werden können. Wäre endlich bei 2 die Funktion von 5 aufgehoben,
Kußmaul, Die Störungen der Sprache, 1877, S. 182.
Hypothesen über die physischen Substrate der Wortbildung. c'ic
SO könnten gehörte Worte weder verstanden noch nachgesprochen
werden, während bei Integrität der Leitung Cßf noch spontanes
Sprechen möglich sein müßte, usw. ^].
2. Hypothesen über die physischen Substrate der Wortbildung.
Mit den durch das obige Schema ausgedrückten Anschauungen
hat die Pathologie der Sprachstörungen noch einige weitere ver-
bunden, die zuweilen wohl nur als vorläufige Hilfshypothesen be-
trachtet wurden, denen man aber doch nicht selten einen realen
Wert zuschrieb. In der Tat ist zuzugestehen, daß sich diese
Hypothesen wenigstens teilweise bei der Verfolgung des in der
vorausgesetzten Lokalisation der Sprachzentren eingeschlagenen
Weges mit innerer Folgerichtigkeit ergeben. Allerdings mögen da-
bei außerdem die Traditionen der alten Phrenologie etwas mitge-
wirkt haben, mit denen man durch jene Annahme besonderer
»Zentren« für so komplexe psychophysische Tätigkeiten, wie Spre-
chen, Wortverständnis und Schreiben, wieder in nahe Berührung
gekommen war. Ahnlich wie dereinst die Galische Phrenologie die
Oberfläche des menschlichen Gehirns in eine Anzahl »innerer Sinne«
eingeteilt hatte, deren jedem sie eine den äußeren Sinnen analoge,
nur gewissermaßen potenzierte Funktion zuschrieb, so begann man
nach der Entdeckung des Brocaschen Sprachzentrums in diesem
nicht, was zunächst gefordert schien, ein motorisches oder, mit
Rücksicht auf die gleichzeitigen Störungen der Artikulationsempfin-
dungen, ein motorisch-sensorisches Zentrum zu sehen, sondern man
') Das in Fig. 37 dargestellte Schema entspricht im wesentlichen zwei von
Lichtheim gegebenen Konstruktionen (On Aphasia, Brain, VIT, 1885, p. 437, 443),
mit denen übrigens auch das etwas ältere Schema Kußmauls in den Hauptzügen
übereinstimmt (Die Störungen der Sprache, S. 183). Beide Autoren lassen die Frage
der wirklichen anatomischen Lage der Zentren grundsätzlich beiseite. Einzelne
Beobachtungen über die verschiedenen der Aphasie zugezählten Funktionsstörungen
finden sich in reicher Menge in neuropathologischen Zeitschriften: so im Brain I,
p. 304, n, p. 303, 323 ff. (Hughlings Jackson), XH, p. 82 ff. (Starr), XXI, p. 343 ff.
(Bramwell), und in vielen Bänden des Archivs für Psychiatrie. Gute Darstellungen
des ganzen Gebiets finden sich bei Charlton Bastian, Über Aphasie und andere
Sprachstörungen, deutsch von Urstein, 1902, und, mit Berücksichtigung der psycho-
logischen Verhältnisse, bei Gust. Störring, Vorlesungen über Psychopathologie, 1900,
S. 127 ff.
5^5 Die Wortbildung.
erklärte es für ein ausschließlich sensorisches, also für eine Art von
»innerem Sinn«; und daran änderte auch die Entdeckung des außer-
dem für die amnestische Aphasie in Anspruch genommenen Zentrums
nichts. Vielmehr fühlte man sich dadurch eher in der allgemeinen
Voraussetzung bestärkt, daß jedes dieser Gebiete eine bestimmte
Kategorie von Vorstellungen in sich berge. Bei dem gewöhnlich so
genannten motorischen Zentrum {M Fig. 36) sollten das die Vorstel-
lungen der Sprachbewegungen, bei dem sensorischen Zentrum (5)
die Lautvorstellungen der Wörter sein; und ähnlich wurden dann
den später aufgestellten Zentren 0 und E (Fig. 37) bestimmte Arten
von Erinnerungsbildern, jenem die optischen Wortbilder, diesem die
Vorstellungen der Schreibbewegungen, zugeteilt, worauf es nun
nahe lag, auch noch die unabhängig von Wort und Schriftbild an-
genommenen Begriffe in einem besonderen »ideagenen Zentrum«
nach dem Vorschlage Kußmauls zu lokalisieren.
Diese Vorstellungen fanden einen lebhaften Widerhall in den
Deutungen, die Th. Meynert den Ergebnissen seiner um die gleiche
Zeit entstandenen bahnbrechenden Arbeiten über den feineren Bau
des Gehirns gab^). Waren auch diese Deutungen selbst schon von
der neu gewonnenen Lokalisation der Sprachfunktionen wesentlich
beeinflußt, so wirkten sie doch ihrerseits wieder auf die Auffassung
der Sprachzentren zurück. Als drittes Glied in dieser Vereinigung
sich wechselseitig stützender Gebiete erschien endlich noch die ex-
perimentelle Gehirnphysiologie, in der namentlich H, Munk die
nämlichen Anschauungen der Deutung seiner Ergebnisse zugrunde
legte").
So bildete sich immer zuversichtlicher die Ansicht aus, die
Rinde des großen Gehirns berge in jeder ihrer Zellen irgendeine
') Vgl. besonders die Bemerkungen zur Physiologie des Gehirns in seiner Psy-
chiatrie, I, 1884, S. 126 ff.
2) H. Munk, Über die Funktionen der Großhirnrinde, gesammelte Abhandlungen,
1891. Vgl. besonders die Einleitung zu diesem Werk und dazu meine Abhandlung
»Zur Frage der Lokalisation der Großhirnfunktionen«, Philos. Stud. VI, 1891, S. i ff.^
sowie Physiol. Psychol.5 I, S. 289 ff., über die Sprachzentren ebenda S. 307 ff. Vom
physiologischen Standpunkt aus hat auf Grund zahlreicher experimenteller Beobach-
tungen die Lokalisationsversuche Munks namentlich F. Goltz bekämpft: Über die
Verrichtungen der Großhirns, gesamm. Abhandl., 1881 ; dazu dessen weitere Arbeit
in Pfliigers Archiv für Physiologie, LI, 1892, S. 570 ff.
Hypothesen über die physischen Substrate der Wortbildung. r^y
Vorstellung-, und solche Depots von Vorstellungen seien in geson-
derten Gebieten massenhaft über die Oberfläche des Gehirns ver-
teilt. In einem bestimmten Bezirk sollten direkte Lauteindrücke
aufgenommen, in einem andern ältere Wortvorstellungen abgelagert
werden, ein dritter sei durch Gesichtsreize erregbar, ein vierter
berge die Gesichtsbilder früherer Eindrücke usw. Dabei sollten die
Depots der verschiedenen Arten von Erinnerungsbildern teils durch
vorhandene Vorstellungen bereits »besetzt« sein, teils aber auch
noch im leeren Zustand ihrer künftigen Insassen warten. Zerstö-
rung einer ein solches Vorstellungszentrum einschließenden Rinden-
region vernichte daher die in ihr abgelagerten Vorstellungen; aber
diese könnten durch neue ersetzt werden, die in den noch vakanten
Zellen Platz fänden. Auf solche Weise glaubte man sich auch die
oft zu beobachtende allmähliche Wiederherstellung der Funktionen
erklären zu können. Der nämliche Vorgang, der bei der normalen
Entwicklung das Gehirn mit den Erinnerungsbildern früherer Ein-
drücke gefüllt hatte, konnte sich ja wiederholen, solange nur über-
haupt unbesetzte Vorstellungszellen vorhanden waren. Wie wenig
diese Spekulationen im ganzen als bloß vorläufige Hilfsannahmen
gemeint waren, ging deutlich genug daraus hervor, daß man ernst-
lich die Frage erwog, ob die in der Hirnrinde zu zählenden Pyra-
midalzellen wirklich für die Bedürfnisse der menschlichen Intelligenz
ausreichten.
Nun erhellt freilich für jeden, dem die Begriffe Vorstellung,
Erinnerungsbild, Eindruck nicht bloße Wörter für unbekannte Be-
griffe sind, daß die Annahme, ein Erinnerungsbild werde in einer
Hirnzelle »deponiert«, bei dem Problem der erinnerten Vorstellungen
genau jener Stufe naiver Interpretation entspricht, auf dem sich
der äußeren Sinneswahrnehmung gegenüber dereinst die Physio-
logie der Alten befand. In den in den Hirnzellen abgelagerten
Erinnerungsbildern lassen sich in der Tat unschwer die direkten
Abkömmlinge jener Bildchen erkennen, die ein Empedokles und
Demokrit von den Gegenständen sich ablösen und in Auge und
Ohr eindringen ließen. Daß das Retinabild und die Klangwirkung
im äußeren Ohr nicht Gegenstände sind, die von außen in uns
hereinwandern, sondern vergängliche und veränderliche Funktionen
der Organe selbst, das weiß die Physiologie nachgerade. Das
c^S Die Wortbildung.
Gehirn ist ihr immer noch unbekannt genug, um sich nach wie vor
die abgelösten Bildchen in den Hirnzellen eingewandert und ab-
gelagert zu denken. Daß die Erinnerungsvorstellungen so wenig
Objekte sind wie die äußeren Wahrnehmungen, und daß sie sich
von diesen höchstens durch ihre noch größere Veränderlichkeit
unterscheiden, da keine zwei Erinnerungsbilder eines und desselben
Gegenstandes übereinstimmen, — alles das bleibt hier außer Frage.
3. Unzulänglichkeit der Lokalisationshypothesen.
Was der physiologischen Funktionsanalyse wahrscheinlich schwe-
rer gelungen wäre, das hat sich nun aber allmählich als eine drin-
gende Forderung bei der Untersuchung eben jener Sprachstörungen
herausgestellt, von denen die ganze über Anatomie, Physiologie
und beinahe auch über die Psychologie sich ausbreitende moderne
Lokalisationslehre ausgegangen war. Der Schematismus der Sprach-
zentren mit ihren leitenden Zwischenbahnen erwies sich um so un-
zulänglicher, je mehr man ihn im einzelnen durchzuführen suchte.
Mochte man sich auch häufig noch mit der Annahme bloß > funk-
tioneller« Störungen helfen, die unabhängig von lokalen Defekten
oder vermischt mit solchen vorkommen könnten, bei unbefangener
Betrachtung der Befunde läßt sich nicht mehr verkennen, daß neben
der Sonderung gewisser Bestandteile der Sprachfunktion immer deut-
licher zugleich bestimmte Zusammenhänge verschiedener Funktions-
gebiete hervortreten. Die Erkenntnis dringt durch, daß sich jeder
noch so einfach erscheinende sprachliche Vorgang aus einer Fülle
elementarer psychophysischer Funktionen verschiedener Art zusam-
mensetzt und regelmäßig zugleich bestimmte Hilfsfunktionen in An-
spruch nimmt, so daß es völlig unmöglich erscheint, ihn an ein eng
begrenztes Himgebiet oder gar an eine einzelne Hirnzelle binden zu
vrollen. Damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß sich die in
der Beobachtung gegebenen Sonderungen der Funktionen in irgend-
einem Schema festhalten lassen. Aber bei der Konstruktion eines
solchen muß man sich immer gegenwärtig halten, daß es nicht
bloß den zur Beobachtung kommenden Ausfallserscheinungen, son-
dern auch den Verbindungen der Funktionen, durch die sie sich
unterstützen oder für ausgefallene Ersatz schaffen, Ausdruck gebe.
Unzulänglichkeit der Lokalisationshypothesen. r^g
Das leistet offenbar das in Fig. 37 dargestellte Schema nicht, denn
es gerät überall in Widerstreit mit den Tatsachen. Es lassen sich
aus ihm Störungen der Wortbildung ableiten, die gar nicht vor-
kommen. Noch mehr aber bietet die Wirklichkeit eine Menge von
Störungen isoliert wie in Verbindung mit andern dar, die aus dem
Schema nicht herauszulesen sind, weil sie außerhalb der Voraus-
setzungen liegen, auf denen es beruht.
So ist es eine der augenfälligsten und durch keine Hilfsannahme
zu vermeidende Folgerung, die sich schon auf Grund der bloßen
Unterscheidung eines motorischen und eines sensorischen Sprach-
zentrums ergibt, daß eine Aufhebung der Leitung zwischen diesen
beiden Zentren (in 3 Fig. 37) die Fähigkeit gehörte Worte nach-
zusprechen aufheben müßte, während die Fähigkeit spontan zu
reden erhalten bliebe. Ein solcher Zustand kommt aber nicht vor.
Statt dessen hat man Fälle sogenannter »Paraphasie« hierher be-
zogen (s. unten 5). Da jedoch bei dieser eine gewisse Fähigkeit
des Nachsprechens immer besteht, während nur gelegentlich falsche
Worte für die richtigen eingesetzt werden, und da femer dieses
Symptomenbild bei den verschiedensten sonstigen zentralen Stö-
rungen beobachtet wird, so ist das sichtlich nur ein Notbehelf:
eine Störung, die genau der Leitungsunterbrechung bei 3 entspricht,
gibt es nicht ^;. Dies ist um so auffallender, als das zwischen den
Zentren J/ und 5 (Fig. 36) gelegene Gebiet der »Insel« gar nicht
so selten für sich allein, ohne daß die Stellen M und 5 selbst be-
troffen sind, Läsionen darbietet. Überhaupt müßten nach dem
Schema viel häufiger gesonderte motorische oder sensorische Ano-
malien beobachtet werden, als es der Fall ist, und es müßte un-
gefähr ebenso leicht eine sensorische Störung bei intakter moto-
rischer Wortbildung, wie umgekehrt eine motorische bei erhalten
gebliebenem Wortgedächtnis vorkommen können. Das trifft aber
wieder nicht zu: Störungen rein motorischer Art sind sehr häufig;
mit amnestischen Zuständen pflegen dagegen nicht selten auch mehr
oder minder beträchtliche Störungen der Wortartikulation verbunden
zu sein.
Läßt so die Annahme einer strengen Lokalisation der Wort-
^J S. Frend, Zur Auffassung der Aphasien. 1891, S. 11.
540
Die Wortbildung.
bildungsfunktionen Symptomenbilder erschließen, die tatsächlich nicht
vorkommen, so gibt sie aber auf der andern Seite über eine große
Menge von Störungen, und namentlich von Verbindungen, Begleit-
erscheinungen und nachträglichen Kompensationen derselben gar
keinen Aufschluß. So besteht die Schriftblindheit häufig zusammen
mit gewöhnlicher motorischer Aphasie, eine funktionelle Beziehung,
für die nur die Annahme einer zufällig gleichzeitigen Affektion der
Zentren M und 0 übrigbliebe. Ferner ist es eine bei den ver-
schiedensten Störungen vorkommende Erscheinung, daß das Nach-
sprechen erhalten bleibt, während die spontane Wortbildung, das
Erkennen von Wörtern und das Lesen von solchen unmöglich ist.
Von allen unter den unbestimmten und für viele Fälle ungenauen
Begriff der »Aphasie« zusammengefaßten Erscheinungen sind es
endlich ganz besonders diejenigen, die man den spezielleren Symp-
tomengruppen der »Amnesie« und der »Paraphasie« zuzählt, die
durch ihren Verlauf, durch ihr Ineinandergreifen und durch die
eigentümlichen kompensatorischen Vorgänge, die bei ihnen be-
obachtet werden, dem Versuch sie in eines der üblichen Lokali-
sationsschemata einzuordnen widerstreben, während gerade sie
psychologisch von besonderem Interesse sind. Aus diesem Grunde
bedürfen sie hier einer eingehenderen Betrachtung.
4. Physiologische und pathologische Amnesie.
Unter der »amnestischen Aphasie« pflegt man, um dem in dem
Wort Aphasie liegenden Begriff einigermaßen treu zu bleiben,
solche Sprachstörungen zu verstehen, bei denen das Wortgedächt-
nis entweder ganz oder bis auf geringe Reste aufgehoben ist. Da
nun von diesen schwersten Formen der Störung an bis zu den
leichteren einer noch tief in das normale Leben hereinreichenden
Schwäche des Wortgedächtnisses alle möglichen Übergangsstufen
vorkommen, so sieht man sich genötigt, jenem Begriff den allge-
meineren der »Amnesie« gegenüberzustellen. Er ist um so unent-
behrlicher, als in diesem Fall ebensosehr die leichteren Symptome
durch die schwereren, wie nicht selten diese durch jene erläutert
werden. Die »Amnesie« in diesem Sinne ist eine lediglich nega-
tive Störung: sie besteht in einem Versagen der Assoziationen
Physiologische und pathologische Amnesie. e^I
zwischen Begriff und Wort. Während die Vorstellungen und Be-
griffe, sofern nicht gleichzeitig anderweitige Störungen vorhanden
sind, in normaler Weise gebildet werden können, unterbleibt die
Assoziation, die von dem Begriff zu dem ihn bezeichnenden Worte
führt, entweder völlig, oder sie spricht schwieriger an, so daß das
Wort nur mit Mühe und meist unter Mitwirkung von Assoziations-
hilfen gefunden werden kann.
Die Wirksamkeit solcher Assoziationshilfen sogar bei Gedächtnis-
mängeln infolge grober Gehirnläsionen zeigt schlagend ein zuerst
von Grashey ^) beobachteter Fall hochgradiger pathologischer Am-
nesie. Der Patient hatte infolge einer Kopfverletzung sein Wort-
gedächtnis fast völlig verloren; er besann sich aber auf den Namen
eines Objektes, indem er ihn »schreibend fand«, d. h. indem er das
Schriftbild des Wortes durch Fingerbewegungen oder, wenn er
daran gehindert war, durch Bewegungen einer Zehe, im Notfalle
selbst der Zunge hervorbrachte. Darauf stellte sich dann auch die
Lautvorstellung ein^). Offenbar war also in diesem Falle das Ge-
dächtnis für optische Wortbilder sowie das für Schreibbewegungen
erhalten, aber das für akustische Wortvorstellungen aufgehoben:
so weit würde die Erscheinung als eine Läsion des Zentrums 5 {A)
bei intakter Beschaffenheit von 0 und E (Fig. 37) zu deuten sein.
Aber was sich dadurch nicht erklären läßt, ist die Tatsache, daß
die Funktion von £ auch das insuffizient gewordene Zentrum 5 {Ä}
wieder zur Funktion anregt, daß also die Unterbrechung dieser
Funktion keine absolute ist, sondern sich teils bei unmittelbarer
Einwirkung des Wortes — der Patient vermochte unmittelbar ge-
hörte Worte nachzusprechen — teils durch das willkürlich erzeugte
') Grashey, Archiv für Psychiatrie, XVI, 1885, S. 654 ff. Vgl. auch die weiteren
eingehenden Untersuchungen des gleichen Patienten von R. Sommer, Zeitschr, für
Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, II, 1891, S. 143 ff., und Gustav Wolff,
ebenda XV, 1897, S. i ff.
2) Ähnliche Hilfswirkungen von selten der Schreibbewegungen sind auch in
Fällen von Amnesie, die mit >Agraphie« verbunden waren, beobachtet worden. So
konnte ein von Hans Gudden untersuchter amnestischer Patient bekannte Wörter
nicht schreiben, weder wenn man sie ihm diktierte, noch wenn man ihm die von
ihm selbst geschriebenen zum Abschreiben vorlegte. Er schrieb sie aber sofort
nach, wenn man sie ihm vor seinen Augen vorschrieb. (Neurologisches Zentralblatt,
1900, Nr. I, S. 13.)
CA^2 Die Wortbildung.
Schriftbild desselben, das der amnestischen Störung nicht unterlag,
momentan wiederherstellen kann. Diese Mithilfe begleitender Vor-
stellungen zeigte sich bei dem gleichen Patienten auch noch in man-
chen andern Erscheinungen. Auf die Frage: »welche Farbe hat das
Blut?« vermochte er z. B. keine Antwort zu finden, obgleich er,
wie seine Handlungen verrieten, den Sinn der Worte verstand. Er
vermochte es selbst dann nicht, als man ihm irgendein anderes rotes
Objekt vorzeigte. Aber das Wort kam ihm sofort, als er, um es zu
finden, absichtlich eine kleine Pustel an seiner Hand ößhete und den
Blutstropfen hervorquellen sah. Dieses Beispiel zeigt zugleich, wie
der Patient mit Überlegung und nicht ohne Aufwand eines gewissen
Scharfsinns bemüht war dem Defekt seines Wortgedächtnisses abzu-
helfen und ihn gelegentlich zu verbergen wußte. Wollte man allen
diesen Verhältnissen in einem Lokalisationsschema Ausdruck geben,
so müßte daher in diesem nicht bloß den besonderen Assoziations-
bedingungen der verschiedenen Zentren untereinander, sondern auch
den Einflüssen Rechnung getragen sein, die bei solcher Aushilfe
der Funktionen von höheren Zentralgebieten, in denen wir uns die
Elemente der Apperzeptions- und Aufmerksamkeitsvorgänge lokali-
siert denken können, ausgehen. Und zu dem allem müßte man,
um der notwendig anzunehmenden Verbindung einfacher Funktionen
zu komplexen Resultanten zu genügen, die in der üblichen Schema-
tisierung der Sprachzentren festgehaltene Voraussetzung aufgeben.
Laut und Wort seien bei der Bildung und Erkennung der Worte
getrennt existierende Vorstellungen. Dennoch wird man an »Wort-
zentren« höchstens in dem Sinne denken können, daß die in
den Wortvorstellungen durch gemeinsame Funktionsübung verbun-
denen Gehörsempfindungen weiteren, dem direkten Hör- und Seh-
zentrum beigegebenen Zentralgebieten zugeleitet werden, deren
Leistungen aber durchaus an die gleichzeitige Funktion jener un-
mittelbaren Sinneszentren gebunden sind. Damit verschwindet dann
von selbst die unmögliche Annahme irgendeiner »Ablagerung von
Wörtern« im Gehirn. Denn in jener Forderung eines funktio-
nellen Zusammenhangs von Zentren verschiedener Ordnung ist
schon die Voraussetzung enthalten, daß jede Wortvorstellung auch
nach ihrer physiologischen Seite ein komplexer Vorgang ist, der
das Zusammenwirken zahlloser zentraler Elemente umfaßt und da-
Physiologische und pathologische Amnesie. 54^
her von Fall zu Fall in unendlich mannigfaltiger Weise variieren
kann.
Selbst nach dieser wesentlichen Modifikation der Lokalisations-
vorstellungen bleibt aber noch eine Menge einzelner Verhältnisse
übrig, die von besonderem Wert für die funktionelle Charakteristik
der Sprachstörungen sind, und die sich gleichwohl oder, wie man
vielleicht besser sagen müßte, die sich deshalb, weil sie mit der
allgemeinen Natur der zentralen Funktionen auf das engste zu-
sammenhängen, jedem Versuch einer Lokalisation der verwickei-
teren Funktionen in besonderen räumlich zu trennenden Gebieten
entziehen. Dahin gehört namentlich die bei allen Erscheinungen
der Amnesie und bei deren verschiedensten Graden, von der
beinahe gänzlichen Aufhebung des Wortgedächtnisses bis zu der
noch in die Breite des normalen Lebens reichenden Vergeßlichkeit,
beobachtete Tatsache, daß die einzelnen Wörter je nach
der Kategorie der Vorstellungen und Begriffe ein außer-
ordentlich verschiedenes Beharrungsvermögen besitzen.
Schon bei den noch dem normalen Vergessen angehörenden Er-
scheinungen bemerken wir nämlich regelmäßig, daß nicht, wie
man denken könnte, die abstraktesten Redeteile, Bejahung, Ver-
neinung, Präpositionen, Konjunktionen und abstrakte Adverbien,
am schnellsten vergessen werden, sondern umgekehrt diejenigen
Wörter, die am unmittelbarsten konkrete sinnliche Gegenstände be-
zeichnen: die Eigennamen bestimmter Personen, dann die konkreten
Substantiva. An sie schließen sich die Adjektiva, und unter ihnen
gehen wieder solche voran , die von sinnlich anschaulicher Bedeu-
tung sind. Fester haften die abstrakteren Adjektiva und die Verba,
und am festesten endlich neben den Interjektionen die abstrakten
Partikeln. Diese Reihenfolge wiederholt sich allerdings in den
pathologischen Fällen nicht immer in gleich deutlicher Weise. Sie
wird hier bald von einer teilweisen Wiederherstellung der Funktionen,
bald von andern Störungen durchkreuzt, die auf bestimmter lokalisierte
Unterbrechungen der Leitung zurückzuführen sind. Dennoch sind
die Spuren jener Regelmäßigkeit häufig selbst bei der motorischen
Aphasie anzutreffen. Daß aber die Erscheinung aus irgendeiner
Lokalisation der Erinnerungsbilder nicht erklärt werden kann, ist
einleuchtend. Müßte man doch nicht bloß voraussetzen, die Wörter
544 Die Wortbildung.
seien nach grammatischen Kategorien in den Hirnzellen abgelagert,
sondern auch die Zerstörung der Erinnerungszentren gehe immer in
der entsprechenden Reihenfolge vor sich.
5. Erscheinungen der Paraphasie.
Gegenüber der Amnesie als einer Gruppe reiner Ausfallserschei-
nungen bezeichnet die »Paraphasie« ein positives Symptomenbild.
Wir verstehen nämlich unter diesem Ausdruck diejenigen Störungen,
bei denen die Wortbildung als solche beeinträchtigt ist, indem ent-
weder verschiedene Wörter miteinander verwechselt oder ganz neue
Wörter gebildet und den der Sprache geläufigen substituiert werden.
Diese Wortfehler sind wohl zu unterscheiden von den früher (S. 382 ff.)
besprochenen Lautvermengungen oder »Paralalien« , mit denen sie
häufig zusammengeworfen werden. Bei der »Paralalie« wird das
richtige Wort gewählt, aber es wird infolge abnormer Assimila-
tionen, Dissimilationen, Auslassungen von Lauten usw. unrichtig
ausgesprochen. Bei der »Paraphasie« wird von vornherein ein un-
richtiges Wort gewählt, während namentlich bei den geringeren,
bloß in einzelnen Wortverwechslungen bestehenden Graden dieser
Störung jedes einzelne Wort richtig gesprochen wird. In der Mitte
zwischen den Paralalien und den Paraphasien steht die »Wortver-
mengung« (Onomatomixie S. 387), in die daher auch die Symptome
der Paraphasie ohne scharfe Grenze übergehen können. Im allge-
meinen rechnen wir aber eine Erscheinung zur »Onomatomixie«,
solange es sich bloß um eine lautliche Veränderung handelt, die
ein bestimmtes Wort durch die assoziative Einwirkung eines andern
erfährt, indes das ursprüngliche Wort immer noch deutlich erkenn-
bar bleibt. Wir reden dagegen von »Paraphasie«, wenn das Wort
in seinen wesentlichen Bestandteilen durch assoziative Einwirkungen
völlig unkenntlich, oder wenn es durch ein ganz anderes Wort oder
wortähnliches Gebilde ersetzt wird. Aus diesen Gründen schließt
sich trotz der Verwandtschaft beider Erscheinungen die Onomato-
mixie noch den Lautstörungen der Sprache an, während die Para-
phasie zu den Störungen der Wortbildung gerechnet werden muß.
Damit hängt zusammen, daß die Paraphasie im allgemeinen ein
schwereres Symptom ist, und daß sie daher bei dem gewöhnlichen
Erscheinungen der Paraphasie. 545
»Versprechen« nur selten, um so häufiger dagegen als pathologische
Erscheinung vorkommt. Als solche ist sie wohl stets mit einer
Rindenaffektion des Gehirns verbunden. Aber sie läßt sich weder
in einem hypothetischen Lokalisationsschema unterbringen noch
tatsächlich auf eine fest bestimmte örtliche Störung zurückführen.
Gleichwohl kann sie sich mit den verschiedensten andern Sprach-
störungen verbinden sowie als Vorläuferin tieferer Defekte auf-
treten.
Vor allem finden sich die Erscheinungen der Wortverwechslung
und der Einschaltung von Wörtern, die außerhalb des Zusammen-
hangs der Rede liegen, als Begleiterinnen der pathologischen
Amnesie. Aber auch bei höheren Graden seniler Gedächtnisschwäche
beobachtet man namentlich die Wortverwechslungen nicht selten.
Dieser Zusammenhang erklärt sich ohne weiteres daraus, daß ge-
rade in den Momenten, wo die richtige Assoziation zwischen Vor-
stellung und Wort versagt, der Zufluß solcher Vorstellungen, die
durch irgendwelche andere Assoziationsbedingungen gehoben wer-
den, relativ erleichtert ist. Anderseits zeigt jedoch das Vorkommen
paraphatischer Erscheinungen bei ganz intaktem Wortgedächtnis,
sowohl bei der Gedankenflucht der Irren wie bei geistig gesunden
Menschen infolge hochgradiger Zerstreutheit, daß es sich hier um
direkte assoziative Ursachen handelt, zu denen die Amnesie nur als
begünstigendes Moment hinzutreten kann.
Die stärksten, freilich auch irregulärsten Beispiele der Paraphasie
bietet in vielen Fällen die Sprache der Geisteskranken: irregulär
deshalb, weil es hier meist zufällig eingeübte Wortvorstellungen,
manchmal auch ganz willkürliche Wortgebilde oder mindestens will-
kürliche Wortzusammensetzungen sind, die den Redestrom unter-
brechen, ohne Rücksicht darauf, ob sie an der betreffenden Stelle
ein anderes ausfallendes Wort vertreten oder die Rolle sinnloser
Klangbilder spielen, denen aber der Kranke nicht selten eine be-
sondere Bedeutung beilegt"). Viel regelmäßiger gestalten sich die
Wortvertretungen bei den höheren Graden der Amnesie. Beson-
ders beobachtet man das bei jenen Erscheinungen des Gedächtnis-
schwundes, wo im allgemeinen konkretere Wortklassen fehlen, aber
I) Brosius, Allg. Zeitschr. für Psychiatrie, XI, S. 52 fF.
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. jtf
: i5 Die Wortbildung.
abstral^ere noch verfügbar sind ^S. 543). Hier pflegt bald ein nahe
verwandtes abstraktes Wort substituiert, bald auch geradezu das feh-
lende definierend umschrieben zu werden: z. B., wenn die konkreten
Substantiva versagen, die entsprechenden \'erba aber noch geläufig
sind, die *^Schere' als Mas womit man schneidet', das *^Fenster' als
'das wodurch man sieht' u. dgl. ^^ Kommen die Wortverwechs-
lungen bei irregulärer Amnesie vor, so treten sie meist in der Form
auf daß die Wörter in der gleichen Kategorie bleiben, so daß also
Wörter wie Tisch und Stuhl, stehen und hängen, gehen und fahren
miteinander verwechselt werden.
Auch in sonst normalen Zuständen können ähnliche Wort\'er-
tauschungen als gelegentliche Begleiterscheinungen oder Steige-
rungen der Laut- und Wort\'ermengungen vorkommen. Von den
eigentlich pathologischen Fällen unterscheiden sich diese noch dem
normalen Leben angehörigen Erscheinungen dadurch, daß sich die
Assoziationen innerhalb eines engeren Gebiets verwandter oder sich
berührender Vorstellungen bewegen*). Manchmal wechseln dabei
auch nur bestimmte Begritte ihre Stellen, oder es wird aus einer
begriftlich verwandten Redeweise ein Wort oder eine Wortgruppe
herübergenommen, Fälle, die sich als assoziative Substitution, Per-
mutation und Kontamination unterscheiden lassen. So in den Bei-
spielen: 'Maximilian I. hatte die Hoftnung, den Thron auf seinem
Haupte zu sehen' 'Substitution von 'Thron' für 'Krone'), 'In Neapel
geht man des Abends auf dem Hause seines Daches spazieren'
(Permutation). 'Er setzt sich auf den Hinterkopf ^kontaminiert aus
'er setzt es sich in den Kopf und 'er stellt sich auf die Hinter-
beine'ri- Dagegen nähert es sich schon der Grenze des Patholo-
I) Kußmaol. Störungen der Sprache. S. 163.
-] Zahlreiche Beispiele dieser Art finden sich in der Sammlung >Gallettiana«;
(Berlin^ 1876). Sie enthält Aussprüche eines 1750— 1S2S in Gotha lebenden, an
hochgradiger Zerstreutheit leidenden Schulmonarchen. Dieselben gehören, abgesehen
von wenigen Beispielen von Onomatoniixie. sämtlich in das Gebiet der »Paraphasie«,
während kein einziger Fall einer >Paralalie< darunter vorkommt — ein Beweis für
die oben S. 544 hen-orgehobene Wesensverschiedenheit dieser Erscheinungen. Nur
wenige Beispiele von Paraphasie enthält dagegen die Sammlung von Meringer und
Mayer. Versprechen und Verlesen vgl. S. 3S2 Anm. 2\
3 Die beiden ersten Beispiele aus den >Gallettiana<. das dritte aus Meringer
und Mayer, welche letztere Autoren noch mehrere Fälle solcher Kontamination bei-
bringen ,S. 53 fF.v Übrigens wird der Begriff der »Kontamination« gewöhnlich nach
Psychophysisches Prinzip der Funktionsübung. c^j
gischen, wenn ein Wort durch Assoziation ein anderes wachruft,
das aus dem Gedankenzusammenhang herausfällt, eine assoziative
Einschaltung, die sich am nächsten an die Substitution anschließt
und manchmal mit ihr verbunden sein kann. So in dem Beispiel:
""Elisabeth erschien nach der Hinrichtung der Maria Stuart im Par-
lament in der einen Hand das Schnupftuch, in der andern eine
Träne' (Gallettiana) , wo durch Assoziation mit der *^einen Hand'
die 'andere"" interponiert und zugleich dem "^Auge' substituiert ist.
6. Psychophysisches Prinzip der Funktionsübung.
Da die zentralen Störungen der Sprache, wie ihr Zusammen-
hang mit Verletzungen und krankhaften Veränderungen bestimmter
Hirngebiete beweist, physisch bedingte, an sich selbst aber psy-
chische Symptome sind, so fordern sie eine doppelte Funktions-
analyse heraus : eine physiologische und eine psychologische. Dabei
wird freilich die letztere der ersteren immer als Führerin dienen
müssen, nicht nur weil die psychische Seite der Sprachstörungen
unserer Beobachtung zugänglicher, sondern weil auch bei den mannig-
fachen Erscheinungen ihrer Korrelation und Kompensation die psy-
chologische Deutung die näherliegende ist. Bei dem gegenwärtigen
Zustande der Gehirnphysiologie ist jedoch überhaupt eine tiefer ein-
dringende physiologische Funktionsanalyse völlig ausgeschlossen;
und es ist nicht wahrscheinlich, daß sich dieser Zustand in abseh-
barer Zeit wesentlich ändern werde. Was die physiologische hier
der psychologischen Betrachtungsweise zu bieten vermag, beschränkt
sich vorläufig auf einen allgemeinen Gesichtspunkt, der, weil er sich
in gleicher Weise für die physische wie für die psychische Seite
der Erscheinungen bewährt, zugleich eine allgemeinere psychophy-
sische Bedeutung besitzt. Er besteht in dem Prinzip der Funk-
tionsübung. Dieses Prinzip sagt aus, daß jede Funktion, mag
sie nun eine physische oder eine psychische oder beides zugleich
dem Vorgang von H. Paul (Prinzipien der Sprachge3chichte,3 S. 145 ff., sehr weit
gefaßt, so daß er Vorgänge der Lautbildung, Wortbildung und Satzfügung einschließt,
die sich, wenn auch überall Assoziationen zwischen ursprünglich gesonderten Vor-
stellungen eine Rolle spielen, doch wesentlich unterscheiden.
35*
^^8 Die Wortbildung.
sein, durch ihre Ausübung gesteigert, durch ihre Unter-
lassung vermindert und schließlich aufgehoben wird.
Der Begrifif der Übung ist an und für sich ein gemischter, der
ebenso rein physiologische wie psychologische Erscheinungen um-
faßt. Auch wo uns ein Übungsvorgang unmittelbar nur als psy-
chischer Tatbestand gegeben ist, da weist aber dieser regelmäßig
auf gleichzeitige physische Übungsvorgänge hin. Diese gemischte
Anwendung des Begriffs zeigt schon, daß er ein rein symptomatischer
Begriff ist, der an sich einen nur provisorischen Wert besitzt. So-
bald man ihm einen bestimmteren Inhalt zu geben sucht, so wandelt
er sich von selbst in eine psychologische oder in eine physiologische
Gesetzmäßigkeit um. So hat der Begriff der psychologischen
Übung seine Unterlage in der Befestigung der Assoziationen durch
Wiederholung, die zugleich die beiden Hauptfälle der unmittel-
baren Übung und der Mitübung einschließt. Die erstere besteht
in der durch oft wiederholte Assoziation zunehmenden Bereitschaft
eines vorangegangenen Bewußtseinsinhaltes zu seiner Erneuerung;
die letztere in der Übertragung einer solchen Bereitschaft von einem
gegebenen Bewußtseinsinhalt auf einen andern, der mit jenem häufig
verbunden war. Dem stehen die mannigfaltigsten Vorgänge rein
physiologischer Art gegenüber, die wir ebenfalls nach dem all-
gemeinen Charakter ihrer Wirkungen der Übung und Mitübung
unterordnen. So wird eine Muskelgruppe geübt, wenn ihre Leistungs-
fähigkeit durch wiederholte Arbeit zunimmt; und eine andere wird
mitgeübt, wenn sie, ohne direkt an jener Leistung beteiligt zu sein,
infolge der mechanischen oder der nervösen Verbindungen des
Muskelsystems regelmäßig in Mitbewegungen gerät. Bei der Übung
peripherer Organe können wir über die Bedingungen dieser Ver-
änderungen einigermaßen Rechenschaft geben, indem wir sie auf
die durch die Arbeitsleistung gesteigerte Ernährung und die so be-
wirkte Zunahme latenter Energie zurückführen. Dunkler ist der
Vorgang bei den für die psychophysischen Funktionen maßgeben-
den Übungsvorgängen im Nervensystem. Hier ist es, abgesehen
von den in gleicher Weise anzunehmenden Ernährungseinflüssen,
hauptsächlich eine Tatsache, die auf den eigentümlichen Charakter
der Übungsvorgänge Licht wirft : das ist die schon bei den einfach-
sten Reizversuchen an motorischen oder sensibeln Nerven zu beob-
Psychophysisches Prinzip der Funktionsübung. e^n
achtende Zunahme der Reizbarkeit durch die Reizung').
Sie macht es begreiflich, daß jede Bahn, die irgendwo im Nerven-
system häufiger von einem Erregungsvorgange durchflössen wird,
für künftige Reize zugänglicher wird. Daraus ergibt sich in der An-
wendung auf die unendlich vielgestaltigen Leitungs- wie Erregungs-
bedingungen der Nervenzentren die Folgerung, daß die Wege, die
ein Erregungsvorgang einschlägt, in letzter Instanz zwar von den
überhaupt vorhandenen und in der vererbten Organisation gegebenen
zentralen Elementen und Nervenleitungen abhängen, daß aber zugleich
die Bedingungen der Erregbarkeit und der Leitung fortwährend
durch die wirklich stattfindenden Erregungen, gemäß jenem Prinzip
der Zunahme der Reizbarkeit durch die Reizung, verändert werden.
Die Leitungsbahnen in einem individuellen Gehirn sind also zu
einem sehr wesentlichen Teile selbst schon Produkte dessen, was
wir »Übungsvorgänge« nennen. Die Substrate der Nervenerregungen
sind nichts Beharrendes, sondern in ihrer physiologischen Anlage
zum Teil Erzeugnisse ihrer Funktionen. Hiermit ist eigentlich eine feste
Lokalisation dieser Funktionen bereits ausgeschlossen. Bedenken
wir aber vollends, auf welch verwickeltem Zusammenwirken ele-
mentarer physischer Vorgänge die Entstehung einer einfachen Sinnes-
wahrnehmung, z. B, eines zusammengesetzten Klangs oder einer
ausgedehnten Fläche, schon innerhalb der peripheren Anhangs-
apparate des Nervensystems beruht, so werden wir die Annahme,
daß die Erregungszustände einer abgegrenzten Rindenstelle als phy-
sische Substrate einer bestimmten Klasse von Vorstellungen, z. B.
von Laut- oder von optischen Bildern der Worte, anzusehen seien,
als unmöglich zurückweisen. Leider fehlen uns jedoch, abgesehen
von jenen allgemeinen Gesetzen der Erregung und Erregungsleitung,
auf physiologischer Seite alle Hilfsmittel einer exakteren Funktions-
analyse.
Dagegen bewährt es sich gerade bei der Sprache, daß die zu-
fälligen Störungen im Zusammenhang der Gehirnteile ein außer-
ordentlich wertvolles Hilfsmittel für die psychologische Analyse selbst
sind. Zerlegen sich uns doch bei solchen Störungen Vorgänge, die
im normalen Bewußtsein fast nur in ihrem ungeteilten Zusammen-
') Vgl. oben Kap. I, S. 8i.
eeo Die Wortbildung.
hang vorkommen, deutlich in ihre psychischen Komponenten; und
durch die Art der Ausgleichung der Störungen gewähren sie einen
oft überraschenden Einblick in die Wechselbeziehungen der psy-
chischen Funktionen. Abgesehen von dieser Hilfe, die sie der
Psychologie leisten, ergibt sich aber aus der Beziehung der Störungen
zu bestimmten Gehirnläsionen nur das allgemeine Resultat, daß wie
schon der Sprachlaut so auch das Wort im eigentlichsten Sinn ein
psychophysisches Gebilde ist, — ein psychophysisches auch in
der Bedeutung, daß wir die gesamten physiologischen Begleiterschei-
nungen der Sprachfunktion weder als Ursachen noch als Wirkungen,
sondern nur als Parallelvorgänge der psychischen Prozesse an-
sehen können. Denn die vorauszusetzenden physischen Anlagen
lassen sich gerade so gut nur aus den physischen Eigenschaften der
Nervensubstanz ableiten, wie umgekehrt die psychischen Vorgänge
der Wortbildung nur aus den Assoziations- und Apperzeptions-
prozessen zu begreifen sind. Als psychisches Erzeugnis steht das
Wort inmitten der gesamten seelischen Entwicklungen, aus denen
die Sprache hervorgeht; als physisches ist es ein integrierender
Bestandteil der auf ererbten und erworbenen Anlagen beruhenden
Funktionen des Nervensystems und seiner Hilfsorgane.
7. Psychologische Deutung der zentralen Sprachstörungen.
Vermag uns die Physiologie, abgesehen von dem allgemeinen
psychophysischen Prinzip der Funktionsübung und seiner letzten
Zurückführung auf gewisse elementare Eigenschaften der Nerven-
erregung, über den Zusammenhang der zentralen Sprachstörungen,
über ihre Korrelationen und Kompensationen nicht die allergeringste
Auskunft zu geben, so verhält sich das wesentlich anders mit der
psychologischen Deutung der Erscheinungen. Hier bieten diese,
wie oben bemerkt, ein überaus wichtiges, durch kein anderes ersetz-
bares Hilfsmittel für die psychologische Analyse der Wortbildungs-
vorgänge. Die Natur hat in diesem Falle selbst für uns an einem
Objekt, dem menschlichen Gehirn, experimentiert, das sonst mehr
als irgendein anderes willkürlichen Eingriffen entzogen bleibt. Die
Sprachstörungen können aber natürlich diese Hilfe nur deshalb
Psychologische Deutung der zentralen Sprachstörungen. ccj
leisten, weil sie selbst einer nahezu vollständigen psychologischen
Deutung zugänglich sind.
