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Völkerpsychologie
Erster Band
Die Sprache
Vierte Auflage
Erster Teil
Völkerpsychologie
Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze
von
Sprache, Mythus und Sitte
von
Wilhelm Wundt
Erster Band
Die Sprache
Vierte unveränderte Auflage
Erster Teil
Mit 40 Abbildungen im Text
Alfred Kröner Verlag in Stuttgart
1921
Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, werden vorbehalten.
Vorwort zur ersten Auflage.
Über Plan und Absicht des vorliegenden Werkes gibt die Ein-
leitung Rechenschaft. Ich kann mich daher an dieser Stelle
auf einige kurze Bemerkungen über mein — wenn ich mich des Aus-
drucks bedienen darf — persönliches Verhältnis zu dem Gegenstande
beschränken. Sprache, Mythus, Sitte bilden in ihren tatsächUchen
Zusammenhängen zunächst den Inhalt bestimmter philologisch-
historischer Arbeitsgebiete; sie nehmen aber zugleich mehr als an-
dere, dem weiteren Umkreis der Geschichte angehörige Stoffe ein
direktes psychologisches Interesse in Anspruch. Dieses Verhältnis
gibt den genannten Gebieten das Vorrecht, zugleich Grundlagen der
,, Völkerpsychologie" zu sein. Nun könnte es scheinen, als wenn auch
der Psychologie dann am besten gedient wäre, wenn derjenige, der
sich an die völkerpsychologischen Probleme heranwagt, die Eigen-
schaften des Philologen und des Historikers mit denen des Psycho-
logen verbände. Aus zwei Gründen glaube ich jedoch, daß dieser
Wunsch, vorläufig wenigstens, kaum Aussicht hat, verwirklicht zu
werden. Erstens wird man bei der gegenwärtigen Teilung der wissen-
schaftlichen Arbeit schwerlich erwarten dürfen, daß der Philologe
oder Historiker die Sache in einer den heutigen Forderungen der psy-
chologischen Wissenschaft genügenden Weise in Angriff nehmen werde ;
und vielleicht wird man ihm dies nicht einmal verdenken können,
da die Aufgaben und, was damit unvermeidlich verbunden ist, die
Gesichtspunkte, mit denen er an die Probleme herantritt, wesentlich
abweichende sind. Sodann aber kann ich nicht umhin zu glauben,
jene Arbeitsteilung, die hier die psychologische Analyse der Er-
scheinungen der Psychologie und nicht der Philologie und Geschichte
zuweist, werde in einem gewissen Maß immer fortdauern, wenn auch,
wie zu hoffen ist, beide Gebiete in Zukunft dadurch einander näher
VI Vorwort.
treten mögen, daß sicli die Philologen und die Historiker mit den
Betrachtungsweisen der wissenschaftlichen Psychologie mehr be-
freunden, und daß sich die Psychologen der Bedeutung der Völker-
psychologie als einer unentbehrlichen Erkenntnisquelle mehr bewußt
werden, als dies gegenwärtig der Fall ist. Gleichwohl wird die Völker-
psychologie als solche ein Teil der Psychologie bleiben. Denn wenn
der Philologe gewiß mit Recht geltend macht, daß nur der mit Er-
folg in die Kulturwelt des Altertums einzudringen vermag, der die
Elemente der philologischen Methode beherrscht, so wird doch wohl
auch der Psychologe daran festhalten müssen, daß man, um die ver-
wickelten Erscheinungen der Völkerpsychologie zu entwirren, zuerst
durch die exakte Analyse der elementaren Bewußtseinsvorgänge,
wie sie die Methoden der experimentellen Psychologie vermitteln,
den Blick geschärft und die Fähigkeit psychologisch zu denken geübt
haben muß.
Wohl gibt es heute selbst noch Psychologen, die das Gebiet ihrer
Betrachtungen grundsätzlich auf diese einfacheren Aufgaben ein-
schränken möchten ; und in der öffentlichen Meinimg findet die gleiche
Anschauung gelegentlich in der bedauernden Bemerkung ihren Aus-
druck, die heutige Psychologie sei ganz und gar zur Psychophysik,
also zu einem Anhangsgebiet der Physiologie geworden, und sie sei
damit in den Kreis jener Disziplinen hinübergewandert, die nur für
diejenigen ein Interesse besitzen, die sie zu ihrer Spezialität machen.
Dies ist nach meiner tiefsten Überzeugung ein Irrtum, einer jener
Irrtümer, die daraus entstehen, daß man einen vorübergehenden
Zustand für das bleibende Wesen eines Dinges ansieht. Daß die ein-
facheren Fragen der physiologischen Psychologie bis zu einem gewissen
Grade geklärt sein mußten, ehe sich die wissenschaftliche Arbeit den
komphzierteren völkerpsychologischen Problemen zuwenden konnte,
ist wohl begreiflich. In dieser Bedingung liegt aber, wie ich meine,
ebensowenig wie in der teilweise veränderten Beschaffenheit der
Hilfsmittel eine Rechtfertigung dafür, der Psychologie dauernd ein
Gebiet fern zu halten, das seiner eigensten Natur nach zu ihr gehört,
und das, wie man vielleicht behaupten darf, den wichtigeren und
fruchtbareren Teil ihrer Aufgaben in sich schHeßt.
Im Hinblick auf die in den obigen Bemerkungen angedeutete
Scheidung der Standpunkte des Fsj^^chologen und des Historikers
Vorwort. VII
versteht es sich übrigens von selbst, daß ich mich in dem folgenden
Werk eines eigenen Urteils über streitige Fragen der Sprach-, Mythen-
und Sittengeschichte, soweit solche rein geschichtlicher Art sind,
enthalte. Nur da, wo sich die historischen Folgerungen mit psycho-
logischen Hypothesen verbinden oder gar, wie es wohl zuweilen ge-
schieht, ausschließlich in solchen bestehen, glaube ich aus dieser Kolle
eines unbeteiligten Zuschauers heraustreten zu dürfen. Ich betrachte
demgemäß die geschichtlichen und ethnologischen Ergebnisse auf
allen hierher gehörigen Gebieten als einen Stoff, den ich, ebenso wie
das Resultat eines Experiments, als einen gegebenen anerkennen
muß, über dessen psychologische Natur ich mir aber wohl mit dem-
selben Rechte, mit dem es die Philologen und Historiker selbst tun,
ein Urteil gestatten darf. Dabei unterscheidet sich meine psycho-
logische Betrachtung dieser Dinge von derjenigen der Spezialforscher
auf den gleichen Gebieten natürlich dadurch, daß diesen ohne Zweifel
die Tatsachen leichter und reichlicher zu Gebote stehen, daß dagegen
meine Betrachtungsweise nach den anderwärts, namentlich nach den
innerhalb der physiologischen Psychologie gewonnenen Ergebnissen
orientiert ist, und daß sie von dem Streben geleitet wird, auf diesem
Wege so weit als möglich die allgemeinen psychologischen Erkennt-
nisse zu ergänzen und zu erweitern. Ich habe geglaubt, diesem Stand-
punkte vor allem insofern Rechnung tragen zu müssen, als ich meinen
Betrachtungen nur solche Tatsachen oder — soweit die letzteren
hypothetische Ergänzungen nie ganz entbehrlich machen — nur solche
Voraussetzungen geschichtlicher Art zugrunde legte, die als gesichert
oder durch die übereinstimmende Überzeugung der Sachverständigen
als zureichend beglaubigt angesehen werden können. Ich meinte
im Zweifelsfalle lieber auf ein glücklich gewähltes Beispiel für irgend-
eine psychologische Gesetzmäßigkeit verzichten, als mich der Gefahr
ungewisser linguistischer, mythologischer oder kulturhistorischer Hypo-
thesen aussetzen zu dürfen. Sollte ich trotzdem im einzelnen einmal
fehlgegriffen haben, so wird das der sachkundige Leser, wie ich hoffe,
mit der Schwierigkeit des Gegenstandes entschuldigen.
Ich kann dieses Vorwort nicht schließen, ohne dankbar der Hilfe
zu gedenken, die mir zunächst für den die Sprache behandelnden
ersten Band die sprachwissenschaftliche Literatur, in der wieder die
indogermanistische und germanistische in erster Linie steht, geleistet
p
105
,W6
VIII Vorwort.
hat. Innerhalb der Jahre, in denen ich mich mit den Vorarbeiten
zu diesem Werke beschäftigte, hat sich mir immer mehr die Überzeugung
aufgedrängt, daß die Sprachwissenschaft von sich aus in wachsendem
Maß einer gründlicheren Vertiefung in die psychologische Seite der
Sprachprobleme zugeführt werde. Dieser Umstand hat es gefügt,
daß vielfach innerhalb der Sprachwissenschaft selbst schon die ein-
zelnen Tatsachengebiete einer psychologischen Behandlung um vieles
zugängHcher geworden sind, als sie es zu der Zeit waren, da ich selbst
es zum ersten Male unternahm, mir die Aufgaben der Völkerpsycho-
logie zurechtzulegen. Es würde zu weit führen, hier auch nur die
wichtigsten Arbeiten zu nennen, denen ich in dieser Beziehung ver-
pflichtet bin. Ich will mich auf die drei hauptsächlichsten beschränken.
Zunächst verdanke ich Hermann Pauls ,, Prinzipien der Sprach-
geschichte" mannigfache Anregungen. Sein Streben, überall die
Analyse der sprachlichen Vorgänge an die Erscheinungen der lebenden
Sprache, und hier wieder das Studium der generellen an das der in-
dividuellen Erscheinungen anzuknüpfen, kam durchaus einer von mir
selbst gehegten und auf andern Gebieten betätigten Überzeugung
entgegen. Diese Anregungen möchte ich um so rückhaltloser an-
erkennen, je mehr ich sowohl in der allgemeinen psychologischen Auf-
fassung, wie infolgedessen zumeist auch in der Interpretation des
einzelnen andere Wege einschlagen mußte. Unter den spezielleren
sprachwissenschaftlichen Werken gewährte mir sodann für das weite
Gebiet allgemeiner Sprachvergleichung vor allem Friedrich Müllers
,, Grundriß der Sprachwissenschaft" vielfache Förderung. Gerade
die Zurückhaltung, die sich Müller auferlegt hat, indem er sich über-
all auf die Zusammenstellung der für die Beurteilung einer Sprache
wesentlichen Tatsachen, der Lautsysteme, Paradigmen, Sprach-
proben usw., beschränkte, macht dieses Werk vor andern, die von
vornherein die Erscheinungen nach bestimmten linguistischen oder
psychologischen Hypothesen gruppieren, für den Psychologen wert-
voll. Für das Indogermanische bin ich endlich hauptsächlich dem
,, Grundriß der vergleichenden Grammatik der indogermanischen
Sprachen" von K. Brugmann und B. Delbrück für zahlreiche Be-
lehrungen verpflichtet.
Leipzig, im März 1900.
Vorwort. IX
Vorwort zur zweiten und dritten Auflage.
Die zweite und die dritte Auflage dieses Werkes haben weder
in der Gesamtauffassung nocli in der Anordnung des Stoffes wesent-
liche Änderungen gegenüber der ersten aufzuweisen. Dagegen ist
alles noch einmal sorgfältig durchgearbeitet worden. Manches hoffe
ich durch ergänzende Ausführungen in helleres Licht gesetzt, anderes
durch Berichtigungen und Zusätze verbessert zu haben. Zweifel-
hafte oder als irrig erkannte Beispiele wurden beseitigt und womög-
lich durch zuverlässigere ersetzt. Im ganzen aber habe ich geglaubt,
mich jeweils auf wenige erläuternde Beispiele beschränken zu dürfen,
da es sich ja hier nicht sowohl um die Mitteilung sprachwissenschaft-
lichen Materials, das den Sprachforschern besser und reicher zu Ge-
bote steht als mir, und das den Psychologen vielleicht als eine über-
flüssige Belastung erscheinen würde, als vielmehr lediglich um die
notwendige Exemplifikation der an der Sprache nachgewiesenen
oder wahrscheinlich gemachten psychischen und psychophysischen
Vorgänge handelt. Tiefer greifende Umarbeitungen hat im ersten
Teil namentlich das Kapitel über den Lautwandel, im zweiten die
Darstellung der Wortformen und teilweise die des Satzes erfahren.
Für viele kritische Bemerkungen und Berichtigungen im einzelnen
bin ich den zahlreichen Besprechungen, ' die dieses Werk von
linguistischer Seite erfahren hat, verpflichtet. Besonders habe ich
den Schriften von B. Delbrück über ,, Grundfragen der Sprachforschung''
und von L. Sütterlin über ,,das Wesen der sprachlichen Gebilde",
die beide aus Anlaß dieses Werkes erschienen sind, manche Anregungen
zu Verbesserungen und Umarbeitungen entnehmen können, wofür
ich diesen Forschern aufrichtig dankbar bin. Freilich sind diese Ver-
besserungen, wenn sie als solche anerkannt werden sollten, nur zu
einem kleinen Teil Zugeständnisse, die ich dem, wie mir scheint, etwas
allzu einseitig historischen Standpunkt der genannten Autoren machen
durfte. In der Mehrzahl der Fälle habe ich mich vielmehr genötigt
gesehen, eben einem solchen einseitigen Historismus gegenüber das
Recht der psychologischen Betrachtung zu wahren und wenn mög-
lich eingehender, als es vielleicht da und dort in der ersten Auflage
geschehen war, zu begründen. Hoffentlich wird aber der billig denkende
X Vorwort.
Leser nicht verkennen, daß ich den Wert der Sprachgeschichte darum
wahrlich nicht gering achte, sondern daß ich, wo sie uns zugänglich
ist, hier wie überall im Grebiet der geistigen Vorgänge das geschicht-
liche Werden der Erscheinungen als die Grundlage ansehe, auf der
sich erst die psychologische Untersuchung erheben kann. Doch mit
der bloßen Geschichte läßt sich, wie ich glaube, ebensowenig wie mit
reiner Psychologie ein tieferes Verständnis der sprachlichen Entwick-
lungen gewinnen, sondern beide müssen zusammenwirken. Für das
Gebiet der indogermanischen Sprachgeschichte bin ich in dieser Be-
ziehung meinem verehrten Kollegen K. Brugmann für viele berich-
tigende und ergänzende Bemerkungen zu besonderem Dank ver-
pflichtet.
Leipzig, März 1904 und Juni 191L
W. Wundt.
Inhalt.
Seite
Einleitung 1
I. Aufgaben und Nachbargebiete der Völkerpsychologie 1
IL Grundbegriffe der Völkerpsychologie 7
1. Volksgeist und Volksseele 7
2. Vorgeschichte und Geschichte 11
3. Der Einzelne und die Gemeinschaft 18
III. Zur Entwicklungsgeschichte der Völkerpsychologie . . 25
IV. Hauptgebiete der Völkerpsychologie 36
Erstes Buch.
Die Sprache.
Erstes Kapitel. Die Ausdrucksbewegungen 43
I. Allgemeine Bedeutung der Ausdrucksbewegungen ... 43
IL Verhältnis der Ausdrucksbewegungen zu den Gefühlen
und Affekten 50
1. Einfache Gefühlsformen 50
2. Gefühlsverlauf der Affekte 57
3. Innervation der Ausdrucksbewegungen , 66
4. Sensorische Rückwirkungen der Ausdrucksbewegungen. ... 77
III. Prinzipien der Ausdrucksbewegungen 81
1. Herbert Spencers physiologische Theorie 81
2. Darwins Prinzip der zweckmäßig assoziierten Gewohnheiten 85
3. Versuche einer psychologischen Theorie 92
4. Allgemeines psychophysisches Prinzip der Ausdrucksbewegungen 97
IV. Intensitätsäußerungen der Affekte 98
1. Ausdrucksbewegungen starker Affekte 98
2. Beteiligung einzelner Muskelgebiete an den Intensitätssym-
ptomen 101
3. Vasomotorische Intensitätssymptome 103
V. Qualitätsäußerungen der Affekte 107
1. Gefühle als Grundlagen der Qualitätssymptome ...... 107
2. Mechanismus der mimischen Ausdrucksbewegungen 108
3. Mimische Symptome der Lust- und Unlustgefühle 111
4. Mimische Symptome der Spannungs- und Lösungsgefühle . . 117
5. Theorie der mimischen Ausdrucksbewegungen 123
XII Inhalt.
Seite
VI. Vorstellungsäußerungen der Affekte 131
1. Verhältnis der Vorstellungsäußerungen zu den andern Affekt-
symptomen 131
2. Haupt formen pantomimischer Bewegungen 133
3. Theorie der pantomimischen Bewegungen 136
4. Verbindungen und Übergänge zwischen verschiedenen Aus-
drucksformen 140
Zweites Kapitel. Die Gebärdensprache 143
I. Die Entwicklungsformen der Gebärdensprache 143
1. Begriff und allgemeine Eigenschaften der Gebärdensprache . 143
2. Gebärdensprache der Taubstummen 145
3. Gebärdensprache bei den Naturvölkern 152
4. Überlieferte Gebärdezeichen bei den europäischen Kultur-
völkern 154
5. Gebärdezeichen der Zisterziensermönche 159
II. Grundformen der Gebärden 162
1. Psychologische Klassifikation der Gebärden 162
2. Hinweisende Gebärden 165
3. Nachbildende Gebäi'den , 170
4. Mitbezeichnende Gebärden 178
5. Symbolische Gebärden 182
III. Vieldeutigkeit und Bedeutungswandel der Gebärden 200
1. Unbestimmtheit der Begriffskategorien 200
2. Begriffsübertragungen und Bedeutungswandel der Gebärden 208
IV. Syntax der Gebärdensprache 216
1. Gebärdenfolge der Taubstummen 216
2. Gebärdenfolge der Indianer 223
3. Psychologische Ursachen der Gebärdensyntax 226
V. Psychologische Entwicklung der Gebärdensprache. . . 231
1. Ursprung der Gebärdensprache aus den Ausdrucksbewegungen 231
2. Die Gebärde und die Anfänge der bildenden Kunst .... 238
3. Gebärdensprache und Bilderschrift 240
4. Psychologischer Charakter der Gebärdensprache 252
Drittes Kapitel. Die Sprachlaute 258
I. Stimmlaute im Tierreich 258
1. Stimmlaute als Ausdrucksbewegungen 258
2. Allgemeine Entwicklung der Ausdruckslaute 262
3. Tonmodulationen als Ausdrucksformen bei Tieren 265
4. Tonmodulation und Lautartikulation beim Menschen .... 272
II. Sprachlaute des Kindes ■ 283
1. Stadien der Lautbildung beim Kinde 283
2. Angebliche Worterfindung des Kindes 290
3. Psychophysische Bedingungen der individuellen Sprachentwick-
lung 304
Inhalt. XIII
Seite
4. Psychologische Eigenschaften der kindlichen Sprache 310
5. Lautvertauschungen und Lautverstümmelungen in der Kinder-
sprache 314
III. Naturlaute der Sprache und ihre Umbildungen .... 319
1. Primäre und sekundäre Interjektionen 319
2. Wortformen mit Affektbetonung: Vokativ und Imperativ . . 322
3. Naturlaute als Grundbestandteile von Wortbildungen .... 325
IV. Lautnachahmungen in der Sprache 329
1. Schallnachahmungen und Lautbilder 329
2. Allgemeine Bedeutung der Lautnachahmung 337
3. Lautgebärden zur Bezeichnung der Artikulationsorgane . . . 345
4. NatiMiche Lautmetapheni 348
a. Lautmetaphem in den Wörtern für Vater und Mutter . 351
b. Lautmetaphern in Ortsadverbien und Pronominalformen 354
c. Korrespondierende Laut- und Bedeutungsvariationen bei
Tätigkeitsbegriffen 359
5. Psychologische Entstehung der Lautgebärden und Lautmeta-
phern 367
Viertes Kapitel. Der Lautwandel 373
I. Die Lautgesetze in der Sprachwissenschaft 373
1. Das Postulat der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze .... 373
2. Teleologische Hypothesen über die Ursachen der Lautände-
rungen 376
3. Annahme physischer und psychischer Momente der Lautent-
wicklung 380
4. Komplikation der Ursachen des Lautwandels 382
IL Individuelle und generelle Formen der Lautänderung 385
1. Lautwandel und Lautwechsel 385
2. Spielraum der normalen Artikulationen 388
3. Störungen der Lautbildung 390
a. Lauterschwerungen 391
b. Lautvermengungen 393
c. Wortvermengungen 398
4. Sprachmischungen und Mischsprachen 404
5. Grundformen des generellen Lautwandels 411
III. Assoziative Kontaktwirkungen der Laute 419
1. Regressive und progressive Lautinduktion 419
2. Theorie der Kontaktwirkungen 424
a. Ästhetische, teleologische und psychologische Deutungen . 424
b. Psychophysische Theorie der Lautinduktion 431
IV. Assoziative Fernewirkungen der Laute 441
1. Allgemeine Formen assoziativer Fernewirkung 441
2. Grammatische Angleichungen 443
« a. Innere grammatische Angleichungen 443
b. Äußere grammatische Angleichungen 445
XIV Inhalt.
Seite
3. Begriffliche Angleichungen 448
a. Angleichung durch Begriffsverwandtschaft 448
b. Angleichung durch Kontrast der Begriffe 449
c. Komplikationen der Angleichungs Vorgänge 451
4. Psychologische Theorie der assoziativen Fernewirkungen . , . 453
a. Entstehung der Fernewirkungen aus elementaren Asso-
ziationen 453
b. Psychologische Analyse der vier Hauptformen der Laut-
angleichung 462
6. Physiologische Einflüsse bei den Lautangleichungen 467
V. Laut- und Begriffsassoziationen bei Wortentlehnungen 469
1. Haupt formen der Wortentlehnung 469
2. Wortentlehnungen mit reiner Lautassoziation ........ 471
3. Wortentlehnungen mit Begriffsassoziationen 474
a. Wortassimilationen mit begrifflichen Nebenwirkungen . , . 476
b. Wortassimilationen mit Begriffsumwandlungen 479
4. Beziehungen der Wortentlehnungen zu den andern assoziativen
Femewirkungen 481
VI. Regulärer Lautwandel 484
1. Allgemeine Bedingungen des regulären Lautwandels . . . . , 484
2. Einfluß der Naturumgebung 488
3. Einflüsse der Kultur 490
4. Sprachmischungen 494
5. Tempo der Rede und Wortbetonung 497
a. Allgemeine Wirkungen der Artikulationsgeschwindigkeit . . 497
b. Vokalkontraktionen und Lautschwächungen 500
c. Lautänderungen der Verschlußlaute 502
d. Lautänderungen unter Einfluß des Akzentwechsels .... 517
6. Zur Theorie des regulären Lautwandels 522
a. Physische, psychophysische und psychische Hypothesen . . 522
b. Der reguläre Lautwandel als resultierende Wirkung der singu-
lären Lautänderungen 528
VII. Allgemeiner Rückblick auf die Vorgänge des Laut-
wandels 537
Fünftes Kapitel. Die Wortbildung 641
I. Psychophysische Bedingungen der Wortbildung .... 541
1. Zentrale Störungen der Wortbildung 641
2. Hypothesen über die physischen Substrate der Wortbildung 546
3. Unzulänglichkeit der Lokalisationshypothesen 549
4. Physiologische und pathologische Amnesie 551
5. Erscheinungen der Paraphasie 555
6. Psychophysisches Prinzip der Funktionsübung 558
7. Psychologische Deutung der zentralen Sprachstörungen . . . 561
Inhalt. XV
belle
II. Psychologie der Wortvorstellungen 568
1. Psychische Struktur der Wortvorstellungen 568
2. Tachistoskopische Methode 575
3. Erscheinungen bei kurz dauernder Einwirkung von Wort-
bildem 580
4. Das Wort als simultane Vorstellung 584
5. Psychologische Analyse der Wortassimilationen 589
6. Apperzeption des Wortes als Einzelvorstellung 593
III. Stellung des Wortes in der Sprache 594
1. Grund- und Beziehungselemente des Wortes 594
2. Wurzeln der Sprache 596
3. Unterscheidung von Sprachtypen auf Grund der Wurzeltheorie 598
4. Reale Bedeutung der Sprachwurzeln 603
5. Wort und Satz 609
6. Ursachen der Wort sonderung 612
IV. Neubildung von Wörtern 615
1. Volkstümliche Neubildungen 615
2. Gelehrte Neubildungen 622
V. Wortbildung durch Lautverdoppelung 627
1. Allgemeine Formen der Lautverdoppelung 627
2. Bedeutungsarten der Lautverdoppelung 632
a. Verdoppelung zum Ausdruck sich wiederholender Vor-
gänge 632
b. Verdoppelung bei Kollektiv- und Mehrheitsbegriffen . . . 635
c. Verdoppelung zur Steigerung von Eigenschaftsbegriffen . . 637
d. Verdoppelung als Steigerungsform der Verbalbegriffe . . , 638
3. Psychologisches Schema der Verdoppelungsformeri 642
4. Psychologische Theorie der Verdoppelungsformen 643
VI. Wortbildung durch Zusammensetzung 652
1. Begriff und Hauptformen der Wortzusammensetzung .... 652
2. Sprachliche Formen der Wortzusammensetzung 658
3. Laut- und Bedeutungsänderungen der Komposita 664
4. Theorie der Wortzusammensetzung und Wortverschmelzung 667
VII. Ursprüngliche Wortbildung 671
1. Verhältnis der ursprünglichen zu den sekundären Wortbil-
dungen 671
2. Wortbildungen bei der Entstehung neuer Sprachen aus voran-
gegangenen 674
Register 678
Einleitung.
I. Aufgaben und Nachbargebiete der Völker-
psychologie.
Die Psychologie in der gewölinlichen und allgemeinen Bedeutung
dieses Wortes sucht die Tatsachen der unmittelbaren Erfahrung,
wie sie das subjektive Bewußtsein uns bietet, in ihrer Entstehung
und in ihrem wechselseitigen Zusammenhang zu erforschen. In
diesem Sinne ist sie Individualpsychologie. Sie verzichtet
durchgängig auf eine Analyse jener Erscheinungen, die aus der geistigen
Wechselwirkung einer Vielheit von Einzelnen entspringen. Eben
deshalb bedarf sie aber einer ergänzenden Betrachtung, die wir der
Völkerpsychologie zuweisen. Demnach besteht die Aufgabe
dieses Teilgebiets der Psychologie in der Untersuchung derjenigen
psychischen Vorgänge, die der allgemeinen Entwicklung
menschlicher Gemeinschaften und der Entstehung ge-
meinsamer geistiger Erzeugnisse von allgemeingültigem
Werte zugrunde liegen.
Indem die Völkerpsychologie den Menschen in allen den Be-
ziehungen, die über die Grenzen des Einzeldaseins hinausreichen und
auf die geistige Wechselwirkung als ihre allgemeine Bedingung zurück-
führen, zu ihrem Gegenstande nimmt, bezeichnet nun aber freilich
jener Name nur unvollständig ihren Inhalt. Der Einzelne ist nicht
bloß Mitglied einer Volksgemeinschaft. Als nächster Kreis umschließt
ihn die Familie; durch den Ort, den Geburt und Lebensschicksale
ihm anweisen, steht er inmitten noch anderer, mannigfach sich durch-
wandt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. 1
2 Einleitung.
kreuzender Verbände, deren jeder wieder von der erreichten beson-
deren Kulturstufe mit ihren Jahrtausende alten Errungenschaften
und Erbschaften abhängt. Alles das wird durch den Ausdruck „Völker-
psychologie" natürlich nur unvollkommen angedeutet, und es könnte
darum vielleicht sinngemäßer scheinen, der individuellen eine ,, so-
ziale" Psychologie gegenüberzustellen. Doch würde diese Bezeichnung
wiederum wegen der Bedeutung, die man dem Begriff der „Sozio-
logie" bereits angewiesen hat, Mißverständnissen begegnen können.
Auch ist auf den höheren Kulturstufen das Volk jedenfalls der wich-
tigste der Lebenskreise, aus denen die Erzeugnisse gemeinsamen
geistigen Lebens hervorgehen. Wir werden daher den Namen ,, Völker-
psychologie" hier um so mehr beibehalten, als er in einem dem hier
angewandten annähernd entsprechenden Sinne nun einmal eingeführt
ist. Allerdings pflegt man dabei, von der unmittelbaren Bedeutung
des Wortes ausgehend, mit diesem Namen noch einen spezielleren
Begriff zu verbinden, indem darunter eine Charakteristik der geistigen
Eigentümlichkeiten der einzelnen Völker verstanden wird. In
der Tat ist eine nach diesem Plan ausgeführte psychische Ethnologie
neben Sprachwissenschaft, Mythen- und Sittengeschichte eine unent-
behrliche Grundlage der Völkerpsychologie. Zugleich teilt sie aber
mit diesen historischen Hilfsgebieten die Eigenschaft, daß sie sich
selbst hinwiederum überall auf die allgemeinen Gesetze des geistigen
Zusammenlebens, also auf das Forschungsgebiet, das wir hier der
Völkerpsychologie vorbehalten, angewiesen sieht. Diesem Verhält-
nis läßt sich zweckmäßig wohl dadurch Ausdruck geben, daß man
jenen psychischen Teil der Ethnologie als eine spezielle Völker-
psychologie der allgemeinen gegenüberstellt, mit der sich die folgen-
den Betrachtungen beschäftigen.
Ein wesentlich anderer Gesichtspunkt ist dagegen für die Ab-
grenzung der historischen Disziplinen gegenüber der Völkerpsycho-
logie maßgebend. Natürlich gehören die völkerpsychologischen Er-
scheinungen, insofern sie an der allgemeinen geschichtlichen Ent-
wicklung der Menschheit teilnehmen, sämtlich auch zum Inhalt der
Geschichte. Aber während die letztere den ganzen Umfang der phy-
sischen und geistigen Bedingungen ins Auge faßt, aus denen diese
Entwicklung entspringt, um sie danach in ihrem tatsächlichen Ver-
Aufgaben und Nachbargebiete der Völkerpsychologie. 3
laufe zu schildern, zergliedert die Völkerpsychologie die Erschei-
nungen nur mit Rücksicht auf die in ihnen hervortretenden psycho-
logischen Zusammenhänge und Gesetze. Sie verhält sich also annähernd
ähnlich zur Völkergeschichte, wie die Individualpsychologie zur
historischen Biographie. Insbesondere auf jenen Gebieten, die sich,
wie Sprach-, Mythen- und Sittengeschichte, mit dem Inhalt der Völker-
psychologie am nächsten berühren, scheiden sich deshalb die Auf-
gaben ziemlich scharf schon nach dem äußeren Merkmal, daß die
Erscheinungen von dem Augenblick an der Geschichte zufallen, wo
sie zu einem wesentlichen Teile durch das persönliche Eingreifen
Einzelner zustande kommen. Darum gehört die Geschichte der
individuellen geistigen Schöpfungen in Literatur, Kunst und
Wissenschaft nicht zur Völkerpsychologie. Denn es ist die Haupt-
aufgabe der Geschichte auf allen diesen Gebieten, das Zusammen-
wirken der Natur- und Kulturbedingungen sowie der psychischen
Anlagen der Völker mit der persönlichen Begabung und Betätigung
Einzelner in ihrem inneren Zusammenhange verständlich zu machen.
Insoweit bei der Lösung dieser Aufgabe psychologische Momente
von allgemeiner Natur zur Geltung kommen, sind es mehr solche,
die der psychischen Ethnologie als der allgemeinen Völkerpsycho-
logie angehören. Von den Gebieten der Kulturgeschichte ist es be-
sonders die Urgeschichte, mit der sich jene berührt. Auch von
ihr wird sie jedoch durch die abweichende Eichtung ihrer Interessen
geschieden. Die Urgeschichte hat ihren Blick der Geschichte zu-
gewandt: die Zeugnisse, die Sprache, Mythen und sonstige Volks-
überlieferungen an die Hand geben, sucht sie, ebenso wie physische
und geographische Merkmale, zu verwerten, um die Geschichte über
die durch die historischen Überlieferungen gesteckten Grenzen hinaus
zu ergänzen. Die Völkerpsychologie hat dagegen ihr Augenmerk auf
die psychologische Gesetzmäßigkeit des Zusammenlebens selber ge-
richtet. Die lokalen und nationalen Unterschiede seiner Gestaltung
sind ihr gleichgültig, insoweit sie nicht in irgendeiner Weise auf jene
Gesetzmäßigkeit Licht werfen. So kann für sie eine konkrete Sprach-
form von Interesse sein, weil sich in ihr gewisse allgemein mensch-
liche Gesetze der Sprachentwicklung in charakteristischer Weise
äußern. Doch dies Interesse hört auf, sobald etwa eine solche Form
1*
4 Einleitung.
als Merkmal einstigen Zusammenhangs verschiedener Völker benutzt
wird, ein Punkt, wo nun umgekehrt die Erscheinung für den Geschichts-
forscher ihren Hauptwert gewinnt. Dieses Verhältnis ergibt sich eben
mit Notwendigkeit daraus, daß die Völkerpsychologie nichts anderes
sein will als eine Erweiterung und Fortsetzung der Psychologie auf
die Phänomene gemeinsamen Lebens.
In dieser Aufgabe liegt nun zugleich ein Grund dafür, daß ihre
Abgrenzung gegen die historischen Nachbargebiete niemals eine ab-
solute sein kann. Denn der Punkt, wo die Einflüsse individueller
Willensbetätigung beginnen oder aufhören, bleibt nicht selten un-
bestimmbar; vor allem aber bilden die Wechselwirkungen zwischen
den Individuen und der Gemeinschaft selbst wesentliche Faktoren
der völkerpsychologischen Entwicklimgen. Dies erhellt schon daraus,
daß das geistige Leben einer Gemeinschaft mit dem Leben der Ein-
zelnen, die ihr angehören, unauflöslich zusammenhängt, und daß
daher alle die geistigen Erzeugnisse, die wir auf die Gemeinschaft
als solche zurückführen, wenn sie auch ohne das Zusammenleben und
seine Wechselwirkungen nicht möglich sein würden, doch in den indi-
viduellen Eigenschaften ihre letzte Quelle haben. Gleichwohl gibt
es zwei Merkmale, an denen das, was wir im Leben eines Volkes ein
,, gemeinsames" Erzeugnis nennen, von einer individuellen Schöpfung
prinzipiell stets zu unterscheiden ist. Das erste besteht darin, daß
an jenem unbestimmt viele Glieder einer Gemeinschaft in einer Weise
mitgewirkt haben, welche die Zurückführung auf bestimmte Indivi-
duen ausschließt. Das zweite ist dies, daß die gemeinsamen Erzeug-
nisse in ihrer Entwicklung zwar mannigfache, zumeist geschichtlich
bedingte Unterschiede darbieten, trotz dieser Mannigfaltigkeit aber
gewisse allgemeingültige Entwicklungsgesetze erkennen lassen;
und diese sind es dann, in deren Auffindung die Völkerpsychologie
ihre letzte und wichtigste Aufgabe sieht.
Neben Ethnologie und Geschichte gibt es endlich noch ein drittes
Gebiet, das sich mit der Völkerpsychologie berührt: die Soziologie.
Die Frage, was die Soziologie sei, welche Stellung sie innerhalb der
sonstigen, die gesellschaftliche Existenz des Menschen voraussetzen-
den Arbeitsgebiete zu übernehmen habe, ist freilich noch eine um-
strittene. Ihre Aufgabe läßt sich daher vorläufig aus ihr selbst nicht.
Aufgaben und Nachbargebiete der Völkerpsychologie. 5
entnehmen, da sie noch nicht in einer allgemein anerkannten Form
existiert. So bleibt denn nichts übrig, als umgekehrt nach den Be-
dürfnissen zu fragen, die sich von bestimmten, bereits vorhandenen
Wissensgebieten aus im Sinn einer allgemeineren, deren eigene Grenzen
überschreitenden Gesellschaftswissenschaft erheben. Unter diesem
Gesichtspunkt ist nun wohl vor allen Dingen festzuhalten, daß die
Soziologie, wenn man sie nach dieser Bedürfnisfrage bemißt, keine
philosophische Wissenschaft ist, so oft auch der Versuch gemacht
wurde, sie als eine solche aufzufassen. In Wahrheit ist die philo-
sophische Soziologie von Auguste Comte und Herbert Spencer an
bis auf die neuesten ähnlichen Versuche durchaus nichts anderes
als eine Geschichtsphilosophie unter neuem Namen. Denn es ist ja
selbstverständlich, daß die Geschichtsphilosophie immer zugleich
eine Philosophie der menschlichen Gesellschaft sein muß, daß sich
aber diese eben wegen des allgemeinen Gedankeninhalts, dem die
philosophische Betrachtung die gesellschaftlichen Erscheinungen ein-
ordnet, stets zu einer philosophischen Beleuchtung der geschicht-
lichen Entwicklung der Menschheit erweitert. Ganz abseits von einer
solchen philosophischen liegt jedoch die empirische Aufgabe, die ge-
sellschaftHchen Erscheinungen in ihrem gesamten Zusammenhang
und mit Rücksicht auf die Beziehungen, in denen sie zueinander
stehen, zu beschreiben und auf ihre Bedingungen zurückzuführen.
Die Soziologie in diesem Sinn ist eine Zustandsschilderung der
Gesellschaft innerhalb bestimmter zeitlicher und räumlicher Grenzen.
Sie steht einerseits mit der Geschichte, anderseits mit den einzelnen
sozialen Wissenschaften, Rechts-, Wirtschafts-, Staatslehre, in enger
Verbindung. Ihre Aufgaben greifen teils in alle diese Einzelgebiete
ein, teils bringt sie in der Untersuchung der Verhältnisse der verschie-
denen Faktoren des gesellschaftlichen Lebens zueinander eine neue
und eigenartige Aufgabe hinzu. Für diese bietet vornehmlich die
Statistik der Bevölkerungserscheinungen das erforderliche Material.
Von der Geschichte scheidet sich aber eine solche empirische So-
ziologie dadurch, daß jene die ganze Aufeinanderfolge der Zustände
samt den Ereignissen, die den Wechsel der Zustände herbeiführten,
zu ihrem Objekt hat, während diese gewissermaßen Querschnitte durch
einzelne Stellen dieses fortan sich verändernden organischen Ganzen
6 Einleitung.
ZU legen sucht. Dabei konzentriert sich wiederum naturgemäß das
vorwaltende soziologische Interesse auf bestimmte Epochen, unter
denen die Zustände der Gegenwart um so mehr im Vordergrund
stehen, als für sie allein die Hilfsmittel der Untersuchung ausgebildet
genug sind, um die Ergebnisse einer gewissen Exaktheit nahe zu
bringen^). Nun ist es klar, daß eine empirische Soziologie in diesem
Sinne in dem Maße, als sie von den ihr zunächst obliegenden deskrip-
tiven Aufgaben zu einer Interpretation der Erscheinungen fortschreiten
will, nach manchen, die physische Seite des Zusammenlebens betreffen-
den Eichtungen mit gewissen Teilen der Naturwissenschaft, nach
andern mit der Individual- und Völkerpsychologie in Beziehung tritt.
Aber diese psychologischen wie jene naturwissenschaftlichen Gebiete
können dabei nur als Hilfsdisziplinen einer solchen die gesellschaft-
lichen Verhältnisse interpretierenden Soziologie gedacht werden.
Dagegen ist es völlig unfaßbar, wie etwa umgekehrt die Soziologie
eine Grundlage der Völkerpsychologie werden sollte. Wenn daher
behauptet worden ist, die dieser zugewiesene Aufgabe sei eigentlich
das rechtmäßige Eigentum einer zukünftigen Soziologie, oder die letz-
tere müsse mindestens erst gefestigt sein, ehe sich daran denken lasse,
nun von ihr aus zu einer ihr untergeordneten sozialen Psychologie,
zu gelangen, so zeigen diese Äußerungen, daß man weder von dem,
was allenfalls eine Soziologie, noch von dem, was die Völkerpsycho-
logie zu leisten hat, eine klare Vorstellung besitzt. Hinsichtlich der
Soziologie mag das angesichts der noch bestehenden Unsicherheit
ihres Programms entschuldbar sein. Nicht so für die Völkerpsycho-
logie, wo in den allgemein menschlichen Erzeugnissen, besonders
^) Vgl. über diese Aufgaben der Soziologie neben und über den einzelnen
Gesellschaftswissenschaften, wie Ethnologie, Bevölkerungslehre, Staatswissen-
schaft, die Ausführungen in meiner Logik * Bd. 3, S. 455 ff. Mit der Beschränkung,
daß die philosophische Soziologie gemeint sei, stimme ich ganz der These
Paul Barths zu, daß Soziologie und Geschichtsphilosophie eins und dasselbe
sind (Paul Barth, Die Philosophie der Geschichte als Soziologie, Bd. I, 1897,
S. 10 ff.). Aber die These verliert, wie ich meine, ihr Recht, wenn man den Be-
griff der Soziologie im Sinne einer empirischen Gesellschaftswissenschaft auf-
faßt: dann gehört diese ebensowenig wie die Geschichte zur Philosophie, son-
dern ist höchstens neben der Geschichte als Grundlage der Geschichtsphilo-
sophie anzuerkennen.
Volksgeist und Volksseele.
in Sprache, Mythus und Religion, Sitte und Kultur, die Probleme
überall bereit liegen und schon auf Grund der allgemeinen Ergeb-
nisse, die uns die experimentelle Psychologie an die Hand gibt, zu einer
psychologischen Analyse und Interpretation herausfordern.
II. Grundbegriffe der Völkerpsychologie.
1. Volksgeist und Volksseele.
Geist und Seele sind Wechselbegriffe, deren Bedeutungsentwick-
lung, wenn sie auch erst einer späteren Zeit angehört, dennoch bis
in das mythologische Denken zurückreicht. Geister, nicht Seelen,
nennt der Aberglaube noch heute die körperlos, aber gleichwohl
materiell gedachten Schatten der Verstorbenen oder jene höheren
Wesen, von denen er annimmt, sie seien nie an einen Körper gebunden
gewesen. Die Seele gilt ihm zwar auch als ein besonderes Wesen,
das beim Tode den Körper verlasse; doch sobald dies geschehe, ent-
schwinde sie zugleich der sinnlichen Anschauimg. Wo sie in dieser
bleibt, da wird sie eben zum Geiste. Darum ist die Seele für den Volks-
glauben nur in ihrer Gebundenheit an den Leib der Erfahrung zu-
gänglich. Getrennt von ihm existiert sie nur in einer über-
irdischen Welt. Die Geister dagegen sind Wesen, die ebensowohl
in der Umgebung der Lebenden wie jenseits derselben ein selbstän-
diges Dasein führen.
Diese Unterscheidungen des mythologischen Denkens wirken
deutlich noch in dem uns geläufigen wissenschaftlichen Gebrauch
der Begriffe nach. Vom Geist und von geistigen Vorgängen reden
wir überall da, wo an irgendwelche Beziehungen zur körperlichen
Natur nicht gedacht, oder wo geflissentlich von ihnen abgesehen wird.
Bei der Seele und den seelischen Vorgängen sind uns dagegen stets
zugleich die Beziehungen zum physischen Leben gegenwärtig. Darum
übersetzen wir mit gutem Recht das Wort Psychologie durch ,, Seelen-
lehre", während wir den Naturwissenschaften die ,, Geisteswissen-
schaften" gegenüberstellen. Die Psychologie kann nun unmöglich
an den Beziehungen des Seelenlebens zum körperlichen Sein vorüber-
gehen. Denn empirisch ist uns die Seele überhaupt in einem Zusammen-
8 Einleitung.
hang von Erfahrungen gegeben, die zu ihrem Zustandekommen einen
physischen Organismus von gewissen Eigenschaften fordern. Diese
Beziehung zur Naturseite der Erscheinungen gilt zwar auch für die
sämtlichen sogenannten Geisteswissenschaften. Aber da bei ihnen
doch bald mehr, bald weniger diese Naturseite außer Betracht bleibt,
so scheint es berechtigt, eine solche Rücksichtnahme auf physische
Bedingungen und Wirkungen hier nur stillschweigend hinzuzudenken,
um die Beziehungen zu dem geistigen Leben als das allen diesen Ge-
bieten gemeinsame und sie von der Naturforschung scheidende Merk-
mal zu betonen. Wie die Psychologie überhaupt, so hat es daher auch
die Völkerpsychologie, insofern die für jene maßgebenden Bedingungen
notwendig für sie gleichfalls gelten, mit der Seele, nicht mit dem
Geiste in der diesen unterscheidenden Bedeutung des Wortes zu tun.
Nur greift sie die besonderen Erscheinungen heraus, die an die Be-
dingungen des menschlichen Zusammenlebens gebunden sind. Sie
wird daher sinngemäß eine ,, Lehre von der Volksseele" zu nennen
sein. Vom ,, Volksgeiste" werden wir dagegen, wie es auch der Sprach-
gebrauch bestätigt, dann reden können, wenn es sich um eine Charakte-
ristik der geistigen Eigentümlichkeiten eines bestimmten Volkes
oder verschiedener Völker handelt. Eine solche Untersuchung würde
demnach nicht der eigentlichen Völkerpsychologie, sondern einer
Charakterologie der Völker oder dem psychologischen Teil der Ethno-
logie zufallen.
Nicht selten hat man freilich gegen die Berechtigung einer Völker-
psychologie Bedenken erhoben, die eben an jene Vorstellungen an-
knüpfen, von denen die Unterscheidung der Begriffe Seele und Geist
ursprünglich ausgegangen ist. „Wenn wir eine Seele als Substrat
der geistigen Lebensäußerungen eines Individuums voraussetzen",
sagt man, „so entspricht das ebenso dem Gebundensein dieser Lebens-
äußerungen an einen bestimmten physischen Körper, wie der Un-
möglichkeit, aus den Eigenschaften des letzteren die seelischen Vor-
gänge abzuleiten. Wo aber soll eine Volksseele ihren Sitz haben?
So wenig es einen einzigen einheitlichen Volkskörper gibt, ebenso
undenkbar erscheint ein einheitliches Substrat des gemeinsamen
geistigen Lebens. Wie vielmehr der Volkskörper aus nichts anderem
als aus den Körpern aller einzelnen Volksgenossen besteht, gerade
Volksgeist und Volksseele. 9
so löst sich die sogenannte Volksseele ohne Rest in die Summe
"der Einzelseelen auf, die diesen Volksgenossen angehören. Sie
ist ein Geschöpf der mythologischen Phantasie, keine Wirk-
lichkeit."
Es ist jedoch augenfällig, daß diejenigen, die diese Einwände
erheben, selbst in jener mythologischen Vorstellungsweise befangen
sind, die sie hinter dem Ausdruck Volksseele verborgen wähnen.
Der Begriff ,, Seele" ist für sie so untrennbar an den eines substan-
tiellen, mit einem eigenen Körper ausgestatteten Wesens geknüpft,
daß ihnen jeder Wortgebrauch, der ihm diese Bedeutung raubt, für
unerlaubt gilt. Da die Völkerpsychologie nicht der geeignete Ort ist,
um an metaphysischen Hypothesen Kritik zu üben, so können wir
Tins hier mit dem Hinweis begnügen, daß, wie wichtig auch im meta-
physischen Interesse die Frage nach der Bedeutung des Begriffs einer
substantiellen Seele sein mag, die empirische Psychologie als solche
an dieser Frage gänzlich unbeteiligt bleibt. Denn wie man auch über
<iie Notwendigkeit denkt, zu dem Gesamtinhalt dessen, was wir das
seelische Leben nennen, eine transzendente Substanz als Trägerin
vorauszusetzen, gewiß ist, daß wir es in der Erfahrung niemals mit
einer solchen zu tun haben, und daß, wo man etwa über diesen Punkt
anders dachte, die Voraussetzungen über die Seelensubstanz ent-
weder sich als unnütze metaphysische Ornamente erwiesen oder zu
zweifelhaften, wenn nicht direkt der Erfahrung widerstreitenden
Folgerungen führten. Für die empirische Psychologie kann die Seele
nie etwas anderes sein als der tatsächlich gegebene Zusammenhang
der psychischen Erlebnisse, nichts, was zu diesen von außen oder von
innen hinzukommt^).