Die üblichen Lokalisationshypothesen pflegen, wie oben (S. 539)
erwähnt, schon an der Tatsache zu scheitern, daß mit tieferen Stö-
rungen des Wortgedächtnisses beinahe regelmäßig auch Störungen
der Artikulationsfähigkeit verbunden sind. Psychologisch betrachtet
ist diese Wechselbeziehung nicht bloß begreiflich, sondern nahezu
selbstverständlich. Ist doch das akustische oder optische Wortbild
so eng mit den Sprachbewegungen assoziiert, daß bei dem Natur-
menschen, bei dem nicht willkürliche Hemmungen diese Assoziation
teilweise gelöst haben, das gedachte oder gelesene Wort unvermeid-
lich in das gesprochene übergeht. Das Denken in Worten ist zu-
gleich leises' Sprechen, und auch wenn die sichtbaren Bewegungen
der Sprachorgane unterdrückt werden, bleibt es dies in dem Sinne,
daß schwache Impulse zu denselben samt den sie begleitenden
leisen Empfindungen zurückbleiben^). Werden nun durch irgend-
eine zentrale Störung die Artikulationsbewegungen unmöglich, so
versagt damit die Assoziationshilfe, die sie den akustischen Wort-
vorstellungen gewähren. Aber da die normale Wortassoziation von
den akustischen oder optischen Wortvorstellungen zu den Artikula-
tionsbewegungen geht, nicht umgekehrt, so werden Störungen in
der Bildung jener Vorstellungen immer auch mehr oder weniger die
motorische Seite der Sprachfunktion beeinträchtigen, während direkte
I) Nur mit der hier angedeuteten Einschränkung, also mit dem Vorbehalt, daß
die natürliche Assoziation der Wortvorstellung mit den Artikulationsbewegungen und
-empfindungen durch Hemmung der letzteren in gewissen Grenzfällen ganz gelöst
werden kann, ist daher der von Stricker (Studien über die Sprachvorstellungen,
1880, S. 29 ff.) aufgestellte Satz richtig, die »Wortvorstellungen« seien »motorische
Vorstellungen«. In Wahrheit sind sie eben Komplikationen von Lautvorstellungen
und Artikulationsempfindungen, zu denen als dritter Bestandteil auch noch Schrift-
bilder und das Schreiben oder Zeichnen begleitende innere Tastempfindungen (pan-
tomimische Bestandteile) kommen können, und bei denen, wie bei allen Kompli-
kationen, eventuell jeder Bestandteil bis zur Nullgrenze geschwächt sein kann. Ob
und wie dies stattfindet, das hängt aber von den Verhältnissen der assoziativen
Übung ab. Bei dem Gelehrten, der an leises Denken und Lesen gewöhnt ist, ver-
blassen die Artikulationsempfindungen, und die Bewegungen können derart unter-
drückt sein, daß nur einzelne besonders betonte Wörter in einer längeren Wort-
reihe leise artikuliert werden. Dafür drängen sich dann gelegentlich auch beim
lauteren Denken Schriftbilder der Worte auf.
c c 2 Die Wortbildung.
Störungen der Sprachbewegungen selbst nicht notwendig auf die
akustischen oder optischen Bestandteile der Wortkomplikationen
übergreifen müssen. Übrigens widerlegt diese vorwiegende Richtung
der Assoziation auch die auf die alte Lehre von den »inneren
Sinnen« gegründete Annahme, daß das motorische Sprachzentrum
an sich nur ein Zentrum der »Bewegungsvorstellungen« sei (S. 536).
Denn jene Richtung läßt sich offenbar am einfachsten erklären,
wenn man annimmt, die akustische oder optische Wortvorstellung
löse ursprünglich zunächst durch die Übertragung auf das motorische
Zentrum eine Artikulationsbewegung aus, und dann erst entstehe
konsekutiv die Artikulationsempfindung, nicht aber umgekehrt aus
den Bewegungsvorstellungen die wirkliche Bewegung. Die letztere
Annahme wird überdies schon dadurch unmöglich, daß in Wahrheit
bei der Assoziation der Artikulation der Worte mit den Wortvor-
stellungen gar keine Erinnerungsbilder auszuführender Bewegungen,
sondern bloß einzelne Spannungsempfindungen der Sprachmuskeln
und der Artikulationsorgane existieren, die sich durchaus nicht zu
einer wirklichen Bewegungsvorstellung zusammensetzen.
Ahnlich erklärt sich psychologisch aus jener Richtung der Asso-
ziation von den sensorischen zu den motorischen Gebieten der
Sprachfunktion die nicht seltene Kombination der Schriftblindheit
mit Bewegungsstörungen, während auch hier wieder sehr wohl die
letzteren ohne eine Spur von Alexie vorkommen können. Bei einem
an das Lesen gewöhnten Menschen bilden natürlich die optischen
Wortbilder wichtige assoziative Anregungen für die Wortartikulation,
so daß ihr Wegfall leicht an dieser bemerklich wird. Auch die oft
vorkommenden Erscheinungen, daß Worte nachgesprochen, aber
nicht für eine längere Zeit festgehalten, oder daß falsche Worte
substituiert oder die Wortbestandteile falsch kombiniert werden, sind
psychologisch ohne weiteres aus den Abweichungen zu erklären,
die man allgemein bei einer Lockerung eingeübter Assoziationen
beobachtet. Ehe eine Assoziation ganz versagt, gestattet sie immer
noch eine Erneuerung für sehr kurze Zeit; und wenn eine bestimmte
einzelne Assoziation unsicher geworden ist, so pflegt zunächst noch
ihre allgemeine Assoziationsrichtung fortzuwirken. Das erstere er-
klärt die »Echosprache«, das letztere viele Erscheinungen der
»Paraphasie«. Für dieses Fortwirken bestimmter Assoziationsrich-
Psychologische Deutung der zentralen Sprachstörungen. 555
tungen ist es insbesondere kennzeichnend, daß die Wortverwechs-
lungen immer innerhalb der gleichen Wortkategorie, und daß sie
in den meisten Fällen sogar innerhalb einer Gruppe irgendwie be-
Sfrifflich verwandter Wörter bleiben. Nie wird etwa ein Substantiv
mit einem Verbum verwechselt; aber sehr häufig vertauscht der
Paraphatische Wörter wie ""stehen' und 'hängen', ""gehen' und 'fahren ,
'Tisch' und 'Stuhl' u. dgl. Diese Vertauschungen erklären sich
unmittelbar aus Assoziationen, die durch jene übereinstimmenden
Begriffsgefühle zustande kommen, durch die Wörter gleicher
Gattung verbunden sind, und die ihrerseits mit gewissen überein-
stimmenden Begrififselementen zusammenhängen. So kann man sich
z. B. die Verwechslung zwischen 'gehen' und 'fahren' durch ein an
das identische Element der Fortbewegung gebundenes Gefühl ver-
mittelt denken. In andern Fällen partieller amnestischer Aphasie
sieht man nicht minder die Assoziationen der Berührungselemente
eine große Rolle spielen. So ereignet es sich häufig, daß ein Gegen-
stand für sich allein nicht genannt werden kann, daß aber sein
Name sofort aufsteigt, wenn ein anderes Wort gesprochen wird, mit
dem er häufig- verbunden vorkommt. Ein Patient hatte seinen
eigenen Namen total vergessen. Nannte man seinen Vornamen, so
geriet er in heftige Aufregung, ohne daß jedoch sein verzweifeltes
Suchen Erfolg hatte: die gewohnte Berührung der Namen erweckte
offenbar ein gewisses Bekanntheitsgefühl, vermochte aber noch nicht
das Wort selbst ins Bewußtsein zu heben. Dies geschah erst in
dem Augenblick, wo auch der Anfangsbuchstabe des Zunamens
genannt wurde'). Analoge Erscheinungen begegnen uns sehr oft
bei den noch in die Breite des normalen Lebens fallenden Ge-
dächtnisdefekten.
Ganz und gar in der Richtung überall wiederkehrender Assozia-
tionserscheinungen bewegt sich ferner der in vielen Beobachtungen
amnestischer Aphasie zutage tretende Einfluß der Komplika-
tionen der Vorstellungen. Eine vergessene Wortvorstellung
kann wiedererweckt werden, wenn irgendeine ihr assoziierte eines
andern Sinnesgebiets in das Bewußtsein tritt. Eine besonders wich-
tige Rolle spielen dabei die Komplikationen der akustischen und
I) H. Gudden, Neurologisches Zentral blatt, 1900, Nr. i, S. Ii.
-r 1 Die Wortbildung.
der optischen Wortvorstellungen sowie beider mit den Artikulations-
empfindungen des Sprechens und Schreibens. So konnte, wie oben
bemerkt, der Kranke Grasheys (S. 541) die Worte ^schreibend
finden« : die Assoziation des Wortes mit dem Schriftbild sowie die
des letzteren mit den Schreibbewegimgen und den von ihnen aus-
gelösten Empfindungen war also erhalten geblieben, und mittelst
dieser Empfindungen konnte sich dann auch fi.ir einen Augenblick
die Assoziation mit dem Worte wiederherstellen. Zu seinen Schreib-
bewesfuns'en verhielt sich hierbei der Kranke ebenso wie zu den
unmittelbar gehörten Worten, die er nachzusprechen vermochte. In-
folge besonderer Komplikationsbedingungen konnte aber statt des
dominierenden Gesichtssinnes auch ein anderes Sinnesgebiet die
Assoziationshilfe leisten: so konnte er zwar die Uhr benennen, wenn
er sie sah, aber eine glatte Fläche oder die Spitze einer Nadel
wurde von ihm nur als ''glatt'* oder 'spitz' bezeichnet, wenn er sie
nicht bloß sah, sondern auch betastete'). Bei der Auffassung dieser
Eigenschaften ist eben der Tasteindruck so sehr der vorherrschende,
daß er sich auch noch bei dem Kranken als die mächtigere Asso-
ziationshilfe erwies. Zugleich spielt hier wohl der Umstand eine
Rolle, daß das Eigenschaftswort überhaupt zu einer deutlichen Ver-
gegenwärtigung der Assoziation mit einer bestimmten Gegenstands-
vorstellung bedarf, und daß es daher stärkere Assoziationshilfen
durch gleichzeitiges Sehen und Tasten fordert. Diese Anlehnung
an den Gegenstand wird besonders auch durch jene weitere Beob-
achtung belegt, daß dieser Kranke die Frage »welche Farbe hat
das Blut ? « erst beim Anblick eines Blutstropfens beantworten konnte.
Die Assoziation zwischen dem Wort 'Blut' und dem Wort 'rot' war
ihm verloren gegangen; ebenso war die zwischen dem Wort Blut
und dem Erinnerungsbild des Blutes so schwach geworden, daß er
sich zwar der allgemeinen Bedeutung des Wortes wahrscheinlich
mittelst weiterer Assoziationen mit bluthaltigen Organen u. dgl. er-
innerte, daß aber das sinnliche Erinnerungsbild des Blutes selbst
nicht mit zureichender Deutlichkeit erweckt wurde. Auch der An-
blick anderer roter Gegenstände genügte nicht: hier fehlte wieder
die Assoziation dieser Gegenstände mit der Vorstellung des Blutes;
') G. Wolff, Zeitschr. für Psychol. und Physiol. der Sinnesorg. XV, S. 29.
Psychologische Deutung der zentralen Sprachstörungen. crt
erst diese Vorstellung selbst, wenn sie in der unmittelbaren Wahr-
nehmung gegeben war, vermochte das prädizierende Wort wachzu-
rufen. Indem hier der ganze normalerweise vorhandene Komplex
von Assoziationen, der das Wort mit seiner Bedeutung verbindet,
mit Ausnahme einer einzigen zerstört ist, erweist sich deutlich eben
diese zurückbleibende Assoziation der sinnlichen Eigenschaft mit
dem anschaulich gegebenen Träger derselben als die stärkste von
allen. Zugleich ist in diesem Fall, ebenso wie in vielen andern mit
relativ stabil bleibenden oder allmählich sich ausgleichenden Stö-
rungen, die intellektuelle Arbeit bemerkenswert, durch die sich der
Kranke Hilfsassoziationen zu verschaffen suchte. Ähnlich beobachtet
man wohl auch, daß Kranke mit Erfolg bemüht sind, das Verlorene
durch neue Einprägung wiederzugewinnen. Das sind immer solche
Fälle, in denen sich die Störung auf die Lösung gewisser mechanisch
eingeübter Assoziationen beschränkt, während die intellektuellen
Funktionen relativ ungestört bleiben. Sollten also auch, wie wir
angesichts des Einflusses der Erfahrungseindrücke auf die Willens-
entwicklung annehmen müssen, die ursprünglichen Willensrichtungen
selbst unter der Wirkung der Assoziationen entstanden sein, so muß
doch auf Grund jener Ausgleichung der Assoziationsstörungen durch
willkürliche Anstrengung angenommen werden, daß, nachdem ein-
mal bestimmte Willensrichtungen vorhanden sind, diese unabhängig
von ihrer Assoziationsgrundlage fortdauern und regulierend und
wiederherstellend in die Assoziationsvorgänge selbst eingreifen
können. So enthüllt sich hier ein Kreislauf der Vorgänge, der im
normalen Seelenleben wegen des gleichförmigen Fortschritts aller
Entwicklungen verborgener bleibt. Die höheren intellektuellen Pro-
zesse sind gleichzeitig Wirkungen und Ursachen der niederen, asso-
ziativen. Einerseits entstehen sie aus den Verflechtungen und Ver-
dichtungen, die diese in der Seele eingehen und zurücklassen;
anderseits aber regulieren sie, einmal entstanden, den Strom der
Assoziationen und können demzufolge auch unter günstigen Um-
ständen verloren gegangene von neuem erzeugen oder durch andere
stellvertretende ersetzen.
Besonders naheliegend erscheint eine psychologische Deutung
endlich bei jenen Erscheinungen, die eine regelmäßige Beziehung
der Abnahme des Wortgedächtnisses zu der grammatischen Stellung
cc6 Die Wortbildung.
der Wörter erkennen lassen. Was den entscheidenden Einfluß
ausübt, kann hier natürlich nicht die grammatische Kategorie als
solche, sondern nur der psychologische Charakter des Wortes sein,
der wiederum in dem Bewußtsein selbst direkt nur durch das be-
gleitende Begriffsgefühl sich verrät, und hierdurch erst indirekt mit
dem für den grammatischen Wert des Wortes entscheidenden Vor-
stellungsinhalt des Begriffs zusammenhängt. Wenn die Reihenfolge,
in der die Wörter vergessen werden, im allgemeinen von solchen
mit konkreter sinnlicher Bedeutung zu denen mit abstrakterer fort-
schreitet, so erklärt sich aber dies aus der Wirksamkeit der Kom-
plikationen. Je fester ein Wort mit einer bestimmten sinnlichen
Vorstellung assoziiert ist, um so leichter kann es aus dem Bewußt-
sein verschwinden, da es nun ganz und gar durch diese Vorstellung
ersetzt werden kann. So vergessen wir Eigennamen uns persönlich
bekannter Personen am leichtesten, weil uns, wenn wir an solche
Personen denken, zunächst das Bild des Menschen selbst im Be-
wußtsein steht. Den Eigennamen am nächsten kommen die kon-
kreten Substantiva: auch der Tisch, der Stuhl, der Baum sind mir
sofort in ihrer gegenständlichen Beschaffenheit gegenwärtig, und ich
kann mir daher diese Gegenstände vorstellen, ohne mich ihrer
Namen zu erinnern. Etwas weiter in der Richtung der Abstrakta
entfernen sich schon die konkreten Adjektiva, und noch mehr die
konkreten Verba. Eigenschaften wie rot, blau, groß, klein usw.
können an sehr vielen Objekten und darum in außerordentlich
mannigfachen einzelnen Nuancen vorkommen, sie bedürfen also
schon in höherem Maße des Wortes, um sie in ihrer allgemeinen
Natur festzuhalten. Vollends die konkreten Verbalbegriffe können
zu den verschiedensten sinnlichen Wahrnehmungsbildern gehören.
Man überzeugt sich von ihrer abstrakteren Natur am leichtesten,
wenn man sie mit entsprechenden Substantiven vergleicht: da ist
"^schneiden' abstrakter als 'Schere', "^schlagen' als ""Hammer' usw.
Hier kann daher schon viel weniger das Wort durch die Vorstellung
selbst verdrängt werden. Das steigert sich endlich noch bei den
eigentlich abstrakten Begriffen, welcher Wortkategorie sie angehören
mögen, und besonders bei den Partikeln, bei denen meist das Wort
allein den Begriff vertritt, und wo daher dieser gar nicht gedacht
werden kann, ohne daß das Wort sich einstellt. Dazu kommt bei
Psychische Struktur der Wortvorstellungen. 557
den Interjektionen der Gefühlswert der Worte, und bei vielen Par-
tikeln, wie bei den meisten Präpositionen und Konjunktionen, neben
dem Einfluß des bei ihnen stark ausgeprägten »Begriffsgefühls«,
die Häufigkeit des Gebrauchs, die ihnen, den selbständigeren Be-
standteilen der Rede gegenüber, den Vorteil der größeren Einübung
verschafft^).
Wie der Einfluß der Einübung bei diesen häufig gebrauchten
Redeteilen neben andern mit der Bildung der Wortkomplikationen
zusammenhängenden Motiven sich geltend macht, so spielt er übri-
gens noch sonst bei den Erscheinungen der Amnesie eine wichtige
Rolle. So ist, wenn das zu einem Gegenstand gehörige Wort ver-
gessen ist, damit keineswegs immer auch die umgekehrte Assozia-
tion aufgehoben, sondern bei etwas geringeren Graden der Störung
wird zu dem gehörten Wort in der Regel vollkommen sicher der
Begriff reproduziert. Dies hat nach den Assoziationsgesetzen seinen
guten Grund darin, daß wir zu einem Wort, sobald uns überhaupt
seine Bedeutung bekannt ist, immer die zugehörige Vorstellung,
daß wir aber keineswegs immer zu einer Vorstellung das sie be-
zeichnende Wort assoziieren. Jene Assoziationsrichtung ist also die
eingeübtere: sie ist gegenüber der entgegengesetzten ähnlich bevor-
zugt wie etwa die Assoziation der Buchstaben in der von a bis z
gerichteten Reihenfolge vor der umgekehrten.
II. Psychologie der Wortvorstellungen.
I. Psychische Struktur der Wortvorstellungen.
Der psychologischen Untersuchung der Wortvorstellungen tritt
naturgemäß als nächstes Problem die Frage nach der Zusammen-
I) Auf den psychologischen Zusammenhang der bei der amnestischen Aphasie.
ebenso wie bei dem gewöhnlichen Vergessen, beobachteten Bevorzugung bestimmter
Wortklassen mit der Stellvertretung der Wörter durch assoziierte Vorstellungen habe
ich schon vor langer Zeit verschiedentlich hingewiesen (»Gehirn und Seele«, Deutsche
Rundschau, XXV, 1880, S. 6 ff., wieder abgedruckt Essays, 1885, S. 112 ff. Grund-
züge der Physiol. Psychol. -I, S. 223, 1880, 5 I, S. 314). Ohne diese Arbeiten zu
kennen, hat auch B. Delbrück (Jenaische Zeitschr. für Naturwiss., XX, 1886) eine
ähnliche Erklärung gegeben. Bei den Pathologen und Gehirnphysiologen hat aber
diese psychologische Interpretation kaum Beachtung gefunden.
ecg Die Wortbildung.
Setzung dieser besonderen Gattung von Vorstellungen entgegen,
an welche Frage sich unmittelbar die andere nach der Ver-
bindungsweise ihrer Bestandteile anschließt. Da es vorzugsweise
die zentralen Störungen der Wortbildung sind, in denen sich
uns die Sprachfunktion deutlich in ihre verschiedenen Bestand-
teile zerlegt und dabei zugleich die funktionellen Wechselbeziehun-
gen derselben erkennen läßt, so bilden sie auch für die Unter-
suchung der psychischen Struktur der Wortvorstellungen die sicherste
Grundlage.
Was sich nun bei den pathologischen Sprachstörungen im all-
gemeinen sofort der psychologischen Betrachtung aufdrängt, das
ist die Tatsache, daß das Wort ein sehr zusammengesetztes
psychisches Gebilde ist, das zugleich durch diese seine kom-
plexe Beschaffenheit in hohem Grade befähigt wird, nach den ver-
schiedensten Richtungen Assoziationsbeziehungen zu vermitteln, so-
wie sich selbst durch die Verbindungen seiner Teile gegen zerstö-
rende Einwirkungen zu erhalten. So machen neben den Sprach-
lauten vor allem die Artikulationsempfindungen einen wohl niemals
ganz fehlenden, namentlich aber bei der Hemmung anderer Ele-
mente sehr lebhaft hervortretenden Bestandteil aus. Daneben können
dann aber auch noch die gewohnheitsmäßig gebrauchten Schrift-
zeichen des Wortbildes in die Verbindung eingehen, und an diese
optischen Elemente endlich die Artikulationsempfindungen der Tast-
organe geknüpft sein, welche die Schreibbewegungen begleiten.
Sind gleich diese optischen und graphischen Bestandteile in der
besonderen Ausprägung, in der wir sie in unserem Bewußtsein
vorfinden, selbstverständlich ein spezifisches Produkt der Kultur, das
schon bei den des Lesens wenig gewohnten Mitgliedern der glei-
chen Kulturgesellschaft zurücktritt, so haben wir doch allen Grund
anzunehmen, daß es selbst in dem Bewußtsein des Wilden an
Äquivalenten derselben nicht fehlt. Denn je geringer die Fähig-
keit wird, das Wort in Lautzeichen graphisch zu fixieren, um so
lebhafter pflegt statt dessen die Rede von Gebärden begleitet zu
sein, in deren pantomimischem und optischem Bestandteil die As-
soziationen unserer Schriftsymbole in entgegengesetzter Richtung
wiederkehren, — entgegengesetzt deshalb, weil bei ihnen die Be-
wegungsempfindung das Primäre, das Gesichtsbild der Bewegung
Psychische Struktur der Wortvorstellungen. ecg
aber das Sekundäre ist, ganz wie bei der eigenen Hervorbringung
der Sprachlaute, wo sich ebenfalls erst beim Nachsprechen gehörter
Laute die Ordnung umkehrt. In dieser erweiterten Bedeutung wird
man demnach in jenen pantomimischen Bestandteilen wieder an-
nähernd regelmäßige, in ihrer besonderen Gestaltung und in ihrer
Intensität freilich weit veränderlichere Elemente der Wortkompli-
kationen sehen dürfen. Nennen wir diese wechselnderen Elemente
den graphischen, die beiden konstanteren dagegen den Laut- und
den Begriffsbestandteil des Wortes, und deuten wir diese drei
Glieder durch die Symbole Z, L und B an, so sind hiernach zunächst
L und Z aus zwei Untergliedern zusammengesetzt, L aus dem aku-
stischen a der Lautvorstellung und dem motorischen m der Artiku-
lationsempfindung, Z aus dem optischen o des Wortzeichens und
dem motorischen ;;/ der zeichnenden Bewegungsempfindung. Nach
den allgemeinen Eigenschaften der Begrififsvorstellungen ist aber B
ebenfalls aus zwei Bestandteilen gebildet: aus der objektiven Vor-
stellung V und dem diese begleitenden Gefühlston g. Die vollstän-
dige Wortvorstellung erscheint so als eine dreiteilige Komplikation
mit je binärer Zusammensetzung ihrer Glieder:
a VI o m V g.
Innerhalb dieser Komplikation müssen wir uns nun im allgemeinen
jedes Glied mit jedem andern verbunden denken, so daß es teils
direkt teils indirekt als Assoziationshilfe wirksam werden kann.
Ferner kann jeder Bestandteil entweder aller seiner Verbindungen
oder bloß einzelner verlustig gehen; und endlich kann eine Ver-
bindung total aufgehoben oder bloß gestört werden, in welchem
letzteren, sehr häufigen Falle sich eben der Ausfall durch Assozia-
tionshilfen, die durch Einübung allmählich wirksamer werden, aus-
gleichen kann. Dabei lehren aber schon die gewöhnlichen Erfah-
rungen und zeigen noch vollständiger die Sprachstörungen, daß
die Festigkeit dieser einzelnen Assoziationen eine erheblich ver-
schiedene ist, indem sie teils von der normalen Übung, teils, bei
vorhandenem Ausfall, von der kompensatorischen Energie der Hilfs-
assoziationen abhänsft. Abgresehen von der hierdurch verursachten
Veränderlichkeit der Verbindungen dürfte das folgende Schema die
regelmäßigeren Erscheinungen mit einiger Vollständigkeit erläutern.
560 Die Wortbildung.
In ihm sind die zwischen den einzelnen Gliedern der VVortvorstel-
lung bestehenden Assoziationen durch verbindende Linien darge-
stellt. Die Dicke derselben versinnlicht die Festigkeit der Assozia-
tion, die daneben angebrachten Pfeile geben deren Richtungen an.
Die rechts stehenden Symbole v g bedeuten irgendeine andere
Begrififsvorstellung, die eventuell mit v g assoziiert ist: sie soll die
gelegentlich vorkommenden Einwirkungen äußerer Assoziationen,
namentlich auch solcher mit Erinnerungsbildern, veranschaulichen,
wobei zu beachten ist, daß ein Erinnerungsbild nach allgemeiner
psychologischer Erfahrung gegenüber dem Eindruck, auf den es zu-
rückbezogen wird, ebenfalls eine intensiv wie qualitativ abweichende
Vorstellung ist.
a •—^^— rrv
\
Fig. 38. Schema der sprachlichen Assoziationen.
Als die festesten Verbindungen treten uns in diesem Schema,
wenn wir durch die Stellung der Buchstaben die Richtung der Ver-
bindungen andeuten, a in^ m a, ga und vi m entgegen; die zu der
letzteren entgegengesetzte Assoziationsrichtung m m ist dagegen
sehr schwach: wir können nicht leicht graphische Wortsymbole
hervorbringen, ohne sie sofort mit Bewegungen der Sprachorgane
zu assoziieren, während wir leicht Worte artikulieren, ohne sie mit
graphischen oder Gebärdezeichen zu verbinden. Sehr innig sind
auch die Verbindungen ag und g a: das eine Vorstellung beglei-
tende Begriffsgefühl macht sich deutlich auch dann noch geltend,
wenn der Vorstellungsbestandteil wirkungslos geworden ist, und
ebenso erweckt der Laut ein Begriffsgefühl, wenn er die zu ihm
gehörige Vorstellung nicht mehr zu erregen vermag. Etwas schwä-
cher sind die Verbindungen av und ov^ und gegenüber ihnen
stehen die umgekehrten Richtungen v a und v 0, sowie diejenigen
zwischen 0 und den beiden Formen der Bewegungsempfindungen
Psychische Struktur der Wortvorstellungen. c5i
in und w, endlich m in (im Gegensatze zu der sehr festen Asso-
ziation /;/ ;;/) noch weiter zurück ; zugleich ist die Verbindung o m
in der Regel eine einseitige: wir assoziieren zu Schriftbildern Arti-
kulationsbewegungen, nicht oder doch nur unter besonders gün-
stigen Bedingungen der Übung umgekehrt jene zu diesen, während
die graphischen Empfindungen (;//) ebensowohl durch Wortbilder
erweckt werden wie selbst solche anregen können [o m und ;// o).
Einen durch die Vielheit der Verknüpfungen begünstigten Fall
bildet schließlich die Assoziation oa (optisches Wortbild und
Laut) : ist auch die direkte Verbindung o a relativ schwach , so
wird sie doch durch die Zwischenglieder o in und in a wesentlich
unterstützt; daher denn auch das Schriftzeichen kaum anders als
unter gleichzeitigen Artikulationsbewegungen die Lautbildung an-
regt.
Hinsichtlich der einzelnen Formen der Sprachstörungen ergibt
sich aus diesem Assoziationschema folgendes : i ) Aufhebung der
Verbindung a in ist die Grundlage der gewöhnlichen » ataktischen
Aphasie«: diese Störung kann erfahrungsgemäß bestehen, ohne daß
die andern Assoziationen wesentlich beeinträchtigt sind. 2) Auf-
hebung der Assoziation v a bewirkt die Symptome der gewöhnlichen
»amnestischen Aphasie«. Da die Verbindungen va und am beim
Sprechen fortwährend zu koordinierter Funktion eingeübt werden,
so leidet mit v a \n der Regel auch am: mit amnestischer ist atak-
tische Aphasie in irgendeinem Grade verbunden. 3) Auf analogen,
aber von den vorigen relativ unabhängigen Assoziationsunterbre-
chungen om oder vo und oni beruhen die Symptome der »Agra-
phie« sowie der »Alexie«, bei welcher letzteren ebenfalls Agraphie
als Folgestörung zu bestehen pflegt. 4) Motorische Aphasie kann
ohne Schriftblindheit existieren, diese aber pflegt umgekehrt mit
jener verbunden zu sein; dies wird durch die einseitige Verbindung
0 in ausgedrückt, die der eingeübten Assoziation von Sehen und
Artikulieren beim Lesen entspricht. Auf der Einübung dieser Ver-
bindung sowie der an sich schwächeren 0 in beruht auch die päda-
gogisch wichtige Tatsache, daß Schreibbewegungen die Worte
exakter wiedergeben, wenn Laut und Schriftbild gleichzeitig, als
wenn bloß eines von beiden einwirkt; im letzteren Fall sind eben
bloß die Assoziationen am ^ mm oder orn ^ im ersteren sind beide
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. 56
c()2 Die Wortbildung.
gleichzeitig wirksam"). 5) Erhaltung der Assoziation ß ;;/ beim Hin-
wegfallen aller andern Verbindungen begründet das Phänomen der
»Echosprache«. Die nur durch besondere pathologische Ursachen
zu störende Festigkeit dieser Assoziation entspricht dem hohen
Grade der Einübung in dieser Richtung. 6) Eine unter beschränk-
teren Übungsbedingungen stehende, dann aber nicht minder feste
Verbindung ist m' m. Ihre Erhaltung sowie die ihrer entsprechen-
den Anfänge v 0^ oin und ihrer Fortsetzung ma kann beim Aus-
fall der gewöhnlichen Verbindung v a als Assoziationshilfe funktio-
nieren: in diesem Fall erweckt die graphische Bewegung zuerst die
Mitbewegung der Artikulationsorgane, und diese die akustische Wort-
vorstellung (Fall Grashey). 7) Die an sich schwächere umgekehrte
Assoziation m in kann sich , wenn Unterbrechungen derselben ein-
treten, in analogen Störungen der Funktion des Schreibens bemerk-
lich machen: ataktische Aphasie ist daher zuweilen mit völliger
Agraphie oder, wenn die Assoziationen o m und a m kompensie-
rend eingreifen, mindestens mit Schreibstörungen verbunden; eben-
so werden bei Stotternden nicht selten die Artikulationsstörungen
auf die graphischen Bewegungen übertragen. 8) Für die Assoziatio-
nen va und vo können Assoziationen mit ähnlichen Vorstellungen,
v ^ a und v' g' 0^ zu welchen letzteren auch die bloßen Erinne-
rungsbilder der direkt durch äußere Eindrücke erweckten Vorstel-
lung V gezählt werden müssen, nur mangelhaft Ersatz leisten, da
diese Assoziationen im allgemeinen die geringste Wirkungsfähigkeit
besitzen. Umgekehrt kann aber das durch eine erinnerte Vorstel-
lung nicht ausgelöste Wort durch die Assoziation mit einem direk-
ten Sinneseindruck reproduziert werden. 9) Die Assoziation in der
Richtung a v ist erheblich fester als die umgekehrte v a , ent-
sprechend der konstanteren Übung: ein bekanntes Wort kann nicht
gehört oder gesprochen werden, ohne die Vorstellung des Gegen-
standes zu erwecken, während diese im Bewußtsein eventuell für
sich allein vorkommen kann. Gegenüber der verhältnismäßig
schwachen Assoziation v a ist jedoch die von der Gefühlskompo-
nente der Vorstellung ausgehende Assoziation g a relativ stark. Dies
') Vgl. W. A. Lay, Führer durch den Rechtschreibunterricht, 1897, S. 170.
H. Schiller, Studien und Versuche zur Erlernung der Orthographie, S. 54 ff. Abhandl.
zur pädagog. Psychol. von Schiller und Ziehen, ü, 1898.
Psychische Struktur der Wortvorstellungen. c()-i
erklärt einerseits die bei paraphatischen Zuständen vorkommenden
Entgleisungen innerhalb der gleichen, durch das Begriffsgefühl
zusammenhängenden Wortkategorie, anderseits, verbunden mit den
allgemeinen Gesetzen der Übung und Mitübung, die Erscheinungen
des progressiven Schwundes der Wortkategorien bei fortschreiten-
der Amnesie, indem dabei im allgemeinen die Gefühlskomponente
um so mehr hervortritt, je unbestimmter die Vorstellungskompo-
nente ist, bis endlich die letztere durch das Wort selbst ersetzt
wird: daher die Interjektionen einerseits und die abstrakten Partikeln
anderseits am längsten beharren.
Lassen sich hiernach die wesentlichen Störungen der Sprache
ohne Schwierigkeit aus den allgemeinen Assoziationsbedingungen
ableiten, so ersieht man doch ohne weiteres, daß es unmöglich
sein würde, etwa das oben gegebene Assoziationsschema in ein
Schema von Zentren und Leitungsbahnen umgewandelt zu denken.
Einem solchen Versuch steht schon die Tatsache im Wege, daß
die hier dargestellten Verhältnisse durchweg als Produkte einer asso-
ziativen Übung zu deuten sind, die individuell erheblich variieren
kann. Außerdem weisen aber die mannigfaltigen Gradabstufungen
der Störungen sowie nicht minder die Erscheinungen der Korrela-
tion und der funktionellen Aushilfe überall auf verwickelte Verbin-
dungen elementarer Funktionen hin, die noch dazu fortwährenden
Veränderungen durch die Ausübung der Funktionen unterwor-
fen sind.
Diese Abhängigkeit der Wortkomplikation von der Funktion selbst
sowie von den Assoziationshilfen, die durch den Ausfall bestimmter
Funktionsrichtungen entstehen und durch Einübung befestigt werden,
bringt es nun natürlich mit sich, daß die einzelnen Verbindungen,
aus denen sich eine vollständige Wortvorstellung zusammensetzt,
von Fall zu Fall wechselnde Verhältnisse darbieten. Auch wird
man infolgedessen die in dem obigen Schema ausgedrückten Eigen-
schaften der vollständigen Wortkomplikation nur mit der Einschrän-
kung auf das normale Bewußtsein übertragen dürfen, daß solche
Assoziationen, zu deren besonderer Einübung in den individuellen
Lebensverhältnissen kein Anlaß vorliegt, latent bleiben oder nur
unter speziellen, sie begünstigenden Bedingungen gelegentlich ak-
tuell werden.
36*
564 Die Wortbildung.
Außerdem steht das Wort, wie jede andere Vorstellung, infolge
der Assoziationsbeziehungen zu früheren Erlebnissen in jedem in-
dividuellen Bewußtsein in bestimmten, wiederum nach Zeitbedin-
gungen wechselnden Verbindungen, die, sobald sie wirksam werden,
einen verändernden Einfluß auf die Wortvorstellung ausüben können.
Dieser Einfluß macht sich bei der Wortbildung, ebenso wie bei
der Entstehung anderer Vorstellungen, besonders deutlich dann gel-
tend, wenn von außen einwirkende Sinnesreize die Vor-
stellung erwecken. Denn bei der Einwirkung eines Sinneseindrucks
sind wir im allgemeinen leicht in den stand gesetzt, diejenigen
Bestandteile der Vorstellung, die unmittelbar durch den Eindruck
erregt werden, von solchen zu scheiden, die nicht auf jenen zurück-
zuführen sind, die sich aber aus reproduktiven Elementen ableiten
lassen. Hier fordern daher zahlreiche auffallende Beispiele einer
Inkongruenz von Vorstellung und Eindruck von selbst zu Beobach-
tungen heraus, die darauf gerichtet sind, diese bei jeder Vorstel-
lungsbildung wirksamen Assoziationen zu analysieren.
2. Tachistoskopische Methode.
Da die vollständige Wortvorstellung eine Komplikation aus
jenen drei bzw. sechs Gliedern ist, die wir oben symbolisch mit
am om vg bezeichnet haben, so steht es frei, welchen der beiden
auf äußere Eindrücke zurückgehenden Bestandteile a und 0 dieser
Komplikation man zur willkürlichen Erregung einer Wortvorstel-
lung bevorzugt. Doch ist für diesen Zweck naturgemäß derjenige
Eindruck der günstigste, der am leichtesten die sämtlichen andern
Bestandteile wachruft: dies ist aber vermöge der oben entwickelten
Assoziationsbedingungen bei solchen Menschen, denen die akusti-
schen und optischen Elemente der Wortvorstellungen gleich ge-
läufig sind, das Schriftbild, nicht der Schalleindruck. Allerdings
steht in einer Beziehung der Gesichtssinn hinter dem Gehörssinn
zurück. Bei diesem gibt es keine Gebiete, die von viel geringerer
Unterscheidungsschärfe sind, wie beim Auge die peripheren im Ver-
hältnis zu den zentralen Teilen des Sehfeldes. Doch kommt dieser
Nachteil im vorliegenden Falle nicht in Betracht. Denn derjenige
Teil der Netzhaut, mit dem wir wegen der dichteren Anhäufung der
Tachistoskopische Methode.
565
Zapfenelemente deutlich genug sehen, um Wörter vollkommen
simultan zu lesen, ist groß genug, um bei geeigneter Versuchs-
einrichtung den Umfang der Objekte, die wir gleichzeitig mit der
Aufmerksamkeit erfassen können, noch erheblich zu übertreffen.
Während nämlich genau in der Mitte der Netzhaut zwei Punkte
unter einem Gesichts-
winkel von 60 — goWin-
kelsekunden oder, in
Objektgrößen ausge-
drückt, bei I Millimeter
Abstand voneinander
in 27,-37, Meter
Entfernung vom Sehen-
den noch deutlich bei
normaler Sehschärfe
unterschieden werden,
ist diese Raumschwelle
zwar 272 Grade von
der Netzhautmitte schon
auf etwa 3 Winkel-
minuten, also auf das
Zwei- bis Dreifache
jenes Schwellenwertes
im Zentrum, gestiegen.
Diese Größe ist aber
immernochkleingenug,
um z. B. das Lesen
einer größeren Druck-
schrift in angemesse-
ner Nähe möglich zu
machen. Erst jenseits dieser Grenze sinkt die Unterscheidungs-
schärfe sehr rasch, wie dies die Fig. 39 veranschaulicht. In ihr
bedeutet die gerade Linie n n einen durch das Sehzentrum c ge-
legten, horizontal aufgerollt gedachten Netzhautdurchschnitt. Die
senkrechten Ordinaten versinnlichen den Grad der Sehschärfe an
jedem Punkt. Die Kurve, die diese Ordinaten verbindet, fällt
demnach im eanzen sehr rasch von ihrem der Netzhautmitte
Sdüäfenseite
Ifasenseitz^
■20 30 W 50 60
60 50 W 30 20 W C
Fig- 39- Graphische Darstellung der Sehschärfe
im direkten und indirekten Sehen.
c56 Die Wortbildung.
entsprechenden Maximum, so jedoch, daß in einem etwa 4 — 5°
umfassenden zentralen Gebiet a b die Sehschärfe zureichend groß für
die Unterscheidung kleinerer Objekte von der Größe unserer Schrift-
symbole bleibt. Diese ganze Region a b bezeichnet man daher
gewöhnlich als die des zentralen oder direkten, die übrige
Netzhaut von a bis 71 und von b bis ;/ als die des peripheren
oder indirekten Sehens. In die letztere fällt, als ein Gebiet von
etwa 6° im Durchmesser, auf der Nasenseite der Netzhaut der
blinde Fleck, d. h. diejenige Stelle, die, dem Eintritt des Seh-
nerven entsprechend, wegen ihres Mangels an Stäbchen- und
Zapfenelementen ganz unempfindlich ist: sie ist in Fig. 39 durch
den plötzlichen steilen Abfall der Ordinaten auf null angedeutet^).
Hiernach ist die Region des zentralen Sehens groß genug, daß
auf ihr leicht 6 — 8 Wörter von mäßiger Länge, die man über-
und nebeneinander auf einem in richtiger Sehweite befindlichen
Blatt anbringt, sämtlich gelesen werden können, wenn man eine
bestimmte auf dem Blatt angebrachte Marke fixiert. Dabei ist es
natürlich nur möglich, die einzelnen Wörter sukzessiv zu lesen,
indem die Aufmerksamkeit von einem Worte zum andern wandert.
Zugleich beobachtet man, daß, während ein Wort gelesen wird,
die übrigen Wörter undeutlicher gegenwärtig sind. Es treten aus
ihnen zuweilen einige Buchstaben hervor, aber die nicht apperzi-
pierten Wortvorstellungen selbst bleiben dunkel: sie werden per-
zipiert, nicht apperzipiert. Übrigens lassen auch sie in ihrer
Deutlichkeit Grade erkennen, die dadurch bedingt zu sein scheinen,
daß es im Zustande der Perzeption noch Abstufungen der Klarheit
gibt. Diese Abstufungen sind aber keineswegs bloß durch die Lage
des Bildes auf den mehr oder minder zentralen Sehregionen, sondern
sie sind bei diesen Beobachtungen, wo überhaupt nur ein be-
schränkter zentraler Teil des Sehfeldes verwendet wird, fast aus-
schließlich von 'dem willkürlichen Wechsel der Apperzeption ab-
hängig. Wenn man z. B. die Mitte der Tafel fixierend ein seitlich
gelegenes Wort liest, so hat man von dem zentral gesehenen nur
eine dunkle Vorstellung. Bei ungezwungener Aufnahme der Wort-
bilder pflegen wir jedoch infolge der fest eingeübten Beziehung
^) Vgl. A. E. Fick, Archiv für Ophthalmologie, XLIV, 1898, S. 349.
Tachistoskopische Methode. 567
zwischen Apperzeption und Fixation der Objekte regelmäßig das
gelesene Wort auch in das Zentrum der Netzhaut zu bringen.
Aus diesen psychophysischen Bedingungen und aus den sonstigen
durch physiologische Untersuchungen bekannten Eigentümlichkeiten
der Netzhauterregung ergeben sich nun die für die experimentelle
Untersuchung der Entstehung von Wortvorstellungen geeigneten
Methoden ohne Schwierigkeit. Um den im Augenblick der Ein-
wirkung der Wortbilder eintretenden Apperzeptionsvorgang von
den in der Zeit nachfolgenden, durch Wanderungen der Aufmerk-
samkeit und Augenbewegungen vermittelten Auffassungen zu son-
dern, bedient man sich am besten einer Vorrichtung, die es gestattet,
das aufzunehmende Wortbild gerade so lange, aber auch nicht
länger einwirken zu lassen, als zu einer einmaligen Apperzeption
erforderlich ist. Die Zeit der Einwirkung darf daher weder unter
der Grenze der hierzu überhaupt notwendigen Zeit liegen, noch darf
sie über die Grenze gehen, wo eine Wanderung der Aufmerksamkeit
eintreten könnte. Ferner muß das ganze Wortbild oder die Reihe
der Wortbilder, die man einwirken läßt, dem Bewußtsein simultan,
nicht in einer merkbaren Aufeinanderfolge gegeben werden. Diese
Anforderungen erfüllt das in Fig. 40 abgebildete Fall-Tachistoskop.
Es besteht im wesentlichen aus einem auf einem Fußbrett senkrecht
stehenden starken Messingrahmen von i Meter Höhe, zwischen
dessen vertikalen Säulen sich in zwei Rinnen möglichst reibungslos
ein Schlitten 5 von geschwärztem Eisenblech bewegt. In diesem
als Fallschirm dienenden Blech befindet sich eine rechteckige, der
Exposition des Objektes bestimmte Öffnung, deren Höhe durch
einen Schieber von annähernd 10 cm Querdurchmesser beliebig von
null an auf etwa 50 cm verstellt werden kann. Vor Beginn jedes
einzelnen Versuchs ist der Fallschirm in die Höhe geschoben, so
daß der oben an ihm befindliche eiserne Anker A von den zwei
kleinen Elektromagneten E festgehalten wird. Das Sehobjekt, wel-
ches in der Fig. aus einem auf einem Karton gedruckten Wort
(Empfindung) besteht, und welches zwischen zwei dicht hinter den
Schirmvorrichtungen befindlichen Federn festgehalten wird, ist in
jener Ausgangslage durch ein ebenfalls geschwärztes Schutzblech B
verdeckt, das in seiner Mitte, genau der Mitte des Sehobjektes
entsprechend, eine kleine weiße Fixiermarke hat, und das ebenfalls
568
Die Wortbildung.
durch Federn, aber nur lose, festgehalten wird. Im Augenblick, wo
der Schirm 5 beim Herabfallen auf den oberen Rand von B trifft,
wird dieses daher in ein unten befindliches Fangschild /^geschoben,
das sich dicht vor den
zur Aufnahme des
Schirms 5 bestimmten
Fangfedern C befindet.
In Fig. 40 ist der Augen-
blick dargestellt, wo der
Schirm S so weit ge-
fallen ist, daß seine Öff-
nung 0 gerade vor dem
Sehobjekt steht, und
das Schutzblech B im
Herabgleiten begriffen
ist. Weiterhin ist noch,
um die Geschwindigkeit
der Fallbewegung früher
oder später, namentlich
aber gegen Ende der
Fallzeit vermindern zu
können, mit dem Schirm
5 eine Atwoodsche Ein-
richtung verbunden. Der
an 5 befestigte Faden
/ ist nämlich über ein
möglichst reibungslos
zwischen Spitzen laufen-
des Rad R geschlungen,
um auf der andern Seite
in einem kleinen Ge-
wichte / zu endigen.