Aus allem dem folgt, daß der Begriff ,, Seele" keine andere em-
pirische Bedeutung hat als die, den Zusammenhang der unmittel-
baren Tatsachen unseres Bewußtseins oder, wie wir diese der Kürze
wegen nennen wollen, der ,, psychischen Vorgänge" selbst zu bezeichnen.
Natürlich kann auch die Völkerpsychologie den Seelenbegriff nur in
<iiesem empirischen Sinne gebrauchen; und es ist einleuchtend, daß
in ihm die ,, Volksseele" genau mit demselben Recht eine reale Bedeutung
1) Vgl. meine Kleinen Schriften, Bd. 2, S. 145 ff.
10 Einleitung.
besitzt, wie die individuelle Seele eine solche für sich in Anspruch
nimmt. Die geistigen Entwicklungen, die durch das Zusammenleben
der Glieder einer Volksgemeinschaft entstehen, sind nicht minder
tatsächliche Bestandteile der Wirklichkeit wie die psychischen Vor-
gänge innerhalb des Einzelbewußtseins. Sie sind allerdings nichts,
was jemals außerhalb individueller Seelen vor sich gehen könnte.
Aber wie nicht die psychischen Elemente im isolierten Zustande,
sondern ihre Verbindungen und die hieraus entspringenden Produkte
das bilden, was wir eine Einzelseele nennen, so besteht die Volks-
seele im empirischen Sinne nicht aus einer bloßen Summe indivi-
dueller Bewußtseinseinheiten, deren Kreise sich mit einem Teil ihres
Umfangs decken; sondern auch bei ihr resultieren aus dieser Ver-
bindung eigentümliche psychische und psychophysische Vorgänge,
die in dem Einzelbewußtsein allein entweder gar nicht oder min-
destens nicht in der Ausbildung entstehen könnten, in der sie sich
infolge der "Wechselwirkung der Einzelnen entwickeln. So ist die
Volksseele ein Erzeugnis der Einzelseelen, aus denen sie besteht;
aber diese sind nicht minder Erzeugnisse der Volksseele, an der sie
teilnehmen. Es wiederholt sich hier, was bei solchen Begriffsbildungen,
die nicht bestimmte Objekte, sondern verwickelte Verbindungen
und Beziehungen von Tatsachen ausdrücken, zumeist geschieht:
die Begriffe erfahren je nach den Gebieten ihrer Anwendung not-
wendige Modifikationen. Ähnlich wie wir kein Bedenken tragen,
den Staat einen ,, Organismus" zu nennen, ohne zu übersehen, daß
dem Begriff in dieser neuen Bedeutung nicht alle Merkmale zukommen,
die seiner ursprünglichen Anwendung auf lebende organische Einzel-
wesen eigen sind, und daß er dagegen dort Merkmale annimmt, die
ihm hier fehlen, — ähnlich verhält es sich mit der ,, Volksseele''. Der
individuellen Seele gegenüber bezeichnet sie sowohl eine Erweiterung
wie eine Verengerung des Begriffs: eine Erweiterung, da bei dieser
Übertragung gewisse Begriffselemente, namentlich die der Einzel-
seele anhaftende Beziehung auf einen physischen Einzelorganismus,
verloren gehen; eine Verengerung, indem sich aus dem Zusammen-
leben vieler Individuen besondere Bedingungen und Eigenschaften
ergeben. Hierher gehört namentlich die Beschränkung der völker-
psychologisch bedeutsamen psychischen Leistungen auf bestimmte
Vorgeschichte und Geschichte. 11
Seiten des geistigen Lebens, sowie die Tatsache, daß die völkerpsycho-
logischen Entwicklungen das individuelle Leben überdauern, dabei
aber doch, da sie von den psychischen Eigenschaften der Einzelnen
getragen sind, mit dem "Wechsel der Generationen eigenartige Ver-
änderungen erfahren. Besonders diese Kontinuität psychischer Ent-
wicklungen bei fortwährendem Untergang ihrer individuellen Träger
ist es, die als ein der Volksseele spezifisch zugehörendes Merkmal
angesehen werden kann.
2. Vorgeschichte und Geschichte.
Indem sich die Völkerpsychologie vorzugsweise mit denjenigen
Erscheinungen im Völkerleben beschäftigt, die mehr oder minder
allgemeingültiger Natur sind, und in denen ein Einfluß einzelner
Persönlichkeiten nicht äußerlich sichtbar hervortritt, liegt es nahe,
hierin den wesentlichen Unterschied ihrer Aufgaben im Verhältnis
zu denen der Geschichte zu sehen. Darnach würde die historische
Betrachtung da beginnen, wo individuelle Einflüsse, sei es, daß
sie direkt durch die Überlieferung bezeugt oder indirekt durch den
singulären Charakter des Geschehens wahrscheinlich werden, in die
Entwicklung der Völker bestimmend eingreifen; der Völkerpsycho-
logie würde aber das vor dieser entscheidenden Wendung zur Ge-
schichte liegende Stadium eines der Gesamtheit als solcher zukommen-
den Werdens zufallen. Eine solche Anschauung ließe sich dann wohl
auch im Sinne vieler Historiker mit dem Begriff der Volksseele in
Beziehung bringen, indem man der Völkerpsychologie die allgemeinen,
einem noch naturgeschichtlich bestimmten Dasein des Menschen
zugehörenden Entwicklungen der Volksseele, der Geschichte aber
diejenigen Erscheinungen zuwiese, die wesentlich von dem Eingreifen
einzelner führender Individuen in diese Entwicklung getragen seien.
Doch einer tiefer eindringenden Betrachtung hält die Grenze, die
man hier zwischen den geschichtlichen und geschichtslosen Völkern
ziehen möchte, nirgends stand. Denn die Meinung, daß das Verhält-
nis der Individuen zur Gemeinschaft vom Beginn der Geschichte an
ein neues, eigenartiges sei, das den Naturvölkern fehle, beruht auf
einer oberflächlichen Abstraktion, die über der Außenseite der Er-
12 Einleitung.
scheinimgen ihren Zusammenliang vernachlässigt. Geschichtslos
im wörtlichen Sinne ist kein noch so kulturlos gebliebener Teil der
Menschheit. Vor allem Sprache, Mythus und Sitte bezeugen überall
eine zumeist weit in die Vergangenheit zurückreichende Entwicklung,
die durch Tradition von Geschlecht zu Geschlecht sich fortpflanzt,
und in der es auch bei den primitivsten Naturvölkern an Wandlungen
nicht fehlt. Mag dieses geschichtliche Werden von dem unserer Kul-
turvölker darin abweichen, daß es nicht oder doch nicht äußerlich
sichtbar in die allgemeine Geschichte der Menschheit eingegriffen,
und daß die Stadien derselben durch keine direkte Überlieferung
fixiert worden sind, — alles das bleibt schließlich doch nur ein äußerer
Unterschied, der noch dazu in den mannigfaltigsten Gradabstufungen
zu den im engeren Sinne geschichtlichen Völkern hinüberführt. Je
mehr die Völkerkunde in die Verhältnisse der primitiven Völker ein-
dringt, um so klarer erweist sich daher die alte Vorstellung, als sei
bei ihnen Vergangenheit und Gegenwart und, falls sie sich nur selbst
überlassen blieben, auch die Zukunft ein einziger, unabänderlich gleich
bleibender Zustand, als eine Täuschung. Völkerverkehr und Völker-
mischungen haben im Leben der Menschheit niemals und nirgends
gefehlt, wenn auch der Umkreis, in dem sie sich bewegen, von sehr
verschiedener Ausdehnung sein kann. Wie diese Vorgänge in der
vorhistorischen Entwicklung unserer heutigen Kulturvölker die Grund-
lagen eben dessen gelegt haben, was ihren Eintritt in die Geschichte
möglich machte, so sind sie aber bei den Naturvölkern, die die Schwelle
der eigentlichen Geschichte nie überschritten haben, Etappen einer
Entwicklung, über die freilich keine literarische Tradition berichtet,
die wir aber aus den Zeugnissen der Sprache, aus der Verbreitung
von Werkzeugen und Waffen und, soweit der Grad der Übereinstimmung
die unabhängige Entstehung ausschließt, von Mythen und Kulten
erschließen können. So ist es im letzten Grunde allein die absicht-
liche, über weitere Zeiträume sich erstreckende Überlieferung und
ihre Bewahrung durch literarische und andere Denkmale, die die
eigentliche Geschichte und jene Vorgeschichte voneinander scheiden,
der unsere eigene Vergangenheit und die Gegenwart der sogenannten
Naturvölker angehören. Und auch hier sind diese Unterschiede fließende.
Nicht bloß bildet das Denkmal, das die Erinnerung an wichtige Er-
Vorgeschichte und Geschichte. 13
eignisse im Bilde bewahrt, lange vor der literarischen Tradition ein
zwischen Vorgeschichte und Geschichte vermittelndes Stadium:
vor allem die mündliche Überlieferung pflegt die einander nächsten
Generationen gerade da, wo die Bewahrung durch die Schrift und
durch bleibende Denkmäler fehlt, fester zu verbinden, als da, wo
diese Mittel zugleich Bedingungen mit sich führen, die abändernd
in die Überlieferung eingreifen. Das augenfälligste Zeugnis bietet
hier das allgemeinste Mittel historischer Tradition selbst, die Sprache.
Nur die literarische Überlieferung vermag es, die Sprachformen einer
weit entfernten Vergangenheit verhältnismäßig treu zu bewahren.
Kaum gibt es aber zugleich einen Einfluß, der, von Sprachmischungen
abgesehen, in höherem Grade verändernd einwirkt als die Literatur,
die die Dialekte mischt, neue Wortbildungen verbreitet und, indem
sie dem internationalen Verkehr dient, der in vorhistorischer Zeit
an die Wanderungen der Völker gebundenen Sprachmischung durch
den geistigen Verkehr neue Wege eröffnet. So ist denn in der Tat
der Naturmensch, wo die Einflüsse der Wanderungen und Mischungen
der Völker fehlen, wie die Beobachtung im Gegensatze zu früher
verbreiteten Meinungen gezeigt hat, in seiner Sprache konservativer
als der Kulturmensch; und was von ihr, das gilt nicht minder von
den Traditionen der Mythen, Märchen und Fabeln und von den all-
gemeinen Formen des Lebens. Ist die Tradition durch die Literatur
die weitaus umfassendere, so ist die Mitteilung von Mund zu Mund
die treueste. Was sie bewahrt, das bildet bei Natur- wie Kultur-
völkern ein Erbgut, das dem Wandel der Zeiten am dauerndsten
widersteht.
Tiefer greifend ist ein anderer Unterschied der primitiven von
den höheren, durch den gesteigerten Völkerverkehr vermittelten
Kulturen. Mögen Sagen und Sitten der Naturvölker noch so treu
von Generation zu Generation sich fortpflanzen, das Gedächtnis
der individuellen Träger dieser Überlieferungen schwindet schon dem
nächsten oder, wenn es hoch kommt, dem übernächsten Geschlecht.
Auch dieser Unterschied erweitert sich freilich erst dadurch zu einer
jscheinbar unüberbrückbaren Kluft, daß sich für die Betrachtung
aus der Ferne dieses Verschwinden der Erinnerung in ein Verschwin-
den der Einzelpersönlichkeit selbst umwandelt. Bei den Naturvölkern
14 Einleitung.
soll das Individuum überhaupt ohne Einfluß sein und die Masse alles
bedeuten; bei den Kulturvölkern wird der Einzelne als der in erster
Linie bestimmende Faktor der Entwicklung betrachtet. Damit ist
dann das Kriterium gegeben, das nach der im allgemeinen auch von
der Wissenschaft rezipierten Ansicht die Geschichte von den vor-
geschichtlichen Zuständen scheiden soll. Die Geschichte beginnt,
wie man annimmt, in dem Augenblick, wo führende Einzelpersön-
lichkeiten den Verlauf der Ereignisse bestimmen. Nun kann aber
selbstverständlich die Erinnerung an den Einzelnen seine Bedeutung
für die Gesamtheit zwar insofern mitbestimmen, als sie eine weitere
Wirkung auf künftige Generationen vermittelt; ein direktes Maß
ihres Einflusses vermag sie nicht abzugeben. Das Verhältnis selbst
ist daher in der Naturgesellschaft im wesentlichen kein anderes als
in der Kulturgesellschaft. Latent lebt auch in jener der Einzelne
in allem dem fort, was auf sein persönliches Wirken zurückgeht. Wenn
schon in primitiven Zuständen die Sage von Heilbringern und Helden
erzählt, denen die Völker ihre am höchsten geschätzten Lebensgüter
verdanken, so wirkt dabei freilich in erster Linie die mythologische
Personifikation mit; bis zu einem gewissen Grade ist aber doch sicher-
lich auch die aus der täglichen Erfahrung geschöpfte Vorstellung
beteiligt, daß einzelne durch Tatkraft und Einsicht hervorragende
Menschen einen entscheidenden Einfluß ausüben. In den Sagen vom
Heilbringer wird diese Erfahrung des Augenblicks nur ins Große und
in eine mythische Vorzeit projiziert, was die spätere, bis an die Schwelle
der Gegenwart herabreichende Sage und die in diesem Stück zum
Teil noch ihrem Vorbilde folgende Geschichte auf einen Einzelnen
zu vereinigen pflegt, und was doch in Wirklichkeit die Schöpfung
vieler oder im Grunde genommen der Gesamtheit selbst ist. So läßt
sich denn im Lichte dieser Betrachtung das Verhältnis der Kultur-
stufen wohl auch dahin feststellen, daß bei dem primitiven Volk das
Werk des Einzelnen nach kurzer Zeit in den Schoß der Gesamtheit,
aus dem es hervorgegangen, zurückkehrt, indes überall, wo eine
geschichtliche Tradition entstanden ist, neben den zahllosen Ein-
zelnen, die nicht anders wie dort nur in den unmittelbaren Einflüssen
auf ihre nächste Umgebung und deren unbestimmter Ausbreitung
fortwirken. Einzelne kürzere oder längere Zeit in der geschichtlichen
Vorgeschichte und Geschichte. 15
Erinnerung an ilire Persönlichkeit fortleben. Im Grunde leben aber
doch auch sie nur in allem dem wirklich fort, was von der Gemein-
schaft aufgenommen und weiterentwickelt wird, so daß jener Unter-
schied zwischen vorgeschichtlichen und geschichtlichen Völkern
schließlich mehr ein durch die Entwicklung der geschichtlichen
Erinnerung und ihrer Hilfsmittel bedingter Grad- als ein Wesens-
unterschied ist. Was dagegen auf allen Stufen der Kultur gültig bleibt,
ist das Prinzip, daß in der Entwicklung dieser Kultur nur das Be-
stand hat, was den in der Gesamtheit liegenden Anlagen entgegen-
kommt, und daß ebenso das Wirken des Einzelnen in diesen Anlagen
vorgebildet sein muß, wenn es Einfluß gewinnen soll. Darum ruhen
im letzten Grunde hier wie dort in der Gesamtheit die schaffenden
Kräfte, aus denen das gemeinsame Leben und mit diesem das von
ihm getragene Leben des Einzelnen hervorgeht. Die Geschichte aber
vermehrt diese Kräfte in steigendem Maße, indem sie neben der
unmittelbaren Ausbreitung durch die im Kontakt der Generationen
eintretende Kumulation der Wirkungen fernewirkende Kräfte schafft,
die jeden Zeitpunkt der späteren Geschichte zu einem Brennpunkt
machen können, in dem sich die Strahlen sammeln, die zeitlich wie
räumlich ins Unabsehbare reichen. Diese extensive und intensive
Steigerung, die die materiellen wie geistigen Werte des Lebens durch
die erhaltende und fortan neue Kräfte auslösende Macht der Über-
lieferung erfahren, begründet jedoch in dem Verhältnis des Einzelnen
zur Gemeinschaft keinen qualitativen Unterschied zwischem dem
geschichtlichen und dem vorgeschichtlichen Menschen. Vielmehr
ist es hier wie dort die Gemeinschaft, die in dem Einzelnen die geistigen
Kräfte auslöst, durch die er selbst wieder auf jene zurückwirkt; und
von allem dem, was er zu dem gemeinsamen Besitzstande hinzu-
bringen mag, bleibt nur das wirksam, was in der Gemeinschaft bereits
vorgebildet war. Der Einzelne konzentriert nur in seinem Streben
und Wirken die allverbreiteten Motive und wird so zum lebendigen
Ausdruck der Gesamtentwicklung, bis schließlich sein Werk zu einem
Allgemeinbesitz geworden ist, der als ein selbstverständliches und
unpersönliches Gut gilt. Die Dauer, während deren die führenden
Geister, die das gemeinsame Streben in ihrem Tun verwirklichen,
über den Strom des allgemeinen Lebens gehoben werden, um dann
16 Einleitung.
wieder in ihm zu versinken, kann sich bald auf kurze Momente ihres
eigenen Lebens oder auf die nächste Generation beschränken, bald
kann sie weite historische Zeiträume umfassen, — die Natur des Pro-
zesses bleibt schließlich die gleiche. Wohl aber kann es nun aus der
Ferne gesehen so scheinen, als handle es sich hier nicht um einen im
letzten Grunde doch bloß gradweisen Unterschied in den Bedingungen
des Entstehens und des Untergangs der Persönlichkeiten, sondern
um einen Wesensunterschied dieser selbst und der Wirkungen, die
sie zurücklassen. Der oberflächlichen Betrachtung erscheint dann
das Naturvolk als eine undifferenzierte und, abgesehen von spärlichen
Bruchstücken, die ihm aus fremden Kulturen zugeführt werden, ent-
wicklungslos dahinlebende Masse. Eine etwas tiefer eindringende,
die allzu einseitig die erhaltende Kraft der Tradition zum Maßstab
der Werte nimmt, glaubt dann sicherer zu scheiden, wenn sie in der
vorgeschichtlichen Zeit den Einzelnen ganz durch seine Umgebung,
die Geschichte aber ganz oder doch der Hauptsache nach durch das
Wirken Einzelner bestimmt sein läßt. Beides ist falsch. Vielmehr
ist und bleibt die Wechselwirkung zwischen dem Einzelnen und der
Gemeinschaft in ihrer Form die gleiche. Nur das Tempo der Erschei-
nungen, der Grad der Konzentration der aus der Gesamtheit her-
vorgehenden Kräfte, endlich die Dauer ihrer Nachwirkung und der
Erinnerung an ihren Ursprung sind verschieden.
Wie sich der Gang der geistigen Entwicklung der Natur- und
Kulturvölker unmöglich auf ein solches Verhältnis der Masse zu den
Individuen zurückführen läßt, ebenso wenig können aber hier for-
male Unterschiede des seelischen Lebens der Individuen selbst als
Kriterien gelten. Wenn man bei dem Naturvolk das triebartige
und instinktive Leben, bei dem Kulturvolk das planmäßige will-
kürliche Handeln vorherrschend findet, so ist das wieder nur eine
Interpretation, die den allgemeinen Eindruck der verschiedenen
Kulturstufen auf die Einzelnen überträgt, die deren Vertreter sind.
Der Buschmann, der Andamanese, der Zentralaustralier, die den
Typus des geschichtslosen Menschen wohl in den ausgeprägtesten
uns bekannten Formen repräsentieren, sind als Individuen in den
Hilfsmitteln, die der Befriedigung ihrer täglichen Bedürfnisse dienen,
bis zu einem gewissen Grade erfinderisch, und die Strenge, mit der
Vorgeschichte und Geschichte. 17
diese Stämme meist an der altüberlieferten Sitte festhalten, spricht
dafür, daß sie kaum mehr als die Mehrzahl der Kulturmenschen von
momentan wirkenden Trieben beherrscht werden.
Gleichwohl ist es nicht minder zulässig, aus dieser Gleichartig-
keit der geistigen Anlagen auf eine wesentliche Übereinstimmung
in der Geistesverfassung selbst zu schließen und demnach etwa die
ungeheuren Unterschiede der Kulturstufen nur auf den Unterschied
der äußeren Lebensbedingungen zurückführen zu wollen, wie dies
zuweilen in dem Streben hervortritt, in primitiven Zuständen des-
halb, weil sie in ihrer einfachen Ursprünglichkeit von manchen un-
erfreulichen Zügen einer entwickelteren Kultur frei sind, eine voll-
kommenere Form des religiösen und sittlichen Lebens zu sehen. Hier-
her darf man wohl die Bemühungen mancher Anthropologen zählen,
da, wo die Frage einer Existenz der Religion bei der unbestimmten
Abgrenzung dieses Begriffs gegen Zauberglauben und Mythus über-
haupt noch zweifelhaft ist, einen primitiven Monotheismus nach-
zuweisen, oder die aus den natürlichen Gemeinschaftstrieben ent-
springenden Handlungen als Wirkungen einer reineren Sittlichkeit
zu deuten, Bemühungen, in denen sich das alte, aus dem Mythus
überkommene Streben erneuert, die geistige Einheit der Mensch-
heit, die bestenfalls ein Ideal der Zukunft ist, in die Vorgeschichte
des Menschen zu verlegen. Die Psychologie als empirische Wissen-
schaft hat nun weder mit der Philosophie künftige Ideale zu ent-
werfen, noch mit der mythologischen Dichtung diese in die Vergangen-
heit oder in primitive Kulturen zu projizieren, in denen sich jene Ver-
gangenheit widerspiegelt, sondern das Feld ihrer Betrachtungen ist
die Wirklichkeit des Lebens in allem dem Niedrigen wie Großen, dem
Abschreckenden und Erhebenden, das sie mit sich führt. Und will
sie ein Verständnis der geistigen Entwicklung gewinnen, so muß nach
den allgemeinen Regeln wissenschaftlicher Untersuchung ihre Auf-
merksamkeit mehr den Unterschieden als den Übereinstimmungen
zugewandt sein. So betrachtet erscheint das geistige Leben des primi-
tiven Menschen von dem des Kulturmenschen, abgesehen von dem
Einschlag, den dort von außen zugeführte Kulturgüter, hier Rudi-
mente früherer Stufen bilden, nicht weniger verschieden wie der
Bumerang des Australiers oder der primitive Pfeil des Buschmanns
Wnndt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. 2
18 Einleitung.
von der Schnellfeuerwaffe der heutigen Gewehrtechnik. Doch jene
geistigen Unterschiede sind nicht sowohl formaler als realer Art.
Sie beziehen sich nicht auf die Formen der Vorstellungen, Gefühle,
Triebe und Willenshandlungen, sondern auf den Inhalt des geistigen
Lebens, von dem aus nur noch schwache, eben durch die überein-
stimmenden Grundeigenschaften der Seele gesponnene Fäden die
höheren Stufen der Kultur mit ihren Anfängen verbinden. Diese
Fäden aufzusuchen und an ihnen den bei allen Gegenwirkungen und
Kontrasten doch stetigen und gesetzmäßigen Wandel der Motive
zu verfolgen, das ist eben die Aufgabe des Völkerpsychologen und das
Schwerste, was er bei ihrer Lösung zu leisten hat, besteht darin, sich
selbst in die Anschauungen des Menschen entlegener Kulturen und
vor allem in die Anschauungs- und Gefühlswelt des Primitiven zu
versetzen. Hier gerade wirkt die alte rationalistische Geschichts-
philosophie immer noch nach, und sie findet in der Reflexionspsycho-
logie des populären Denkens und der von diesem beeinflußten In-
dividualpsychologie ihre vornehmste Stütze. Indem dieser Ratio-
nalismus hier wie dort die realen Unterschiede des geistigen Lebens
der Völker geflissentlich ausgleicht, um das Fremde überall auf das
Niveau der gleichen verstandesmäßigen Überlegung zu erheben,
begibt er sich von vornherein der Fähigkeit, in die Motive der diesem
rationalistischen Denken fremd gegenüberstehenden, Religion und
Sitte aus sich hervorbringenden mythologischen Anschauungswelt
einzudringen. Aber auch bei der Sprache verdunkelt diese einseitig
rationahstische Behandlimg der Probleme ihre wirkHche psycholo-
gische Lösung um so mehr, da hier in der neueren Sprachwissenschaft
immer noch die Traditionen des gewaltsam uniformierenden Logi-
zismus der alten Grammatik fortleben.
3. Der Einzelne und die Gemeinschaft.
Völkerpsychologie und Geschichte setzen beide die Gemein^
Schaft als eine dem Individuum übergeordnete geistige Einheit voraus.
Darauf, daß die Gemeinschaft selbständige geistige Werte schafft,
die in den seelischen Eigenschaften der Einzelnen wurzeln, selbst
Der Einzelne und die Gemeinschaft. 19
aber spezifischer Art sind und dem individuellen Seelenleben selbst
wieder seine wichtigsten Inhalte zuführen, gründet sich die Völker-
psychologie. Sie würde unmöglich sein, wenn nicht die Gemeinschaft
fortan neue Werte erzeugte, zu deren psychologischer Erkenntnis
die Hilfsmittel der Individualpsychologie unzureichend sind. Nicht
minder findet die Geschichte in der Volksgemeinschaft ihr nächstes
Substrat, auf das sie sich ebenso in ihrer Erweiterung zur Universal-
geschichte wie in ihren Beschränkungen auf einzelne Gebiete bis herab
zur Geschichte eines einzelnen Erzeugnisses oder einer individuellen
Persönlichkeit von historischer Bedeutung immer wieder zurück-
bezieht. Hierbei greift nun aber überall zugleich in die Behandlung
der Geschichte das Verhältnis der Individuen zur Gemeinschaft
bestimmend ein. Indem der Historiker geneigt ist, einzelne hervor-
ragende Persönlichkeiten zu Trägern der Geschichte zu machen,
wird sein Standpunkt bei der Betrachtung des menschlichen Lebens
und seiner Schöpfungen, auch solcher, die, wie Sprache, Mythus und
Sitte, unmittelbar nur an die Gemeinschaft gebunden sind, leicht
ein einseitig individualistischer; und da alle jene gemeinsamen
Schöpfungen, wenn sie in individuelle Erzeugnisse umgedeutet werden,
mit Notwendigkeit den Charakter einer erfinderischen Tätigkeit an-
nehmen, so bildet den natürlichen Verbündeten dieses Individualis-
mus ein ebenso einseitiger Intellektualismus. Beide Kichtungen
vereinigt in schärfster Ausprägung die rationaUstische Geschichts-
auffassung der Aufklärungszeit. Im Lichte dieser Anschauung ver-
schwinden aber die Aufgaben der Völkerpsychologie von selbst: sie
verwandeln sich in historische Aufgaben. Denn nachzuweisen, wer
der erste Entdecker oder Erfinder der großen Gemeinschaftserzeug-
nisse gewesen sei, oder aus welchen individuellen Motiven sie her-
vorgehen konnten, dies würde eine eminent geschichtliche Aufgabe
sein, wenn sie als solche überhaupt zu lösen wäre. Sollte aber die
Geschichte dabei einer psychologischen Unterstützung bedürfen,
so könnte sie eine solche nur in der Individualpsychologie finden.
Innerhalb des weiteren Gebiets allgemeiner Geschichtsbetrachtungen
hat dieser IndividuaHsmus und Intellektualismus der Aufklärungs-
philosophie gegenwärtig wohl seine Rolle ausgespielt. Doch gerade
in den Gebieten, wo die Geschichte mit der Völkerpsychologie zu-
2*
20 Einleitung.
sammentrifft, behaupten sich beide mit besonderer Hartnäckigkeit.
Daß jede sprachliche Form, jede religiöse Vorstellung und jede sitt-
liche Norm ursprünglich von einem Einzelnen ausgegangen sei, und
daß sie überall auf ein intellektuelles Bedürfnis, sei es nun eine Natur-
erklärung oder einen praktischen Zweck zurückgehe, ist namentlich
in den Kreisen der Sprachforscher und Mythologen noch immer eine
verbreitete, manchmal für selbstverständlich geltende Überzeugung.
Daran mag die vorwaltend literarhistorisch gerichtete Forschung
auf diesen Gebieten teilweise die Schuld tragen. Das Kunstwerk und
vor allem das Literaturwerk pflegt ja die Frage nach seinem Schöpfer
wachzurufen, und von der wirklichen Kunstschöpfung wird diese
Frage dann auf die gemeinsamen geistigen Schöpfungen übertragen,
die jener ähnlich sind. Aber mehr noch wirkt hier der alte metaphy-
sische Seelenbegriff nach, in welchem die rationalistische Aufklärung,
nachdem sie in ihren Anschauungen über Kecht, Staat und Gesell-
schaft als überwunden gelten kann, gerade in der Psychologie immer
noch lebendig geblieben ist. Nach diesem metaphysischen Seelen-
begriff kann es nur Einzelseelen, keine Volksseele geben. Auf die
Einzelseele muß daher alle geistige Entwicklung zurückgehen. Wie
die metaphysische Seele in keiner Erfahrung gegeben ist, so kann
sie aber auch nicht zur Interpretation der Tatsachen des seelischen
Lebens verwendet werden. Hier ist nur jener aktuelle Seelenbegriff
brauchbar, nach welchem die Seele nichts anderes als die Einheit
der seelischen Vorgänge selbst ist. Nach diesem Gesichtspunkte allein
bestimmt sich daher das Verhältnis der Begriffe Einzelseele und
Volksseele und mit ihm das des Einzelnen zur Gemeinschaft. So wenig
diese ohne die Einzelnen bestehen könnte, so ist sie darum noch nicht
eine bloße Addition und Verstärkung der Eigenschaften und Tätig-
keiten der Einzelnen. Vielmehr ist es die Verbindung und Wechsel-
wirkung der Individuen, welche die Gemeinschaft als solche hinzu-
bringt, und durch die sie auch in dem Einzelnen neue, dem gemein-
samen Leben spezifisch angehörige Leistungen weckt. Dieses Medium
der Verbindung und Wechselwirkung ist es, in welchem die Völker-
psychologie ihre Aufgaben vorfindet. Wie die Annahme einer sub-
stantiellen Volksseele eine von psychologischer Auffassung weit ab-
liegende Vorstellung, so ist auch der Versuch, die Erzeugnisse der
Der Einzelne und die Gemeinschaft. 21
Oemeinschaft und ihre Veränderungen ausschließlicli auf individuelle
Einflüsse zurückzuführen, also die Völkerpsychologie zugunsten der
Individualpsychologie auszuschalten, nicht minder undurchführ-
"bar. In der Tat kommt man auf diesem Wege, abgesehen von gewissen
singulären Grenzfällen, durchweg zu willkürlichen Interpretationen,
hinter denen schHeßlich als letzte Zuflucht der absolute Zufall steht.
Dahin gehört z. B. die noch heute in der Sprachwissenschaft ver-
breitete Annahme, jeder generelle Laut- oder Bedeutungswandel
eines Wortes sei aus irgendeiner individuellen und okkasionellen Ab-
weichung entstanden. Während zahlreiche andere Abweichungen
ähnlicher Art wieder verloren gingen, sei irgendeine, zufällig oder
weil sie einer bestehenden Neigung entgegenkam, usuell geworden i).
Diese mitwirkende Neigung selbst gilt dabei im allgemeinen als eine
von dem individuellen Ausgangspunkt der Veränderung unabhängige
Anlage: sie wird zuweilen in dem Wohlgefallen am Neuen, besonders
aber in dem der menschlichen Gattung eigenen Nachahmungstrieb
gesehen. Da sich nun die ursprünglichen individuellen Unterschiede
wegen ihrer absolut unberechenbaren Entstehungsweise jeder Er-
forschung ihrer Bedingungen entziehen, so geht diese Theorie der
Frage nach den Ursachen der Erscheinungen überhaupt aus dem Wege,
oder sie weist statt der Antwort auf das ,, soziologische Gesetz" der
Nachahmung hin, nach welchem kein einer Gesellschaft angehören-
des Individuum irgend etwas Auffallendes oder vom Gewohnten
Abweichendes tun könne, ohne daß seine Genossen dem suggestiven
Einfluß unterliegen, den eine solche Handlung ausübt. In dieser
Nachahmungstheorie ist dann im eigentlichsten Sinne der Zufall
zum Schöpfer der sozialen Erscheinungen, also schließlich der Ge-
sellschaft selber geworden, die sich doch nur aus allen jenen Erschei-
nungen zusammensetzt. „Die Gesellschaft" — so resümiert daher
folgerichtig G. Tarde seine der gleichen Richtung angehörende so-
^) H. Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte *, S. 69 ff. Ähnlich Delbrück,
Grundfragen der Sprachforschung 1901, S. 98 ff. Vgl. dazu meine Schrift :
Sprachgeschichte und Sprachpsychologie, S. 59 ff. und Probleme der Völker-
psychologie, 1911, S. 61 ff. 2. Aufl. 1921, S. 64 ff.
22 Einleitung.
ziologische Theorie — „ist die Nachalimung, und die Nachahmung
ist eine Art somnambuHscher Wirkung" i).
Nun spielt zwar die Nachahmung im gesellschaftlichen Leben
überall eine mitwirkende Kolle von nicht zu unterschätzender Be-
deutung, aber bei den tiefer greifenden und allgemeineren Veränderungen
kommt ihr niemals die Hauptrolle zu. Vielmehr erweisen sich diese
Veränderungen, wo wir imstande sind ihren Bedingungen nachzu-
gehen, regelmäßig als solche, die nicht von einem Individuum und
nicht einmal von einer bestimmt begrenzten Zahl von Individuen
ausgehen, sondern auf Einflüssen beruhen, die entweder die sämt-
lichen Mitglieder einer Gemeinschaft oder mindestens deren über-
wiegende Masse treffen. Dabei mögen immerhin die einen mehr, die
andern weniger diesen Einflüssen unterliegen, und es mag, nachdem
erst die allgemeine Richtung eingeschlagen ist, die aus dem Zusammen-
leben entspringende und zum Teil auf dem Trieb zur Nachahmung
beruhende Ausgleichung individueller Unterschiede nachträglich mit-
wirken. Überall steht aber dieses Motiv hinter den primären Ein-
flüssen von genereller Natur zurück. Nirgends zeigt sich dies deut-
licher als gerade bei der Sprache. Wenn lateinisch octo in italienisch
Otto oder im Deutschen hrumben in brummen überging und diese Bei-
spiele in eine fast unübersehbare Menge analoger Erscheinungen sich
einreihen, so spricht keinerlei Wahrscheinlichkeit dafür, daß zufällig
einmal einem Einzelnen oder mehreren Einzelnen diese Abweichung
begegnet und dann von andern nachgeahmt und usuell geworden
sei. Da sich vielmehr beobachten läßt, daß ein solcher an den Kon-
takt der Laute gebundener Wandel leicht von selbst eintritt, wenn
man von einer langsameren zu einer schnelleren Sprechweise übergeht,
und da dieser Übergang offenbar bei zahllosen Mitgliedern einer
Sprachgemeinschaft stetig und gleichzeitig erfolgen kann, so liegt
nicht der geringste Grund zu der Annahme vor, eine solche Änderung
sei von einem einzelnen Individuum ausgegangen. Natürlich können
Zwischenstadien existieren, wo sich die neue Sprechweise erst un-
^) „La sociale c'est l'imitation, et l'imitation e'est une esp^ce de somnam-
bulisme" (Tarde, Les lois de Fimitation^ 1895, pag. 95).
Der Einzelne und die Gemeinschaft. 23
vollkommen durchgesetzt hatte. Aber auch da wird die Abweichung
von der älteren weder eine individuelle noch eine okkasionelle genannt
werden können : das erstere nicht, weil alle Individuen den gleichen
abändernden Kräften unterworfen sind; das letztere nicht, weil ein
solches Zwischenstadium entweder darin besteht, daß die geläufige
durchschnittliche Lautform zwischen der alten und der neu sich bilden-
den ungefähr die Mitte hält, oder darin, daß der stets vorhandene Spiel-
raum der individuellen Artikulationen größer als zuvor ist. In beiden
Fällen ist aber der Zustand ein genereller. Nicht anders verhält es
sich mit den in der Geschichte und wahrscheinlich noch mehr in der
Vorgeschichte der Sprache eingetretenen Sprachmischungen. Sie
gehen nicht von einem Einzelnen oder einigen Einzelnen, sondern
von allen denen aus, die durch den Verkehr bis zu einem gewissen
Grade beider Sprachen mächtig geworden sind, und die nun unwill-
kürlich Wörter oder grammatische Formen aus der fremden Sprache
in ihre Muttersprache herübemehmen. Offenbar müssen wir aber
die nämlichen Gesichtspunkte auch da anwenden, wo nicht, wie in
jenen leicht zu durchschauenden Fällen die generelle Natur der wirken-
den Ursachen ohne weiteres erkennbar ist, wo jedoch die Erschei-
nungen selbst genereller Art sind. Dann weist eben die Beschaffen-
heit der Wirkungen auch auf eine entsprechende der Ursachen hin.
Wenn z. B. in den germanischen Sprachen allgemein der im Vor-
germanischen als sogenannte Tenuis vorhandene Geräuschlaut in
eine Spirans übergegangen ist (p in /), t in engl, th, h in cJi oder Ji, so
muß dieser Wandel irgend einmal in urgermanischer Zeit eingetreten
sein. Es würde aber allen Eegeln der Wahrscheinlichkeit ins Gesicht
schlagen, wollte man annehmen, diese Veränderungen seien zuerst
nur okkasionell, oder sie seien gar nur individuell entstanden, um sich
dann durch eine ,, somnambulische" Wirkung nach dem Ausdruck
Tardes weiter zu verbreiten. Ein solcher Ursprung könnte doch
höchstens für eine einzelne Lautänderung angenommen werden. Die
Gesamtheit der Lautverschiebungen würde also durch eine Fülle
solcher alleinstehender okkasioneller Abweichungen zustande ge-
kommen sein, die schließlich sämtlich durch den merkwürdigsten
aller Zufälle in vollkommener Harmonie miteinander entstanden
wären.
24 Einleitung.
Was von der Sprache, das gilt nun genau ebenso von allen an-
dern Formen gemeinsamen Lebens. Mag es sein, daß in Mythus und
primitiver Kunst, in Keligion und Sitte da und dort verhältnismäßig
frühe schon einzelne Persönlichkeiten hervortreten, die Überein-
stimmungen, die alle diese Entwicklungen darbieten, weisen nicht
minder auf generelle Bedingungen hin, die erst in ihren letzten Aus-
läufern teilweise in individuelle Einflüsse ausmünden. Die Quelle,
aus der hier, ebenso wie bei der Sprache, der Fehler jener individuali-
sierenden und daher jede allgemeine Gesetzmäßigkeit schließlich
auf einen ursprünglichen Zufall zurückführenden Betrachtungsweise
entspringt, kann nicht zweifelhaft sein. Sie geht auf jenen in der
heutigen Wissenschaft immer noch fortwirkenden Individualismus
der Aufklärungszeit zurück, dem das Individuum als der Schöpfer
aller Erzeugnisse des menschlichen Geistes galt. Wohl hatte schon
die Romantik diese in der Idee eines ersten Erfinders kulminierende
Anschauung zu Fall gebracht. Aber sie selbst hatte den Ursprung
der gemeinsamen geistigen Erzeugnisse geflissentlich in ein meta-
physisch-mythologisches Dunkel gehüllt. Als dann in den aus der
romantischen Bewegung entsprungenen historischen Wissenschaften
allmählich eine positivistische Strömung die Oberhand gewann, stellte
sich von selbst eine Art Kompromiß zwischen Aufklärung und Ro-
mantik ein. Wo jene eine planmäßige Erfindung, diese ein ursprüng-
liches Wunder gesehen hatte, da machte man nun den Zufall zum
Schöpfer und den Mechanismus der Gewöhnung und Nachahnmug
zum Vollender der Dinge. Zufällig soll hier einmal jemand ein Wort
falsch ausgesprochen, dort ein anderer eine irrtümliche Vorstellung
mit einem Wort verbunden haben, — die Genossen ahmen das nach,
und ein neues Lautgesetz oder ein wichtiger Begriffswandel ist in die
Wege geleitet. In griechischer Vorzeit geschah es, wie Max Müller er-
zählt, daß jemand die ähnlich klingenden Wörter für die Morgen-
röte und den Lorbeer (Daphne) verwechselte. Damit habe er der
Vorstellung den Ursprung gegeben, dem Apollo, dem einstigen Sonnen-
gott, sei der Lorbeer heiligt). Nun glaube ich zwar nicht, daß diese
Ansicht über die individuelle und zufällige Entstehung neuer geistiger
1) Max Müller, Essays, Bd. II \ 1881, S. 83 ff.
Zur Entwicklungsgeschichte der Völkerpsychologie. 25
Werte von der Mehrzahl der Sprachforscher, Mythologen und Kultur-
historiker gerade in solch extremer Form geteilt wird. Doch die Grund-
anschauung, aus der jene Theorien erwachsen sind, ist heute noch weit
verbreitet. Und wäre sie richtig, so würde die Völkerpsychologie als
eine irgendwie selbständig abzugrenzende Wissenschaft in der Tat
kaum ein Existenzrecht besitzen. Da sie aber falsch ist, vielmehr
jede Gemeinschaft, obgleich sie keine neuen psychischen Elemente
zu den Bewußtseinsinhalten ihrer Mitglieder hinzufügt, doch durch
die Verbindung und Wechselwirkung dieser neue geistige Schöpfungen
erzeugt, so hat in ihnen sowie in der Nachweisung ihrer Beziehungen
zu den im Einzelbewußtsein wirksamen psychischen Kräften die
Völkerpsychologie ihre selbständige Aufgabe.
III. Zur Entwicklungsgeschichte der Völker-
psychologie.
Schon die allgemeine Psychologie kann nicht ganz an der Tat-
:sache vorübergehen, daß das Bewußtsein des Einzelnen unter dem
Einflüsse seiner geistigen Umgebung steht. Überlieferte Vorstellungen,
die Sprache imd die in ihr enthaltenen Formen des Denkens, endlich
die tief greifenden Wirkungen der Erziehung und Bildung sind Vor-
bedingungen jeder subjektiven Erfahrung. In mancher Beziehung
kann darum der Inhalt der Individualpsychologie erst von der Völker-
psychologie aus unserem vollen Verständnisse zugänglich werden.
Gleichwohl bleibt diese im ganzen das speziellere, von jener abhängige
Oebiet. Denn die Erscheinungen, mit denen sie sich beschäftigt,
müssen schließlich aus den allgemeinen Gesetzen des geistigen Lebens,
die schon in dem Einzelbewußtsein auf jeder Stufe seiner Entwick-
lung wirksam sind, erklärt werden; und unmöglich kann durch eine
Vereinigung von Menschen ein geistiges Erzeugnis entstehen, zu dem
nicht in den Einzelnen die Anlagen vorhanden wären. Läßt sich
demnach die Völkerpsychologie mit einem gewissen Recht eine an-
gewandte Psychologie nennen, so ist übrigens der Ausdruck ,, an-
gewandt" hier in einem andern Sinne zu verstehen, als in dem man
etwa von einer angewandten Physik und Chemie oder auch von der
26 Einleitung.
Pädagogik als einer angewandten Psychologie redet. Dies liegt schon
darin ausgesprochen, daß die Völkerpsychologie von den allgemeinen
psychologischen Erfahrungen zu keinerlei praktischen Zwecken Ge-
brauch macht, sondern daß sie, ebensogut wie die Individualpsycho-
logie, eine rein theoreti^he Wissenschaft ist. Der Ursprung und die
Entwicklung der Sprache, die Bildung mythologischer und religiöser
Vorstellungen, die Entstehung von Sitten und sittlichen Gefühlen
— die Behandlung dieser und verwandter Probleme dient unmittel-
bar nur den Interessen der Psychologie selbst und der mit ihr zu-
sammenhängenden theoretischen Geisteswissenschaften. Von solchem
Gesichtspunkte aus besteht daher die Völkerpsychologie nicht so-
wohl in einer Anwendung als in einer Ausdehnung der psycho-
logischen Untersuchung auf die soziale Gemeinschaft. Diese Aus-
dehnung auf Erscheinungen, bei deren Entstehung neben den sub-
jektiven Eigenschaften des menschlichen Bewußtseins noch die be-
sonderen Bedingungen des gemeinsamen Lebens in Betracht kommen,
bringt es zugleich mit sich, daß die Völkerpsychologie bestimmte,
ihr ausschließlich angehörende Gebiete psychischer Tatsachen zu
erforschen hat, Gebiete, die von der allgemeinen Psychologie bei ihrer
gewöhnlichen Begrenzung ausgeschlossen bleiben.
Von zwei verschiedenen Richtungen her hat daher auch der Ge-
danke der Völkerpsychologie in der neueren Wissenschaft Wurzel
gefaßt. Zuerst wurde innerhalb einzelner Geisteswissenschaften
das Bedürfnis nach einer psychologischen Grundlage, die den eigen-
tümlichen Erscheinungen geistiger Wechselwirkung in Gesellschaft
und Geschichte gerecht werde, immer mehr fühlbar. Dazu gesellte
sich dann in der Psychologie selbst das Streben, objektive Hilfs-
mittel zu schaffen, mittels deren man der Unsicherheit und Viel-
deutigkeit der reinen Selbstbeobachtung zu entgehen suchte.
Unter den einzelnen Disziplinen, in denen sich jenes psycho-
logische Bedürfnis regte, standen Sprachwissenschaft und Mytho-
logie in erster Linie. Beide hatten sich aus dem allgemeineren Um-
kreis philologischer Studien abgesondert. Indem sie aber dabei den
Charakter vergleichender Wissenschaften annahmen, mußte sich
ihnen von selbst die Erkenntnis aufdrängen, daß in Sprachen- und
Mythenentwicklung neben den besonderen geschichtlichen Bedingungen,
Zur Entwicklungsgeschichte der Völkerpsychologie. 27
die überall die konkrete Gestaltung der Erscheinungen bestimmen,
allgemeine psychiscbe Kräfte wirksam seien.
Hat unter diesen Gebieten wohl am meisten die Sprachwissen-
schaft eine Anlehnung an die Psychologie gesucht, so fand freilich
gerade die Psychologie der Sprache ein gewisses Hindernis darin,
daß ihre Aufgaben vielfach mit den Zielen verwechselt wurden, die
seit langer Zeit die Sprachphilosophie sich gestellt hatte. Mögen
aber auch in dieser, vom platonischen Kratylos an bis auf Wilhelm
von Humboldts berühmte Einleitung ,,über die Verschiedenheit des
menschlichen Sprachbaues" und andere neuere Werke ähnlicher
Richtung, gelegentlich psychologische Überlegungen enthalten sein,
so ist doch die vorherrschende Tendenz solcher Arbeiten eine meta-
physische, und demgemäß steht ihnen das eine Problem des Ur-
sprungs der Sprache überall im Vordergrund. Das Verhältnis zur
Sprachpsychologie wird hier genugsam schon durch den Umstand
gekennzeichnet, daß die psychologische Untersuchung eine Menge
von Aufgaben auch dann noch vorfände, wenn sie auf jenes Ursprungs-
problem gänzlich verzichten wollte, daß aber dieses vom Standpunkte
psychologischer Betrachtung aus jedenfalls erst nach der Erledigung
jener konkreten Aufgaben die Aussicht auf eine erfolgreiche Lösung
bietet.
Da nun die Sprachwissenschaft an der metaphysischen Sprach-
philosophie ebensowenig wie an den herrschenden Richtungen der
Psychologie eine nennenswerte Hilfe fand, so war es begreiflich, daß
sie zumeist sich auf jene Kunst psychologischer Interpretation ver-
ließ, die man nirgends zu lernen braucht, weil sie von jedermann bei
der Beurteilung praktischer Lebensverhältnisse fortwährend geübt
wird: auf die Kunst der Vulgärpsychologie. Mit diesem Namen
darf man wohl jene Mischung von wirklichen Beobachtungen, Über-
lebnissen älterer Theorien und populären Vorurteilen bezeichnen,
mit der sich die Vertreter einzelner Wissenschaften da zu behelfen
pflegen, wo sie einer psychologischen Interpretation nicht entgehen
können. Wenn diese Aushilfe vornehmlich in den „Geisteswissen-
schaften" tiefe Wurzeln gefaßt hat, so liegt das wohl vor allem in dem
eigentümlichen Charakter der Vulgärpsychologie begründet. Denn
dieser besteht im wesentlichen darin, daß irgendwelche Erscheinungen
28 Einleitung.
des individuellen, gesellschaftlichen oder geschichtlichen Lebens
auf solche intellektuelle Überlegungen und Zweckmäßigkeitserwägungen
zurückgeführt werden, die den Beobachter, falls er die Erscheinungen
mit Plan und Absicht herbeigeführt hätte, möglicherweise bestimmt
haben könnten. Alle Vulgärpsychologie besteht also kurz gesagt
in der Hinübertragung einer subjektiven Reflexion über
die Dinge in die Dinge selbst. Hat sich z. B. in einer Sprache
ein Wort in zwei verschiedene Wörter gespalten, so deutet man dies
als ein Streben nach Erzeugung bedeutsamer Unterschiede. Sind
dagegen wichtige Unterschiede durch Laut Verluste geschwunden,
so erklärt man das umgekehrt aus der Tendenz, sich das Sprechen
so bequem wie möglich zu machen. Nach den meisten Ausführungen
über Bedeutungswandel müßte man annehmen, eine redende Ge-
meinschaft sei fortwährend bemüht, die logischen Kategorien der
Über-, Unter-, Nebenordnung usw. auf die Worte der Sprache an-
zuwenden; denn man scheint der Meinung zu sein, mit der Zurück-
führung auf derartige Begriffsverhältnisse seien die psychologischen
Vorgänge als solche erklärt, oder es bedürfe doch, wenn ein Begriffs-
verhältnis gefunden sei, einer weiteren Erklärung nicht mehr. Nicht
anders steht es in der Mythologie. Bald soll die ursprüngliche Mythen-
bildung eine aus dem Streben nach Naturerklärung hervorgegangene
phantastische Naturphilosophie, also eine Art primitiver Natur-
wissenschaft sein; bald soll sie auf zufälligen Mißverständnissen und
Begriffsverwechslungen beruhen. Für die Deutung gewisser frühester
Formen der Eheschließung zieht man gelegentlich Motive herbei,
die dem Naturmenschen einen Grad der Fürsorge für die Zukunft
seines Geschlechts zutrauen, von dem sich die ungeheuere Mehr-
zahl der Kulturmenschen nichts träumen läßt. Im Prinzip stimmt
diese psychologische Interpretation mit der teleologischen Natur-
erklärung des 18. Jahrhunderts vollkommen überein. Nur pflegte
die letztere die Motive des Geschehens einem vernünftigen Urheber
der Dinge zuzuschreiben, während die Vulgärpsychologie dieselben
den jeweils handelnden Menschen selbst aufbürdet. Ob aber solche
Motive nachweisbar, ja ob sie unter den gegebenen Bedingungen mög-
lich sind, danach wird nicht gefragt. Wenn also das Bestreben aller
wahren Psychologie dahin gerichtet sein muß, die Tatsachen so zu
Zur Entwicklungsgeschichte der Völkerpsychologie. 29
erfassen, wie sie unabhängig von unserer subjektiven Beurteilung
beschaffen sind, so geht umgekehrt die Vulgärpsychologie darauf aus,
über die Wirklichkeit ein Netz subjektiver und willkürlicher logischer
Reflexionen zu breiten. In dieser allgemeinen Tendenz befindet sie
sich zugleich in Übereinstimmung mit einer aus der Scholastik über-
kommenen, bis auf unsere Tage herabreichenden intellektuahstischen
Strömung der Philosophie und der aus ihr hervorgegangenen Re-
flexionspsychologie. Denn auch diese scheint es nicht als ihre Auf-
gabe anzusehen, festzustellen, was die psychischen Vorgänge wirk-
lich sind, und wie sie tatsächlich zusammenhängen, sondern aus-
einanderzusetzen, was nach Maßgabe irgendwelcher logischer oder
philosophischer Voraussetzungen der reflektierende Psychologe von
ihnen denkt.
Dies führt uns auf das zweite Motiv für die Entstehung der
Völkerpsychologie, dessen oben gedacht wurde. Die Psychologie
selbst bedarf nicht minder dringend des völkerpsychologischen Ma-
terials, das gewisse Geisteswissenschaften ihr bieten, wie diese der
psychologischen Grundlagen; und in dem Augenblick, wo die Psycho-
logie den Quellen nachgeht, die ihr aus den einzelnen Bereichen des
geistigen Lebens zufließen, wird auch das, was sie selbst wiederum
aus der allgemeinen Betrachtung dieses Lebens der Würdigung der
einzelnen Tatsachen entgegenbringt, nicht mehr unbeachtet bleiben.
Denn in Einem kann es doch der feinste praktische Takt und die
reichste psychologische Lebenserfahrung mit der wissenschaftlichen
Psychologie nicht aufnehmen: in der Fähigkeit, die bei der Analyse
der einfacheren Bewußtseinsvorgänge gewonnenen Gesichtspunkte
für das Verständnis der verwickelten Erscheinungen des gemein-
samen Lebens zu verwerten. Der Historiker, der Sprachforscher,
der Mythologe, sie operieren, solange sie jener Analyse fremd gegen-
überstehen, bestenfalls mit komplexen Begriffen. Erst wenn es ge-
lungen ist, die Brücke zu schlagen, die von dem Einzelbewußtsein
zu den Erzeugnissen der Gemeinschaft hinüberführt, besteht aber
auch die Aussicht, den Weg wieder rückwärts zu finden und die völker-
psychologischen Ergebnisse fruchtbar zu machen für die Untersuchung
jener Gebilde des Einzelbewußtseins, die aus diesem allein nicht be-
griffen werden können. Und letzteres trifft überall da zu, wo solche
30 Einleitung.
Gebilde in zureichend vollständigen Entwicklungsformen überhaupt
nur als Produkte des Völkerbewußtseins vorkommen, wie viele Er-
zeugnisse der Phantasietätigkeit, oder wo das Einzelbewußtsein selbst
schon mit fertig überlieferten, aus der geistigen Wechselwirkung her-
vorgegangenen Formen arbeitet, wie bei dem in seiner spezifischen
Gestaltung an die Sprache gebundenen logischen Denken.
Von den verdienten Forschern, die der Völkerpsychologie ihren
Namen gegeben und zum erstenmal ein bestimmtes Programm für
sie entworfen haben, von Steinthal und Lazarus, ist, so umfassend,
ja vielleicht allzu umfassend auch dieses Programm war, gerade jener
Gesichtspunkt, daß gewisse Geisteswissenschaften nicht bloß selbst
der psychologischen Analyse und Interpretation bedürfen, sondern
ihrerseits unentbehrliche, bisher vernachlässigte Hilfsgebiete der
Psychologie sind, kaum zureichend gewürdigt worden^). Dieser bei
einem ersten Versuch gewiß entschuldbare Mangel ist aber sichtlich
durch die psychologischen Grundanschauungen bedingt, von denen
diese Forscher ausgingen; und deshalb ist er zugleich bezeichnend
für die eigentümlichen Hemmnisse, die sich dem neuen Gebiet von
Seiten der herrschenden Kichtungen der Psychologie entgegenstellten.
Jene Grundanschauungen waren die der Psychologie Herbarts mit
ihrem an den metaphysischen Begriff der einfachen Seele und an die
Hypothese der Vorstellungsmechanik gebundenen einseitigen Indivi-
dualismus und Intellektualismus. Daß eine so geartete Psychologie
von Haus aus den Fragen der Völkerpsychologie hilflos gegenüber-
steht, ja zu ihnen eigentlich gar kein Verhältnis hat, dafür liefern
Herbarts eigene gelegentliche Aussprüche über diese Fragen die deut-
lichsten Belege^). Mochten nun auch die Völkerpsychologen der
^) Lazarus und Steinthal, Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprach-
wissenschaft, I, 1860: Einleitende Gedanken über Völkerpsychologie, S. 1 — 73.
Vgl. dazu meinen Aufsatz über Ziele und Wege der Völkerpsychologie, PhU.
Stud. IV, S. 1 ff., sowie Steinthals Gegenbemerkungen, Zeitschr. für Völker-
psych. XVII, S. 233 ff.
2) Belehrend ist hier F. Misteiis Zusammenstellung der Aussprüche Her-
barts über die Sprache, unter denen als der merkwürdigste der hervor-
gehoben werden mag, daß die Befähigung des Menschen zur Sprache nur
in den besonderen Eigenschaften seines Kehlkopfes begründet sei, wie denn
Zur Entwicklungsgeschichte der Völkerpsychologie. 31
Herbartschen Schule in dieser Beziehung den von dem Meister ver-
tretenen Ansichten im einzehien nicht überall beipflichten, im Prin-
zip blieb doch das Verhältnis der Individual- zur Völkerpsychologie
das der begründenden Wissenschaft zu ihren Anwendungen. Die sub-
jektive Beobachtung und als Ergänzung allenfalls noch die Psycho-
logie des Kindes sollten das Erfahrungsmaterial liefern, aus dem durch
Abstraktion die Grundgesetze einer allgemeinen „psychischen Me-
chanik" zu gewinnen seien, und diese sollte dann von der Völker-
psychologie zur Deutung der verschiedenen Erscheinungen geschicht-
lichen Lebens verwendet werden i). Gegen eine solche Auffassung
mochte der von hervorragenden Sprachforschern erhobene Einwand
vielleicht nicht ganz unzutreffend sein, das neue Gebiet sei überhaupt
nicht Psychologie, sondern eben nur Anwendung der Psychologie
auf die verschiedenen Bestandteile der Geistesgeschichte, also allen-
falls eine historische „Prinzipienlehre" auf psychologischer Grund-
lage 2). Je mehr man die Psychologie als eine fertig gegebene „Norm-
wissenschaft" betrachtet, deren Gesetze in irgendwelchen allgemein-
gültigen Formeln einer Vorstellungsmechanik enthalten seien, um so
weniger bleibt natürlich außerhalb dieser Individualpsychologie Raum
für eine auch nur relativ selbständige psychologische Forschung.
Mochten die Völkerpsychologen immerhin die eigenartige Natur der
„Volksgeister" betonen und darauf hinweisen, die in den geschicht-
lichen Entwicklungen hervortretenden Volkscharaktere könnten
überhaupt der Unterschied zwischen Mensch und Tier nach Herbart nicht
auf der an sich überall gleich beschaffenen absolut einfachen Seele, sondern
auf den Unterschieden der physischen Organisation beruht! (Misteli,
Zeitschr. f. Völkerpsychologie, XII, S. 407 ff.) Mit Recht hebt übrigens
schon Misteli hervor, daß sich Steinthals Ansichten überall, wo es sich um
konkrete völkerpsychologische Probleme handelt, weit von denen Herbarts
entfernen.
^) Steinthal, Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft, I,
1871 bes. S. 91ff., 290 ff.
2) Herrn. Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte, ^ 1883, * 1909, S. 6 ff.
Zu dessen Auffassung der Sprachwissenschaft als einer rein geschicht-
lichen Disziplin vgl> Ottmar Dittrich, Grundzüge der Sprachpsychologie, Bd. 1,
1903, S. 3 ff., und Zeitschr. f. roman. Phüologie, Bd. 23, 1899, S. 538 ff. sowie
meme Probleme der Völkerpsychol, 1911, S. 8ff., 69f. 2. Aufl. 1921, S. 9ff., 72f,
32 Einleitung.
keineswegs bloß als Summen individueller Eigenschaften betrachtet
werden, so wurden dadurch doch die prinzipiellen Einwände nicht
beseitigt. Denn jener Begriff des Volksgeistes, auf den man sich hier
berief, verblieb ganz innerhalb der allgemeinen Sphäre historischer
Betrachtungen, in der er längst zu einem Bestand geschichtsphilo-
sophischer Spekulationen geworden war ^). Auch dies lag aber im Grunde
schon in der individualistischen Kichtung der Herbartschen Psycho-
logie. Denn blieb gleich für diese der Begriff einer Volksseele seiner
substantiellen Bedeutung nach unvollziehbar, so legte doch die „Me-
chanik der Vorstellungen", die für die wirkliche Interpretation der
seelischen Erfahrung an die Stelle jenes transzendenten Begriffs trat,
den Gedanken einer Übertragung auf die Wechselbeziehungen der
Individuen innerhalb einer Gemeinschaft nahe genug. Hier hatte
die Analogie um so mehr freies Feld, da die Herbartsche Vorstellungs-
mechanik selbst eigentlich nur eine abstrakte Theorie der Wirkungen
und Gegenwirkungen irgendwelcher einander anziehender oder ab-
stoßender intensiver Größen überhaupt war. Ob man unter diesen
Größen Vorstellungen des individuellen Bewußtseins oder auf einer
höheren Stufe die mit solchem Bewußtsein ausgestatteten Individuen
verstand, blieb für die Theorie an sich gleichgültig. In diesem Sinne
hatte Herbart selbst schon in seinen ,, Bruchstücken zur Statik und
Mechanik des Staates" das Spiel der gesellschaftlichen Kräfte er-
örtert^). Demnach wurden hier die „Volksgeister" vollständig zu
Ebenbildern der Einzelgeister, mit dem einzigen Unterschied, daß
sie sich aus komplexeren Einheiten zusammensetzten. Dadurch mußte
aber gerade der eigenartige Charakter der Erscheinungen des gemein-
samen Lebens, der aus einer bloßen Analogie mit dem individuellen
Seelenleben niemals begriffen werden kann, völlig verschwinden.
Um so mehr forderte der durch die Projektion des individuellen
Geistes ins Große entstandene Volksgeist dazu heraus, vor allem den
Wandel der politischen Geschichte, wie es in der Tat bei Herbart
geschah, als die dem individuellen Leben analogen Schicksale des
1) Vgl. Lazarus, Leben der Seele, « l, S. 335 ff.
2) Herbart, Psychologie als Wissenschaft, 2. Teil, Einleitung. Werke,
herausgegeben von Hartenstein, VI, S. 31 ff.
Zur Entwicklungsgeschichte der Völkerpsychologie. 33
Volksgeistes zu betrachten. Damit bewegte man sich aber wieder
ganz in den Bahnen der alten Geschichtsphilosophie.
Sichtlich ist nun das Programm der Völkerpsychologie, das
Steinthal und Lazarus entwarfen, zunächst unter dem Eindruck
dieser Herbartsch en Analogien entstanden. Immerhin machte sich
das Bedürfnis nach psychologischem Verständnis der Tatsachen, be-
sonders bei den von der Sprachwissenschaft herüberkommenden
Vertretern jenes Programms, geltend. Das neue Gebiet zerfiel dadurch
im Wesen thchen in zwei Gebiete: in eine Anwendung individual-
psychologischer Gesetze auf die Erzeugnisse des gesellschaftlichen
Lebens, und in eine geschichtsphilosophische Beleuchtung der ver-
schiedenen Volksgeister und ihrer Betätigungen in der Geschichte.
Nach beiden Richtungen blieb die Stellung der Völkerpsychologie
eine fragwürdige. War es dort zweifelhaft, ob die Anwendung der
Psychologie auf bestimmte Probleme der geschichtlichen Entwick-
lung nicht den historischen Einzelwissenschaften selbst zuzuweisen
sei, so war hier die Geltendmachung des psychologischen Gesichts-
punkts zwar berechtigt, aber man hielt dabei gleichwohl an der näm-
lichen Aufgabe fest, die sich auch bisher die Geschichtsphilosophie
gestellt hatte. Um so mehr muß anerkannt werden, daß der Versuch
der Durchführung dieser allgemeinen Aufgabe, wie er durch die ein-
zelnen Arbeiten Steinthals mid der sich ihm anschließenden Forscher
über sprachliche und mythologische Probleme gemacht wurde, ganz
von selbst den Gesichtskreis veränderte, den jenes unter dem Ein-
flüsse Herbartscher Begriffe entstandene Programm eröffnet hatte.
Erwiesen sich auf der einen Seite fast überall, wo die Erbschaft der
bisherigen Geschichtsphilosophie übernommen wurde, die Probleme
für eine völkerpsychologische Betrachtung wegen der Ungeheuern
Bedeutung individueller und äußerer Einflüsse wenig ergiebig, so
schieden sich auf der andern aus dem Umfang der Geisteswissen-
schaften gewisse Probleme aus, auf die sich das psychologische In-
teresse konzentrierte. Dabei mußte aber mehr und mehr offenbar
werden, daß die allgemeine Psychologie hier mit der Anwendung
von Gesichtspunkten, die der Analyse des individuellen Bewußtseins
entnommen sind, nicht ausreicht, während sie ihrerseits aus der
Fülle völkerpsychologischer Erscheinungen neue Aufschlüsse gewinnt.
Wundt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. °
34 Einleitung.
Hier wurde nun aber die psychologische Forschung noch von
einer zweiten Richtung her auf völkerpsychologische Hilfsquellen
hingewiesen. Denn wie weit auch die Meinungen in der heutigen Psy-
chologie auseinandergehen, in methodologischer Hinsicht ist es ihr
vorherrschender Charakterzug, daß sie Hilfsmittel zu gewinnen strebt,
welche die planlose, von zufälligen Einflüssen und philosophischen
Vorurteilen abhängige Selbstbeobachtung durch Anwendung exakter
Methoden und objektiver Kriterien beseitigen sollen. Das erste dieser
Hilfsmittel besteht in der Ersetzung der sogenannten ,, reinen" durch
die experimentelle Selbstbeobachtung, So wenig wir die Vorgänge
der äußeren Natur in ihrer Zusammensetzung und ihren wechsel-
seitigen Beziehungen exakt analysieren können, ohne sie im Experi-
ment genau bestimmbaren Bedingungen und Veränderungen zu unter-
werfen oder ohne mindestens Beobachtungshilfsmittel anzuwenden,
die der experimentellen Technik entnommen sind, — gerade so wenig,
ja im Grunde wegen der viel geringeren Stabilität der Bewußtseins-
vorgänge noch viel weniger ist es möglich, auf dem "Wege der bloßen,
durch keinerlei planmäßige Einwirkungen unterstützten Beobachtung
des eigenen Bewußtseins andere als oberflächliche und trügerische
Aufschlüsse über Verlauf und Zusammenhang der psychischen Vor-
gänge zu gewinnen.
Die experimentelle oder, wie sie wegen der notwendigen An-
wendung physiologischer Hilfsmittel zuweilen auch genannt wird,
die physiologische Psychologie ist aber der Natur der Sache nach
Individualpsychologie. Das einzige dem Experiment zugäng-
liche psychologische Objekt bleibt das Einzelbewußtsein. Zugleich
ist die experimentelle Methode durch die Notwendigkeit, die typischen
Verlaufsformen des psychischen Geschehens unter verhältnismäßig
einfachen Bedingungen zu beobachten, im wesentlichen auf die Ana-
lyse relativ einfacher Bewußtseinsvorgänge angewiesen. Da
die geistigen Gemeinschaften die Individuen, und da die zusammen-
gesetzten psychischen Vorgänge die einfachen als ihre Bedingungen
voraussetzen, so hat demnach die experimentelle Psychologie einen
allgemeineren und grundlegenden Charakter. Sie ist aber zugleich
an die Bedingungen gebunden, die ihr jenes hoch entwickelte Einzel-
bewußtsein entgegenbringt, auf das die psychologischen Experimental-
Zur Entwicklungsgeschichte der Völkerpsychologie. 35
metlioden schon wegen der Schwierigkeiten der bei ihnen gefor-
derten Selbstbeobachtung angewiesen sind. Ihr Objekt ist also ein-
fach und verwickelt zugleich: einfach gemäß dem nicht zu beseitigen-
den Charakter der Methoden; verwickelt wegen der ungeheuer zu-
sammengesetzten Eigenschaften des Gegenstandes der Beobachtung.
In beiden Beziehungen bedarf die experimentelle Methode der Er-
gänzung. Die zusammengesetzten psychischen Bildungen, die nicht
oder nur in gewissen äußeren und nebensächlichen Eigenschaften
dem Experiment zugänglich sind, fordern analytische Hilfsmittel
von ähnlicher objektiver Sicherheit; und das unter den verwickeltsten
Kulturbedingungen stehende individuelle Bewußtsein verlangt nach
Objekten die als die einfacheren Vorstufen jenes letzten Entwick-
lungszustandes betrachtet werden können. Beidemal bestehen die
uns verfügbaren Hilfsmittel in den Geisteserzeugnissen von
allgemeingültigem Werte, die durch die naturgesetzliche Art
ihrer Entstehung dem wechselvollen, unberechenbaren Spiel indivi-
dueller persönlicher Eingriffe entzogen sind. Es ist das Verdienst
der englischen Psychologie des letzten Jahrhunderts, daß sie,
nachdem die vorangegangene englische Erfahrungspsychologie die
Forderung einer streng empirischen, von philosophischen Voraus-
setzungen unabhängigen Analyse des Einzelbewußtseins siegreich
zur Geltung gebracht hatte, zum ersten Male das weite Feld ethno-
logischer Tatsachen im psychologischen Interesse verwertete. Sie
ergänzte so die in Deutschland von der Sprachwissenschaft ausgehende
Bewegimg in dem Sinne, daß sie sich vorwiegend den Gebieten des
Mythus und der Sitte und der mit beiden zusammenhängen-
den Anfänge der Kultur zuwandte. Es sei hier vor allem an
die zusammenfassenden Arbeiten E. B. Tylors und J. G. Frazers
erinnert^).
^) E. B. Tylor, Researches into the Early History of Mankind, 1865. (Deutsch
von H. Müller, o. J.) Primitive Culture, 1871. (Deutsch u. d. T. Die Anfänge
der Kultur, übers, von Sprengel und Poske, 2 Bde., 1873.) J. G. Frazer, The
golden Bough 2, vol. I — III. Totemism and Exogamy, vol. I — IV, 1910. Herbert
Spencers Soziologie gibt ebenfalls ein reiches hierhergehöriges Material,
das jedoch, da die Soziologie einen Teil seines ,, Synthetischen Systems
der Philosophie" bildet, allzu sehr unter dem Einfluß der Voraussetzungen dieses
Systems steht.
3*
36 Einleitung.
Experimentelle Psychologie und Völkerpsychologie stehen dem-
nach gleichzeitig in dem Verhältnis zweier einander ergänzender
Teile und zweier nebeneinander wie nacheinander zur Anwendung
kommender Hilfsmittel der Psychologie. Geschichte, Literatur,
Kirnst, Biographien, Selbstbekenntnisse, die immer noch zuweilen
als Quellen psychologischen Wissens gerühmt werden, sind weder
Teile noch Hilfsmittel, sondern Anwendungsgebiete, die zwar
infolge der überall bestehenden Wechselbeziehungen zwischen Theorie
und Anwendimg gelegentlich der allgemeinen psychologischen Er-
kenntnis förderlich sein mögen, aber zu einer methodischen Ver-
wertung, wie sie zum Charakter eines Hilfsmittels erfordert wird,
unfähig sind.
IV. Hauptgebiete der Völkerpsychologie.
In den obigen Erörterungen sind im wesentlichen die Aufgaben
bezeichnet, die der Völkerpsychologie zufallen. Es bleiben ihr hier-
nach drei selbständige Probleme, die, sofern sie als rein psycho-
logische behandelt werden, in keiner andern Wissenschaft ihre Stelle
finden, während sie doch ihrem Wesen nach eine psychologische Unter-
suchung erheischen. Sie bestehen in den Problemen der Sprache,
des Mythus und der Sitte. Dem Mythus schließen sich die An-
fänge der Religion und der Kunst, der Sitte die Ursprünge und
allgemeinen Entwicklungsformen des Rechtes und der Kul-
tur an.
Diese drei Gebiete stimmen darin überein, daß sie durchaus an
das gesellschaftHche Leben gebunden sind. Nicht nur geht ihre Ent-
stehung jedem nachweisbaren Eingreifen Einzelner und jeder ge-
schichtlichen Überlieferung voraus, sondern auch nach dem Beginn
des geschichtlichen Lebens erfahren sie fortan, neben den allmählich
einen breiteren Raum einnehmenden individuellen Einflüssen, ge-
setzmäßige Veränderungen, die aus den Veränderungen der geistigen
Verbände selbst entspringen. So bleiben, nachdem Sprache, Mythus
und Sitte Objekte historischer Betrachtung geworden sind, dennoch
Hauptgebiete der Völkerpsychologie. 37
innerhalb jeder dieser Erscheinungen psychologische Probleme zurück,
deren Lösung zwar nur auf Grund der Tatsachen des individuellen
Bewußtseins möglich, aber ihrerseits wieder dem Verständnis vieler
dieser Tatsachen förderlich ist. Zugleich geht hier die völkerpsycho-
logische Entwicklung in eine Reihe geschichtlicher Entwicklungen
über, in denen sie als allgemeine Grundströmung fortwirkt. Darum
berührt sie sich mit einer Anzahl historischer Gebiete. So der
Mythus mit der Geschichte der Kulturreligionen ^ der Wissenschaft und
der Kunst; so die Sitte mit der Geschichte der Rechtsordnungen und
der in den philosophischen Moralsystemen niedergelegten sittlichen
Weltanschauungen .
Bilden nach allen diesen Richtungen Sprache, Mythus und Sitte
die natürhchen Grundlagen der geschichtlichen Entwicklungen, so
zeigen sie sich aber selbst eng aneinander gebunden. Wie sehr auch
der Sprache als dem notwendigen Hilfsmittel des gemeinsamen Denkens
der Vorrang gebührt, so trägt sie doch von Anfang an die Spuren des
Mythus an sich; und die Sitte als Norm des Handelns ist so sehr Aus-
drucksform der die Gemeinschaft beseelenden Vorstellungen und
Gefühle, daß sie im Verhältnis zu den andern Gebieten die Bedeutung
eines Symptoms gewinnt, ohne das jene so wenig sich denken lassen,
wie etwa im individuellen Seelenleben Gefühle und Triebe ohne äußere
Willenshandlungen .
Der engen Verbindung dieser drei Hauptteile der Völkerpsycho-
logie entspricht ihr Verhältnis zu gewissen Erscheinungen des Einzel-
bewußtseins. Inder Sp räche spiegelt sich zunächst die Vor st ellungs-
welt des Menschen. In dem Wandel der Wortbedeutungen äußern
sich die Gesetze der Veränderungen der Vorstellungen, wie sie unter
dem Einflüsse wechselnder Assoziations- und Apperzeptionsbedingungen
stattfinden. In dem organischen Aufbau der Sprache, in der Bildung
der Wortformen und in der syntaktischen Fügung der Redeteile gibt
sich die Gesetzmäßigkeit kund, von der die Verbindung der Vor-
stellungen unter den besonderen Natur- und Kulturbedingungen
der Sprachgemeinschaft beherrscht ist. Der Mythus gibt sodann
den in der Sprache niedergelegten Vorstellungen vornehmlich ihren
Inhalt, da er in dem ursprünghchen Völkerbewußtsein die gesamte,
aus Wahrnehmungen und Phantasieschöpfungen sich aufbauende
38 Eineitung.
Weltanschauung noch in ungesonderter Einheit umschließt. Dabei
zeigt sich die in ihm wirksame Phantasietätigkeit außerdem so sehr
von Gefühlsrichtungen bestimmt, daß die Wahrnehmungsein-
flüsse zumeist nur die äußeren Gelegenheitsursachen bilden, die, in-
dem sie Furcht und Hoffen, Bewunderung und Staunen, Demut und
Verehrung erwecken, ebenso die Richtung der mythologischen Vor-
stellungen wie die Auffassung der Objekte überhaupt bedingen. Die
Sitte endlich umfaßt alle die gemeinsamen Willensrichtungen,
die über die Abweichungen individueller Gewohnheiten die Herr-
schaft erringen und sich zu Normen verdichtet haben, denen von
der Gemeinschaft Allgemeingültigkeit beigelegt wird. Aber wie in
dem individuellen Bewußtsein Vorstellen, Fühlen und Wollen keine
getrennt vorkommenden seelischen Vorgänge, sondern nur verschiedene,
an sich unlösbar verbundene Faktoren eines und desselben Geschehens
sind, so haben auch jene Beziehungen der drei völkerpsychologischen
Gebiete zu diesen seelischen Richtungen nur die Bedeutung, daß sie
diejenigen Elemente des Seelenlebens bezeichnen, die vorzugsweise
für die einzelnen Erscheinungen maßgebend sind. Die Sprache ist,
wie schon ihr Verhältnis zum Mythus lehrt, überall von Gefühls-
motiven abhängig, und nach ihrem eigensten Charakter ist sie eine
Willensfunktion. Nicht minder ist der Mythus von Vorstellungen
imd Willensmotiven erfüllt, und in die Sitte greifen, eben weil sie
in allgemeinen Willensnormen besteht, fortwährend jene Vorstellungs-
und Gefühlsprozesse ein, die den Willens Vorgang zusammensetzen.
So gilt hier womöglich noch in höherem Grade als von dem Einzel-
bewußtsein, daß die unmittelbare seelische Erfahrung alle Elemente
zumal in sich schließt. Ähnlich bezeichnen aber die drei Begriffe
Sprache, Mythus und Sitte selbst nur die Haupterscheinimgen, mit
deren Betrachtung sich die Völkerpsychologie beschäftigt, und um
die sich andere gruppieren. So sind an die Sprache die Anfänge der
Poesie, so an den Mythus die ursprüngUchen Formen künstlerischer
Betätigung überhaupt gebunden. Dabei besitzt die Kunst außer-
dem insofern ein selbständiges Interesse, als in ihr am unmittelbarsten
die Entwicklung der Phantasie mit ihren alle seelischen Funktionen
mächtig erregenden Wirkungen ihren Ausdruck findet. Ebenso ist
die Religion zunächst mit dem Mythus und dann durch diesen mit
Hauptgebiete der Völkerpsychologie. 39
der Sitte verwoben. Die Sitte endlicli führt neben den Beziehungen
zu Mythus und Sprache solche zu den anfänglich mit ihr zusammen-
fließenden Erscheinungen des Rechtes mit sich, indes sich ihre weiteren
Verzweigungen über die gesamte Kultur und Geschichte erstrecken.
Hiernach sondern wir den Inhalt der folgenden Untersuchungen in
vier Bücher: in die Psychologie der Sprache, der Kunst, des
Mythus und der Religion, der Sitte und Kultur.
Erstes Buch.
Die Sprache.
Erstes Kapitel.
Die Ausdrucksbewegungen.
L Allgemeine Bedeutung der Ausdrucks-
bewegungen.
Die psychopliysisclien Lebensäußerungen, denen die Sprache
als eine besondere, eigenartig entwickelte Form zugezählt werden
kann, bezeichnen wir ihrem allgemeinen Begriffe nach als Ausdrucks-
bewegungen. Jede Sprache besteht in Lautäußerungen oder in
andern sinnlich wahrnehmbaren Zeichen, die, durch Muskelwirkungen
hervorgebracht, innere Zustände, Vorstellungen, Gefühle^ Affekte,
nach außen kundgeben. Ist das die Definition, die dem Begriff der
Ausdrucksbewegung überhaupt entspricht, so pflegt man nun als
das besondere Merkmal, durch das sich die Sprache von andern Be-
wegungen ähnlicher Art unterscheidet, dies zu betrachten, daß sie
durch den Ausdruck von Vorstellungen der Gedankenmitteilung
diene. Dieses Merkmal vermag jedoch der Sprache schon deshalb
keine absolute Sonderstellung anzuweisen, weil auch andere Aus-
drucksbewegungen nicht selten von Vorstellungssymptomen begleitet
sind, und weil umgekehrt die Sprache selbst neben den Vorstellungen
auch Gefühle zum Ausdruck bringen kann. Die Gedankenmitteilung
ist also immer nur ein möglicher Zweck, der nicht bei jeder einzelnen
Sprachäußerung notwendig bestehen muß. Überdies pflegt das ein-
same Denken die sprachliche Form auch unter Verhältnissen anzu-
nehmen, unter denen die Absicht wie die MögHchkeit der Mitteilung
ausgeschlossen ist. Noch weniger ist endUch die lautliche Form des
Ausdrucks ein Kriterium der Sprache als solcher, da unter den reinen.
44 Die Ausdrucksbewegungen.
Ausdrucksformen der Gefühle, die wir niclit zur Sprache rechnen,
auch Ausdruckslaute vorkommen, während anderseits die Gebärden-
sprache aus unhörbaren Bewegungen besteht und trotzdem alle wesent-
lichen Eigenschaften einer wirklichen Sprache besitzt.
Diese Schwierigkeiten, denen die Definition der Sprache be-
gegnet, stehen offenbar in engem Zusammenhang damit, daß der
Begriff der ,, Ausdrucksbewegungen" selbst nur einen symptoma-
tischen Wert hat, da durch ihn in keiner Weise die allgemeinere
physiologische oder psychologische Natur dieser Bewegungen be-
stimmt wird. Mit Rücksicht auf diese ihre allgemeinere Natur können
alle durch Muskelaktionen bewirkten Bewegungen, mögen sie nun
Ausdrucksbewegungen sein oder nicht, in die drei Klassen der auto-
matischen, der Trieb- und der Willkürbewegungen unter-
schieden werden. Hierbei verstehen wir unter den automatischen
Bewegungen rein physiologische Erscheinungen, die, nur in der Ver-
bindung der zentralen Nervenelemente begründet, bewußtlos und
willenlos vor sich gehen; unter den Triebbewegungen einfache, in-
folge eines einzigen, das Gefühl erregenden Motivs entstehende Willens-
handlungen; endlich unter den Willkürbewegungen solche, bei denen
in irgendeinem Maße ein Wettstreit mehrerer Gefühlsmotive die äußere
Handlung vorbereitet. Die automatischen Bewegungen zerfallen
dann wieder nach den besonderen Bedingungen der zentralen Reiz-
übertragung in die Reflexbewegungen und die Mitbewegungen.
Bei den ersteren wird ein sensibler Reiz auf motorische Nerven über-
tragen und durch eine ihm im allgemeinen zweckmäßig zugeordnete
Muskelbewegung beantwortet. Bei den letzteren breitet sich eine
motorische Erregung, die selbst entweder eine Reflex- oder eine Willens-
bewegung hervorrufen kann, auf weitere motorische Nerven aus,
deren Erregung in der Regel der zunächst ausgelösten Reizung zweck-
mäßig koordiniert ist. Nun ist leicht ersichtHch, daß die Ausdrucks-
bewegungen jeder dieser Klassen angehören können, daß sie sich aber
auch nicht selten aus verschiedenen Bewegungsformen zusammen-
setzen, oder daß sie, entsprechend den allgemeinen Gesetzen des
Übergangs dieser Bewegungen ineinander, je nach Zeitbedingungen
ihre Bedeutung wechseln. So müssen wir die beim Neugeborenen
auf Geschmacksreize eintretenden mimischen Bewegungen jeden-
Allgemeine Bedeutung der Ausdrucksbewegungen. 45
falls zu den Ausdrucksbewegungen zählen: sie sind aber höchstwahr-
scheinlich reine Reflexe, oder sie können doch als solche vorkommen,
wie der Umstand beweist, daß man sie auch bei hirnlosen Mißgeburten
beobachtet hat. Die charakteristischen Bewegungen des Erschreckten
sind dagegen teils Reflex-, teils Triebbewegungen: als Reflex ist das
plötzliche Zusammenfahren, das beim heftigsten Schreck zu einem^
lähmimgsartigen Zusammenstürzen werden kann, zu deuten; trieb-
artig sind die unwillkürlich eintretenden Abwehr- und Fluchtbewegun-
gen. Ebenso gehören die Ausdrucksbewegungen des Zornes, der aus-
gelassenen Freude, des tiefen Kummers und anderer Affekte zumeist
zu den Triebhandlungen. Sie können sich aber teils mit gänzlich willen-
losen und unbewußten, also reflexähnlichen Mitbewegungen, teils auch
mit einzelnen Willkürhandlungen verbinden, wobei im allgemeinen
diese letzteren am wenigsten für einen einzelnen Affekt typisch sind,
sondern durch mehr zufällig dazwischentretende Gelegenheitsursachen
bestimmt werden. Die Willkürbewegungen endlich können als pri-
märe Bestandteile einer komplexen Ausdrucksform höchstens dann
auftreten, wenn die Bewegung überhaupt zu einer bloßen Schein-
bewegung wird, also bei geheuchelten Affekten. Doch treten auch
hier durch die Rückwirkung der begleitenden Empfindungen auf den
Seelenzustand in der Regel Triebbewegungen hinzu, mit denen sich
meistens noch automatische Mitbewegungen verbinden. So können
z. B. gewisse Ausdrucksbewegungen eines Schauspielers willkürHch
und sogar auf Grund vorangegangener Überlegung erfolgen: sie sind
aber mit andern Bewegungen von der gleichen Bedeutung so fest
assoziiert, daß die Wahl der Ausdrucksform bloß den Anfang und die
Richtung der Erscheinungen zu bestimmen pflegt.
Die generelle Entwicklung der Ausdrucksbewegungen erfolgt
aller Wahrscheinlichkeit nach gemäß den allgemeinen Entwicklungs-
gesetzen tierischer Bewegungen. Nach diesen sind es aber nicht, wie
-SO oft auf Grund dogmatischer Vorurteile angenommen wird, die
Reflexe, aus denen allmählich oder plötzlich, infolge einer zuvor im-
geahnten Entdeckung der Seele, Willenshandlimgen entspringen.
Vielmehr sind die einfachen Willens- oder Triebhandlungen als die
primären tierischen Bewegungen anzusehen. Aus ihnen können einer-
seits durch die allmählich eintretende Vervielfältigung der Motive
46 Die Ausdrucksbewegungen.
Willkür- oder Wahlhandlungen, auf der andern Seite, durch die in-
folge der Einübung geschehende Mechanisierung, Reflexe und auto-
matische Mitbewegungen hervorgehen. Es können sich aber auch die
bereits entwickelten Willkürhandlungen wieder zuerst in Trieb- und
dann in automatische Bewegungen zurückverwandeln. Hiernach
läßt sich dieser ganze Zusammenhang progressiver wie regressiver
Entwicklungen durch das folgende Schema veranschaulichen:
Triebbewegungen
Automatische Bewegungen Willkürbewegungen
Die äußeren größeren Pfeile deuten die primären Entwicklungen an,
die nach zwei Richtungen erfolgen: regressiv von den ursprünglichen
Triebbewegungen durch deren Mechanisierung zu den Reflexen und
Mitbewegungen, und progressiv von den nämlichen Triebbewegungen
zu den zusammengesetzten Willens- oder Willkürhandlungen. Die
inneren kleineren Pfeile bezeichnen die sekundäre Entwicklung, die
nur in der einen Richtung der Mechanisierimg ursprünglich psychisch
bedingter Bewegungen stattfindet. Für den Teil des Verlaufs, der
von den triebartigen zu den automatischen Bewegungen geht, fällt
daher diese sekundäre vollständig mit der regressiven Form der pri-
mären Entwicklung zusammen. Für den andern Teil, der die beiden
Formen der Willenshandlungen miteinander verbindet, ist der sekun-
däre dem primären Verlauf entgegengesetzt, jener progressiv, dieser
regressiv gerichtet. Damit zusammenhängend bildet der primäre
Verlauf überhaupt zwei ganz verschiedene, divergierende Entwick-
lungen, während der sekundäre in kontinuierlicher Folge von der
höchsten Form, den komplexen Willenshandlungen, zu der niedersten,
den automatischen Bewegungen führt, wie dies in unserem Schema
durch den oberen, die beiden Seiten verbindenden Pfeil angedeutet
wird. Zugleich ist aber zu beachten, daß die hier gegebene Inter-
Allgemeine Bedeutung der Ausdrucksbewegungen. 47
pretation dieses Schemas, nach der alle Entwicklungen von den Trieb-
bewegungen als der ursprünglichen tierischen Bewegungsform aus-
gehen, in ihrer Allgemeinheit nur für die generelle Entwicklung gilt.
Bei den individuellen Organismen, die mit den mannigfaltigsten
vererbten Anlagen in das Leben eintreten, sind von Anfang an Trieb-
und Reflexbewegungen gleichzeitig anzutreffen. So reagieren, wie
bereits bemerkt wurde, die mimischen Muskeln des Kindes sofort
nach der Geburt reflektorisch auf Geschmacksreize ; andere Bewegungen
desselben sind wahrscheinlich als Reflexe des Tastsinns zu deuten.
Auch bei den meisten Tieren sind zwar die ursprünglichen Bewegungen
unverkennbare Triebhandlungen; doch sind viele, wie z. B. die Be-
wegungen des eben aus dem Ei geschlüpften Hühnchens, zugleich
deutlich von einem System komplizierter Mitbewegungen begleitet,
die wohl automatisch an die einfachsten Triebäußerungen gebunden
sind.
Diese unverkennbare, nur aus den allgemeinen Vererbungs-
gesetzen begreifliche Tatsache, daß die Tiere mit einer Menge in der
physiologischen Organisation ihres Nervensystems begründeter An-
lagen ins Leben treten, hat nun offenbar auch die Hypothese, nach der
die Reflexe allgemein den Willenshandlimgen vorausgehen sollen,
veranlaßt. Denn diese Hypothese besteht eben in der Verallgemeinerung
einer bei der individuellen Entwicklung vorkommenden Gruppe von
Erscheinungen und in ihrer Übertragung auf die generelle Entwick-
lung. Hierbei ist aber erstens jene Verallgemeinerung in den Tat-
sachen selbst nicht begründet: automatische Reflexe treten im Gegen-
teil, gegenüber den als ursprüngliche Triebhandlungen zu erkennen-
den Bewegungen, bei den frühesten Lebensäußerungen um so mehr
zurück, eine je tiefere Stufe in der Reihe der psychophysischen Organi-
sation die Tiere einnehmen. Zweitens entzieht man sich durch diesen
Versuch, den Reflexen die erste Stelle anzuweisen, jede Möglichkeit,
die zweckmäßige, den Endeffekten angepaßte Beschaffenheit der
Bewegungen überhaupt zu deuten. Dagegen ergibt sich diese von selbst
aus der Natur der Willenshandlungen, die stets nach bestimmten
Zweckmotiven erfolgen. Drittens endlich treten uns Erscheinungen
einer Mechanisierung triebartiger und sogar willkürlicher Hand-
lungen fortwährend im individuellen Leben in den Erfolgen der Übung
48 Die Ausdrucksbewegungen.
entgegen. Die verwickeltsten, ursprünglich nur unter steter Kon-
trolle der Aufmerksamkeit ausführbaren Bewegungen können be-
kanntlich durch Einübung derartig automatisch werden, daß der
Anfang der Handlung die weitere Folge derselben mit mechanischer
Sicherheit nach sich zieht, oder daß sogar die ganze Bewegung auf
irgendeinen passenden Sinnesreiz hin von Anfang an automatisch
ausgeführt wird. Wir haben also nur nötig, diese in der individuellen
Entwicklung uns fortwährend begegnende Erfahrung auf die generelle
Entwicklung auszudehnen, um die Zweckmäßigkeit der Reflexe be-
greif Hch zu finden, während sie für den entgegengesetzten Stand-
punkt entweder ein ursprüngliches Wunder bleibt oder auf eine An-
sammlung zufälliger Einflüsse, die schließlich doch einen zweckmäßigen
Erfolg haben sollen, bezogen werden muß. Dabei schließt aber die
letztere Deutung eigentlich wieder die Voraussetzung des Wunders,
nur in einer andern Form, ein. Zu erklären freilich, wie die ursprüng-
lichen Triebe, das heißt, wie die Empfindungen und Gefühle tierischer
Wesen überhaupt entstanden seien, das liegt, wie überall die Nach-
weisung der ursprünglichen Elemente der Erfahrung, außerhalb der
Grenzen unserer Untersuchung. Denn die fundamentalen psychischen
Tatsachen müssen wir ebenso wie die Existenz jener letzten Bestand-
teile der Körperwelt, zu denen die Analyse der Naturerscheinungen
vorzudringen vermag, als gegeben voraussetzen.
Diese Anerkennung des Gegebenseins der nicht weiter analysier-
baren psychischen Elemente schheßt nun aber weiterhin die Not-
wendigkeit ein, auch die Zuordnung der Triebe zu bestimmten körper-
lichen Bewegungen als eine ursprünglich gegebene zu betrachten.
Sie läßt schon deshalb keine Zurückführung auf entferntere Bedingungen
zu, weil die primitiven Willensvorgänge überhaupt psychische und
körperliche Vorgänge zugleich sind. Jeder Versuch, den einen dieser
Faktoren aus dem andern abzuleiten, setzt sich mit dieser Tatsache
in Widerspruch: mag das nun in der Weise geschehen, daß man die
Seele zuerst wollen und dann gewisse körperliche Aktionen ihres Leibes
entdecken läßt, die sie ihrem Wollen dienstbar mache: oder mag es
so gedacht werden, daß aus einem Zusammenhang mechanischer
Bewegungen, der zufällig zweckmäßig geworden ist, plötzlich ein
zwecksetzender Wille entstanden sei. Das erste anzunehmen istun-
Allgemeine Bedeutung der Ausdrucksbewegungen. 49
zulässig, weil die Seele kein den Körper von außen betrachtendes
und sich unterwerfendes Wesen ist, sondern mit dem leiblichen Or-
ganismus zusammen ein einziges unlösbar verbundenes Ganzes bildet,
das nur durch unsere Abstraktion in seine Bestandteile gesondert
werden kann. Die zweite Annahme ist unerlaubt, weil hier die Willens-
handlungen, die überall in der Welt erst objektive Zwecke zustande
bringen, selbst als die Ergebnisse einer ihnen angeblich vorausgehen-
den, völlig motivlosen Zwecktätigkeit aufgefaßt werden. Dagegen
nimmt die hier vertretene genetische Auffassung allerdings ebenfalls
eine den psychischen Zuständen entsprechende, in diesem Sinn also
zweckmäßige Bewegungsreaktion als Ausgangspunkt aller tierischen
Handlungen an. Doch diese Reaktion kann und muß dabei als eine
solche einfachster Art gedacht werden. Gebunden an die niederste,
der späteren Differenzierungen noch entbehrende Organisationsform,
bedeutet sie die ursprüngliche und darum einfachste psychophysische
Zuordnung. Aus ihr sind dann alle verwickeiteren Formen als Er-
zeugnisse der in dem obigen Schema (S. 46) veranschaulichten vor-
und rückwärts schreitenden Differenzierungen hervorgegangen. Diese
selbst aber müssen zugleich als psychophysische Begleiterscheinungen
der fortschreitenden organischen Entwicklung betrachtet werden.
Damit erfüllt diese Annahme ebenso die Forderung möglichster Ein-
fachheit der letzten Voraussetzungen, wie die der Übereinstimmung
dieser Voraussetzungen und der aus ihnen abgeleiteten Folgerungen
mit der Erfahrung.