Dieses hebt, sobald es
den an einer Skala ver-
schiebbaren und festzu-
schraubenden Ring t
Fig. 40. Fall-Tachistoskop. passiert , ein auf diesem
Erscheinungen bei kurz dauernder Einwirkung von Wortbildern. c5q
befindliches zweites Gewicht q in die Höhe. Durch geeignete Variation
der Öffnung 0 und der Gewichte p und q läßt sich nun leicht die
Zeit der Exposition des Sehobjektes zwischen 0,005 und 0,050 Sek.
variieren. Zur Beobachtung dient ein schwach oder gar nicht ver-
größerndes astronomisches Fernrohr mit Fadenkreuz, welches letztere
man bei Beginn des Versuchs auf den Fixierpunkt des Schirmes B
einstellt. Wegen der durch das Fernrohr erzeugten Umkehrung der
Bilder müssen auch die Sehobjekte, wie die Fig. zeigt, in umge-
kehrter Stellung eingesetzt werden. Die Geschwindigkeit der Be-
wegung wählt man am zweckmäßigsten so, daß die Sehobjekte
etwa während einer Zeit von 0,01 Sek. sichtbar sind. Bei dieser
Geschwindigkeit kann man sicher sein, daß ebenso jede Bewegung
des Auges wie jedes Wandern der Aufmerksamkeit unmöglich ist^).
Wählt man die Zeit des Eindrucks wesentlich kürzer, so ist das
Bild zu flüchtig, um überhaupt ein Erkennen irgendwelcher Teile
des Gegenstandes zu ermöglichen. Wählt man sie wesentlich länger,
so erhält man nicht mehr einen annähernd momentanen, sondern
einen länger dauernden Eindruck, und die Bedingungen gehen daher
in die des gewöhnlichen Lesens über^).
3. Erscheinungen bei kurz dauernder Einwirkung
von Wortbildern.
Bietet man in der angegebenen Weise im Tachistoskop die
optischen Wortbilder der Sprache und ihre Bestandteile, die Buch-
1) Diese Zeitbestimmung gilt für normale Sehschärfe. Ist diese vermindert, so
ist es notwendig, mit der Expositionszeit auf 0,015—0,020" zu steigen.
2) Wahrscheinlich ist dieser Grenzfall vermöge der angewandten Versuchsein-
richtungen bereits erreicht in den von B. Erdmann und R. Dodge ausgeführten
tachistoskopischen Versuchen (Psychologische Untersuchungen über das Lesen, 1889,
S. 94 ff.). Die Verff. bedienten sich nämlich erstens künstlicher Lichtquellen, nicht
des wegen seiner günstigen Adaptationsverhältnisse und der relativ kürzesten Dauer
der Nachbilder unbedingt zu bevorzugenden Tageslichts; und sie wählten durch-
gängig die sehr lange Einwirkungszeit von 0,1". Da sich hier wegen der langen
Nachbilddauer unter den angewandten Versuchsbedingimgen die Gesamtdauer der
Wahrnehmung etwa auf das Doppelte der Einwirkungszeit verlängern dürfte, so sind
die Versuche der Verff. wohl im wesentlichen gewöhnlichen Leseversuchen ohne
alle Versuchseinrichtungen gleichzuachten. Es ist daher begreiflich, daß ihnen die
meisten der unten zu erwähnenden Assimilationserscheinungen entgangen sind.
cno I^ic Wortbildung.
Stäben, in den durch unsere Lesegewohnheiten bevorzugten Formen
dem Auge dar, so beobachtet man die folgenden, zuerst von Cattell
beschriebenen Erscheinungen. Bei den ersten Versuchen, die ein
Beobachter ausführt, vermag er in der Regel nur Fragmente eines
Wortes aufzufassen. Ist aber die geeignete Versuchsübung ein-
getreten, so apperzipiert er ein kürzeres Wort nicht selten ohne
Schwierigkeit mit einem Mal entweder schon bei der ersten Dar-
bietung oder bei mehrmaliger Wiederholung des Eindrucks. Dabei
spielt jedoch der Umstand, ob das Wort mehr oder minder geläufig
ist, eine sehr große Rolle. Während ein geläufiges Wort leicht
beim ersten Male gelesen wird, bedarf ein ungewohntes oder unbe-
kanntes stets einer öfteren Wiederholung. Noch mehr gilt dies
von sinnlosen Buchstabenkombinationen. Richtet man endlich den
Versuch so ein, daß man bei einem gegebenen Objekt die Ein-
wirkungszeit so lange von null an zunehmen läßt, bis dasselbe erkannt
wird, so ergibt sich, daß die kürzeste Zeit, die nötig ist, für einen
Buchstaben geläufiger Druckschrift mindestens ebensolange dauert
wie für ein bekanntes kürzeres Wort, ja daß das letztere in der
Reeel leichter und fehlerloser orelesen wird als der erste. Substituiert
man ferner in einem Wort einzelne falsche den richtigen Buchstaben,
so wird der Fehler nicht nur sehr häufig nicht bemerkt, sondern
man hat sogar den Eindruck, die nicht existierenden, durch andere
ersetzten Buchstaben ebenso deutlich zu sehen wie die wirklich
vorhandenen').
Diese allgemeinen Ergebnisse gewinnen nun weiterhin durch die
im Verlauf der Versuche zu machenden Beobachtungen über die
Art, wie das zuerst unvollkommen gesehene Bild allmählich in ein
deutliches übergeht, eine wichtige Beleuchtung^). Wird ein zwischen
den geläufigsten und den ganz ungewohnten Wortbildern ungefähr
in der Mitte stehendes Wort dargeboten, so bemerkt in der Regel
auch der geübte Beobachter beim ersten Versuch nur vereinzelte
Teile des Bildes, etwa 3—4 Buchstaben, deutlich; von den übrigen
1) J. M. Cattell, Philos. Studien, Bd. 3, 1886, S. 95 ff. Vgl. bes. S. iii f., 123 f.
Cattell hat sich zu diesen Versuchen eines einfacher konstruierten, im übrigen aber
dem oben beschriebenen ähnlichen Falltachistoskops bedient (a. a. O. S. 97).
2) Das Folgende hauptsächlich nach den Versuchen von Jul. Zeitler, Tachisto-
skopische Untersuchungen über das Lesen, Phil. Studien, Bd. 16, 1900, S. 380 ff.
Erscheinungen bei kurz dauernder Einwirkung von Wortbildern. c y i
hat er den Eindruck, daß irgendwelche Buchstaben vorhanden seien,
er vermag sie aber nicht zu erkennen. Von einem Wort wie z. B.
Aprikose erhält man, w^enn wir die undeutlich perzipierten Teile des
Bildes durch Punktierung andeuten, etwa ein Bild wie Äp . . ^ . . .,
Äp . ik . . .^ Ap . . k . . e \x. dgl., wobei sich zumeist die durch
besondere Merkmale ausgezeichneten Buchstaben, z. B. die großen
Anfangsbuchstaben, die ober- und unterzeiligen Typen, vorzugsweise
zur Apperzeption drängen. Wiederholt man dann den Versuch, so
treten ein zweites Mal noch weitere Elemente hinzu, oder es wird
auch sofort das ganze Wort, wie beim gewöhnlichen Lesen, als ein
simultan gegebenes Ganzes wahrgenommen. Jedenfalls tritt dies
aber bei einer der folgenden Darbietungen ein. Wählt man da-
gegen oft gebrauchte Wörter, so kann es sich, namentlich bei
kürzeren Worbildungen, leicht ereignen, daß sofort bei der ersten
Einwirkung das ganze Wort vollkommen klar gesehen wird. Das
nämliche kann sogar bei längeren Wörtern eintreten, falls sie nur
sehr geläufig sind, etwa mit dem gewohnten Vorstellungskreis des
Beobachters oder den Gegenständen der unmittelbaren Beschäf-
tigung in naher Beziehung stehen, wie z. B. 'Aufmerksamkeit "*,
'Bewußtseinszustand' u. dgl. Wendet man umgekehrt ganz unbe-
kannte oder sinnlose Buchstabenverbindungen an, so ist die Grenze
des überhaupt erreichbaren Apperzeptionsumfangs weit enger ge-
steckt, und es kommen überaus leicht »Verlesungen« vor, nament-
lich in der Weise, daß irgendein bekannteres Wort, das einige
Buchstaben mit dem unbekannten gemein hat, diesem substituiert
wird. Dabei steht nicht nur bei kürzeren Wörtern das falsch ge-
lesene genau ebenso deutlich vor dem Bewußtsein und also schein-
bar vor dem äußeren Auge wie das richtig gelesene, sondern dies
gilt bei größeren Wortbildern auch von solchen Teilen des Wortes,
die jenseits der Region des direkten Sehens liegen: hier er-
weitert sich also das Gebiet der scheinbar deutlichen Wahrnehmung
über die durch die Struktur der Netzhaut gesetzten Grenzen des
Sehens hinaus. Besonders leicht werden aber Verlesungen hervor-
gerufen, wenn man nur einzelne willkürliche Abweichungen von
einem geläufigen Wortganzen einführt: hier ist die Substitution rich-
tiger für falsche Symbole die Regel, falls man nicht gerade solche
Buchstaben vertauscht, die eine hervortretende Rolle als Merkmale
?/-'
Die Wortbilduns.
des Wortes spielen. Eine beachtenswerte, namentlich bei bekann-
teren Wörtern zuweilen auftretende Erscheinung ist endlich noch
die, daß man bei der ersten Einwirkung nur einzelne Zeichen deut-
lich sieht, die übrigen dunkel, daß dann aber in einem sehr kurzen
Moment nachher, wenn das Sehobjekt selbst schon verdeckt ist,
plötzlich das Wort vor dem Bewußtsein steht. Auch in diesem Fall
erscheint es jedoch nicht wie ein bloßes Erinnerungsbild, sondern
deutlich wie ein wirklicher Eindruck.
Diese Beobachtungen zeigen, daß es bei irgendwie zusammen-
gesetzteren Sehobjekten niemals der äußere Eindruck allein ist, den
wir apperzipieren , sondern daß dieser stets mit reproduktiven
Elementen zusammenwirkt, die sich mit ihm zu einer einheitlichen,
in ihren direkten und reproduktiven Teilen gar nicht zu unter-
scheidenden Wortvorstellung verbinden. Was dem Eindruck ent-
nommen wird, das sind zunächst gewisse dominierende Elemente,
die ihre Bevorzugung meist äußeren Eigenschaften, zuweilen aber
auch subjektiven Bedingungen, sei es ihrer größeren Geläufigkeit,
sei es der zufälligen Richtung der Aufmerksamkeit, verdanken. Diese
dominierenden Elemente werden deutlich apperzipiert, alle übrigen
Teile des Gegenstandes werden nur dunkel perzipiert. Augenschein-
lich gewährt jedoch diesen letzteren die Gruppe der dominierenden
Elemente eine wirksame Assoziationshilfe: sie verbinden sich daher
nun mit reproduktiven Elementen, die durch jene dominierenden
Teile in das Bewußtsein gehoben werden. So ist die endlich zustande
kommende Wortvorstellung das Produkt einer Assimilation der
dargebotenen Eindrücke durch die disponibeln Repro-
duktionselemente, wobei aber, wie besonders die Erscheinungen
des »Verlesens« zeigen, ebenso die direkten auf die reproduktiven
Elemente wie diese auf jene einwirken: die direkten erwecken die
reproduktiven, und diese verdrängen die ihnen ungleichen Bestand-
teile des Empfindungseindrucks, deren Stellen sie einnehmen. Jede
Wortapperzeption erfolgt also immer erst auf Grund einer assozia-
tiven Wechselwirkung direkter und reproduktiver Elemente, und je
nach den besonderen Bedingungen können bald jene, bald diese in
dem entstehenden Endprodukt überwiegen. Dieser Vorgang der
Assimilation und Apperzeption erfolgt ferner im allgemeinen simul-
tan, d. h. in einer für uns unwahrnehmbaren Zeitfolge. Doch kann
Das Wort als simultane Vorstellung. ^y^
in besonderen Fällen, wo die Assimilationsprozesse ungewöhnliche
Hemmungen erfahren, für einzelne Teile des Vorgangs eine Zeitfolge
bemerkbar werden.
4. Das Wort als simultane Vorstellung.
Abgesehen von diesen durch besondere Verhältnisse herbei-
geführten Hemmungen , bei denen« übrigens gleichfalls die einzelnen
Bestandteile des Wortes in höchst irregulärer Weise und keineswegs
in der Folge der Buchstaben in den Blickpunkt des Bewußtseins
treten, ergibt sich aus den obigen Beobachtungen, daß ein bekanntes
Wort in der Regel unmittelbar als ein einheitliches Ganzes
simultan apperzipiert, nicht erst aus seinen Bestandteilen, den
Buchstaben oder Lauten, in unserer Vorstellung zusammengefügt
wird. Vielmehr fassen wir diese Bestandteile zumeist überhaupt
nicht als Teile, sondern als Merkmale des Ganzen auf. Nur wenn
das Wort ein größeres, selbst wieder aus mehreren Wörtern zu-
sammengesetztes Gebilde ist, das die Grenzen des Umfangs der
Apperzeption überschreitet, wird es Gegenstand einer sukzessiven
Apperzeption. Immer ist aber dabei das einzeln Apperzipierte ein
bis zu einem gewissen Grade selbständiges Wortgebilde, das für
sich schon Assoziationen einzugehen vermag. Ein ähnliches Ver-
hältnis, wie der einzelne Laut oder sein optisches Zeichen zum Wort,
zeigt dann wiederum das Wort zum Satze. Auch der Satz kann,
falls er nicht durch seinen Umfang die Grenzen der simultanen
Apperzeption überschreitet, als ein Ganzes aufgefaßt werden. Aber
dieses umfassendere Ganze hat einen loseren Zusammenhang als das
einzeln aufgefaßte Wort, und der Umfang, um den die Verbindung
der Wörter zum Satze das Gebiet der simultanen Apperzeption er-
weitert, ist daher ein relativ kleiner.
Es könnte scheinen, als wenn mit diesen Ergebnissen der Ver-
suche über momentane Apperzeption zwei bekannte Tatsachen im
Widerspruch stünden: erstens die, daß der Lauteindruck eines
Wortes in der Regel, namentlich bei allen mehrsilbigen Wörtern,
kein simultaner, sondern ein sukzessiver ist; und zweitens die, daß
wir zur Hervorbringung optischer Wortbilder, nicht bloß bei den
Formen der Lautschrift, sondern auch bei der primitiveren Bilder-
ejA Die Wortbildung.
Schrift, einer Sukzession von Bewegungen bedürfen, da ja das Bild,
ebenso wie die ihm verwandte zeichnende Gebärde, nur allmählich
entstehen kann. Auf diesen beiden Tatsachen beruht denn wohl
auch die verbreitete Meinung, Sprechen wie Hören, Schreiben wie
Lesen seien für unsere psychische Tätigkeit in ganz derselben Weise
sukzessive Vorgänge, wie die äußeren Artikulations- und Schreibe-
bewegungen sukzessive Vorgänge sind. Nichtsdestoweniger ist dies,
wenn man von gewissen Fällen des verständnislosen Nachsprechens
und des absichtlichen oder angelernten lautierenden und buchstabie-
renden Lesens absieht, ein Irrtum. Bei der Auffassung eines Wortes
gelangen zwar die Laute in einer gewissen Aufeinanderfolge zu
unserem Ohr; doch das Wort als solches, in seiner unmittelbaren
Assoziation mit einer bestimmten Begrififsvorstellung, apperzipieren
wir nur in einem einzigen simultanen Akt, der, wenn die Auffassung
Schwierigkeiten bereitet, z. B. bei einer fremden Sprache oder einem
ungewohnten Worte, dem sukzessiven Hören aller Wortbestandteile
nachfolgen kann, bei der Auffassung eines wohlbekannten Wortes
aber entweder mit dem letzten gehörten Laut gleichzeitig ist oder
aber, bei etwas längeren Wörtern, schon etwas früher eintritt.
Letzteres geschieht besonders dann, wenn die Verbindung der Einzel-
vorstellung des Wortes mit der im Satze ruhenden Gesamtvorstellung
bereits auf den Begriff hinweist, der im Wort ausgedrückt ist.
Ebenso ist beim Sprechen die Wortvorstellung als solche ein simul-
taner Akt, nur daß dieser nicht, wie beim Hören, nachfolgt, sondern
den Artikulationsbewegungen vorausgeht. Dabei finden sich dann
freilich hier wie dort die einzelnen Bestandteile der Wortkomplikation
nicht in gleicher Weise simultan im Bewußtsein, sondern der eigent-
liche Akt der momentanen Apperzeption trifft vor allem die Be-
deutungskomponente, den an das Wort gebundenen Begriff. Mit
dieser verbunden wird dann einer der Lautbestandteile, im allge-
meinen derjenige, der im Moment jener Begriffsapperzeption gerade
gesprochen oder gehört wird, apperzipiert. Die übrigen befinden
sich in einem etwas verdunkelten, aber immer noch hinreichend
deutlichen Zustande, so daß das ganze Wort auch nach seinem
Lautgehalt als ein simultan aufgefaßtes gelten kann. Genau wie der
Sprechende verhält sich der Schreibende, sobald ihm das Schreiben
eine eingeübte, auf festen Assoziationen beruhende Tätigkeit ge-
Das Wort als simultane Vorstellung. 5^5
worden ist : die Wortvorstellung geht der schreibenden Reproduktion
des Wortbildes voraus. Da sie aber dieser im allgemeinen als Laut-
vorstellung vorausgeht und die Lautartikulationen weit schneller ab-
laufen als die Schreibebewegungen, so halten beide meist nicht
gleichen Schritt. Der Schreibende muß seine vorauseilenden Wort-
vorstellungen gewaltsam hemmen, oder es widerfährt ihm, daß im
Schriftbilde später kommende Wortbestandteile oder selbst ganze
Worte antizipiert werden. Das begegnet begreiflicherweise am-
leichtesten teils solchen Personen, denen das Schreiben eine wenig
gewohnte Tätigkeit ist, teils aber auch solchen, die in hohem Grad
an die freie Rede gewöhnt sind. Nächst den des Schreibens wenig
Kundigen und den Imbezillen sind daher die Redner die schlechtesten
Abschreiber. In jeder Beziehung am günstigsten verhält sich hin-
sichtlich der möglichst vollkommenen Gleichzeitigkeit aller bei der
Wortapperzeption beteiligten Funktionen das geübte Lesen. Hier
ist der Gesichtssinn dem Gehör wie den Lautartikulationen dadurch
überlegen, daß er eine Anzahl simultan im Raum gegebener
Vorstellungsobjekte auch simultan zur Empfindung bringt. Bei ihm
kann daher mit der entscheidenden Begrififsapperzeption jedesmal
die Auffassung des zugehörigen optischen Wortbildes vollkommen
zusammenfallen. Von dem Lesen gilt deshalb, wenn diese Bedingung
vollkommener Übung erfüllt ist, mehr als von irgendeiner andern
Art der Sprachfunktion, daß bei ihm die Apperzeption von Wort
und Begriff einen einzigen Akt bildet'). Deshalb bietet auch das
Lesen am häufigsten diejenige Erscheinung dar, welche die simultane,
aus direkten und reproduktiven Elementen gemischte Bildung der
Wortvorstellungen am deutlichsten zur Anschauung bringt: die
falsche Assimilation und Apperzeption der Worte. Diese besteht
aber, wie die tachistoskopischen Versuche lehren, keineswegs etwa
I) Die hiermit eng zusammenhängende Tatsache, daß zu Wörtern verbundene
Schriftzeichen in so viel größerer Zahl als unverbundene simultan apperzipiert wer-
den können, hat man aus der bekannten Erfahrang zu erklären gesucht, daß wir
Wörter leichter im Gedächtnis bewahren als sinnlose Buchstabenverbindungen. Nun
können die letzteren natürlich auch schneller vergessen werden. Aber vor allen
Dingen werden sie unvollkommener oder gar nicht apperzipiert. weil, wie die oben
erörterten tachistoskopischen Versuche zeigen, die ihre Assimilation vermittelnden
reproduktiven Elemente unwirksam bleiben. In der Regel fehlt daher die Voraus-
setzung, unter der überhaupt ein Vergessen erst möglich wird.
cy5 Die Wortbildung.
darin, daß ein Teil des gelesenen Wortes ungenau wahrgenommen
und, wie man unter Anwendung der bekannten vulgärpsychologischen
Interpretation gemeint hat, mittelst einer »Vermutung« ergänzt wird,
sondern der falsch gelesene Bestandteil wird wirklich anders
gesehen. Bei der Substitution von Worte für Warte, von Fliege
für Folge z. B. sieht man dort das c, hier das 2, Buchstaben, die im
wirklichen Eindruck gar nicht vorkommen, ganz so unmittelbar wie
die übrigen, und wenn man über den Fehler aufgeklärt wird, so
erinnert man sich nicht selten gerade dieser falsch gelesenen Buch-
staben besonders deutlich. Ahnlich verhält es sich, wenn das nicht
existierende Symbol in die Region des indirekten Sehens oder in eine
völlig leere Stelle des Sehfeldes projiziert wird. Daß übrigens diese
Substitution bei der akustischen Auffassung der Worte eine ähnliche
Rolle spielt, lehren die häufigen Erfahrungen über das »Verhören«,
das dem Verlesen offenbar in allen diesen Beziehungen analog ist,
nur daß sich die Ergänzungen meist nicht in ebenso greifbarer
Form nachweisen lassen.
Noch bei andern Erscheinungen im Gebiete der optischen Wort-
bilder, die man ohne jede künstliche Versuchsvorrichtung beob-
achten kann, tritt endlich die simultane Natur des Vorgangs der
Wortapperzeption oft überraschend hervor. Die moderne Typo-
graphie bringt es gelegentlich zustande, namentlich auf Bücher-
titeln die Wörter durch die Unregelmäßigkeit der Linienführung
und durch umgebende Arabesken gleichsam künstlich dem Auge
zu verheimlichen. Dabei kann man nun wahrnehmen, daß das
Wort, nachdem es zuerst unerkannt geblieben, plötzlich und fast
blitzartig vor dem Auge aufleuchtet. Diese Beobachtimg ent-
spricht ganz den Erscheinungen der bekannten Vexierbilder, bei
denen die Umrißzeichnung eines Gegenstandes, z. B. einer Katze,
in irgendeinem Bild, etwa in dem Baumschlag einer Landschaft,
angebracht ist. Auch solche Vexierbilder leuchten in dem Augen-
blick, wo sie erkannt werden, plötzlich auf Dabei sind aber, da
es sich um die Betrachtung dauernder Objekte handelt, Augenbe-
wegungen, die bei den tachistoskopischen Versuchen wegen der
sehr kurzen Dauer der Einwirkung ausgeschlossen sind, von Ein-
fluß; und man kann zuweilen beobachten, daß die zufällige Be-
wegung entlang einer Umrißlinie des Vexierbildes dieses sofort er-
Das Wort als simultane Vorstellung. c^y
scheinen läßt. Bei den Beobachtungen mit einer Vexierschrift kann
man ferner nicht selten auch den Einfluß wahrnehmen, den die
besondere, unter Umständen willkürlich herbeizuführende Disposition
des Bewußtseins auf die Erscheinung ausübt. So habe ich mich
jahrelang an einem jetzt leider durch ein anderes ersetzten Firmen-
schild erfreut, auf welchem ein Name mit so dicken Goldbuchstaben
auf schwarzem Grunde geschrieben stand, daß man sich leicht ein-
bilden konnte, man habe ein mit schwarzen Buchstaben auf Gold-
grund geschriebenes Wort vor sich. Machte man sich nun willkür-
lich diese Vorstellung, so verschwand das Wort spurlos aus der
Apperzeption, die Schrift wurde zum sinnlosen Ornament, um
sofort wieder deutlich aufzutauchen, wenn man zur umgekehrten
Vorstellung, daß der Grund schwarz und die Schrift golden sei,
überging. Auch hier schien der Vorstellungswechsel durch Augen-
bewegungen, die den wirklichen oder vermeintlichen Buchstaben
entlang liefen, eingeleitet zu werden.
Indem nun die Tatsache, daß das Wort im allgemeinen simul-
tan apperzipiert wird, ohne weiteres die Verschiedenheiten in der
Auffassung isolierter und zu Worten verbundener Schriftzeichen
erklärt, die uns die Versuche mit dem Tachistoskop darbieten, be-
weist sie zugleich, daß die Schriftzeichen oder Laute eines Wortes
Merkmale dieses einheitlichen Ganzen sind. Sie sind aber Merk-
male im psychologischen, nicht im logischen Sinne: sie sind
nicht Eigenschaften, nach denen das Objekt begrifflich in eine
Klasse bekannter Gegenstände eingeordnet wird, sondern sie sind
Gruppen von Empfindungselementen, die durch Assoziation mit
reproduktiven Elementen das unmittelbare Wahrnehmungsbild des
Objektes hervorrufen. Für unsere Auffassung ist demnach ein
Wort ebenso eine einzelne Vorstellung wie der einzelne Buchstabe.
Von beiden Arten der Vorstellung können deshalb auch annähernd
gleich viele gleichzeitig apperzipiert werden. Wenn hier meist ein
kurzes Wort noch ein wenig schneller aufgefaßt wird, so beruht
das vermutlich darauf, daß die einzelnen Teile desselben als wechsel-
seitige Assoziations- und Assimilationshilfen wirksam sind. Dem
entspricht denn auch die weitere, bei zeitmessenden Versuchen ge-
fundene Tatsache, daß die Zeit, in der auf die Erkennung eines
einzelnen Buchstaben durch eine verabredete Bewegung reagiert
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. jy
c'jg Die Wortbildung.
wird, durchschnittlich ebenso groß oder eher etwas größer ist als
die Zeit, in welcher die Reaktion auf die Erkennung eines ein-
facheren, wohlbekannten Wortes erfolgt; und soweit ein Unter-
schied besteht, beruht er nicht auf der verschiedenen Zahl, son-
dern auf der verschiedenen Verwicklung der verglichenen Vor-
stellungen, d. h. auf der größeren oder geringeren Mannigfaltigkeit
ihrer Merkmale'). Natürlich ändern sich aber diese Bedingungen,
wenn Worte und Buchstabensymbole beide noch relativ unbekannte
Objekte sind. So bedarf das Kind beim Lesenlernen vor allem
der Kenntnis der einzelnen Buchstaben, um die ganzen Worte
lesen zu können, daher denn auch die Pädagogik, obgleich sie der
Buchstabiermethode entsagt hat, doch wohlweislich daran festhält,
mit srroßen, einzeln deutlich wahrzunehmenden Buchstaben das
Lesen beginnen zu lassen und dann erst allmählich zu den klei-
neren Schriftformen überzugehen. Für das lesenlernende Kind ist
ein einzelner Buchstabe zunächst noch nicht Merkmal, sondern Teil
des Wortbildes. Bei wachsender Übung verändert sich dann die
Sukzession der Apperzeptionen nur wenig in ihrer Geschwindig-
keit, um so mehr aber in bezug auf den Umfang der Einzelvor-
stellungen, die in einem einzelnen Akt verbunden werden. Dies
kann allein dadurch geschehen, daß immer und immer wieder die
nämlichen Wortbilder einwirken, und daß so ganz allmählich das,
was ursprünglich selbständiger Bestandteil einer zusammengesetz-
teren Vorstellung war, in ein Merkmal derselben übergeht. Hierin
ist dann von selbst die Aufforderung gelegen, auch die Größe der
zusammengesetzten Objekte zu vermindern, damit sie leichter simul-
tan aufgefaßt werden können, um so mehr, da, sobald nur eine
zureichende Anzahl von Merkmalen gegeben ist, die in der Wahr-
nehmung ausfallenden derart ergänzt werden, daß sie sich von den
direkt empfundenen nicht unterscheiden.
I) E. B. Titchener, Philos. Stud. Bd. 8, 1893, S. 138 ff. Physiol. Psychol.s m,
S. 458.
Psychologische Analyse der Wortassimilationen. cyg
5. Psychologische Analyse der Wortassimilationen.
Für die psychologische Analyse der Wortvorstellungen sind vor
allem die Erscheinungen der Ergänzung der gesehenen oder ge-
hörten Eindrücke und die damit untrennbar verbundenen der Ver-
drängung direkter durch reproduktive Elemente von wegweisender
Bedeutung. Nun kann man unmöglich annehmen, daß solche Re-
produktionswirkungen auf die ergänzten Elemente, bei denen sie
zur unmittelbaren Anschauung kommen, beschränkt seien. Viel-
mehr nur deshalb , weil auch die andern Teile der Wortvorstellung
an ihnen teilnehmen, sind jene Substitutionen überhaupt möglich.
Damit ist zugleich die Frage nach dem Übergang der Teile eines
komplexen Vorstellungsganzen in Merkmale einer einheitlich aufge-
faßten Einzelvorstellung, wie er z. B. beim Lesenlernen stattfindet,
beantwortet. Je häufiger ein Wortbild einwirkt, eine um so stärkere
Disposition zu seiner Wiedererneuerung bleibt zurück. In dem
Augenblick, wo durch direkte Sinneseindrücke ein Komplex von
Empfindungen entsteht, der diesen Dispositionen oder auch nur
einem größeren Teile derselben gleich ist, werden daher die Dis-
positionen selbst zu aktuellen Empfindungen, die mit den durch den
äußeren Eindruck erweckten in eine einheitliche Vorstellung zu-
sammenfließen. Nun stehen aber die als Dispositionen von frü-
heren Eindrücken her zurückgebliebenen Elemente ebenso in man-
nigfachen Verbindungen wie die direkten Empfindungen, und sie
werden in denjenigen Verbindungen am leichtesten reproduziert, in
denen sie am häufigsten vorkamen. Darum reproduziert jedes Wort-
bild durch direkte Assoziation die entsprechenden Elemente früherer
Wortbilder und durch indirekte, nämlich infolge der zwischen den
reproduktiven Elementen selbst bestehenden Assoziationen, die mit
ihnen in früheren Vorstellungen häufig verbunden gewesenen. Ist
die letztere Assoziation der im neuen Eindruck gebotenen analog,
so wird sie verstärkt, und es wird durch die so in immer gleicher
Weise sich wiederholende Verbindung die Aussonderung des Wort-
gebildes von andern zufällig begleitenden mehr und mehr gesichert.
Mengen sich dagegen infolge der sekundären Assoziationen repro-
duktive Elemente ein, die nicht dem direkten Eindruck angehören,
37*
;8o Die Wortbildung.
SO entstehen nun Substitutionen, die zu Sinnestäuschungen, so-
genannten »Illusionen-, im vorliegenden Fall zu den Erscheinungen
des »Verhörens« und »Verlesens« führen.
Besitzen demnach die einzelnen W'ortvorstellungen durchaus den
Charakter jener Assimilationsgebilde, wie sie uns bereits in den
mannigfachen Formen reproduktiver Lautwirkungen im vorigen Ka-
pitel begegnet sind, so sind nun aber gerade diese die Bildung der
Wortv'orstellungen begleitenden Assimilationen wegen der zu Gebote
stehenden experimentellen Beeinflussung der Bedingungen besonders
günstige Objekte für die psychologische Analyse der Assimilations-
vorgänge überhaupt^). Wir betrachten es als einen überall für diese
Analyse maßgebenden Grundsatz, daß nur Bewußtseinsvorgänge
als wirkliche psychische Vorgänge gelten können. Der Begriff
der »Disposition« ist daher lediglich ein Hilfsbegrifif, der irgendeine
uns nur in ihren Wirkungen auf die tatsächlich beobachteten Vor-
gänge gegebene, abgesehen von dieser Wirkung aber völlig unbe-
kannte Bedingung zur Entstehung gewisser psychischer Erlebnisse
oder zur Abänderung anderer bezeichnet. Hiernach kann eine
Assimilation, insofern dieser Ausdruck eine Wirkung andeutet,
die zwischen direkt erregten Empfindungen und Dispositionen aus
früheren Eindrücken stattfindet, natürlich selbst kein in der Form
der Disposition oder kein im > Unbewußten« sich ereignender Vor-
gang sein; wie denn überhaupt der Ausdruck »unbewußte Vor-
gänge« einen inneren Widerspruch in sich schließt, da der Begriff
des Unbewußten psychologisch not%vendig eben mit jenem Begriff
der »Disposition« zusammenfällt, die Disposition aber ihre empirisch
berechtigte Bedeutung nur darin hat, daß sie selbst kein wirklicher
psychischer Vorgang, sondern bloß die Anlage zu einem solchen ist.
Demnach können auch die Assimilationen nur als Verbindungs-
prozesse betrachtet werden zwischen Empfindungen, die direkt
durch äußere Eindrücke erregt werden, und solchen, die unter dem
Einfluß jener Dispositionen entstehen. Da die Disposition nicht
^ Es stehen ihnen in dieser Beziehung, was die allgemeine psychologische
Verwertung angeht, nur noch die schon früher S. 448) in diesem Sinn erwähnten
>umkehrbaren geometrisch-optischen Täuschungen« zur Seite, deren Studium auch
hier wieder als ein einem ganz andern Gebiet entnommenes, aber eben darum für
die allgemeine Natur der Vorgänge lehrreiches Beispiel empfohlen werden kann.
Psychologische Analyse der Wortassimilationen. 5 8 1
selbst ein psychischer Vorgang, sondern eine Bedingung- seiner Ent-
stehung ist, so vollzieht sich aber natürlich auch eine Assimilation
zwischen der reproduktiven und der direkt erregten Empfindung
immer erst in dem Moment, wo die Disposition zur
aktuellen Empfindung wird, gerade so wie der äußere Ein-
druck nicht als physischer Reiz, sondern ebenfalls erst als Emp-
findung assoziationsfähig wird. Wir nennen endlich diese Asso-
ziation eine »Assimilation«, weil ihr in doppeltem Sinne der
allgemeine Charakter der »Verähnlichung« zugeschrieben werden
kann: erstens, insofern die direkt erregten Empfindungen ihnen
ähnliche oder oft mit ihnen verbunden gewesene wiedererwecken,
und zweitens, weil diese aus Dispositionen hervorgegangenen repro-
duktiven Elemente selbst verähnlichend auf die direkten Empfindun-
gen zurückwirken. Die Assimilation als Assoziationsvorgang ist
also stets eine wechselseitige: die direkten Empfindungen wirken
assimilativ auf die reproduktiven, und diese wirken ebenso auf die
direkten. Indem dabei weiterhin auch noch, w^ie oben erwähnt,
sekundäre Assoziationen der reproduktiven Elemente mit andern
eintreten, die mit ihnen häufig verbunden waren, während sie zu
den direkten ursprünglich außer Beziehung standen, ist im all-
gemeinen jede einzelne Wortvorstellung eine Resultante
aus unabsehbar vielen Elementen.
Der nächste und entscheidende Charakter der Assimilation be-
steht hiernach darin, daß sie eine simultane Assoziation ist.
Sie ist simultan, weil die als ihr Produkt entstehende Einzel-
vorstellung in allen ihren Teilen gleichzeitig aufgefaßt wird, wo-
durch von selbst die Teile zu psychologischen Merkmalen in dem
oben bezeichneten Sinne werden. Sie ist ferner eine Assoziation,
da bei ihr keine Verbindungen anderer Art stattfinden, als sie bei
irgendwelchen sonstigen Assoziationen vorkommen. Das Charalderi-
stische des Vorgangs besteht bei ihnen, wie bei allen Assoziationen,
darin, daß sie Elementarvorgänge, nicht Massenvorgänge sind.
Wenn Herbart und die an ihn sich anschließenden Sprachpsycho-
logen solche Assimilationen als Wirkungen von »Apperzeptions-
massen« bezeichnen, so ist daher dieser Ausdruck in doppelter
Weise irreführend: erstens, weil er diese Erscheinungen überhaupt
von den Assoziationen trennt, denen sie ihrem ganzen Wesen nach
e82 Die Wortbildung.
zugehören; und zweitens, weil der ganze Vorgang das gerade Gegen-
teil einer »Massenwirkung« ist. Wollen wir ihn uns irgendwie aus
seinen deutlich gegebenen Komponenten verständlich machen, so
müssen wir vielmehr not\vendig annehmen, daß zu einer geläufigen
Wortvorstellung eine unbestimmte Zahl elementarer Dispositionen
sowohl in den gleichen wie in andern, irgendwie ähnlichen Verbin-
dungen vorhanden ist, und daß von diesen Dispositionen eine
größere Anzahl teils direkt, durch übereinstimmende Empfindungs-
elemente des Eindrucks, teils indirekt, durch ihre äußere Verbin-
dung mit solchen, erw'eckt wird. Zwischen den so in Wirksamkeit
tretenden Elementen entsteht dann aber eine Wechselwirkung, in-
folge deren sich die übereinstimmenden Elemente assimilieren und
die widerstreitenden vollständig eliminiert werden. Auf diese Weise
besteht jede Assimilation auch im Gebiet der Wortvorstellungen aus
einer unabsehbaren jMenge elementarer Gleichheits- und
Beruh runcfsassoziationen.
6. Apperzeption des Wortes als Einzelvorstellung.
Nachdem so die Bildung der Wortvorstellung in allen ihren
wesentlichen Eigenschaften durch den Assimilationsprozeß einge-
leitet ist, wird sie nun aber erst abgeschlossen durch einen daran
sich anschließenden weiteren Vorgang, durch die Heraushebung
der durch jene assoziativen Prozesse gebildeten Einzelvorstellung aus
dem gesamten Vorstellungsverlauf. Diesen letzten entscheidenden
Akt nennen wir die Apperzeption des Wortes, Die Wortapper-
zeption, wie sie sich im Laufe der natürlichen Gedankenbildung
vollzieht, besteht demnach nicht in jenen assimilativen Assoziationen
selbst, denen die psychische Konstitution des Wortes ihren Ursprung
verdankt; sondern durch diese Assoziationen wird immer nur das
Objekt gegeben, welches apperzipiert werden kann, nicht der Akt
der Apperzeption selbst. Dieser vollzieht sich einerseits als ein
Unterscheidungsakt, der unter der Wirkung mannigfaltiger und
zum Teil weit zurückreichender Vorerlebnisse des Bewußtseins ent-
steht. Anderseits ist er von eigenartigen subjektiven wie objek-
tiven Symptomen begleitet. Subjektiv wird das durch assimilative
Assoziation entstandene Produkt unter den für die Willensvorgänge
Grund- und Beziehungselemente des Wortes. cgi
charakteristischen Spannungs- und Erregungsgefühlen Objekt
der Aufmerksamkeit. Dabei bezeichnet dieser Ausdruck »Aufmerk-
samkeit« subjektiv wiederum nichts anderes als eben den Komplex
der Gefühle selber, während er objektiv auf die größere Klarheit
und Deutlichkeit der Einzelvorstellung hinweist, die Inhalt der
Apperzeption ist. Beide objektive Eigenschaften ergänzen sich in-
sofern, als die »Klarheit« die Hervorhebung der einzelnen Vorstel-
lung nach ihrem spezifischen Inhalt, die »Deutlichkeit« die Sonde-
rung von andern Bewußtseinsinhalten andeutet. Beide Eigenschaften
werden gewöhnlich als »Wirkungen« der Aufmerksamkeit betrachtet,
obgleich sie nur die objektiven Merkmale der Aufmerksamkeit selbst
sind, ebenso wie die Spannungs- und Erregungsgefühle deren sub-
jektive Symptome.
Hat auf diese Weise die Apperzeption des Wortes die assoziativ
vorbereitete Bildung der Worteinheit vollendet, so wirkt sie nun
ihrerseits wieder auf die Assimilationsprozesse zurück, indem auch
ihre Handlungen Dispositionen hinterlassen, welche die Wieder-
erneuerung einer bestimmten Worteinheit in künftigen Fällen unter-
stützen und diese zu bestimmten Gesamtrichtungen des Bewußtseins
in Beziehung setzen. So greifen hier, wie überall im geistigen
Leben, die einzelnen Vorgänge auf das mannigfaltigste und in hin-
und rückläufigen Bewegoingen wechselseitig fördernd ineinander ein.
Die höheren Stufen dieser Vorgänge, die apperzeptiven, sind aber
durch die vorangehenden, die assoziativen, so vollständig vorbereitet,
daß sie ganz und gar als »psychische Resultanten« derselben er-
scheinen^).
III. Stellung des Wortes in der Sprache.
I. Grund- und Beziehungselemente des Wortes.
In dem Verlauf der Rede ist das Wort eine natürliche Einheit,
die zwar mit andern ähnlichen Einheiten in Beziehungen und Ver-
bindungen steht, dabei aber doch, wie das Glied einer Kette, ein
Ganzes für sich bildet, das allein schon einen bestimmten Begriff
') Vgl. oben Kap. II, S. 246.
Die Wortbildung.
zum Ausdruck bringen kann. Bei dieser Aussonderung der Wort-
vorstellungen aus dem Zusammenhang der Rede gewinnt nun der
schon bei dem Lautwandel hervorgetretene funktionelle Unterschied
der Grundelemente und der Beziehungselemente eine ent-
scheidende Bedeutung (Kap. IV, S. 453).
Grundelemente nennen wir hier wieder diejenigen Lautbestand-
teile, die für den innerhalb einer bestimmten Wortgruppe konstant
bleibenden Begriff charakteristisch sind, während die Beziehungs-
elemente solche Bestandteile umfassen, durch die jener Begriff
irgendwie modifiziert und dadurch zugleich zu andern in die Rede
eingehenden Worten in Beziehung gebracht wird. Da diese Be-
ziehungselemente mit ähnlich sinnmodifizierender Wirkung in den
Abwandlungsformen anderer Wörter ebenfalls vorkommen, so be-
sitzen auch sie eine relativ konstante Bedeutung. Nur besteht diese
hier nicht in einem selbständig zu denkenden Begriff, sondern in
einer begrifflichen Beziehung, die zu ihrer realen Vergegen-
wärtigung im Bewußtsein immer der Verbindung mit Grundele-
menten bedarf. Zugleich erweist sich aber, wie schon früher be-
merkt, nicht selten die Grenze zwischen Grund- und Beziehungs-
elementen als eine fließende, indem an dem Prozeß der sinnmodi-
fizierenden Änderungen auch solche Elemente teilnehmen, die nach
ihrer ursprünglichen Bedeutung zu den Grundelementen gehören.
So scheiden sich in einer zusammengehörigen Reihe von Wörtern,
wie stehe ^ stehst^ stellt^ stand ^ gestanden usw., ohne weiteres die
angefügten Suffixe sowie das Präfix des Perfektums als reine Be-
ziehungsbestandteile; dem steht der konsonantische Anlaut st des
Verbalstammes als ein bei allen Abwandlungen unberührt bleiben-
der Grundbestandteil gegenüber, während der Stammvokal inner-
halb beschränkterer Gruppen die Bedeutung eines Grundelementes
hat, das aber für andere Wortgruppen zu den Beziehungselementen
hinübergezogen wird. An diesen fließenden Elementen offenbart es
sich aber deutlich, daß für das sprachbildende Bewußtsein selbst das
Wort eine Einheit bleibt, das sich durch die im Zusammenhang
der Rede liegenden natürlichen Bedingungen in stabilere und vari-
ablere Elemente zerlegt, ohne daß sich zunächst der Redende
dessen bewußt, und ohne daß daher eine absolute Trennung beider
mösrlich ist.
Wurzeln der Sprache. 585
Da das Verhältnis der Grund- und Beziehungselemente eines
Wortes ein wechselndes sein kann, so ergeben sich hieraus zugleich
für die Konstitution der Wortvorstellung zwei Grenzfälle, deren Vor-
kommen und Verbreitung mit charakteristischen Eigentümlichkeiten
des Baues der Einzelsprachen zusammenhängen, und auf die darum
hier nur im allgemeinen hingewiesen werden kann. Der eine dieser
Grenzfälle wird durch Wortgebilde repräsentiert, die nur aus Grund-
elementen, der andere durch solche, die nur aus Beziehungsele-
menten bestehen. Im ersten Fall enthält das Wort bloß einen
selbständigen, für sich vorstellbaren Begriff; im zweiten Fall, der
bei unsern abstrakten Partikeln verwirklicht ist, enthält es nur eine
unbestimmte Beziehung, die isoliert nicht vorgestellt werden kann.
Hier wird das Wort im allgemeinen nur als Wort vorgestellt, als
geläufiger Lautkomplex, der sich aber vermöge der gewohnten be-
grifflichen Anwendung mit einem Gefühl verbindet, das wahr-
scheinlich von andern, häufig mit ihm verbundenen Wortvorstel-
lungen ausgeht, die sich assoziativ zum Bewußtsein drängen. Wegen
der großen Zahl solcher Assoziationen kommt in der Regel keine
einzige mit ihrem objektiven Inhalt zur Geltung. Bei der Einwir-
kung isolierter Wörter ist daher der Bewußtseinszustand, wie er sich
namentlich an den Assoziations- und Gefühlskomponenten zu er-
kennen gibt, ein wesentlich abweichender, je nachdem es sich um
ein selbständiges Begrififswort oder um ein reines Beziehungswort
handelt. Jenes erweckt, falls seine Bedeutung bekannt ist, neben
der Lautvorstellung immer auch eine mit den Grundelementen as-
soziierte inhaltlich bestimmte Begriftsvorstellung, die um so an-
schaulicher ist, eine je konkretere Bedeutung das Wort hat. Das
reine Beziehungswort dagegen erweckt zunächst nur eine Lautvor-
stellung, eventuell mit zugehörigem optischen Wortbild, an die
irgendein Gefühlseindruck geknüpft ist, der gelegentlich durch
wechselnde äußere Wortassoziationen abgelöst werden kann.
2, Wurzeln der Sprache.
Die Tatsache, daß im allgemeinen jedes Wort nach Laut wie
Bedeutunsr mit einer erößeren oder kleineren Anzahl anderer Wör-
ter zusammenhängt, hat auf die Betrachtung der Sprache frühe
e86 Die Wortbildung;.
schon einen entscheidenden Einfluß ausgeübt. Jenen Lautbestand-
teil, in dem die Bedeutungsgemeinschaft der Glieder einer Wort-
sippe ihren Ausdruck findet, betrachteten bereits die alten Sanskrit-
grammatiker als das ursprünglich »Gesetzte«, dhätu [d-£f.ia), das
nicht weiter Abzuleitende oder als das »Element« der Wortbildung.
Dem Vorbild der griechischen Naturphilosophie folgend, welche
die Prinzipien oder Elemente der Dinge bildlich deren Wurzeln
{QiKwi.iaTa) nannte, bezeichneten dann die römischen Philologen
diese Grundbestandteile als die »Wurzeln der Sprache«. An diesen
Ausdruck, der seitdem stehen geblieben ist, hat sich endlich jenes
System botanischer Bilder angeschlossen, das die in dem Begriff
der Wurzel angedeutete Vorstellung, die Sprache selbst sei ein
lebendiger Organismus, mit sich führte. Aus der Wurzel ließ man
durch den Hinzutritt weiterer Elemente den »Wortstamm« ent-
springen, aus dem endlich durch gewisse näher determinierende
Bestandteile die wirklichen Wörter als dessen Verzweigungen her-
vorgehen sollten. Die geschichtliche Betrachtung übertrug diese
bildlichen Bezeichnungen auch noch auf das Verhältnis verschiede-
ner Sprachen zueinander. Nun wurde daher die Einzelsprache selbst
wieder der Zweig eines allgemeineren Sprachstammes, der schließ-
lich eine ihm vorausgehende hypothetische Ursprache als seine
»Wurzel« forderte. Dieses dem organischen Leben entnommene
Begriffssystem wurde freilich bei der Schilderung der weiteren
Schicksale der Wörter und der auf der Höhe ihrer Entwicklung
angelangten Sprachen meist verlassen, indem man jetzt einen Pro-
zeß der »Verwitterung« eintreten ließ, so daß man sich das Gefüge
der Sprache nun eigentlich unter dem Bild einer Gesteinsmasse
dachte ').
Bei dieser Vorstellung, daß jedes Wort eine seinen Grundbegriff
ausdrückende Wurzel und weitere, zu ihr hinzutretende formale Ele-
^) Curtius, Griech. Etymologie, 5 S. 23. Wenn Bopp und Jakob Grimm statt
dessen solche Ausdrücke wie »Entartung«, »Verwilderung« der Sprache gebrauchen,
so bleiben sie zwar mehr im Bilde, der Widerspruch, daß eine durchaus normale
und von frühe an in die Entwicklung eingreifende Reihe von Erscheinungen als
etwas Pathologisches angesehen wird, ist aber dabei um so auffälliger. Max Müller
spricht in gleichem Sinne sogar von der »Pest der lautlichen Korruption«. (Die
Wissenschaft der Sprache. Neue Bearbeitung, 1892, I, S. 49.)
Unterscheidung von Sprachtypen auf Grund der Wurzeltheorie. cg^
mente enthalte, konnte man nun aber nicht wohl stehen bleiben,
da die formalen Elemente doch mutmaßlich ebenfalls auf irgend-
welche »Wurzeln« zurückführen mußten. So gelangte man zur
Unterscheidung zweier Klassen von Wurzeln, der Stoff- und
Formwurzeln, oder der prädikativen und demonstrativen
(Nenn- und Deutewurzeln), wie sie wohl treffender G. Curtius
nannte. An der Stoff- oder prädikativen Wurzel sollte der einer
Wortsippe gemeinsame Grundbegriff haften, auf die Formwurzeln
sollten die Formelemente zurückführen, die dem Wort seine be-
stimmte grammatische Stellung anweisen: »demonstrativ« wurden
sie genannt, weil man annahm, daß in ihnen stets ein Hinweis auf
eine Person oder auf einen Ort oder auf eine Richtung im Raum
enthalten sei").
3. Unterscheidung von Sprachtypen auf Grund
der Wurzeltheorie.
War auf diese Weise erst der gesamte Bestand eines Wortes
auf eine Verbindung ursprünglich bedeutsamer, nicht weiter zer-
legbarer Lautgebilde von bestimmtem begrifflichen Werte zurück-
geführt, so lag es nun nahe genug, der hierbei wahrzunehmenden
oder zu erschließenden abweichenden Bildungsweise der Wörter
die Gesichtspunkte für die Beurteilung der Verschiedenheiten des
Sprachbaues überhaupt zu entnehmen. So gelangte man zu einem
weiteren, ursprünglich dem biologischen Gebiet entlehnten Begriff:
zu dem des »Sprachtypus«. Wie eine gewisse Anordnung und
Entwicklungsweise der eine Pflanze zusammensetzenden Elementar-
gebilde, der Zellen, einen Pflanzentypus ausmacht, dem eine größere
oder kleinere Zahl einzelner Pflanzenarten zugeteilt werden kann,
so soll eine bestimmte Art der Verbindung und der Entwicklung
der Sprachwurzeln den »Sprachtypus« konstituieren, der natürlich.
^,1 G. Curtius, Zur Chronologie der indogermanischen Sprachforschung,^ 1873,
S. 21. W. von Humboldt (Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprach-
baues. Werke, VI, S. Ii6) hatte beide als »objektive« und »subjektive« Wurzeln
unterschieden, weil die letzteren, die formgebenden Bestandteile des Wortes, nicht
von dem zu benennenden Objekt, sondern von dem subjektiven Standpunkt des
Redenden bestimmt seien.
588 Die Wortbildung.
da es sich in diesem Falle bloß um die Art der Ordnung und
der Veränderung der Elemente, nicht um ihre Lautbeschaffenheit
handelt, auch für Sprachen, die ihrem gesamten Wortschatze nach
voneinander abweichen, doch ein übereinstimmender sein kann. So
entstanden die Begriffe des »isolierenden« oder des »reinen Wurzel-
typus«, der im Chinesischen annähernd verwirklicht sein sollte; des
»agglutinativen«, wie ihn z. B. die ural-altaischen Sprachen darbie-
ten; des »polysynthetischen« oder »einverleibenden«, den man dem
Baskischen und den amerikanischen Sprachen zuschrieb, und bald
als eine Unterart der agglutinativen, bald als eine selbständige
Form ansah; endlich des »flektierenden« Typus, der wieder in
einen solchen der einsilbigen Wurzeln (das Indogermanische) und
in einen der vorwiegend zweisilbigen (das Semitische) gegliedert'
wurde'). Diese »Typen« bilden, abgesehen von manchen außerhalb
des Schemas stehenden Unterschieden, eine Entwicklungsreihe, in
der die reine Wurzelsprache als der Urzustand erscheint. Aus ihr
soll als eine nächste Weiterbildung der agglutinierende Typus ent-
standen sein, der dann durch eine innigere organische Verbindung
der Stoff- und Formwurzeln in den flektierenden überging. Der
letztere soll endlich durch den alsbald sich anschließenden Prozeß
der »Verwitterung« wieder einer Rückbildung Platz machen, bei der
die Wörter abermals dem reinen Wurzelzustand nahekommen: so in
vielen modernen Sprachen, am meisten im Englischen, das nur
noch einen kleinen Rest seiner Flexionselemente bewahrt hat^).
') übrigens werden für das Semitische meist ebenfalls ursprünglich einsilbige,
sei es zwei-, sei es dreikonsonantige Wurzeln, wie qat^ bar oder qatl, brak postuliert,
aus denen sich erst die zweisilbigen Wortstämme, wie qatal^ barak, entwickelt hätten
(Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, Werke, VI,
S. 403 ff.). Zuweilen lag dieser Forderung die freilich sehr zweifelhafte Hypothese
einer Urverwandtschaft zwischen Indogermanen und Semiten zugrunde. (Vgl. Friedr.
Delitzsch, Studien über indo-germanisch- semitische Wurzelverwandtschaft, 1873,
S. 35 if.) Mehr noch haben in neuerer Zeit die unverkennbaren Beziehungen der semi-
tischen zu den im allgemeinen auf einsilbige Wurzeln zurückführenden hamitischen
Sprachen (Ägyptisch, Koptisch, Galla, Somali usw.) die Annahme einer ursprünglich
monosyllabischen Natur der Wurzeln auch für das Semitische nahegelegt.
2) Steinthal, Die Klassifikation der Sprachen, 1850, S. 7. Der erste, der diese
weitverbreitete Einteilung aufgestellt hat, ist nach Steinthals Angabe Pott (in den
Jahrbüchern der freien deutschen Akademie, i. Heft, 1848). Wesentlich vorgebildet
ist sie aber schon bei Humboldt, der namentlich auch den an sich sehr fruchtbaren
Begriff der »Agglutination« einführte und im Zusammenhange damit die Ansicht
Unterscheidung von Sprachtypen auf Grund der Wurzeltheorie. cgo
Durch diese Anwendungen der Wurzelzerlegung der Wörter glaubte
man die Voraussetzung bestätigt zu sehen, daß die Wurzeln nicht
bloß Produkte der Analyse des Wortes, sondern daß sie ursprüng-
lich selbständige Bestandteile seien, aus denen sich das Wort
durch eine zuerst losere Aggregation und dann durch eine immer
fester werdende Verbindung gebildet habe. Dem Begriff des »Typus«
sind jedoch in dieser Anwendung auf die Genealogie der Sprachen
die Schicksale nicht erspart geblieben, die ihm auf andern Gebieten
widerfuhren^). So wenig es für die wirklichen Entstehungsbedin-
gungen einer chemischen Verbindung einen erklärenden Wert hat,
wenn man diese auf den Typus des Sumpfgases (CH^) zurückführt,
gerade so wenig gibt natürlich der Begriff des »Sprachtypus« wirk-
lichen Aufschluß über die Wortbildung in einer Sprache. Ein über-
einstimmender Typus kann möglicherweise auf übereinstimmende
Gesetze der Wortbildung hinweisen ; diese Gesetze zu finden ist aber
in jedem einzelnen Fall eine besondere Aufgabe. Ob eine Sprache
in der Stufenleiter der Wortbildungsprozesse dem Anfang oder einem
späteren Stadium angehört, das ist daher immer nur aus der um-
fassenden Kenntnis ihrer Vorgeschichte mit Sicherheit zu erschließen.
Sonst könnte z. B. das Englische beinahe ebensogut wie das Chine-
sische dem Typus einer Wurzelsprache zugezählt werden. In der
Tat gilt bei den Kennern der chinesischen Sprachgeschichte das
Dogma von der primitiven Wurzelsprache gegenwärtig als unhaltbar,
da diese Sprache ebensowohl die Spuren ursprünglicher und wieder
verloren gegangener Formenbildung wie in der Umgangssprache
die Neigung zu zusammengesetzten Wortbildungen zeigt ^). Der
Gedanke, daß eine einzelne Sprache Jahrtausende hindurch auf einer
primitiven Entwicklungsstufe stehen geblieben sei, hatte ohnehin
von vornherein nur geringe psychologische Wahrscheinlichkeit, am
wenigsten für eine Sprache von so hoher begrifflicher Ausbildung
ent\vickelte , daß ein monosyllabischer Zustand den Ausgangspunkt aller Sprach-
entwicklung gebildet habe. (Über die Verschiedenheit des menschl. Sprachbaues,
§ 25, Werke, VI, S. 382 ff.)
^) Vgl. meine Logik,^ II, i, S. 55 ff.
2) W. Grube, Die sprachgeschichtliche Stellung des Chinesischen, 1881, S. 18.
Dasselbe gilt für die andern in ihrer Struktur dem Chinesischen verwandten mono-
syllabischen Sprachen Ostasiens. Vgl. Conrady, Eine indo-chinesische Kausativ-
Denominativbildung, 1896, Einl.
590
Die Wortbildunff.
wie das Chinesische. Nicht minder begegnet aber die Typentheorie
in ihrer Anwendung auf die sogenannten agglutinativen Sprachen
berechtigten Bedenken. Deren Abgrenzung von den Flexionssprachen
erweist sich als eine willkürliche, für die sich entscheidende Merk-
male nicht auffinden lassen : der wesentliche Unterschied zwischen
beiden scheint schließlich darin zu bestehen, daß die agglutinierenden
Sprachen reichere und zusammengesetztere Flexionsformen besitzen,
weil sie die einzelnen Begriffe konkreter, unmittelbar ausgestattet
mit einer Menge einzelner Nebenbestimmungen denken").
Noch undurchführbarer erweist sich ein anderer Gesichtspunkt,
der, an die Unterscheidung von Stoff- und Formelementen an-
knüpfend, in der klaren Sonderung dieser Elemente einen Maßstab
sieht, an dem die Ent^vicklung einer Sprache gemessen werden
könne. Wo eine solche Sonderung überhaupt nicht zu bestehen
scheint, wo also die Sprache den gleichen Bestandteilen bald einen
selbständigen Begriffsinhalt gibt, bald sie bloß zum Ausdruck von
Begriffsbeziehungen gebraucht, da gelten die Sprachen als »völlig
formlos«. Ihnen werden dann die zu einer durchgängigen Scheidung
jener Elemente hindurchgedrungenen eigentlichen Flexionssprachen,
das Indogermanische und Semitische, als die »reinen Formsprachen«
gegenübergestellt. Zwischen diesen beiden Extremen sollen sich
die andern Sprachen, z. B. die » agglutinativen <;, als solche be-
wegen, die der Formlosigkeit noch nicht entsagt haben, in denen
aber doch ein gewisses Streben nach Formbildung erkennbar sei.
Neben diesem formalen Gesichtspunkt wird übrigens auch ein innerer,
begrifflicher zur Geltung gebracht, indem man »formlos« eine
Sprache nennt, wenn in ihr die konkrete sinnliche Anschauung vor-
waltet und abstrakte Begriffsverhältnisse nicht zum Ausdruck kommen.
Diese beiden Merkmale werden endlich dadurch zueinander in
Beziehung gesetzt, daß man die begrifflichen Eigenschaften der
»inneren«, die formalen der »äußeren Sprachform« zuweist, wobei
') Vgl. O. Böthlingk, L'ber die Sprache der Jakuten. (Middendorffs Reise in
den äußersten Norden und Osten Sibiriens, III. 185 1, Einleitung. Für die ameri-
kanischen Sprachen weist aus ähnlichen Gründen Fr. Lieber die Ausdrücke >agglu-
tinativ« und »polysynthetisch« zurück (American Langiiages. in Schoolcraft, Ethno-
logical Researches, 185 1, IT, p. 346 ff.)
Unterscheidung von Sprachtypen auf Grund der Wurzeltheorie. cgi
sich äußere und innere Sprachform ungefähr wie Leib und Seele
zueinander verhalten sollen.
Den ersten Anstoß zur Entwicklung dieser eigentümlichen Ideen
hat W. von Humboldt durch seine Unterscheidung von »Stoff-«
und »Formelementen« der Sprache gegeben. Ihre Anwendung auf
die Unterscheidung der Sprachtypen ist hauptsächlich das Werk
Steinthals'). Daß dadurch das Verständnis der genetischen Verhält-
nisse der Sprachen gefördert worden sei, läßt sich kaum behaupten.
Wohl aber ist der schablonenhafte Gegensatz von Form und Form-
losigkeit schon bei Steinthal selbst und mehr noch bei seinen Nach-
folgern zu einer leeren Formel geworden, mit der man über die
wirklichen psychologischen Unterschiede der Erscheinungen hinweg-
gingt). Diese ganze Auffassung erregt schon dadurch Bedenken,
daß dabei der Begriff der »Form« in zwei ganz verschiedenen Be-
deutungen auftritt, die durchaus willkürlich in Beziehung gesetzt sind.
Einmal soll die Formlosigkeit gewisser Sprachen darin bestehen,
daß sich in ihnen Form und Stoff nicht geschieden haben; sodann
aber darin, daß sie nicht zu einer deutlichen Ausbildung der gramma-
tischen Begriffsverhältnisse gelangt sind. Nun entsprechen die Stoff-
bestandteile des Wortes nach ihrer begrifflichen Bedeutung dem, was
wir oben »Grundelemente«, die grammatische Form entspricht dem,
was wir »Beziehungselemente« genannt haben. Dabei hat sich jedoch
gezeigt, daß, sobald man von der durchaus hypothetischen realen
1) Vgl. besonders Klassifikation der Sprachen, S. 72 ff., Charakteristik der haupt-
sächlichsten Typen des menschlichen Sprachbaues, 1860, S. 312 ff., und an vielen
andern Orten.
2) Deutliche Belege hierzu bieten Misteiis Neubearbeitung der >Typen des
Sprachbaues«, 1893, und Fr. Müllers sonst so verdienstlicher »Grundriß der Sprach-
wissenschaft«, wo der Nachteil nur deshalb weniger hervortritt, weil sich das Werk
grundsätzlich auf die Mitteilung der hauptsächlichsten sprachlichen Tatsachen be-
schränkt. Wie sehr aber bei dem Urteil über »Form« oder »Formlosigkeit« statt
fester Kriterien oft nur unbestimmte Eindrücke eine Rolle spielten, erhellt z. B. aus
einer Bemerkung Steinthals, wo er die Bildung von Verbalformen in den Sprachen
der Burjäten und Kalmücken damit zurückweist, daß dabei nur selbständige Pro-
nomina und Verhältniswörter mit Hilfe von Abkürzungen der rohesten Art »agglu-
tiniert« worden seien (Charakteristik, S. 323 Anm.l. Als ob man sich die indo-
germanischen Flexionsformen wesentlich anders entstanden dächte! Daß aber die
Abkürzungen bei den Burjäten und Kalmücken von »rohester Art« seien, ist schwer-
lich anders als eben wieder damit zu motivieren, daß ihre Sprachen von vornherein
zu »formlosen« degradiert werden.
cg2 Die Wortbildung.
Existenz von »Wurzeln« verschiedener Gattung absieht und lediglich
die tatsächlich gegebenen Wortgebilde ins Auge faßt, die Scheidung
zwischen jenen Grund- und Beziehungselementen auch in den so-
genannten Formsprachen eine fließende ist (S. 584). Auf der andern
Seite gibt es überhaupt keine Sprache, wo dies Verhältnis nicht in
den vorhandenen Wortbildungen zum Ausdruck käme. Vollends
der Grad der begrifflichen Ausbildung einer Sprache steht im all-
gemeinen zu der Zahl der in ihr verwendeten formalen Elemente
insofern in einem gegensätzlichen Verhältnis, als eine konkretere
Form des Denkens natürlich mannigfaltigere Beziehungsformen der
Begriffe verlangt als eine abstraktere, in der dieselben auf wenige
Grundverhältnisse reduziert sind. Für diese allgemeineren Grund-
verhältnisse pflegen dann selbstverständlich wieder in der konkreteren
Sprachform keine besonderen Ausdrucksmittel vorhanden zu sein.
So kommt es, daß man nach diesen Kennzeichen der »inneren
Sprachform« eine Sprache bald deshalb »formlos« nennt, weil sie
an Formen reicher, bald aber auch deshalb, weil sie an Formen
ärmer ist als eine sogenannte Formsprache. In Wahrheit gibt es
eben eine formlose Sprache überhaupt nicht, und der Begriff einer
solchen steht psychologisch ungefähr auf gleicher Linie wie der
einer Sprache ohne logisch -grammatische Kategorien oder einer
solchen, die sich bloß aus Wörtern oder einzelnen Vorstellungs-
symbolen und nicht aus Sätzen zusammensetzte, — eine Voraus-
setzung, die nicht einmal für die Gebärdensprache zutrifil^). Die
charakteristischen Unterschiede der verschiedenen Sprachformen
stehen aber in so unmittelbarem Zusammenhang mit dem Aufbau
des Satzes, daß die Formen der Wortbildung immer nur ergän-
zende Kriterien für dieselben abgeben können; noch weniger sind
daher solche aus der Unterscheidung der ohnehin hypothetischen
Wurzelformen zu entnehmen.
4. Reale Bedeutung der Sprachwurzeln.
Wie sich die Anwendung der Wurzeltheorie zur Erklärung der
Verschiedenheiten des Sprachbaues als undurchführbar erweist, so
') Vgl. oben Kap. II, S. 208 ff.
Reale Bedeutung der Sprachwurzeln. cq-'
begegnet nun auch innerhalb der einzelnen Sprachgebiete die An-
nahme, daß die Wurzeln die ursprünglichen, noch unverbundenen
oder unentwickelten Wortgebilde selbst seien, unüberwindlichen
Schwierigkeiten. Zunächst gibt es ja nicht bloß Wurzeln, die bis zu
der einer ganzen Sprachfamilie gemeinsamen hypothetischen Grund-
sprache zurückzuverfolgen, sondern auch andere, die jedem der aus
ihr hervorgegangenen Sprachzweige für sich eigen sind, also z. B.
neben den indogermanischen auch indische, griechische, lateinische,
germanische. Wollte man diesen Sonderwurzeln ebenfalls eine einst-
malige reale Existenz zugestehen, so müßte man entweder voraus-
setzen, die sogenannte »Wurzelperiode« sei bei der Trennung in
Einzelsprachen noch nicht vorüber gewesen, was mit der Tatsache,
daß nicht bloß Wurzeln, sondern auch Wortformen aus der gemein-
samen Grundsprache in ihre Töchtersprachen übergingen, unverein-
bar ist; oder man müßte annehmen, der Trieb neue Wurzeln zu
bilden habe auch nach der ursprünglichen Wurzelperiode partiell
noch eine längere Zeit fortgedauert'). Nun ist klar, daß eine
solche inmitten bereits bestehender Wortbildungen eingetretene Neu-
schöpfung unmöglich in der Produktion isolierter Wurzeln bestehen
könnte, sondern daß sie nur in derselben Form denkbar wäre, in
der noch gegenwärtig in der Sprache Neuschöpfungen vorkommen:
also in der Form neuer Wörter, wobei die Wurzel von Anfang
an bloß als Bestandteil eines wirklichen Wortes existierte. Dann
ist aber wieder nicht einzusehen, warum nicht in ähnlicher Weise
in der Ursprache die Wurzeln entstanden sein sollten. So hat denn
auch die Mehrzahl der Sprachforscher jene Annahme einer Identität
der Wurzel mit dem Wort auf die Ursprache, also z. B. die indo-
germanische Grundsprache, eingeschränkt, womit freilich, da es
nun einmal Wörter gibt, die auf Sonderwurzeln zurückführen, die
Schwierigkeit gegeben ist, daß man eigentlich zweierlei Wurzeln
annehmen müßte, solche von realer Bedeutung, und andere, die
bloß als Resultate grammatischer Analyse anzusehen sind^). Eine
1) Vgl. G. Curtius, Griechische Etymologie, ^ S. 45 ff.
2) Die Hauptvertreter einer solchen beschränkten Realität der ursprünglichen
Wurzeln, wie Heyse (System der Sprachwissenschaft, S. in ff.), Steinthal (Zeitschr.
für Völkerpsychologie II, S. 461 ff'.) und die ihnen folgende Majorität der neueren
Linguisten, haben freilich diesem Bedenken keine Rücksicht geschenkt.
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. ^8
594
Die Wortbildung:.
letzte, psychologisch betrachtet nicht die kleinste Schwierigkeit be-
reitet endlich die logische Stellung der durch die Wurzelanalyse
gefundenen Begi'ifFe. Diese Analyse ergibt nämlich fast durchgängig
für die Wurzeln solche Begriffe, die eine Tätigkeit, einen Vorgang
oder Zustand ausdrücken, also Verbalbegrifife. Als bloßes Ergebnis
logisch-grammatischer Analyse betrachtet ist dies Resultat begreif-
lich. Denn es ist selbstverständlich, daß die einer Wurzel zu-
kommende begriftliche Bedeutung allgemeiner sein muß als die aller
der Wörter, in die sie eingeht. Zustands- und Eigenschaftsbegriffe
sind aber stets allgemeiner als Gegenstandsbegriffe, und zugleich
stehen die beiden ersteren wieder in dem Verhältnis zueinander,
daß die Eigenschafts- immer leicht in Zustandsbegriffe übergeführt
werden können, während das Umgekehrte nicht zutrifft. So kann
man den Eigenschaften ""grün', ""groß', *^gut' usw. Begriffe wie *^grün
sein', *^groß sein', 'gut sein' usw. substituieren; bei 'gehen', 'laufen',
'liegen' u. dgl. ist aber der umgekehrte Ersatz nicht möglich. Stellt
man daher die Frage, welcher Begriff der einer bestimmten Wort-
sippe gemeinsame sei, so muß sich mit innerer Notwendigkeit in
der Mehrzahl der Fälle ein Verbalbegriff ergeben. Sind die Wurzeln
ursprüngliche Wörter, nicht bloß Produkte der Abstraktion, so muß
aber dies vom Standpunkt der logischen Analyse aus begreifliche
Ergebnis natürlich ebenfalls eine reale Bedeutung haben. Diese ist
jedoch im vorliegenden Falle schlechterdings unbegreiflich. Denn
man kann sich unmöglich denken, der Mensch habe irgend einmal
bloß in Verbalbegriffen gedacht. Das Umgekehrte, daß er bloß in
gegenständlichen Vorstellungen gedacht habe, könnte man nach
den psychologischen Eigenschaften viel eher verstehen; und in der
Tat finden sich sehr deutliche Spuren eines solchen Zustandes nicht
nur in der Sprechweise des Kindes, sondern auch in zahlreichen
wirklich existierenden Sprachen, die einen ursprünglicheren Zustand
begrifflicher Entwicklung bewahrt haben'). Nichtsdestoweniger
I) Die Belege hierzu ergeben sich vor allem aus der gesamten Form des Denkens,
wie sie in der Bildung der Wort- und Satzformen sich ausprägt. (Vgl. unten Kap. VI
und Vn, und bes. Kap. VIT, Nr. VIII.) Die Wurzelanalyse selbst ist hier ein ganz
und gar trügerisches Hilfsmittel. Da der Verbalbegriff seiner Natur nach allgemeiner
ist als irgendein ihm verwandter Gegenstandsbegriff ('schneiden' z. B. allgemeiner
als 'Messer'), so wird man, wenn eine Wortsippe ein und dasselbe Gntndelement
Reale Bedeutung der Sprachwurzeln. ege
haben schon die alten Sanskritgrammatiker den Schritt getan, von
jenem Ergebnis der Wortanalyse auf die verbale Natur der Ur-
wörter zu schließen ; und die neuere Sprachwissenschaft ist ihnen in
der Mehrzahl ihrer Vertreter gefolgt, wenngleich dieser Bestandteil
der Wurzeltheorie eine weniger allgemeine Aufnahme fand, da viel-
fach neben den Verbal- auch reine Nominalwurzeln anerkannt
werden. Immerhin bleibt das Ergebnis bestehen, daß auch dann,
wie die Durchsicht eines jeden auf Wurzeln zurückgehenden etymo-
logischen Wörterbuchs zeigt, die Verbal wurzeln eine enorme Majori-
tät besitzen.
Da man sich allen diesen Bedenken wohl nicht ganz verschließen
kann, so ist in der neueren Sprachwissenschaft allmählich ein zwie-
spältiger Zustand eingetreten. Die Wurzeln beginnen eine Art
»verschämter« Existenz zu führen, im starken Gegensatze zu den
weitläufigen Erörterungen, die ihnen die vorausgegangene Zeit zu
widmen pflegte. Man bedient sich ihrer, um den gemeinsamen
Ursprung einer Wortsippe aufzuzeigen oder auf den gemeinsamen
Wortschatz der zu einer Sprachfamilie vorauszusetzenden Grund-
sprache zurückzuschließen. Aber die Frage ihrer realen Existenz
bleibt in der Regel unberührt — ein beredtes Schweigen, in dem
sich der herrschende Zustand des Zweifels deutlich zu erkennen
gibt. Dabei fehlt es freilich noch immer nicht an Hinweisungen
auf eine halb mythische »Wurzelperiode«, die, weil sie der wirk-
lichen Entwicklung der Sprache vorangegangen sei, innerhalb dieser
nicht weiter in Betracht komme — ein letzter Nachklang der Ideen
der Romantik, die mit Fr. Schlegel in den Wurzeln eine göttliche
Offenbarung erblickte, welcher dann die Entwicklung der wirklichen
Sprache als ein Werk menschlicher Vernunft gefolgt sei').
enthält, immer geneigt sein, dieses durch einen VerbalbegrifF zu übersetzen. Dies
beweist wiederum, daß die Ausziehung der Wurzeln nicht dazu dienen kann, das
ursprüngliche Begriffssystem einer Sprache zu ermitteln, und indirekt also, daß die
Wurzeln nicht die Urwörter der Sprache sind; es beweist aber nicht, wie P.W. Schmidt
meint, daß wirklich auch viele Naturvölker ursprünglich fast in nichts als in Verbäl-
wurzeln gesprochen haben. (P. W. Schmidt, Mitteil, der anthropologischen Gesellsch.
in Wien, Bd. 33, 1903, S. 373).
^) Dem skeptischen Standpunkt der heutigen Sprachwissenschaft hinsichtlich der
Wurzeln geben die Betrachtungen, mit denen Brugmann die Einleitung seines Grund-
risses schließt, einen bezeichnenden Ausdruck (Grundriß der vergl. Grammatik der
38*
5q6 Die Wortbildung.
Nun mag sich die Sprachwissenschaft mit der Fiktion einer
solchen Wurzelperiode als einem Grenzbegrifif, der für sie nicht
weiter Gegenstand der Untersuchung sei, allenfalls beruhigen, —
die psychologische Betrachtung kann das natürlich nicht tun. Für
sie steht aber diese Frage im engsten Zusammenhang mit einer
weiteren: mit der nach dem Verhältnis des Wortes zum Satze.
Ist das Wort früher als der Satz, ist dieser, ebenso wie wir ihn in
der gegenwärtigen Sprache aus Wörtern zusammensetzen, von An-
fang an eine Verbindung von Wörtern, so wird der Annahme kaum
zu entgehen sein, daß »Wurzeln« irgendwelcher Art, seien es die-
jenigen, die heute die Wortanalyse nachweist , seien es andere , die
ihnen vorausgingen, die Urwörter gewesen seien. Denn dies kann
auf Grund der Wortanalyse nicht bezweifelt werden, daß im allge-
meinen das Wort ein zusammengesetztes Gebilde ist. Ist also das
Wort ursprünglich ein isoliertes Gebilde, das sich erst nachher
mit andern Wörtern zum Aufbau von Sätzen verbindet, so ist der
Schluß kaum zu umgehen, daß auch die Bestandteile des Wortes
ursprünglich isoliert existiert haben. Ist dagegen der Satz früher
als das Wort, ist demnach dieses erst aus der Zerlegung des Satzes
in seine Bestandteile hervorgegangen, dann sind unter allen Um-
ständen auch die Elemente des Wortes keine ursprünglich isolierten
Gebilde, und es lassen sich nun mannigfache Wege denken, auf
denen sich durch Wechselwirkung verschiedener Satzteile und durch
den Einfluß verschiedener Sätze aufeinander das Wort als relativ
selbständig gewordener Teil der Rede ausgeschieden hat. Auf diese
Weise steht die Frage nach der realen Bedeutung der Wurzel be-
reits mit der andern nach dem Verhältnis von Wort und Satz in
direkter Beziehung. (Vgl. unten 5.)
Für den Standpunkt der Wortanalyse reduziert sich aber der
Begriff der Wurzel, wenn wir von allen an ihn geknüpften ge-
schichtlich unerweisbaren und psychologisch unwahrscheinlichen
indogerm. Sprachen, I, S. 17 f.;. Noch charakteristischer ist es wohl, daß in H. Pauls
»Prinzipien der Sprachgeschichte« das Wort »Wurzel« überhaupt kaum vorkommt.
Nicht unerwähnt darf übrigens bleiben, daß schon vor langer Zeit der alte Sprach-
meister A. F. Pott trotz seines >Wurzelwörterbuchs« die Auffassung vertreten hat,
die Wurzeln seien bloße grammatische Abstraktionen, ohne dabei freilich der An-
nahme einer realen Bedeutung der Wurzeln ganz zu entsagen [Pott, Etymologische
Forschungen,^ 11, i, 1S61, S. 193 ff.).
Reale Bedeutung der Sprachwurzeln. eg^
Hypothesen absehen, auf die Tatsache, daß es Lautkomplexe
gibt, die unverändert durch eine Reihe von Wörtern ver-
folgt werden können. Dieser reine Konstitutionsbegriff ist
natürlich sehr wohl mit der Voraussetzung vereinbar, daß isolierte
Wurzeln überhaupt niemals in der Sprache vorhanden waren, da
Wortreihen, die einen übereinstimmenden Lautkomplex enthalten,
immer dann entstehen werden, wenn ein übereinstimmender Grund-
begriff die Reihe verbindet, ähnlich wie wir das noch heute bei
neuen Wortschöpfungen und bei der Entstehung von Lautanalogien
beobachten. Dabei mag es geschehen, daß ein einzelnes Wort
früher ist als andere, die durch gleichzeitige Begriffs- und Laut-
assoziation nach ihm sich bildeten; es kann aber auch sein, daß
Wörter von übereinstimmendem Lautcharakter unabhängig vonein-
ander aus den nämlichen ursprünglichen Beziehungen zwischen Laut
und Bedeutung heraus entstanden. Überall, wo es sich um ur-
sprüngliche Wortschöpfungen handelt, sind selbstverständlich nur
Vermutungen darüber möglich, ob das eine oder andere wirklich
stattgefunden habe. Bei der Ungeheuern Bedeutung, die, wie die
Erscheinungen des Lautwandels gezeigt haben, den Lautassozia-
tionen von frühe an in der Sprache zukommt, und bei der großen
Übereinstimmung der als Wurzeln betrachteten Lautkomplexe wird
man aber als die Regel annehmen dürfen, daß die Bildung einer
Gruppe verwandter Wörter zunächst von einem einzelnen Wort aus-
ging; worauf dann, nachdem erst eine geringe Anzahl weiterer
Wortbildungen entstanden war, jedes der so gebildeten neuen Wörter
selbst wieder zum Mittelpunkt von Assoziationen werden konnte,
durch die sich der Geltungsbereich einer und derselben Wurzel er-
weiterte').
^) Gegenüber den hier geäußerten Einwänden gegen die Annahme einer Wurzel-
periode der Sprache ist neuerdings sowohl von Delbrück (Grundfragen der Sprach-
forschung, S. 113 f.) wie von Sütterlin (Das Wesen der sprachlichen Gebilde, S. 56 ff.)
der Versuch gemacht worden, diese wiederum als eine berechtigte nachzuweisen. Ich
habe mich von der Haltbarkeit der Gründe, die diese Forscher beibringen, nicht über-
zeugen können. Zunächst beruhen dieselben auf dem bekanntlich nicht einwandfreien
methodologischen Grundsatz: eine Annahme, deren Unrichtigkeit nicht mit absoluter
Sicherheit nachzuweisen sei, könne als erlaubt zugelassen werden. Nun läßt sich
aber über vorhistorische Zustände der Sprache natürlich nichts mit absoluter Sicher-
heit aussagen. Von diesem Standpunkt aus würde sich also jede beliebige Hypothese
cq8 Die Wortbildung.
Nach allem dem ist klar, daß der Begrifif des »Elementes«
eigentlich dasjenige ist, was das Wort »Wurzel« mit einem irre-
führenden Bilde bezeichnet. Die Wurzeln sind Wortelemente,
letzte Bestandteile, zu denen die Wortanalyse führt, die aber un-
mittelbar nur in den aus solchen Elementen zusammengesetzten
Wortgebilden nachweisbar sind. Sie sind, im Unterschiede von
den Lautelementen, diejenigen Lautbestandteile, welche den in
rechtfertigen lassen. An die Stelle jenes Grundsatzes sollte vielmehr, wie ich meine,
hier der andere treten: zulässig ist eine Annahme, wenn sie sowohl geschichtlich
wie psychologisch wahrscheinlich ist. Nun kann man möglicherweise über die ge-
schichtliche Wahrscheinlichkeit einer Wurzelperiode streiten. Wenn man es für
erlaubt hält, in der Geschichte überhaupt von psychologischer Wahrscheinlichkeit
zu abstrahieren, so mag es ja denkbar sein, daß im Urzustand der Mensch bei der
Bildung der Sprache genau den entgegengesetzten Weg von dem eingeschlagen
habe, den der Sprachforscher heute bei der Wortanalyse einschlägt, indem er aus
den von diesem gefundenen bedeutsamen Elementen synthetisch die Wörter zu-
sammensetzte. Nur steht freilich selbst geschichtlich diese Hypothese deshalb in
der Luft, weil man zugeben muß, daß die heute nachzuweisenden Wurzeln möglicher-
weise gar nicht die ursprünglichen sind, sondern, wie Brugmann andeutet, vielleicht
samt und sonders sogleich in Wortzusammensetzungen entstanden, die sich nach
Analogie vor ihnen dagewesener Zusammensetzungen bildeten (Brugmann, Grundriß, 2
I, S. 32 f.). Damit ist natürlich der Einwand der einzelsprachlichen Wurzeln aus
der Welt geschafft. Aber es ist auch jeder historische Grund hinfällig geworden,
der überhaupt noch für eine Wurzelperiode der Sprache eintreten könnte. Denn
wenn möglicherweise keine einzige der heute aufzufindenden Wurzeln wirklich jemals
eine reale Wurzel gewesen ist, woraus sollen wir dann noch die geschichtliche
Wahrscheinlichkeit entnehmen, daß es überhaupt isolierte Wurzeln gegeben habe?
In Wahrheit ist hierdurch die Frage vollständig vom historischen auf das psycho-
logische Gebiet verwiesen. Denn wenn die angeblichen realen Urwurzeln historisch
nicht mehr nachweisbar sind, so ist der Beweis für eine ursprüngliche Wurzelperiode
nur noch dadurch zu führen, daß man sie als psychologisch wahrscheinlich nach-
weist. Davon trifft aber, wie oben gezeigt wurde, das Gegenteil zu. Auch geben
sich die Sprachforscher, die für die primitive Wurzelperiode eintreten, nicht einmal
die Mühe, eine solche psychologische Wahrscheinlichkeit zu begründen, sondern sie
begnügen sich in der Regel mit der Versicherung, daß diese Annahme eine »bequeme«
oder mindestens eine »unschädliche« sei. (Delbrück a. a. O. S. 120.) Doch abge-
sehen davon, daß wissenschaftliche Hypothesen nicht an dem Maßstabe der Bequem-
lichkeit, sondern an dem der Wahrscheinlichkeit gemessen werden sollten, scheint
es mir mindestens unschädlicher, wenn man den Wurzeln auch in der Geschichte
der Sprache keine andere Bedeutung beimißt als diejenige, die sie, soweit sie sich
überhaupt verfolgen lassen, immer besessen haben, nämlich den von bedeutsamen
Wortbestandteilen, statt auf Grund grammatischer Abstraktionen eine Urperiode der
Sprache zu konstruieren, die weder historisch nachweisbar noch psychologisch wahr-
scheinlich ist.
Wort und Satz.
599
einer Reihe bedeutungsverwandter Wörter vorkommenden Begriffs-
elementen entsprechen. Da es nun eine doppelte Art der Bedeu-
tungsverwandtschaft gibt, die zwei Wörter verbinden kann, eine
solche, die auf den eigentlichen Begriffsinhalt geht, und eine andere,
welche die Beziehungen zu den sonst in der Rede vorkommenden
Begriffen hervorhebt, so sind naturgemäß auch zwei Arten von
Wortelementen möglich: Grundelemente und Beziehungs-
elemente. Die so definierten Wortelemente sind aber selbst-
verständlich nur Elemente der gegebenen Wortvorstellun-
gen; die Frage, wie das Wort entstanden sei, bleibt davon
unberührt. Die Annahme einer »Wurzelperiode« ist daher ein
Phantasiegebilde , das weder in den Erscheinungen der wirklichen
Sprache eine Stütze findet, noch mit dem, was uns sonst die
natürliche psychologische Entwicklung des Menschen lehrt, in Ein-
klang zu bringen ist. Vielmehr wird man diese »Wurzelperiode«
ruhig zusammen mit der Annahme eines goldenen Zeitalters, einer
vollkommenen Urreligion und mit andern ähnlichen Vorstellungen
in das Grab vorwissenschaftlicher Mythenbildungen versenken dür-
fen. »Im Anfang war das Wort« — dieser Eingang des Johannes-
evangeliums in Luthers Übersetzung läßt sich in seiner buch-
stäblichen Bedeutung auf diese Frage anwenden. Man kann ihn
aber auch hier in jenem weiteren Sinne verstehen, iu dem ihn
dereinst Fichte sinnig interpretiert hat: als Ausdruck des Gedankens
nämlich, daß die Dinge von Anfang an so sind wie sie sind, Mo-
mente einer unaufhaltsamen Entwicklung, nicht Erzeugnisse einer
wunderbaren, dem wirklichen Weltlauf vorausgehenden Schöpfung*).
5. Wort und Satz.
Die alte Vorstellung, der Satz werde aus ursprünglich selbständig
existierenden Wörtern zusammengefügt, kann heute wohl in der
wissenschaftlichen Grammatik als beseitigt gelten. Sie ist hier der
ihr verwandten Ansicht der alten Stoiker, das Wort selbst sei eine
Verbindung von Silben und Buchstaben , allmählich nachgefolgt.
^) J. G. Fichte, Anweisung zum seligen Leben, 1806, 6. Vorlesung. Werke V,
S. 477 ff.
6oO Die Wortbildung.
In der lebendigen Sprache existieren, wie H. Paul mit Recht hervor-
hebt, noch jetzt vielfach die Grenzen nicht, welche die Schriftsprache
zwischen den einzelnen Wörtern festsetzt"). Vollends wo die lite-
rarische Fixierung mangelt, da beruht die Scheidung von Wort und
Satz vielfach erst auf der Willkür des Sprachforschers. Bei den
Sprachen, die dem sogenannten »agglutinativen Typus« angehören,
scheitert nicht selten eine solche Scheidung tatsächlich daran, daß
ein Ganzes nach dem Zusammenhang seiner Teile als ein einziges
Wort aufgefaßt werden kann, während es doch nach seinem Ge-
dankeninhalt auf den vollen Wert eines Satzes Anspruch machen
darf. So drückt das türkische Verbum nicht bloß Aktivum, Passi-
vum und Zeitbestimmungen der Handlung, sondern auch reflexive,
kausative, iterative Beziehungen durch charakteristische Lautelemente
aus, die mit dem Verbalstamm verbunden werden. Wenn z. B. der
Gedanke "^ich veranlasse euch, euch gegenseitig zu lieben' durch
eine einzige Verbalform wiedergegeben werden kann, so sehen wir
hier die Grenzen der Worteinheit mindestens viel weiter gezogen,
als es in unseren europäischen Kultursprachen möglich ist. Oder
wenn ein Delaware-Indianer den Satz 'er kommt mit dem Kahn
und holt uns über den Fluß' in einer Wortverbindung ausdrückt,
die mit dem Verbalstamm beginnt und mit dem zugehörigen Per-
sonalpronomen endet, so dokumentiert sich dadurch wiederum ein
solches Gebilde als ein einziges Wort. Dennoch enthält es den in
einem Satz auszudrückenden Gedanken mit allen seinen Neben-
bestimmungen. Worteinheit und Satzeinheit fallen also hier voll-
ständig zusammen. In einem allerdings sehr viel geringeren Grade
besteht ein analoger Unterschied, wie wir ihn zwischen solchen
»agglutinativen« Sprachformen und unsern Flexionssprachen beob-
achten , auch noch zwischen den älteren und jüngeren Formen der
letzteren. Namentlich das Sanskrit, bis zu einem gewissen Grad
aber auch das Griechische, Lateinische, Gotische vermögen mannig-
fache Beziehungen der Begriffe durch Suffixe des Nomens und
Verbums auszudrücken, für die wir besonderer Wörter, der Präpo-
sitionen, Personalpronomina und Hilfszeitwörter, bedürfen. Dadurch
erscheint der Satz beim Übergang von den älteren zu den jüngeren
H. Paul, Prinzipien der Spracligescliichte,3 S. iio ff.
Wort und Satz. ^qi
Sprachformen weit mehr in Einzelwörter gegliedert, und die dem
Verbum dereinst innewohnende Fähigkeit, Ausdruck eines einzigen
Gedankens, also Wort und Satz zugleich zu sein, ist allmählich
verloren gegangen. Das lateinische amavi ist Wort und Satz zu-
gleich. Der Romane löst diesen Gedanken in die drei Wörter
auf: ego habeo amatiini^ fai ainie. Wenn wir demnach einerseits
Sprachen von einer sichtlich primitiveren Entwicklungsform mit aus-
gebildeteren Sprachen, und wenn wir anderseits die früheren Stufen
einer und derselben Sprache mit ihren späteren vergleichen, so er-
weist sich überall die Scheidung der Redeteile als derjenige
Vorgang, der das Wort aus dem Ganzen, zu dem es gehört, dem
Satz, allmählich loslöst, ihm eine relativ größere Selbständigkeit
verleiht und mit seiner selbständigen Bedeutung zugleich seine gram-
matische Form fixiert.