Wnndt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl.
50
Die Ausdrucksbewegungen.
II. Verhältnis der Ausdrucksbewegungen zu
den Gefühlen und Affekten.
1. Einfache Gefühlsformen.
Sind die Triebhandlungen als die ursprünglichen tierischen und
menschlichen Handlungen überhaupt und demnach auch als die ur-
sprüngHche Art der Ausdrucksbewegungen aufzufassen, so werden
nun die wesentlichen Eigenschaften dieser, ebenso wie die Unter-
schiede, die sie in ihren verschiedenen Formen darbieten, auf die
psychologische Natur der Triebe zurückzuführen sein. Jede Trieb-
handlung schließt aber
neben mannigfachen
Vorstellungselementen
einen Gefühlsver-
lauf ein, dessen Eigen-
schaften für den all-
gemeinen Charakter
der Handlung bestim-
mend sind. Das näch-
ste Ergebnis der Ana-
lyse eines solchen Ver-
laufs ist nun dieses,
daß jedes einfache,
nicht weiter in ver-
schiedene Qualitäten
zerlegbare Gefühl einer
der drei Hauptdim-
ensionen der Lust- und Unlust-, der erregenden und beruhi-
genden, der spannenden und lösenden Gefühle angehört. Geo-
metrisch können wir uns daher die Gesamtheit dieser Gefühlsformen
durch eine dreidimensionale Mannigfaltigkeit versinnlichen (Fig. 1),
deren drei Hauptachsen LU, ED, SR jenen drei Hauptdimensionen
entsprechen, während der Durchschnittspunkt / den Indifferenz- oder
Nullpunkt andeutet, bei dem das Bewußtsein als gefühlsfrei anzusehen
Fig. 1. Symboliche Darstellung
der Hauptrichtungen der Gefühle.
Einfache Gefühlsformen. 51
ist. Von diesem Nullpunkte gehen dann die Hauptrichtungen der
Gefühle aus, so daß die von I in der Richtung 1 L gemessene lineare
Strecke der Größe eines gegebenen Lustgefühls, die in der Richtung / JJ
der eines Unlustgefühls entspricht usw. Im allgemeinen kann aber ein
konkretes Gefühl entweder nur einer der sechs Hauptrichtungen, oder
es kann gleichzeitig mehreren angehören. Sind die Gefühle von relativ
einfacher Beschaffenheit, so pflegen sich Komponenten, die vom
Indifferenzpunkte / nach entgegengesetzten Richtungen liegen, z. B
Lust und Unlust, auszuschließen. In diesem Fall kann daher die Quali-
tät des Gefühls durch einen einzigen Punkt in dem durch die drei
Dimensionen LU, SR, ED bestimmten Kontinuum repräsentiert
werden. Ist etwa das Gefühl ein reines Lustgefühl, so liegt dieser
Punkt auf der Linie IL; besteht es aus einer Lust- und Erregungs-
komponente, so liegt er in der Ebene I L E; enthält er eine Lust-,
Erregungs- und Lösungskomponente, so wird der Ort des Punktes
in dem durch I L E und IRE begrenzten Raum durch die relative
Stärke der drei Komponenten bestimmt, usw. Gefühle von komplexer
Beschaffenheit, namentlich solche, die in Affekte eingehen, können
jedoch wahrscheinlich auch Komponenten von entgegengesetzter
Richtung, z. B. gleichzeitig Lust und Unlust, enthalten. Ein kom-
plexes Gefühl dieser Art würde dann durch zwei und eventuell durch
drei Punkte zu symboHsieren sein, die verschiedenen Orten des Ge-
fühlskontinuums entsprechen.
Dieses durch Fig. 1 dargestellte Verhältnis der Hauptrichtungen
der Gefühle bezieht sich zunächst nur auf Momentangefühle oder auf
Gefühle, die während der betrachteten Zeit hinreichend unverändert
bleiben, so daß von ihrem Zeitverlauf abstrahiert werden kann. Solche
momentane oder relativ stabile Gefühle haben zugleich die Eigenschaft,
daß sie sich nicht oder nur in verschwindendem Grade durch eigent-
liche Ausdrucksbewegungen verraten. Um letztere hervorzubringen,
dazu gehört stets ein bestimmter Gefühlsverlauf, der dann immer
auch mit einem Wechsel der Gefühle, sei es bloß ihrer Intensität,
sei es außerdem ihrer Richtung, verbunden ist. In diesen Verhält-
nissen liegen die Schwierigkeiten begründet, denen die Untersuchung
der reinen Gefühle begegnet. Auch ist ein momentanes Gefühl sub-
jektiv schwer in gleichbleibender Beschaffenheit festzuhalten, weil
4*
52 Die Ausdrucksbewegungen.
es entweder zu rasch verschwindet oder in einen Gefühlsverlauf, einen
Affekt, übergeht. Die Analyse der Gefühle gehört deshalb zu den
meistumstrittenen Aufgaben der Psychologie. Für ihre experimen-
telle Untersuchung ergibt sich aber aus den angedeuteten Bedingungen
die Regel, daß man zu ihrer Erzeugung nur mäßige Reize anwende.
Stärkere Reize erwecken unvermeidlich auch stärkere Gefühle, und
diese gehen stets in Affekte über. Ein bei der Verbindung mit auf-
merksamer Selbstbeobachtung durch seine wegweisende ' Bedeutung
wertvolles Hilfsmittel besteht außerdem in der Untersuchung der
physischen Begleiterscheinungen. Sie bestehen bei den reinen
Gefühlen nur zum allergeringsten Teil in äußerHch sichtbaren Aus-
drucksbewegungen. Bei sehr schwachen und rasch vergänglichen
Gefühlen können solche sogar ganz fehlen. Was auch hier niemals
zu fehlen scheint, das sind aber Innervationsänderungen des
Herzens, der Blutgefäße und der Atmungsmuskeln. Sie
bilden daher die empfindlichsten objektiven Erkennungsmittel reiner
Gefühlserregungen .
Den einfachsten Bedingungen begegnet nun naturgemäß sowohl
die subjektive Beobachtung wie die Analyse der objektiven Begleit-
erscheinungen, wenn die durch irgendwelche Sinnesreize erregten
Gefühle nur einer der oben unterschiedenen sechs Komponenten
angehören, nicht aus irgendwelchen Verbindungen derselben bestehen,
wenn sie also in unserer symbolischen Darstellung (Fig. 1) in eine
der sechs Hauptrichtungen selbst fallen. Am leichtesten läßt sich
dieser Forderung bei den reinen Lust- oder Unlustgefühlen nach-
kommen; und besonders eignen sich zu ihrer Erzeugung einfache
Geschmacks- oder Geruchsreize. Ein mäßig süßer Eindruck auf die
Zungenspitze erweckt ein schwaches, aber unverkennbares und, in
der Regel, wie es scheint, unvermischtes Lustgefühl. Ebenso ent-
steht durch einen mäßig bitteren, auf den hinteren Teil der Zunge
einwirkenden Reiz ein reines Unlustgefühl, das sich nur, wenn der
Reiz stärker wird, mit einem erregenden Gefühl zu verbinden pflegt.
Bei diesen einfachen Lust- und Unlustformen beobachtet man als
regelmäßige Puls Wirkungen, daß der lusterregende Eindruck die Puls-
welle verstärkt und verlangsamt, der unlusterregende sie schwächt
und beschleunigt, so daß sich also diese physischen Wirkungen ahn-
Einfache Gefühlsformen.
53
lieh gegensätzlich zueinander verhalten wie die Gefühle selbst (Fig. 2
und 3). Viel schwieriger ist es, mit Hilfe äußerer Sinnesreize reine Er-
regungs- oder Beruhigungsgefühle von einigermaßen dauernder Be-
schaffenheit zu erzeugen. Am ehesten leisten dies Farbeneindrücke.
Namentlich Kot und Blau bilden in dieser Beziehung scharf aus-
geprägte Gegensätze, Rot als erregender, Blau als beruhigender Ein-
druck. Mit beiden kann sich auch ein Lustgefühl oder bei starken
Lichtreizen ein Unlustgefühl verbinden. Weniger ungemischt sind
wohl die analogen Wirkungen der Tonqualitäten, wo zwar hohe Töne
Fig. 2. Lust. (Bei a h Einwirkung eines sehr angenehmen Geruchs, Menthol,
Lehmann Taf. XLIV B.)
Fig. 3. Unlust. (Schwefels. Chinin, Einwirkung bei 1, Anfang der Geschmacks-
empfindung bei 2, Lehmann Taf. XXXI C.)
den erregenden, tiefe den beruhigenden Charakter zeigen, außerdem
jedoch teils Assoziationseinflüsse, teils die sonstigen Eigentümlich-
keiten der Klangfarbe Nebenwirkungen ausüben. Ferner lassen sich
solche Erregungs- und Hemmungswirkungen ziemlich rein bei mäßigen
Affektzuständen (Aufregung, Niedergeschlagenheit) wahrnehmen, wo-
bei sie sich dann nur durch ihre längere Dauer etwas intensiver ge-
stalten. Darum ist wohl auch bei diesen Gefühlsgegensätzen bis jetzt
erst in den erwähnten Affektzuständen ein regelmäßiges Zusammen-
gehen mit Pulsänderungen beobachtet: die erregende Gefühlswirkung
54
Die Ausdrucksbewegungen.
ist hier mit Verstärkung, die hemmende mit Abnahme der Pulswelle
verbunden, — ein ähnlicher Gegensatz also, wie er zwischen den
Symptomen von Lust und Unlust besteht, jedoch ohne die für diese
kennzeichnende gleichzeitige Verlangsamung und Beschleunigung
des Pulses (Fig. 4 und 5). Erst bei gesteigerten Erregungs- und Hem-
mungszuständen, wie sie bei dem Gefühlsverlauf starker Affekte vor-
Fig. 4. Erregung, nach vorausgehender Unlust und Depression. (Erschreckender
Reiz bei 1, Unlust und Depression von a bis b, Erregungskurve von b bis c,
Lehmann Taf. XIX C.)
W
Fig. 5. Depression. (Stark deprimierte Stimmung infolge eines unangenehmen
Ereignisses, darunter einige normale Kurven des gleichen Beobachters von einem
andern Tage, Lehmann Taf. X A.)
kommen, pflegt sich die Erregung zugleich in Beschleunigung, die
Hemmung in Verlangsamung des Pulses zu äußern. Um schließhch
auch das dritte Gegensatzpaar einfacher Gefühle, das der Spannung
und Lösung, in möglichster Isolierung zu erwecken, muß man zur
zeitlichen Aufeinanderfolge von Eindrücken greifen. Kein Gemüts-
zustand enthält so ausgeprägt und unter geeigneten Bedingungen
Einfache Gefühlsformen. 55
SO frei von andern Elementen das Gefühl der Spannung wie die Er-
wartung; und ebenso prägt sicli das entgegengesetzte Gefühl der
Lösung nirgends so rein aus wie in dem Moment der erfüllten Er-
wartung. Wenn man daher Gehörseindrücke nimmt, die hinreichend
indifferent sind, etwa die einfachen Taktschläge eines Pendels, und
wenn man diese außerdem noch derart regelmäßig einander folgen
läßt, daß der gewählte Rhythmus den Spannungs- und Lösungs-
Fig. 6. Spannung. (Nachwirkung eines schwachen Tones, dessen Wiederholung
erwartet wird, Spannungskurve von a bis h, Lehmann Taf. XXIX A.)
A
Fig. 7. Lösung. (Unmittelbare Fortsetzung des Versuchs von Fig. 6, von 1
bis 2 Einwirkung des erwarteten Tones, von c bis d Lösungskurve, Lehmann
Taf. XXIX B.)
gefühlen Zeit genug gibt sich zu entwickehi, welche Bedingungen
beide bei ziemlich langsam, in 1,5 — 2 Sek. einander folgenden Ein-
drücken am besten erfüllt sind, so kann man diese dritte Gefühls-
form in ausgezeichneter Weise und so gut wie ganz losgelöst von an-
dern Gefühlsqualitäten beobachten. Der Puls scheint dann bei be-
stehendem Spannungsgefühl Verlangsamung und Stärkeabnahme,
bei eintretender Lösung der Spannung allmähliche Verstärkung und
56 3)ie Ausdrucksbewegungen.
Beschleunigung der Pulswelle zu zeigen. Die gleichen Erscheinungen
lassen sich auch bei unbestimmten, nicht an rhythmische Eindrücke
gebundenen Erwartungszuständen beobachten (Fig. 6 und 7). Die
Figuren 2 — 7 enthalten einige den sorgfältigen Untersuchungen Alfr.
Lehmanns entnommene Kurvenabschnitte, die das Gesagte verdeut-
lichen. Diese Kurven geben die Volumenschwankungen einer Flüssig-
keitsmasse wieder, die in einem die Hand wasserdicht umschließenden
Beutel enthalten war (sogenannte ,, plethysmographische" Kurven.)
Es sind daher bei ihnen neben den Pulskurven auch noch die lang-
sameren, von dem wechselnden Kontraktionszustand der Blutgefäße
abhängigen Volum- oder vasomotorischen Kurven zu bemerken^).
Alle diese Pulssymptome, sowie die sie begleitenden Verände-
rungen der Gefäß- und Atmungsinnervation sind, solange es sich um
reine Gefühle handelt, unbedeutend und vorübergehend. Sie nehmen
dagegen zu beim Übergang in den Affekt; zugleich kommen dann
auch Vermischungen der verschiedenen Symptome vor, v/elche die
Erscheinungen komplizieren. Unter diesen Komplikationen stehen
die Wechselwirkmigen zwischen Atmung und Herzbewegung innerster
Linie. Sie machen sich vornehmlich darin geltend, daß die Beschleu-
nigung der Atmung auch eine solche des Pulsschlags mit sich führt.
Die entsprechende Wirkung in entgegengesetzter Richtung fehlt
zwar nicht, aber sie tritt doch seltener hervor. Eine Quelle bedeut-
samer Affektsymptome ist ferner die Korrelation, in der in sich kreuzen-
^) Alfred Lehmann, Die Hauptgesetze des menschlichen Gefühlslebens,
1892. Die körperlichen Äußerungen psychischer Zustände, I, 1899 (mit einem
Atlas plethysmographischer, pneumo- und sphygmographischer Kurven). Zoneff
und Meumann, Philos. Studien, Bd. 18, 1903, S. 1 ff. Werner Gent, ebd. S. 715 ff.
Da Lehmann noch unter der Voraussetzung arbeitete, daß die einfachen Ge-
fühle in die eine Dimension der Lust-Unlust einzureihen seien, so hat er selbst
den von ihm gewonnenen Resultaten eine von der obigen abweichende Deutung
gegeben. Wichtige Ergänzungen hinsichtlich der Symptomatik der Gefühle
im Gebiet der Atmungsbewegungen bieten die Untersuchungen von Zoneff und
Meumann, sorgfältige Analysen pneumo- und plethysmographischer Kurven
bei Gefühlen und Affekten die Arbeiten von W. Gent. Philos. Stud.
Bd. 18, S. 715 ff. Alechsieff, Salow, Drozynski, Rehwoldt, Psychol. Stud.
Bd. 3 — 7. Vgl. zu dem Ganzen meine Physiol. Psychologie ^, II, S. 301 ff.,
III, S. 191 ff.
Gefühls verlauf der Affekte. 57
den Richtungen die Innervationen des Herzens und der Blutgefäße
zueinander stehen. Verstärkte Herzaktion pflegt nämlich mit einer
Hemmung des Gefäßtonus, und umgekehrt Hemmung des Herzschlags
mit einer Erregung der Konstriktoren der kleinen Arterien verbunden
zu sein: dort schafft die durch den Nachlaß des Tonus entstehende
Dilatation der Gefäße Platz für die durch die gesteigerte Herzaktion
erhöhte Blutwelle; hier folgt die durch die krampfhafte vasomotorische
Erregung eintretende Verengerung des Gefäß lumens der Abnahme des
Blutdrucks, die durch die Hemmung des Herzens bewirkt wird. Das
Erröten im Zorn bei gleichzeitiger heftiger Herzaktion, das Erblassen
beim Schreck, bei der Furcht, überhaupt allen übermächtigen Affekten,
sind deutliche Symptome dieser kompensatorischen Korrelation,
die jedenfalls auf zentrale Innervationsverbindungen zurückzu-
führen ist.
2. Gefühlsverlauf der Affekte.
Da jeder Affekt einen bestimmten Gefühlsverlauf darstellt,
kein einziges Gefühl aber als ein streng momentaner oder auch als
ein konstant in der Zeit andauernder Zustand festgehalten werden
kann, so sind ,, reine Gefühle" eigentlich nur Erzeugnisse einer psycho-
logischen Abstraktion. Alle wirkHchen Gefühle bilden vielmehr Be-
standteile eines niemals ganz zur Euhe kommenden Affektverlaufs,
und es läßt sich bei diesem immer nur von einzelnen relativen Ruhe-
punkten reden. Verfolgt man nun von solchen Punkten aus die Ge-
fühle in die bewegteren Affekte, so kann man nicht zweifeln, daß zwar
das so entstehende Zusammenwirken der Gefühle und ihr zeitlicher
Ablauf die Intensität und die Verbindung der einzelnen in hohem
Grade beeinflussen kann, daß aber niemals aus dem Affekt selbst
eigentlich neue Gefühlselemente entspringen. Hieran scheitert denn
auch von vornherein die Annahme, alle in dem Verlauf eines Affekts
vorkommenden Gefühle seien aus bloßen Lust- und Unlustgefühlen
zusammengesetzt, oder alle in Affekten vorkommenden Gefühle,
die nicht der Lust und Unlust unterzuordnen sind, entstünden erst
infolge der Affekte. Weder auf die eine noch auf die andere Weise
läßt sich begreifen, wie solche Gefühle überhaupt entstehen können.
58 Die Ausdrucksbewegungen.
Sollten sie aus den Lust- und Unlustgefühlen hervorgehen, so müßte
sich doch nachweisen lassen, daß Erregung und Beruhigung, Spannung
und Lösung wirklich mit Lust und Unlust verwandt seien oder min-
destens konstante Beziehungen zu diesen angeblich einfacheren Ge-
fühlen darbieten. Dem widerspricht aber direkt die Ta'tsache, daß
jede jener andern Gefühlsrichtungen sowohl mit einem Lust- wie mit
einem Unlustgefühl sich verbinden wie endlich ohne eines dieser
Gefühle bestehen kann. Es gibt einen Zustand der Erwartung, bei
dem man nichts als ein deutliches Gefühl der Spannung wahrnimmt.
Dieses auf bloße Spannungsempfindungen der Haut und der Muskeln
zurückzuführen, die allerdings infolge begleitender Muskelerregungen
entstehen, geht deshalb nicht an, weil sich solche Spannungsempfin-
dungen auch ohne jede Spur eines Erwartungsgefühls hervorbringen
lassen, z. B. durch einen Induktionsstrom oder durch eine willkür-
liche Innervation der Muskeln. Nicht minder lehrt die Beobachtung,
daß sich die Spannungsgefühle bald mit Lust-, bald mit Unlust-
stimmungen verbinden können. So ist die lange fortgesetzte un-
geduldige Erwartung ein oft bis zur Unerträglichkeit unlustvolles
Spannungsgefühl. Die mäßig ansteigende Erwartung dagegen kann,
besonders bei rhythmischen Eindrücken, ein lustvolles Spannungs-
gefühl sein. Ebenso gibt es Affekte, bei denen das Gefühl der Erregimg
mit Unlustgefühlen verbunden ist, wie der Zorn, und andere, bei denen
es Lustgefühle begleitet, wie die Freude.
Mißlingt demnach der Versuch, die genannten Gefühlsbestand-
teile der Affekte auf einzelne unter ihnen zu reduzieren oder sie in
anderweitige Elemente aufzulösen, so läßt sich aber umgekehrt auch
die Frage erheben, ob nicht außer ihnen noch weitere Grundformen
vorkommen. Ist die Erregung des Zornigen wirklich dasselbe Gefühl
wie die des Erfreuten ? Oder sind nicht etwa die bei der Tätigkeit
der Aufmerksamkeit, bei den Willenshandlungen, bei den Erinnerungs-
und Wiedererkennungsakten, beim gelingenden oder mißlingenden
Vollzug eines intellektuellen Prozesses vorkommenden Gefühle —
sind sie nicht alle wieder ebenso spezifisch verschiedene Qualitäten
wie Lust, Unlust, Erregung, Beruhigung usw. ? Nun enthält diese
Frage eigentlich zwei Fragen. Erstens: sind die angegebenen sechs
die einzigen Hauptrichtungen der Gefühle? Und zweitens: be-
Gefühls verlauf der Affekte. 59
zeichnet jede dieser Richtungen zugleich eine einzige einfache Gefühls-
qualität, oder deutet sie nur eine Gefühlsart an, unter der eine
Mannigfaltigkeit konkreter Gefühle enthalten sein kann, ähnlich
wie unter der Farbe Blau eine Menge einzelner Farbennuancen ver-
standen wird? Die große Vergänglichkeit der Gefühle, ihre Verbin-
dungen und Verschmelzungen, endhch ihre mangelhafte Unterscheidung
in den Benennungen der Sprache machen es nicht leicht, diese Fragen
zu entscheiden. Bei unbefangener Prüfung müssen sie aber doch,
wie mir scheint, dahin beantwortet werden, daß wirklich diese Haupt-
richtungen nicht Individual-, sondern Artbegriffe andeuten, daß sie
dann aber auch die einzigen Arten sind, welche vorkommen. Zunächst
lassen sich nämlich die verschiedensten konkreten Gefühle, denen
man auf den ersten Blick geneigt sein möchte, eine selbständige Stelle
anzuweisen, bei näherer Betrachtung auf Modifikationen oder Ver-
bindungen jener zurückführen. So dürften die eigentümlichen Er-
kennungs- und Wiedererkennungsgefühle bei der Begegnung mit
früher wahrgenommenen Gegenständen sowie die oft sehr intensiven
Gefühle bei den Vorgängen des Besinnens und Erinnerns aus auf-
einander folgenden Spannungs- und Lösungsgefühlen bestehen, mit
denen sich in etwas wechselnder Weise Erregungs- und unter Um-
ständen, aber keineswegs immer, Lust- und Unlustgefühle verbinden.
Die eigentümlichen Gefühle, die dunkel im Bewußtsein vorhandene
Vorstellungen begleiten, und durch die sich diese deutlich verraten,
während sie selbst doch durchaus unbestimmt bleiben, sind wohl
ihrem Hauptcharakter nach Spannungsgefühle, zunächst der Er-
wartung verwandt; es ist ihnen aber außerdem der sonstige Gefühls-
ton der dunkel perzipierten Vorstellung eigen, durch den jene oft
wahrzunehmende Stimmung entsteht, es gebe irgend etwas Angenehmes
oder Unangenehmes, das uns widerfahren werde, ohne daß wir doch
zu sagen wissen, was dies Angenehme oder Unangenehme sei. Aus
einer eigenartigen Verbindung von Spannungs- und Lösungs- mit
Erregungsgefühlen erscheint endlich der Willensvorgang zusammen-
gesetzt, und zugleich sind hier die verschiedenen Entwicklungsformen
der Willenshandlungen durch die verschiedene Intensität und Dauer
der Gefühlskomponenten gekennzeichnet. Bei dem einfachen Willens-
vorgang oder der Triebhandlung wachsen im allgemeinen das Spannungs-
60 Die Ausdrucksbewegungen.
und das Erregungsgefühl, die der Handlung vorausgehen, rasch an,
um dann plötzlich mit dem Vollzug des Willensakts dem meist zu-
gleich mit Lust verbundenen Lösungsgefühl Platz zu machen. Bei
der Willkürhandlung und besonders bei der Wahl zwischen einander
bekämpfenden Motiven befinden sich außerdem jene einleitenden
Gefühle in einem oszillierenden Zustand, der wie immer das Schwanken
zwischen entgegengesetzten Phasen, die Intensität der Gefühle zu
verstärken pflegt. Übrigens zeigt sowohl der Gefühls verlauf der
Willenshandlungen wie die Beschaffenheit sonstiger komplexer Ge-
fühle und Stimmungen, daß die Erregungs- und Hemmungsgefühle,
so oft sie auch mit denen der Spannung und Lösung vereinigt
sind, doch von diesen der Art nach abweichen. Denn auch hier
können beide Gefühlsformen wieder in wechselnden Verbindungen
vorkommen. So ist das Spannungsgefühl bei hochgradiger Er-
wartung von Erregung begleitet; aber dieses Erregungsgefühl kann
nun bei eintretender Erfüllung, wo das Lösungsgefühl bereits
intensiv hervorbricht, noch andauern, ja stärker werden als
vorher.
Die drei Grundformen der Gefühle, auf die wir so bei der Ana-
lyse der einzelnen Gemütszustände immer wieder geführt werden,,
scheinen nun außerdem zu den wichtigsten Eigenschaften des Ver-
laufs der Affekte in einer nahen Beziehung zu stehen. Erinnern wir
uns nämlich, daß das einzelne Momentangefühl strenggenommen
stets eine Abstraktion ist, weil jedes Gefühl Teil eines Gefühlsverlaufs,
jeder Gefühlsverlauf aber seinem allgemeinen Wesen nach ein Affekt
ist, so ergibt sich, daß in diesem kontinuierlichen Strom der Gefühle
jedes Element in dreifacher Weise bestimmt sein kann. Erstens
hat der Gefühlsverlauf in jedem AugenbHck einen bestimmten quali-
tativen Inhalt. Diese Gefühlsqualität des gegenwärtigen Eindrucks
gibt dem Gefühl jene Eigenschaften, die wir den allgemeinen Be-
griffen der Lust mid Unlust unterordnen können. Zweitens übt der
momentane Bewußtseinszustand immer eine Wirkung auf den nach-
folgenden aus, die sich als intensive Erregung oder Hemmung äußern
kann: das erstere, wenn die Gefühlskurve vom gegenwärtigen Moment
zum folgenden ansteigt, das letztere, wenn sie sinkt. Da sich dieser
Unterschied der Schwankungen des Verlaufs dem Vorstellungsinhalte
Gefühlsverlauf der Affekte. 61
des Bewußtseins mitteilt, so pflegt das Gefühl der Erregung zugleich
von einem rascheren, dasjenige der Hemmung von einem retardierten
Vorstellungswechsel begleitet zu sein. Drittens ist die gegebene Ge-
fühlslage durch den unmittelbar vorangehenden Zustand des Bewußt-
seins zeitlich bestimmt. Danach kann sich entweder ein voran-
gegangener Gefühlsverlauf seinem Abschlüsse zudrängen: dann ent-
steht ein Lösungsgefühl; oder es kann sich die Vorbereitung zu einem
solchen Abschlüsse vom vorangegangenen Moment auf den gegen-'
wärtigen fortsetzen: dann ist ein Spannungsgefühl von verschiedener
Stärke vorhanden. So sind es die drei allen psychischen Inhalten
gemeinsamen Eigenschaften der Qualität, der relativen Intensität
und des Zeitverlaufs, zu denen sich die drei Bestimmungsstücke eines
jeden in einen Affekt eingehenden Momentangefühls in Beziehung
bringen lassen. Dadurch ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß die
nähere qualitative Färbung in jeder dieser Dimensionen noch eine
wechselnde sein kann, da sie jeweils von den unendlich variierenden
Inhalten des Bewußtseins abhängig ist. Nicht minder kann die Be-
stimmtheit in irgendeiner Richtung oder in mehreren gleichzeitig zu
Null werden, was der partiellen oder eventuell totalen Indifferenz-
lage der Gefühle und damit dem Zustand der Affektlosigkeit ent-
spricht. Doch wird dieser Zustand wahrscheinlich nur zuweilen ge-
streift.
Wird so jedes Gefühl eigen thch erst in seiner Zugehörigkeit zu
einem Gefühlsverlauf oder Affekt in allen seinen Eigenschaften ver-
ständlich, so ergibt sich mm hieraus zugleich, daß jene graphische
Versinnlichung der Grundformen der Gefühle, wie sie die Fig. 1 (S. 50}
zeigt, eine unvollständige ist, weil sie eben nur die momentanen Be-
stimmungselemente eines gegebenen Gefühls, nicht dieses in seiner
ganzen Zugehörigkeit zu einem konkreten Affekt zum Ausdruck bringt.
Wollen wir die letztere Aufgabe irgendwie lösen, also die Veränderungen
der Gefühlslage in einer Reihe aufeinander folgender Momente oder
gar während der Dauer eines Affekts symbolisch darstellen, so ist dies
innerhalb einer einzigen ebenen Konstruktion natürlich nicht mehr
möglich, da bereits die Bestimmung der momentanen Gefühlslage
ein dreidimensionales Gebilde fordert. Dagegen läßt es sich schon
mit Hilfe der Ebene ausführen, wenn wir, wie in Fig. 8, den Affekt-
62
Die Ausdrucksbewegungen.
verlauf in bezug auf die drei Gefülilsdimensionen in drei gesonderten
Kurven darstellen, deren Abszissen die Zeiten bedeuten. Hier ordnet
sich der einem gegebenen Moment entsprechende Gefühlszustand den
ihm vorausgehenden und nachfolgenden Momenten unmittelbar ein,
wenn wir die senkrecht übereinander liegenden Punkte der drei Ab-
szissenachsen den gleichen Zeitpunkten entsprechen lassen. Es wird
dann bei einer solchen Darstellung, gegenüber dem einfachen, von
der Zeit abstrahierenden Schema der Fig. 1, zweckmäßig noch die
weitere Veränderung vorgenommen, daß man die innerhalb einer und
derselben Dimension liegenden Gegensätze, wie Lust und Unlust,
durch die Lage des betreffenden Punktes der Gefühlskurve über oder
unter der Abszissenlinie der Zeiten ausdrückt. Die positiven Ordi-
naten der auf der Linie L L' gezeichneten Kurve bedeuten demnach
Lustgefühle, die negativen Unlustgefühle, während die Höhe der
Ordinate jedesmal die Intensität des Gefühls mißt, womit dann von
selbst der Punkt, wo
die Kurve die Ab-
szissenachse schneidet,
die Indifferenzlage an-
zeigt. Ahnlich können
wir durch die Kurve
EE' den Verlauf der
Erregungs- und Be-
ruhigungsgefühle,
durch ß 8' den der
Spannungs- und Lö-
sungsgefühle darstel-
len. Der momentane
Gefühlszustand in ir-
gendeinem Zeitpunkte
t wird dann in seiner
21erlegung nach den drei Gefühlsdimensionen durch die drei dem
Abszissenwert entsprechenden positiven oder negativen Ordinaten
ausgedrückt. Alle drei Kurven zusammen schildern aber einen
Affektverlauf in bezug auf seine sämtlichen Gefühlskomponenten
und ihre Veränderungen in der Zeit. Die in Fig. 8 gezeichneten
Fig. 8. Beispiel eines Gefühlsverlaufs im Afiekt.
Gefühlsverlauf der Affekte. 63
Kurven würden so beispielsweise dem Vorgang entsprechen, der bei
der Erwartung und dem Eintritt eines lusterregenden Eindrucks
sich abspielt. Der Prozeß beginnt bei S mit einem allmählich an-
steigenden Spannungsgefühl, dem sich nach kurzer Zeit ein Unlust-
und ein Erregungsgefühl, beide ebenfalls allmählich wachsend, zu-
gesellen. Wirkt in einem Moment f der erwartete Reiz ein, so folgt
nun sofort ein Übergang des Spannungs- in das Lösungs-, des Unlust-
in das Lustgefühl, während die Erregung noch einige Zeit anhält, um
dann auf Null zu sinken und eventuell ebenfalls in ihren Gegensatz,
die Beruhigung, überzugehen.
Sucht man in dieser Weise, die subjektive Beobachtung durch
experimentelle Versuchsbedingungen unterstützend, Affekte zu ana-
lysieren, so ergibt sich, daß für die allgemeinen Typen des Ver-
laufs der Affekte nicht, wie für ihre momentanen Gefühlsinhalte,
die Lust- und Unlustrichtung, sondern die beiden andern Dimen-
sionen, die Erregung und Hemmung, die Spannung und Lösung,
von vorwiegender Bedeutung sind. Dies wird verständlich, wenn wir
uns an die oben bemerkte Abhängigkeit von den zeitlichen Bedingungen
der Gefühle erinnern. So sehr hier für deren unmittelbare Qualität
das Lust- oder Unlustmoment von entscheidendem Wert ist, weshalb
eben die andern Hauptrichtungen meist ganz übersehen wurden,
so sehr müssen, sobald man vom Gefühl zum Affekt übergeht, die-
jenigen Momente in den Vordergrund treten, bei denen diese Be-
ziehung zum Zeitverlauf die Hauptrolle spielt, während der Lust-
und Unlustwert bloß die Bedeutung eines konkreten qualitativen
Inhalts hat, der auf die Verlaufsform als solche nur indirekt von Ein-
fluß ist. Dabei sind dann weiterhin die Erregungs- und Hemmungs-
gefühle hauptsächlich für die eigentlichen Affekte maßgebend, die,
ohne daß sie Wirkungen von unmittelbar affekt lösendem Charakter
hervorbringen, durch allmähliche Beruhigung des Gefühlsverlaufs
endigen. Die alten Einteilungen in exzitierende und deprimierende,
sthenische und asthenische Affekte weisen schon deutHch auf dieses
Übergewicht der Erregungs- und Beruhigungsgefühle hin. Es würde
ja unbegreiflich sein, wie man dazu kam, einerseits Zorn und aus-
gelassene Freude, anderseits Schreck und überwältigende Freude
jedesmal als Affektformen von übereinstimmendem, beide Arten
64 Die Ausdrucksbewegmigen.
der Freude daher als solche von entgegengesetztem Typus zu betrachten,
hätte sich hier nicht dieses für die Affekte und die sie begleitenden
Ausdrucksbewegungen überwiegende, den Lust- und Unlustcharakter
zurückdrängende Moment der Erregung und Hemmung geltend ge-
macht. Übrigens ist es charakteristisch, daß erst der Versuch einer
wissenschaftlichen Einteilung der Affekte zu diesen die Verlaufsform
in den Vordergrund rückenden Abstraktionen geführt hat, während
die Unterscheidungen des gewöhnlichen Bewußtseins, wie sie in den
sprachlichen Bezeichnungen niedergelegt sind, auch hier bei den
momentanen Gefühlswerten mit ihrer Einordnung in die Lust- und
Unlustreihe stehen blieben. Solche Ausdrücke wie exzitierend, de-
primierend, sthenisch, asthenisch gehören ausschließlich der psycho-
logischen Theorie an. Die Sprache unterscheidet nur Freude, Leid,
Kummer, Sorge, Hoffnung, Furcht usw. Der Reichtum, über den
die Sprache bei diesen Lust- und Unlustbezeichnungen der Affekte
verfügt, indes sie den übrigen Gefühlsrichtungen gegenüber versagt,
begünstigte aber auch hier wieder das intellektualistische Vorurteil,
das sich der psychologischen Analyse der Gemütsbewegungen so oft
bemächtigt hat: man hielt jene Gegensätze der Erregung und Hemmung
meist für bloße Unterschiede des Vorstellungsverlaufs und erkannte
nicht, daß die letzteren selbst Begleiterscheinungen bestimmter, wohl
ausgeprägter Gefühlsqualitäten sind.
Neben den Gefühlen der Erregung und Beruhigung treten so-
dann in vielen Affekten auch die Spannungs- und Lösungsgefühle
als bedeutsame Elemente hervor. So bei Erwartung, Angst, Furcht,
Kummer, Sorge, Hoffnung, Zweifel, Erfüllung, Befriedigung usw.
Auch hier hat in der Sprache wieder vorwiegend das Lust- und Un-
lustmoment seinen Ausdruck gefunden. Nur in der eigentümlichen
Nebenbedeutung, die man schon im gewöhnlichen Sprachgebrauch
diesen Benennungen gegenüber den einfachen Begriffen der Freude
und des Leides beilegt, kommen jene Momente der Spannung und
Lösung unwillkürUch zur Geltung. Einen entscheidenden Wert be-
sitzen sie aber in ihrer eigentümlichen Verbindung mit Gefühlen der
Erregung und Beruhigung bei den Willensvorgängen, ein Ver-
hältnis, das diese in die unmittelbare Nachbarschaft der Affekte,
namentlich der sogenannten Zukunftsaffekte, rückt. Näher betrachtet
Gefühlsverlauf der Affekte. 65
sind sie in der Tat nur eine besondere Klasse der letzteren, die sich
von den übrigen durch die den Verlauf abschließende plötzliche
Lösung des Affekts unterscheidet. Diese Lösung wird aber bei
den ursprüngHchen Willens Vorgängen stets durch eine äußere Körper-
bewegung vermittelt.
Durch alle diese Beziehungen gewinnen nun die physischen
Begleiterscheinungen der Affekte, die Ausdrucksbewegungen, ihre
psychologische Bedeutung. Jeder Affekt ist vermöge jener natür-
lichen Einheit der psychophysischen Organisation, die als die nicht
weiter empirisch abzuleitende Voraussetzung der physischen wie psy-
chischen Lebensvorgänge angenommen werden muß, von Bewegungen
begleitet, die seinem Charakter entsprechen. Nennen wir diese be-
gleitenden Bewegungen allgemein Ausdrucksbewegungen, so ist es
daher nur eine besondere, diesen in gewissen Fällen zukommende
Nebenbestimmung, daß sie einen die endgültige Lösung des Affekts
bewirkenden Verlauf nehmen; und zugleich ist dies eine Eigentüm-
lichkeit, in der sich die Willensbewegungen nur durch ihre besondere
Anpassung an den vorhandenen Gemütszustand unterscheiden. Denn
alle Ausdrucksbewegungen sind schheßlich auf Wirkungen gerichtet,
die zur Lösung des Affekts beitragen. So die Bewegungen des Er-
freuten, des Zornigen, des Erschreckten usw. Wenn wir diese Be-
wegungen zwecklose nennen, so geschieht dies nur, weil sie den Zweck,
den sie sichtlich verraten, und ohne den wir den Charakter des ein-
zelnen Affekts gar nicht erkennen würden, nicht in einer die Lösung
desselben verwirklichenden Weise erreichen. Nicht einmal dies läßt
sich jedoch behaupten, daß sie in diesem Fall für die Lösung ganz
ergebnislos seien. Die Bewegungen des Zornigen, des Erfreuten, des
Bekümmerten, ja selbst des Erschreckten können immerhin zur Er-
mäßigung des Affekts beitragen. Auch können diese Bewegungen,
falls nur der Gegenstand des Affekts gegenwärtig ist, unmittelbar
in wirkliche Willenshandlungen übergehen. In solchen Fällen pflegen
wir dann den ganzen Vorgang bis zu einem bestimmten Punkt als
Affekt, und von da an erst als Willensakt zu betrachten. Aber es ist
klar, daß diese Scheidung im Grunde willkürHch bleibt. Der Affekt
selbst ist eben ein die Willenshandlung vorbereitender Prozeß; und
deshalb ist es schließhch nur ein Unterschied der meist durch äußere
Wtindt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. ^
ßß Die Ausdrucksbewegungen.
Bedingungen bestimmten größeren oder geringeren Vollständigkeit
dieses Prozesses, der die eigentlichen Affekte von den Willensvor-
gängen scheidet. So steht der Affekt in der Mitte zwischen Gefühl
und Willenshandlung, und die Begrenzung gegenüber jenem elemen-
taren und diesem komplexeren Vorgang ist, weil sie alle ein einziges,
zusammenhängendes Geschehen bilden, niemals streng durchzu-
führen. Von dem Gefühl ist der Affekt nicht sicher abzugrenzen,
weil jedes Gefühl eigentlich schon Bestandteil eines Affektverlaufs
ist. Von der Willenshandlung scheidet sich dieser nur durch die be-
sondere physische und psychische Endwirkung der begleitenden Aus-
drucksbewegungen. Nehmen wir aber die physiologischen Sym-
ptome zu Maßstäben, so lassen sich die einzelnen Gefühle als solche
Gemütserregungen definieren, deren physiologische Begleiterscheinungen
hauptsächlich auf Veränderungen der Herz-, Gefäß- und Atmungs-
innervation beschränkt sind. Bei den Affekten treten dann
außerdem Innervationsänderungen der allgemeinen motorischen
Nerven hinzu. Bei den in äußeren Handlungen endigenden Willen s-
vorgängen führen endlich diese allgemeinen Muskelinnervationen
zweckbewußte Bewegungen herbei, welche entweder unmittelbar
durch ihre Erfolge die Lösung des Affekts erreichen oder auf diese
Lösung abzielen. Die ohne einen solchen äußeren Enderfoig ver-
laufenden Willensvorgänge aber, die sogenannten ,, reinen inneren
Willenshandlungen", sind nicht primäre Formen, sondern sekundäre
Entwicklungsprodukte .
3. Innervation der Ausdrucksbewegungen.
Wie jene Innervationsänderungen des Herzens und der Blut-
gefäße, welche die einfachen Gefühlsregungen begleiten, lediglich
als Symptome der psychologischen Natur dieser Vorgänge anzu-
sehen sind, so ist das nicht anders bei den eigentlichen Ausdrucks-
bewegungen, die als Teilerscheinungen der Affekte auftreten. Auch
hier läßt sich daher streng genommen nur von einer regelmäßigen
Beziehung gewisser psychischer Vorgänge zu ihrer physischen Äußerung,
Innervation der Ausdrucksbewegungen. 67
nicht von einem im eigentlichen Sinne kausalen Verhältnis reden.
Der Affekt und die Ausdrucksbewegung samt den ihr vorausgehen-
den Innervationen sind eben in Wahrheit nur Bestandteile eines und
desselben Vorgangs, die verschiedenen Formen oder, wenn man will,
Standpunkten unserer Erfahrung angehören. Sie lassen deshalb nur
Beziehungen regelmäßiger Koordination, aber kein wirkliches Ver-
hältnis von Grund und Folge erkennen. Immerhin wird man gemäß
dieser Koordination erwarten dürfen, daß den allgemeinsten for-
malen Eigenschaften der Affekte analoge, wenn auch nach ihrem
realen Inhalt unvergleichbare Eigenschaften ihrer physischen Be-
gleiterscheinungen entsprechen. Namenthch in zwei Beziehungen
ist eine solche formale Analogie nach dem Prinzip des psychophysischen
Parallelismus vorauszusetzen. Erstens weist der enge Zusammen-
hang der subjektiven Affekte mit ihren äußeren Erscheinungsformen
darauf hin, daß die physischen Symptome des gesamten Gefühls-
lebens von einem einheitlichen Zentrum aus reguliert werden, welches
den zum Teil weit auseinander liegenden direkten Innervationsherden
übergeordnet ist. Zweitens legt der Umstand, daß sich die Inner-
vationsprozesse der Gefühls- und Affektsymptome, ebenso wie die
Gefühle und Affekte selbst, zwischen Gegensätzen bewegen, die An-
nahme nahe, daß sich in diesem Fall ein psychophysischer Parallelis-
mus irgendwelcher Art auch auf diese Gegensätze erstrecken
werde.
Die erste dieser Folgerungen führt auf ein physiologisches „Zentral-
organ der Gefühle". Natürlich kann jedoch in diesem Zusammen-
hang von einem ,, Organ" nur in demselben Sinne geredet werden,
wie dies bei dem Gehirn überhaupt den psychischen Funktionen gegen-
über möglich ist: nicht in dem gleichen Sinne nämlich, in dem wir
irgendeinen Körperteil als Organ bestimmter physischer Funktionen
betrachten, den Muskel z. B. als Organ der mechanischen Arbeits-
leistung, sondern in der Bedeutung jener oben berührten Koordi-
nation, wonach ein bestimmter Gehirn teil nur Organ der physischen
Teilvorgänge ist, die in einen psychophysischen Vorgang eingehen.
Demnach schheßt die Bezeichnung ., Organ", auf die psychischen
Prozesse angewandt, eine Ergänzung des wirklichen Kausalglieds
durch ein anderes ein, welches der an sich abweichenden physiolo-
68 Die Ausdrucksbewegungen
gischen Betrachtungsweise angehört. Wenn wir uns zu dieser Sub-
stitution gerade bei der Physiologie des Gehirns beinahe regelmäßig
genötigt sehen, so erklärt sich dies hinreichend daraus, daß die phy-
siologische Seite der Erscheinungen hier vorläufig noch so gut wie
unbekannt ist, während wir die psychologische aus der unmittel-
baren Erfahrung kennen. Freilich ersieht man hieraus zugleich, auf
einem wie gänzlich verkehrten Wege sich jene immer wieder auf-
tauchenden Versuche befinden, die aus den physiologischen oder
gar den anatomischen Verhältnissen des Gehirns eine Theorie der
psychischen Funktionen gewinnen möchten. Gerade der umgekehrte
Weg ist der einzig mögliche : nur die Analyse der psychischen Funk-
tionen selbst kann hier der physiologischen Untersuchung als Führerin
durch das allmählich zu lichtende Dunkel der Nervenprozesse und
durch das Labyrinth der Leitungswege zwischen den verschiedenen
Zentren dienen. In vielen Fällen sind wir aber leider noch ganz darauf
angewiesen, überhaupt nur auf Grund der psychischen und psycho -
physischen Funktionsbeziehungen Zentren und Leitungswege zu
postulieren, für die uns das anatomisch-physiologische Bild des Gehirns
vorläufig keine oder nur zweifelhafte Anhaltspunkte bietet. Wenn
man nun die engen Beziehungen ins Auge faßt, die zwischen den ver-
schiedensten Gefühlen und Affekten bestehen, und die in der oben
erörterten Einordnung in eine und dieselbe Mannigfaltgkeit allgemeiner
Gefühlsrichtungen ausgedrückt sind (S. 62), so kann man sagen:
hier machen die psychologischen Tatsachen ebensosehr ein einheit-
liches physiologisches Substrat wahrscheinHch, wenn sich umgekehrt
bei den Sinnesempfindungen, schon bevor man die abweichenden
Leitungswege der Sinnesnerven kannte, gesonderte Sinneszentren
der Vermutung aufdrängten. Aber wo liegt ein solches ,, Gefühls-
zentrum" ? Und wie führen die Wege, die von ihm aus den Zusammen-
hang der Gefühle und Affekte mit den verschiedenen Formen der
Ausdrucksbewegungen vermitteln? Beide Fragen sind nicht mit
Sicherheit zu beantworten. Wir wissen nur, daß es solche Wege geben
muß; und wir entnehmen hauptsächlich daraus, daß es bei den ver»
schiedensten Gemütsbewegungen die nämlichen Leitungswege sind,
die in Anspruch genommen werden, die Vermutung, das ,, Gefühls-
zentrum" selbst sei ein einheitliches Organ. Fragen wir aber nach den
Innervation der Ausdrucks bewegungen. 69
Beziehungen dieses Organs zu andern Zentralteilen, so sind es wiederum
nur psychologische Zusammenhänge, aus denen auf die physiologischen
zurückzuschließen ist. Das Gefühl ist, im Unterschiede von den ob-
jektiven Vorstellungen, ein einheitHcher Zustand, in welchem das
Verhalten des Subjekts zu den Objekten seinen Ausdruck findet»
Diese unmittelbare Beziehung auf das Subjekt legt die Annahme
nahe, das ,,Gefühlszentrum" sei mit dem allgemeinen Substrat der
Verbindung aller Bewußtseinsvorgänge oder, wie wir dies für die letzte
Zentralisierung der psychophysischen Prozesse zu postulierende Ge-
biet nennen, mit dem „Apperzeptionszentrum" identisch. Nun liegen
die nächsten Innervationsherde des Herzens, der Blutgefäße, der
Atmung, der mimischen und der pantomimischen Bewegungen un-
weit voneinander im verlängerten Mark, und sie sind durch mannig-
fache sekundäre Leitungsbahnen zu koordinierten Wirkungen ver-
bunden. Als ein Zentrum, das den verschiedenen Sinnes- und Be-
wegungszentren übergeordnet ist, da es mehr als irgendein anderer
Teil der Hirnrinde von diesen direkten Zentren her Fasern aufnimmt,
ist aber vermutlich der Teil der Hirnrinde anzusehen, der bei dem
Menschen der Stirnregion entspricht^ Läßt man diese Annahme zu,
so würde dann eine, sei es direkte, sei es irgendwie durch Zwischen -
Zentren imterbrochene Bahn zwischen diesem Apperzeptionszentrum
und den unmittelbaren Zentren bestimmter Bewegungsorgane die
hypothetische Grundlage der physiologischen Gefühls- und Affekt-
äußerungen sein. Diese Voraussetzungen müssen aber noch durch
weitere physiologische Annahmen ergänzt werden, sobald man auch
dem speziellen Parallelismus zwischen dem Gegensatz der Gefühls-
richtungen und den gegensätzlichen Erscheinungsformen der Inner-
vation gerecht werden will. Freilich wird man hier bei den physischen
Symptomen von vornherein nicht dieselbe qualitative Mannigfaltig-
keit erwarten, wie sie uns in den psychischen Inhalten der Affekte
entgegentritt. Der Begriff eines gleichartigen, bloß in den Bewegungs-
formen seiner Elemente unterschiedenen Substrats, den wir für die
physische Seite der Lebenserscheinungen festhalten müssen, führt
vielmehr auch hier die Forderung mit sich, daß den qualitativen Eigen-
schaften quantitative physische Relationen entsprechen.