Diesem Verhältnis des Wortes zum Satze entspricht nun durch-
aus die Stellung, die beide nach der unmittelbaren psychologischen
Beobachtung in dem Verlauf unserer Vorstellungen einnehmen.
Wenn uns oben die Versuche über Wort- und Satzapperzeption
gelehrt haben, daß zunächst das einzelne Wort als ein Ganzes auf-
gefaßt wird, so ist nicht zu vergessen, daß sich solche Experimente
immer nur auf Individuen beziehen, die an ein das Ganze des
Satzes in seine Bestandteile gliederndes Denken und an isolierte
Wortvorstellungen gewöhnt sind. Die Art, wie sich hier das Wort
als Einzelvorstellung aus dem Satze abhebt, ist daher durch diese
durch Tradition und früh erworbene Übung längst gewonnenen
Scheidungen bestimmt. Anders natürlich bei dem Naturmenschen,
in dessen Denken das Wort überhaupt kein fest sich abgrenzendes
Gebilde ist, sondern nur der Satz durch den sicher ausgeprägten
Abschluß des Gedankeninhalts als eine bestimmte Einheit erscheint.
Bei ihm dominiert dieses Ganze. Von den Einzelvorstellungen, die
in dasselbe eingehen, mögen einzelne, namentlich solche, die sich
auf bestimmte, in der Wahrnehmung gegebene Gegenstände be-
ziehen, bereits fester umgrenzt sich abheben, andere, besonders
Raum- und Zeitbestimmungen, die Arten der Tätigkeit und des
Verhaltens der Gegenstände, bleiben fest mit den sie tragenden
Hauptvorstellungen verbunden. Aber auch bei jenen relativ isolier-
bareren gegenständlichen Inhalten bleibt die Beziehung zu dem
6o2 ^16 Wortbildung.
Ganzen, dem sie angehören, eine so unmittelbare, daß jeweils das
Einzelne nur in seiner konkreten Verbindung mit dem Ganzen dem
Bewußtsein gegenwärtig ist. Auf solche Weise bildet der Satz
nicht minder eine Vorstellungseinheit wie das Wort; ja er ist diesem
gegenüber insofern die ursprünglichere, als der in dem Satz aus-
gedrückte Inhalt auf jeder Stufe des Denkens gegenüber anderen
ähnlichen Inhalten ein scharf abgegrenztes Ganzes ist, während das
einzelne Wort mehr oder weniger innig mit den andern Bestand-
teilen verbunden sein kann, so daß es, je nach den in der über-
lieferten Sprachform gegebenen Verhältnissen, bald sich deutlich
von jenen sondert, bald mit einzelnen unter ihnen oder selbst mit
dem Ganzen zu einer untrennbaren Einheit zusammenfließt. Be-
zeichnen wir den dem Satz entsprechenden Bewußtseinsinhalt als
eine Gesamtvorstellung, so bildet demnach jedes Wort des
Satzes eine Einzelvorstellung, der in jener eine bestimmte
Stellung zukommt, indem sie mit den übrigen in die gleiche Ge-
samtvorstellung eingehenden Einzelvorstellungen in Beziehungen
und Verbindungen gesetzt ist. Dieses Verhältnis an sich ist ein
der Sprache auf allen Stufen und in allen Formen ihrer Entwick-
lung unausbleiblich zukommendes. Nur die Festigkeit der Verbin-
dungen ist eine außerordentlich abweichende, so daß dadurch bald
Wort- und Satzeinheit fast ununterscheidbar zusammenfließen, bald
scharf gegliedert einander gegenüberstehen. Aber selbst diese
Unterschiede der Sprachformen ermäßigen sich in der lebendigen
Rede, indem hier die Verbindung zu einem Ganzen, die dem natür-
lichen Primat des Satzes entspricht, immer wieder zur Vorherrschaft
gelangt.
Leicht kann man sich übrigens von diesem Verhältnis der die
Satzinhalte bildenden Gesamtvorstellungen zu den durch die Worte
repräsentierten Einzelvorstellungen bei aufmerksamer Selbstbeobach-
tung während der Rede überzeugen. In dem Moment, wo ich
einen Satz beginne, steht das Ganze desselben bereits als eine Ge-
samtvorstellung in meinem Bewußtsein. Dabei pflegt diese aber
nur in ihren Hauptumrissen einigermaßen fester geformt zu sein;
alle ihre Bestandteile sind zunächst noch dunkel und heben sich
erst in dem Maße, als sie sich zu klaren Vorstellungen verdichten,
als Einzelworte ab. Der Vorgang gleicht ungefähr dem bei der
Ursachen der Wortsonderung. 503
plötzlichen Erleuchtung eines zusammengesetzten Bildes, wo man
zuerst nur einen ungefähren Eindruck vom Ganzen hat, dann aber
sukzessiv die einzelnen Teile, immer in ihrer Beziehung zum Gan-
zen, ins Auge faßt. Übrigens ist die alltägliche Erfahrung, daß
der Redende einen zusammengesetzten Satz richtig von Anfang
bis zu Ende durchführen kann, ohne vorher über ihn irgendwie
reflektirt zu haben, offenbar nur aus diesem Verhältnis erklärlich.
Diese Tatsache würde absolut unverständlich sein, wenn wir mosaik-
artig aus einzelnen zuerst isolierten Wortgebilden den Satz zusammen-
fügen müßten.
6. Ursachen der Wortsonderung.
Wenn wir das Wort als eine »Einzelvorstellung« bezeichnen
und diese dem Satz als einer sie enthaltenden Gesamtvorstellung
gegenüberstellen, so gewinnt dieses Verhältnis seine Bedeutung für
die Entwicklung des sprechenden Denkens wesentlich dadurch, daß
hierbei notwendig das beschränktere und abhängige aus dem um-
fassenderen und bestimmenden Gebilde hervorgehen mußte. Noch
erhebt sich jedoch die Frage nach dem Wie dieses Geschehens,
nach den Bedingungen, die dem einzelnen Wort allmählich eine
größere Selbständigkeit und für sich allein schon einen Begrififswert
sichern. Nur einer dieser Bedingungen wurde bereits gedacht: näm-
lich der Assoziationen, in die ein einzelnes Wort mit dem gleichen,
in irgendeinem andern Satzganzen vorkommenden treten muß, sobald
die entsprechenden Gesamtvorstellungen infolge der Erinnerungs-
vorgänge in hinreichende Berührung kommen, um aufeinander ein-
wirken zu können (S. 579 f]. Hiermit ist aber doch nur die vor-
bereitende Bedingung zur Isolierung des Wortes gegeben; die tiefer
liegenden Ursachen des Vorgangs sind dadurch noch nicht aufge-
deckt. Denn es ist allerdings selbstverständlich, daß sich irgendeine
Vorstellung nur dann von andern isolieren kann, wenn sie in wech-
selnden Verbindungen mit diesen vorkommt, gerade so wie ein
Gegenstand im Raum erst durch seine Bewegung als ein von seiner
Umgebung trennbarer erscheint. Diese allgemeine Assoziations-
ursache kann jedoch ihre Wirkungen nur zustande bringen, weil der
einzelnen Wortvorstellung von vornherein gewisse Eigenschaften
()0A Die Wortbildung.
anhaften, vermöge deren sie überhaupt isolierbar ist. Dies aber
beruht auf Bedingungen, die mit der Konstitution der Gesamtvor-
stellungen sowohl wie der Einzelvorstellungen zusammenhängen
müssen. Nun ist das Denken und seine Äußerung in der Sprache
keine bloß assoziative Aneinanderreihung. Solches würde allenfalls
denkbar sein, wenn der Satz eine bloße Verbindung von Wörtern
wäre, und nicht vielmehr das Wort selbst aus dem Satze seinen
Ursprung nähme. Da aber das Ganze des Gedankens das Primäre
ist, so kann auch das primum movens für die Isolierung der einzelnen
Wortvorstellungen nur in den psychischen Kräften liegen, die eine
Zerlegung jener Gesamtvorstellung in ihre Teile herbeiführen. Diese
Kräfte müssen mit denen der Konstitution der Gesamtvorstellung
selbst zusammenhängen; sie können ihr nicht durch äußere zufällige
Einwirkungen, z. B. durch die Assoziation ihrer einzelnen Wort-
bestandteile mit denen anderer ähnlicher Gebilde, zufließen. Viel-
mehr wird letzteres immer nur eine äußere Bedingung bleiben, durch
welche die in der Natur der Gesamtvorstellung als eines einheitlichen,
aber zusammengesetzten Gedankens liegenden inneren Bedingungen
zur Wirkung kommen. Gerade diese Einheit einer Gesamtvorstellung
ist es nun, die sich auf keine Weise als eine bloße Summe von
Assoziationen begreifen läßt. Sicherlich haben diese erst das Material
bereit stellen müssen, das zur Entstehung auch der einfachsten, in
einem Satz auszusprechenden Gesamtvorstellung erforderlich ist.
Gleichwohl ist die Verbindung der in der Sinneswahrnehmung nur
äußerlich assoziierten Objekte zu einem Ganzen, dessen einzelne
Teile in bestimmte Beziehungen wechselseitiger Zugehörigkeit oder
Abhängigkeit gesetzt werden, ebensowenig ein bloßer Assoziations-
akt, wie die willkürliche Richtung der Aufmerksamkeit auf irgend-
welche Gegenstände der Wahrnehmung, unter absichtlicher Vernach-
lässigung anderer, oder die willkürliche, aus einem bestimmten
bevorzugten Motiv entspringende äußere Handlung eine bloße
Assoziation ist. Alle diese Vorgänge würden ohne die mannig-
faltigsten Assoziationen nicht möglich sein. Sie setzen aber außer-
dem resultierende psychische Wirkungen voraus, welche die gesamte
psychische Anlage und Vergangenheit des Subjektes zu ihrer Grund-
lage haben. Infolgedessen erfolgt jede Apperzeption einer Ge-
samtvorstellung- sowohl wie der aus dieser sich ablösenden Einzel-
Ursachen der Wortsonderung. 5o=j
Vorstellungen auf Grund bestimmter Willensmotive, die aus der
Wechselwirkung der zunächst sich bietenden Assoziationen mit jener
psychischen Anlage hervorgehen.
Dieses Verhältnis bringt für die Analyse der Vorgänge des
Denkens und Sprechens die doppelte Aufgabe mit sich: einerseits
die Assoziationsbedingungen nachzuweisen, die einem gegebenen
Gedankenzusammenhang zugrunde liegen; anderseits die Apperzep-
tionsmotive aufzufinden, die in Verbindung mit den Assoziationen
die wirkliche Konstitution der Denkakte erklären.
Diese doppelte Aufgabe erledigt sich nun bei dem vorliegenden
Problem wegen des engen Zusammenhangs, in dem hier die Asso-
ziations- und die Apperzeptionsbedingungen stehen, in der denkbar
einfachsten Weise. Assoziativ wird die Isolierung des einzelnen
Wortes dadurch vermittelt, daß das gleiche Wort auch in andern
Gesamtvorstellungen in veränderten Umgebungen vorkommt. Daß
dies der Fall ist, hat aber wieder seinen Grund in den apperzeptiven
Beziehungen, in die in jedem einzelnen Fall die Teile des Ge-
dankens zueinander treten, Beziehungen, die, assoziativ vorbereitet,
erst in hinzutretenden Akten willkürlicher Verknüpfung endgültig
vollzogen werden. Hiernach läßt sich der ganze Vorgang der Wort-
isolierung auf eine Reihenfolge von vier Prozessen zurückführen.
Voran steht eine Assoziation von direkten Empfindungs- und von
Erinnerungselementen: das ursprüngliche Vorstellungssubstrat
des Gedankens. Aus ihm entsteht auf zweiter Stufe durch einen
Apperzeptionsakt, der gewisse Wahrnehmungsmotive vor andern
bevorzugt und das Ganze gegen andere Bewußtseinsinhalte abschließt,
die Bildung der Gesamtvorstellung. Darauf folgt in dritter
Linie eine Reihe sekundärer Assoziationen übereinstimmen-
der Bestandteile verschiedener Gesamtvorstellungen, infolge deren
sich solche übereinstimmende Teile deutlicher von andern abheben,
mit denen sie wechselnder verbunden sind. Hierzu kommt endlich
als letzter Apperzeptionsakt die willkürliche Isolierung dieser durch
Gleichheitsassoziationen gehobenen Elemente zu selbständigen Einzel-
vorstellungen.
Von diesen vier Prozessen gehört der erste, die Assoziation der
Wahrnehmungs- und Erinnerungselemente, einer der Sprache voraus-
gehenden Bewußtseinsentwicklung an. Der zweite, die Apperzeption
6oÖ Die Wortbildung.
der Gesamtvorstellung, kann zwar auch als ein Akt sprachlosen
Denkens vorkommen, und es geschieht dies tatsächlich fortwährend
in den \''orgängen sogenannter Phantasietätigkeit. Überall aber, wo
der Trieb nach Mitteilung des selbsttätig Erfaßten an Andere hinzu-
tritt, da entsteht notwendig irgendeine äußere Reaktion, welche diese
Apperzeption als natürliche Ausdrucksbewegung begleitet. Eine
solche Reaktion besteht, sobald die Gesamtvorstellung verwickelter
wird, in einer Folge von Bewegungen, also, falls die Bedingungen
zur Entstehung der Lautsprache gegeben sind, in einer Folge von
Lautartikulationen. Hiermit wird die Gesamtvorstellung selbst, und
in weiterer Folge jede aus ihr durch die anschließenden Assoziations-
und Apperzeptionsprozesse sich loslösende Einzelvorstellung zu einer
mehrfachen Komplikation. Zunächst verbindet sich der kon-
krete Anschauungsinhalt mit der akustischen sowie mit der motori-
schen Wortvorstellung, wobei die erstere beim Hören des Ge-
sprochenen, die letztere beim eigenen Sprechen über^viegt; und
dazu kommen dann noch als inkonstantere und qualitativ wech-
selndere die optischen und graphischen Bestandteile der Komplika-
tion. (Vgl oben S. 557 ff.)
IV. Neubildung von Wörtern.
I. Volkstümliche Neubildungen.
Wenn die psychischen Kräfte, die in irgendeiner entlegenen
Urperiode der Sprache artikulierte Laute zu Wörtern vereinigt haben,
keine anderen sind als diejenigen, die heute noch das Leben der
Sprache beherrschen, so erscheint es als eine naheliegende Folge-
rung, daß auch die Urschöpfung der Wörter kein seit langer Zeit
zum Stillstand gekommener, sondern daß er ein sich fortwährend
in der lebenden Sprache wiederholender Prozeß sei, gerade so wie
sich in den Fortpflanzungsvorgängen der Organismen immer wieder
unter unsern Augen deren Schöpfung erneuert. Immerhin muß
ebendiese Analogie zur Vorsicht vor einer etwaigen ünterschätzung
der jedenfalls abweichenden Bedingungen ursprünglicher Neuschöp-
fung mahnen. Ist auch die Kraft fortwährender Wiederemeuerung
und zweckmäßisrer Umwandluno- in der organischen Natur unzer-
Volkstümliche Neubildungen. 607
störbar, solange das Leben selbst besteht, so sind doch allem An-
scheine nach die Bedingungen einer ersten Erzeugung organischer
Wesen auf unserer Erde entweder für immer dahin oder in Grenzen
eingeschränkt, die bis jetzt ihre sichere Nachweisung unmöglich
gemacht haben. Gerade so wird man erwarten dürfen, daß die
Neuschöpfung von Wörtern in späteren Perioden der Sprache nicht
dasselbe Phänomen mehr ist wie die ursprüngliche, da auf jene
alles, was bis dahin in der Sprache schon feste Gestalt 'gewonnen
hat, bestimmend einwirkt. Darum ist nun aber auch die Analogie
mit der organischen Natur in diesem Fall höchstens für den End-
erfolg, nicht für dessen nähere Ursachen zutreffend. In der orga-
nischen Welt sind, soviel wir vermuten dürfen, die äußeren Be-
dingungen für eine »generatio spontanea« wesentlich andere geworden.
Bei der Sprache haben sich die inneren Bedingungen verändert,
die dem nie erlöschenden Trieb der Wortbildung seine Richtung
geben. Namentlich hat hier die Ausbildung der vorhandenen Sprache
die wortbildenden Prozesse für alle Folgezeit auf ein verhältnismäßig-
enges Gebiet von Ergänzungen des Wortschatzes eingeschränkt —
naturgemäß auf ein um so engeres, je vollständiger die überlieferte
Sprache allen Bedürfnissen bereits entgegenkommt. Darum ist hier
allerdings zu erwarten, daß mit fortschreitender Entwicklung die
Quellen der Neubildung mehr versiegen, nicht weil es an den
Kräften fehlte, die sie aus dem Mutterboden der Sprache hei-vor-
locken könnten, wohl aber weil die Anlässe, die zur Äußerung
dieser Kräfte treiben, seltener werden. Gleichwohl ist es für das
Problem der Wortbildung von Interesse, jenen vereinzelten Fällen
einer wirklichen Neuschöpfung von Wörtern, die sich noch in der
heutigen Sprache ereignen, nachzugehen. So beschränkt sie sein
mögen, so bieten sie doch den einzigen Fall, wo der Vorgang der
Wortschöpfung der unmittelbaren Beobachtung einigermaßen zu-
gänglich ist.
Viele Neubildungen gehen von frühe an in den allgemeinen
Sprachschatz, wenn auch zunächst nur in den eines beschränkten
Bevölkerungskreises, über. Sie mögen individuellen Ursprungs sein;
aber ihr Urheber verbirgt sich unserer Nachforschung, denn rasch,
wie sie entstanden, werden sie von der Gemeinschaft aufgenommen
und weiter getragen. Solche »volkstümliche Neubildungen« kommen
6o8 I^ie Wortbildung.
in jeder Sprache vor, wenn sie auch in den Kultursprachen hinter
den »gelehrten Neubildungen« und den aus dem gleichen Trieb
nach Erweiterung des Wortschatzes hervorgehenden Entlehnungen
stark zurücktreten"). Schon um dieser Beschränkung willen wird
man von vornherein nicht erwarten dürfen, daß diese Erscheinungen
für das Problem der Wortbildung überhaupt von entscheidender
Bedeutung seien. Nichtsdestoweniger sind sie geeignet, auf gewisse
Seiten dieses Problems, namentlich auf die Abhängigkeit neu sich
bildender Wörter voneinander und von dem schon vorhandenen
Wortschatz einiges Licht zu werfen.
Wir können wohl am ehesten die volkstümliche Neubildung zu
ihrer Quelle verfolgen, wenn wir der Art und Weise nachgehen,
wie sich jene Arten von »Slang« oder »Jargon«"^) bilden, die überall
da entstehen, wo eine Anzahl von Menschen im täglichen Bei-
sammensein besonderen Lieblingsinteressen oder fortwährend geübten
Beschäftigungen nachgeht. Diese Bedingung führt von selbst die
Neigung mit sich, die Objekte der besonderen Interessensphäre auch
dadurch nach außen abzuschließen, daß für sie neue, von den sonst
gebrauchten abweichende Wörter geschaffen werden. Tritt das
Streben hinzu, die Gegenstände der Unterhaltung vor Andern zu
verhüllen, so kann dadurch die Ausbildung einer solchen Sonder-
sprache noch mehr gefördert werden; immerhin ist das ein sekun-
däres Motiv, das in sehr vielen Fällen gar nicht in Betracht kommt.
Mögen nun auch solche Sondersprachen vielfach mit der Neuent-
stehung irgendwelcher geselliger Kreise aufkommen und mit ihnen
wieder verschwinden, so haben sie es doch in einzelnen Fällen, wo
die Bedingungen ihrer Befestigung und Verbreitung günstig waren,
zu größerer räumlicher und zeitlicher Ausdehnung gebracht: so in
i) Charakteristisch hierfür ist es, daß z. B. in dem Werke von A. Darmesteter,
De la creation de mots nouveaux dans la langue frangaise, 1877, volkstümliche
Neubildungen eine ganz verschwindende Rolle spielen, gegenüber den gelehrten
Neubildungen und den zur Neubildung in dem hier gemeinten Sinne gar nicht zu
rechnenden Entlehnungen, Ableitungen und Bedeutungsübertragungen, die in jenem
weitesten Umfang, in dem Darmesteter den Begriff faßt, sämtlich als »mots nouveaux<
bezeichnet werden.
2) Die deutsche Sprache hat dafür keinen bezeichnenden Ausdruck, abgesehen
von dem ausschließlich für die Gaunersprache gebrauchten Kompositum 'Rotwelsch
und dem analogen, jede unverständliche Sprechweise bezeichnenden 'Kauderwelsch'.
Volkstümliclie Neubildungen. 5oq
der Gaunersprache, der Soldatensprache, der Studentensprache, der
Handwerksburschensprache. Daran schließen sich als beschränktere
Erscheinungen die Jargons gewisser anderer Berufskreise, wie der
Kutscher, der Küfer, der Kellner usw., oder bestimmter Geselligkeits-
kreise, wie der Spieler, der Kegler und in neuester Zeit besonders
der Radler. Manche dieser Sondersprachen entlehnen voneinander,
und viele ihrer Ausdrücke sind verstümmelte Lehnwörter. So hat
die Gaunersprache vieles dem Hebräischen, die Studentensprache
manches dem Lateinischen entnommen oder diesem und den ihm
entlehnten Fremdwörtern angeglichen. Einzelne Ausdrücke endlich
sind aus dem einen dieser Idiome in das andere übergegangen:
namentlich das verbreitetste und älteste derselben, die Gaunersprache,
hat so die Kellner-, Soldaten- und Studentensprache mit Wörtern
versorgt. In allen diesen Sondersprachen kommen übrigens auch
zahlreiche Bestandteile vor, die nicht wirkliche Neubildungen, sondern
bloße Bedeutungsübertragungen sind. Stark wirkt in solchen Fällen
außerdem die absichtliche Erfindung mit, so daß dadurch die Er-
scheinungen für die vorliegende Frage im allgemeinen belanglos
werden ').
Wie aus diesen Sondersprachen einzelne Wörter in die Volks-
sprache übergehen können, so sind nun ohne Zweifel überall Neu-
bildungen ursprünglich in irgendeinem beschränkten Kreis entstan-
den, um dann zuerst in den nächsten Dialekt und endlich aus diesem
durch mündliche Mitteilung oder durch die Literatur in weitere
Kreise zu dringen. In der Regel ist aber die Existenz einer Neu-
bildung erst festzustellen, nachdem diese Ausbreitung bereits ein-
getreten ist. So zeigt die deutsche Schriftsprache in jeder ihrer
Perioden zahlreiche Neubildungen. In der älteren Zeit sind sie
von dialektischen Übertragungen und assimilierten Fremdwörtern
nicht immer sicher zu scheiden. In der neuhochdeutschen Periode
I) über die Gaunersprache vgl. Ave-Lallemant, Das deutsche Gaunertum, III.,
1862, über die Studentensprache F. Kluge, Deutsche Studentensprache, 1895. Über
die Gesamtheit dieser Sondersprachen handelt F. Kluge, Rotwelsch-Quellen und Wort-
schatz der Gaunersprache und der verwandten Geheimsprachen, Bd. i, 1901. Gauner-
und Studentensprache können als Vertreterinnen verschiedener Typen gelten, insofern
die erstere den Charakter einer Geheimsprache, die letztere zum großen Teil den
einer scherzhaften Verwelschung der gewöhnlichen Sprache hat.
W un dt, Völkerpsychologie I, I. 2. Aufl. 39
5io Die Wortbildung.
besitzen wir aber ein ziemlich sicheres Kennzeichen ihres Ursprungs
in ihrem lautlichen Zusammenhang mit andern, altüberkommenen
oder mindestens vorher eingebürgerten Wortbildungen. Darin liegt
zugleich ein Beweis dafür, daß solche Neubildungen nicht außer
allem Zusammenhang mit dem sonstigen Wortschatz entstehen,
sondern daß sie sich an diesen und dabei fast immer an ganz be-
stimmte laut- und bedeutungsverwandte Wörter anlehnen. Ferner
sind die neugebildeten Wörter, wenigstens soweit sie jüngeren Ur-
sprungs sind, in ihrer Mehrzahl Verba. Dies hängt mit der andern
Eigenschaft zusammen, daß sie meist den Charakter der »Laut-
gebärden« und »Lautmetaphern« besitzen. Als solche sind diese
Neubildungen bereits an einer früheren Stelle als Zeugnisse unmit-
telbarer Beziehungen zwischen Laut und Bedeutung besprochen
worden"). Die gleiche Beziehung ist es nun natürlich auch, die für
den nämlichen Vorgang, wenn man ihn unter dem Gesichtspunkt
eines Wortbildungsprozesses betrachtet in vorderster Linie steht.
Gerade die »Grundelemente« des Wortes sind es, die auf solche
Weise durch eine unmittelbare Assoziation der Vorstellung mit der
Lautbewegung zustande kommen, und die dem Wort um so mehr
den Charakter der Neubildung verleihen, je weniger jene Assoziation
mit schon vorhandenen, die nämlichen oder verwandte Begriffe aus-
drückenden Lautgebilden mitwirkt.
Hier kommen nun aber zu der Beziehung zwischen Laut und
Vorstellung zwei weitere Momente hinzu, die eigentlich erst den
Prozeß in den Bereich der Wortbildung erheben. Das erste ist
die Assoziation der Grundelemente des Wortes mit denen anderer
Wörter, die jenem nach Laut wie Bedeutung verwandt sind; das
zweite die Assoziation der Beziehungselemente mit den in andern
Wortgebilden von übereinstimmender Stellung enthaltenen und die
assoziative Angleichung an diese. Vermöge der ersten Assoziation
läßt sich beinahe jede Neubildung in eine Reihe verwandter Wort-
bildungen eingliedern, unter denen einzelne meist nachweislich älteren
Ursprungs sind als andere, so daß mit größter Wahrscheinlichkeit
einerseits eine Art Attraktion der älteren Form auf die jüngere,
anderseits aber auch eine durch die nebenhergehende onomato-
^) Vgl. Kap. m, S. 317 ff.
Volkstümliche Neubildungen. 5 1 1
poetische Assoziation bedingte Variation des Lautes, die den Unter-
schied von jenem attrahierenden Wortgebilde herbeiführte, zustande
kam. In vielen Fällen mögen es aber auch mehrere Wörter von
verwandtem Lautinhalt gewesen sein, welche die attrahierende Wir-
kung ausübten. Solche Wortreihen durchweg neueren Ursprungs,
jedoch meist von etwas verschiedenem Alter der einzelnen Glieder
sind z. B. baumeln^ bammeln, bimmeln, bummeln, bambcln, pampeln,
bangein, ferner: flattern, flittern (häufiger als Substantiv Flitter),
flirren, flintern, flispern, flunkern, flüsteryi; sodann: knai^ren, knurren,
knirren, knirschen, knistern, knattern, knittern usw. Wie man sieht,
sind die Verwandtschaften bald enger bald weiter, und es läßt sich
daher kaum die Grenze bestimmen, wo zwischen Wörtern einer
solchen Reihe noch mit Sicherheit eine Assoziation angenommen
werden darf, und wo nicht mehr. So ist es wohl zweifellos, daß
z. B. baumeln, bammeln, bimmeln, bummeln zusammenhängen,
während man es zweifelhaft lassen muß, ob bangein und andere
ähnliche noch zur selben Gruppe gehören. Wo aber ein Zu-
sammenhang anzunehmen ist, da fällt auch jedesmal die doppel-
seitige Wirkung einerseits des vorhandenen Wortes, anderseits
der neuen Vorstellung, die auf jenes modifizierend einwirkt, in
die Augen. So ist nach den literarischen Befunden unter den
Wörtern der ersten der obigen Reihen baumeln das älteste. Es
läßt sich als eine Lautgebärde für eine hin- und herschwingende
Bewegung deuten, auf deren Gestaltung außerdem wohl die Asso-
ziation mit dem Worte Baum eingewirkt hat: ein an einem Baum
aufgehängter Gegenstand 'baumelt''). Auf die schwingende Be-
wegung der Glocke übertragen trat sodann die Vorstellung des
Baumes zurück, während zugleich der Besonderheit des Glockentons
der Doppelvokal widerstrebte: so entstand durch onomatopoetische
Lautvariation das Wort bammeln, und dieses modifizierte sich wieder,
auf den Klang eines kleinen Glöckchens übertragen, zu bimmeln.
Als ein letztes Gebilde dieser Wortreihe ist endlich, sei es direkt
aus baumeln oder aus bammeln, in der Studentensprache das Wort
bummeln entstanden, als onomatopoetisches Wort für 'Spazieren-
gehen', und in weiterer Übertragung für 'müßiggehen'.
') Vgl, die in dieser (übrigens hypothetischen) Ableitung von Baum überein-
stimmenden Bemerkungen vor Grimm, Kluge und Paul in ihren Wörterbüchern.
39*
5i2 Die Wortbildung.
Hiernach sind derartige Neubildungen im allgemeinen die Er-
zeugnisse einer dreifachen Assoziation. Erstens wirkt meist ein be-
reits vorhandenes Wort, mag es nun selbst schon onomatopoetisch
sein oder nicht, assimilierend auf das neu entstehende. Zweitens
wird dieses durch eine Assoziation zwischen der Vorstellung, die
es bedeutet, und einer dieser entsprechenden Lautgebärde onoma-
topoetisch beeinflußt. Drittens reiht es sich durch eine von ver-
wandten Wortformen ausgehende Massenassoziation, eine »äußere
grammatische Angleichung« (S. 435), einer bestimmten, seiner Stel-
lung im Satz entsprechenden Wortklasse an. Von diesen drei
Assoziationen, die sich sämtlich im allgemeinen simultan, also wie-
der in der Form der Assimilation vollziehen, kann die erste mög-
licherweise ganz fehlen: dann liegt eine Urschöpfung im engeren
Sinne vor, eine solche, bei der die Grundelemente des Wortes nur
durch die direkte Wirkung des Gegenstandes auf die Lautgebärde
entstehen. Durch die dritte der genannten Assoziationen, aus der
die Bildung der Beziehungselemente hervorgeht, wird aber ein sol-
ches, losgelöst von allen bereits bestehenden Wortstämmen entstan-
denes Wort dem allgemeinen Organismus der Sprache eingegliedert
und dadurch fähig, seinerseits neue Bildungen teils durch Ablei-
tungen, teils durch die oben erörterten Variationen der onomato-
poetischen'Wirkung hervorzurufen. Durch solche Variationen stehen
zugleich diese Neubildungen in unmittelbarer Beziehung zu Erschei-
nungen, die in die Urzeiten der Wortbildung zurückreichen, und
deren wir früher bei der sogenannten »Wurzelvariation« als ältester
geschichtlicher Zeugnisse der Sprache für eine innere Beziehung
zwischen Laut und Bedeutung gfedacht haben').
2. Gelehrte Neubildungen.
Von den volkstümlichen unterscheiden sich die gelehrten Neu-
bildungen schon nach ihrem äußeren Eindruck dadurch, daß sie
den Charakter willkürlicher Erfindungen an sich tragen und daher
viel bestimmter auf einen individuellen Ursprung hinweisen. In der
Tat ist hier der Schöpfer eines neuen Wortes in sehr vielen Fällen
Vgl. oben Kap. HI, S. 346 ff.
Gelehrte Neubildungen. 5 j -i
in einer bestimmten literarischen Persönlichkeit direkt aufzufinden.
Jenes Merkmal der willkürlichen Erfindung entsteht aber hauptsäch-
lich deshalb, weil die gelehrte Neubildung ohne gelehrte Beschäfti-
gung, speziell ohne die Kenntnis einer fremden Literatur und Sprache
ganz undenkbar ist. Hieraus entspringt ein wesentlicher Unterschied
gegenüber der volkstümlichen Neubildung. Diese schöpft nur aus
der eigenen Muttersprache, jene betätigt sich in der Übertragung
fremden Sprachgutes in die Muttersprache. Eine solche Übertragung
kann nun aber auf zwei Wegen geschehen: durch die in anderem
Zusammenhang schon besprochene Assimilation der Fremdwörter"),
und durch wörtliche Übersetzung. Die Assimilation der Fremd-
wörter kann sowohl auf dem volkstümlichen wie auf dem gelehrten
Wege stattfinden. Das erstere pflegt in den älteren, das letztere in
den jüngeren Perioden der Sprache zu geschehen. Zur Vermehrung
des Wortschatzes trägt sie natürlich sehr vieles, und im allgemeinen
wohl mehr bei als die Übersetzung. Doch eine eigentliche Neu-
bildung ist sie nicht. Ihrem psychologischen Charakter nach fällt
sie vielmehr durchaus mit der Dialektübertragung oder mit der
Aufnahme eines einem beschränkten Berufskreis entstammenden
Wortes in den allgemeinen Sprachschatz zusammen.
Jedes Kulturvolk, das seine Wissenschaft und Kunst nicht zum
wesentlichsten Teil, namentlich soweit eine Vermittlung durch lite-
rarische Denkmäler in Frage kommt, aus sich selbst erzeugte, son-
dern gewisse Grundlagen von andern in der Kultur vorangegangenen
Völkern überkam, hat nun aber durch die willkürliche sprach-
bildende Tätigkeit einzelner Schriftsteller den für das wissenschaft-
liche Denken und seine einzelnen Gebiete erforderlichen Wortvorrat
bereichert. Diese Tätigkeit ist im wesentlichen überall von über-
einstimmender Art. Die römischen Autoren, die in Anlehnung an
die Griechen eine philosophische Terminologie aus rein lateinischen
Wörtern herstellten, sind dabei nicht anders verfahren als die Deut-
schen, als sie von den Zeiten des Notker Labeo und des sprach-
gewaltigen Meisters Eckhardt an bis herab auf Leibniz und Christian
Wolff den lateinischen Sprachschatz zu neuen deutschen Wortbil-
dungen verwerteten. Unter ihnen nimmt Leibniz eine führende
Vgl. Kap. IV, S. 459 ff-
6i4 Die Wortbildung.
Stellung ein. Hatten die Früheren von Fall zu Fall dem Bedürfnis,
das fremde Wort in einem ihren Volksgenossen verständlichen
Ausdruck wiederzugeben, zu genügen gesucht, so war es Leibniz,
der in seinen »Unvorgreiflichen Gedanken betreffend die Ausübung
und Verbesserung der teutschen Sprache« (1697) zum ersten Male
mit klarer Besonnenheit über die Grundsätze, nach denen solche
Neubildungen auszuführen seien, Rechenschaft gab"). Das Verdienst
der Durchführung des von ihm aufgestellten Programms gebührt
Wolff und seiner Schule: hier, auf dem Boden der willkürlich plan-
mäßigen Erfindung und Bereicherung der Sprache, lag das Feld,
auf dem das Zeitalter der Verstandesaufklärung zum Teil sein Bestes
geleistet hat^). Der Philosophie sind die andern Wissenschaften
langsamer gefolgt, — mit zwei Ausnahmen: der Jurisprudenz und
der Medizin. In der Medizin fehlten hinreichend präzise Ausdrücke
für die neueingeführten Begriffe in dem heimischen Sprachschatze
gänzlich. Eher kann man sich wundern, daß die Rechtswissen-
schaft die reiche altdeutsche Rechtssprache der Vergessenheit über-
antwortete, um, von verschwindenden Ausnahmen abgesehen, ihr
gesamtes Begriffssystem aus Fremdwörtern aufzubauen. Die deutsche
Jurisprudenz bildet dadurch einen merkwürdigen Gegensatz zur
deutschen Philosophie. Diese hat zunächst zu ihrem eigenen, dann
aber mehr und mehr zum allgemeinen Gebrauch der deutschen
Sprache eine Fülle neuer Wörter für Begriffe zugeführt, für die
es ursprünglich ganz an geeigneten Ausdrücken fehlte. Die Rechts-
wissenschaft hat umgekehrt die deutsche Sprache einer Fülle eigen-
artiger Wortbildungen beraubt, um ihr dafür ein fremdes, großen-
teils der Masse des Volkes unverständlich bleibendes Sprachgut mit-
zuteilen. An sich war das keine notwendige Folge der Aufnahme
des fremden Rechtes. War doch umgekehrt in der Philosophie
gerade durch die Aufnahme fremder Ideen das Bedürfnis erwacht,
den Schatz der eigenen Muttersprache durch Neubildungen zu ver-
mehren. Es mußten besondere Bedingungen hinzukommen, der
erbitterte Kampf gegen das alte Recht, die geflissentliche Ab-
1) Leibniz' Deutsche Schriften, herausg. von G. E. Guhrauer, I, 1838, S. 440 fF.
2) Vgl. hierzu H. Rückert, Geschichte der Neuhochdeutschen Schriftsprache,
1875, II, S. 308 ff.
Gelehrte Neubildungen. 5 j c
Schließung des gelehrten Juristenstandes, um diesen Erfolg herbei-
zuführen. Im Gegensatze hierzu waren Leibniz und die Auf klärungs-
philosophen, denen wir die letzte große Bereicherung unserer Sprache
durch gelehrte Neubildungen verdanken, vielmehr eifrig bemüht,
die Errungenschaften der in der wissenschaftlichen Kultur fortge-
schritteneren Nationen dem eigenen Volke nutzbar zu machen.
Diese Verhältnisse zeigen zugleich deutlich, daß zu der nie er-
löschenden Regsamkeit des sprachschöpferischen Triebes doch noch
besondere Ursachen hinzutreten müssen, um der gelehrten Sprach-
schöpfung ein so reiches und fruchtbares Feld zu eröffnen, wie es
in der Zeit von der Mitte des 17. bis zu der des 18. Jahrhunderts
geschah. Solche Ursachen lagen eben hier in der Aufnahme zahl-
reicher neuer Begriffe in eine für die Zwecke der Wissenschaft noch
wenig ausgebildete Sprache, verbunden zugleich mit dem Streben,
jene Begriffe allgemein zugänglich zu machen. Daß dieses Streben
von der Philosophie als der allgemeinsten Wissenschaft ausging,
war von besonderer Bedeutung. Denn die von ihr geprägten Be-
griffe stellten sich gerade um ihrer Allgemeinheit willen sofort auch
dem gewöhnlichen Sprachgebrauch zur Verfügung. So gingen
Wörter wie Gewissen, Bewußtsein, Vorstellung, Entwicklung, Folge-
rung, Mitleid, Selbstgefühl, Selbstsucht und viele andere mit oft
wunderbarer Schnelligkeit aus der wissenschaftlichen in die allge-
meine Sprache über.
Der Vorgang dieser gelehrten Neubildung besteht nun überall
in dem nämlichen Prozeß einer bald vollkommen wortgetreuen,
bald etwas freieren, dem Geist der eigenen Sprache und eingeübter
Sprachgewohnheiten Rechnung tragenden Übersetzung. In dieser
Beziehung ist es bezeichnend, daß durchweg die Neubildungen um
so treuere Übersetzungen sind, einer je älteren Zeit sie angehören.
Die noch wenig ausgebildete Sprache läßt sich leichter einem von
außen auf sie geübten Zwang unterwerfen, und fremdartige Neu-
bildungen üben sich leichter ein, weil sie geringere aus dem vor-
handenen Wortbestand ihnen erwachsende Widerstände zu überwin-
den haben. Man nehme z. B. einige der Übertragungen Notkers
wie Gewissen für conscientia^ unendlicJi für infinitiis^ begreifen [tim-
begreifen = imigreifen] für comprehendere^ sinnig für sensibilis^ Un-
teres für Subjectiini u. a,, gegenüber den freien Übertragungen
6i6 Die Wortbildung.
Wolfifs, wie conscientia in Beicußtscin^ idea in Vorstellung^ proportio
in Verhältnis^ propositio major und vihior (im Schluß) in Obersatz
und Untersatz u. a.
Gelehrte Neubildungen dieser Art erfolgen, wie schon diese
Beispiele zeigen, fast allgemein auf dem Wege der Wortzusammen-
setzung. Wo das nicht der Fall ist, wo etwa irgendein einfaches
Wort der eigenen Sprache auf einen neuen Begrift" angewandt wird,
wie Grund für ratio^ Kraft für vis, Recht {üx jus usw., da handelt
es sich nicht mehr um wahre Neubildungen, sondern um spezielle
Fälle des Bedeutungswandels, die aber allerdings gerade hier, wo
sie auf willkürlichen mid sehr weitgehenden Begriffsänderungen be-
ruhen, in ihrem Erfolg oft sehr nahe an eine Neubildung angrenzen
können^). Die eigentliche, auf der Zusammensetzung des neuen
Wortes aus bereits vorhandenen Wortbestandteilen beruhende Neu-
bildung erscheint nun um so mehr als eine gebundene Tätigkeit,
je mehr sie sich bemüht, eine vollkommen treue Übersetzung zu
sein. Schöpferisch ist diese Tätigkeit nur in dem Sinne, daß sie
überhaupt die bisher in der eigenen Sprache selbständig existie-
renden Wörter zu einem Ganzen zusammensetzt. Als Cicero, der
in der römischen Literatur durch seine Bemühungen um die philo-
sophische Terminologie ungefähr eine ähnliche Stellung einnimmt
wie in der unsern Leibniz und Wolff, das in der stoischen Philo-
sophie entstandene Wort ovreiör^oig in conscientia übertrug, sub-
stituierte er Silbe für Silbe dem griechischen das entsprechende
lateinische Wort; und als Notker wiederum conscientia in das deut-
sche Gezi'issen {geu'izeda) übersetzte, verfuhr er genau ebenso: denn
zu seiner Zeit woirde das Präfix ge- noch ganz im Sinne des Zu-
sammenseins, Gewisseti also = Mitwisse7i., empfunden. Als dann
aber Wolff später nach einem Ausdruck suchte, der den allgemei-
neren Begriff der conscientia frei von der moralischen Nebenbedeu-
tung wiedergebe, da erfand er die freiere Übersetzung Beivufitsein,
auf die wohl die Assoziation mit dem Präfix des verwandten Wortes
Begriff von Einfluß war, und diese Scheidung wirkte nun derart
auf die ursprüngliche Übertragung zurück, daß das Wort Gezuissen
ausschließlich die moralische, Bewußtsein ebenso ausschließlich die
^) Vgl. Kap. \T[I, Xr. V ,'Singulärer Bedeutungswander.
Gelehrte Neubildungen. 6 1 7
allgemeinere psychologische Bedeutung annahm. So hatte hier die
zweimalige Übertragung der entlehnenden Sprache einen Vorzug
vor ihrem Vorbild und vor den aus ihr schöpfenden Töchtersprachen
gegeben, in denen eine solche Differenzierung noch heute nicht
eingetreten ist').
Der allgemeine Charakter der gelehrten Neubildung, als einer
willkürlich und planmäßig und dabei doch an ein fremdes Vorbild
gebundenen Tätigkeit, bringt es mit sich, daß sie uns über die
Vorgänge der natürlichen Wortbildung keine näheren Aufschlüsse
zu geben vermag. Was sie mit dieser verbindet, das ist nur der
Vorgang der Wortzusammensetzung, bei dem sie aber wieder nur
den allgemeinen Gesetzen folgt, die auch für die außerhalb ihres
Gebietes stattfindenden analogen Verbindungsprozesse gelten. Diese
Analogie wird, abgesehen von den sonst geläufigen Zusammen-
setzungen, äußerlich schon dadurch bedingt, daß die Vorlage, nach
der die Neubildung erfolgt, selbst ein zusammengesetztes Wort-
gebilde zu sein pflegt. Dabei ist die Vorlage entweder eine ge-
lehrte Neubildung gleicher Art, wie in dem obigen Beispiel das
zwischen der Gwelörjaig und dem Gewissen in der Mitte liegende
conscientia\ oder sie stimmt mit den allgemeinen Wortzusammen-
setzungen der Sprache überein, sei es daß sie als solche in der
Volkssprache sich gebildet hat, oder daß sie wiederum eine gelehrte
Neubildung ist, die jedoch im Geiste der allgemeinen Verbindungs-
gesetze erfolgte und darum enger als bei den Übertragungen auf
ein fremdes Sprachgebiet an die sonstigen Erscheinungen der
Wortkomposition sich anlehnt. So ist das Wort oweiörjoig selbst
zwar wahrscheinlich die Erfindung eines einzelnen Philosophen; aber
es steht mit andern ähnlichen, der allgemeinen Sprache geläufigen
Zusammensetzungen, speziell mit ovvolÖu (mitwissen, conscius sum),
in enger Verbindung. So fließen hier an ihrem Ursprung die ge-
lehrten Neubildungen und die allgemeinen Vorgänge der Wortbil-
dung durch Zusammensetzung bereits vorhandener Wörter ganz
und gar ineinander. Darum sind aber die Neubildungen zugleich
1) Viele Einzelheiten zur Geschichte dieser Neubildungen bietet R. Eucken in
seiner verdienstlichen Geschichte der philosophischen Terminologie im Umriß, 1879,
manche Ergänzungen dazu für das deutsche Sprachgebiet das Grimmsche Wörterbuch.
6i8 Die Wortbildung.
sprechende Zeugnisse für den Einfluß, den fortwährend die indi-
viduelle Sprachschöpfung auf die Gemeinschaft ausübt, einen Ein-
fluß, der sonst leicht der Beobachtung entgeht, hier jedoch durch
seinen Zusammenhang mit Bedürfnissen, die ursprünglich auf dem
engeren Gebiet der wissenschaftlichen Sprache erwachsen sind, in
bestimmten Literaturdenkmälern erhalten blieb.
V. Wortbildung durch Lautverdoppelung.
I. Allgemeine Formen der Lautverdoppelung.
Der einfachste Fall einer Verbindung artikulierter Laute zu einem
Ganzen, das durch diese Verbindung eine ihm eigene, den Teilen
selbst noch nicht oder mindestens nicht in dieser Begrififsfärbung
zukommende Bedeutung gewinnt, ist die Laut Wiederholung. Sie
läßt sich einerseits als die primitivste Form der Wortbildung über-
haupt auffassen, als eine Form, die eben erst an der Grenze liegt,
wo der artikulierte Laut in das Wort übergeht, und die mit den
einfachsten Mitteln zustande kommt. Anderseits gehört aber doch
auch dieser Vorgang schon den Erscheinungen der Wortbildung
durch Zusammensetzung an, und er geht in eine wirkliche Wort-
zusammensetzung über, wenn die Laut- zur Wortwiederholung
wird. Nun treten im allgemeinen solche Wortwiederholungen auf
einer späteren Stufe sprachlicher Entwicklung für die nämlichen
Begriffsmodifikationen ein, die unter andern Bedingungen auch
durch die bloße Lautwiederholung ausgedrückt werden können, so
daß sich also beide als gleichartige Vorgänge zu erkennen geben.
Nur gehört die Lautwiederholung den ersten Anfängen der Wort-
bildung an, während die Wortwiederholung eine bereits vollendete
Wortbildung voraussetzt. Ähnlich ist das Verhältnis zwischen zwei
andern Formen der gleichen Erscheinung: zwischen der vollen
Wiederholung oder »Gemination« und der bloß partiellen oder
»Reduplikation« ^}. Die erstere ist hier wieder die ursprünglichere
') Weitere Einteilungen dieser Formen, namentlich der Reduplikation, gibt
A. F. Pott in seiner Schrift: Doppelung (Reduplikation, Gemination) als eines der
wichtigsten Bildungsmittel der Sprache, 1862, S. 16 ff. Sie können hier, weil sie
zumeist bloß lautgeschichtliches Interesse haben, unerörtert bleiben.
Allgemeine Formen der Lautverdoppelung. 6lQ
Form, die direkt in die abgekürzte der Reduplikation unter dem
Einfluß der Beschleunigung des Redeflusses und infolge der durch
diese sich einstellenden Assimilationen und Dissimilationen der Laute
übergehen kann. Außerdem ist es aber auch möglich, daß, nach-
dem erst einmal überhaupt reduplizierte Formen entstanden sind,
solche nun durch gleichgerichtete Laut- und Bedeutungsassimi-
lationen auf andere Wörter übertragen werden. Durch diese Ein-
flüsse kann die Reduplikation schließlich bis zur Unkenntlichkeit
verwischt werden. So findet sich im Lat. in Wörtern wie pupiigi^
spopondi^ momordi^ murmurare noch die volle Wiederholung, in
andern wie reppuli (für *repepuli], reppcri (für *repeperi) ist sie
fast völlig verloren gegangen; in der Mitte stehen die im Indoger-
manischen weitverbreiteten Reduplikationsformen wie didtü/^ii, dedi,
ceculi^ credidi usw. '). Für die psychologische Betrachtung der
Verdoppelungserscheinungen haben diese lautgeschichtlichen Modi-
fikationen im allgemeinen keine Bedeutung. Dagegen ist die Frage,
ob es sich in einem gegebenen Fall um eine Laut- oder um eine
Wortwiederholung handelt, insofern von erheblichem Interesse, als
nur diejenige Wiederholung eines Lautes, die diesem überhaupt erst
einen Begriffsinhalt verleiht, ein Wortbildungsprozeß im eigent-
lichsten Sinne zu nennen ist, während die volle Wortwiederholung
immer nur einen schon vorhandenen Begriff in seiner Bedeutung
modifizieren kann.
Daß nun die Lautwiederholung als ein Vorgang ursprünglicher
Wortbildung möglich ist, das bezeugt schon die Sprache des Kindes.
Sowohl die aus Naturlauten gebildeten Wörter wie Papa und Mama^
wie zumeist auch die gewöhnlichen Onomatopoetica, waiiiuau^ hop-
hop u. a., haben nur als Wiederholungsformen die Bedeutung voll-
ständiger Wörter. Pa und Ma oder ivaii und Jiop empfinden wir
nicht als die ursprünglicheren Wörter, aus denen jene gebildet sind.
') Die Lautassimilation kann übrigens auch, wie gerade das L.ateinische lehrt,
durch Angleichung der Vokallaute (regressive Assimilation) eine abgeschwächte Re-
duplikation wieder der vollen Wiederholung näher bringen : hierher gehören unter
den obigen Beispielen pupugi^ spopondi, momordi, denen im altlateinischen pepugi,
ipepondi, memordi gegenüberstehen. Hier scheint also, wenn wir die volle Wieder-
holung aus allgemeinen Gründen als das Primäre ansehen, eine Art rückläufiger Be-
wegung unter dem Einfluß der Klangassoziation eingetreten zu sein. Vgl. Lindsay,
Die lateinische Sprache, 1897, S. 570, 578.
520 Die Wortbildung.
sondern höchstens als abgekürzte Formen, als welche sie von größer
gewordenen Kindern oder von Erwachsenen gelegentlich gebraucht
werden. Schwieriger läßt sich natürlich bei den ausgebildeten For-
men der Lautsprache entscheiden, ob eine Verdoppelungserscheinung
eine ursprüngliche, wortbildende Lautwiederholung, oder ob sie eine
Wortwiederholung ist. Denn wenngleich Sprachen, die, wie die
ozeanischen und das Japanische, besonders reich an Verdoppelungen
sind, unter diesen immer auch solche darbieten, bei denen das ein-
fache Lautgebilde selbst, aus dessen Wiederholung ein Wort von
bestimmter Bed'eutung entsteht, nicht als Wort vorkommt, so ist
natürlich die Möglichkeit, daß es dereinst einmal als solches existiert
habe und erst unter dem Einflüsse jener Neigung zur Reduplikation
verloren gegangen sei, niemals mit Sicherheit auszuschließen. Im-
merhin wird man da, wo der onomatopoetische Charakter eines
Wortes seine Bedeutung eng mit der Lautwiederholung verbindet,
in dieser eine ursprüngliche Form vermuten dürfen. In der Sprach-
wissenschaft ist man allerdings geneigt, auch solche mutmaßlich
ursprüngliche Verdoppelungsformen als »Wurzel Wiederholungen «
aufzufassen, also die Grundbedeutung in die nicht wiederholte Form
zu verlegen']. Doch gründet sich diese Annahme bloß auf die all-
gemeine Hypothese einer realen Präexistenz der Wurzeln sowie auf
die Tatsache, daß in andern Fällen die Wiederholung Lautgebilde
trifft, die selbst schon eine bestimmte Wortbedeutung besitzen.
Hieraus läßt sich aber kein Schluß auf alle andern Fälle ziehen,
und da in jenen Sprachen ohnehin zweisilbige Wortstämme, die
nicht weiter zerlegbar sind, nicht selten auftreten, so ist es durch-
aus nicht unmöglich, daß sich unter den letzteren auch Redupli-
kationsformen vorfinden. Dies ist namentlich bei den der Kinder-
sprache analogen Erscheinungen wahrscheinlich, wie bei der Be-
zeichnung von Vater und Mutter oder bei onomatopoetischen Bil-
dungen. Ebenso spricht hierfür die Tatsache, daß in diesen Fällen,
wie besonders für das Japanische feststeht, zwischen der Kinder-
sprache und der allgemeinen Sprache eine ziemlich umfangreiche
Gemeinschaft des Wortschatzes vorhanden ist. Im Hinblick auf diese
^) Vgl. H. C. von der Gabelentz, Die melanesischen Sprachen, I, S. 19, II, S. 15.
(Abh. der kgl. sächs. Ges. der Wiss., Phil.-hist. Kl. HI, 1861, und YU, 1879.)
Allgemeine Formen der Lautverdoppelung. 521
Verhältnisse hat man wohl auch die Verdoppelungsformen überhaupt
als ursprüngliche Entlehnungen aus der Kindersprache angesehen.
Die Verfolgung dieser Erscheinungen in solchen Sprachgebieten, in
denen sie eine weitere Verbreitung besitzen, läßt aber diese Annahme
als unhaltbar erscheinen. Hier sind die psychologischen Motive, die
zur Bildung der Verdoppelungsformen führen, offenbar von so all-
gemeingültiger Art, daß man unmöglich voraussetzen kann, jene
seien nur beim Kinde wirksam gewesen. Wortbildungen wie lat.
volvo, griech. 7tii.i7tlrji.ii, hebr. ^alal u. a. für ein ursprüngliches
Eigentum der Kindersprache zu halten, dazu liegt offenbar nicht
der geringste Grund vor. Dies schließt natürlich nicht aus, daß die
kindliche Sprache, wie zu onomatopoetischen Bildungen überhaupt,
so besonders auch zu solchen Verdoppelungsformen neigt, und daß
daher manche derselben ihr entstammen werden. Auch erklärt es
sich hieraus wohl, daß, wenn in der allgemeinen Sprache nur spär-
liche Reste von Verdoppelungen existieren, wie z. B. im Deutschen,
solche vorzugsweise der Kindersprache angehören^). Wie man nun
aber auch im einzelnen Fall die Erscheinungen deuten möge, ob als
Übergang aus der Sprache des Kindes in die seiner Umgebung
oder als eine ursprüngliche Eigentümlichkeit der Volkssprache, die
mit ihrem Reichtum an onomatopoetischen Wörtern zusammen-
hängt, — jedenfalls ist danach die weitere Analogie nicht abzu-
weisen, daß die Verdoppelungsform in vielen Fällen nicht das ab-
geleitete, sondern das ursprüngliche Wort ist^).
Wo die Lautwiederholung mit Wahrscheinlichkeit als eine
1) Vgl. Ed. WölffHn, Zeitschr. f. deutsche Wortforschung, Bd. i, 1901, S, 263 fF.
2) Zu den nur in Wiederholungsformen vorkommenden Wörtern gehören,
neben den in Kap. III, S. 299 Anm. angeführten Beispielen aus dem Japanischen, die
zumeist der Kindersprache und der allgemeinen Sprache gemeinsam sind, aus mela-
nesischen Dialekten Wörter wie rere fürchten, caca hassen, rairai sehen u. a.
'v. d. Gabelentz a. a. O. I, S. 17 ff., Fidschisprache). In andern Fällen kommen frei-
lich in diesen Sprachen auch einfache Formen vor, aus deren Wiederholung wohl
erst die reduplizierten entstanden sind, z.B. Tonga 7uä Bein, Maori wäwä, oder
Tahiti toto Blut wahrscheinlich redupl. von to dem Namen eines saftreichen Baumes
von Banksisland (P. W. Schmidt, Mitteil, der anthropol. Ges. in Wien, Bd. 33, 1903,
S. 371 f.). Jedenfalls hat aber in vielen dieser Sprachen, zunächst wohl durch ein-
zelne onomatopoetische Bildungen und durch die affektvoUe Rede begünstigt, die
Lautwiederholung so überhandgenommen, daß sich die ursprünglichen einfachen
Formen meist überhaupt nicht mehr nachweisen lassen.
()22 Die Wortbildung.
ursprüngliche Wortbildung zu betrachten ist, da können nun die
aus ihr her\-orgehenden Wörter den verschiedensten Begrififsgebieten
angehören, wie sich das namentlich in den an Reduplikationsformen
reicheren Sprachen zeigt. Eine gewisse Bevorzugung scheint aber
allerdings auch hier, wie in der Kindersprache, teils den Gegen-
ständen der häufigsten und vertrautesten Umgebung, teils allen den
Vorstellungen zuteil zu werden, die durch ihre Beschafifenheit zu
einer Wiederholung des Lautes herausfordern. In ersterer Beziehung
ist bemerkenswert, daß in den Sprachen der Natur\-ölker nicht bloß
Vater und Mutter, sondern sehr häufig auch die Teile des eigenen
Leibes, wie Hand. Fuß, Auge, durch Doppelwörter ausgedrückt
werden, wobei freilich wohl der Umstand mitgewirkt hat, daß diese
Organe doppelt vorhanden sind. Dies ist aber ein Motiv, das be-
reits in den Umkreis der auch bei der Wortwiederholung und Re-
duplikation wirksamen Bedingungen fällt. Hier nämlich kann als
der allgemeine, alle späteren und jedenfalls auch einen großen Teil
der ursprünglichen Verdoppelungserscheinungen erzeugende Antrieb
die Wiederholung oder Verstärkung des Eindrucks an-
gesehen werden, die entweder direkt aus den Eigenschaften des
Wahmehmungsinhaltes entspringt oder diesem durch das subjektive
gehobene Gefühl des Sprechenden beigelegt wird. Beide Motive
fließen insofern zusammen, als der objektive Eindruck die in seiner
Benennung sich ausdrückende Reaktion immer erst durch das Me-
dium irgendeiner Gefühlserregung auslöst. Aber diese wird doch
im allgemeinen da eine geringere Rolle spielen, wo der Eindruck
schon durch seine eigene Beschaffenheit zur Lautwiederholung her-
ausfordert. In der Tat haben sich daher auch nur für solche ob-
jektiv motivierte Begriffsmodifikationen die Verdoppelungen als all-
gemeine und unter analogen Bedingungen oft wiederkehrende
Erscheinungen der Sprache durchgesetzt, während die bloß durch
das subjektive Gefühl erregten unregelmäßiger vorkommen^).
'' Daß Lant- und Wortwiederholungen irgendeine Art von Verstärkung des
Eindrucks hervorbringen, ist schon den alten Grammatikern und Rhetorikern begreif-
licherweise nicht entgangen. Ebenso hat Pott in seinem obenerwähnten , diese
Erscheinungen auf breitester sprachvergleichender Grundlage behandelnden Werke
dieses Moment als das entscheidende her\-orgehoben 'a. a. O. S. 22 : und unter dem
gleichen Gesichtspunkt wurden von Fr. Müller die Verdoppelungserscheinungen in
Bedeutungsarten der Lautverdoppelung. 623
2. Bedeutungsarten der Lautverdoppelung.
a. Verdoppelung zum Ausdruck sich wiederholender Vorgänge.
Das nächste, durch den Eindruck selbst am unmittelbarsten sich
aufdrängende Motiv zur Lautwiederholung ist offenbar da gegeben,
wo das Wort Schalleindrücke wiedergibt, die sich selbst
wiederholen. Diese direkte onomatopoetische Verwendung der
Verdoppelung ist zugleich diejenige, die mit dem geringsten Maß
subjektiver Gefühlssteigerung möglich ist, weil es einer solchen gar
nicht bedarf, um in der Wiederholung eine unmittelbare Wieder-
gabe des Eindrucks zu erkennen. Die direkte onomatopoetische
Verdoppelung ist daher gleichzeitig eine der frühesten und der
spätesten unter diesen Erscheinungen, so daß die hierher zu zäh-
lenden Wörter zum Teil in die Anfänge der Wortbildung zurück-
reichen, ebenso aber auch zu dem jüngsten Sprachgut gehören,
das unter seinen durchweg onomatopoetischen Bildungen, wo immer
sich die Gelegenheit bietet, Lautverdoppelungen enthält. Darum
ist diese Form selbst in den Kultursprachen verhältnismäßig noch
am reichlichsten vertreten geblieben. Hierher gehört zunächst die
Bezeichnung gewisser Tiere nach ihrer Stimme, die jedoch, ab-
gesehen von der Kindersprache, wo sie in weiterem Umfang vor-
kommt, in der Regel auf gewisse Vogelnamen beschränkt ist: so
in Wörtern wie turtiir Turteltaube, nkda Eule, cuculhis Kuckuck,
sanskr. kihi Holzhäher, pers. bülbül Nachtigall usw. Daran schließen
sich als eine zweite, noch verbreitetere Klasse von Wörtern solche
für Geräusche, die sich wiederholen, wie murmurare murmeln,
a.)M\aC.Etv laut schreien, lalayri Geschwätz, Xalslv lallen usw.").
Von der direkten onomatopoetischen Verdoppelung führt nun ein
kleiner Schritt zu solchen Lautwiederholungen, die irgendeinen andern,
nicht vom Gehör, sondern meist vom Gesichtssinn wahrgenommenen.
den polynesischen und malaiischen Sprachen in gewisse Gruppen geordnet (Reise
der Fregatte Novara, Linguist. Teil, 1867, S. 300, 325 ff., und Grundriß der Sprach-
wissenschaft n, 2, S. 12, loi ff.). Doch ist von diesen Autoren weder auf die psy-
chologische Interpretation der Erscheinungen noch auf die Frage der genetischen
Beziehungen der einzelnen Fälle näher eingegangen worden.
^] Vgl. oben Kap. IH, S. 298 fif.
624 I^i^ Wortbildung,
sich wiederholenden Vorgang ausdrücken. Dahin gehört ein
große Zahl jener in anderm Zusammenhang ebenfalls schon betrach-
teten Fälle indirekter Onomatopöie, die sich ohne weiteres daraus
erklären, daß die letztere in Wahrheit niemals Lautnachah-
mung, sondern eine durch den wahrgenommenen Vorgang oder
Gegenstand erregte Lautgebärde ist. Dahin gehören Wörter wie
volvo wälze, 7tif^i7tXrj(.iL fülle, iJ.if.ieofj,ai ahme nach u. a., denen sich
eine Fülle analoger Bildungen in den Sprachen anderer Kultur-
völker und besonders der Naturvölker anschließt. In den zweisil-
bigen Verbalstämmen der semitischen Sprachen erscheint diese Re-
duplikationsform als Wiederholung des zweiten Stammkonsonanten,
eine Lautvariation, die meist den ursprünglichen Verbalbegriff so
verändert, daß dadurch die Vorstellung einer Wiederholung der in
jenem ausgedrückten Tätigkeit entsteht. So im Hebräischen in
Wortpaaren wie den folgenden: gasaJi schneiden und gasas sche-
ren, galaJi wegziehen und galal wälzen, gar ah ziehen und garar
sägen, salah sich beugen und salal schwanken, lakah ergreifen und
lakak lecken'). Analoge Beispiele finden sich in andern Sprachen,
namentlich in denen der Naturvölker, häufig als vollständige Laut-
oder Wortwiederholungen, z. B. im Mpongwe (westafrik.) tyotyo
hüpfen, sazasaza hin und her überlegen, im Fidschi kacikaci öfter
rufen, ridorido hüpfen, kerekere betteln (Verdoppelung von kere
bitten), im Japanischen pozupozu es regnet, batabata er läuft usw.
Eine charakteristische Modifikation kann diese im weiteren Sinn
onomatopoetische Reduplikation erfahren, wenn der sich wieder-
holende Vorgang einen Wechsel darbietet, der nun in einer analo-
gen Lautvariation seinen Ausdruck findet. Hierher gehören viele
sprachliche Neubildungen, die sich in der Regel an irgendwelche
bekannte Wörter anlehnen, z. B. im Deutschen Zickzack^ Wirr-
warr (franz. pcle-mele]^ Schnickschnack^ Krimskrams^ Wischiwaschi^
Klingklang^ Mischmasch^ Schurrmurr^ Holterpolter^ Larifari^ Hokus-
pokus (letzteres in Anlehnung an die Formel des Meßopfers hoc est
corpus wahrscheinlich zuerst als Mönchswitz entstanden). Dem reihen
sich an aus fremden Sprachgebieten: Mandschu debadaba durch-
einander, schorschar Geräusch des Windes, pektepakta im Gehen
Vgl. Kap. m, S. 348 flf.
Bedeutungsarten der Lautverdoppelung. 52 e
wanken, japanisch kainbagamba Unsinn schwatzen u. ä. Eine be-
sondere Form solcher Reduplikation mit Lautänderung findet sich
in den ozeanischen Sprachen, darin bestehend, daß ein Wort un-
verändert, aber mit stärkerer Betonung wiederholt wird, z. B. im
Dajak tendä-tendä zuweilen anhalten. Daneben kommen dann aber
in analogem Sinn auch qualitative Lautvariationen vor, z. B. in der
gleichen Sprache bilang- balang überallhin zerstreut sein, galang-
gilang sich hin- und herdrehen. Besonders bezeichnend sind diese
mit Akzent- oder Lautänderung erfolgenden Wiederholungen da,
wo neben ihnen die unveränderte Wiederholung vorkommt, und
wo nun beide meist gegensätzliche Variationen der Bedeutung aus-
drücken. So im Dajak neben tendä-tendä zuweilen anhalten tendä-
tendä oft anhalten. Auch in den obenerwähnten volkstümlichen
Neubildungen unserer Kultursprachen findet sich zu solchen Varia-
tionen von Laut und Bedeutung manches Analoge. Aber während
sie hier nur sporadisch in die allgemeine Sprache eindringen, ge-
hören sie in den Sprachen vieler Völker zu den regelmäßigen Aus-
drucksmitteln ^).
b. Verdoppelung bei Kollektiv- und Mehrheitsbegriffen.
An die Verwendung der Verdoppelung zum Ausdruck eines sich
wiederholenden Vorgangs schließen sich verschiedene andere Be-
deutungen der gleichen Bildung an, deren psychologische Verwandt-
schaft mit jenem natürlichen onomatopoetischen Ausgangspunkt
im allgemeinen unschwer zu erkennen ist. Den nächsten Übergang
bietet hier die Bezeichnung einer Mehrheit von Gegenständen.
Besonders verbreitet ist diese kollektive Bedeutung der Reduplikation
in den malaiischen, polynesischen und den ostasiatischen, aber auch
in den amerikanischen Sprachen. So bedeutet im Malaiischen
poehon Baum, poelion-poehon Wald, im Dakota runa Mann, runa-
runa Volk. Im Chinesischen werden die unbestimmten Kollektiva,
im Japanischen außerdem auch die Plurale des Personenbegriffs
durch ebensolche Wiederholungen ausgedrückt: so chines. zit Tag,
') Die obigen wie die folgenden Beispiele sind großenteils dem erwähnten
Werke von Pott über Doppelung (vgl. bes. S. 131 ff.), sowie den Arbeiten von
Fr. Müller, H. C. von der Gabelentz und Humboldts Kaw-Werk entnommen.
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. »q
026 Die Wortbildung.
zit-zit täglich, si-si allezeit, gin-gin jeder Mensch, jen-jen viele
Schwalben, Japan, ono einer, ono-ono mehrere. Analoge kollektive
wechseln mit exklusiven Begriffsänderungen in den ozeanischen
Sprachen bei der Wiederholung der Zahlwörter: so im Fidschi aus
tolu drei tolu-toliL alle drei, dagegen aus dua eins dua-dua der ein-
zige, einer allein. An die erstere Form schließt sich unmittelbar
die Wiederholung als allgemeiner Ausdruck des Plurals. Sie findet
sich teils als volle Wiederholung teils als bloße Reduplikation zu-
weilen in den ural-altaischen , in einigen ozeanischen und ameri-
kanischen Sprachen, jedoch im ganzen selten, da meist, wo sich
spezifische Pluralsuffixe nicht ausgebildet haben, die Mehrzahl ent-
weder ganz unbezeichnet bleibt oder durch den Zusatz eines be-
sonderen Wortes von der Bedeutung VieF oder "^Menge' ausgedrückt
wird. Viel spärlicher ist die Wiederholung in dieser Anwendung
auf Gegenstandsbegriffe in den indogermanischen und semitischen
Sprachen, und wo sie vorkommt, da scheint sie eine sekundäre,
durch Lautassimilation oder durch verbale Ableitung entstandene
Erscheinung zu sein. So ist lat. inanima (franz. inamelle) aus
*madinä^ zusammengesetzt aus dem Stamm viad- (zu madeo feucht
sein) und dem Suffix -inä^ entstanden. Deutsch Zitze ^ ahd. tutta^
mhd. tüttel^ franz. (aus dem German. entlehnt) tettc^ sind wahrschein-
lich ebenfalls verbale Ableitungen.
Von dem Substantivum geht die Verdoppelung in der gleichen
Bedeutung auf das Adjektivum um so leichter über, je weniger
beide Formen des Nomen auf primitiveren Sprachstufen sicher ge-
schieden werden. Diesem Stadium des Ineinanderfließens der Be-
griffe entspricht eine in den polynesischen Sprachen vorkommende
Verdoppelungsform der Adjektiva, die sich unmittelbar an den Ge-
brauch zur Bezeichnung eines Kollektivbegriffs oder einer Mehrheit
anschließt: sie besteht darin, daß das einem Substantiv beigefügte
Adjektiv eine reduplizierte Form annimmt, um dem Substantiv selbst
eine plurale Bedeutung zu geben, z. B. im Tahit. c taata inaitai
ein guter Mann, e taata maitatai einige gute Männer. Indem hier
der Gegenstand und seine Eigenschaft in enger Verbindung gedacht
sind, kann die Reduplikation zunächst als Ausdruck der Mehrheit
für das Adjektiv selbst angesehen werden. Es ist die mehrmals
wahrgenommene Eigenschaft, die vor allem apperzipiert, und mit
Bedeutungsarten der Lautverdoppelung. 627
der dann unmittelbar auch die Vorstellung einer Mehrheit von Gegen-
ständen assoziiert wird.
c. Verdoppelung zur Steigerung von Eigenschaftsbegriffen.
In der Anwendung auf den Eigenschaftsbegriff liegt nun zugleich
das Motiv für eine weitere Variation der Bedeutung: die Verdoppe-
lung gibt den verstärkten Eindruck wieder, den die Wahrnehmung
der Eigenschaft auf den Redenden macht, und damit wird sie zum
Ausdruck einer auch objektiv größeren Intensität der Eigenschaft
selbst. Was bei dem Mehrheitsausdruck als sinnliches Bild eines
extensiven Wachstums galt, das wandelt sich also nun in ein solches
für eine intensive Steigerung um. Dabei spielt aber offenbar
der Gefühlsfaktor eine größere Rolle. Denn während die Unter-
scheidung von Einheit und Mehrheit, Einzelbegriff und KoUektivum
wesentlich Sache der objektiven Anschauung ist, beruht die Wert-
abstufung der Eigenschaften nicht bloß auf dem Gegenstand selbst,
sondern mehr noch auf dem subjektiven Eindruck, den er hervor-
bringt. Dies spricht sich auch darin aus, daß solche komparative
und Superlative Verwendungen der Verdoppelung am allermeisten
bei Eigenschaften vorkommen, die mit irgendeiner subjektiven Ge-
fühlserregung verbunden sind. Neben ""groß' und ""klein' sind es
daher hauptsächlich die moralischen und ästhetischen Qualitäten ""gut",
"^schlecht", ""schön" u. dgl, für die sich diese Art der Steigerung teils
von frühe an findet, teils aber auch in den Kultursprachen erhalten
bleibt. So gebraucht noch heute die naive Erzählung, wie sie etwa
das Märchen anwendet, mit Vorliebe die sinnlich lebendigere Stei-
gerung durch die Wiederholung des Eigenschaftswortes: *"ein reicher
reicher Mann"* u. dgl. Sodann ist diese Form der natürliche Aus-
druck verstärlcter Affektbetonung, und bei Völkern von lebhaftem
Temperament ist sie daher häufig zu finden: so im Italienischen
in Ausdrücken wie alto alto^ tjitti tutti^ hello bellissimo^). In den
Sprachen mancher Naturvölker haben sich aber die Verdoppelungs-
formen über alle möglichen Eigenschaftsbegriffe ausgedehnt. So
I) überhaupt sind die romanischen Sprachen reich an Verdoppelungen, die
wohl teils von Eigenschaftsbegriffen ausgegangen, teils aber auch aus der Kinder-
sprache aufgenommen sind, wie franz. bonbon (von bon)^ joujou Spielzeug (von jotier),
cocotte lyon coq^ also eigentl. 'Hühnchen'], und viele Kosewörter.
40*
628 Die Wortbildung.
ist sie besonders im Polynesischen, unterstützt durch die allgemeine
Neigung zur Lautwiederholung, in den Ausdruck zahlreicher Eigen-
schaften übergegangen. Immerhin bleiben auch hier solche bevor-
zugt, die sich in bestimmten Gegensätzen entwickelt haben: so im
Hawaii cle-cU schwarz, kco-kco weiß, Wörter, die überhaupt nur
als Lautwiederholungen vorkommen. Wo die Verdoppelung in
einen Gegensatz zu dem einfachen Worte tritt, da kann sie dann
bald eine Steigerung, bald irgendeine durch stärkere Gefühlswirkung
ausgezeichnete qualitative Modifikation der Eigenschaft ausdrücken.
So bedeutet ebenfalls im Haw^i ula rot, ula-ula purpurrot. Endlich
können aber auch nebeneinander verschiedene derartige Modifika-
tionen einer Eigenschaft durch wechselnde Betonung des einen
Wiederholungswortes bezeichnet werden, nach Analogie der ono-
matopoetischen Bildungen mit Lautvariation. So bedeutet für den
Dajaken gila-gila (mit ausschließlicher Betonung des zweiten Wortes)
ein wenig dumm, gila-gila imit doppelter Betonung) sehr dumm,
ganz mit den in der gleichen Sprache vorhandenen Variationen des
iterativen Verbalbegrifts übereinstimmend (s. oben S. 625).
d. Verdoppelung .als Steigerungsform der Verbalbegriffe.
Ähnliche Anwendungen der Verdoppelung, wie sie im Gebiet
der Nominalbegrifte unter dem Einflüsse der Grad- und Wert-
abstufung vorkommen, finden sich schließlich beim \'erbum, von
dessen onomatopoetischen Reduplikationen wir oben als den ein-
fachsten Beispielen dieser ganzen Erscheinung ausgegangen sind.
Der stärkeren Betonung der Eigenschaft liegt hier am nächsten der
Ausdruck der gesteigerten Tätigkeit durch vollständige oder
verkürzte Verdoppelung des Verbalstammes. Auch er findet sich
als einfache Wortwiederholung in der Erzählung, im imperativen
Zuruf, w\q. 'eile eile\ 'komm komm', wo er sich zugleich an die
iterative Verwendung der gleichen Redeform anlehnt und nicht
selten wohl ein Inrensivum und Iterati\-um zugleich ist. Im Indo-
germanischen sind in den älteren, formenreicheren Sprachen gerade
bei den am häufigsten gebrauchten Tätigkeitsbegriften reduplizierte
Formen allgemeingültig geworden: so im Griech. ri'd-rui stelle,
öidioiu gebe, Wortbildungen, die wohl als ursprüngliche Intensiva
aufzufassen sind, welche durch den häufigen Gebrauch allmählich
Bedeutungsarten der Lautverdoppelung. 629
den ihnen anhaftenden gesteif^erten Gefühlston eingebüßt haben.
Weitverbreitet und /Aini Teil als nochmalige verstärkende Ver-
doppelungen schon vorhandener Wicderhf>lungsformen finden sich
aber solche Intensiva in den malaio-polyncsischen und andern durch
ihre Neigung zur Lautverdoppelung ausgezeichneten Sprachen, So
bedeutet im Samoa taba sprechen, tabataba schreien, Maori kai essen,
kakai fressen, Malaiisch tanis weinen, tanis menänis heftig weinen,
bcr-njäla brennen, bcr-njala-njäla stark brennen. Dabei treten zu-
gleich an die Stelle der intensiven Bedeutung, wahrscheinlich unter
Anwendung von Betonungsdifferenzen, andere Modifikationen des
Begriffs, die durchaus den im gleichen Sprachgebiet vorkommen-
den Variationen bei der Verdoppelung des Nomens analog sind,
wie z. B. im Dayak mamukul schlagen, mamuku-mukul heftig
schlagen. Eine eigentümliche, für das Ineinanderfließen der Nominal-
und Verbalbegriffe charakteristische Anwendung zeigen endlich die
polynesischen Sprachen, indem an die Stelle der intensiven eine
simultane Bedeutung tritt, die Verdoppelung also eine von meh-
reren gemeinschaftlich vollführte Handlung bezeichnet: .so Samoa
moe schlafen, momoe mit jemand zusammen schlafen, Tong. Jioro
rennen, Jiohoro mit jemand um die Wette rennen.
In einer gewissen Beziehung zu den intensiven Steigerungen des
Verbalbegriffs durch Reduplikation stehen vielleicht auch die in
manchen Sprachen vorkommenden intensiven Lautsteigerungen, in
denen die energischere Tätigkeit, manchmal mit noch andern, beson-
ders kausativen Begriffsmodifikationen, durch eine Lautverstär-
kung ausgedrückt wird. Hierher gehören Formen wie im Deutschen
schmücken aus schmiegen^ bücken aus biegen^ stecken aus stechen u. a.
Man pflegt diese Formen als Produkte einer Lautassimilation des
n-Suffixes an den Wurzelauslaut anzusehen, wodurch Stämme auf
//, kk^ tt entstanden seien ']. Aber diese Lautassimilation schließt
offenbar nicht aus, daß auf ihre Richtung zugleich die Bedeutungs-
änderung des Grundbegriffs von Einfluß gewesen sei. In der Tat
spricht hierfür nicht bloß der Umstand, daß hier Laut- und Be-
griffsverstärkung überall einander parallel gegangen sind, sondern
I) Wilmanns, Deutsche Grammatik, II, 1899, S. 86 f. Dazu Brugmann, Grund-
riß, 1,2 S. 817 f.. und n, S. 978.
530 I^is Wortbildung.
besonders auch die Tatsache, daß sich dieser Vorgang dann auf
andere Stämme übertragen hat, bei denen jene Lautassimilation
nicht mitwirkte, und wo nun wiederum Intensiva und Iterativa aus
solcher Lautverstärkung hervorgegangen sind. So ist zu dem aus
einem Fremdwort, dem lat. plaga 'Schlagt = Plage^ übernommenen
Verbum plagai erst in neuhochdeutscher Zeit das Intensivum placken
entstanden, bei dem doch wohl der Gefühlston des gesteigerten
Explosivlautes wirksamer gewesen sein wird als die etwaigen ent-
fernten Lautassoziationen zu bücken^ stecken u. dgl. Wenn aber die
Lautverstärkung in jenem Falle für sich allein schon diesen Effekt
hat, so ist nicht einzusehen, warum sie ihn nicht auch da äußern
sollte, wo ihr außerdem noch eine assimilative Kontaktwirkung der
Laute zu Hilfe kommt ^).
Dem Ausdruck der intensiven Steigerung durch reduplizierte
Verbalformen geht endlich noch eine analoge extensive Bedeutung
der gleichen Formen parallel. Diese können nämlich in gewissen
Sprachgebieten auch einen kontinuativen oder durativen Sinn
annehmen. Hierher gehören Verba wie gigno erzeuge, sisto mache
stehen, naiupaivio leuchte, oder auf semitischem Gebiet kalal um-
geben zu kalah ein Ende machen, schließen, damam stumm sein
zu datnah schweigen u. a., Formen, die den Begriff einer dauernden
Handlung oder eines bleibenden Zustandes mehr oder minder deut-
lich enthalten. Es ist aber bemerkenswert, daß diese kontinuative
Bedeutung, so nahe sie auch begrifflich der überall verbreiteten
iterativen zu liegen scheint, doch in ihrer Ausbreitung beschränkt
ist, da sie außerhalb der indogermanischen und der semitischen
^) G. Gerland, Intensiva und Iterativa, 1869, glaubt zwischen diesen verschie-
denen Formen der Lautverstärkung noch weitere psychologische Beziehungen an-
nehmen zu können, wonach allgemein das Intensivum die höhere, das Iterativum die
niedrige Entwicklungsform darstelle. Seine Beispiele aus dem Sanskrit und Grie-
chischen scheinen mir jedoch der Reduplikation, nicht der Intensivbildung anzu-
gehören. Wenn er ferner in dem Iterativum eine bloß gefühlsmäßige, in dem In-
tensivum eine »gedankliche« Verstärkung des Begriffs sieht, so ist diese Unter-
scheidung jedenfalls willkürlich, da das Intensivum auf einer ähnlichen im Laut
ausgedrückten Gefühlsbetonung beruht wie das Iterativum. Der einzige psycholo-
gische Unterschied liegt wohl darin, daß die Lautwiederholung noch viele andere
Begriffsvariationen ausdrücken kann, während die Intensivbildung auf die intensive
Steigerung des Verbalbegriffs und die mit ihr assoziativ verbundenen Begriffsmodi-
fikationen beschränkt bleibt.
Bedeutungsarten der Lautverdoppelung. 63 1
Sprachen kaum vorkommt. Von diesen beiden Gebieten ist es
wieder besonders das semitische, welches neben den iterativen
kontinuative Verbalstämme mit Wiederholungen der Endkonsonanten
ausgebildet hat. Im Indogermanischen aber hat sich wahrscheinlich
an diese intensiven und kontinuativen Formen eine Ausdehnung der
Verdoppelungserscheinungen angeschlossen, die, abgesehen von ihrer
weit engeren Begrenzung, mit dem verschwenderischen Gebrauch
solcher Bildungen innerhalb der malaio-polynesischen Sprachen eine
gewisse Ähnlichkeit hat, indem in einer größeren Anzahl von Verbal-
stämmen Lautverdoppelungen vorkommen, die nach ihrer Bedeutung
zu keinem der bisher erörterten Anwendungsgebiete gehören'). Hier
mögen teils Lautassoziationen (Analogiebildungen) wirksam gewesen
sein, teils mögen auch gelegentliche Motive subjektiver Gefühls-
betonung einen Einfluß ausgeübt haben. Von allen diesen in einer
frühern Periode der Sprachentwicklung sichtlich reicheren Wieder-
holungsformen hat sich im Indogermanischen eine noch erhal-
ten, die wiederum vollständig dem psychologischen Zusammenhang
dieser Bildungen sich einfügt. Dies ist die Reduplikation als Aus-
druck der vollendeten Handlung. So in den Perfektformen
yeyova, TEiqarpa, XeXoicpa^ cecidi^ credidi, memini^ dedi^ got. haihait
zu haitan heißen, lailaik zu laikan springen u. a. Gewiß ist diese
den indogermanischen Sprachen eigentümliche Verwendung der
Reduplikation nicht als eine besondere, innerhalb dieser Sprachen
entstandene »Erfindung« zu deuten. Ebensowenig wird man sie
aber wegen der Spuren früher vorhandener, dem Verbalstamm als
solchem eigener Reduplikationen bloß als einen zufälligen Rest einer
dereinst allgemeineren Ausdrucksform ansehen dürfen. Vielmehr ist
es unverkennbar, daß diese besondere Bedeutung der Verdoppelung
durchaus der allgemeinen Richtung angehört, in der sich überhaupt
Laut- und Wortwiederholungen in der Sprache entwickelt haben.
Liegt auch diese letzte Modifikation dem ursprünglichen, ohne
weiteres verständlichen sinnlichen Ausgangspunkt ferner, so ist doch
bei der Würdigung dieses Umstandes nicht zu vergessen, daß die
Verbalform, für die hier schließlich die Verdoppelung kennzeichnend
^) Vgl. die Übersicht solcher reduplizierter Formen auf indogermanischem Sprach-
gebiet bei Brugmann, Grundriß, ü, S. 845 ff.
632 Die Wortbildung.
wurde, selbst allmählich ihre Bedeutung verändert hat. Wie die
Verbalformen überhaupt ursprünglich mehr die objektiven zeitlichen
Eigenschaften der Vorgänge und Zustände als das subjektive Ver-
hältnis des Redenden zu ihnen ausdrücken, so liegt insbesondere
auch die Bedeutung des Perfektums darin, daß es den aus einer
vorangegangenen Handlung folgenden dauernden Zustand bezeich-
net^). Dadurch erscheint es aber von der Vorstellung der stetigen
Dauer nur noch durch eine schmale Linie geschieden. Nachdem
nun durch eine weitere Begrififsverschiebung in dem Perfektum selbst
jene ursprünglich nur als Nebenvorstellung enthaltene Beziehung auf
die Vergangenheit zum HauptbegrifF geworden, ist allerdings gerade
diese Anwendung der Lautwiederholung von ihren sonstigen Formen
am weitesten entfernt und eben deshalb wieder von beschränkter
Verbreitunof.
3. Psychologisches Schema der Verdoppelungsformen.
Blicken wir hiernach auf die ganze Reihe der Verdoppelungs-
formen zurück, so scheiden sich zunächst solche Anwendungen, die
allen Stufen und Richtungen des Denkens gemeinsam angehören,
von andern, die Produkte einer spezifisch gearteten, nicht allgemein
gewordenen Denkweise sind. Zu den ersteren gehören zwei Er-
scheinungen, die sich wohl in allen Sprachen der Erde, und die
sich von den ältesten Formen bis zu den jüngsten Neuschöpfungen
vorfinden. Die eine ist der Ausdruck sich wiederholender Schall-
eindrücke und anderer äußerer Vorgänge durch sich wiederholende
Laute: sie fällt augenscheinlich mehr der Vorstellungsseite der
Wortverbindung zu. Die andere ist die stärkere Betonung einer
Eigenschaft oder einer Handlung durch Laut- und Wortwieder-
holung: in ihr kommt offenbar mehr die Gefühlsseite des Bewußt-
seins zum Ausdruck. Von diesen ursprünglich gemeinsamen und
fortan gemeinsam bleibenden Ausgangspunkten aus sondern sich
nun die weiteren Anwendungen nach verschiedenen Richtungen.
Auf der einen Seite tritt uns in einer großen Anzahl von Sprachen
die Neigung entgegen, die Lautwiederholung zur Bezeichnung von
") Vgl. Kap. VI, Nr. V.
Psychologisches Schema der Verdoppelungsformen. 633
Gegenständen anzuwenden, die sich in der Wahrnehmung wieder-
holen, also zur Bildung von Kollektiv- und Mehrheitsbegriffen.
Von diesen ist wieder der Ausdruck von Kollektivbegriffen der ver-
breitetere und wahrscheinlich auch der ursprünglichere. Auf der
andern Seite überträgt sich das Ausdrucksmittel der Wiederholung
von der Vorstellung eines sich wiederholenden auf die eines dauern-
den Vorgangs, und von diesem endlich innerhalb eines engeren
Sprachgebiets auf die einer abgeschlossenen Handlung. In der
ersten dieser beiden Reihen bewegt sich demnach die Anwendung
der Verdoppelungsformen im Gebiet der Nominal-, in der zweiten
in dem der Verbalbegriffe. Die erste Reihe umfaßt die ungeheure
Mehrzahl der allerverschiedensten Sprachen, die zweite scheint sich
auf das semitische und indogermanische Sprachgebiet zu beschränken.
Dabei ist aber im Semitischen die Lautwiederholung nur bis zum
Ausdruck des dauernden Vorgangs gelangt. Den Schritt von da
zur vollendeten Handlung, für welche das Semitische andere, seinem
allgemeinen Charakter konforme Ausdrucksmittel besitzt, haben nur
die indogermanischen Sprachen zurückgelegt. Die ganze Entwick-
lung läßt sich demnach in dem folgenden Schema übersehen. Die
mittlere Reihe desselben enthält die allgemeingültigen Anwendungs-
formen. Links und rechts befinden sich die beiden Sonderentwick-
lungen, die sich übrigens nach dem früher Bemerkten nicht völlig
ausschließend zueinander verhalten, da sich namentlich die Anwen-
dung der Reduplikation auf Kollektivbegriffe in vereinzelten Spuren
auch auf indogermanischem und semitischem Gebiet vorfindet.
Sich wiederholende Vorgänge
(Wiederholung als objektive Ausdrucksform)
I
Steigerung der Eigenschaften und Tätigkeiten
(Wiederholung als Ausdruck der subjektiven Gefühlserregung)
Kollektive Mehrheit Dauernder Vorgang
I I
Plurale Mehrheit Vollendeter Vorgang
5^4 I^i^ Wortbildung.
4. Psychologische Theorie der Verdoppelungserscheinungen.
Das zuletzt entworfene Schema gibt zunächst nur über die
größere oder geringere Allgemeingültigkeit der einzelnen Verdop-
pelungserscheinungen sowie über ihre abweichende Ausbreitung
Rechenschaft. Gleichwohl legt es unmittelbar die Frage nahe, in-
wieweit die in ihm angedeutete nähere Beziehung einzelner Formen
von beschränkterer zu andern von weiterer Verbreitung auf eine
genetische Beziehung zurückzuführen sei. Ist etwa die Lautwieder-
holung als Ausdruck des sich wiederholenden Vorgangs, wie sie
extensiv die allgemeinste ist, die neben allen andern Formen immer
wiederkehrt, zugleich deren gemeinsame Wurzel? Oder, wenn sich
dies nicht bestätigen sollte, lassen sich wenigstens zwischen einzel-
nen Gliedern der durch das Schema veranschaulichten drei Ent-
wicklungsreihen irgendwelche Verbindungen auffinden?