In der Tat gilt ja schon auf Grund der physikalischen Analyse der
70 Die AuBdrucksbewegungen.
Satz, daß den Unterschieden der Form und Geschwindigkeit objek-
tiver Schwingungsvorgänge, wenn sie einen bestimmten, von der
besonderen Organisation der Sinneswerkzeuge abhängigen Grad er-
reichen, Modifikationen qualitativer Art innerhalb der reinen Emp-
findungen zugeordnet sind. Wenden wir diesen Gesichtspunkt auf
die Gefühlsvorgänge an, so kann demnach nicht erwartet werden,
daß man die Grundqualitäten der Gefühle in den begleitenden phy-
siologischen Vorgängen unmittelbar wiederfinde; sondern es kann
sich nur um eine Korrespondenz in jenem weiteren Sinne handeln,
in dem einem einfachen qualitativen Gefühlsunterschied sehr kom-
plexe, aber nicht minder charakteristische Unterschiede der Inner-
vation entsprechen mögen. Einen deutlichen Maßstab für dieses Ver-
hältnis geben uns hier gerade die äußerlich sichtbaren Wirkungen
der an die Gefühle und Affekte gebundenen Innervationen. Lust,
Unlust usw. sind, als Gefühle betrachtet, für uns unanalysierbare
Qualitäten. Aber ihre an den mimischen Muskeln des Mundes her-
vortretenden Ausdrucksformen sind im allgemeinen von höchst zu-
sammengesetzter Beschaffenheit. Dennoch treten sie insofern in ein
den Gefühlen analoges Verhältnis, als einzelne Bewegungen bei Lust
und Unlust, bei Erregung und Hemmung, bei Spannung und Lösung
entgegengesetzte Richtungen zeigen. So wird der Mundwinkel bei
Lustgefühlen aufwärts, bei der Unlust abwärts gezogen. So sind bei
der Erregung die mimischen und pantomimischen Bewegungen leb-
hafter, bei deprimierter Stimmung sind die mimischen Muskeln er-
schlafft. Die Spannmig als Gefühl ist auch physisch mit verstärkten
Spannungen der Antlitzmuskeln, die Lösung mit einem plötzlichen
Nachlaß dieser Spannungen verbunden usw. Dabei lassen sich die
Erscheinungen keineswegs dem einfachen Schema eines überall gleich-
förmig wiederkehrenden Gegensatzes räumlicher Richtungen, Ge-
schwindigkeiten und Energien unterordnen, sondern infolge der ver-
wickelten Zusammensetzung der psychophysischen Zustände können
Bewegung und Ruhe, Spannung und Erschlaffung sowie verschie-
dene Richtungen der Bewegung bei einer und derselben Ausdrucks-
form nebeneinander und über verschiedene Muskelgruppen verteilt
vorkommen. Allgemein gilt daher nur, daß die Ausdrucksbewegungen
hinreichend verschieden sind, um in unserer Gesamtauffassung als
Innervation der Ausdrucksbewegiingen. 71
gegensätzliclie Symptome zu gelten und sich so mit Gegensätzen
der Gefühle selbst fest zu assoziieren. Diesem Verhältnis der äußeren
Bewegungen muß aber notwendig das der zentralen Innervationen
entsprechen.
Innerhalb dieser Mannigfaltigkeit der Erscheinungen gibt es
einen Punkt, bei dem sich jene allgemeine Korrespondenz begleiten-
der Unterschiede zu einer bestimmteren Analogie verdichtet, einen
Unterschied der Innervationen nämlich, der zugleich die Bedeutung
eines vollkommenen Gegensatzes hat. Dies ist der physiologische
Gegensatz der Erregung und Hemmung. Er ist wahrscheinlich
in gewissen allgemeinen funktionellen Eigenschaften der nervösen
Substanz vorgebildet. In den für die zusammengesetzten Inner-
vationswirkungen maßgebenden Formen scheint er jedoch überall
erst infolge der Dazwischenkunft zentraler Elemente zustande zu
kommen, wo er vielleicht mit der verschiedenen Verbindungsweise
leitender Fasern und zentraler Gebilde zusammenhängt^). Die über-
sichtlichsten Verhältnisse bietet in dieser Beziehung die Herzinner-
vation. Denn es sind im Herzen selbst liegende zentrale Elemente,
die je nach der Art, wie ihnen von den höheren Zentralorganen aus
die Reize zufließen, entweder erregend oder hemmend auf die Herz-
bewegungen wirken. Da, soviel wir wissen, der Reizungsvorgang
in den leitenden Nerven selbst überall ein gleichartiger ist, so kann
die erregende oder hemmende Wirkung in diesem Fall nur in der Art
begründet sein, wie die Reizung auf jene Elemente einwirkt, die sich
im Herzen selber befinden. Hierbei sondert sich aber diese doppelte
Art der Innervation deshalb deuthch für unsere Beobachtung, weil
die Nervenbahnen, die erregende und hemmende Wirkungen auf das
Herz übertragen, zumeist in getrennten Nervenstämmen verlaufen:
die erregenden in den mit dem Sympathikus zum Herzen tretenden
Fasern, die jenem in den Rückenmarksnerven des sympathischen
Geflechts zufließen; die hemmenden in den dem zehnten Himnerven.
^) Vgl. die Erörterung der hier möglichen Vorstellungsweisen in meinen
Untersuchungen zur Mechanik der Nerven und Nervenzentren, II, 1876, S. 113 f.,
und Grundzüge der physiol. Psychologie «, I, S. 127 ff., dazu das von O. Dittrich
entworfene allgemeine Schema, Grundzüge der Sprachpsychologie, I, 1903, S. 444
Anm., und Atlas Fig. 77.
72 Die Ausdrucksbewegungen.
(Nervus vagus) angehörenden Herznerven. Zugleich ist bemerkens-
wert, daß sich die Hemmungsnerven in einem Zustand dauernder,
sogenannter ,, tonischer" Reizung befinden, wie wir aus der infolge
der Durchschneidung beider Vagusnerven bei Tieren eintretenden
Beschleunigung des Herzschlags schließen müssen. An den Erregungs-
nerven des Sympathikus läßt sich dagegen auf ähnlichem Wege keiner-
lei tonische Reizung nachweisen. Daß nun die Zentren oder Nerven-
kerne dieser beschleunigenden und hemmenden Herznerven ihrer-
seits wieder mit noch höher gelegenen Zentralteilen in Verbindung
stehen, ist schon im Hinblick auf die bald beschleunigenden, bald
hemmenden Wirkungen, welche die Gefühle und Affekte auf den
Herzschlag ausüben, jedenfalls im höchsten Grade wahrscheinlich.
Im Sinne der oben über die Zentren der Gefühlsinnervation gemachten
Voraussetzungen wird dabei vor allem wieder an das ,, Apperzeptions-
zentrum" zu denken sein. Abgesehen von dieser Verbindung zusammen-
gehöriger Innervationen zeigt es sich aber auch hier, daß schon bei
einfachen psychischen Vorgängen die korrespondierenden physischen
Erscheinungen von sehr verwickelter Natur sind. Gibt es doch schlech-
terdings keine einfache Affektform, der nicht eine höchst zusammen-
gesetzte, eventuell aus verschiedenen Erregungen und Hemmungen
bestehende Innervationswirkung entspräche. Außerdem zwingen
uns die physischen Symptome anzunehmen, daß Innervationen ver-
schiedener Zentralgebiete interferieren und infolgedessen, je nach
den Bedingungen der Leitung, bald gleichzeitige Vorgänge sich ver-
stärken, bald aber auch Erregungs- in Hemmungs- und Hemmungs-
in Erregungswirkungen übergehen können. So läßt der Herzstillstand
des Schrecks auf eine in dem Vaguszentrum ausgelöste starke Er-
regung schließen, die dann in den Zentren des Herzens selbst in eine
Hemmungsinnervation übergeht. Die Wirkung, die wir bei einfachen
Lustgefühlen beobachten, Verlangsamung und gleichzeitige Ver-
stärkung der Herzschläge, läßt sich durch eine mäßige Vagusreizung
hervorbringen; umgekehrt können wir die als Unlustsymptom ein-
tretende Beschleunigung und Verminderung der Pulse durch eine
Herabsetzung der normalen Dauererregung deö nämlichen Nerven
erzielen usw. Bedenkt man nun, daß bei den Gefühls- und Affekt-
wirkungen die entsprechenden Einflüsse mutmaßlich direkt dem
Innervation der Ausdrucksbewegungen. 73
Yaguszentrum im verlängerten Mark zugeleitet werden, so führt dies
zu der Annahme, ähnlich wie im Herzen selbst hemmende und er-
regende Verbindungen mit dessen Muskelfasern vorhanden sind, so
könne der Vaguskern im verlängerten Mark ebenfalls von den ihm
aus den höheren Hirnteilen zugeleiteten Fasern erregende und hemmende
Keizwirkungen empfangen^).
Wie das Herz vom Vagus aus unter einer dauernden zentralen
Innervation steht, so sind nun im allgemeinen auch die äußeren Muskeln
unseres Körpers dauernd in einem geringen, nach den besonderen
Bedingungen der Raumlage der Körperteile variierenden Grad inner-
viert. Im Unterschied von den Verhältnissen der Herzerregung führt
^ber hier die Dauerinnervation nicht zu einer Beeinflussung rhyth-
mischer Bewegungs Vorgänge, sondern sie äußert sich als ein stetig
andauernder Einfluß auf die Muskeln: diese befinden sich in einer
geringgradigen dauernden Spannung, einer tonischen Erregung.
Hierbei ist die letztere in ihrer Größe, abgesehen von sonstigen zen-
tralen Bedingungen, von den stattfindenden dauernden Sinnes-
erregungen abhängig, wie sich daraus ergibt daß der Tonus der Muskeln
einer Körperprovinz nachläßt, wenn man die von dem zugehörigen
Hautgebiet kommenden sensibeln Nerven durchschneidet. Außer-
dem scheint es, daß die relative Stärke der tonischen Erregungen
verschiedener Körperteile nach der Raumlage der Organe reflek-
torisch reguliert wird. Ihre Verteilung über die Flexoren und Exten-
^) Die nach dem Zusammenhang der physischen Symptome mit psy-
■chischen Zuständen zu postulierenden Verbindungen mit höheren Zentren
müssen übrigens, wie hier nebenbei bemerkt sei, noch durch ein weiteres
System von Leitungsbahnen ergänzt werden, das, nach seinen Wirkungen
jenem analog, in psychophysischer Beziehung insofern eine wesentlich an-
dere Bedeutung hat, als es mit den Gefühls- und Apperzeptionszentren
nicht in Beziehung steht. Zu der Annahme eines solchen Systems zentraler
Verbindungen von rein physiologischer Bedeutung, also, nach dem oben
(S. 44) aufgestellten Begriffe des Reflexes, von bloßen Reflexbahnen, nötigt
nämlich die Tatsache, daß irgendwelche Reize auf zentripetal verlaufende
Nerven auch dann bald erregende, bald hemmende Wirkungen auf die
Herzbewegungen ausüben können, wenn jene Reize gar nicht als Empfin-
dungen und Gefühle zum Bewußtsein kommen. Wahrscheinlich sind es ebenfalls
die Nervenkerne des verlängerten Markes, in denen diese Reflexbahn sich
schließt.
74 Die Ausdrucfesbewegungen.
soren der Glieder z. B. hängt wesentlich davon ab, ob wir sitzen,
stehen oder liegen, und welche besondere Lage wir in jedem dieser
Fälle annehmen. Besteht in dieser genauen Regulierung der relativen
tonischen Erregungen nach den Sinneseindrücken, die offenbar sehr
vollkommene zentrale Anpassungsvorrichtungen verlangt, schon eine
erhebliche Verwicklung der äußeren Muskelwirkungen, so liegt noch
eine weitere in der Verteilung der Innervationen über eine große An-
zahl von Muskeln. Hier sind wieder vorzugsweise die antagonistisch
wirkenden durch besondere zentrale Verknüpfungen einander an-
gepaßt, derart daß der Zunahme des Tonus einer gegebenen Muskel-
gruppe regelmäßig eine Abnahme bei ihren Antagonisten zu ent-
sprechen pflegt^). Diese Verhältnisse führen zu dem Schluß, daß
jener doppelten Regulierung des Tonus auch hier eine doppelte Inner-
vation entspricht, die den beiden Bestandteilen der Herzinnervation
gleicht, indem die eine eine Zunahme, die andere eine Abnahme des
Tonus herbeiführt, daher jene wieder als die erregende, diese als die
hemmende bezeichnet werden kann. Der Unterschied vom System
des Herzens liegt nur darin, daß in den Muskeln selbst keinerlei Um-
wandlung der zugeführten Nervenreize in Erregungs- oder in Hem-
mungswirkungen möglich ist, sondern daß diese schon im Zentral-
organ stattfindet. In den peripheren Nervenleitungen sind daher
überhaupt nur solche Fasern anzutreffen, deren Reizung Muskel-
erregung bewirkt. Dagegen scheinen in den Nervenzentren getrennte
Leitungen zu verlaufen, die in den im Gehirn und Rückenmark ge-
legenen Muskelzentren je nach den besonderen Bedingungen bald
Steigerimg, bald Herabsetzung des Tonus auslösen. Wie die Nerven-
keme des Vagus und Akzelerans, so müssen aber auch diese Tonus-
zentren schon in Anbetracht der Gefühls- und Affektsymptome noch
mit höheren Zentralgebieten, vor allem mit dem ,, Apperzeptions-
zentrum", in Verbindung stehen, von wo ihnen bald erregende bald
^) H. E. Hering und C. S. Sherrington, Über Hemmungen der Kontrak-
tion willkürlicher Muskeln bei elektrischer Reizung der Großhirnrinde, Pflüger»
Archiv für Physiologie, Bd. 68, 1897, S. 222 ff. Sherrington, Über das Zusammen-
wirken der Rückenmarksreflexe usw. Ergebnisse der Physiologie, Bd. 4, 1905,
S. 797 ff.
Innervation der Ausdrucksbewegungen. 75
hemmende Wirkungen zuströmen. Betrachten wir einen gewissen
mittleren Tonusgrad als neutralen Ausgangspunkt, der zugleich der
Indifferenzlage der Gefühle entspricht, so kann daher von diesem
Punkte aus in vierfacher Weise eine Innervationsänderung ein-
treten: erstens als dauernde Erhöhung des Tonus, zweitens als Ab-
nahme desselben, drittens als vorübergehender Kontraktionsvor-
gang, viertens als plötzliche Hemmung tonischer Erregungen. Bedenkt
man, daß diese vier Innervationen in der verschiedensten Weise kom-
biniert und über eine große Zahl von Muskelgruppen verbreitet neben-
und nacheinander vorkommen, so gibt dies eine schwache Vorstellung
von der unabsehbaren Komplikation der zentralen Vorgänge, die einer
einzelnen Ausdrucksbewegung zugrunde liegen. Auch wird diese
KompHkation nur wenig dadurch vereinfacht, daß die genannten
vier allgemeinen Erregungsformen wieder auf zwei zu reduzieren
sind: auf Erregung und Hemmung, die nur je nach Umständen dauernd,
tonisch oder in der Form eines plötzlichen, rasch vorübergehenden
Impulses, als Kontraktion oder Lähmung^ zur Erscheinung
kommen.
Am größten ist diese Komplikation sichtlich bei den mimischen
Ausdrucksbewegungen. Sie ergibt sich hier schon aus Beobachtungen,
die man bei der peripheren elektrischen Reizung einzelner Bündel
der beim Mienenspiel wirksamen Muskeln machen kann. Solche Ver-
suche wurden zuerst von Duchenne de Boulogne ausgeführt^). Er
variierte und kombinierte die Angriffspunkte der Eeize so lange, bis
es ihm geglückt war, diejenige Ausdrucksform zu erzeugen, die einer
bestimmten seelischen Stimmung, wie der Freude, dem Mißbehagen,
dem Kummer, der Sorge usw., entsprach. Die so gewonnenen Er-
gebnisse zeigen deutlich, daß es kaum eine Ausdrucksform gibt, an
der irgendein einzelner Antlitzmuskel mit allen seinen Fasern gleich-
mäßig beteiligt wäre; daß es dagegen in vielen Fällen nur ein eng
begrenzter Faserzug innerhalb eines größeren Muskelganzen ist, der
durch seine Zusammenziehung einem bestimmten Gesichtsausdruck
sein charakteristisches Gepräge verleiht. Gleichwohl ist es der eine
^) Duchenne de Boulogne, M^canisme de la Physiognomie humaine,
1862.
76 Die Ausdrucksbewegungen.
Nervenstamm des Fazialis, von dem aus die sämtlichen Antlitzmuskeln
innerviert werden. Die von den direkten Nervenkernen des Fazialis
sowie von den höheren Zentren ausgehenden Innervationen können
also in der feinsten Nuancierung auf einzelne Fasern des Nerven be-
schränkt sein; sie können aber nicht minder auch räumlich getrennte
Fasern zu gemeinsamer Aktion verbinden. Insbesondere müssen
für die Nerven beider Seiten solche Einrichtungen gemeinsamer Aktion
existieren, die gleichwohl in bestimmten Fällen außer Wirksamkeit
treten können, um eigenartige mimische Ausdrucksformen, wie z. B.
die der Verachtung, des Argwohns und ähnlicher Gemütsstimmungen
von zwiespältigem Charakter, hervorzubringen. Dächte man sich,
diese ganze Fülle teils tonischer, teils vorübergehender Erregungen
samt den namentlich bei gewissen Affekten noch hinzutretenden
Hemmungserscheinungen sollte willkürlich in dieser Weise verteilt
und abgestuft werden, so würde schon der einfachste Affektausdruck
ein Zusammenspiel zahlreicher, alle wieder einem herrschenden Willen
gehorchender Einzelkräfte fordern, dem höchstens die Ausführung
eines symphonischen Kunstwerks von verwickeltstem kontrapunk-
tischem Aufbau durch ein wohlgeschultes Orchester verglichen wer-
den könnte. Nur werden jene natürlichen Ausdrucksformen der Ge-
fühle meistens überhaupt nicht willkürlich hervorgebracht, oder,
wo dies der Fall sein sollte, da sind sie bloß in gewissen Endwirkungen,
niemals in den einzelnen Bestandteilen und Hilfsmitteln dieser Wir-
kungen gewollt. Bei den sonstigen Ausdrucksformen, so namentlich
bei dem Gebärdenspiel der Arme und Hände, ist zwar, der verhält-
nismäßig roheren Muskelanordnung gemäß, die isolierte Beweglich-
keit einzelner Faserbündel nicht zu gleich hoher Vollendung aus-
gebildet; die Kombination der Bewegungen bleibt aber auch hier
von gleichem unübersehbarem Reichtum, und die größere Unab-
hängigkeit der symmetrischen Organe beider Körperhälften von-
einander erhöht in diesem Falle noch die Mannigfaltigkeit der Er-
scheinungen. Zu welch unendlicher Verwicklung gestaltet sich vollends
dieses Spiel der Innervationen, wenn man der Verbindungen gedenkt,
in die mimische und pantomimische Bewegungen untereinander treten
können! Besonders, wenn man erwägt, daß beinahe jede Ausdrucks-
form nach ihren psychophysischen Bedingungen wieder eine drei-
Sensorische Rückwirkungen der Ausdrucksbewegungen. 77
fache Bedeutung haben kann: die des automatischen, ohne jede Be-
teihgung des Bewußtseins auftretenden Reflexes, die der einfachen
Triebbewegung, endlich die der willkürlichen Handlung — Formen,
die sich dann noch mannigfach miteinander verbinden, weil Willens-
handlungen stets zugleich von eingeübten automatischen Mitbewegungen
begleitet werden. Immerhin zeigt diese verschiedene psychophysische
Bedeutung, die eine und dieselbe Ausdrucksform haben kann, daß
mannigfaltiger noch als das Spiel der äußeren Erscheinungen die
innere Mechanik der Innervationen selbst ist. Kann doch jede ein-
zelne Bewegung aus verschiedenen Formen des Zusammenwirkens
hervorgehen, indem bald nur die nächsten Nervenzentren, bald kom-
plizierte Reflexzentren, bald endlich die höheren Zentralgebiete daran
beteiligt sind. So bilden überhaupt die spezifischen mimischen und
pantomimischen Symptome eines einzelnen Affekts eigentlich über-
all nur einen besonders charakteristischen und deutlich sichtbaren
Ausschnitt aus der Fülle der Ausdrucksbewegungen, die den Affekt
begleiten, und an denen sich in der wechselnden Erhöhung oder Ver-
minderung der tonischen Muskelspannungen nahezu alle Muskel-
gebiete beteiligen können. Wie der Affekt selbst das ganze Gemüt
ergreift, so ist schließlich der ganze Körper der Träger seiner Aus-
drucksbewegungen ^).
4. Sensorisehe Rückwirkungen der Ausdrucksbewegungen.
Die, sobald wir an eine elementare Analyse der Funktionen denken,
unabsehbar werdende Verwicklung der Innervationen erfährt noch
eine letzte Steigerung durch eine meist vernachlässigte, aber nichts-
destoweniger auch für die psychologische Seite der Erscheinimgen
überaus wichtige Wechselbeziehung sensorischer und motorischer
Vorgänge. Sie hat darin ihre Grundlage, daß der gesamte Bewegungs-
^) Sehr bezeichnend für den Zusammenhang der Stellungen und Be-
wegungen der Körperteile mit dem Charakter der Affekte und insbesondere
auch der dauernden Affektrichtungen sind in dieser Beziehimg die Beobach-
tungen des Gesangslehrers Josef Rutz, herausgegeben von Dr. Ottmar Rutz,
Neue Entdeckungen von der menschlichen Stimme, 1908.
78 Die Ausdrucksbewegungen.
apparat des Körpers zugleich dem allgemeinen Tastsinne zu-
gehört, indem die bewegten Organe der Sitz jener „inneren Tast-
empfindungen" sind, die, in ihrer Qualität den äußeren Druckemp-
findungen verwandt, durch ihre Intensitätsänderungen, sowie durch
ihre mannigfach nuancierte Verteilung über verschiedene Muskel-
gruppen ein System wechselvoller und fein abgestufter Empfindungen
abgeben. Dieses entspricht nun auf das genaueste dem System der
Ausdrucksbewegungen, so daß jeder noch so leisen Veränderung der
letzteren eine entsprechende Veränderung jener Spannungs- und
Tastempfindungen parallel geht. Wie daher eine Ausdruck:sbewegung
primär einem bestimmten psychischen Affekte zugeordnet ist, so
sind sekundär die Spannungs- und Tastempfindungen fest mit be-
stimmten Ausdrucksbewegungen assoziiert. Nach dem allgemeinen
Prinzip der Assoziation gleichzeitig geübter Funktionen verbinden
sich aber mit den inneren Tastempfindungen wieder die primären
psychischen Zustände, deren physische Symptome ursprünglich die
Ausdrucksbewegungen waren. So ist z. B. ein unangenehmer bitterer
Geschmacksreiz, sowie jeder in seiner allgemeinen Gefühlsqualität
mit einem solchen Geschmackseindruck übereinstimmende Unlust-
affekt durch einen Komplex mimischer Bewegimgen gekennzeichnet.
Wenn wir nun die nämliche Bewegung des ,,bitteren" mimischen
Ausdrucks ohne den begleitenden Gefühlszustand, etwa willkürlich
oder durch elektrische Reizung der entsprechenden mimischen Muskeln,
hervorbringen, so entsteht die gleiche zusammengesetzte Spannungs-
empfindung, die bei der Affekterregung des Ausdrucks beobachtet
wird. Aber nicht bloß dies: es entsteht auch eine Gefühlsstimmung,
die der Affektgrundlage der Ausdrucksbewegungen verwandt ist.
Sie ist zunächst schwach, jedoch, wenn die Bewegung des öfteren
wiederholt wird, kann sie sich beträchtUch steigern. Auch wird sie
besonders dadurch verstärkt, daß die konkrete Richtung der ein-
geleiteten Assoziation bestimmte unlustbetonte Vorstellungen wieder-
erweckt. Natürlich kommen nun solche sekundäre Assoziationen
auch dann zustande, wenn der Ausgangspunkt der Erscheinungen
ein wirklicher Affekt ist; nur daß in diesem Fälle die Disposition zu
bestimmten Gefühlserregungen noch günstiger liegt und daher ener-
gischer in Wirksamkeit tritt. So erklärt sich die bekannte Erschei-
Sensorische Rückwirkungen der Ausdrucksbewegungen. 79
nung, daß nichts mehr geeignet ist, Affekte und Leidenschaften zu
steigern, als der ungehemmte Erguß derselben in äußeren Hand-
lungen.
Diese assoziative Steigerung der Affekte durch ihre Ausdrucks-
bewegungen ist gelegentlich bestritten worden. Nicht als ob man
eine solche Beziehung überhaupt leugnete, wohl aber, indem man
eine umgekehrte Richtung der Assoziation annahm. Nicht durch
die Ausdrucksbewegungen werde die zugehörige Stimmung erweckt,
sondern durch reine Vorstellungsassoziationen werde ein Affekt er-
zeugt oder ein vorhandener verstärkt und dann erst die entsprechende
Ausdrucksform hervorgerufen^). Diese Auffassung entspricht jedoch
weder den in diesem Falle zu machenden Beobachtungen noch den
sonst nachzuweisenden Bedingungen der Assoziation. Das früher
so verschwenderisch angenommene Auftreten ,, reiner Erinnerungs-
bilder" reduziert sich, wenn man den Phänomenen des Wiedererkennens
imd der Erinnerung genauer nachgeht, auf außerordentlich seltene
Fälle, bei denen überdies meist der Verdacht, daß irgendwelche direkte
Empfindungselemente übersehen worden seien, nicht ausgeschlossen
bleibt. Als allgemeine Regel darf es daher gelten, daß von unmittel-
bar gegebenen Eindrücken ausgehende Assoziationswirkungen über-
all das bilden, was wir einen Erinnerungsvorgang nennen. Nun ist
in dem vorHegenden Falle das tatsächlich gegebene Verhältnis dies,
daß wir eine Affektsteigerung an lebhafte Ausdrucksbewegungen
gebunden sehen, und daß wir diese Steigerung selbst dann noch
beobachten, wenn die Ausdrucksbewegung in ihrer ersten Entstehung
nicht einmal die Begleiterscheinung eines bestimmten Affekts war.
Alle diese Tatsachen fügen sich ohne Schwierigkeit dem durch die
mannigfachsten Erfahrungen bestätigten Satze, daß jeder Sinnes*
eindruck Erregimgen wachruft, die früher mit ihm verbunden gewesen
sind. Dagegen wird hier ganz ohne Not eine willkürlich und ursachlos
schaltende Phantasietätigkeit zu Hilfe gerufen, wenn man die Er-
scheinimgen aus bloßen Assoziationen zwischen den psychischen Affekt-
inhalten selbst ableiten will. Auf Grund jener wohlbekannten Ver-
bindungen zwischen direkten und reproduktiven Elementen läßt
^) Piderit, Mimik und Physiognomik, 2 I886, S. 20.
80 I^ie Ausdrucksbewegungen.
sich aber diese Wechselbeziehung zwischen Ausdrucksbewegung und
Affekt in zwei eng verbundene Vorgänge zerlegen. Zuerst erzeugen
die Ausdrucksbewegungen bestimmte Tast- und Spannungsempfin-
dungen; und dann assoziieren sich diese Empfindungen wieder mit
den Seelenzuständen, deren Symptome jene Bewegungen sind. Ist
das Bewußtsein ursprünglich affektfrei, wird also z. B. die Ausdrucks-
bewegung rein willkürlich erzeugt, so sind dann freilich auch die asso-
ziierten Gefühle und Affekte von sehr unbestimmtem Inhalt. Dies
ändert sich jedoch, sobald eine Assoziation mit gewissen bereit liegenden
Affektinhalten erfolgt, oder wenn der ganze Vorgang schon mit in-
haltsvollen Affekten beginnt. In diesem Falle wirkt die Ausdrucks-
bewegung sofort verstärkend auf den primären Affekt, und indem
sich der so gesteigerte wiederum in verstärkten Bewegungssymptomen
äußert, ist damit auch die Bedingung zu einer Wiederholung dieser
Wechselwirkungen gegeben.
Für das physiologische Innervationsproblem der Ausdrucks-
bewegungen entsteht nun aus diesen Verhältnissen eine weitere, nicht
unerhebliche Verwicklung. Denn physiologisch wird der verstärkende
Einfluß der äußeren Symptome auf die psychischen Vorgänge und
dieser auf jene wiederum nur durch ein System von Miterregungen
und Eeflexerregungen verständlich, die zu allen den vorhin erwähnten
Hemmungs- und Erregungsinn ervationen hinzutreten, während sie
zugleich von diesem ersten System derart abhängen, daß sie erst durch
die in ihm ablaufenden Innervations Vorgänge erweckt werden können.
Aus allem dem ergibt sich, daß, so groß auch die qualitative Mannig-
faltigkeit der Gefühlsinhalte und der psychischen Verlaufsformen
der Affekte sein mag, wenn man sie dem relativ einfachen Schema
erregender und hemmender Innervationen gegenüberstellt, doch an-
derseits die ungeheure Komplikation dieser Einflüsse vorläufig für
uns noch in viel höherem Grad ein unabsehbares Problem ist. Darin
findet die allgemeine Tatsache ihren Ausdruck, daß überall, wo uns
zusammengehörige psychische und physische Vorgänge gegeben sind,
der unendlichen qualitativen Mannigfaltigkeit der psychischen Ele-
mente eine große Gleichförmigkeit der physischen gegenübersteht,
daß dafür aber die extensive Ausdehnung und Komplikation der
Erscheinungen hier um so größer wird. Eben durch diese Übertragung
Herbert Spencers physiologische Theorie. 81
der intensiven in eine extensive Mannigfaltigkeit von Vorgängen
kommt dann jene durchgängige Beziehung der Variationen der
Gemütsstimmung zu dem wechselnden Spiel ihrer Ausdrucksformen
zustande, vermöge deren wir jede Ausdrucksbewegung als ein
adäquates Symptom der entsprechenden seelischen Kegung be-
trachten lernen.
III. Prinzipien der Ausdrucksbewegungen.
1. Herbert Spencers physiologische Theorie.
Da die Ausdrucksbewegungen physische Erscheinungen sind
und von uns als Symptome psychischer Zustände gedeutet werden,
so kann man die Prinzipien zu ihrer Erklärung auf jeder dieser Seiten,
der physischen wie der psychischen, zu gewinnen suchen. Als Haupt-
vertreter einer physiologischen Erklärung darf Herbert Spencer
gelten^). Indem er als die objektiven Tatsachen, auf die alle sub-
jektiven Phänomene unseres Bewußtseins zurückzuführen seien,
die Funktionen des Nervensystems betrachtet, ist damit auch sein
allgemeiner Standpunkt in der vorliegenden Frage gegeben^). Jeder
psychische Zustand, ob er dem Gebiet der Empfindungen und Vor-
stellungen oder dem der Gefühle und Affekte angehört, ist nach Spencer
die Begleiterscheinung irgendeiner Molekularbewegung innerhalb des
Nervensystems, die eine auf den übrigen Körper ausstrahlende ner-
vöse Entladung bewirkt, so daß dadurch verschiedene Symptome im
Gebiete der Herz- und Gefäßinnervation sowie des gesamten Muskel-
systems entstehen können. Von dieser Entladung wird angenommen,
sie sei ursprünglich eine völlig diffuse, in ihrer Ausbreitung nur nach
der Stärke der Erregung verschieden. Erstes Prinzip der Ausdrucks-
bewegungen ist demnach das Gesetz der wachsenden Ausbreitung
der Entladung bei zunehmender Erregung. Dazu gesellt sich als
zweites die Voraussetzung, daß bei jeder diffusen Entladung kleine
*) H. Spencer, Prinzipien der Psychologie, deutsche Ausg. II, S. 610 ff.
*) Ebenda, I, S. 99 ff.
Wundt, Völkerpsychologie. 1. 4. Aufl. 6
82 I^iö Ausdrucksbewegungen.
und an leicht beweglichen Organen befestigte Muskeln leichter als
große und schwer bewegliche ergriffen werden. Dies soll die vor-
wiegende Beteiligung der Antlitzmuskeln an allen Affektäußerungen
und ihre ausschließliche bei schwachen Affekten erklären. Dazu
kommt endlich als drittes Prinzip die Annahme eines allmählichen
Übergangs beliebiger zweckloser Körperbewegungen in zweckmäßige
im Laufe der generellen Entwicklung. Hierdurch soll allmählich eine
engere Beziehung zwischen den Nerven, in denen bestimmte Emp-
findungen imd Gefühle lokalisiert sind, und den Muskelgruppen ent-
stehen, deren Zusammenspiel in der Regel die Befriedigung jener
Gefühle herbeiführt. Auf diese Weise erklärt es sich, daß die Aus-
drucksbewegungen zahlreicher Affekte gemilderte Formen von Hand-
lungen sind, die ursprünglich bestimmten, die Befriedigung des Affekts
erzielenden Zwecken dienten: so das Ballen der Faust und das Zähne-
knirschen des Zornigen^).
Der ganz und gar hypothetische Charakter dieser drei Prinzipien
springt in die Augen. Das dritte namentlich ist offenbar nichts als
eine Anwendung der allgemeinen Annahme, daß die Willenshand-
lungen aus automatischen Bewegungen von ursprünglich zufälliger
und zweckloser Beschaffenheit durch eine Auslese des Nützlichen
entstanden seien. Es bedarf kaum noch der Bemerkung, daß gerade
das, was diese Hypothese als den Ausgangspunkt von Willenshand-
lungen wie Ausdrucksbewegungen annimmt, nämlich die Entstehung
zweckmäßig koordinierter Reflexe aus zufälligen Nervenentladungen,
nirgends nachzuweisen ist. Zu dieser imaginären Natur des voraus-
gesetzten Anfangs kommt dann aber noch eine andere Schwierig-
keit. Die Theorie setzt zwar ein ursprüngliches ,, Bewußtsein'^ voraus,
das eine an die Nervenentladungen unmittelbar gebundene „ästho-
^) Einige weitere diesen Prinzipien von Spencer beigefügte Hilfsannahmen
können hier übergangen werden, weil sie für die Beurteilung des Ganzen un-
wesentlich sind, während ihre Unwahrscheinlichkeit und der Widerspruch, in
den sie sich mit den Voraussetzungen der Theorie verwickeln, auf der Hand liegen.
Dahin gehört z. B. die Annahme, daß das Streben des Bewußtseins, gewisse
Affekte zu verbergen, bei der Verlegenheit, Scham usw. dazu geführt habe, die
primären Wirkungen durch sekundäre von entgegengesetzter Beschaffenheit zu
verdecken.
Herbert Spencers physiologische Theorie. 83
physiologische" Erscheinung sein solP). Doch sie stattet dieses Be-
wußtsein mit einer Eigenschaft aus, die keinem wirklichen Bewußt-
sein zukommt, nämlich mit der sozusagen bloß theoretischen Fähig-
keit der Empfindung und Wahrnehmung. Aus dieser soll sich dann
erst allmählich, nachdem zufällig einige jener Bewegungen zu nütz-
lichen Wirkungen geführt haben, deren willkürliche Beherrschung
herausbilden.
Aber auch dem ersten und zweiten Prinzip fehlt die zureichende
empirische Begründung. Indem das erste die Zunahme der äußeren
Symptome mit der Zunahme der inneren Vorgänge hervorhebt, bietet
es an sich keine Erklärung irgendwelcher Ausdrucksbewegungen;
sondern, da nun einmal bei allen von nachweisbaren physischen Pro-
zessen begleiteten Affektionen des Bewußtseins ein solches Verhält-
nis beziehungsweisen Wachstums zu bestehen pflegt, so konstatiert
es im Grunde nur diese allgemeine Tatsache auch für diesen einzelnen
Fall. Daneben ist das Prinzip zugleich insofern mangelhaft formu-
liert, als es in der ,, diffusen Erregung" einen an sich eigentlich gleich-
artigen, nur nach Ausbreitimg und Stärke verschiedenen Vorgang
voraussetzt. Um den Hemmungswirkungen gewisser Affekte gerecht
zu werden, verweist darum Spencer auf den bei starken Affekten
vorkommenden Stillstand des Herzens, der wegen der Störung des
Blutzuflusses zu den Muskeln eine allgemeine Erschlaffung zur Folge
habe. Nun ist es richtig, daß der Herzstillstand in hohem Grade de-
primierend auf die willkürlichen Muskeln wirkt. Aber jene plötzlichen
Affektlähmungen, wie man sie z. B. beim Schreck beobachtet, wo die
äußeren Wirkungen vollkommen gleichzeitig mit den Herzsymptomen,
wenn nicht schneller eintreten, können unmöglich auf diese Weise
gedeutet werden. Überdies kommen solche Hemmungsinnervationen
nicht bloß als Wirkungen stärkster Affekte vor. Namentlich zeigt
das wechselnde Spiel der Antlitzmuskeln eine oft äußerst fein ab-
gestufte, meist auf verschiedene Muskeln verteilte Kombination er-
regender und hemmender Wirkungen. So pflegt sich z. B. die Mimik
der Überraschung in einer plötzlichen Erschlaffung der zuvor ge-
^) Prinzipien der Psychologie, I, S. 99.
6*
84 Die Ausdnicksbewegungeii.
spannten Wangenmuskeln und daneben in einer Kontraktion der bei
gespannter Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand in Aktion tretenden
Augen- und Stirnmuskeln zu äußern. Die Gefühlskomponenten des
Vorgangs verteilen sich also hier in ihren äußeren Symptomen über
verschiedene Muskelgebiete: die Erschlaffung der Wangenmuskeln
spiegelt die plötzliche, dem Schreck verwandte deprimierende Wirkung
des unerwarteten Eindrucks; in der Kontraktion der Augen- und
Stirnmuskeln kommt die gleichzeitige, die gesteigerte Aufmerksam-
keit begleitende Erregung und Spannung zur Geltung. Man darf
daher wohl sagen: wenn die Existenz einer der des Herzens analogen
doppelten Innervation für das äußere Muskelsystem nicht durch
andere physiologische Erscheinungen nahegelegt wäre, schon die
Beobachtung der Ausdrucksbewegungen würde sie unzweifelhaft
machen.
Noch weniger als das erste läßt sich das zweite Prinzip, das die
besondere Bedeutung der mimischen Bewegungen aus der Kleinheit
und leichten Beweglichkeit der Antlitzmuskeln ableiten will, als ein
glücklicher Ausdruck der Tatsachen anerkennen. Gibt es doch eine
große Zahl kleinerer Muskeln am menschlichen Körper, z. B. die kleinen
Wirbel- und Zwischenrippen-, die Finger- und Zehenmuskeln, von
denen manche überdies an leicht beweglichen Teilen befestigt sind,
ohne daß sie darum zu den Affektäußerungen in einer näheren Be-
ziehung stehen. Es ist also klar, daß die Antlitzmuskeln die be-
sondere Wichtigkeit, die sie für den Ausdruck der Gemütsbewegungen
erlangt haben, nicht ihrer Kleinheit verdanken können. Auch weisen,
wie Spencer selbst zugibt, manche Erscheinungen auf andere Be-
dingungen hin. Wenn z. B. der Zornige mit den Zähnen knirscht,
so geschieht das zunächst nicht deshalb, weil die Mundmuskeln klein
und leicht beweglich, sondern weil sie eben die Muskeln sind, die schon
im tierischen Zustand bei dem Beißen und Zerreißen des Feindes
wirksam werden mußten. Oder wenn Spencer das Stirnrunzeln als
erstes Anzeichen eines unangenehmen Gefühls daraus ableitet, daß
der Urmensch, um seine aus der Ferne herannahende Beute zu er-
spähen, die Augen beschattet habe^), so würde es, selbst wenn man
^) Prinzipien der Psychologie, II, S. 618.
Darwins Prinzip der zweckmäßig assoziierten Gewohnheiten. 85
diese immerhin zweifelhafte Hypothese annehmen will, wiederum nicht
die Kleinheit des ,,Corrugator superciliorum", sondern seine Be-
ziehung zum Auge sein, die diese mimische Bewegung erzeugt hat.
Alle diese einzelnen Interpretationen bewegen sich übrigens, wenn
man von der fragwürdigen Annahme des ersten Ursprungs zweck-
mäßiger Willenshandlungen absieht, eigentlich auf psychologischem
Gebiet. Man kann daher das Urteil über diese ganze Theorie dahin
zusammenfassen: wo sie sich auf die Erklärung der einzelnen Erschei-
nungen einläßt, da fällt sie aus der Rolle und wird psychologisch;
insoweit sie dagegen wirklich eine physiologische Theorie ist, besteht
sie aus teils unkontrollierbaren, teils der Erfahrung widerstreitenden
Hypothesen 1).
2. Darwins Prinzip der zweckmäßig assoziierten
Gewohnheiten.
Bei dem Punkte, wo Spencers Prinzipien auf die generelle Ent-
wicklung gewisser Ausdrucksbewegungen hinweisen, hat Darwin
das Problem aufgenommen 2). Die Frage der Vererbung steht im
Vordergrund seiner Untersuchungen. Die Ausdrucksbewegungen
sind ihm nicht sowohl um ihrer selbst willen von Wert, als deshalb,
weil sie ein Gebiet bilden, auf dem sich die Vererbung funktioneller
Anlagen in der verschiedensten Weise nachweisen läßt : im allgemeinsten
Umfang an der Analogie tierischer und menschlicher Ausdrucks-
1) Schon die Theorie Spencers steht der Annahme nahe, daß nicht die
Ausdrucksbewegung die Wirkung des Affekts, sondern umgekehrt der Affekt
selbst erst eine Wirkung der Ausdrucksbewegungen sei. C. Lange (Über Ge-
mütsbewegungen, aus dem Dänischen von H. Kurella, 1887) und W. James
(Principles of Psychology, 1890, II, pag. 442 ff.) haben dann den Versuch ge-
macht, diese Annahme näher durchzuführen. Das Mittelglied sollen dabei die
,, Gemeinempfindungen" bilden. Ich enthalte mich hier einer näheren Erörterung
dieser Theorie und verweise auf die Abhandlung Zur Theorie der Gemüts-
bewegungen, Kleine Schriften, Bd. 2, S. 379. Dazu Physiol. Psychol. «, II, S. 376 f.,
III, S. 261 ff.
2) Darwin, Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und
den Tieren. Deutsche Ausg. 1872.
86 Die Ausdrucksbewegungen.
formen, in etwas engeren Grenzen an der Übereinstimmung der Ge-
bärden bei verschiedenen Menschenstämmen, im engsten Bezirk end-
lich an der Vererbung individueller Bewegungen in einzelnen Familien.
Die in dieser Absicht von Darwin gesammelten Beobachtungen sind
überaus wertvoll, und es kann kaum einem Zweifel unterliegen, daß
der erstrebte Zweck durch sie erreicht ist: die von Spencer nur an
wenigen, zum Teil in ihrer Deutung zweifelhaften Fällen erläuterte
Vererbung ist auf diesem Gebiete von Darwin durch eine Fülle von
Tatsachen erwiesen worden. Viele dieser Tatsachen bestätigen zu-
gleich den Satz, daß sich zahlreiche Ausdrucksformen als abgeschwächte
Überlebnisse einstiger, in tierischen Zuständen noch jetzt zu beobach-
tender Willenshandlungen betrachten lassen. Für uns steht natür-
lich nicht diese speziell auf die Vererbungslehre gerichtete Tendenz
der Darwinschen Untersuchung, die ihre eigentliche Bedeutung aus-
macht, sondern der sonstige, namentlich der psychologische Ertrag
derselben im Vordergrund des Interesses. Hier aber hat Darwin,
abgesehen von der sorgfältigen Analyse einzelner Ausdrucksbewegungen
bei Tieren und Menschen, den durch Spencer vertretenen allgemei-
neren Anschauungen nichts Wesentliches hinzugefügt. Immerhin
darf man vom empirischen Standpunkt aus auch das als ein Ver-
dienst seiner Arbeit ansehen, daß er sich auf physiologische Hypo-
thesen über den Ursprung der Willenshandlungen nicht einläßt. In-
folgedessen stellen sich seine Prinzipien der Ausdrucksbewegungen
teilweise schon auf den Boden einer psychologischen Deutung. Das
wichtigste dieser Prinzipien ist das der ,, zweckmäßig assoziierten
Gewohnheiten". Gewisse Handlungen seien dadurch, das sie die
Gefühle und Triebe, die an bestimmte Seelenzustände gebunden sind,
befriedigen, von direktem oder indirektem Nutzen. Es entstehe da-
her eine gewohnheitsmäßige Assoziation zwischen diesen Seelen-
zuständen und jenen Bewegungen, so daß beide einander stets und
auch in solchen Fällen begleiten, wo die Bewegungen infolge der ob-
waltenden Bedingungen von gar keinem Nutzen mehr sein können.
Hierher gehören das Zähneknirschen in der Wut, die Angriffsbewegungen
im Zorn, das Zusammenfahren im Schreck, welches letztere ursprüng-
lich durch die Gewohnheit entstanden sein soll, einer Gefahr so schnell
als möglich durch einen Sprung zu entgehen. Auf diese Weise nimmt
Darwins Prinzip der zweckmäßig assoziierten Gewohnheiten. 87
auch Darwin einen allmähliclien Übergang gewohnheitsmäßig asso"
ziierter, also ursprünglich willkürlicher Bewegungen in Keflexe an,
obgleich er bezweifelt, daß alle Eeflexbewegungen auf solche Weise
zu erklären seien. Besonders aber betont er gerade bei den zweck-
mäßig assoziierten Bewegungen das Gesetz der Vererbung, nach
welchem eine von den Vorfahren erworbene Assoziation in den späteren
Generationen als eine angeborene Anlage auftreten könne ^).