Auf geschichtlichem Wege ist diese Frage nicht zu beantworten.
Zwar sind in einzelnen Fällen gewisse Reduplikationserscheinungen
in der Sprache im Laufe ihrer Entwicklung geschwunden, und
andere, namentlich solche, die dem Gebiet der Wortwiederholung
angehören, sind neu entstanden. Aber so weit wir auch in einer
bestimmten Sprache mittels der historischen Zeugnisse zurückgehen
mögen, die ihr eigentümlichen Verdoppelungsarten scheinen von
Anfang an vorhanden zu sein, darunter selbst diejenigen vom be-
schränktesten Vorkommen, wie z. B. die Anwendung für die Be-
zeichnung des Plurals in den polynesischen und manchen amerika-
nischen, und die andere für den Ausdruck der vergangenen Zeit
in den indogermanischen Sprachen. Unsere Vermutungen über
etwaige genetische Zusammenhänge sind darum hier ganz auf den
Weg der psychologischen Untersuchung hingewiesen. Eine be-
stimmte Anwendungsform wird immer dann als eine später entstan-
dene und aus einer andern hervorgegangene anzusehen sein, wenn
sie diese als die Vorbedingung der ihr eigentümlichen Bedeutungs-
entwicklung voraussetzt.
Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet erscheinen zunächst die
beiden, durch ihre Ausbreitung über alle möglichen Sprachgebiete
ausgezeichneten, die Mittelreihe obigen Schemas einnehmenden
Psychologische Theorie der Verdoppelungserscheinungen. 635
Formen als zwei genetisch voneinander unabhängige Erscheinungen,
die auf gleich ursprüngliche Eigenschaften des menschlichen Be-
wußtseins zurückweisen, und von denen es sich deshalb kaum mit
Sicherheit bestimmen läßt, ob die eine vor der andern gewesen
sei. Um so deutlicher tritt in den psychologischen Bedingungen
ein bestimmter Gegensatz hervor. Die Lautwiederholung als Aus-
druck sich wiederholender Vorgänge ist eine so unmittelbar in den
Beziehungen des objektiven Eindrucks zu der ihn nachbildenden
Lautgebärde begründete Erscheinung, daß diese onomatopoetische
Verdoppelung begreiflicherweise nicht nur die größte Verbreitung
hat, sondern daß sie auch allem Anscheine nach die ursprünglichste
Form der sogenannten Lautnachahmung selbst ist. Sie ist aber
als Lautgebärde zunächst objektiv bedingt: der Beschaffenheit des
Eindrucks folgt unmittelbar die ihn nachbildende Lautbewegung,
ohne daß dazu eine andere Gefühlserregung, als wie sie bei jeder
Sprachäußerung stattfindet, vorauszusetzen wäre. Für ihre Ursprüng-
lichkeit spricht auch der Umstand, daß gerade diese Anwendungs-
form am häufigsten als reine Lautwiederholung vorkommt,
demnach als ein Vorgang, der selbst erst ein Wortgebilde hervor-
bringt. Bezeichnen wir den einzelnen Laut mit w, den Einzelvor-
gang, aus dessen Wiederholung sich eine irgendwie rhythmische
Reihe zusammensetzt, mit v^ so werden die Vorgänge v und die
ihnen folgenden Lautgebärden n zunächst derart sich assoziieren,
daß sie eine Komplikation « n n n . . [v v v . .) von unbestimmter
Begrenzung bilden. Zu diesem rein assoziativen Prozeß tritt dann
als entscheidendes, den Übergang in die eigentliche Sprachgebärde
bezeichnendes Moment die jene verschiedenen Bewegungsakte zu-
sammenfassende Apperzeption, die wesentlich dadurch ermöglicht
wird, daß die Reihe z) als eine Folge von Zustandsänderungen eines
und desselben Gegenstandes o sich abspielt, daher auch diese zu-
sammenfassende Apperzeption an die Vorstellung o gebunden bleibt.
Die Apperzeption von o als dominierender Vorstellung wirkt nun
aber derartig hemmend auf die Reihe der Lautassoziationen nnnn..^
daß die einfache Wiederholung n «, die sich dann eventuell noch zu
verkürzten Formen verdichten kann, als einziger Lautinhalt der Wort-
komplikation zurückbleibt. Diese gewinnt so die endgültige Form:
n n 0 [v V V . .).
636 Die Wortbildung.
Wesentlich anders verhält es sich mit der zweiten allgemeinen
Anwendung der Verdoppelung, mit dem Ausdruck intensiv ge-
steigerter Eigenschaften oder Tätigkeiten. Hier ist in dem
objektiven Eindruck als solchem nichts enthalten, was unmittelbar
zu einer zeitlichen Wiederholung des Lautes herausfordern könnte.
Dieser Mangel einer direkten objektiven Beziehung spricht sich auch
darin aus, daß diese Form der Reduplikation ebensowohl durch
bleibende Eigenschaften der Dinge wie durch Vorgänge oder
Handlungen ausgelöst wird. Es ist daher augenfällig, daß hier
nur das subjektive Gefühl das Mittelglied bilden kann, das die
Intensitätssteigerung in diese extensive Form überträgt. Wiederum
gehört nun schon innerhalb der bloßen Affektäußerungen die Wie-
derholung der Bewegung zu den geläufigsten Ausdrucksmitteln der
gesteigerten Gefühlserregung. Sie wird zu dem natürlichsten Aus-
drucksmittel insbesondere dann, wenn sich, wie das beim Übergang
in die Sprachäußerung regelmäßig geschieht, die Ausdrucksbewe-
gungen ermäßigen, so daß die direkteste Ausdrucksform des er-
höhten Gefühls, die durch einfache Steigerung der Bewegungsinten-
sität, hinwegfällt. Immerhin bleibt es für diese indirektere Beziehung
der Wiederholungsform zum Gefühlsausdruck bezeichnend, daß, im
Unterschiede von der vorigen objektiven Entstehungsform, noch
andere Arten der verstärkten Betonung des Lautes für die Ge-
ühlssteigerung eintreten können: so namentlich die in manchen
Sprachen entstandenen Intensivbildungen. Bezeichnen wir demnach
irgendeinen Eindruck, der in der Vorstellung ebensowohl an einen
äußeren Vorgang wie an eine wahrgenommene Eigenschaft gebun-
den sein kann, mit ^, so wird, wenn mit diesem relativ gefühlsfreien
Eindruck e eine Lautbezeichnung n zu einer Wortkomplikation ;/ e
verbunden war, der gefühlsstarke Eindruck g e nun eine reagierende
Lautgebärde herausfordern, die in irgendeiner Steigerung des Lautes n
besteht. Von den hierbei möglichen und zum Teil wirklich vor-
kommenden Formen der Lautverstärkung gewinnt dann aber unter
dem Einfluß der die sprachlichen Vorgänge begleitenden AfTekt-
ermäßigung die Verdoppelung vor den andern, wie Lautverstärkung,
Tonerhöhung oder Tonverlängerung, das Übergewicht. Dazu mag
die bereits geläufige Anwendung in sonstigen, durch den objektiven
Eindruck selbst geforderten Bedeutung-en , wie Wiederholunsf von
Psychologische Theorie der Verdoppelungserscheinungen. 6^7
Vorgängen, Mehrheit von Gegenständen, durch assoziative Über-
tragung mitwirken. Dies läßt sich um so mehr mit Wahrscheinlich-
keit annehmen, als bei dem Ausdruck der Steigerung der Laut w,
schon ehe er verdoppelt wird, im allgemeinen eine bestimmte Wort-
bedeutung besitzen muß. Der sich wiederholende Vorgang kann
ja eventuell primär als ein solcher gegeben sein; die gesteigerte
Eigenschaft ist aber nicht wohl möglich, ohne daß die einfache
Eigenschaft schon zuvor unterschieden wurde. Dem entspricht es,
daß in der Tat diese auf die subjektive Gefühlsbetonung zurück-
gehenden Verdoppelungserscheinungen in der Regel als Wort Ver-
doppelungen, nicht, wie die vorige Klasse, als bloße Lautwieder-
holungen vorkommen. In diesem Sinne wird man daher immerhin
diese Anwendungsform als die relativ spätere und in bedingter Weise,
nämlich eben mit Rücksicht auf den assoziativen Einfluß der schon
vorhandenen Wiederholungsformen, auch als eine abhängige Er-
scheinung betrachten dürfen. Diese Abhängigkeit erstreckt sich
aber nicht auf die Grundbedingungen des Vorganges, die vielmehr
hier ebenso selbständig und eigenartig sind, wie bei der frequenta-
tiven Bedeutung der Verdoppelung. Bezeichnen wir, wie oben, mit
n £ die ursprüngliche Wortkomplikation, so wird daher, sobald der
intensive Gefühlston g hinzutritt, zunächst wiederum mit Rücksicht
auf das einheitliche Objekt 0, auf das der Eindruck wie die von
ihm ausgehende Gefühlserregung zurückbezogen wird, das Produkt
g e mit diesem Objekt durch die Apperzeption zusammengefaßt,
während zugleich das hinzugetretene Element g zur Wiederholung
von n antreibt, so daß die ganze Wortkomplikation die Form an-
nimmt :
n 11 0 (ge).
Von den beiden durch die linke und rechte Seite des Schemas
(S. 633) dargestellten Sonderentwicklungen schließt sich nun jede
an diese allgemeingültigen Grundformen an, jede aber doch wieder
in wesentlich verschiedener Weise. So sind die fast durchweg den
Sprachen primitiver Kulturvölker angehörenden nominalen Ver-
doppelungsformen unmittelbar dem ersten, objektiven Typus
verwandt. Dennoch kann auch hier aus dieser Verwandtschaft noch
nicht geschlossen werden, daß sie aus ihm hervorgegangen seien,
638 Die Wortbildung.
sondern man wird nur annehmen können, daß die Motive der Ent-
stehung teihveise übereinstimmten. Diese Übereinstimmung liegt
eben darin, daß es sich in beiden Fällen um eine objektive
Wiederholung handelt: dort um eine Wiederholung eines Vor-
gangs, hier um die Wiederholung mehrerer Objekte der Apper-
zeption von übereinstimmender Beschaffenheit. Darin ist
aber auch bereits der wesentliche Unterschied beider Fälle aus-
gesprochen: dort beruht die Wiederholung auf dem objektiven \'or-
gang selbst, hier auf der subjektiven Aufeinanderfolge mehrerer
Apperzeptionen des gleichen Gegenstandes. Die nächstliegende und
verbreitetste Art einer solchen Zusammenfassung ist die einer Z wei-
he it regelmäßig verbundener Objekte, wie sie vor allem der mensch-
liche Körper selbst darbietet: der Augen. Hände, Brüste usw. Es
ist diejenige Form der innerhalb dieser objektiv gerichteten Reihe
entstandenen Ausdrucksweisen eines Kollektivbegrififs, die allein, wie
es scheint, auch auf die der rechten Seite unseres Schemas ange-
hörigen Sprachen in gewissem Grad übergegriffen hat. Der duale
Kollektivbegriff wird hier einfach durch die in ihrem Laut- wie Be-
griffsbestandteil zweigliedrige Komplikation n n [o ö) ausgedrückt.
In diesem von vornherein die einfache Reduplikation herausfordern-
den Ausgangspunkt Hegt, neben dem Übergang vom Objekt auf
die subjektive Wiederholung der Apperzeption, zugleich der wesent-
liche Unterschied von der allgemeinen onomatopoetischen Wieder-
holungsform; und da diese Anwendung auf Objekte gerade in den
durch reichliche Anwendung von Laut- und Wortwiederholungen
ausgezeichneten Sprachen vorkommt, so mag diesem Umstände wohl
ein mitwirkender Einfluß auf die Bildung zweigliedriger Formen in
andern Fällen zukommen. Anderseits konnte aber auch der so ge-
bildete zweigliedrige Kollektivausdruck durch eine Ausdehnung des
objektiven Gliedes der Komplikation auf mehrgliedrige Begriffe über-
gehen, wobei sich dann freilich, um die Vorstellung der Einheit zu
bewahren, noch eine weitere Veränderung vollziehen mußte, die
jedenfalls bei den dualen Begriffen schon vorgebildet ist, wegen der
leichten Vereinigung der Zweiheit zu einer Einheit aber noch zurück-
tritt. Dieser Vorgang besteht darin, daß, je mehr Glieder das
Kollektivum umfaßt, um so mehr ein einzelnes dieser Glieder als
repräsentative Vorstellung über die andern dominiert, während
Psychologische Theorie der Verdoppelungserscheinungen. 63 Q
diese in dem unbestimmten Eindruck der Vielheit nur dunkler vor-
gestellt werden : so z. B. wenn der Begriff 'Baum'' durch Verdoppe-
lung in das unbestimmte KoUektivum ""Wald' umgewandelt wird.
Wir können uns demnach die Konstitution der einem solchen All-
gemeinbegriff entsprechenden Wortkomplikation symbolisch veran-
schaulichen durch die Form:
n n 0 [0 o 0 o . . .)^
wo die fest assoziierten, aber dunkler vorgestellten Objekte o in der
Klammer enthalten sind, das deutlich apperzipierte repräsentative
Objekt aber zunächst mit dem Lautbilde n n verbunden ist. Das
psychologische Verhältnis dieser pluralen zu den dualen Kollektiv-
begriffen macht es zugleich in hohem Maße wahrscheinlich, daß
hier die verwickeitere aus der einfacheren Form wirklich hervor-
gegangen ist, d. h. daß sich die Anwendung der Reduplikation auf
umfassendere KoUektiva in den betreffenden Sprachgebieten erst
unter dem assoziativen Einflüsse der dualen Formen gebildet hat.
Analog scheint sich dann der in seltenen Fällen zur Ausbildung
gelangte Ausdruck des reinen Plurals durch Wortverdoppelung an
die so gebildeten umfassenderen KoUektiva angelehnt zu haben.
Der Übergang konnte hier leicht erfolgen, indem sich die bei dem
KoUektivum vorherrschende repräsentative Vorstellung verdunkelte.
Dies würde eine Art Rückbildung der vollständigeren Wortkompli-
kation 11110 [000..) zu 1111 [000. .) bedeuten. Doch bleibt auch
die MögUchkeit, daß sich die duale Form nn[od) direkt durch
Vermehrung der objektiven Assoziationsglieder zur pluralen erweitert
habe, oder daß an verschiedenen Orten beide Vorgänge, die Rück-
bildung des zusammengesetzten KoUektivums zum Plural und die
Erweiterung des dualen zum Plural, stattfanden.
Eine ähnUche Beziehung, wie nach der Seite der Gegenstands-
begriffe zwischen dem sich objektiv wiederholenden Vorgang und
der subjektiven Wiederholung der Apperzeption von Objekten,
findet sich nun auf der Seite der Verbalbegriffe zwischen jenem
und dem dauernden Vorgang. Auch hier haben wir keinen
Anlaß anzunehmen, die zweite sei aus der ersten, verbreiteteren
Form hervorgegangen , oder diese habe auf jene anders als durch
die Macht der assoziativen Formübertragung eingewirkt, vermöge
640 Die Wortbildung.
deren eine häufig gebrauchte Form durch ihre Einübung überhaupt
vor andern möglichen Ausdrucksweisen der gleichen Vorstellung
begünstigt ist. Dies schließt aber natürlich nicht aus, daß die vom
Vorstellungsinhalt ausgehenden Motive hier so gut wie bei der Ent-
wicklung der Reduplikation zu einer rein intensiven Ausdrucksform
vollkommen selbständige gewesen sind. In der Tat fordert der
dauernde Vorgang, ganz abgesehen von einer möglichen Anlehnung
an rhythmisch sich wiederholende Vorgänge, schon durch die Eigen-
schaft der längeren Dauer, gegenüber der rasch vorübergehenden
Bewegung, zu einer Verstärkung des Ausdrucks heraus, die in der
Lautwiederholung ihren einfachsten sprachlichen Ausdruck findet.
Ein objektives und ein subjektives Moment können sodann zu-
sammenwirken, um diese Ausdrucksform zu begünstigen. Objektiv
ist es, wie bei den Mehrheitsbegriffen, die Wiederholung der Apper-
zeption des gleichen Geschehens, welche der sich fortsetzende Vor-
gang veranlaßt. Subjektiv erzeugt der dauernde Vorgang im all-
gemeinen eine stärkere Gefühlserregung. Fassen wir demnach alle
diese Momente in der symbolischen Formel
n n g [d v)
zusammen, in der n und v wieder im gleichen Sinne wie oben
angewandt sind, d aber die Eigenschaft der Dauer und g die durch
dv bewirkte Gefühlsbetonung bedeutet, so ist die Beziehung dieser
Komplikation zu den intensiven und kollektiven Verdoppelungsformen
augenfällig. Zugleich erkennt man jedoch die Eigenart derselben,
die es durchaus verbietet, sie etwa mittels einer hier so verfüh-
rerisch winkenden logischen Interpretation aus der iterativen Form
ableiten zu wollen. Letzteres ist schon deshalb unmöglich, weil
von Vergleichungen , Verallgemeinerungen und ähnlichen intellek-
tuellen Prozessen selbstverständlich nicht die Rede sein kann. Viel-
mehr ist die Entwicklung einer Form aus einer andern immer nur
insoweit möglich, als sie durch einfache und vollkommen unwill-
kürlich wirkende assoziative und apperzeptive Bedingungen herbei-
geführt wird.
Anders verhält es sich mit der letzten in diese Reihe gehörigen
Anwendung der Reduplikation: mit dem den indogermanischen
Sprachen eigenen Ausdruck der vergangenen Zeit. Hier ließe
Psychologische Theorie der Verdoppelungserscheinungen. 54 1
sich kaum einsehen, in welcher Weise eine solche Beziehung durch
ursprüngliche Apperzeptions- oder Gefühlsmotive entstanden sein
könnte. Dagegen wird diese Form ohne weiteres verständlich, wenn
wir zunächst von der durativen Bedeutung der Verdoppelung
ausgehen. In der die letztere bezeichnenden Verbindung nng{dv)
wird sich zunächst, wie überall, wo nicht besondere Motive zu
seiner Erhaltung gegeben sind, das Gefühlselement g durch häufigen
Gebrauch abschwächen. Dafür kann sich aber in der Vorstellungs-
verbindung {dv) als ein neuer Bestandteil die in d zunächst nur
dunkel vorgestellte Beziehung auf den Anfang des wahrgenommenen
objektiven Vorgangs aussondern. Dies wird um so eher geschehen,
je mehr sich überhaupt die Zeitvorstellungen ausbilden und infolge-
dessen die verschiedenen zeitlich vorgestellten Ereignisse nach den
Zeitstufen Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft orientiert werden.
Heftet sich so an die Vorstellung der dauernden Handlung die darin
enthaltene Nebenvorstellung eines teilweise bereits in der Ver-
gangenheit liegenden Vorgangs, so kann nun die weitere Entwicklung
in der gewöhnlichen Form assoziativer Verschiebungen erfolgen,
indem diese Nebenvorstellung immer mehr in den Blickpunkt des
Bewußtseins tritt, indes die anfängliche Hauptvorstellung dunkler
wird und schließlich ganz verschwindet. Deuten wir das Element
der Vergangenheit durch p an, so vollzieht sich also die Reihe der
Wandlungen von nng [dv] durch nn[dpv\ nn[pdv) in nn[pv).
Hiernach sind die in dem obigen Schema (S. 633) auseinander-
gehenden Entwicklungsreihen in ihren beiden Ausgangspunkten, in
dem Ausdruck einer Zw eiheit verbundener Vorstellungen einerseits
und eines dauernden Vorgangs anderseits, aller psychologischen
Wahrscheinlichkeit nach selbständige, jedesmal durch eigenartige
psychische Motive entstandene Formen, wenn auch in beiden Fällen
der bereits geläufige Gebrauch der Reduplikation in den allgemein-
gültigen Erscheinungen der mittleren Reihe begünstigend eingewirkt
haben mag. Dagegen ist nicht minder wahrscheinlich die plurale
Verdoppelung aus der dualen, die perfektive aus der durativen
hervorgegangen. Wenn dann weiterhin diese beiden Reihen durch-
gängig sich ausschließen, so daß bei den Völkern, bei denen die
durative und die perfektive Bedeutung zur Entwicklung gelangte,
die duale bis auf spärliche Reste und die plurale ganz fehlt,
Wundt Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. 41
5i2 Die Wortbildung.
während umgekehrt da, wo die letzteren eine hervorragende Rolle
spielen, jene ersteren nicht vorkommen, so ist dieser Unterschied
sichtlich auf verschiedene Richtungen des Denkens zurückzuführen.
Greifen die Verdoppelungserscheinungen hauptsächlich auf Nominal-
formen über, so herrscht eine gegenständliche Form des Denkens.
Bewegen sich jene vorwiegend innerhalb der Verbalbildungen, so
tritt darin eine zuständliche Form desselben in die Erscheinung.
Wir werden in den folgenden Kapiteln sehen, daß der tiefgreifende
Unterschied dieser Richtungen noch in zahlreichen andern Erschei-
nungen bei der Bildung der Wortformen sowie in der Satzbildung
zutage tritt').
VI. Wortbildung durch Zusammensetzung.
I. Begriff und Hauptformen der Wortzusammensetzung.
Kann auch die Wortwiederholung ihrer allgemeinen Natur nach
als der besondere Fall von Wortzusammensetzung betrachtet werden,
wo sich ein Wort mit sich selber verbindet, so pflegt man doch
unter einem »Kompositum« in der Regel nur eine Wortverbin-
dung aus ungleichen Bestandteilen zu verstehen. Diese
Scheidung ist insofern gerechtfertigt, als durch die Lautwiederholung
selbst erst ein einfaches Wort entsteht, während die volle Wort-
wiederholung nur die stärkere Hervorhebung eines schon vorhan-
denen Wortes ist, also keine neue Wortbildung darstellt. Überdies
umfaßt die Verbindung ungleicher Bestandteile nicht nur ein viel
weiteres Gebiet von Erscheinungen, sondern sie besitzt auch eine
ungleich tiefer in das gesamte Leben der Sprache eingreifende Be-
deutung.
Jede Wortzusammensetzung entspringt aus Motiven, die der Zu-
sammenhang der Rede mit sich führt. Aus der äußeren Berührung
der Wörter im Satze kann jedoch eine engere Verbindung nur dann
hervorgehen, wenn zugleich eine innere Affinität die Wörter zu-
sammenführt. Demnach durchkreuzen sich bei der Bildung eines
Kompositums ein analytischer und ein synthetischer Vorgang.
') Vgl. Kap. VI und VII.
Begriff und Hauptformen der Wortzusammensetzung. 543
Analytisch entsteht ein zusammengesetztes Wort, indem es als
syntaktisches Gefüge aus dem Ganzen eines Satzes sich aussondert.
Synthetisch bildet es sich, indem seine Bestandteile eine festere
Verbindung miteinander eingehen und dadurch von den übrigen
Wörtern des Satzes als ein neues Wortganzes sich scheiden. Diese
Verhältnisse machen es begreiflich, daß man bald das analytische,
bald das synthetische Moment in den Vordergrund stellte, je nach-
dem entweder der Satz oder das Wort als das ursprünglichere
sprachliche Gebilde betrachtet wurde"). Da die Sprachwissenschaft
in der Regel dem Worte den Vorzug einräumte, so war aber der
synthetische Gesichtspunkt der vorherrschende. Demgemäß wurde
das Kompositum meist als ein durch willkürliche Vereinigung seiner
Teile entstandenes Gebilde behandelt, nach dessen psychologischen
Entstehungsbedingungen nicht weiter gefragt wurde. Vielmehr be-
gnügte man sich mit der Feststellung der zwischen den Gliedern
des Kompositums bestehenden logischen und grammatischen
Verhältnisse, um dann darauf etwa eine Klassifikation der Wort-
zusammensetzungen zu gründen. So werden denn Verbindungen der
Koordination, der Über- und Unterordnung, der attributiven, ad-
verbialen, objektiven Bestimmung, der Kasusverhältnisse usw. unter-
schieden^].
^) Den analytischen Gesichtspunkt betonen bereits Brugmann, Grundriß II, S. 3 ff.,
sowie Paul, Prinzipien,3 S. 301 ff.
2) Vgl. L. Tobler, Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, V,
1868, S. 205 ff. A. Darmesteter, Traite de la formation des mots composes dans
la langue frangaise, 1875. (Bibl. de l'ecole des hautes etudes, Fase. 19.) Auch bei
Paul Prinzipien, 3 S. 302 ff.) ist für die Gruppierung der Beispiele das logisch-gram-
matische Schema maßgebend, ohne daß er es jedoch, wie besonders Darmesteter
in seiner als Stoffsammlung sehr lehrreichen Arbeit, zur Grundlage der ganzen
Betrachtung macht. Dagegen hebt Brugmann gerade mit Rücksicht auf die Ent-
stehung des Kompositums durch syntaktische Isolierung mit Recht hervor, für die
Frage der Entstehung sei das Verhältnis der Glieder ohne Bedeutung, überhaupt
aber seien die Grenzen zwischen syntaktischer Verbindung und Wortzusammen-
setzung, ebenso wie auf der andern Seite die zwischen Kompositum und Simplex,
fließende (a. a. O. S. 4 f.). Einen Versuch, die logische Klassifikation der Komposita
durch eine psychologische Betrachtung zu ergänzen, hat wohl zuerst Tobler gemacht.
Aber das Assoziationsschema, das er zugrunde legt (s. a. a. O. S. 220 f.), ist, ab-
gesehen davon, daß eine ausschließliche Zurückführung auf Assoziation hier über-
haupt nicht ausreicht, ungenügend, und Tobler selbst ist daher von dem Versuch,
seine logische Klassifikation mit seinem psychologischen Schema in Beziehung zu
setzen, wenig befriedigt.
41*
644 ^i^ Wortbildung.
Wenn nun die Entstehung eines jeden Kompositums im allge-
meinen einen analytischen und einen synthetischen Vorgang vor-
aussetzt, so ist damit ebenso eine rein willkürliche wie eine zufällige
Entstehung desselben ausgeschlossen. Willkürlich kann es nicht
zusammengefügt sein, da es aus dem syntaktischen Gefüge, in dem
es einem größeren Vorstellungszusammenhang angehörte, von
selbst vermöge der Beziehung seiner Glieder sich ausschied. Zu-
fällig kann es nicht entstanden sein, da zu jener Zerlegung der
Gesamtvorstellung eine durch die Affinität der Bestandteile ver-
mittelte engere Verbindung hinzutreten mußte. Beides, der ana-
lytische und der synthetische Prozeß , setzt also bestimmte psy-
chische Motive voraus: Motive der Sonderung von der im
ganzen Inhalt des Satzes ausgedrückten Gesamtvorstellung einer-
seits, und Motive der Verbindung der sich aussondernden Bestand-
teile anderseits. Wird als ein solches Motiv gelegentlich dies an-
geführt, daß Wörter, die ursprünglich mit gesonderten Akzenten
gesprochen wurden, einen gemeinsamen Akzent erhielten, so ist
das offenbar selbst nur eine äußere Wirkung der bereits einge-
tretenen Verbindung, nicht deren Ursache, wie denn ja auch das
allmähliche Schwinden des Akzents von dem in der Betonung sich
unterordnenden Wortbestandteil die verschiedensten Gradabstufungen
zeigt, die der zunehmenden Innigkeit der Verbindung parallel gehen.
Können die wirklichen Motive der Verbindung nicht in dem die
Wörter umfassenden Satzganzen, sondern nur in den Bestandteilen
selbst, die sich verbinden, gesucht werden, so kann aber die Fest-
stellung des logischen Verhältnisses, in dem die Kompositions-
glieder zueinander stehen, zu einer solchen Erkenntnis nicht das
allergeringste beitragen. Irgendwelche Wörter, die einander nicht
völlig disparat gegenüberstehen, lassen sich natürlich immer in eine
logische Beziehung bringen. Die Verhältnisse der Über-, Unter-,
Nebenordnung, der Beziehung des Subjekts zu seiner Eigenschaft
oder Tätigkeit, sie sind überall anwendbar, mögen nun solche
Wörter unabhängig nebeneinander vorkommen oder Bestandteile
eines Kompositums bilden. Eben darum aber sagen sie über die
psychologischen Motive, die diese Verbindung zustande brachten,
nichts aus.
Wollen wir uns die Entstehungsbedingungen der Wortzusammen-
Begriff und Hauptformen der Wortzusammensetzung. 645
Setzung näher vergegenwärtigen, so werden wir daher besser tun,
solche Verschiedenheiten der einzelnen Erscheinungen ins Auge zu
fassen, die direkt auf besondere Eigentümlichkeiten jener analy-
tischen und synthetischen Vorgänge hinweisen, die allen diesen
Bildungen zugrunde liegen müssen. Hier zeigt sich nun vor allem,
daß diese Vorgänge von anscheinend entgegengesetzter, aber doch
sich ergänzender Richtung in den einzelnen Fällen in sehr verschie-
denem Grad an der Entstehung eines gegebenen Produktes be-
teiligt sein können. Auf der einen Seite begegnen uns Komposita,
die unmittelbar so wie sie sind aus einem Satze losgelöst scheinen,
so daß sie uns fast als reine Produkte syntaktischer Gliederung mit
verhältnismäßig geringer Begleitwirkung verbindender psychischer
Kräfte entgegentreten. Auf der anderen Seite finden sich nicht
minder häufig Komposita, deren Teile so, wie sie in das neugebildete
Wort eingehen, unmöglich als ursprünglich selbständige Wortgebilde
in einem Satze vorgekommen sein können, wo also diese Teile
mehr oder minder starke Dislokationen und Formveränderungen
durch die zwischen ihnen tätige psychische Affinität erfahren haben
müssen: hier handelt es sich daher offenbar um Erscheinungen, bei
denen der synthetische Teil des Prozesses weit über den analyti-
schen überwiegt. Dazu kommt endlich noch eine dritte Reihe von
Formen, bei denen die Entstehungsorte der Teile des Kompositums
sichtlich noch weiter entfernt liegen, indem aller Wahrscheinlichkeit
nach der eine dieser Teile ursprünglich gar nicht der Gesamtvor-
stellung angehörte, aus der sich der den Hauptbegriff tragende
Teil ausgesondert hat, sondern irgendwelchen ganz anderen Satz-
verbindungen, aus denen er infolge gewisser Assoziationsmotive
von jenem Hauptbegriff attrahiert wurde. Hier überwiegt also der
synthetische Teil des Prozesses noch mehr als im vorigen Fall, da
sich der analytische ganz und gar auf die Ausscheidung eines ein-
fachen Wortes beschränkt, darüber hinaus aber gar nichts zur Bil-
dung der zusammengesetzten Form beiträgt. Wir können uns die
drei Fälle durch das folgende Schema veranschaulichen, in welchem,
um den Erörterungen der folgenden Kapitel über die Gesetze
der Satzgliederung nicht vorzugreifen, die durch die Zerlegung
der Gesamtvorstellung G entstehenden einzelnen Wortbestandteile
a^ b^ c^ d . . . des Satzes vorläufig einander einfach koordiniert
646 Die Wortbildung.
werden sollen. Das resultierende Kompositum ist jedesmal durch
C angedeutet.
Typus I Typus II Typus ni
G G CG
M I I M I I I 1 I I i I i I I M I I I I I
a b c d e f g a b c d e f g 7?i a b c d e f g
U I I ! I
c c c
Hiernach läßt sich, nach Analogie der bei den Lautinduktionen
(Kap. IV, S. 405 f.) eingeführten Benennungen der Typus I kurz als
eine Komposition durch assoziative Kontakt Wirkung,
der Typus II als eine solche durch assoziative Nahewirkung,
der Typus III aber als eine solche durch assoziative Ferne-
wirkung bezeichnen.
Als Beispiele für das Verhältnis der Typen I und II können
das französische Wort pourboire und das den gleichen Begriff aus-
drückende deutsche Trinkgeld dienen. Beide weisen nicht nur
grammatisch, sondern vor allem auch psychologisch auf einen
abweichenden Ursprung hin. Zugleich können aber die psycho-
logischen Unterschiede aus den grammatischen nicht abgeleitet,
sondern höchstens indirekt erschlossen werden. Das deutsche Kom-
positum hat sich hier offenbar unter der assimilierenden Wirkung
anderer, älterer Komposita ähnlicher Art, wie Wergeid, Handgeld^
Mietgeld ^ Pachtgeld usw., gebildet, Assoziationen, die unter dem
Einfluß der Verbindung der Vorstellungen ''Geld' und 'trinken'
wirksam wurden. Diese Verbindung selbst ist aber durchaus keine
unmittelbare, wie das schon die grammatische Umbildung des attri-
butiven Bestandteils verrät. Auch gibt es keine Satzfügung, in der
diese Verbindung vorkommen könnte: in solchen ist allenfalls ein
'Geld zum Trinken', aber kein 'Trinkgeld' möglich. Wesentlich
anders verhält sich das französische pourboire. Zwar sind auch hier
Assoziationen mit andern aus der Präposition pojir gebildeten 7.\\'s,-a.vs\-
vaQrvs&\.z\xrvgQn,' \\\e.po2irpoint^ pourpreiidre^ pours2iivre u. a., denkbar.
Doch da diese Komposita nicht nur in den hinzugefügten Wort-
bestandteilen, sondern auch in den Bedeutungen der Präposition
selbst weit auseinandergehen, so können solche Wörter kaum anders
als durch Lautassoziation, nicht, wie bei dem deutschen Worte,
Begriff und Hauptformen der Wortzusammensetzung. 647
durch einen gemeinsamen Hauptbegriff auf die Verbindung gewirkt
haben. Wohl aber trägt das französische Kompositum deutlich die
Spuren der unmittelbaren Entstehung aus dem Satze an sich; ja
vielleicht ist es selbst ursprünglich nichts anderes als ein lückenhafter
Satz gewesen. Nachdem hunderte von Malen der Geber, der eine
Dienstleistung vergüten wollte, dem Beschenkten durch ein 'pour
boire' den Zweck der Gabe angedeutet hatte, wurde dieser unvoll-
ständige Satz, der in der Handlung des Gebens seine pantomimische
Ergänzung fand, in dem Augenblicke zum Wort, wo er als selbstän-
diges Ganzes in irgendeinen andern Satz als dessen Subjekt oder
Objekt eintrat. Dieser Ursprung bringt es dann auch mit sich, daß
das Ganze noch fortan ebensowohl als eine Verbindung zweier
Wörter in einem beliebigen andern Zusammenhang wie als ein ein-
ziges substantivisches Wort vorkommen kann.
Beispiele für das Verhältnis der Typen II und III zueinander
sind einerseits Komposita wie Trinkgeld oder die ihm ähnlichen
Dornstrauch^ Äpfelbaimi^ Kirchturm usw. und anderseits solche wie
Hirschkäfer, Leberfleck, Blutbuche, Rittersporn und andere. Jede
Zusammensetzung der ersteren Art enthält zwei Vorstellungen, die
der Wahrnehmung des Gegenstandes oder der Handlung gleichzeitig
angehören, und die daher beide in der ursprünglichen Gesamtvor-
stellung und ihrer Zerlegung im Satze gegeben waren. Die Ent-
stehung des Kompositums beruht also hier ganz auf einer unmittel-
baren Wahrnehmungsassoziation. Der Hirschkäfer dagegen war
zunächst nur als Käfer mit einigen nicht benannten spezifischen
Merkmalen in der Anschauung gegeben. Diese Merkmale aber, die
hornigen Mandibeln mit ihren zweizinkigen Spitzen, er\veckten das
einer Reihe anderer Gesamtvorstellungen zugehörige Bild des Hirsches,
das nun sekundär mit der Vorstellung des Käfers assoziiert wurde.
Hier liegt also der Bildung des Kompositums zugleich eine Er-
innerungsassoziation zugrunde. Ist es in diesen wie in den andern
angeführten Beispielen eine dem Hauptbegriff hinzugefügte, ihn näher
determinierende Nebenvorstellung, die aus einer außerhalb liegenden
Vorstellungsverbindung attrahiert wird, so kann nun aber auch das
Verhältnis sich umkehren, indem der assoziativ hinzutretende Be-
standteil zur Hauptvorstellung und der direkte Wahrnehmungsinhalt
zur Nebenvorstellung wird : so in dem in der gleichen Bedeutung
648 Die Wortbildung.
gebrauchten franz. cerf volant^ wo die Vorstellung des Hirsches als
assimilative Erinnerungsassoziation im Vordergrund steht, an die nun
das in der Wahrnehmung gegebene Bild der Flügel als Nebenvor-
stellung sich anschließt^).
2. Sprachliche Formen der Wortzusammensetzung.
Gegenüber den soeben erörterten drei Haupttypen der Wort-
komposition, die auf innere Motive der Assoziation und Apperzeption
zurückführen, dabei aber mit den verschiedensten grammatischen
Formen der Wortverbindung zusammenbestehen können, besitzen
nun diese äußeren Formen selbst zwar ein grammatisches, aber nur
indirekt ein psychologisches Interesse: insofern nämlich, als die
sprachliche Form immerhin unter Umständen auf die psychischen
Motive zurückschließen läßt. Namentlich pflegen die Verschieden-
heiten der Verbindungsweise für das Vorwalten bald mehr des ana-
lytischen bald mehr des synthetischen Teils dieser Wortbildungs-
prozesse kennzeichnend zu sein").
') Auf die eigentümlichen Verschiedenheiten der hier zugrunde liegenden Asso-
ziationsweisen hat zuerst O. Dittrich aufmerksam gemacht (Gröbers Zeitschrift für
romanische Philologie, XXII, 1898, S. 441) und darauf die Haupteinteilungen seiner
Übersicht der neufranzösischen Komposita gegründet, indem er die Komposita über-
haupt in »Erkennungsnamen« und »Erinnerungsnamen« unterscheidet. In der weiteren
Fortführung seiner Untersuchungen, deren Veröffentlichung noch aussteht, hat der
Verf., wie ich einer brieflichen Mitteilung desselben entnehme, statt dessen die Aus-
drücke >Cbereinstimmungs-« und »Abweichungsnamen« vorgezogen, weil bei ihnen
das Verhältnis zu den dominierenden Merkmalen unmittelbarer hervortritt. Hiemach
würde ein Wort wie 'Hirschkäfer' als ein Übereinstimmungs-, 'cerf volant' dagegen
als ein Abweichungsname zu bezeichnen sein.
2) Über die grammatischen Verhältnisse der Wortzusammensetzung und die
hieraus sich ergebenden Unterformen dieses Prozesses, die »Worteinung« und »Uni-
verbierung«, vgl. Brugmann, Kurze vergl. Grammatik, S. 287 ff. Die »Worteinung«
besteht darin, daß sich ein syntaktischer Verband bildet, dessen Bestandteile durch
die einheitliche Gesamtvorstellung, in die sie eintreten, begrifflich modifiziert werden,
z. B. Landesverrat, Erstgeborner, auslesen, abkaufen u. ä. »Univerbierung« wird es
genannt, wenn Worte gewohnheitsmäßig verbunden sind, ohne aber eine Begriffs-
einheit zu bilden, z. B. homer. o\/.6v-6e 'nach Hause', 'i-cpBoov 'ich trug' u. a.
Psychologisch gehen diese Formen ohne scharfe Grenze ineinander über, da sich
an die einmal gebildete Verschmelzung leicht auch im zweiten Fall Laut- oder
Akzentänderungen sowie Bedeutungsänderungen anschließen. Vgl. hierzu noch Brug-
mann, Ber. der sächs. Ges. 1900, S. 359 ff-, und H. Paul, Indogermanische Forschun-
gen, Bd. 14, S. 250 ff.
Sprachliche Formen der Wortzusammensetzung. 649
Hierher gehört vor allem die Erscheinung, daß es einerseits
Komposita gibt, in denen sowohl die Teilbegriffe selbst wie die
Beziehungen, in denen sie stehen, in einer Form ausgedrückt sind,
in der sie schon vor ihrer Verbindung zu einem Kompositum in
einem Satze vorkommen können; während in andern Fällen irgend
etwas, sei es auch nur ein Flexionselement, hinzugefügt werden
muß, um die Art der Verbindung der Einzelbegriffe vollständig zum
Ausdruck zu bringen. Im ersten Fall kann also das Kompositum
einfach durch festere Verbindung zweier aus der Satzzerlegung ent-
standener Worte entstehen: so in JiogytovQoi^ respublica^ quamobrem^
bienJiaireux ^ Gottesgericht usw. Im zweiten Fall gehen gewisse
Wortelemente verloren, oder es finden Umstellungen der Worte
statt, lauter Erscheinungen, die auf hinzutretende synthetische Vor-
gänge hinweisen: so in OilirtTtog für cpLlCov %jtJtovg^ timbre-poste
für timbre de poste^ Vaterhaus für Vaters Haus^ Trinkgeld für
Geld zum Trinken usw. Indem man in dieser Hinweglassung gram-
matischer Verbindungsglieder ein wesentliches Merkmal dafür sah,
daß aus der Zusammensetzung ein neues Wort hervorgehe, wurde
das Vorhandensein einer solchen »Ellipse« geradezu als das Krite-
rium der eigentlichen Wortkomposition angesehen, und jeder Fall,
wo jene fehlt, als eine bloße »Juxtaposition« betrachtet^). Dabei
wird aber nicht berücksichtigt, daß die Festigkeit der Verbindung
und das durch diese erzeugte Gefühl der Worteinheit hier genau
im selben Maße vorhanden sein kann wie dort. Dem gegenüber
ist die etwaige grammatische Umbildung um so mehr ein relativ
gleichgültiger Umstand, als in beiden Fällen die in dem Ganzen
enthaltenen Einzelvorstellungen, solange nicht weiter greifende
Laut- und Begriffsumwandlungen eintreten, gleich deutlich unter-
schieden werden: in timbre-poste ebensogut wie in timbre de poste^
in Vaterhaus wie in Vaters Haus. Auch zeigen Beispiele wie chef
d'oßiivre^ Gottesgericht und ähnliche, daß die Beibehaltung der selb-
ständigen grammatischen Form häufig wohl nur die Wirkung einer
durch den Fluß der Rede herbeigeführten Lautdissimilation, nicht ein
Produkt geringerer Festigkeit der Verbindung ist. Vollends nichts-
sagend und irreführend ist es, wenn man jene den synthetischen
I) Darmesteter, Formation des mots composes, p. 10.
5 CO Die Wortbildung.
Prozeß der Wortkomposition begleitende Einschmelzung- von Wort-
elementen als »elliptische« Redeform bezeichnet. Die Übertragung
rhetorischer Figuren auf die natürliche Sprachbildung ist immer
eines der unglücklichsten Interpretationsmittel, weil es sich in allen
solchen Fällen nur um eine zufällige äußere Ähnlichkeit handelt,
die aus ganz verschiedenen inneren Ursachen hervorgeht. Die
rhetorische Bedeutung der »Ellipse« liegt bekanntlich in der Hin-
weglassung solcher Teile der Rede, die in dem gewöhnlichen
Ausdruck der Gedanken unentbehrlich sind. Bei den sogenannten
Ellipsen der Wortkomposition ist aber umgekehrt gerade das durch
Zusammenziehung der Laute und der grammatischen Formelemente
gewonnene Ganze in der Weise stellvertretend für den Begriff ge-
worden, daß im Ausdruck keine Lücke empfunden wird. Wollte
man als vollständiges Wort nur ein solches anerkennen, das den
ganzen Begriff unverkürzt enthielte, so müßte man auch jedes Sim-
plex eine »Ellipse« nennen. Ist es doch immer nur ein einzelnes
dominierendes Merkmal, von dem die Benennung des Gegenstandes
ausgeht. Diese ursprünglichen sprachbildenden Vorgänge mit den
sekundären Erscheinungen, wie sie in der Kunstform der Rede
beobachtet werden, und wie sie eben erst auf Grund jener voran-
gegangenen Entwicklungen möglich sind, zusammenzuwerfen, kann
daher nur zu einer völligen Verwirrung der psychologischen Auf-
fassung führen.
Wie es für den allgemeinen Charakter eines Wortkompositums
gleichgültig ist, ob ein die Teile verknüpfender Beziehungsausdruck
mit in dasselbe eingeht oder nicht, so können nun auch die Vor-
stellungen selbst, die miteinander verbunden werden, nach ihrer
logischen Bedeutung den verschiedensten Begriffsformen angehören,
ohne daß dadurch die psychologische Natur der Verbindungsvor-
gänge wesentlich alteriert wird. Ob z. B. eine Eigenschaft durch
eine gegenständliche Vorstellung determiniert ist, wie in vogelfrei^
steinreich^ ehrgeizig^ lehrreich^ oder ob ein Gegenstands- durch einen
Eigenschaftsbegrifif ergänzt wird, wie in Festland^ Freigeist^ Groß-
vater^ Rotkehlchen^ oder ob statt dessen zwei Adjektiva oder zwei
Substantiva sich wechselseitig ergänzen oder beschränken, wie in
schwarzzveiß^ dunkelrot^ lauwarm^ Hausmann^ ScJineeberg^ Fingerhut^
Windmühle^ — alle diese und ähnliche Unterschiede sind für die
Sprachliche Formen der Wortzusammensetzung. 6^1
psychologische Seite der Erscheinung ohne Bedeutung; oder soweit
es sich hier um psychologische Unterschiede handelt, greifen diese
direkt in die Verhältnisse der allgemeinen Begrififsformen ein, ohne
daß andere Gesichtspunkte als die überhaupt für die Kategorien und
ihre Umwandlungen maßgebenden in Betracht kommen").
Eine andere Frage, die bei der üblichen logischen Behandlung
gewöhnlich in den Vordergrund gestellt wird, die nämlich, ob das
in .dem Kompositum gegebene Begriffsverhältnis als ein einfach
attributives oder als ein solches von Art und Gattung aufzufassen
sei, ob es räumliche, zeitliche, objektive, possessive Bestimmungen,
oder den Gedanken an einen Grund, einen Zweck, ein Mittel, einen
Grad usw. enthalte — diese Frage ist schon logisch von verhältnis-
mäßig geringem, psychologisch aber von gar keinem Wert. Denn
logisch betrachtet sind natürlich alle überhaupt möglichen Begriffs-
verhältnisse und Beziehungsformen der Begriffe auch zwischen den
Gliedern eines Kompositums möglich; und psychologisch bietet
wiederum keines dieser Verhältnisse irgendwelche Eigentümlichkeiten
dar, wie denn ja auch die logische Beziehung der Begriffe niemals
eine direkte Ursache der Verbindung ist. Vielmehr beruht diese
stets nur auf der Assoziation, die sich zwischen den in den Bestand-
teilen des Kompositums ausgedrückten Vorstellungen gebildet hat,
und auf Grund deren dieses Assoziationsprodukt in der Apperzep-
tion zu einem einzigfen Vorstellungsinhalt verbunden wird. Ein
unmittelbares Zeugnis für diese Unabhängigkeit der psychologischen
Entstehung- von dem logischen Verhältnis der Besrriffe ist die
i) Das Allgemeine über diese Verhältnisse der Begriffsformen und über die
auch bei der Wortzusammensetzung eine Rolle spielenden kategorialen Umwand-
lungen der Begriffe wird bei dem Bedeutungswandel (Kap. VIII] erörtert werden.
Die nähere Anwendung der aus der psychologischen Natur der Begriffsformen sich
ergebenden Verhältnisse auf die Erscheinungen der Wortkomposition muß aber hier
außer Betracht bleiben, da dieses Problem mit den besonderen Ausdrucksformen
der einzelnen Sprachen so eng zusammenhängt, daß es ganz und gar der speziellen
Sprachpsychologie zufällt. In dieser ist es bisher durch die ausschließlich logische,
psychologisch völlig ergebnislose Behandlung der Erscheinungen leider beeinträchtigt
worden. Einen anerkennenswerten Anfang einer grammatisch-psychologischen statt
der sonst bevorzugten grammatisch-logischen Analyse hat für das französische Sprach-
gebiet O. Dittrich gemacht in seinen »Untersuchungen über Wortzusammensetzung
auf Grund der neufranzösischen Schriftsprache«, in Gröbers Zeitschrift für romanische
Philologie, XXII, 1898, S. 305 ff., XXIII, 1899, S. 288 ff.
5c 2 Die Wortbildung.
Tatsache, daß in verschiedenen Sprachen ein und derselbe Begriff
durch Komposita ausgedrückt sein kann, die nach ihrer gramma-
tischen Bildung wie nach ihrer psychischen Entwicklung völlig von-
einander abweichen, während beiderlei Unterschiede in gar keiner
direkten Beziehung zueinander stehen. Einen Beleg hierzu bilden die
oben bereits erläuterten gleichbedeutenden Wörter Trinkgeld und
poiirboire. Gerade im Gebiet der Komposita zeigt es sich eben klar,
daß ein und derselbe Begriff nicht bloß in außerordentlich verschie-
dener Weise ausgedrückt werden kann, sondern daß auch die Art
dieses Ausdrucks jedesmal sowohl von der eigentümlichen Richtung
des Denkens wie von der Beschaffenheit der vorhandenen Ausdrucks-
mittel abhängt. Die deutsche Sprache, die eine große Freiheit in der
Erzeugung der Wortkomposita überhaupt und namentlich auch in der
Verbindung solcher Wörter besitzt, die der gleichen Begriffsklasse
angehören, ist fähig, einen neuen Gegenstandsnamen einfach dadurch
zu bilden, daß sie zwei schon vorhandene Substantiva, die sich in
dem neuen Begriff irgendwie begegnen, aneinander Rigt, oder auch
daß sie einen Eigenschafts- mit dem geeigneten Gegenstandsnamen
unmittelbar vereinigt. Ähnlich bildet sie neue Eigenschaftswörter
durch Verbindung bereits vorhandener mit Gegenstandsbegriffen,
mit denen die Eigenschaft in irgendeiner Beziehung stehend gedacht
wird. Dadurch gewinnt das deutsche Kompositum den Charakter
eines frei nach den jedesmaligen Zwecken zusammengesetzten Ganzen,
dessen Teile aus beliebigen unabhängigen Sätzen ausgesondert und
neu verbunden sein können, oder, wenn sie in einem und demselben
Satze vorkamen, durch andere Satzbestandteile voneinander gesondert
waren. Ähnliche Eigenschaften wie die deutschen zeigen auch die
griechischen Komposita. Anders verhalten sich die der romanischen
Sprachen, denen schon das Lateinische darin vorausging, daß in
ihm viele Verbindungen aus einer einfachen Folge von Wörtern
entstanden, die sich durch häufiges Zusammentreffen im Satze in
dieser Verbindung befestigt hatten, wie respiiblica^ senatusconsultum^
jusjiirandum und ähnliche. Diesen Charakter einer bloßen Aus-
scheidung aus dem Satze haben in überwiegendem Maß auch die
französischen Komposita wie chef d'oßuvre^ plafond^ to7ijours (wobei
ja die Unterscheidung von plat fo?id und tous jours bloß in der
Schrift, nicht in der Aussprache existiert), maltraiter^ malheiireiLX ^
Laut- und Bedeutungsänderungen der Komposita. 653
pourboire usw. Wo das nicht der Fall ist, da gehört die Verbindung
in der Regel einer früheren Stufe der Sprachentwicklung an, und
die so entstandenen Wörter fallen für das heutige Sprachbewußt-
sein dem Gebiet ursprünglicher Wortbildung zu '). Bei der Bildung
des deutschen Kompositums, wie sie noch heute fortwährend be-
obachtet werden kann, überwiegt also das synthetische, bei der
Bildung des neufranzösischen Kompositums das analytische Moment.
In Wahrheit sind aber beide Vorgänge, die Ausscheidung aus dem
Ganzen des Satzes und die selbständige Verbindung der Teile,
zwei Faktoren des Prozesses, die niemals fehlen, und von denen
nur je nach den besonderen Bedingungen bald der eine, bald der
andere überwiegend zum Ausdruck kommt. Eine eigentümliche
Nachwirkung des analytischen Ursprungs der Komposita hat sich
übrigens auch die deutsche Sprache darin bewahrt, daß sie die
mit Präpositionen gebildeten verbalen Zusammensetzungen im Satze
selbst wieder je nach den Bedingungen der syntaktischen Ver-
bindung in ihre Bestandteile sondert, sofern überhaupt die in das
Kompositum eingehende Präposition noch in ihrem selbständigen
Begrififswert erhalten geblieben ist: so in aufstehen und ich stehe auf
ablegen und ich lege ab^ vortragen und ich trage vor usw. Mag
aber auch durch diese Eigenschaft das Bewußtsein der besonderen
Bedeutung der Teile mehr erhalten bleiben als in den Fällen un-
verrückbarer Zusammenfügung : an der Tatsache, daß solche Wörter
im vollen Sinne des Wortes Komposita sind, kann diese Eigenschaft
nichts ändern. Sie geht auch da in den Wortverbindungen nicht
verloren, wo jene Sonderung erfolgt, weil dieser Vorgang vielmehr
als eine Einschaltung anderer Satzbestandteile in den Zusammenhang
des Wortes denn als eine wirkliche Zerlegung des letztern in seine
Teile empfunden wird.
3. Laut- und Bedeutungsänderungen der Komposita.
Ungleich wichtiger als diese äußeren sprachlichen Unterschiede,
die den bei der Wortkomposition stattfindenden psychischen Prozeß
der Vorstellungsverbindung nicht wesentlich berühren, sind für diesen
') Vgl. unten Nr. VII, 2.
654 ^i^ Wortbildung.
letzteren die Laut- und die sie begleitenden Begriffsumwandlungen
der Wortzusammensetzungen. Hier greifen beide Momente, Laut-
und Begriffswandel, durchweg derart ineinander ein, daß sie sich
wechselseitig verstärken, und daß daher meist schwer zu entscheiden
ist, welches das primäre gewesen sei. Dabei folgen natürlich Laut-
und Begriffswandel den für sie gültigen allgemeinen Gesetzen, deren
Erörterung nicht hierher gehört'). Hier ist nur hervorzuheben, daß
die Wortzusammensetzung ein Vorgang ist, der bei den in sein
Bereich fallenden Wortgebilden die Laut- wie Bedeutungsänderungen
nicht selten zu beschleunigen scheint. Indem sich die Bestandteile
des Kompositums zu einer neuen Worteinheit verbinden, kann ihnen
der Zusammenhang mit den selbständigen Wörtern, mit denen sie
ursprünglich identisch sind, nach Laut wie Begriff verloren gehen;
oder es kann auch ein Wort in einem Kompositum fortbestehen,
das für sich allein außer Gebrauch gekommen ist. Auf diese Weise
ist die Entwicklung der Wortzusammensetzung allgemein dahin ge-
richtet, daß die zuerst loser verbundenen und in ihrer isolierten
Bedeutung noch leicht erkennbaren Bestandteile des Kompositums
immer fester sich verbinden, bis sie schließlich zu einer Worteinheit
zusammengeflossen sind, die unmittelbar überhaupt nicht mehr als
Kompositum erkennbar, sondern erst auf Grund der Sprachgeschichte
als ein solches nachzuweisen ist. Dieser Prozeß kann sich aber an
den verschiedenen Wortzusammensetzungen einer Sprache in sehr
verschiedener Zeit vollziehen, da er von mancherlei inneren wie
äußeren Bedingungen abhängt: von der Einheitlichkeit der durch
die Verbindung entstehenden Vorstellung einerseits, und von den
Vorgängen des Laut- und Begriffswandels sowie von der Erhaltung
und der relativen Geläufigkeit der einzelnen Wortbestandteile ander-
seits.
Überblickt man die ganze Reihe der Veränderungen, die auf
solche Weise das einzelne Kompositum von seiner ersten Bildung als
Niederschlag aus dem Satze an bis zum völligen Untergang seiner
Bestandteile in der neuen Worteinheit erfahren kann, so lassen sich
dieselben nach der Wirkung- der ansredeuteten Bedingungen auf die
^) Rücksichtlich des Lautwandels vgl. Kap. IV, über den Bedeutungswandel
Kap. Yin.
Laut- und Bedeutungsänderungen der Komposita. ()e.e
Festigkeit der Verbindung in die drei Stadien der Agglutination,
der partiellen Verschmelzung und der totalen Verschmelzuno-
unterscheiden. Natürlich sind aber diese Stadien nicht scharf geschie-
den, sondern es finden sich die mannigfachsten Übergänge zwischen
ihnen. Auch läßt sich nur in verhältnismäßig seltenen Fällen an
einem einzelnen Kompositum der Entwicklungsprozeß durch alle
drei Stadien gleichmäßig verfolgen. Dagegen treten uns unter
den gleichzeitig vorhandenen Kompositis einer Sprache regelmäßig
Repräsentanten einer jeden Gruppe und ihrer Übergangsstufen ent-
gegen^).
So begegnen uns in jenen zahlreichen Kompositis der deutschen
Sprache, die sich fortwährend neu bilden, um dem Bedürfnis irgend
neuer Begrififsverbindungen zu genügen, ausgeprägte Beispiele der
Agglutination. Man denke an Wörter wie Landrecht^ Eiseiibalm^
Dampfschiffe Tmifstein^ Regieningsrat^ Reichsgericht ws^n . Partielle
Verschmelzungen können sodann wieder in verschiedenen Formen
vorkommen. In der einfachsten Weise gehen sie aus den Aggluti-
nationen dann hervor, wenn der Lautbestand des Wortes ungeändert
bleibt, die Bedeutung des Kompositums sich aber derart gegenüber
derjenigen seiner Bestandteile geändert hat, daß die begrifflichen
Inhalte der letzteren durch den völlig abweichenden Begriff des
Kompositums verdunkelt werden, so daß dieses nun als ein einheit-
liches Wort aufgefaßt wird, bei dem die Vorstellungen der Teile
nur noch schwach, nicht anders als dies bei zufälligen Lautähnlich-
keiten der Wörter geschieht, anklingen. Dahin gehören Beispiele
^) Vielleicht ist es nicht unnütz, ausdrücklich zu bemerken, daß man bei der
»Agglutination der Wortvorstellungen € in dem hier gebrauchten Sinn ebensowenig
an die sogenannten >agglutinativen Sprachen«, wie bei der partiellen oder totalen
Verschmelzung an den Verschmelzungsbegriff der Herbartschen Psychologie zu denken
hat. Was das erstere betrifft, so wird das hier obwaltende Verhältnis wohl zu-
reichend durch die Bemerkung gekennzeichnet, daß die Wörter einer »agglutinativen
Sprache« überhaupt nicht Agglutinationen von Vorstellungen, sondern ursprüngliche
Wortbildungen, also aller Wahrscheinlichkeit nach früh eingetretene Wortverschmel-
zungen sind, gerade so wie die Wortformen unserer Flexionssprachen, von denen
sie sich überhaupt nur durch ihren in vielen Fällen komplizierteren Aufbau unter-
scheiden. Der Herbartsche Verschmelzungsbegriff endlich gehört ganz und gar der
transzendenten Vorstellungsmechanik seiner Psychologie an und hat daher mit dem
hier angewandten empirischen Begriff keine anderen Berührungen als diejenigen, die
aus der allgemeinen Bedeutung des Wortes »Verschmelzung« hervorgehen.
656 Die Wortbildung.
wie jahrlässig urspr. = 'fahren lassend', anspielen eigtl. 'den An-
fang- im Spiel machen', Vorgang 'was vorher geht' u. a. Mehr noch
nähert sich die Verbindung einer totalen Verschmelzung, wenn der
eine Bestandteil des Kompositums entweder vollständig aus der
lebenden Sprache verschwunden oder lautlich derart verändert ist,
daß dadurch seine selbständige Bedeutung verdunkelt wurde: so in
Wörtern wie Vormund^ wo das Wort 'Mund' im Sinne von Schutz
außer Gebrauch gekommen, Junker = mhd. 'jungherre', wo das
Teilwort 'Herr' zu einem suffixähnlichen Bestandteil geworden ist,
ferner Herzog aus 'her' = Heer und '-zöge' (zusammenhängend mit
'ziehen') = Führer, ein Wort, dessen beide Teile sich in ihrer Be-
deutung verdunkelt haben. Am häufigsten kommen endlich solche
partielle Verschmelzungen in der Form vor, daß ein einzelner Be-
standteil seine Selbständigkeit ganz verliert und vollständig zu einem
Ableitungssuffix oder -präfix wird. Hier fließen dann ursprüngliche
Wortzusammensetzung und spätere Wortableitung oft ununterscheid-
bar zusammen, und indem die Anwendung solcher Elemente zu
Ableitungen weitere Kreise zieht, wird deren ursprüngliche Bedeutung
vollends verflüchtigt. Dahin gehören im Deutschen unsere zahl-
reichen Wortbildungen auf -heit^ hd, heit^ agot. haichis 'Art und
Weise', wie Schönheit^ Klugheit^ Tapferkeit usw., ferner die Präfix-
bildungen mit ver- = vor-, er- = ur-, ge- = ga- (laut- und begrififs-
verwandt mit dem lat. con-), be- = Jimbe- (um), also Wörter wie
verstellen, erblicken, Gemahl, Begriff u. a. In solchen partiellen
Verschmelzungen und sie begleitenden Prozessen der Laut- und Be-
deutungsänderung bereitet sich die letzte Stufe dieser Verbindungen,
die totale Verschmelzung, vor. Bei ihr angelangt ist das Wort
ein vollkommen einheitliches geworden und von einem Simplex
nicht mehr zu unterscheiden. Dahin gehören Wörter wie Heirat,
einst ein Kompositum aus ahd. Mwo, hiwa (Gatte, Gattin) und rat,
welches letztere in einem an den Begriff des 'zusammenlesens',
'verbindens' erinnernden Sinne sich noch in Wörtern wie 'Vorrat',
'Hausrat' erhalten hat; ferner Leichnam mhd. lichname ahd. lihhi-
namo aus ^liJihin = Körper und hämo = Gewand (noch erhalten
in 'Hemd'); Gesinde von mhd. sint Weg, also urspr. im Sinne von
'Gefolgschaft' (eines Fürsten), und viele andere.
Theorie der Wortzusammensetzung und Wortverschmelzung. 557
4. Theorie der Wortzusammensetzung und Wortverschmelzung.
Die allgemeinen Vorgänge der Wortkomposition, wie sie unab-
hängig von besonderen, in der überlieferten Form der Sprache be-
gründeten Bedingungen überall wiederkehren, lassen sich haupt-
sächlich aus zwei Reihen von Tatsachen erschließen: erstens aus
den konstanten Bedingungen , die jede Bildung eines zusammen-
gesetzten Wortes begleiten; und zweitens aus den psychischen
Eigenschaften, die ein Kompositum im Verhältnis zu seinen Be-
standteilen darbietet. In ersterer Beziehung bildet die Entstehung
der Wortzusammensetzung nur einen Spezialfall der Wortbildung
überhaupt. Von den Neuschöpfungen unterscheidet sich aber die
Wortzusammensetzung in dem Bedeutungsinhalt der Wortkom-
plikation dadurch, daß zunächst nicht ein einziger Begriff, sondern
mindestens eine Zweiheit von Begriffen in den Blickpunkt des
Bewußtseins tritt; hinsichtlich der Lautbestandteile darin, daß
nicht ein neues Lautzeichen den Eindruck des Objektes wiedergibt,
sondern daß der vorhandene Wort vor rat hierzu verwendet wird.
Dabei können dann die verbundenen Begriffe entweder beide dem
Geg-enstande? selbst entstammen: so bei dem ersten und zweiten
Typus der Wortbildung ; oder einer derselben kann durch die Asso-
ziation mit einer fernliegenden, aber irgendwie ähnlichen Vorstellung
erzeugt werden : so bei dem dritten der oben (S. 646) unterschiedenen
Typen. Unter ihnen steht der erste Typus vermöge seines unmittel-
baren Ursprungs aus einer syntaktischen Verbindung dem einfachen
Wort näher als der zweite und dritte. Dies kommt in der Struktur
des Kompositums darin zum Ausdruck, daß der eine Wortbestand-
teil eine für den Begriff relativ gleichgültige Nebenvorstellung sein
kann, die dann erst durch ihre Assoziation mit weiteren begleitenden
Vorstellungen den Begriff determiniert. In solchen Fällen gehört
dann das eine der dominierenden Merkmale eigentlich immer einer
solchen stillschweigend assoziierten Vorstellung an, und der be-
treffende Bestandteil des Kompositums hat nur die Funktion einer
Assoziationshilfe zur Erweckung dieser Vorstellung. So ist in dem
franz. pourboire die Vorstellung des Geldstücks, die zu den Be-
griffsbestandteilen gehört, in der Präposition poiir durch eine nur
Wundt, Völkerpsychologie I, i. 2. Aufl. 42
5c 8 Die Wortbildung.
andeutend vorhandene Hinweisung- auf die Handlung des Gebens
ersetzt. In dem Ausdruck -»un vivc-la-joie<-^ für einen immer ver-
gnügten Menschen genügt der Artikel, um der ganzen Phrase die
Beziehung auf eine Person mitzuteilen usw. ^).
Dem gegenüber bieten nun die Verbindungen des zweiten
Typus insofern die einfachsten Verhältnisse dar, als sich hier die
bei der Bildung des zusammengesetzten Wortes stattfindenden
Assoziationen ganz innerhalb der unmittelbar gegebenen
Wahrnehmungsinhalte bewegen. Sieht jemand einen Strauch,
der nach einem vorherrschenden Merkmal bereits den Namen Dorn
führt, und bemerkt er außerdem, daß dieser Strauch weiße Blüten
trägt, so verbinden sich durch eine direkte Wahrnehmungsassoziation
die beiden Merkmale in dem neuen Namen Weißdorn. Oder sieht
jemand einen Baum und erkennt dessen Früchte als Äpfel, so
bildet er unmittelbar aus beiden Teilvorstellungen den Namen
Apfelbaum ., usw. Dagegen gestalten sich bei dem dritten Typus
die Verhältnisse wiederum durch hinzutretende assoziative Bedin-
gungen verwickelter. Nur schließen sich hier die Hilfsassoziationen
nicht erst an einen gegebenen Bestandteil des Kompositums an,
sondern sie gehen der Bildung des letzteren voraus. Ist die Hilfs-
assoziation im ersten Fall eine Berührungsassoziation, durch welche
Vorstellungen geweckt werden, die innerhalb der gleichen Gesamt-
vorstellung liegen, selbst aber unbenannt bleiben, so ist sie im
zweiten Fall eine im allgemeinen aus gleichen und sich berührenden
Elementen zusammengesetzte Erinnerungsassoziation. Indem durch
diese ein in eine ganz andere Gesamtvorstellung gehörender Begriff
reproduziert wird, geht nun der letztere zusammen mit der ihm
zugehörenden Lautvorstellung in das Kompositum ein. So kann
ein Weib durch sein Aussehen oder durch sein Betragen an männ-
liche Eigenschaften erinnern, und die Wirkung dieser Assoziation
kann in dem Wort Manmveib ihren Ausdruck finden. Eine Mutter,
die ihre Kinder mißhandelt, erinnert an die dem Raben nachgesagte
Vernachlässigung seiner Jungen, und wiederum entsteht durch die
Assoziation des gegenwärtigen Eindrucks mit jenem Erinnerungs-
^) Darmesteter verzeichnet zahlreiche diesem ähnliche Beispiele, vgl. besonders
p. 206, 210.
Theorie der Wortzusammensetzung und Wortverschmelzung. 65g
bilde das Wort Rabenmutter ^ usw. ^). Auf diese Weise können
durch die Erinnerungsassoziationen Komposita entstehen , die ganz
verschiedenartige Gegenstände, falls sie eben nur in irgendeinem
Merkmal eine Beziehung darbieten, in Verbindung bringen. Hier
ist daher speziell für die Komposita der Ort des Ursprungs so-
genannter »Metaphern der Sprache«, bei denen man sich freilich
stets gegenwärtig halten muß, daß sie unmittelbar in der Regel
nicht als Metaphern, sondern als wirkliche Ähnlichkeiten empfun-
den werden^). Abgesehen von den abweichenden Assoziations-
motiven, die so die drei typischen Formen der Wortzusammen-
setzung auszeichnen, gestaltet sich nun aber jener weitere Verlauf
der Vorgänge , bei dem die gebildete Verbindung die einzelnen,
oben unterschiedenen Stufen der Agglutination, der partiellen
und der totalen Verschmelzung durchläuft , im wesentlichen
in übereinstimmender Weise. Wenden wir die früher (S. 559) ge-
brauchten symbolischen Bezeichnungen für die Wortkomplikationen
im allgemeinen auch auf den speziellen Fall der Wortkomposition
an, so besteht von vornherein die Eigentümlichkeit dieser in der
Wirksamkeit zweier Vorstellungen i\ und v^^ die entweder von
vornherein zu einer einzigen Vorstellung C gehören (2. Typus),
oder durch ansfereffte Hilfsassoziationen in verschiedener Weise in
dieselbe aufgenommen werden (i. und 3. Typus). Mit v^ und v^
komplizieren sich sodann die ihnen assoziierten Wortgebilde n^
und n^ ; daher die gesamte Wortkomplikation des Kompositums,
wenn wir von den Elementen m und 0, die hier keine wesentliche
Rolle spielen, abstrahieren, ausgedrückt werden kann durch die
symbolische Formel:
Der Inhalt dieser Komplikation erfährt dann stetige Veränderungen,
indem zunächst v^ v^ gegenüber C zurücktritt, während sich gleich-
zeitig ;/j «2 fester verbinden, so daß die Komplexion [n ^ ;/J C
übrigbleibt. Davon führt ein letzter Schritt zu einer Verschmel-
zung der Wortgebilde n^ und 11^ selbst, so daß der Endpunkt der
1) Vgl. dazu auch die oben S. 647 angeführten Beispiele.
2) Vgl. in Kap. VIII, Nr. V die allgemeinen Bemerkungen über die Metaphern
der Sprache.
42*
56o Die Wortbildung.
ganzen Entwicklung in einem Produkt n C besteht, d. h. in einem
Wort, das ganz und gar den psychologischen Charakter eines
Simplex angenommen hat. Nennen wir diesen Vorgang, um die
Rolle anzudeuten, die bei ihm der die Einzelvorstellungen in ein
Ganzes zusammenfassenden Apperzeption zukommt, eine apper-
zeptive Synthese, so bezeichnen demnach Assoziation,
Agglutination und Verschmelzung die drei Stufen dieses
apperzeptiven Prozesses. Dabei macht sich nun zugleich eine for-
male Gesetzmäßigkeit geltend, durch die sich dieser Vorgang wesent-
lich von den bloßen Assoziationsvorgängen unterscheidet. Diese
Gesetzmäßigkeit besteht darin, daß jedes Produkt der Agglutination
als ein zweigliedriges Ganzes erscheint. Dies bewährt sich
auch da noch , wo drei- oder mehrgliedrige Komposita gebildet
werden, indem sich solche stets als zweigliedrige Verbindungen
höherer Stufe darstellen, in denen zuerst zwei Teile a und b an-
einander gebunden sind, dann an diese zusammen ein drittes Glied
c oder eine Verbindung zweier weiterer Glieder c d usw., also nach
dem Schema:
[a b c) oder [a b c d) oder [a b c d) usw.
So in Verbindungen wie Großvaterstuld^ ReidisgericJitssciiatspräsidcnt^
Stadtverordnctc7isitziingssaal u. dgl. Es gibt schlechthin keine
Wortzusammensetzung, die sich diesem formalen Gesetz apper-
zeptiver Vorstellungsverbindungen entzieht. Selbst die kompli-
zierten und künstlichen Wortgebilde der chemischen Terminologie
ordnen sich ihm unter. Mag man sich auch im Räume die chemi-
schen Moleküle nach drei Dimensionen zusammengefügt vorstellen,
die Sprache und das Denken, die in der einen Dimension der
Zeit die Teile des Wortes verbinden, können eine solche Zusammen-
fügung immer nur in einer einzigen fortschreitenden Richtung er-
zeugen; und das Wort kann nur dadurch ein Ganzes bilden, daß
jeder Teil mit jedem andern verbunden ist, was eben durch jene
Gliederung erreicht wird. Hierin zeigt aber das Kompositum die
nämliche Abhängigkeit von den Bedingungen der zusammenhän-
genden Rede und infolgedessen die nämliche Gesetzmäßigkeit der
Struktur , die wir als bestimmend für den Aufbau des Satzes
Verhältnis der ursprünglichen zu den sekundären Wortbildungen. 56 j
kennen lernen werden. Es bewährt so in seiner synthetischen
Struktur die nämliche Beziehung zum Ganzen des Satzes, die sich
in seiner analytischen Entstehungsweise aus diesem zu erkennen gab.
VII. Ursprüngliche Wortbildung.
I. Verhältnis der ursprünglichen zu den sekundären
Wortbildungen.
Ursprüngliche Wortbildung und Neuschöpfung von Wörtern sind
wesentlich verschiedene und in mancher Beziehung einander ent-
gegengesetzte Vorgänge. Die Neuschöpfung gehört der Gegenwart
oder einer nahen Vergangenheit an; die ursprüngliche Wortbildung
ist der erste überhaupt auffindbare Anfang des Wortes in den
unserer Beobachtung gegebenen Sprachen und Sprachfamilien. Die
Neubildung steht also unter dem Einfluß einer bereits ausge-
bildeten Sprache, und es sind überdies stets besondere, wegen ihrer
eigenartigen Beschaffenheit in der Regel leicht nachweisbare Motive,
die zu ihr geführt haben. Die Bedingungen der ursprünglichen
Wortbildungen sind uns dagegen vollkommen dunkel: ob diese aus
den Trümmern anderer vor ihr dagewesener Sprachformen, ob sie
ganz oder teilweise aus der Mischung verschiedener Idiome ent-
standen, ob sie völlige Neuschöpfungen waren, alles dies ist uns
unbekannt. Und auch wenn wir mehr von der Urgeschichte der
Wörter wüßten, würde es schwerlich ausreichen, um darauf be-
gründete Vermutungen über die psychischen Motive jener im An-
fang der Sprachgeschichte liegenden Vorgänge zu gründen. Dies
ist zugleich der Punkt, in welchem sich die ursprüngliche Wort-
bildung von der Wortbildung durch Zusammensetzung unterscheidet.
Da diese überall in der Komposition bereits vorhandener Wörter
besteht, so sind im allgemeinen in den sprachlichen Erscheinungen
selbst schon zureichende Hinweise auf ihre psychischen Bedin-
gungen enthalten; und da überdies die Bildung solcher Formen
durchweg einer späteren Zeit angehört, so sind auch die äußeren
kulturhistorischen Momente, die sie veranlaßt haben, leichter zu er-
gründen. Nur die Lautwiederholungen machen davon eine Aus-
nahme, insofern sie vielfach schon dem Gebiet der ursprünglichen
502 Die Wortbildung.
Wortbildung zugehören. Hier ist aber wiederum der Vorgang selbst
so offenkundig , und auch die Motive , die bei ihm wirksam sein
können, sind von so einfacher und allgemeingültiger Art, daß dies
eben als ein Fall betrachtet werden kann , wo sich uns das Ge-
heimnis ursprünglicher Wortbildung wegen der seltenen Einfachheit
der Form wie der Bedingungen des Vorgangs ausnahmsweise deut-
lich enthüllt.
In allen andern Fällen scheinen bei |der ursprünglichen Wort-
bildung zwei wesentlich verschiedene, bald ineinander eingreifende,
bald getrennt voneinander stattfindende Prozesse beteiligt gewesen
zu sein, die aber beide bereits die Existenz bedeutsamer Lautkom-
plexe voraussetzen. Der eine besteht in einer den ältesten Sprach-
formen bereits angehörenden Wortzusammensetzung, die in
ihrer Bildungsweise im wesentlichen der noch in der heutigen
Sprache vor sich gehenden Bildung der Komposita entsprach. Der
zweite, wenigstens in seinen ausgeprägteren Formen auf engere
Sprachgebiete beschränkte, besteht in Klangvariationen eines
in bestimmter Bedeutung gebrauchten Lautgebildes mit der Wirkung
einer entsprechenden Variation der Bedeutung. Diese zweite Form
nähert sich in ihrer unmittelbaren sinnlichen Bedeutsamkeit einiger-
maßen der Lautwiederholung und den sonstigen onomatopoetischen
Bildungen. Hierher gehören die früher als Beispiele solcher Erschei-
nungen erwähnten Klang-variationen des semitischen Verbums, sowie
die davon wesentlich wieder abweichenden, besonders in den mono-
syllabischen Sprachen Ostasiens vorkommenden Abstufungen der
Tonhöhe oder des sogenannten »Tonakzentes« , die möglicherweise
aus einer weitgehenden, namentlich die sinnmodifizierenden Elemente
der Wörter ergreifenden Lautverschmelzung hervorgegangen sind').
Von beiden Formen ist die Wortkomposition jedenfalls die weitaus
allgemeinere ; vielleicht ist sie auch die ältere. Doch über die Vor-
gänge der ursprünglichen Wortkomposition ist es nur selten mög-
lich mit zureichender Wahrscheinlichkeit Rechenschaft zu geben.
Mag es auch ziemlich sicher sein, daß Wörter wie rid-iq^iL, öidcof.ii
dereinst Komposita aus dem Verbalstamm und einem Pronominal-
I) L.Ewald, Grammatik der Tai oder Siamesischen Sprache, i88l, S. 20 ff.
Vgl. oben Kap. IV, S. 486, und hinsichtlich der Klangvariationen des Semitischen
Kap. in, S. 349 f.
Verhältnis der ursprünglichen zu den sekundären Wortbildungen. 66 ^
Clement f.ii gewesen sind, und daß dieses Element mit den selb-
ständigen Pronominalformen der ersten Person i^iov, f.ioi, f.t€ zu-
sammenhängt, so führt doch selbst in Sprachen von so großem, eine
ursprünglichere Stufe der Wortbildung verratendem Formenreichtum
wie dem Sanskrit und dem Griechischen der Versuch einer analogen
Analyse der sonstigen Wortformen auf das Gebiet unsicherer Hypo-
thesen, die natürlich nicht zu Grundlagen psychologischer Folge-
rungen genommen werden dürfen. Daß in Wörtern wie Ivoifxi,
/.voaif-ii, IvaoiuL usw. der an gleicher Stelle wiederkehrende /-Laut
eine konstante Beziehung zu dem in diesen Formen ruhenden
Begriff des Wunsches hat, ist ja zweifellos. Doch welchen Ursprung
dieses z haben mag, das wird vielleicht niemals mehr mit Sicherheit
zu ermitteln sein. Jedenfalls aber geht diese Frage als solche nicht
die Psychologie an, sondern {die Sprachgeschichte; und erst wenn
die letztere zu einem hinreichend sicheren Resultat gelangt wäre,
würde es auch an der Zeit sein, die psychischen Prozesse zu unter-
suchen, die bei der Bildung eines solchen Wortes wirksam waren.
Hier trennen sich demnach, wie überall, wo es sich um Probleme
der Urgeschichte handelt, die psychologischen und die historischen
Aufgaben; und nahezu verhält es sich so, daß die Probleme des
Psychologen da beginnen, wo die des Historikers aufhören. Diese
Lage würde vielleicht schlimmer sein, als sie wirklich ist, wenn
nicht die Psychologie ihrerseits, allen zum Teil nach entgegen-
gesetzter Richtung gehenden Tendenzen der Sprachgeschichte gegen-
über, auch hier den Gesichtspunkt zur Geltung bringen müßte, daß
die Grundeigenschaften der menschlichen Natur die gleichen ge-
blieben sind, solange der Mensch überhaupt im sprachfähigen Zu-
stand existiert hat. Sowenig die Gesetze der Blutbildung und
Blutbewegung im heutigen menschlichen Körper andere sind als in
dem des Urmenschen, gerade so wenig werden auch die allgemeinen
Gesetze der Bildung der Vorstellungen, der Gefühle und Willens-
vorgänge andere geworden sein, seit solche psychische Inhalte über-
haupt durch Sprachlaute oder Gebärden geäußert wurden. Nicht
als ob in der Beschaffenheit der Vorgänge und [in der Art sie zu
äußern nicht gewaltige Umwandlungen vor sich gegangen wären.
Aber diese müssen sich doch innerhalb der Grenzen [bewegen, in
denen dies die allcfemeinen Eisfenschaften des Menschen und die
664 ^^^ Wortbildung.
Entwicklung, die das menschliche Bewußtsein tatsächlich erkennen
läßt, psychologisch verständlich machen. Darum ist nie zu ver-
gessen, daß es neben der unhistorischen Anschauung der Auf-
klärungszeit, die den Menschen für absolut unveränderlich hielt, noch
eine zweite, entgegengesetzte Art unhistorischer Auffassung gibt:
die der Romantik, die gerade der Sprach v\issenschaft aus der Zeit
ihres Ursprungs vielfach noch anhaftet, — die Meinung nämlich,
daß der Mensch irgend einmal seine Natur Gänzlich geändert habe.
2. Wortbildungen bei der Entstehung neuer Sprachen
aus vorangegangenen.
Ist es auch unmöglich, über die inneren und äußeren geschicht-
lichen Bedingungen Rechenschaft zu geben, unter denen die ur-
sprüngliche Wortbildung dereinst in den großen Sprachfamilien, die
wir heute unterscheiden, und in denen sich ein gemeinsamer Wort-
schatz nachweisen läßt, erfolgt ist, so gibt es doch ein Gebiet von
Erscheinungen, das gewissermaßen ein mittleres genannt werden
kann zwischen jenen beiden Vorgängen, die entgegengesetzten Perio-
den der Sprachgeschichte angehören: zwischen der ursprünglichen
Wortbildung und der gegenwärtigen Neuschöpfung. Das sind die
Wortbildungen, die in die Periode der Entstehung einer solchen
Sprache fallen, die selbst aus einer vorangegangenen die Grundlagen
ihres W^ortschatzes übernommen hat. Die schlagendsten Beispiele
bieten hier die heutigen romanischen Sprachen. Ihre Wörter
stehen zwischen Neubildimgen und Umwandlungen in gewissem
Sinne mitteninne. Sprachgeschichtlich betrachtet sind sie freilich
ebensogut lautgesetzliche Änderungen lateinischer oder teilweise auch
germanischer Wörter und Wortverbindungen, wie die neuhoch-
deutschen Wörter, wo sie nicht neu entstanden oder entlehnt wurden,
aus althochdeutschen her\'orgegangen sind. Aber der Prozeß hat
bei den romanischen Sprachen dadurch sein besonderes Gepräge
empfangen, daß sich die neue Sprache aus Volksdialekten entwickelte,
die durch Sprachmischungen starke Veränderungen erfuhren und
sich längere Zeit ohne literarische Überlieferung fortbildeten. Nun
ist es durchaus nicht immöglich, daß, wo in älterer Zeit Trennungen
verwandter Sprachen stattfanden, z. B. der verschiedenen Zweige
Wortbildungen bei der Entstehung neuer Sprachen aus vorangegangenen. 665
der indogermanischen Familie, ähnliche Bedingungen obgewaltet
haben; ja es bleibt nicht ausgeschlossen, daß das Indogermanische
selbst dereinst in einer noch graueren Vorzeit auf dieselbe Weise
auf der Grundlage irgendwelcher vorher vorhandener Sprachen ent-
standen sei. Doch von der Nachweisung eines solchen Vorgangs
oder gar von der Ableitung einzelner sprachlicher Erscheinungen
aus ihm kann niemals die Rede sein, weil jene Annahme einer indo-
germanischen Ursprache selbst die Grenze bezeichnet, bis zu der
äußerstenfalls die prähistorische Forschung mit ihren Rückschlüssen
vordringen kann.
Dagegen besteht der Wortschatz der romanischen Sprachen, so-
weit er sich auf das Lateinische zurückführen läßt, teils aus direkten
Derivaten lateinischer Wörter, die sich mehr oder minder stark in
ihrem Lautbestand verändert haben, teils aus Wörtern, die sich ety-
mologisch als ehemalige Komposita erweisen, welche zu vollkommen
einheitlichen Bildungen verschmolzen sind. Lautverändemng und
Wortverschmelzung haben also hier zusammengewirkt, um das neue
Wort von seinem ursprünglichen Zustande so weit zu entfernen, daß
es wie ein vollkommen einfaches und ursprüngliches erscheint. So '
in Wörtern wie franz. prbne von präconium^ bcnir von bencdicere^
coiicJicr von collocare^ riiser von rccusare^ prccJier von prädicare, chamn
von qiiisqne unus^ ferner in zahlreichen Partikeln wie tot von tot cito
ici von ecce hic^ dans von de intus ^ selon von sub longum^ ainsi
von acque sic^ dont von de unde^ coninie von qtiomodo^ or von ad
hora usw. '). Nicht selten kann so die mit dem Lautwandel zu-
sammenwirkende Lautverstümmelung eine Grenze erreichen, bei der
der Ursprung des Wortes unsicher wird. Namentlich gilt dies in
solchen Fällen, wo die Wortkompositionen offenbar syntaktische
Verbindungen waren, die sich allmählich durch häufiges Zusammen-
treffen befestigten und dadurch in der Volkssprache zu unlösbaren
Einheiten verschmolzen. Dahin gehören die aus zwei selbständigen
Wörtern zusammengewachsenen Partikeln, gelegentlich aber auch
Wörter, die in der modernen Sprache zu Substantiven geworden
sind, wie das Italien, noja^ franz. ennui^ aus in odio, das seine
^) Vgl. Diez, Etymolog. Wörterb. der roman. Sprachen. ^ Darmesteter, For-
mation des mots composes. Meyer-Lübke, Grammatik der romanischen Sprachen,
I, S. 520 ff. und an andern Stellen.
666 Die Wortbildunc
charakteristische Bedeutung wohl erst in dem Zusammenhang der
Phrase '-»est viiJii in odio<' im Sinne von tacdct me *^es verdrießt
mich"* gewonnen hat '). In andern Fällen liegt jedoch der Wort-
bildung ein bereits vorhandenes Wort zugrunde, das in seiner Ur-
sprungsform noch deutlich aus mehreren Wörtern zusammengesetzt,
in seinem Endprodukt aber zu einer völlig unzerlegbaren Worteinheit
verschmolzen ist. Die beiden Formen der Entstehung zusammen-
gesetzter Wörter, die aus den syntaktischen Gliedern eines Satzes,
und die aus der Assoziation mit außerhalb liegenden Vorstellungen,
welche uns bei der Neubildung der Komposita begegnet sind, kehren
also auch hier wieder (S. 646). Wo immer aber solche Wörter, die
der Zusammensetzung ihren Ursprung verdanken, in der Sprache
zu einheitlichen Laut- und Begriffsgebilden verschmelzen, überall
folgt die Wortkomposition denselben Gesetzen, die wir heute noch
in der Sprache beobachten. Die Glieder, die das Kompositum
bilden, lösen infolge der festeren Verbindung, in die sie treten, aus
dem Ganzen des Satzes sich ab, um dann in der gleichen Ver-
bindung in andere syntaktische Fügungen einzugehen; und sie
schließen sich daher nach dem nämlichen Gesetze dualer Gliederung
aneinander, das die syntaktische Verbindung der Teile des Satzes
selber beherrscht.
Hiernach liegt nicht die geringste Wahrscheinlichkeit vor anzu-
nehmen, daß in irgendeiner Periode der Sprache die Wortbildung
auf wesentlich anderen Wegen erfolgt sei, als auf denen wir sie
noch heute vor sich gehen sehen. Dieser Wege gibt es nach
allem Vorangegangenen hauptsächlich zwei: die Neuschöpfung von
Wörtern und die Verbindung vorhandener Wörter zu neuen, immer
fester verschmelzenden Worteinheiten. Die Neuschöpfung wird
durch die Eigenart des Eindrucks in ihrer Abweichung vom Vor-
handenen und zugleich durch Assoziationen mit bereits bestehenden
Wortgebilden im Sinne der Angleichung an dieselben bestimmt.
Bei der Wortkomposition ist die Verbindung der Bestandteile im
Satze und die unter dem Einfluß der oben geschilderten Assoziations-
und Apperzeptionsbedingungen immer fester werdende, durch den
gleichzeitigen Laut- und Bedeutungswandel begünstigte Verschmel-
I) Diez a. a. O. S 224.
Wortbildungen bei der Entstehung neuer Sprachen aus vorangegangenen. 667
zung maßgebend. Beide Vorgänge setzen aber bereits vorhandene
Wortbildungen voraus. Auch die prähistorische Untersuchung, die
aus den Zeugnissen der überlieferten Sprache ihre Rückschlüsse
macht, kann daher immer nur bis zu Anfangszuständen zurückgehen,
für die jene Voraussetzung gilt. Die Frage, wie etwa der Mensch
sich verhalten mochte, als es noch keine Vorbilder gab, nach denen
er Neuschöpfungen vornehmen, und keine Wortgebilde, aus denen
er neue Verbindungen zusammenfügen konnte, gehört deshalb ebenso-
wenig in die Sprachgeschichte, wie der erste Ursprung des Menschen
in die allgemeine Geschichte der Menschheit. Die psychologische
Betrachtung der Sprache kann allerdings dieser Frage nicht ganz
aus dem Weg-e g-ehen. Aber auch sie wird dieselbe erst am Schluß
aller der Untersuchungen erheben können, die ihre eigentliche Auf-
gabe ausmachen, und die sich selbstverständlich immer nur auf
Tatsachen beziehen, die andere, ihnen im allgemeinen gleichartige
Tatsachen zu ihrer Voraussetzung- haben').
i) Auf das Ursprungsproblem wird demnach das Schlußkapitel dieses Werkes
(Kap. IX) zurückkommen.
Druck von Breitkopf & Hiirtel in Leipzig.
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