Die Umschau über das ganze Gebiet ,, zweckmäßig assoziierter
Gewohnheiten" lehrt nun aber, daß die so entstandenen Ausdrucks-
bewegungen entweder ausschließlich oder doch vorzugsweise zu Un-
lustaffekten in Beziehung stehen. Zorn, Wut, Verachtung, Schmerz
äußern sich in Bewegungen, die sich auf ursprünglich nützliche Willens-
handlungen zurückführen lassen. Bei Freude, Hoffnung, Zuneigung
ist das gleiche nicht ohne weiteres ersichtlich. Dennoch äußern sie
sich in Bewegungen, die wir als bezeichnende Symptome für die Quali-
tät der Affekte ansehen. Zu ihrer Interpretation glaubt daher Dar-
win nur den allgemeinen Gesichtspunkt verwerten zu können, daß
sie ihrer Erscheinungsweise nach zu bestimmten andern Symptomen
im Gegensatz stehen. So sind z. B. die Bewegungen, die ein Hund
oder eine Katze ausführen, wenn sie sich einem andern Tier oder dem
Menschen in feindseliger Absicht nahen, unmittelbar Vorbereitungs-
akte zu Angriffsbewegungen. Die Bewegungen der gleichen Tiere
in demütigen und zuneigungsvollen Stimmungen dagegen sind an
sich zwecklos, bilden aber einen durchgängigen Gegensatz zu jenen.
Sie werden also aus dem Prinzip des Kontrastes erklärt. Eine direkte,
von dem Kontrast unabhängige Beziehung der Bewegungen zur Seelen-
stimmung läßt sich nach Darwins Meinung in diesen Fällen im all-
gemeinen nicht auffinden 2).
Mögen nun immerhin unter diesen Prinzipien zahlreiche, für die
Entwicklung der Willenshandlungen wie der Ausdrucksbewegungen
bedeutsame Tatsachen unter einheitlichen Gesichtspunkten zusammen-
gefaßt sein, so bleibt es doch ein Übelstand, daß hier allgemeine Be--
1) A. a. O. S. 28 ff.
2) A. a. 0. S. 28, 51 ff.
88 Die Ausdrucksbewegungen.
griffe, wie Gewohnheit und Gegensatz, die selbst erst der Erklärung
bedürfen, als erklärende Ursachen eingeführt werden. Bei der Ge-
wohnheit kann man sich wohl am ehesten noch diese Lücke ergänzt
denken, und mit dem Vorbehalt dieser Ergänzung wird in der Tab
hier so wenig wie anderwärts das ,, Gesetz der Gewohnheit" zu missen
sein. Nach den Erscheinungen individueller Einübung und des durch
sie vermittelten Übergangs willkürlicher in automatische Bewegungen,
auf die oben (S. 46 f.) schon hingewiesen wurde, ist es aber doch er-
forderlich, daß man diesen Begriff der ,, Gewohnheit'' in seine psycho-
physischen Elemente zerlegt. Auf psychischer Seite besteht nun
jeder Vorgang der Übung darin, daß von einer ursprünglich in allen
ihren Bestandteilen mit Bewußtsein ausgeführten Bewegung zuerst
gewisse Zwischenglieder und dann allmählich der ganze Verlauf aus
dem Bewußtsein verschwinden. Nach seiner physischen Seite be-
steht der gleiche Vorgang in einer immer vollkommener werdenden
Anpassung des Umfangs und Verlaufs der Bewegung an eine bestimmte
Einwirkung, demnach in einer Ausschaltung von Nebeneffekten, die
ursprünglich in wechselnder Weise die Bewegung begleiten. Dieser
Prozeß setzt als Bedingung eine Eigenschaft des Nervensystems voraus,
die sich uns in der Tat schon in gewissen elementaren Erscheinungen
der Nervenerregung zu erkennen gibt. Es ist die, daß mäßige Rei-
zungen irgendeiner Nervenfaser eine Steigerung der Erregbarkeit
erzeugen. Diese Nachwirkung in ihrer auf bestimmte, oft wieder-
holte Erregungen eingeschränkten Ausbreitung ist offenbar mit dem,
was wir ,,Übung'^ oder ,, Gewöhnung" nennen, identisch. Denn so-
bald irgendeine komplexe Bewegung wiederholt in der Weise aus-
geführt wird, daß gewisse ihrer Bestandteile variieren, während an-
dere gleichmäßig wiederkehren, so müssen notwendig infolge jener
Steigerung der Erregbarkeit durch die Erregung diese regelmäßigen
Bestandteile des Vorgangs immer mehr erleichtert werden^). Die
^) Vgl. meine Untersuchungen zu Mechanik der Nerven, TI, 1876, S. 65,
132 ff. Phys. Psych. * I, S. 111 ff. Ähnliche Anschauungen sind in neuerer Zeit
noch von verschiedenen Physiologen ausgesprochen worden. So namentlich
von S. Exner (Entwurf zu einer physiologischen Erklärung der psychischen Er-
scheinungen, I, 1894, S. 76), der hierbei für die Übungserfolge der Erregungs-
leitung den Ausdruck „Bahnung" vorgeschlagen hat.
Darwins Prinzip der zweckmäßig assoziierten Gewohnheiten. 89
hierbei zugleich sich einstellende Mechanisierung der Bewegungen
weist außerdem darauf hin, daß zu diesen allgemeinen Erregbarkeits-
änderungen noch die allmähliche Ausschaltung höherer Nerven-
zentren als eine komplizierende Erscheinung hinzutritt. Der wachsen-
den Reizbarkeit der zunächst erregten zentralen Elemente geht also
eine Beschränkung in der Ausbreitung der Reizungs Vorgänge parallel^) .
Aus diesen Betrachtungen erhellt übrigens, daß eine rein physiolo-
gische ebensogut wie eine rein psychologische Erklärung des Begriffs
,, zweckmäßig assoziierter Gewohnheiten" unmöglich ist. Denn phy-
siologisch können wir zwar, wenn erst gewisse, auf bestimmte Zwecke
gerichtete Willenshandlungen gegeben sind, deren allmähliche Ver-
vollkommnung und Mechanisierung an der Hand der Gesetze der
Nervenerregung und der Nachwirkungen der Erregbarkeit begreifen.
Was wir jedoch auf diesem physiologischen Wege nicht verständlich
machen können, das ist der Anfang, die Willenshandlung selbst und
ihre unmittelbare Verbindung mit bestimmten, bereits dem Inhalt
des Wollens, d. h. den dasselbe konstituierendön Gefühlen und Vor-
stellungen, irgendwie adäquaten Körperbewegungen. Wenn wir da-
her alle empirisch nicht gerechtfertigten metaphysischen Hilfskon-
struktionen beiseite lassen, so führt das Darwinsche Prinzip der Ge-
wöhnung auf vielleicht unvollkommene, aber doch von Anfang an
unmittelbar mit den psychischen Willensregungen verbundene zweck-
mäßige Bewegungen zurück. Der Vorgang, durch den solche Willens-
handlungen in bloße Ausdrucksbewegungen übergehen, muß dann
wiederum als ein doppelter, als ein psychischer und ein physischer,
gedacht werden. Auf beiden Seiten ist hier ein zwiefacher Prozeß
vorauszusetzen. Erstens hat sich infolge der Kultur allmählich der
psychische Inhalt der Affekte ermäßigt, und ist demgemäß physisch
die Intensität der Ausdrucksbewegungen vermindert worden; und
^) Auch diese Tatsache ist wahrscheinlich zu gewissen allgemeinen Er-
gebnissen der Nervenphysiologie in Beziehung zu bringen, und zwar wird man
hier vor allem an die im Gebiete der zentralen Nervenerregung nachzuweisen-
den Interferenz- und Hemmungserscheinungen denken können. Vgl. Unter-
suchungen zur Mechanik der Nerven, II, S. 84 ff., 106 ff., Phys. Psych. »
I, S. 129 ff.
90 I^ie Ausdrucksbewegungen.
z\Yeitens hat sich der Willensvorgang zuerst in einzelnen seiner Glieder
und dann in seinem ganzen Ablauf verdunkelt, während in gleichem
Maße die mechanische Sicherheit der Bewegungen zunahm. Dem
entspricht, daß diese physiologisch dezentralisiert wurden, indem
sich die Arbeit der Übertragung des Eeizes in motorische Erregungen
mehr und mehr auf niedrigere Zentren einschränkte. Zugleich muß
freilich hinzugefügt werden, daß es sich gerade bei den Ausdrucks-
bewegungen, solange sie wirkliche Symptome bestimmter Gemüts-
bewegungen sind, nicht um eine Ausschaltung der höheren Zentren
überhaupt handelt, sondern nur jener, die zu den Vorstellungen
der äußeren Bewegungen in Beziehung stehen. Die Gefühls- und
Vorstellungsprozesse, die in die Gemütsbewegungen selbst eingehen,,
bleiben ja im allgemeinen bewußt und weisen also auf die Funktionen
der entsprechenden Sinnes- und Apperzeptionszentren hin. Solche-
Ausdrucksbewegungen aber, die zu reinen Reflexen geworden sind,
bei denen also Gefühls- und Vorstellungsinhalte überhaupt hin weg-
fallen, bilden offenbar nur einen Grenzfall. Die meisten bleiben fortan
auf der Stufe triebartiger Handlungen: bestimmte Motive sind im
Bewußtsein, nicht minder der Ausdruck dieser Motive in Bewegungen ;
doch die letzteren folgen ohne vorausgehenden Streit der Motive und
darum auch ohne besondere Anpassung an einen äußeren Erfolg den
herrschenden Eindrücken und Gefühlen. Mit dieser näheren Bestimmung
seines Inhalts kann man das Darwinsche Gesetz ,, zweckmäßig asso-
ziierter Gewohnheiten" als ein für zahlreiche, wenn auch keineswegs^
für alle Ausdrucksbewegungen zutreffendes psychophysisches Prin-
zip anerkennen.
Anders verhält es sich mit dem Prinzip des Kontrastes. Es
ist einem doppelten Einwurf ausgesetzt. Zunächst ist es überhaupt
mizulässig, Erscheinungen nicht aus sich selbst und aus ihren eigenen
Bedingungen zu erklären, sondern aus andern, die von verschiedener,
ja entgegengesetzter Art sind. Dies Verfahren ersetzt die wirkliche
Interpretation durch eine bloße Einteilung nach dem unbestimmtesten
aller Einteilungsgründe, nach dem des kontradiktorischen Gegen-
satzes, wo das den Gegensatz bildende Glied bloß negativ bestimmt
ist. Sodann läßt sich bei vielen der hierher bezogenen Erscheinungen
mit Grund bestreiten, daß bei ihnen ein ursprünglicher oder ein noch
Darwins Prinzip der zweckmäßig assoziierten Gewohnheiten. 91
fortdauernder positiver Zweck der Bewegung überhaupt nicht nach-
zuweisen sei. Wenn sich die Demut in kriechenden Bewegungen,
die Liebe im innigen Anschmiegen an den Gegenstand der Zuneigung
äußert, so scheint dort die Unterwerfung unter den fremden Willen,
hier die Vereinigung mit dem geliebten Gegenstand ebensogut ein
unschwer erkennbarer Zweck noch jetzt zu sein oder in den gesteigerten
Formen der gleichen Ausdrucksbewegungen einer früheren Stufe ge-
wesen zu sein, wie der drohende Blick, der aufgerichtete Nacken und
die geballte Faust des Erzürnten. Darwin selbst hat diese Möglich-
keit direkter Gründe bei einzelnen der hierher gehörigen Beispiele
anerkannt^). Wenn er trotzdem sein Prinzip des Kontrastes stehen
ließ, so dürfte ihm wohl der Umstand Bedenken erregt haben, daß,
falls er die Ausdrucksbewegungen der Freude, Zuneigung usw. dem
Prinzip der ,, assoziierten Gewohnheiten" zurechnete, der Begriff
des Nutzens für die ursprüngliche Entstehung vieler dieser Gewohn-
heiten kaum mehr passend erschien. Was für einen Nutzen sollte es
haben, wenn der Hund durch Schweifwedeln und durch Drehungen
und Windungen seines Körpers seine Freude oder Zuneigung aus-
drückt ? Das spricht aber doch nur dafür, daß der Nutzen überhaupt
hier ein bedenklicher Begriff ist. Das Lachen und Weinen und die
große Mehrzahl der andern mimischen Bewegungen lassen sich kaum
oder höchstens mittels einer gewaltsamen und fragwürdigen Inter-
pretation als nützliche oder einmal nützlich gewesene Erscheinungen
deuten. Offenbar haben die von ihm eingehend analysierten Gebärden
des Zornes, bei denen allerdings die Beziehung zu Kampf und Angriff
unverkennbar ist, den ausgezeichneten Naturforscher zu einer Ver-
allgemeinerung verleitet, die sich der Gesamtheit der Ausdrucks-
bewegungen gegenüber nicht aufrechterhalten läßt. Ist gerade bei
dem Zorn diese in gewissem Sinn ,, nützliche" Natur der Affektäußerung
augenfällig, so hat dies seinen nächsten Grund darin, daß bei ihm die
Beziehung zu bestimmten Vorstellungen, etwa zu solchen von wirk-
lichen oder imaginären Feinden, imgleich mehr als bei sonstigen Affekten
in den Vordergrund tritt. Darum ist es aber selbst hier zweifelhaft,
^) Ausdruck der Gemütsbewegungen, S. 217, und anderwärts.
92 Die Ausdrucksbewegungen.
ob alle Symptome eine derartige Deutung zulassen. In der Tat wird
man das namentlich von jenen Symptomen sagen müssen, die, wie
die an den Winkeln herabgezogene Unterlippe, die gerunzelte Stirn,
eigentlich nur allgemein den Zorn als einen Unlustaffekt charakte-
risieren; daher sie sich auch bei andern Unlustaffekten, wie Kummer,
Sorge, bei denen von einer Beziehung auf einen äußeren Feind nicht
die Rede sein kann, in ähnlicher Weise vorfinden. Damit kommen
wir auf einen Punkt, bei dem der einseitige und unzulängliche Stand-
punkt dieser Theorie deutlich zu erkennen ist. Darwin analysiert
in einzelnen Fällen vortrefflich solche Bestandteile der Ausdrucks-
bewegungen, die dem Vorstellungsinhalt der Affekte angehören. Er
würdigt aber die Symptome, in denen sich die Gefühle spiegeln,
nicht zureichend. Nun sind gerade die Gefühle die wesentlichen Ele-
mente der Affekte, während die Vorstellungen im allgemeinen varia-
blere Bestandteile bilden. So begreiflich also nach jener intellektua-
listischen Auffassung des Seelenlebens, wie sie nun einmal in der von
Darwin angewandten Vulgärpsychologie herrscht, diese einseitige
Bevorzugung sein mag, so unmöglich kann sie doch der Gesamtheit
der Erscheinungen gerecht werden.
3. Versuche einer psychologischen Theorie.
Zwischen den physiologischen Deutungen und den rein psycho-
logischen Theorien über Ausdrucksbew^egungen stehen solche An-
sichten mitteninne, die zwar von gewissen Eigenschaften der phy-
sischen Organisation ausgehen, dabei aber doch auf die psychische
Seite das Hauptgewicht legen. Natürlich bleibt hierbei ein ziemlich
weiter Spielraum. So brachte E. Harless die Affektäußerungen über-
haupt, namentlich die mimischen, mit den an die Hautempfindungen
gebundenen angenehmen und unangenehmen Gefühlen in Verbindung.
Durch die mimischen Muskeln entstehe ,,ein verschiedenes Haut-
gefühl, die Natur dieses Gefühls sei aber unserer geistigen Erregung
verwandt, und sie sei daher das entscheidende Moment für die Bedeutung
einer Miene" ^). Es ist, wie wir es heute ausdrücken würden, das Prin-
^) E. Harless, Lehrbuch der plastischen Anatomie 1856, S. 125.
Versuche einer psychologischen Theorie. 93
zip der Assoziation der durch die Ausdrucksbewegungen entstehenden
sinnlichen Gefühle mit den Gefühlsinhalten der Affekte, auf das dem-
nach Harless den mimischen Ausdruck zurückführt. Noch allgemeiner
macht A. Bain die Gegensätze der Steigerung und der Herabsetzung
der Lebensfunktionen, die sich in den Gefühlen kundgeben sollen,
auch für die Verschiedenheit der Ausdrucksbewegungen geltend^).
Daß solche Hypothesen zu allgemein und unbestimmt sind, um über
die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen Rechenschaft zu geben, ist
einleuchtend, wenn auch namentlich dem von Harless ausgesprochenen
Gedanken etwas Richtiges zugrunde liegt.
Eingehendere Versuche einer psychologischen Deutung gingen
zumeist von ästhetischen Interessen aus. Daraus erklärt es sich,
daß man stillschweigend oder ausdrücklich einen Begriff in den Vorder-
grund stellte, der von Haus aus ein ästhetischer, kein psychologischer
ist: den Begriff des Symbols. Von den ,, Conferences" des Malers
Le Brun^) und J. J. Engels „Ideen zu einer Mimik" ^) bis zu den
Arbeiten von Th. Piderit^) und Pierre Gratiolet^) ist es dieser Be-
griff des Symbols, der, zum Teil in abweichender Form, zuweilen
1) A. Bain, The Senses and the Intellect. ^ 1864, p. 285. Die Annahme
Bains nähert sich übrigens zugleich durch die starke Betonung der physischen
Grundlagen der Gefühle der physiologischen Theorie Herbert Spencers.
2) Le Brun, Conferences sur l'expression des differents characteres des
passions, 1667.
3) J. J. Engel, Ideen zu einer Mimik, 2 Bde. 1785—86.
*) Mimik und Physiognomik, 1866. Als ersten Entwurf dieses späteren
Werkes veröffentlichte Piderit 1858 ,, Grundsätze der Mimik und Physiognomik",
in denen er sein allgemeines Prinzip der Ausdrucksbewegungen bereits bestimmt
formuliert. In diesem Punkte gebührt ihm daher Gratiolet gegenüber,
der das seinige beinahe in dieselben Worte faßt, die Priorität. Übrigens
hat Gratiolet, gerade so wie früher Engel, vorwiegend die pantomimischen,
Piderit die mimischen Bewegungen berücksichtigt. Darwin, der Gratiolet
und Piderit einigemal mit Anerkennung erwähnt, urteilt über das von
diesen Autoren aufgestellte Prinzip, daß darin überhaupt keine Erklärung
der Ausdrucksbewegungen enthalten sei (Über den Ausdruck der Gemüts-
bewegungen, S. 6), ein für die Verschiedenheit der Standpunkte bezeichnender
Ausspruch.
^) De la Physiognomie et des mouvements d'expression, 1865. (Das Werk
ist nach dem Tode des Verfs. herausgegeben.)
94 Die Ausdrucksbewegungen.
auch nur, wie bei Engel, als nicht ausgesprochene Voraussetzung,
die Deutung der Erscheinungen beherrscht. Piderit hat das Prinzip
in dem Satz ausgesprochen: ,,Alle Ausdrucksbewegungen beziehen
sich entweder auf imaginäre Gegenstände oder auf imaginäre ange-
nehme oder unangenehme (harmonische oder disharmonische) Sinnes-
eindrücke." Als psychologische Begründung des ersten Teiles dieses
Satzes gilt ihm die Tatsache, daß ,,jede Vorstellung dem Geiste gegen-
ständlich erscheint", daher eine mimische oder sonstige Ausdrucks-
bewegimg, die durch Vorstellungen erregt werde, sich eben damit
zugleich auf imaginäre Gegenstände beziehen müsse. Für den zweiten
Teil führt er an, daß ,, abstrakte" Vorstellungen, weil sie gegenständ-
lich gedacht werden, ähnlich den unmittelbaren Sinneseindrücken
angenehm oder unangenehm auf uns wirken, wie dies auch die Meta-
phern der Sprache, ,, bittere Kränkung", „süße Liebe" und ähnliche,
bestätigen. Demnach sind ihm die Ausdrucksbewegungen, ebenso
wie diese Metaphern, Übertragungen des Nicht- Sinnlichen in das
Sinnliche, die aber nicht direkt, sondern erst durch das Zwischen-
glied der ,, Vorstellungen" — unter denen er hier nur Erinnerungs-
oder Phantasiebilder versteht — zustande kommen.
Daß diese Tatsache insofern eine psychologische ist, als sie aus-
schließlich den psychischen Wert der Bewegungen hervorhebt, ist
augenfällig. Schon darin zeigt sich jedoch ihr mehr ästhetischer als
psychologischer Charakter, daß sie nur auf die geistige Bedeutung
dieser Erscheinungen hinweist, ihre Motive, den Zusammenhang
ihrer psychischen Bedingungen im Dunkeln läßt. Sagt man z. B.,
der Zornige drücke den tätlichen Angriff auf einen Feind symbolisch aus,
so entspricht das wohl dem objektiven ästhetischen Eindruck auf den
Zuschauer, schwerlich aber dem wirklichen Vorgang, wie er sich in
der Seele des Erzürnten abspielt. Ähnlich verhält es sich mit den
zur Erklärung der mimischen Bewegungen herbeigezogenen Beziehungen
auf imaginäre Gegenstände. Hier hat namentlich Piderit durch seine
verständnisvolle Analyse dieser Bewegungen unleugbar auch die
psychologische Deutung gefördert. Daß sie in engster Beziehung
zu den Funktionen der am Kopfe vereinigten Organe der vier Spe-
zialsinne stehen, und daß Lustgefühle jeder Art mit Bewegungen
verbunden sind, die angenehmen, Unlustgefühle mit solchen, die
Versuche einer psychologischen Theorie. 95
unangenelimen Sinneseindrücken entsprechen, dies erkannt zu haben,
bleibt ein nicht zu unterschätzendes Verdienst der symbolistischen
Theorie. Freilich muß auch hier wieder gesagt werden, daß die Be-
ziehung auf ,, imaginäre Sinneseindrücke'' noch keine psychologische
Deutung ist. Die Erinnerung an die Metaphern der Sprache kann
um so weniger als eine solche gelten, weil diese Metaphern selbst ver-
mutlich erst aus der Wahrnehmung der Ausdrucksbewegungen her-
vorgegangen sind (vgl. unten V, 5). Das Wort ,, symbolisch" bringt
also nur die beobachteten Tatsachen unter einen allgemeinen und
selbst erst der psychologischen Erklärung bedürftigen ästhetischen
Begriff.
Hiernach könnte man vermuten, es sei nur erforderlich, den in
diesem Prinzip ausgesprochenen ästhetischen Gedanken psychologisch
umzuformen oder in seinen psychologischen Wurzeln bloßzulegen,
um zu einer haltbaren Deutung der Erscheinungen zu gelangen. In
der Tat mag das für die meisten mimischen Bewegungen bis zu einem
gewissen Grade richtig sein. Aber es gilt keineswegs für alle Ausdrucks-
bewegungen, da es eben solche gibt — man erinnere sich nur an die
Äußerungen des Schrecks oder an das Erröten bei der Scham — , wo
die Unterordnung unter den Begriff des Symbols auch im ästhetischen
Sinne gezwungen oder gänzlich unzureichend sein würde. Dazu kommt
noch ein anderer, allgemeinerer Gesichtspunkt. Jede psychologische
Theorie der Ausdrucksbewegungen nimmt, da diese körperliche, also
an physiologische Bedingungen geknüpfte Bewegungen sind, not-
wendig einen ihrem Gegenstand nicht adäquaten Standpunkt ein.
Mag sie darum in die psychischen Vorgänge, die jene physischen
Symptome begleiten, noch so tief eindringen, über die Symptome
selbst kann sie keine zureichende Rechenschaft geben. Denn es ist
an und für sich ebenso unmöglich, diese ausschließlich aus dem psy-
chischen Inhalt der Affekte abzuleiten, wie es für die physiologische
Theorie unmöglich ist, aus den Innervationszuständen, welche
die Ausdrucksbewegungen begleiten, deren psychische Bedeutung zu
begreifen.
Diese Erwägungen führen bei dem engen Zusammenhang, in
dem hier die körperlichen und die seelischen Bestandteile der Vor-
gänge zueinander stehen, unvermeidlich zu dem Schlüsse, daß über-
96 Die Ausdrucksbewegungen.
haupt weder eine rein physiologische noch eine rein psychologische
Theorie Aussicht auf Erfolg haben wird. Eine physiologische nicht,
weil der Affekt als unmittelbares seelisches Erlebnis durch keine
körperliche Begleiterscheinung, wäre uns diese selbst noch so bekannt,
ersetzbar ist. Eine psychologische nicht, weil die Ausdrucksbewegungen
physische Funktionen sind und daher auch in ihrer Bedeutung für
die psychische Seite der Vorgänge nur in ihrem physischen Zusammen-
hang richtig gewürdigt werden können. In der Tat finden sich bei
unbefangener Betrachtung der Erscheinungen keinerlei Gründe,
die es rechtfertigen könnten, in dem Gesamtbilde seelischer und körper-
licher Vorgänge, das uns ein Affekt bietet, einem dieser Bestand-
teile die zeitliche Priorität vor dem andern einzuräumen. Wenn die
gewöhnliche Auffassung die Gemütsbewegung als das Vorangehende,
ihre körperlichen Symptome als das Nachfolgende ansieht, so hat
sie darin natürlich recht, insoweit es sich nur um die äußeren, sicht-
baren Symptome handelt. Damit ist aber nicht gesagt, daß auch
die zentralen Innervationsvorgänge, deren Wirkungen erst jene Sym-
ptome, später als die Affekte selbst sind. Vielmehr spricht alle Wahr-
scheinlichkeit dafür, daß, sobald wir auf diese zentralen Prozesse
zurückgehen, der Affekt und seine physischen Korrelaterscheinungen
gleichzeitig beginnen, imd daß sie ebenso in ihrem weiteren Verlauf
einander begleiten. Damit ist schon gesagt, daß auch die entgegen-
gesetzte Auffassung, wonach der physische Vorgang der Zeit nach
das Erste, der Affekt aber das Nachfolgende sein soll, keinerlei Stütze
in der Erfahrung findet. In Wahrheit sind Affekt und Ausdrucks-
bewegung zusammen ein einziger psychophysischer Vorgang,
den wir erst auf Grund einer Analyse und Abstraktion in jene zwei
Bestandteile sondern, Die Motive, aus denen diese Zerlegung ent-
springt, bringen es dann freilich mit sich, daß bei der Betrachtung
der Affekte selbst wie ihrer Äußerungen das Hauptgewicht unseres
Interesses auf die psychologische Seite fällt. Denn die Bedeutung
der Ausdrucksbewegungen wird für uns allezeit wesentlich darin be-
stehen, daß sie Symptome seelischer Vorgänge sind^).
^) In der Voranstellung des psychologischen Gesichtspunktes stimmt mit
den folgenden Ausführungen ein gleichzeitig mit der 1. Auflage dieses Bandes
Allgemeinstes psychophysischee Prinzip der Ausdrucksbewegungen. 97
4. Allgemeinstes psychophysisches Prinzip der Ausdrucks-
bewegungen.
Sucht man in dem angegebenen Sinne die Ausdrucksbewegungen
in erster Linie als psychophysische Funktionen, in zweiter, in An-
betracht ihrer allgemeinen Bedeutung, als Merkmale psychischer Vor-
gänge zu verstehen, so wird man nun von vornherein darauf ver-
zichten müssen, sie irgendwelchen spezifischen Prinzipien imter-
zuordnen. Vielmehr wird hier lediglich das allgemeinste Prinzip psy-
chophysischen Inhalts, nach dem mit jeder Veränderung psy-
chischer Zustände zugleich Veränderungen physischer
Korrelat Vorgänge verbunden sind, auch für die Ausdrucks-
bewegungen und die Seelenzustände gelten, als deren Symptome
wir jene auffassen.
Nun bilden, wie mehrfach hervorgehoben wurde, in dem ge-
samten Tatbestand unserer subjektiven Erfahrung die Gefühle und
Affekte oder, da die Gefühle nur als Bestandteile von mehr oder minder
ausgebildeten Affekten vorkommen, die Affekte diejenige Seite des
Seelenlebens, als deren physische Begleiterscheinungen wir die Aus-
drucksbewegungen und die sie erzeugenden Innervationsvorgänge
betrachten müssen. Daraus ergibt sich ohne weiteres, daß eine nähere
Analyse dieser Bewegungen nur in steter Beziehung zur Analyse der
entsprechenden Affekte selbst vorgenommen werden kann. Die letzten
leitenden Gesichtspunkte werden aber den Elementen des Affekts,
erschienenes Werk von Henry Hughes überein (Die Mimik des Menschen auf
Grund voluntarischer Psychologie, mit 119 Abb. 1900). Dasselbe enthält im
einzelnen bemerkenswerte Ergänzungen, namentlich zu den Beobachtungen
Piderits. Seine Theorie der mimischen Bewegungen gründet der Verf. auf eine
eigentümliche psychophysische Theorie des Willens und der Gefühle, die ge-
wissermaßen eine Umkehrung der oben (S. 37 ff.) entwickelten Auffassung dar-
stellt, da ihm der Willens Vorgang nicht ein Gefühls verlauf, sondern jedes Ge-
fühl ein aus Willenselementen zusammengesetzter komplexer Vorgang ist (S. 210 ff.).
Es scheint mir aber nicht, daß diese Theorie mit den Beobachtungen über den
Verlauf der Willens Vorgänge, wie sie vornehmlich bei den ,,Reaktions versuchen"
auszuführen sind, in Einklang gebracht werden kann. (Vgl. Grundzüge der phy-
siol. Psychol. « Bd. 3, S. 228 ff.)
Wandt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. '
98 I^ie Ausdrucksljewegungen.
den ihn zusammensetzenden einfachen Gefühlen, zu entnehmen sein.
Damit sind wir wiederum auf jene fundamentalen Eigenschaften
hingewiesen, die jedem noch so einfachen Gefühl als seine näheren
Bestimmungen zukommen, und die sich daher auch in jedem Affekt
in irgendeiner Weise finden. Dieser Eigenschaften gibt es im ganzen
drei. Zwei von ihnen sind dem Gefühl als solchem eigen, unabhängig
von seinem Zusammenhange mit andern Bewußtseinsvorgängen;
die dritte entsteht durch seine Beziehung zu den objektiven Inhalten
unserer unmittelbaren Erfahrmig. Die beiden ersten nennen wir die
Intensität und die Qualität des Gefühls; die dritte können wir
als seine Vorstellungsverbindung oder, da solche Verbindungen
regelmäßige Inhalte der Affekte bilden, als seinen Vorstellungs-
inhalt bezeichnen. Auf diese Weise gewinnen wir drei Klassen von
Ausdrucksbewegungen oder vielmehr, da im allgemeinen diese Klassen
nicht getrennt voneinander vorkommen, drei Richtungen von
Ausdrucksbewegungen. Wir wollen sie kurz die Intensitäts-,
die Qualitäts- und die Vorstellungsäußerungen der Affekte
nennen. Innerhalb jeder dieser Richtungen findet sich eine Fülle
einzelner Formen, die durch mannigfaches Übereinandergreifen der
Symptome und durch die Koexistenz von Erscheinungen verschiedener,
ja entgegengesetzter Art noch beträchtlich vermehrt wird. Eine ein-
gehende Betrachtung auch nur der hauptsächlichsten würde von dem
nächsten Zwecke dieses Werkes allzuweit abliegen. Es kann sich daher
im folgenden nur darum handeln, bei jeder der genannten Klassen
die Gesichtspunkte hervorzuheben, die für das allgemeine Problem
der Ausdrucksbewegungen und damit zugleich für das Problem der
Sprache von Bedeutung sind.
IV, Intensitätsäußerungen der Affekte.
1. Ausdrucksbewegung starker Affekte.
Die erste und allgemeinste Eigenschaft, die uns die Intensitäts-
äußerungen der Affekte bieten, ist die, daß sie sich zwischen den
Gegensätzen der Erregungs- und Hemmungssymptome be-
wegen, wobei die letzteren keineswegs in einer bloßen Abnahme oder
Ausdrucksbewegungen starker Affekte. * 99
Aufhebung der Erregung, sondern, ebenso wie diese, in einem posi-
tiven, nur in entgegengesetztem Sinn auf die Muskeln einwirkenden
Innervationsvorgange bestehen. Die Bedingung zu diesem gegen-
sätzlichen Charakter liegt aber darin, daß, wie das Herz, so auch die
äußeren Körpermuskeln im Zustande der Affektlosigkeit oder un-
merklicher Affektwirkungen immer noch eine dauernde tonische
Erregung zeigen, von welchem Indifferenzpunkt aus nun Innervationen
nach entgegengesetzten Richtungen stattfinden können.
Am reinsten, verhältnismäßig unvermischt mit Qualitäts- und
Vorstellungssymptomen, lassen sich diese Intensitätsäußerungen bei
sehr starken Affekten beobachten, weil hier durch die gesteigerten
Erregungs- oder Hemmungswirkungen alle sonstigen Erscheinungen
verwischt oder verdeckt werden. Solche reine Intensitätssymptome
können wir daher als „Ausdrucksbewegungen starker Affekte" be-
zeichnen. Der Gegensatz der Erregung und Hemmung ist bei ihnen
stets an Gradunterschiede der Affekte gebunden, so daß wir sie wieder
in Intensitätsäußerungen starker und in solche stärkster Affekte
unterscheiden können. Bei jenen wird die Erregungsinner vation in
die Nähe ihres Maximums gehoben; bei diesen besteht eine mehr
oder minder ausgebreitete Hemmungsinnervation. Die Grenze, wo
die erste in die zweite Form übergeht, wechselt beträchtlich nach den
besonderen Bedingungen; in jedem einzelnen Falle scheint sie aber
eine ziemlich scharfe zu sein, so daß plötzlich die höchste Erregung
in eine fast momentane und oft über zahlreiche Körpermuskeln aus-
gebreitete Hemmung überspringt. Am deutlichsten ist das beim
Herzen zu verfolgen, dessen Pulsationen bei starken Affekten, wie
Schreck, Angst, Wut, zunächst in ihrer Frequenz enorm gesteigert
werden können, worauf dann sehr bald ein plötzlicher Abfall der
Höhe der Pulskurve oder selbst Herzstillstand eintritt. Dieser Er-
scheinungsfolge entsprechen vollkommen die eigentHchen Ausdrucks-
bewegungen, jedoch mit der besonderen Eigentümlichkeit, daß die
Erregung vorwiegend eine ,, klonische", die Hemmung eine „tonische"
Innervation ist. Starke Affekte der Freude, des Zornes, der Angst,
der Sorge äußetn sich in raschen und wechselnden Bewegungen, denen
offenbar ähnliche explosive Erregungsvorgänge der höheren Nerven-
zentren entsprechen. Auch der Verlauf der Gefühle und Vorstellungen
7*
100 I^ie Ausdrucksbewegungen.
wird nämlich ein beschleunigter, oft ein so stürmisch beschleunigter,
daß darin schon für das unmittelbare Erleben der Affekte eine
Nötigung zu plötzlichem Stillstande mit der Wirkung eines der Be-
wußtlosigkeit sich nähernden Zustandes oder wirkliche: Bewußt-
losigkeit liegt. Nach dem formalen Charakter der Symptome bietet
sich also hier auf psychischer Seite genau dasselbe Bild, das die Puls-
kurve in den obenerwähnten verschiedenen Phasen ihres Verlaufs
zeigt. Nur in dem einen Punkt unterscheidet sich jener psychische
Verlauf, daß er in außerordenthch mannigfaltiger Weise qualitativ
gefärbt sein kann, indem ein konkreter Affekt aus seinen besonderen
Gefühlen und Vorstellungen besteht, die ihn von jedem andern, formal
noch so ähnlichen unterscheiden, während die Herzsymptome, eben
weil sie bloße Intensitätserscheinungen ohne qualitative Neben-
bestimmungen sind, nur diesen formalen Verlauf widerspiegeln. Da-
gegen zeigen die äußeren Körperbewegungen ein mittleres Verhalten :
sie sind, wie die Herzbewegungen, in Energie und Geschwindigkeit
nach der Stärke des Affekts intensiv abgestuft; und sie lassen zugleich
zwar nicht die konkrete Besonderheit des Affekts, aber doch seine
allgemeine Gefühlsrichtung und einzelne besonders hervortretende
Vorstellungsbestandteile deutlich erkennen. Diese Erscheinungen
gehören jedoch schon zu den nachher zu erörternden Qualitäts- und
Vorstellungsäußerungen, die auf dieser ersten Stufe, derjenigen der
,, starken Affekte", noch die reinen Intensitätssymptome begleiten.
Solche qualitative Nebenbestimmungen treten nun in dem Maße
zurück, als sich die ,, starke" der ,, stärksten" Affektsäußerung nähert.
Ist sie in diese übergegangen, so tritt plötzlich statt der bisher vor-
handenen Erregung die Hemmung hervor, in deren Folge die an der
Affektäußerung beteiligten Muskehi nicht nur momentan erschlaffen,
sondern für eine längere, je nach der Stärke des Affekts wechselnde
Zeit im erschlafften Zustande verharren, um dann nicht plötzlich,
sondern allmählich wieder den normalen Erregungstonus zu gewinnen.
Alle diese Hemmungserscheinungen werden um so mehr, je inten-
siver und ausgebreiteter sie sind, zu bloßen, gegenüber dem quali-
tativen Inhalt der Affekte indifferenten Intensitätssymptomen. Bei
jenen seltenen äußersten Graden der Gemütsbewegung, wo der Körper
jäh und blitzartig von einem Hemmungsstoß getroffen zusammen-
Beteiligung einzelner Muskelgebiete an den Intensitätssymptomen. 101
sinkt, sind so die Äußerungen der verscliiedensten Affekte, der über-
mächtigen Freude, der Wut, der höchsten Angst, des Schrecks, über-
einstimmend. Kann man auch das Bild des Schrecks als diejenige
Form betrachten, der sich die andern Gemütsbewegungen zuerst
nähern, um dann ganz in sie überzugehen, so ist dies doch offenbar
nur darin begründet, daß der Schreck vermöge seiner Entstehungs-
bedingungen schon bei relativ unbedeutenden Ursachen ein Affekt
von stark hemmendem Charakter ist. Übrigens ist auch diese Gleich-
förmigkeit der Hemmungserscheinungen nicht auf die Ausdrucks-
bewegungen beschränkt, sondern sie erstreckt sich nicht minder auf
die psychische Symptomenreihe, und die plötzliche Hemmung des
Vorstellungs- und Gefühlsverlaufs, die hier eintritt, läßt der Natur
der Sache nach ebenfalls keine qualitativen Unterschiede zu. Man
kann daher diese Tatsache mit ihren sämtlichen Teilerscheinungen
in den Satz zusammenfassen: alle Affekte gehen beim äußersten Grad
in einen einzigen intensivsten Affekt von schreckhaftem Charakter
über, imd ihr innerer Verlauf wie ihre äußeren Symptome werden von
diesem Punkt an gleichförmig.
2. Beteiligung einzelner Muskelgebiete an den
Intensitätssymptomen.
An den geschilderten Erregungs- und Hemmungssymptomen
pflegen keineswegs alle Körpermuskeln gleichmäßig teilzunehmen.
Abgesehen von dem Herzen und den kontraktilen Wandungen der
Blutgefäße, die hier als innere muskulöse Organe eine eigenartige
Stellung einnehmen (vgl. unten 3), sind es in erster Linie die Atmungs-
sowie überhaupt solche Muskeln, die gleich ihnen in wechselnder
Tätigkeit geübt sind, welche die Intensitätssymptome der Affekte
erzeugen. Aus der Gesamtheit der äußeren Körpermuskeln treten
dann aber wieder drei Gruppen durch die besondere symptomatische
Bedeutung ihrer Wirkungen hervor; die mimischen des Angesichts,
die pantomimischen, die der Bewegung der Arme und Hände dienen,
und endlich die der Gehwerkzeuge. Diese drei Gruppen bilden zu-
gleich eine Intensitätsskala, indem die Bewegungen um so mehr, einer
102 Diö Ausdrucks bewegungen.
je weiter voranstehenden Gruppe sie angehören, nicht mehr reine
Intensitäts- sondern zugleich Quahtäts- und Vor Stellungsäußerungen
sind. So spiegelt sich in den mimischen Bewegungen in der Regel
nur neben den vor allem hervortretenden qualitativen Gefühlsmerk-
malen auch der Grad des Affekts. Mehr sind schon die Gebärden
der Arme und Hände, wenn nicht ein aus bestimmten Ursachen ent-
stehender Trieb nach Mitteilung hinzukommt, Zeichen gesteigerten
Affekts. Die Muskeln der Gehwerkzeuge aber werden im allgemeinen
erst bei den stärksten Affekten in Anspruch genommen, und sie sind
dann fast reine Intensitätssymptome. Gerade bei den stärksten Affek-
ten ist die hemmende Wirkung auf diese Muskeln, mag sie sich nun
als bloße Empfindung der Ermattung oder als lähmungsartige Schwäche
oder endlich bei den äußersten Graden als wirkliche, das momentane
Zusammenbrechen des Körpers verursachende Lähmung äußern,
die subjektiv wie objektiv am meisten hervortretende Affekterschei-
nimg. Übrigens steigern sich bei diesem Hinzutreten der sonst an
der Affektäußerung unbeteiligten Muskelgebiete immer auch die bei
minder ausgebreiteten Wirkungen vorhandenen Symptome, und
diese gewinnen die nämliche, mit der Stärke des Affekts zunehmende
Unabhängigkeit von der besonderen Qualität der seelischen Zustände.
So können schon bei starken, aber noch nicht übermäßigen Affekten
die heftigeren mimischen und noch mehr die pantomimischen Be-
wegungen die besonderen Färbungen der Gemütsvorgänge zurück-
treten lassen; und bei den stärksten Affekten ist namentlich die
lähmungsartige Erschlaffung der Gesichtsmuskeln eine charakteristische
Teilerscheinung der allgemeinen Hemmung.
Im Gegensatze zu diesen intensivsten Affektäußerungen, bei
denen alle besonderen Nuancen des Ausdrucks verschwinden, bietet
nun bei schwächeren Gemütsbewegungen speziell das Gebiet der
mimischen Gebärden nicht selten das Schauspiel einer mannig-
faltigen Verbindung verschiedener und selbst entgegengesetzter
Symptome — eine Folge jener weitgehenden Sonderung der einzelnen
Inner vationsgebiete, die vor allem dem Nervus facialis eigen ist (S. 76).
Dem entspricht es ganz, daß die um die einzelnen Sinnesorgane ge-
lagerten Muskeln, insbesondere die um Auge und Mund, in hohem
Grad unabhängig voneinander innerviert werden können, und daß
Vasomotorische Intensitätssymptome. 103
niciit selten selbst die symmetrisclien Muskelregionen beider Gesichts-
bälften verschiedene, ja entgegengesetzte Erscheinungen zeigen.
In den Bereich der Intensitätsäußerimgen fallen jedoch diese Wir-
kungen nur insofern, als sie in Kombinationen von Erregungs- und
Hemmungssymptomen bestehen, die immer zugleich qualitative
Merkmale gewisser gemischter Affekte sind. So ist die plötzliche
Hemmung der Innervation der Wangen- imd Mundmuskeln ein sehr
ausgeprägter Zug, der bei manchen Personen jede auch nur leiseste
Regung eines deprimierenden oder erregenden Affekts begleitet, also
bei Sorge, Kummer ebensowohl wie bei Erstaunen, Verwunderung,
Neugierde vorkommt, und der mit lebhaften und je nach den beson-
deren Bedingungen wieder qualitativ nuancierten Erregimgssym-
ptomen der das Auge und seine Umgebung bewegenden Muskeln ver-
bunden zu sein pflegt. Auf solche Weise reichen diese kombinierten
Erscheinungen, in denen sich der gemischte oder kontrastierende
Charakter gewisser Affekte spiegelt, bereits in das Gebiet der Quali-
tätsäußerungen hinüber.
3. Vasomotorische Intensitätssymptome.
Zu den an den äußeren Körpermuskeln hervortretenden Sym-
ptomen bilden die oben (S. 52 ff.) erörterten Innervationsänderungen
des Herzens und der kleineren arteriellen Gefäße Begleiterscheinungen,
die auch insofern eine eigentümliche Stellung einnehmen, als sie,
gegenüber der in der Regel gemischten Natur namentlich der mi-
mischen und der pantomimischen Bewegungen, durch alle Stufen
der Affektäußerimg hindurch den Charakter reiner Intensitäts-
symptome bewahren. Dabei ist allerdings dieser Ausdruck nicht
so zu verstehen, als ob nicht auch hier aus der eigentümlichen Kombis
nation der Erscheinungen irgendwie auf die Qualität des Affekts
zurückgeschlossen werden könnte Vielmehr haben wir ja speziell
für die Herzbewegimgen solche Beziehungen kennen gelernt. Eben-
so ist das vasomotorische Symptom des Errötens in der eigentüm*
liehen Beschränkung, in der es bei der Scham mid der Verlegenheit
vorkommt, für diese Affekte kennzeichnend. Trotzdem ist es äugen-
104 Die Ausdrucksbewegungen.
fällig, daß diese Innervationsänderungen nicht in ähnlicher Weise
eindeutige Merkmale der Qualität bestimmter Gefühle und Affekte
sind wie die Mimik des Mundes imd des Auges, oder wie in anderem
Sinn, in der Beziehung auf irgendwelche Vorstellungen, die Gebärden
der Arme und Hände. Der Grund dieses Unterschieds liegt offenbar
darin, daß es immer nur eine eigentümliche Verbindung an sich rein
intensiver Symptome ist, die den vasomotorischen Erscheinungen
den Wert von qualitativen Merkmalen verleihen kann. Wir werden
daher zu dem Schluß gedrängt, daß die vasomotorischen Erregungen
eine qualitative Bedeutung immer erst sekundär, durch die beson-
deren Intensitätsmerkmale, die bestimmte Gefühle und Affekte in
ihrem zeitlichen Verlauf darbieten, gewinnen können. Mit andern
Worten: die Herz- und Gefäßinnervation bleiben reine Intensitäts-
symptome, aber die Verteilung der Intensitätsschwankungen
der Gefühle in der Zeit ist zugleich für jede qualitative Klasse
von Gefühlen eine besondere, im wesentlichen ihr allein eigentüm-
liche, und die aus dieser Verteilung entspringenden Merkmale be-
sitzen so neben ihrem intensiven einen qualitativen Wert.
Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt die vasomotorischen
Erscheinungen, so springt in die Augen, daß sie sich sämtlich zu-
nächst auf die zwei gegensätzlichen Reizwirkungen zurückführen
lassen, die überhaupt alle Intensitätsäußerungen beherrschen: auf
Erregung und Hemmung. Beide in ihrem einfachen Gegensatz
treten bei der Innervation der Gefäße in der Verengerung und Er-
weiterung des Gefäßlumens hervor, jene ein Erregungs-, diese ein
Hemmungssymptom. Verwickelter verhält es sich bei der Herz-
innervation, wo infolge der besonderen Einrichtungen des regu-
latorischen Nervensystems Erregung wie Hemmmig in zwei Formen
in die Erscheinung treten können: erstens als Zu- und Abnahme der
Höhe der Pulswelle; zweitens als Beschleunigmig und Verlangsamung
(Verkürzung und Verlängerung) derselben. Hiernach werden wir
speziell für die Herzerscheinungen voraussetzen dürfen, daß sie, als
reine Intensitätssymptome aufgefaßt, in doppelter Weise für die
quantitativen Eigenschaften der Affekte charakteristisch sind: erstens
in der Beschaffenheit der einzelnen Herzkontraktionen oder der ihnen
entsprechenden Pulswellen für die Intensität des Gefühlsinhalts;
Vasomotorische Intensitätssymptome. 105
und zweitens in dem zeitlichen Verlauf der Pulsbewegungen für die
extensiven zeitlichen Eigenschaften der Gemütsbewegung. In beiden
Beziehungen oszilliert dann wieder die Veränderung zwischen den
Gegensätzen der Erregung und Hemmung; und es können nicht bloß
diese intensiv und extensiv zusammentreffen, sondern es kann sich
auch eine intensive Erregung mit einer extensiven Hemmung ver-
binden, und ebenso umgekehrt. Nun ist es augenfällig, daß unter den
drei allgemeinen Gefühlsdimensionen, die uns die psychologische
Analyse der Affekte unterscheiden ließ, die der Erregung und Be-
ruhigung (/ E und / D Fig. 1 S. 50) dem Gegensatz der physiolo-
gischen Erregungs- und Hemmungsinnervation am unmittelbarsten
entspricht. Scheinen doch in diesem Fall die letzteren nur die auf
das physische Gebiet übertragenen Kontraste der psychischen Zu-
stände selbst zu sein. So ist denn auch in intensiver Beziehung un-
zweifelhaft die gesteigerte psychische Erregung durch Erhöhung,
die herabgesetzte durch Erniedrigung der Pulswelle gekennzeichnet,
wogegen analoge extensive Innervationsänderungen, Beschleunigung
und Verlangsamung der Herzbewegungen, erst bei den höheren Graden
gehobener und deprimierter Stimmung hinzuzutreten scheinen. Diese
zu den physiologischen Symptomen in nächster Beziehung stehen-
den Gefühlsrichtungen der Erregung und Beruhigung sind aber zu-
gleich diejenigen, die in der Verbindung der Gefühle zu einem Affekt-
verlauf die wesentlichsten Intensitäts- und Verlaufsunterschiede
der Affekte konstituieren. Hierdurch wird es begreiflich, daß die ver-
gleichende Betrachtung der Affekte immer wieder zu Einteilungen
geführt worden ist, die, wie die Ausdrücke sthenisch und asthenisch,
exzitierend und deprimierend, auf solche von der sonstigen Beschaffen-
heit der Gefühlsinhalte unabhängige Gegensätze hinweisen, und die
infolgedessen ebensowohl auf die physischen wie auf die psychischen
Symptome bezogen werden können — ein sprechendes Zeugnis da-
für, daß in dieser Hinsicht beide eine zusammengehörige Einheit
bilden. Die physische Erregung oder Hemmung ist daher ein unmittel-
bares Maß für die in der Richtung der erregenden und hemmen-
den Gefühle liegenden Komponenten der Affekte. Bei den andern
Gefühlsrichtungen verhält sich dies insofern abweichend, als sich
hier die intensiven und die extensiven Wirkungen in verschiedener
106 Die Ausdrucksbewogungen.
Weise verbinden können. Mit jeder solchen Kombination stellt aber
die besondere Qualität des Gefühls derart in Beziehung, daß der
formale Charakter, den die Gefühle dem Affekt mitteilen, zum Aus-
druck kommt. Zugleich zeigt es sich hierbei, daß eben dieser formale
Charakter es ist, der den erregenden und hemmenden Gefühlen in
ihrer Bedeutung für den Affektverlauf eine Art Suprematie über
die andern Richtungen verleiht, so daß auch diese nach ihrer formalen
Natur in verschiedener Weise in Erregungs- und Hemmungskompo-
nenten zerlegt werden können. Insofern bei einer solchen formalen
Analyse der qualitative Inhalt der Gefühle unberührt bleibt, ent-
spricht dieses Ergebnis der allgemeinen Beziehung, die sich überall
zwischen den psychischen Vorgängen und ihren physischen Parallel-
erscheinungen findet. Demnach wird man die gesteigerte, aber ver-
langsamte Pulswelle bei Lustgefühlen daraus ableiten können, daß
die formale Affektwirkung dieser Gefühle in einer Steigerung und zu-
gleich in einem Festhalten der Stimmung an dem lusterregenden Ein-
druck besteht: daher die Verbindung intensiver Steigerung mit ex-
tensiver Verzögerung des Verlaufs. Von entgegengesetztem Einfluß
ist der Unlust Charakter der Gefühle. Intensiv entsteht hier Hem-
mung der Erregung, extensiv beschleunigter Verlauf, der sich in der
konkreten Aufeinanderfolge der Vorstellungen imd Affekte als ein
Fliehen vor den unerfreulichen Eindrücken darstellt. Endlich bei
den Spannungsgefühlen sind intensiv wie extensiv nur Hemmungen
wirksam, wie wir das bei der gespannten Erwartung an der vermin-
derten Reizbarkeit für äußere Eindrücke und dem verlangsamten
Vorstellungsverlauf beobachten. Bei der Lösung der Spannung
bricht dagegen in beiden Formen die Umkehrung zu gesteigerter
Erregung durch, die an verstärkter und beschleunigter Herzaktion
und auf der psychischen Seite an den rasch zuströmenden und stark
erregenden neuen Bewußtseinsinhalten zu erkennen ist (vgl. Fig. 2 — 7,
S. 53).
Wesentlich einfacher gestaltet sich die Innervation der Blut-
gefäße, da sie bloß zwischen den Zuständen der Kontraktion und
der Dilatation durch Hemmung der dauernden Tonuserregung wechselt,
wobei jedoch die verschiedene Ausbreitung der Symptome eine diesem
Gebiet eigentümliche extensive Mannigfaltigkeit der Erscheinungen
Gefühle als Grundlagen der Qualitätssymptome. 107
bewirken kann. Zugleich sind es, vielleicht im Zusammenhang mit
der überwiegenden Bedeutung der mimischen Muskeln für den Aus-
druck der Affekte, die Blutgefäße des Angesichts, die am empfind-
lichsten auf Reize jeder Art reagieren. Erröten und Erblassen
bilden so die zwei den entgegengesetzten Formen der erregenden und
hemmenden Affekte entsprechenden Symptome. Ihre Ausbreitung
folgt im allgemeinen dem Gesetze, daß sich schwächere Reize er-
regender wie hemmender Art zunächst nur auf die vasomotorischen
Nerven der Wangen erstrecken, worauf dann erst bei stärkeren Rei-
zmigen dieselben Wirkungen auf die nähere Umgebung dieses Ge-
biets, wie Stirn, Nacken, Hals, endlich in seltenen Fällen und nur bei
den stärksten Hemmungswirkungen auch auf andere Teile sich aus-
dehnen: so auf die Kopfhaut, wo nun infolge der Kontraktion der
kleinen Gefäßmuskeln die Haare sich sträuben.
V. Qualitätsäußerungen der Affekte.
1. Gefühle als Grundlagen der Qualitätssymptome.
Mit den Bewegungs- imd Hemmungserscheinungen, welche die
Stärke des Affekts messen, verbinden sich in der Regel untrennbar
charakteristische Ausdrucksbewegungen von beschränkterem Um-
fang, in denen sich die Qualität des Affekts spiegelt. Da diese Quali-
tät ganz und gar auf dem Gefühlsinhalte beruht, so sind es die Grund-
formen der Gefühle, nach denen sich hier die hauptsächlichsten
Ausdruckserscheinungen scheiden. Von den früher hervorgehobenen
sechs Hauptqualitäten nehmen aber nicht alle in gleicher Weise an
dieser qualitativen Charakteristik der Affekte teil. Dies hängt damit
zusammen, daß der Affekt gegenüber dem einfachen Gefühl ein Prozeß
zusammengesetzter Art ist, auf dessen Eigenschaften daher auch die
einzelnen Elemente, die in ihn eingehen, einen verschiedenen Ein-
fluß ausüben. In der Tat haben uns auf einen solchen Unterschied
die obigen Betrachtungen über die Intensitätsäußerungen bereits
geführt. Die Gefühlsgegensätze der Erregung und Beruhigung be-
sitzen nämlich, wie sich dort zeigte, für den ganzen Verlauf des Affekts
108 Die Ausdrucksbewegungen.
und für die an diesen Verlauf zunächst gebundenen Intensitätssym-
ptome eine so vorwiegende Bedeutung, daß diese für uns zugleich Merk-
male sind, nach denen wir die Gefühle der Erregung und Hemmung
selbst, die an einem Affektverlauf teilnehmen, bemessen. Diese Ge-
fühle nehmen daher mit Rücksicht auf den Affektverlauf und seine
körperlichen Begleiterscheinungen eine eigentümliche Sonderstellung
ein. Sie sind qualitative wie die andern, aber als Bestandteile eines
Affekts sind sie außerdem diejenigen Gefühlselemente, die dessen
formale Eigenschaften, seine Energie und Geschwindigkeit, und da-
mit die Energie und den Verlauf seiner physischen Symptome un-
mittelbar bestimmen, während die übrigen Gefühlsrichtungen nur
indirekt, durch den Einfluß, den sie auf den exzitierenden oder de-
primierenden Charakter des Affekts äußern, auch für seine formalen
Eigenschaften in Betracht kommen. Demnach sind aber umgekehrt
hauptsächlich die beiden andern Gefühlsdimensionen, der Lust und
Unlust, der Spannung undLösung, für die spezifischen Quali-
tätssymptome bestimmend. Sie geben sich durch Ausdrucks-
bewegungen kund, die an sich freilich gleichfalls keine qualitativen
Merkmale sind, — solches ist durch die Natur aller Affektäußerungen
als Bewegungserscheinungen ausgeschlossen. Wohl aber gewinnen
diese Bewegungen durch ihre eigentümliche lokale Beschränkung
und Verteilung für unsere Auffassung der Affektäußerungen durch-
aus den Wert qualitativer Symptome. Hierbei lassen nun natürlich
auch diese Erscheinungen mannigfache intensive Abstufungen zu.
Doch solange sie eine vorwiegend qualitative Bedeutung bewahren,
beschränken sie sich auf bestimmte, ihnen zugeordnete Muskelgebiete.
Soweit sie das nicht tun, werden sie zugleich Symptome einer Er-
regung oder Hemmung, und sie verbinden sich dann mit ausgebreite-
teren und unbestimmteren Intensitätsäußerungen.
2. Mechanismus der mimischen Ausdrucksbewegungen.
Die in solcher Weise den genannten Richtungen der Gefühle
zugehörigen spezifischen Qualitätsäußerungen der Affekte sind in
ihrer ursprünglichen und reinen Form ganz und gar beschränkt auf
Mechanismus der mimischen Ausdrucksbewegungen. 109
die Antlitzmuskeln. Der allgemeine Grund dieser Bevorzugung
ist augenfällig: jene Bewegungen stehen in engster Beziehung zu den
am Angesicht vereinigten Organen der vier sogenannten Spezial-
sinne. Unter diesen Organen sind aber wieder Auge und Mund die-
jenigen, die durch die Ausbildung der ihre Funktionen unterstützen-
den Muskulatur die größte Mannigfaltigkeit charakteristisch ver-
schiedener Bewegungen zulassen. Die Muskeln des äußeren Gehör-
organs sind beim Menschen verkümmert, so daß ihre Beteiligung
an den mimischen Bewegungen ganz hinwegfällt. Wo die Richtung
auf Schalleindrücke Bewegungen herausfordert, da gehen diese von
der Gesamtmuskulatur des Kopfes aus: solche gehören dann aber
wesentlich schon in das Gebiet der Vorstellungsäußerungen der Affekte.
Eine stärker hervortretende Rolle spielt die Nase bei den mimischen
Gefühlsäußerungen. Im ganzen ist aber doch auch diese Rolle nur
eine sekundäre, indem sich mit den Ausdrucksbewegungen des Mundes
entsprechende Wirkungen der Nasenmuskeln, namentlich Erweiterung
und Verengerung der Nasenöffnung, Hebung und Senkung der Nasen-
flügel, verbinden.
Bei Mund und Auge ist nun die typische Anordnung der um-
gebenden Muskeln eine wesentlich übereinstimmende (Fig. 9). Nur
ist die äußere Muskulatur des Mundes reicher und feiner gegliedert.
Analog verhalten sich bei beiden Organen zunächst die in dichten
und fest mit der Haut verwachsenen Bündeln verlaufenden Schließ-
muskeln der Mund- und der Augenspalte (Orbicularis oris und oculi).
Indem diese Muskeln in beiden Fällen der festen Anheftungspunkte
ermangeln, und indem ganz besonders bei ihnen die früher (S. 75 f.)
für die Gesichtsmuskeln im allgemeinen hervorgehobene Eigenschaft
lokal beschränkter und mannigfach kombinierbarer Reizbarkeit der
einzelnen Faserbündel hervortritt, ist jeder von ihnen für sich allein
schon verschiedener Nuancen des Ausdrucks fähig. Daneben besitzt
dann der Mund noch ein vollkommen symmetrisch ausgebildetes
System geradlinig ziehender Muskeln, die teils die Oberlippe heben,
die Unterlippe senken (Levator und Quadratus labii superioris, Qua-
dratus labii inf erioris), teils im selben Sinn auf die Mimdwinkel und die
an sie angrenzenden Gebiete beider Lippen einwirken (Zygomaticus,
Risorius Santorini, Triangularis). Demgegenüber bieten die das
110
Die Ausdiiicksbewegungen.
Auge umgebenden Antlitzmuskeln eine wesentlich einfachere und in-
sofern eine minder symmetrische Anordnung, als nur den Hebemuskeln
der Oberlippe hier in den breiten Faserzügen des Stirnmuskels (Fron-
talis) imd in dem in der Tiefe der Ringmuskelschichten liegenden
(darum in der Fig. nicht sichtbaren) Heber des oberen Augenlids
sowie in dem dem Mundwinkelheber entsprechenden „Stimrunzler"
Auricularis
Buccinator-
Fronialis
\
\t"':"::""
■ Orhicular. oculi
Mi
■'mm Borsalis narium
j>-4ii... Levfitor alae nasi
Triangwlaris nasi
^.^J-'""-"""f Levaior lab, sup.
m^^^^^^^^"^^ Quadrat, l. s.
Orhicular. oris
filt^Ti"'^ ' Z^ffontatictis
' 'fe,
, ///l ■-'■•■— Bisorius Santorini
'[/[ß— Quadratus lab. inf.
Triangiüaris
Fig. 9. Übersicht der mimischen Muskulatur,
{Corrugator superciliorum) ähnliche Muskeln gegenüberstehen, während
am äußeren Augenwinkel solche fehlen. Dafür bilden hier die Be-
wegungen des Augapfels selber, die unter der Wirkung der in der
Augenhöhle liegenden, das Auge um seinen Mittelpunkt drehenden
Muskeln erfolgen, einen um so wichtigeren Bestandteil des mimischen
Ausdrucks. An der Nase treten als oberflächliche mimische Muskeln
ein die Nasenöffnung verengender (Compressor oder Triangularis),
Mimische Symptome der Lust- und ünlustgefühle. 111
sodann der den unteren Teil der Nase emporhebende Nasenrücken-
muskel (Dorsalis narium), und endlich ein Heber des Nasenflügels
(Levator alae nasi) hervor, welchem letzteren in der Tiefe ein Nieder-
zieher des Nasenflügels und ein solcher der Nasenscheidewand gegen-
überstehen. «
3. Mimische Symptome der Lust- und ünlustgefühle.
Unter den durch dieses System der Antlitzmuskeln erzeugten
Bewegungen sind es in erster Linie die Mundbewegungen, die
teils für sich allein, teils mit unterstützender Wirkung der das Auge
und die Nase umgebenden Muskeln die Gefühle der Lust und Un-
lust in ihren mannigfachen Färbungen, Verbindungen und Inten-
sitätsabstufimgen ausdrücken. Die leighte Verständlichkeit dieses
Mienenspiels beruht vor allem darauf, daß der von der Mimik des
Mundes angegebene Grundton des Ausdrucks in nichts anderem als
in einer Wiedergabe jener Bewegungen besteht, die bei lust- oder
unlusterregenden Geschmackseindrücken reflektorisch erfolgen.
Schon beim neugeborenen Kinde sind sie auf die Einwirkung süßer,
saurer und bitterer Geschmacksreize zu beobachten, unter Bedingungen
also, unter denen es noch zweifelhaft ist, ob die Eindrücke bereits
Lust- oder Ünlustgefühle erregen können, wo aber jedenfalls die Be-
wegungsreaktionen selbst als reflektorische, in der vererbten Anlage
der zugehörigen niederen Zentren begründete, angesehen werden
müssen^). Auch wenn wir an uns selbst die mimischen Wirkungen
der Geschmacksreize prüfen, beobachten wir übrigens, daß diese
Ausdrucksbewegungen ohne unser Wissen und Wollen erfolgen, und
daß es außerordentlich schwer wird, sie willkürlich zu unterdrücken.
Ebenso verbinden sich die durch diese Bewegungen hervorgerufenen
Tastempfindungen so innig mit den zugehörigen Geschmackserregungen,
daß beide bei jeder Reizqualität eine jener festen Assoziationen bilden,
von denen das eine Glied das andere in das Bewußtsein ruft. Mag
^) A. Kußmaul, Untersuchungen über das Seelenleben des neugeborenen
Menschen, 1859, S. 16 ff. Genzmer, Die Sinneswahmehmungen des neugeborenen
Menschen, 1892. Vgl. oben S. 44 f.
112 Die Ausdrucksbewegungen.
aber auch diese Assoziation noch so sehr in den Reflex Verbindungen,
die im Laufe der generellen Entwicklung entstanden sind, mechanisch
vorgebildet sein, so läßt sich doch kaum zweifeln, daß ursprünglich
alle diese mimischen Bewegungen Triebbewegungen waren, die, durch
die Sinnesreize hervorgerufen; der lust- oder unlusterregenden Be-
schaffenheit derselben entsprachen. Für diese Beurteilung ist be-
sonders die Tatsache maßgebend, daß die Papillen der Zunge, die auf
die verschiedenen Geschmacksstoffe mit verschiedener Empfindlich-
keit reagieren, derart über die Oberfläche dieses Organs verteilt sind,
daß an der Zungenspitze vorzugsweise dicht die für süße Eindrücke
reizbaren Elemente liegen, die durch saure Reize erregbaren in größerer
Menge längs der beiden Zungenränder, und die für bittere Stoffe emp-
findlichen an der oberen Fläche der Zungenbasis. Die letztere Pa-
pillenregion scheint auch das Salzige am stärksten zu empfinden^).
Nun stehen die mimischen Reflexe, die bei der Einwirkung süßer,
saurer und bitterer oder stark salziger Geschmacksreize beobachtet
werden, zu den genannten drei Regionen des Geschmacksorgans in
deutlicher Beziehung. Dies spricht sich schon darin aus, daß die Be-
wegungen jedesmal solche Teile der Mundmuskulatur ergreifen, die
den genannten Regionen benachbart sind. Daneben ist aber auch
eine teleologische Beziehung dieser Bewegungen zu den Geschmacks-
reizen nicht zu verkennen. Sie beruht darauf, daß das Süße durch-
weg ein angenehmer, das Bittere ebenso allgemein ein unangenehmer
Reiz ist, während salzige und saure Eindrücke mehr indifferent in
der Mitte stehen, jedenfalls aber bei erheblicher Intensität ebenfalls
unangenehm sind. Dem entspricht es nun, daß die Reflexe auf Süß
und Bitter den ausgesprochensten Gegensatz bilden. Der süße Ein-
druck erzeugt eine Bewegung der Zunge und der Lippen, welche die
vollkommenste Berührung der reizbaren Stellen des Geschmacks-
organs mit dem Reiz vermittelt. Äußerlich tritt dabei die gleich-
mäßige Zusammenziehung des den Mund umgebenden Ringmuskels
deutlich hervor (Fig. 10). Umgekehrt bewirkt der bittere Reiz re-
flektorisch eine Senkung der Zungenwurzel und gleichzeitig eine
1) D. P. Hänig, Phil. Stud., Bd. 17, 1901, S. 576 ff., Physiol. Psych. « II,
S. 62 f., III, S. 264 f.
Mimische Symptome der Lust- und Unlustgefühle.
113
Hebung de 5 weichen Gaumens, Lageänderungen, bei denen der bittere
Stoff möglicbst wenig mit der empfindlichen Geschmacksregion in
Berührung kommt. Hierbei erzeugt die erste jener inneren Bewegungen
als Folgewirkung ein Herabziehen des Mundwinkels, die zweite ein
Emporziehen des Nasenflügels und des mittleren Teiles der Ober-
lippe durch gleichzeitige Aktion der nach entgegengesetzter Richtung
wirkenden Muskeln (Fig. 11). Der mimische Eeflex des Sauern steht
zwischen diesen beiden Fällen in der Mitte. Er besteht in einer Er-
weiterung der Mundspalte, die geringer bei mäßigen, sehr stark bei
Fig. 10. Mimik des Süßen.
Fig. 11. Mimik des Bittern.
intensiven Reizen ist und demnach im ersten Fall eine vollkommene
Berührung des Reizes mit den empfindlichen Zungenrändern mög-
lich macht, im zweiten dagegen einer beschleimigten Vorüberbewegung
an diesen Teilen zureichenden Raum läßt. Bei mäßigen Reizen bleibt
dabei die Mundspalte geschlossen; bei intensiveren wird sie durch
die Aktion der Heber der Oberlippe geöffnet, während sich zugleich
die Mundwinkel etwas, jedoch bedeutend weniger als bei der Einwirkung
bitterer Geschmacksreize, senken (Fig. 12).
Natürlich läßt sich nicht annehmen, daß alle diese Bewegungen
ursprünglich oder überhaupt jemals auf Grund willkürhcher Über-
legung ausgeführt worden seien. Aber sobald man zugibt, daß ihre
zweckmäßige Beziehung zur Empfindlichkeit der verschiedenen Re-
Wundt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. "
114 Die Ausdrucksbewegungen.
gionen der Zunge irgendeinmal entstanden sein muß, so ist es im
höclisten Maß unwahrscheinlicli, daß eine solche Anpassung aus einer
bloßen Häufung von Zufälligkeiten hervorgegangen sein sollte. Viel-
mehr wird die nächstliegende Annahme auch hier die bleiben, daß
aus den ursprünglich unbestimmter begrenzten, durch Sinnesreize
hervorgerufenen Triebbewegungen diejenigen sich begrenzt und be-
festigt haben, die im einen Fall, bei lusterregenden Eindrücken,
der Aufnahme des Reizes günstig sind, im andern Fall, bei un-
lusterregenden, die leichteste Beseitigung desselben bewirken.
Ihre Bedeutung als mimische Ausdrucksbewegungen empfangen
nun diese sämtlichen Geschmacksreflexe dadurch, daß sie bei allen
möglichen lust- oder unlusterregenden Ein-
drücken, die mit dem Geschmackssinn gar
nichts zu tun haben, sowie nicht minder bei
bloß innerlich vorgestellten Erlebnissen von
ähnlichem Gefühlscharakter auftreten. So
deutet der „süße'' Ausdruck des Mundes
Fig. 12. Mimik (pig ^q) j^^j^ beliebige angenehme oder er-
freuliche seelische Stimmung an; der „bittere"
Ausdruck begleitet alle möglichen unangenehmen
Gefühle (Fig. 11). Nicht in gleicher Weise unzweideutig ist der ,, saure"
Ausdruck. Dies ergibt sich schon daraus, daß die beiden gegensätz-
lichen, im allgemeinen gesteigerte Lust- und Unlustgefühle begleiten-
den Bewegungen des Lachens und Weinens dieselbe Verbreiterung
der Mundspalte erkennen lassen, wie sie durch saure Geschmacks-
reize hervorgerufen wird (Fig. 13 und 14). Das lachende und das
weinende Gesicht unterscheiden sich nicht oder in kaum nennens-
wertem Grade durch die Mimik des Mundes selbst. Sie erhalten ihr
eigentümliches Gepräge hauptsächlich durch die begleitende Mimik
von Nase und Auge. Beim Lachen ist die Nasenöffnung erweitert,
die Nasenflügel sind gehoben, das Auge geöffnet und bei mäßigem
Affekt fixierend einem Gegenstand zugewandt (Fig. 13). Das weinende
Gesicht zeigt herabgezogene Nasenflügel, verengerte Nasenöffnungen,
halb geschlossene, besonders am inneren Winkel etwas zusammen-
gedrückte und nach einwärts gezogene Augen, womit sich infolge der
Kontraktion des diese Bewegung bewirkenden Corrugator super-
Mimische Symptome der Lust- und Unlustgefühie.
115
ciliorum kurze senkrechte, unmittelbar über dem Augenlid gegen
die horizontale Richtung sich neigende Stirnfalten verbinden (Fig. 14),
Durchgängig bilden so, wie diese beiden Beispiele andeuten, die mi-
mischen Ausdrucksformen der Umgebung von Nase und Auge er-
gänzende Bestandteile zur Mimik des Mundes. Wir erweitern die Nase>
heben die Nasenflügel und öffnen das Auge, um Geruchs- oder Licht-
reize aufzunehmen. Durch die entgegengesetzten Bewegungen schützen
wir uns vor den Eindrücken auf diese Sinne. Auch diese Bewegungen
sind aber, ebenso wie die mimischen des Mundes, angeborene Reflexe,
Fig. 13. Lachen.
Fig. 14. Weinen.
wenngleich sie im allgemeinen erst in einer etwas späteren Zeit deut-
lich hervortreten^). Indem sich ferner diese mimischen Bewegungen
der Sinnesorgane des Angesichts in verschiedener Weise kombinieren,
kann der Gesamtausdruck alle möglichen Schattierungen zwischen
Lachen und Weinen durchlaufen. So unterscheidet sich das heftige
Lachen vom Weinen eigentlich nur durch wenige, aber charakteristische
Züge (Fig. 14 und 15). Die Züge um den Mund sind fast genau dieselben,
nur ist beim Weinen die Lippe leicht gebogen, den Übergang in den
^) Übrigens hat Kußmaul (a. a. 0. S. 25) schon bei Neugeborenen Reak-
tionen auf Gerüche beobachtet«
8*
116
Die Ausdrucksbewegungen.
bitteren Ausdruck andeutend. Nocli ähnliclier ist der Ausdruck um
die Augen, da die mit dem heftigen Lachanfall verbundene Anstrengung
hier dieselbe Verengerung der Lidspalte mit hinzukommender Tätig-
keit des Stirnrunzlers hervorbringt. Den Hauptunterschied des Aus-
drucks erzeugen daher in diesem Fall die sonst zurücktretenden
mimischen Züge der Nase, wo das heftig lachende Gesicht (Fig. 15)
die starke, die Öffnung der Nase unterstützende Hebung der
Nasenflügel und die hilfsweise eingreifende, den grinsenden Aus-
druck erzeugende Wirkung des Rückenmuskels der Nase höchst
augenfällig zeigt, während beim weinenden umgekehrt die Nasen -
Öffnungen gesenkt, die Nasenflügel gegen
den Mund herabgezogen sind. Diese Züge
sind es, mittels deren ein in der Wieder-
gabe des mimischen Ausdrucks geübter
Zeichner mit wenigen Strichen ein lachen-
des in ein weinendes Gesicht überführen
kann.
Ahnliche Kombinationen teils überein-
stimmender, teils kontrastierender Aus-
drucksformen können noch in mannig-
faltiger Weise vorkommen. Es mag hier
die Erwähnung zweier besonders häufiger
Beispiele genügen. Das eine besteht in der
kombinierten Bewegung von Mund, Nase
und Auge, die ein stark bitterer, Ekel erregender Geschmacksreiz
hervorruft, und die uns dann allgemein als Symptom sehr heftiger
Unlustaffekte begegnet, wie Zorn, Wut, Verachtung, nur jedesmal
nach der besonderen Beschaffenheit des Affekts in etwas veränderter
Form (Fig. 16). Der mimische Ausdruck in allen seinen Bestandteilen
ist hier lediglich eine Steigerung der einfach bitteren Miene, wie
sie die Fig. 11 wiedergibt. Ein Gegenstück zu dieser Steigerung bietet
die in Fig. 17 dargestellte Verbindung der süßen mit der bitteren Miene
(Fig. 10 und 11), wie sie als Ausdruck zwiespältiger Stimmungen sehr
oft vorkommt. Sie ist, ähnlich den Übergängen des Lachens in das
Weinen, für die außerordentlich kleinen, der oberflächHchen Be-
obachtung leicht entgehenden mimischen Unterschiede bezeichnend,
Fig. 15. Heftiges Lachen.
Mimische Symptome der Spannungs- und Lösungsgefühle.
117
die dem Ausdruck dennoch einen sofort in die Augen fallenden
Gesamtcharakter verleihen können. Der einzige Unterschied zwischen
Fig. 10 und 17 besteht in der Tat darin, daß im letzteren Fall
Mundwinkel und Nasenflügel um eine kaum merkliche Größe
gesenkt sind. Dieser kleine Zug gibt aber der süßen Miene jenen
leichten Anflug von Bitterkeit, den man als Symptom einer resi-
gnierten, halb selbstzufriedenen, halb weltschmerzlichen Stimmung
findet.
Fig. 16. Ekel.
Fig. 17. Kombination von Süß und Bitter.
4. Mimische Symptome der Spannungs- und Lösungsgefühle.
Mit den mimischen Bewegungen, die, unmittelbar an die Sinnes-
organe des Angesichts gebunden, den Lust- oder Unlustinhalt der
Affekte andeuten, verbinden sich nun weitere, ebenfalls dem mi-
mischen Gebiet angehörende Erscheinungen, die charakteristische
Symptome der Spannungs- und Lösungsgefühle bilden. Sie
sind physiologisch durch die Eigenschaft gekennzeichnet, daß sie nicht
oder doch nur in nebensächlicher Weise von den Muskeln der speziellen
Sinnesapparate ausgehen, vielmehr vorzugsweise an den die Mund-
bewegungen unterstützenden Wangenmuskeln, dem Buccinator
(Fig. 9) und dem unter dem Platysma zum Unterkiefer herabsteigen-
den Masseter, zum Ausdruck kommen, während in geringerem Grade
die übrigen mimischen Muskeln beteiligt sein können. Insoweit
118
Die Ausdrucksbewegungen.
hierbei aucli die Muskeln der Sinnesorgane in Aktion treten,
lassen diese eine direkte Beziehung zu lust- oder unlusterregenden
Eindrücken nicht erkennen, es sei denn, daß Komplikationen mit
den mimischen Bewegungen der vorigen Art vorliegen. Ein
weiteres physiologisches Merkmal, das minder allgemeingültig ist,
besteht darin, daß diese Bewegungen nicht rasch wechselnde,
sogenannte klonische, sondern mehr oder minder dauernde Steige-
rungen oder Hemmungen des
g:^^^^'^^T>^-^^ Tonus der mimischen Mus-
keln sind. Doch ist dieses
Merkmal nicht immer zu-
treffend, da die mimischen
Ausdrucksformen , die ur-
sprünglich von Sinnesein-
drücken ausgehen, wie der
süße, bittere, saure Aus-
druck usw., durch Gewohn-
heit und Übung ebenfalls
zu tonischen Zuständen füh-
ren können, wo sie dann in
physiognomische Züge
übergehen. Psychophysisch
kann man schließlich als
das hauptsächlichste Unter-
schiedsmerkmal beider Arten
wohl dies ansehen, daß die
Symptome der Lust und Unlust in Bewegungen von abweichender
Form bestehen, die erst indirekt, durch die Beziehung zu Sinnes-
eindrücken, auf die qualitativen Gegensätze der Gefühle hinweisen,
wogegen die mimischen Symptome der Spannung und Lösung durch
die verschiedenen Grade der Erhöhung und der Herabsetzung
des Tonus unmittelbar einen Gegensatz andeuten. In dieser Be-
ziehung sind die Gefühle der Spannung und Lösung in ihren phy-
sischen Äußerungen offenbar den Symptomen der Erregung imd Be-
ruhigung näher verwandt. Doch es bleibt, abgesehen von der Be-
schränkung der ersteren auf die mimischen Muskeln, der wichtige
Fig. 18.
Ausdruck dauernder Befriedigung.
I
Mimische Symptome der Spannungs- und Lösungsgefühle.
119
Unterschied, daß sicli die exzitierenden und deprimierenden Gemüts-
bewegungen in dem wechselnden Spiel gesteigerter und herabgesetzter
Muskeltätigkeit zu erkennen geben, während Spannung und Lösung
in dauernden Zuständen gradweise verschiedener tonischer Erregung
bestehen. Dabei können übrigens auch diese Zustände bald allmählich,
bald plötzlich sich einstellen.
Diese Momente allmählicher oder plötzlicher Entstehung sind
Fig. 19. Hochmut.
Fig. 20. Verachtung.
es zugleich, die neben dem Grad der Erhöhung und der Erniedrigung
des Tonus die eigentümlichen Unterschiede bestimmen, durch die
diese Innervationsverhältnisse der mimischen Muskeln charakteristische
Symptome für bestimmte qualitative Gefühlszustände werden. Als
solche kommen aber hier, nach der psychologischen Natur der Span-
nungs- und Lösungsgefühle wie nach dem tonischen Charakter der
entsprechenden physischen Erscheinungen, nicht sowohl vorüber-
gehende Affekte als dauernde Stimmungen in Betracht. So ist
eine mäßige tonische Spannung der Wangenmuskeln das deutliche
120
Die Ausdrucksbewegungen.
Merkmal dauernder Befriedigung, besonders wenn sich damit
auch noch ein schwacher Tonus der Mund- und Augenmuskeln ver-
bindet, der bei den ersteren eine nur eben erkennbare leichte Schließung
der Mundspalte, bei den letzteren einen die starre Fixation vermeiden-
den Blick herbeiführt (Fig. 18). Der Ausdruck ändert sich sofort in
seiner Bedeutung, wenn die tonische Spannung aller der genannten
Muskelgruppen um eine kleine Größe zunimmt, wo nun der stärkere
Druck der Wangen, der fester geschlossene Mund, der strenger fixie-
rende Blick jene intensiveren Spannungsgefühle andeuten, die dem
erhöhten Selbstgefühl eigen
sind, und die sich bei
weiterer Verstärkung zum
Hochmut steigern kön -
nen, in dessen Symptome
denn auch der mimische
Ausdruck ohne scharfe
Grenze übergeht (Fig. 19).
Verbindet sich dieser noch
mit der bittere Geschmacks-
eindrücke und unange-
nehme Stimmungen an-
deutenden Senkung des
Mundwinkels, so wird er,
namentlich wenn der letz-
tere Zug auf eine Seite
beschränkt bleibt, zum
Ausdruck der Verach-
tung (Fig. 20). Dabei ist der Blick nach der nämhchen Seite gerichtet,
auf der auch der Gegenstand der Verachtung vorauszusetzen ist;
doch pflegt die Blickrichtung an dem Gegenstand selbst vorbeizu-
gehen. Es ist ganz besonders diese einseitige Richtung des mimischen
Ausdrucks, die ihm jenes besondere Gepräge verleiht, in dem sich das
erhöhte eigene Selbstgefühl mit dem unangenehmen Eindruck, den
ein anderer ausübt, verbindet. Eine davon wesentlich abweichende
Bedeutung gewinnt der äußerste, auf alle mimischen Muskeln sich
ausdehnende Grad tonischer Spannung, wie er im Zustand angst-
Fig. 21. Heftiger Schmerz.
Mimische Symptome der Spannungs- und Lösungsgefühle.
121
voller Erwartung oder bei intensivstem, in hohem Maße zugleich
Furcht wie Hoffnung erregendem Schmerz vorkommt. Neben den
Wangenmuskeln sind in diesem Fall besonders die Kiefermuskeln,
die Stirn- und die Augenmuskeln in tonischem Krampf kontrahiert;
daher die Zähne fest zusammengepreßt, die Stirn gerunzelt, das Auge
starr fixierend erscheint (Fig. 21). Zugleich pflegt das Symptomen -
bild insofern ein kompliziertes zu sein, als die Spannungs- nicht nur
Fig. 22. Passiver Gesichtsausdruck
eines Imbezillen.
Fig. 23. Schreck.
mit Unlust-, sondern auch mit Erregungssymptomen verbunden sein
können, wobei sich, wie oben erörtert, die Unlust hauptsächlich in
der Mimik des Mundes, die Erregung in wiederholten klonischen Be-
wegungen der übrigen Körperorgane sowie in solchen des Angesichts
äußert, welche die tonische Spannung unterbrechen.
Die diesen Ausdrucksweisen gesteigerter Spannung entgegen-
gesetzten Symptome der Lösung bieten sich wieder in verschiedenen
Formen, je nachdem sie dauernde Stimmungen begleiten oder bei
plötzlichen Affekten auftreten, wobei sie in letzterem Falle meist
122
Die Ausdrucksbewegungen.
auf eine unmittelbar vorangegangene Erwartung, Furcht und der-
gleichen folgen. Die Lösung als dauernder Ausdruck erscheint als
eine einfache Umkehrung der in Fig. 18 und 19 dargestellten Formen
der Spannung. Die schlaff herabhängenden Wangen, der unbestimmt
fixierende Blick, wie sie die wesentlichen Bestandteile dieses Sym-
ptomenbildes ausmachen, können ebensogut als Zeichen stumpfer
Teilnahmlosigkeit wie träumerischer Versunkenheit und ähnlicher
passiv hingegebener Seelenzustände vorkommen (Fig. 22). Ganz
anders, wenn der Zustand plötzlich hereinbricht und sich durch die
Fig. 24. Kummer.
Fig. 25. Angst.
größere Intensität der Erscheinungen sowie durch den Kontrast zu
vorangegangenen Spannungen sogleich als heftiger Affektanfall zu
erkennen gibt, wie in ausgesprochenem Maße beim Schreck und
in geringerem bei der Überraschung, wo beinahe alle zuvor tonisch
erregten Muskeln des Angesichts ihre Dienste versagen, die Wange
schlaff herabsinkt, der Mund sich öffnet, das Auge ins Weite starrt
und zugleich durch seine krampfhafte Öffnung eine begleitende starke
Erregung verrät (Fig. 23). Die ähnliche Komplikation der Sym-
Theorie der mimischen Ausdrucksbewegungen. 123
ptome, bei der das übrige Angesicht völlige Hingebung, nach den Ge-
fühlselementen betrachtet Lösung und Depression, das Auge und
seine Umgebung eine bald unbestimmtere, bald bestimmter gerichtete
Spannung andeutet, findet sich nicht selten auch bei dauernden
Stimmungen. So ist diese Komplikation von Ausdrucksformen ver-
schiedener Gefühlsrichtungen das überaus charakteristische Sym-
ptomenbild des Kummers (Fig. 24) und, wenn sich die Unlust mid
Erregung steigern, der Angst (Fig. 25). Bei dem letzteren Affekt
bilden zugleich die Hemmung des Herzschlags und die diese kom-
pensatorisch begleitende Kontraktion der kleinen Arterien Neben-
symptome, die sich äußerlich in der tiefen Blässe des Angesichts und
zuweilen, infolge der Beteiligung der Kopfhaut an dem Krampf der
Arterien, in dem sich emporsträubenden Kopfhaar kundgeben^).
5. Theorie der mimischen Ausdrucksbewegungen.
Die hier an einigen Beispielen vorgeführten, in unzähligen Ab-
stufimgen, Variationen imd Kombinationen vorkommenden Grund-
formen mimischer Ausdrucksbewegungen bieten uns überall in der
praktischen Lebenserfahrung die Merkmale, nach denen wir vorüber-
gehende Affekte oder bleibende Stimmungen und die Qualität der
in sie eingehenden Gefühle beurteilen. Aber so sehr wir auch in der
Beobachtung dieser Merkmale geübt sein mögen, so erstreckt sich
doch diese Übung in der Regel nur auf den Totaleindruck, den sie
hervorbringen, nicht auf den objektiven Tatbestand selbst in den
einzelnen ihn konstituierenden Bestandteilen. Unter diesen bieten
wohl die mimischen Bewegungen der Mundmuskeln nebst den sie
in übereinstimmendem Sinn begleitenden Bewegungen der übrigen,
^) Zu den obigen die Haupt formen des mimischen Ausdrucks erläutern-
den Abbildungen haben, insoweit sie sich auf die Mimik der Lust- und Unlust-
affekte beziehen (Fig 10 — 17), die von Piderit mitgeteilten Skizzen (Mimik und
Physiognomik 2) als Vorlagen gedient. Die Ausdrucksformen der Spannungs-
und Lösungsgefühle sind teils nach Abbildungen von Harless (Plastische Ana-
tomie, S. 127 ff.) teils nach solchen Morisons (Physiognomik der Geisteskrank-
heiten, 1853) ausgeführt. Parallelen zu den obigen Figuren bieten einige von
Kraepelin (Psychiatrie®, II) mitgeteilte Gruppenbilder, sowie eine Reihe phy-
siognomischer Abbildungen Geisteskranker bei Th. Kirchhoff, Lehrbuch der
Psychiatrie, 1892 (10 Gesichtstafeln).
;[24 I^i® Ausdrucksbewegungen.
Nase und Auge umgebenden Muskeln der psychologisclien Deutung
die geringsten Schwierigkeiten. Die einfachen Gefühle, die sich mit
den Geschmacksreizen des Süßen, Sauern, Bittern, sowie mit ent-
sprechenden Geruchs- und Gesichtsreizen verbinden, sind allen mög-
lichen zusammengesetzten Gefühlen und Affekten insofern verwandt,
als diese den nämlichen allgemeinen Gefühlsrichtungen angehören.
Dabei bewährt sich überall das Gesetz, daß die seelischen Zustände,
die an unmittelbare sinnliche Eindrücke gebunden sind, in ihrer Ent-
stehung den verwickeiteren, auf früheren Erlebnissen und erworbenen
Anlagen beruhenden vorausgehen. Wie Sinneswahrnehmungen früher
sind als Phantasievorstellungen, äußere Willenshandlungen früher
als innere Entschlüsse und Vorsätze zu künftigen Handlungen, so
sind auch die einfachen Tast-, Geschmacks- und sonstigen Sinnes-
empfindungen früher als die inneren seelischen Stimmungen der Freude,
des Kummers, des Ärgers usw. Nun ist aber die sogenannte innere
Seelenstimmung gleichfalls eine seelisch-körperliche Erregung, wie
die Veränderungen von Herzschlag, Blutgefäßreizung und Atmung,
und die gesamten, die erregende oder deprimierende Richtung des
Affekts anzeigenden Einflüsse auf die äußeren Körpermuskeln zeigen.
Daß unter diesen motorischen Erregungen diejenigen in bevorzugter
Weise auftreten, deren ursprüngliche Entstehung der allgemeinen
Richtung des Affekts entspricht, ist wiederum eine notwendige Folge
jener Assoziation analoger Gefühle, die ihrerseits nur ein Spezialfall
des durch zahllose Erfahrungen bestätigten allgemeinen Assoziations-
prinzips ist. Sobald sich eine neue, zusammengesetztere seelische
Stimmimg entwickelt, die z. B. in ihrer Lust- oder Unlustqualität
einer früheren, einfacheren verwandt ist, wird daher diese durch Asso-
ziation wachgerufen, und mit ihr entstehen naturgemäß auch die
an sie gebundenen physischen Ausdrucksbewegungen. Hierdurch
gewinnen zugleich die bekannten Metaphern der Sprache ihre psy-
chologische Beleuchtung. Wenn wir Freude und Hoffnung ,,süß",
das Leid ,, bitter", den entsagenden Entschluß ,, sauer" nennen, so
können diese Ausdrücke ursprünglich unmöglich absichtliche Über-
tragungen des sinnHchen Eindrucks auf eine sogenannte ,, nicht sinn-
liche Vorstellung" sein. Ist doch hier die Metapher selbst erst auf
Grund jener natürlichen Assoziationen verständlich, bei denen die
Theorie der mimischen Ausdrucksbewegungen. 125
Verbindung zunächst gar nicht als eine Übertragung, sondern als
eine unmittelbare Übereinstimmung empfunden wird^). Nachdem
sich einmal solche Assoziationen gebildet haben, kann dann allerdings
auch eine willkürliche Metapher einsetzen, die nach dem Vorbild jener
natürlichen Verbindungen neue, künstliche schafft. Aber diese Über-
tragungen folgen dabei doch den natürlichen Vorbildern der primären
Assoziationen, durch welche neu sich entwickelnde seelische Stimmungen
ihnen verwandte sinnliche Gefühle, die in der psychischen Entwick-
lung vorausgingen, erweckten. An die sinnlichen Gefühle und die
sie leise begleitenden Empfindungen sind dann wieder mit mecha-
nischer Sicherheit die durch die letzteren ausgelösten Bewegimgen
gebunden. Vermutlich ist daher die Entstehung jener sprachlichen
Metaphern selbst ein sekundärer Vorgang, der sich nicht an die Emp-
findung, sondern an den mimischen Ausdruck derselben angeschlossen
hat. Mußte doch dieser erst dem sinnlichen Gefühl die bestimmte
Beziehung verleihen, die den objektiven Beobachter wie den Fühlen-
den selbst veranlassen konnte, sich der Assoziation eines rein inneren
Seelenzustandes mit gewissen Sinneseindrücken deutlich bewußt zu
werden. Vorher war diese Assoziation eine jener dunkel bewußten,
die, so wichtige Erfolge sie auch für die elementaren psychischen und
psychophysischen Vorgänge haben mögen, doch nicht in die Sphäre
des sprachlichen Denkens hineinreichen.
Innerhalb der individuellen Entwicklung wird man nun die Asso-
ziation der zusammengesetzten Gefühle und Affekte mit den ein-
fachen sinnlichen Gefühlen durchaus als eine solche ansehen müssen,
die sich an die angeborenen und vererbten Reflexe der den Sinnes-
organen beigegebenen mimischen Muskeln anschließt, und zu der
deshalb ebenfalls in ähnlichen angeborenen und vererbten Anlagen
der Grund gelegt sein mag. In der Tat stehen ja die Leitungsbahnen
der Geschmacksnervenfasern mit den Fazialis- und Hypoglossus-
zentren offenbar in einer durch die generelle Entwicklung eingeübten
Verbindung, so daß sofort nach der Geburt durch bestimmte Ge-
schmacksreize die ihnen adäquaten Bewegungen ausgelöst werden
(S. 111). Dies vorausgesetzt, ist aber natürlich auch die allmähliche
^) Vgl. hierzu die in Kap. VIII (Bedeutungswandel) folgende eingehen-
dere Erörterung der ,, Metaphern der Sprache".
126 I^ie Ausdrucksbewegungen.
Entwicklung anderer, uns noch unbekannter Nervenverbindungen
nicht ausgeschlossen, durch die eine Übertragung der inneren Seelen-
zustände in äußere sinnliche Formen vermittelt werden kann, bevor
die Assoziationseinflüsse des individuellen Lebens in merklicher Weise
wirksam geworden sind. Hier werden sich eben niemals individuelle
und generelle Entwicklung ganz voneinander sondern lassen. Doch
für das psychophysische Verständnis der Vorgänge ist dies deshalb
nicht von erhebhcher Bedeutung, weil die in bestimmten organischen
Anlagen niedergelegten Erwerbungen der generellen Entwicklung
doch nur auf dem Weg einer zahllosen Menge individueller Vorgänge
entstanden sein können. Im vorliegenden Falle wird man nun mit
großer Wahrscheinlichkeit die Stufen des Prozesses so zwischen bei-
den Gebieten verteilen dürfen, daß man die Entstehung der zweck-
mäßigen Sinnesreflexe ganz und gar der generellen, die Assozia-
tionen zwischen sinnlichen Empfindungen und Gefühlen und inneren
Seelenzuständen aber der Hauptsache nach der individuellen Ent-
wicklung zuweist; wenn auch immerhin diese Asso/iiationen durch
gewisse generell erworbene zentrale Anlagen begünstigt sein werden.
Für die erste Annahme bildet das Vorkommen der Geschmacks- und
Geruchsreflexe beim Neugeborenen ein unzweifelhaftes Zeugnis.
Die zweite erscheint aus dem Grunde wahrscheinlich, weil die zu-
sammengesetzteren Gefühle und Affekte überhaupt erst während
des individuellen Lebens sich ausbilden.
Ist die Assoziation zwischen dem physischen Zustand und der
einem Sinneseindruck von verwandtem Gefühlston entsprechenden
mimischen Bewegung eingetreten, so schließt sich aber an sie not-
wendig eine zweite, sekundäre, die zugleich verstärkend auf die erste
zurückwirkt. Die mimische Bewegung selbst wird nämlich von einer
Tast- und Muskelerapfindung begleitet, die auf das engste mit den
entsprechenden Sinneseindrücken assoziiert ist. Die so erweckten
psychischen Inhalte sind allerdings in ihren Empfindungsbestand-,
teilen sehr schwach und unbestimmt, was sich teils aus der außer-
ordentlich geringen Intensität der Erinnerungsbilder von Geschmacks-
und Geruchsempfindungen, teils aus der Mannigfaltigkeit lust- und
unlusterregender Empfindungen imd Vorstellungen des Gesichts-
sinns erklärt. So kommt es, daß diese reproduktiven Elemente hier
Theorie der mimischen Ausdrucksbewegungen. 127
großenteils durch die an die mimischen Bewegungen gebundenen
Tastempfindungen ergänzt werden, mit denen nun die entsprechen-
den sinnlichen Gefühle fest assoziiert sind. Darum ist bei dem Ge-
schmacksaus druck des Süßen, Bittern, Sauern wirklich etwas vom
gleichen Geschmackseindruck in unserem Bewußtsein. Aber zu-
gleich tritt die eigentliche Geschmacksempfindung sehr hinter der
ihr assoziierten Tastempfindung zurück. Mit dieser Beschränkung
haben dann die Ausdrücke ,,süße Freude", ,, bitteres Leid" und der-
gleichen keine metaphorische, sondern eine wirkliche, sinnliche Be-
deutung.
Die ähnlichen Verhältnisse wie beim Geschmackssinn kehren
bei den mimischen Bewegungen wieder, die lust- und unlusterregende
Licht- und Geruchseindrücke andeuten. Nur kann es schon wegen
der sehr viel größeren Anzahl der Geruchs- und Gesichtsqualitäten
hier nicht zu ähnlichen scharf charakterisierten Ausdrucksformen
kommen. Damit hängt wohl zusammen, daß überhaupt die mimischen
Hilfsmittel dieser beiden Sinne beschränkter, die Ausdrucksbewegungen
gleichförmiger sind, indem sie nur die Gegensätze solcher Eindrücke,
die vom Sinnesorgan aufgesucht, und solcher, die von ihm gemieden
werden, angeben. Erst als Begleiterscheinungen der feiner nuan-
cierten mimischen Mundbewegungen gewinnen diese unbestimmteren
Lust- und Unlustsymptome ihre konkretere Bedeutung. Gerade die
Armut des Geschmackssinns an spezifisch verschiedenen Empfin-
dungen scheint hier mit dem größeren Eeichtum der von ihm aus-
gehenden mimischen Bewegungen zusammenzuhängen. Auch die an
die mimischen Tastempfindungen jener andern Sinne gebundenen
Assoziationen sind daher von unbestimmterem Charakter: die Sinnes-
qualitäten selbst verschwinden in den entstehenden Komplikationen.
Um so mehr ist wieder an die jede Bewegung begleitende innere Tast-
empfindung ein deutliches Lust- oder Unlustgefühl geknüpft, das
die Rückwirkung des mimischen Ausdrucks auf den Affektverlauf
verstärkt. Dies ist vor allem bei den Ausdrucksbewegungen des
Lachens imd Weinens zu beobachten, an denen sich diese Geruchs-
und Gesichtsreflexe der Affekte hauptsächlich beteiUgen. So wird
man kaum sagen können, daß durch die energische Tätigkeit des
Stirnrunzlers, wie wir sie bei verdrießlichen und traurigen Stimmimgen
128 Die Ausdrucksbewegungen.
wahrnehmen, jemals irgendeine Assoziation an ein bestimmtes Ge-
sicbtsbild erweckt werde. Aber gewiß ist, daß diese Bewegmig —
was man sogar durch ihre willkürKche Herbeiführmig erproben kami
— eine Unluststimmung mit sich führt, der wir mit aller Gewalt nicht
widerstehen können. Man versuche es einmal, mit dem Ausdruck
des Grames heitere, fröhliche Vorstellungen zu verbinden, und man
wird bald wahrnehmen, daß dies entweder nicht gelingt, oder daß
der Ausdruck mit einer Art mechanischen Zwanges der ihm wider-
streitenden Stimmung weicht.
Die nämlichen hin- und herwandernden Assoziationswirkungen
fehlen nun auch bei den Ausdrucksformen der andern, die qualitativen
Symptome der Affekte mitbestimmenden Gefühle der Spannung
und Lösung nicht. Bei ihnen verschwinden aber im allgemeinen
noch mehr als bei den mimischen Gesichts- und Geruchsreaktionen
die Assoziationen mit den äußeren Eindrücken, die als ursprüngliche
Gelegenheitsursachen der psychischen Stimmungen wirksam gewesen
sein mögen. Um so größer ist die Mannigfaltigkeit dieser Ursachen
und um so unbestimmter der einzelne zu assoziierende Eindruck,
weil nicht nur Reize aller möglichen Sinnesorgane an der Entstehung
der Ausdrucksformen beteiligt sein können, sondern weil gerade die
Gefühle der Spannung und Lösung, ebenso wie die oft mit ihnen ver-
bundenen der Erregung und Herabstimmung, von frühe an aus An-
laß psychischer Vorgänge entstehen, die nur noch indirekt äußere
Sinneserregungen als ihre entfernteren Vorbedingungen voraussetzen.
Besonders gilt das von jenen dauernden mimischen Ausdrucksformen,
die in dem tonischen Spannungsgrade der Antlitzmuskeln zutage
treten, und die auf gleichmäßig andauernde psychische Ursachen
zurückweisen. Reproduktionen früherer Eindrücke kommen als
dauernde seelische Zustände kaum vor. So mögen sie denn auch
hier höchstens bei den niemals ganz fehlenden momentanen Schwan-
kungen der Gemütslage bis zu einem gewissen Grade mitwirken.
Um so mehr drängen sich in diesem Fall die unmittelbar gegebenen
Spannnungsempfindungen selbst und ihr Einfluß auf die Gemütslage
in den Vordergrund. Jener wechselnde Tonus der Wangenmuskeln,
der bald aufmerksame Erwartung, bald ruhige Festigkeit des Ent-
schlusses, bald plötzliche Lösung einer psychischen Spannung oder
Theorie der mimischen Ausdrucksbewegungen. 129
fortwährende apathische Ruhe ausdrücken kann — er ist jedesmal
von Empfindungen begleitet, die der Seelenstimmung einen ihr ad-
äquaten, eben darum aber auch sie wiederum steigernden Gefühlston
hinzufügen. Dies tritt wegen der Summation der Wirkungen in der
Zeit ganz besonders bei den dauernden Stimmungen hervor. Hier kann
man geradezu sagen: der mimische Ausdruck des Selbstzufriedenen,
des Hochmütigen, des Kummervollen (Fig. 18, 19, 24) ist ein wich-
tiges Moment der Erhaltung seiner Gemütslage. Aus dieser können
die einzelnen psychischen Bestandteile auf längere Zeit ganz ver-
schwinden: bleibt der mimische Ausdruck, so bleibt mit den an ihn
gebundenen Empfindungen und Gefühlen auch der Grundcharakter
der seelischen Stimmung bestehen.
Vergleicht man die so in ihren wesentlichsten Elementen in der
Mimik des Angesichts vereinigten Qualitätsäußerungen der Affekte
mit den Intensitätssymptomen, so fällt ohne weiteres die reichere
und feinere Ausbildung der ersteren in die Augen. Dies hat im all-
gemeinen seinen verständlichen Grund darin, daß die Intensitäts-
äußerungen in ihren ursprünglichen Formen Trieb- und Reflex-
bewegungen sind, die auf Tastreize erfolgen, die Qualitätsäußerungen
dagegen Reaktionen, die Eindrücken auf die Sinnesorgane des An-
gesichts entsprechen. Mit diesem Verhältnis läßt es sich auch in Be-
ziehung bringen, daß nicht nur beide Formen stets miteinander ver-
bunden vorkommen, sondern daß in einem gewissen Sinne die
mimischen Bewegungen als eine höhere Entwicklungsform oder,
wenn man will, als eine nähere qualitative Nuancierung der unbe-
stimmteren, die Intensität der Erregung spiegelnden Ausdrucks-
bewegungen betrachtet werden können. Damit hängt zusammen,
daß unter den drei allgemeinen Gefühlsdimensionen die der Erregung
und Beruhigung nicht an den Qualitätssymptomen im engeren Sinne
teilnimmt. Ihnen stehen am nächsten die mimischen Äußerungen
der Spannung und Lösung, die bereits in nähere Beziehung zu den
höheren Sinnesorganen treten, da an ihnen die mimischen Muskeln
hervorragend beteiligt sind. Gleichwohl sind es auch hier nicht so-
wohl die spezifischen Sinnesorgane als die besonderen Eigenschaften
der entsprechenden Teile des Tastorgans, die bei der Entstehung
der Ausdrucksformen eine Rolle spielen. Denn die Bedeckung der
W u n d t , Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. 9
j[30 I^iö Ausdrucksbewegungen.
mimisclien Muskulatur ist zugleich das empfindlichste Gebiet des
Tastsinns. Dadurch wird es zu einem besonders feinen Maße für jene
Spannungsverhältnisse der Gemütszustände, wie sie eben in den
Spannungs- und Lösungsgefühlen enthalten sind. Daß es das Gebiet
der Wangenmuskeln ist, das vorzugsweise dem Ausdruck dieser Ge-
fühle dient, dafür darf man aber wohl die entferntere Ursache in der
engen Beziehung erblicken, in der jene Muskeln zur Aufnahme
und ersten Bewältigung der Nahrung stehen. Indem die
Kaumuskeln diesem physischen Bedürfnis die nächste Befriedigung
schaffen, reflektieren sich in ihren Spannungszuständen auch die
damit assoziierten sinnlichen Gefühle. Hunger und Sättigung geben
sich zu allererst in der Ab- und Zunahme des Tonus dieser Muskeln
kund. Diese ursprünglichen sinnlichen Grundlagen läßt auch hier
die Kultur nicht verschwinden. Wir übertragen, von dem mimischen
Eindruck ausgehend, die Bezeichnungen des „Hungrigen" und des
,, Satten ' gelegentlich ebenso wie die des ,, Süßen", ,, Bittern" und
,, Sauern" auf moralische Eigenschaften. Ein physiognomischer Aus-
druck, wie der in Fig. 18 (S. 118) dargestellte, kann nicht minder
den physisch Gesättigten wie den Selbstzufriedenen verraten. Die
durch den Gefühlston der Tastempfindungen dieser Muskelgebiete
vermittelte Verbindung erscheint daher vollkommen analog den
bei den andern mimischen Muskeln durch die Sinneseindrücke auf
Geschmack, Geruch und Gesicht erregten Assoziationen. Zugleich
bringt es aber diese Entstehung mit sich, daß die Mimik der Wangen-
muskeln immer auch an den Lust- und Unlust- sowie an den Erregungs-
und Hemmungssymptomen teilnimmt. Sättigung und Hunger sind
ja nicht bloß Spannungs- und Lösungs-, sondern stets auch Lust-
und Unlust-, und mehr oder minder erregende und deprimierende
Gefühle. Erst im Gefolge des Übergangs der gleichen mimischen
Bewegungen auf andere Seelenzustände dürfte hier, unterstützt durch
die mit der ursprünglichen Funktion zusammenhängende Tast-
empfindlichkeit der Wangen, der Ausdruck der Lösungs- und der
Spannimgsgefühle mehr in den Vordergrund getreten sein.
Verhältnis d. Vorstellungsäußerungen zu d. and. Affektsymptomen. 131
VI. Vorstellungsäußerungen der Affekte.
1. Verhältnis der Vorstellungsäußerungen zu den andern
Affektsymptomen.
Jeder Affekt enthält Vorstellungen, die ebenso wie die den Affekt
zusammensetzenden Gefühle untereinander verbunden sind und auf
diese Weise einen Vorstellungs verlauf bilden. Nirgends zeigt es sich
daher so augenfällig wie bei der Beobachtung der Affekte, daß die
Vorstellungen und die Gefühle des seelischen Lebens nur verschiedene
Seiten der nämlichen unmittelbaren Erlebnisse sind, von denen sich
je nach den besonderen Bedingungen bald mehr die eine, bald mehr
die andere unserer Wahrnehmung aufdrängt. Wenn wir uns an einem
Gegenstand erfreuen oder über ihn erzürnen, so erscheint uns wohl
die Vorstellung des Gegenstandes als die Ursache, der die Gefühls-
erregung als ihre Wirkung folgt. Wenn wir aber, wie es bei den dauern-
den Gemütsrichtungen die Regel ist, in gehobener oder gedrückter
Stimmung sind, und wenn dann dort heitere, hier trübe Bilder der
Zukunft vor uns auftauchen, so sind wir geneigt, das umgekehrte
Verhältnis anzunehmen. Genau genommen ist jedoch weder hier
noch dort von irgendeiner regelmäßigen zeitlichen Sonderung dieser
Erfahrungsinhalte zu reden. In dem Moment, wo uns ein Objekt
als Vorstellung gegeben wird, ist auch schon ein Gefühlszustand vor-
handen, der dieser Vorstellung irgendwie entspricht; und der Ver-
lauf, den Vorstellung wie Gefühl darbieten, kann ebenso dieses wie
jene zuerst in den Vordergrund des Bewußtseins heben. So ist bei
neuen Sinneseindrücken meist die Vorstellung, bei Erinnerungs-
bildern sehr oft das Gefühl der anscheinend zunächst sich aufdrängende
Bestandteil. Ebenso gibt es aber keine Art seelischer Stimmung,
die nicht an irgendwelche gegenständliche Inhalte gebunden wäre,
mögen diese häufig auch dauernd im dunkeln Hintergrunde des Be-
wußtseins bleiben^).
Dieses Verhältnis bringt es mit sich, daß die Affekte ebenso in
Vorstellungs- wie in Gefühlssymptomen sich äußern können. Dabei
«ind beide Formen der Ausdrucksbewegungen so eng aneinander
1) Physiol. Psych. III e S. 99 ff.
9*
132 I^iö Ausdrucksbewegungen.
gebunden, daß sie erst durch eine ähnliche Abstraktion, wie sie zur
Scheidung der Vorstellungen von den Gefühlen selbst dient, zu son-
dern sind. Hierfür ist in diesem Falle schon der Umstand bezeichnend,
daß alle jene Gefühlsäußerungen, in denen sich bestimmte Sinnes-
eindrücke von einem dem vorhandenen Affekt entsprechenden Ge-
fühlscharakter spiegeln, nicht bloß auf die Gefühle, sondern stets
auch auf die mit diesen assoziierten äußeren Eindrücke hinweisen.
Aber in der Festigkeit dieser Assoziationen ist es zugleich begründet,
daß hier die ursprünglichen Vorstellungsgrundlagen der Ausdrucks-
bewegungen zurücktreten und wir daher den Symptomen einen be-
stimmten Vorstellungswert überhaupt nicht mehr beilegen. Dem-
nach können als spezifische ,, Vor Stellungsäußerungen" nur solche
Erscheinungen gelten, in denen sich unmittelbar die Gegenstände,
auf die sich der Affekt bezieht, die Erinnerungen, die er wachruft,
zu erkennen geben. Dabei ist aber von vornherein zu erwarten, daß
sich diese Erscheinungen hinwiederum untrennbar mit Gefühlsäuße-
rungen verbinden, mögen sich nun solche durch besondere mimische
Bewegungen oder durch die Energie und Geschwindigkeit der Vor-
stellungssymptome selbst verraten. In dieser letzteren Form sind
vorzugsweise mit den Merkmalen der für den Verlauf der Affekte ent-
scheidenden Gefühle der Erregung und Depression Vorstellungs-
gebärden verknüpft. Indem so auch bei dieser Klasse eine Bewegung,
in der sich überhaupt kein Affekt verriete, nicht oder annähernd
höchstens in gewissen Grenzfällen vorkommt, gehören die Vorstellungs-
äußerungen im vollen Sinne des Wortes zu den Affektsymptomen.
Zugleich ist hier durchaus die für die Ausdrucksbewegungen im all-
gemeinen gültige Voraussetzung maßgebend, daß sie in keinem ihrer
Bestandteile aus Überlegung und Wahl entstehen, sondern daß sie
natürliche und notwendige Erzeugnisse der bei den ursprünglichen
Trieben und deren allmählicher Entwicklung wirksamen psycho-
physischen Bedingungen sind. Wo bei einer Bewegung Plan und Ab-
sicht wirklich bestehen, da ist dies selbst bei den Vorstellungsäuße-
rungen stets Resultat späterer Entwicklung. Doch diese Lösung von
der einstigen Affektgrundlage vollzieht sich nicht anders als bei den
Intensitäts- und Qualitätssymptomen: sie ist dort wie hier ein Be-
standteil jener allgemeinen Entwicklung der Willenshandlungen ^
Hauptformen pantomimischer Bewegungen. 133
in deren Gefolge sich die ursprünglichen psychischen Motive bestimmter
Bewegungen ermäßigen und allmählich mit andern Motiven ihre
Stellen tauschen können. Und wieder fehlt auch hier nicht ganz das
Moment der Kückwirkung der Bewegungen auf den psychischen In-
halt der Affekte. Wo irgendeinmal eine Ausdrucksbewegung affekt-
los entstehen sollte, da müßte sie doch, weil sie selbst ein Bestandteil
des ganzen psychophysischen Komplexes aller Affekterscheinungen
ist, die übrigen Elemente, mit denen sie fest assoziiert ist, hervor-
rufen. Das gilt um so mehr auch für die Vorstellungsäußerungen,
weil diese eben in der Energie und Geschwindigkeit, mit denen sie
ausgeführt werden, stets zugleich Intensitätssymptome sind, denen
als solchen ganz besonders die affektverstärkende Wirkung zu-
kommt.
Mit der in diesem Verhältnis abermals zutage tretenden all-
gemeineren Stellung der Intensitätsmerkmale hängt die weitere Tat-
sache zusammen, daß, wie die Qualitäts-, so auch die Vorstellungs-
symptome im wesentlichen auf bestimmte Muskelgebiete be-
schränkt sind. Wie für jene das Gebiet der mimischen, so tritt näm-
lich für diese vorzugsweise das der pantomimischen Muskeln in
der engeren Bedeutung des Wortes ein. Dieser engere Begriff umfaßt
das Bewegungssystem der Arme und Hände. Nur aushilfsweise
können dazu auch noch andere Körperteile, wie der Kopf, der Rumpf,
die Gehwerkzeuge, treten.
2. Hauptformen pantomimischer Bewegungen.
Wie die mimischen, so haben die pantomimischen Bewegungen
frühe schon ein wissenschaftliches Interesse erregt, das freilich mehr
von praktisch-ästhetischen als von psychologischen Gesichtspunkten
geleitet war; daher es denn auch weniger in dem Versuch einer ge-
netischen Erklärung als in der sorgfältigen Beschreibung einzelner
Pantomimen bestand, die man auf Grund irgendeiner durch die Be-
obachtung nahegelegten Einteilung unternahm. Dabei wurde jedoch
schon diese Einteilung durch die im Vordergrund stehenden prak-
tischen Interessen beeinträchtigt. Denn da man bei der Beurteilung
134 Die Ausdrucksbewegungen.
der Bewegungen des Schauspielers und des Redners auf eine mög-
lichst adäquate Darstellung wirklich erlebter Affekte den Haupt-
wert legte, so ergab sich zunächst, daß mimische und pantomimische
Bewegungen überhaupt nicht gesondert wurden. Sodann erschien
es als das Natürlichste, daß man vor allem die von dem Gefühl ge-
tragenen eigentlichen Affektäußerungen und diejenigen Bewegungen,
die Gedanken andeuten, unterschied. In diesem Sinne stellt bereits
Cicero der ,,significatio", unter der er den Ausdruck der ,,affectiones
animi" versteht, und auf die er den rednerischen Vortrag beschränken
möchte, die ,, demonstratio" gegenüber, durch die das Wort verdeut-
licht oder ersetzt werde, und die er, weil sie vom Schauspieler ver-
wendet wird, auch den ,,genius scenicus" nennt ^). Ähnlich unter-
scheidet noch J. J. Engel ,, ausdrückende" und ,, malende Gebärden",
wobei er den letzteren auch die hinweisenden zuzählt^). Meist ging
man jedoch nicht einmal so weit, sondern verzichtete nach dem Vor-
bilde, das schon der gründlichste Erörterer der Lehre vom ,,gestus"
im Altertum, Quintilian, gegeben, überhaupt auf eine Subumstion
der Erscheinungen unter bestimmte Allgemeinbegriffe, um statt
dessen einzelne Beispiele in loser Aufeinanderfolge zu schildern^).
Gegenüber dieser im einzelnen verdienstlichen, an allgemeinen
Gesichtspunkten aber ergebnislosen praktisch-ästhetischen Betrach-
tungsweise, war es eine für die psychologische Behandlung förder-
liche Wendung, daß in neuerer Zeit mehr und mehr ein anderes Inter-
esse die Beschäftigung mit den Gebärden in den Vordergrund rückte.
Es waren die praktischen Fragen der Taubstummenbildung,
die notwendig auch auf die natürliche Gebärdensprache dieser Un-
glücklichen die Aufmerksamkeit lenkten. Hier wurde nun von selbst
eine Unterscheidung nahegelegt, die bei den ästhetischen Erörterungen
immer wieder verwischt worden war: die Unterscheidung derjenigen
Gebärden, die dem reinen Ausdruck von Vorstellungen dienen, von
den Gefühlsäußerungen der Affekte. Waren einmal so die Gebärden
der ,, Gedankenmitteilung" als eine selbständige Klasse gewonnen.
^) Cicero, De oratore, Lib. III, cap. 9.
2) J. J. Engel, Ideen zu einer Mimik, I, 1785, S. 59 ff.
3) Quintilianus, Institutiones oratoriae, XI, 3, 65 — 136.
Hauptformen pantomimischer Bewegungen. 135
SO mußte sich unter dem hier betonten Gesichtspunkt der Analogie
mit der Lautsprache auch die Forderung einer gewissen ,, Etymo-
logie" der als Vorstellungszeichen verwendeten Gebärden, also einer
Untersuchung ihres Ursprungs und ihrer näheren Beziehungen er-
heben. "Wie sehr man dabei meist noch geneigt blieb, einfach die der
Lautsprache entnommenen Kategorien auf die Gebärden zu über-
tragen, dafür bildet freilich die noch heute vollständigste Sammlung
von Zeichen dieser Art einen Beleg. Sie unterscheidet die Gebärden
lediglich in Symbole für Hauptwörter, Eigenschaftswörter und Zeit-
wörter, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, daß diese grammatischen
Kategorien in der Form, in der sie die Lautsprache besitzt, für die
Gebärde überhaupt nicht existieren^). Den ersten, auf die Natur
der Gebärden selbst gegründeten und mindestens die Hauptgruppen
mit sicherem Takt herausgreifenden Versuch einer Einteilung hat
wohl E. B. Tylor gemacht, indem er ,, Bilder in der Luft" und das
wirkliche Hinweisen auf die Gegenstände als die zwei Hauptklassen
pantomimischer Bewegungen unterschied 2). Wenn wir uns statt
der ,, Bilder in der Luft" des etwas allgemeineren Ausdrucks ,, Nach-
ahmung" bedienen, so dürften in den beiden Klassen der hinweisen-
den und der nachahmenden Bewegungen in der Tat die Grund-
formen der Vorstellungsäußerungen zutreffend bezeichnet sein. Für
die allgemeine Bedeutung dieser beiden Gebärdeformen ist aber maß-
gebend, daß sie keineswegs bloß in solchen Fällen vorkommen, wo
durch sie ein Ersatz der Lautsprache erstrebt wird, sondern daß sie,
gerade so gut wie die mimischen Bewegungen, allgemeine Bestand-
teile der Ausdrucksbewegungen sind.
^) Dieses im übrigen wertvolle Verzeichnis findet sich in dem Werke von
Ed. Schmalz, Über die Taubstummen und ihre Bildung, ^ 1838, ^ 1842.
S. 314-339.
2) E. B. Tylor, Forschungen über die Urgeschichte der Menschheit. A. d.
Engl. Kap. II, S. 20. ,,Descriptive or imitative signs** unterscheidet auch W. R.
Scott (The Deaf and Dumb, 1870, ^ p. 124). Er stellt ihnen aber unzweckmäßiger-
weise als zweite Klasse ,, natural signs" gegenüber, unter denen alle möglichen
andern, insbesondere auch die mimischen Ausdrucksbewegungen, zusammen-,
gefaßt werden.
2^36 ^^^ Ausdrucksbewegungen.
3. Theorie der pantomimischen Bewegungen.
Für die richtige Würdigung der Bedeutung der pantomimischen
Ausdrucksformen ist, wie für die mimischen Bewegungen, das schon
oben im allgemeinen berührte Verhältnis zu den Intensitätsäuße-
rungen der Affekte in erster Linie maßgebend. Indem unter allen
diesen Symptomen die Intensitätsäußerungen die verbreitetsten sind,
geben sich dadurch die beiden andern von vornherein als deren be-
sondere Entwicklungsformen zu erkennen, die in den spezifischen
Eigenschaften der mimischen und der pantomimischen Muskeln be-
gründet sind — Eigenschaften, die sich infolge der Lage und allgemeinen
Funktion der Organe ausgebildet haben. Diese Auffassung, wonach
Qualitäts- wie Vorstellungsäußerungen gewissermaßen nach ver-
schiedenen Richtungen hin entwickelte Intensitätssymptome dar-
stellen, bestätigt sich auch darin, daß sich ganz besonders in den mi-
mischen und pantomimischen Bewegungen, abgesehen von ihrer
spezifischen Bedeutung, jedesmal zugleich die Stärke des Affekts
spiegelt. Heftigere Mimik und rasche pantomimische Gestikulationen
verraten meist zu allererst erregende Affekte; und nicht minder gibt
sich der deprimierende Charakter anderer im Nachlaß der tonischen
Spannungen der nämlichen Muskelgebiete zu erkennen.
Ist es auf diese Weise eine Art Auslese, die den Vorstellungs-
äußerungen wie den Gefühlssymptomen ihr besonderes Substrat
in bestimmten Muskelgruppen angewiesen hat, so ist aber von vorn-
herein zu erwarten, daß, analog wie die mimischen Bewegungen in
ihrer Beziehung zu der Funktion der spezifischen Sinnesorgane und
in der hervorragenden Sensibilität der Hautbedeckung des Angesichts
(S. 127 f.) die Bedingungen dieser Auslese erkennen lassen, so nicht
minder bei den pantomimischen Bewegungen ganz bestimmte Gründe
der Bevorzugung obgewaltet haben. In der Tat springt ja die Be-
ziehung dieser Bewegungen zu den Gegenständen der uns um-
gebenden Außenwelt unmittelbar in die Augen. Die Arme und
Hände sind von der frühesten Entwicklung des Menschen an als die
Organe tätig, mit denen er die Gegenstände ergreift und bewältigt.
Aus dieser offenbar ursprünglicheren Verwendung als Greiforgane,
in welcher der Mensch den analogen Tätigkeiten der ihm nahestehen-
Theorie der pantomimischen Bewegungen. 137
den Tiere nur dem Grade, nicht dem Wesen nach überlegen ist, führt
eine jener stufenweisen Veränderungen, die zunächst eigentlich re-
gressiver Art sind, in ihren Wirkungen jedoch wichtige Bestandteile
-einer fortschreitenden Entwicklung bilden, zur ersten, primitivsten
Porm pantomimischer Bewegungen: zur hinweisenden Gebärde.
Sie ist genetisch betrachtet nichts anderes als die bis zur Andeutung
a,bgeschwächte Greifbewegung. In allen möglichen Übergängen
von der ursprünglichen zur späteren Form begegnet sie uns noch
fortwährend beim Kinde. Dieses greift auch nach solchen Gegen-
ständen, die es nicht erreichen kann. Damit geht aber die Greif -
bewegung unmittelbar in die Deutebewegung über. Nach oft wieder-
holten vergeblichen Versuchen, die Gegenstände zu ergreifen, ver-
selbständigt sich erst die Deutebewegung als solche. Das Kind weist
auf einen Gegenstand hin, den es zu besitzen wünscht, und dann bald
^uch auf einen solchen, der seine Neugierde erregt, oder auf den es
-die Aufmerksamkeit seiner Umgebung lenken möchte. Hiermit ist
•der Weg von der Greif- zur Deutebewegung vollständig zurückgelegt,
und diese gewinnt nun neben jener in dem Maß eine selbständige
Bedeutung, als die anfänglichen Bewegungstriebe vor ihrem Über-
gang in äußere Willenshandlungen gehemmt und zu bloßen Affekten
ermäßigt werden. Daneben wird aber als positives Moment das Streben
^rksam, die eigenen Gemütszustände nach außen kundzugeben.
Beide Bedingungen gehören mindestens in diesem Grade der Aus-
bildung nur der menschlichen Entwicklung an. Darum ist kein Tier,
nicht einmal der in der Organisation der Arme und Hände dem Menschen
so nahestehende Affe, zu der Entwicklung hinweisender Gebärden
aus Greifbewegungen vorgeschritten. Höchstens sind hier jene Über-
gangsformen zu finden, bei denen eine bestimmte Bewegung erst
durch die Unmöglichkeit, den Gegenstand zu erreichen, die Bedeu-
tung einer Gebärde empfängt.
Zu dieser ersten tritt viel später die zweite Form von Vorstel-
lungsäußerungen, die der nachahmenden Gebärden. Auch sie
haben ihre Vorstufe in Erscheinungen, die im Tierreich weitverbreitet
sind, und als deren höhere Entwicklungsformen sie betrachtet werden
können. Imitative Bewegungen finden sich als Wirkungen des
Zusammenlebens bei höheren wie niederen Tieren. Sie bestehen aber
j^38 I^i® Ausdrucksbewegungen.
hier ausschließlicli darin, daß die Handlungen gleicher oder
ähnlicherlebenderWesen nachgeahmt werden . Solche Bewegungen
spielen bei den Instinktäußerungen aller gesellig lebenden Tiere offen-
bar eine wichtige Rolle. Wenn die Ameisen und Bienen bei der An-
legung ihrer Bauten, der Herbeischaffung der Nahrung usw. unver-
kennbar in Übereinstimmung handeln, so beruht dies sicherlich nicht
auf absichtlicher Verständigung; und noch weniger kann es ein rein
mechanischer Ablauf von Nervenerregungen sein, der in jedem In-
dividuum durch äußere Reize ausgelöst wird. Mögen daher auch ver~
erbte Anlagen der Organisation mithelfende Bedingungen sein, in
alle jene scheinbar nach gemeinsamem Plan ausgeführten Instinkt-
handlungen greifen Nachahmungsbewegungen bestimmend ein. Sie
machen es verständlich, wie, sobald nur einmal gewisse übereinstim-^
mende Triebrichtungen gegeben sind, ein Zusammenwirken der In-^
dividuen möglich wird, das zweckmäßige Enderfolge herbeiführt,,
die keineswegs von den einzelnen selbst als zu erreichende Zwecke
vorgestellt worden sind^). Dies führt aber zu dem Schluß, daß bei
solchen Kollektiverscheinungen die Wirkung der Nachahmung auf
ähnlichen Bedingungen beruht wie die Erregung mimischer oder
pantomimischer Mitbewegungen beim Menschen. Ein mimischer
Ausdruck, z. B. der des Lachens oder Weinens, bringt bei dem, der
ihn sieht, infolge der festen Assoziation von Ausdrucksbewegung und
Affekt, eine ähnliche Gemütsbewegung und diese wiederum den näm-
liehen mimischen Ausdruck hervor. Beim erwachsenen Kulturmenschen
hat sich diese Wirkung, infolge der hemmenden Einflüsse des Willens«
auf die Äußerung der Affekte, zu einer schwachen inneren Affekt-
erregung ermäßigt. Beim Kinde dagegen pflegt sich noch ungehemmt
das erweckte Mitgefühl in Ausdrucksbewegungen zu entladen, die
nach dem gleichen Assoziationsgesetz wieder verstärkend auf die
Gemütsstimmung zurückwirken. Von einem ,, Nachahmungstrieb"
als einer sozusagen unzerlegbaren psychischen Kraft zu sprechen,
haben wir daher nirgends Anlaß. Vielmehr werden wir annehmen
dürfen, daß auch bei den Tieren die wahrgenommene Triebbewegung
^) Über die Frage der Entwicklung der Instinkte überhaupt verweise ich
hier auf die Erörterung in meinen Vorlesungen über die Menschen- und Tier-
seele, « 1919, S. 497 ff.
Theorie der pantomimischen Bewegungen. 139
zunächst den nämliclien Affekt und Trieb erzeugt, der sich durch
die Bewegung Befriedigung schafft. Während aber bei den niederen
Tieren vorzugsweise die zu irgendwelcher Arbeitsleistung geeigneten
Körperbewegungen der Sitz von Affekt- und Triebäußerungen sind,
treten schon bei dem menschenähnlichen Affen mid dann ebenso
beim Menschen die mimischen Bewegungen besonders hervor. Der
Grund liegt hier offenbar in der nur dem Menschen und den ihm ähn-
lichsten Wesen eigenen Ausbildung der mimischen Bewegungen. Auch
bei dem Affen bleibt jedoch die mimische oder pantomimische Nach-
ahmungsbewegung eine Affektäußerung, die sich durchaus auf die
Nachahmung der gleichen Ausdrucksbewegungen anderer ähnlicher
Wesen beschränkt, z. B. eines andern Affen oder des Menschen, sel-
tener schon solcher Tiere, die in ihrer Leibesgestalt mehr abweichen.
Darum erscheinen diese Nachahmungen in der Kegel als ein absolut
zweckloses Tun, ähnlich etwa dem sinnlosen Nachsprechen idiotischer
Kinder. Auch ihre Quelle liegt sichtlich in der Miterregung von Affek-
ten, deren Symptome die nachgeahmten Handlungen selbst sind.
Der Übergang solcher rein sympathischer Bewegungen, bei denen
die Handlungen gleichartiger Wesen die notwendigen Objekte der
imitativen Affektäußerungen bleiben, auf beliebige in den Affekt-
verlauf eingehende Vorstellungen ist nun eben deshalb, weil
er eine spezifisch menschliche Erwerbung ist, jedenfalls ein spätes
Produkt der Entwicklung. Darum ist es nicht wahrscheinlich, daß
er vor der Sprache hervorgetreten sei. In der Tat wird dieser Über-
gang am ehesten begreiflich, wenn wir annehmen, daß er unter der
Mitwirkung des Strebens nach Verständigung zustande kam. Dieser
zu dem ursprünglichen Affekt hinzukommende Trieb konnte erst
der nachahmenden Bewegung jene Kichtung auf beliebige Objekte
der Außenwelt geben, wodurch diese nun ebensolche affekterregende
Vorstellungsinhalte wurden, wie es zuvor nur die wahrgenommenen
Ausdrucksbewegungen gewesen waren. Vor allem dann lag dieser
Übergang nahe, wenn der nachzubildende Gegenstand kein ruhendes
Objekt, sondern wiederum eine Handlung war und so de Aus-
gangspunkt der primären imitativen Bewegungen nahelag. Vollends
nahe gerückt wurden sich beide Formen, wenn die durch die Aus-
drucksbewegung mitgeteilte Vorstellung eine frühere oder bevor-
240 I^i® Ausdrucksbewegungen.
stehende Handlung des Redenden selbst oder des Angeredeten be-
zeichnete. Denn hier ging ja nur das eine Assoziationsglied der imi-
tativen Mitbewegung von der unmittelbar gesehenen Handlung auf
ihr Erinnerungsbild über. In der Tat kommen noch heute nachahmende
Bewegungen als einfache Affektäußerungen hauptsächlich da vor,
wo sie die Vorstellung einer Handlung andeuten; und sie begleiten
hier am häufigsten entweder die affektstarke Erzählung geschehener
Ereignisse oder die affektbetonte Aufforderung zur Ausführung ge-
wisser Handlungen, die Ermahnung, den Befehl, die Bitte. Bewegungen,
die als Nachahmungen ruhender Gegenstände erschienen, sind inner-
halb der gewöhnlichen Affektäußerungen sehr selten. Sie gewinnen
erst ihre Bedeutung unter der Wirkung der Motive, die aus den Aus-
drucksbewegungen die eigentliche Gebärdensprache hervorgehen
lassen^).
4. Verbindungen und Übergänge zwischen verschiedenen
Ausdrucksformen.
Sind die hinweisenden und die nachahmenden Gebärden zwei
Formen der Vorstellungsäußerung, die, verschiedenen Quellen ent-
sprungen, auch in ihrer Erscheinungsweise wesentlich abweichen,
so bietet nun gleichwohl die Beobachtung eine Menge einzelner, auf
Vorstellungen zu beziehender Affektsymptome, die zwischen diesen
Formen in der Mitte stehen oder beiden gleichzeitig zuzurechnen sind.
Diese Komplikation wird noch dadurch erhöht, daß sich der mimische
Ausdruck von Gefühlen nicht nur mit den pantomimischen Bewegungen
verbindet, sondern auch in dieser Verbindung eine Bedeutung ge-
winnen kann, durch die er gleichzeitig oder sogar vorzugsweise zur
Vorstellungsäußerung wird. So läßt sich schon bei der einfachen Ge-
bärde des Winkens mit der Hand, mit der wir je nach ihrer Richtung
jemandem zu verstehen geben, er möge näher kommen oder sich ent-
fernen, wohl fragen, ob sie als hinweisende oder als nachahmende
zu deuten sei. Wenn der Zornige gegen die wirkliche oder die bloß
vorgestellte Person, die seinen Affekt erregt, die Fäuste ballt, mit
^) Vgl. das folgende Kapitel, V, 1.
Verbindungen u. Übergänge zwischen verschiedenen Ausdrucksformen. 141
den Zähnen knirscht und mit dem ganzen Körper energische Angriffs-
bewegungen ausführt, so wird man diesen ganzen Symptomenkomplex,
insoweit er neben Gefühls- zugleich Vorstellungsäußerungen enthält,
als eine Verbindung betrachten müssen, die in jeder Bewegung beide
Gebärdeformen vereinigt. So ist das Ballen der Faust zunächst eine
hinweisende Gebärde, denn es erhält erst durch die Richtung auf den
Gegenstand seine Bedeutung. Zugleich ist es aber eine höchst aus-
drucksvolle nachahmende Gebärde, nämlich die abgeschwächte Form
des aus dem gleichen Affekt entspringenden tätlichen Angriffs auf
einen Feind. Dazu kommt ein weiteres Moment, das die Grenzen
noch mehr verwischt, weil es einer und derselben Ausdrucksform in
verschiedenen Fällen wechselnde Bedeutungen zuweist. Es besteht
in der zunehmenden psychischen Umwandlung der ursprüng-
lich triebartigen Ausdrucksbewegungen in willkürliche. Infolgedessen
können diese bald noch in ihrer triebartigen Form als ungesuchte
Symptome wirklicher Affekte auftreten, bald infolge von Hemmungen>,
die von widerstreitenden Motiven ausgehen, bloß rudimentäre Affekt-
äußerungen sein, bald endlich infolge anderer Konstellationen der
Motive als willkürliche Nachbildungen natürlicher Äußerungen er-
scheinen. In diesem letzteren Fall verwandeln sich von selbst alle
Ausdrucksbewegungen in nachahmende Gebärden. Auch die mi-
mischen Bewegungen sind dann nicht mehr bloße Gefühlssymptome,
sondern sie bilden Bestandteile des ganzen Symptomenbildes, das
z. B. an die Vorstellung eines Erzürnten erinnern soll, indem es die
Mienen und Gebärden desselben nachahmt. Hierin liegt schon aus-
gesprochen, daß sich gerade in diesem, für die Psychologie der Sprache
wichtigsten Fall die sämtlichen sonstigen Affektäußerungen den Vor-
stellungssymptomen unterordnen. Dies entspringt aber wieder aus
der mit solcher Mitteilung immer verbundenen Ermäßigung der
Affekte und der entsprechenden Verstärkung der Vorstellungsbestand-
teile der psychischen Inhalte. Gleichwohl darf diese Tatsache nicht
zu dem oft begangenen Irrtum verführen, als wenn die Mitteilung
von Vorstellungen allgemein auf einem affektlosen Verhalten der
Seele beruhe oder auch nur in der Regel mit einem solchen verbunden
sei. Da vielmehr die Entstehung von Ausdrucksbewegungen über-
haupt gar nicht anders denkbar ist als auf Grund bestimmter Affekte
142 Die Ausdrucksbewegungen.
SO kann es sich überall nur um ein Zurücktreten der GefüMsinhalte
derselben hinter ihre Vorstellungselemente, und insofern also um eine
Ermäßigung der Affekte selbst handeln. Doch den allgemeinen Cha-
rakter des Affekts behält der die Mitteilung begleitende Seelenzustand
immer, imd auch die ursprüngliche Intensität und Gefühlsstärke ge-
winnt er um so mehr zurück, je lebhafter die Ausdrucksbewegungen
werden. Denn die begleitenden sinnlichen Empfindungen und die
intensiver werdenden Gefühle nähern nun die nachahmenden Ge-
bärden selbst mehr und mehr einem wirklichen Nacherleben der Hand-
lungen, die sie andeuten.
Zweites Kapitel.
Die Gebärdensprache.
I. Die Entwicklungsformen der Gebärdensprache.
1. Begriff und allgemeine Eigenschaften der Gebärdensprache.
•Man pflegt die Gebärdenspraclie als eine ,, Äußerung der Gedanken
durch, sichtbare, aber nicht hörbare Bewegungen" zu definieren und
demnach der Gebärdenäußerung ihre Stellung mitteninne zwischen
Schrift und Sprache anzuweisen. Gleich der ersteren stelle sie die
Begriffe in sichtbaren Zeichen dar, während doch diese Zeichen, ähn-
lich den Sprachlauten, rasch vorübergehende Vorgänge seien. Sie
erscheint so als eine Bilder- oder Zeichenschrift, die ihre Symbole
mittels der flüchtigen Gebärde in die Luft zeichnet, statt auf ein so-
lides, sie dauernd festhaltendes MateriaP).
Da nun die Schrift der Sprache gegenüber ein verhältnismäßig
spätes und in höherem Grade die erfinderische Tätigkeit heraus-
forderndes Erzeugnis ist, so wird dadurch zugleich die weitverbreitete
Meinung verständlich, die Gebärdensprache sei, wie in den meisten
Fällen ihrem Erfolge nach ein Ersatzmittel für die Lautsprache, so
auch nach ihren ursprünglichen Motiven aus der Absicht entsprungen,
einen solchen Ersatz zu schaffen. Sie wird daher von diesem Stand-
punkte aus ganz oder mindestens in höherem Maß als die Lautsprache
für ein Produkt planmäßiger Erfindung gehalten.
Diese Auffassimg wird jedoch von einer andern durchkreuzt,
die von einem nicht minder bezeichnenden Unterschiede der Ge-
bärden- und Lautsprache ausgeht. Die Lautsprache tritt uns in einer
^) Tylor, Urgeschichte der Menschheit. A. d. Engl, von H. Müller.
S. 105 ff.
144 I^iß Gebärdensprache.
unabsehbaren Fülle einzelner Gestaltungen entgegen, deren nähere
oder entferntere Beziehungen sich durchweg erst den Hilfsmitteln
der sprachwissenschaftlichen Analyse erschließen, so daß für die prak-
tischen Zwecke der Mitteilung jede Sprache wie ein konventionelles
System von Zeichen erscheint, dessen Gebrauch besonders erlernt
und eingeübt sein muß. Das ist wesentlich anders bei der Gebärden-
sprache, die schon Quintilian ,,omnium hominum communis sermo"
genannt hat^). Sie ist, wenn auch nicht in allen, so doch in ihren wich-
tigsten und verbreitetsten Formen eine Art Universalsprache, die
unter den verschiedensten Entstehungsbedingungen zahlreiche Be-
standteile gemein hat, so daß zwischen ihren verschiedenen, allen-
falls den ,, Dialekten" einer Lautsprache vergleichbaren Entwick-
lungsformen oft ohne besondere Schwierigkeit eine Verständigung
möglich ist. Dieser universelle Charakter ist aber sichtlich durch die
unmittelbar in der Anschauung gegebene Beziehung bedingt, in der
die Gebärde und ihre Bedeutung zueinander stehen. Durch diese
Beziehung gewinnt die Gebärdensprache eine Ursprünglichkeit und
Natürlichkeit, wie solche die Lautsprache weder heute besitzt noch
in irgendwelchen früheren sprachgeschichtlich zu erschließenden
Formen jemals besessen hat. Nimmt man hinzu, daß schon gewisse
Ausdrucksbewegungen der Tiere eine den Gebärden des Menschen
ähnliche und darum für uns leicht verständliche Bedeutung haben,
so kann man dadurch wohl zu der von manchen Anthropologen aus-
gesprochenen Vermutung geführt werden, die Gebärdensprache sei
die eigentliche Ursprache, und sie sei, als das natürlichere Hilfsmittel
der Mitteilung, der Lautsprache vorausgegangen.
Die Antinomie, die in diesen verschiedenen Auffassungen zutage
tritt, macht es bereits wahrscheinlich, daß die Gebärdensprache
durchaus kein so einheitliches, nach ihrem Ursprünge zusammen-
gehöriges Ganzes ist, wie man dies bei ihrer zuletzt erwähnten Cha-
rakterisierung als einer Ur- und Universalsprache anzunehmen pflegt.
In der Tat kann sie nach den mannigfachen Bedingungen ihrer Ent-
stehung Abweichungen darbieten, die uns von vornherein nötigen,
mehrere Entwicklungsformen zu unterscheiden.
^) Quintilian, Instit. orator. XT, 3, 87.
Gebärdensprache der Taubstummen. 145
2. Gebärdensprache der Taubstummen.
Unter allen Formen der Gebärdenspraclie hat in neuerer Zeit
diejenige der Taubstummen wobl am meisten die Aufmerksamkeit
auf sich gelenkt. Das praktische Interesse des Taubstummenunter-
richts ist hier der Beschäftigung mit dem Gegenstand besonders förder-
lich gewesen. Freilich hat aber auch dieses Interesse durch die mannig-
fachen einander zum Teil widerstreitenden pädagogischen Anschau-
ungen und Maßregeln, die aus ihm hervorgegangen sind, auf die Art
und den Umfang der Gebärdenmitteilung selbst nicht wenig hinüber-
gewirkt. Unter den sonstigen Bedingungen steht natürlich der Ein-
fluß der Umgebung obenan. Neben ihm kommt dann noch der Grad
des Gehörmangels und die Zeit seines Eintritts in Betracht. Denn
der Gehörmangel des Taubstummen fällt zwar stets unter die hoch-
gradigen Sinnesdefekte, da geringere Gehörsschwäche nicht den Ver-
lust der Sprache zur Folge hat. Aber darum ist jener doch keines-
wegs in allen Fällen ein absoluter, und je nachdem Reste des Gehörs
oder auch nur Erinnerungen an einstige Schallempfindungen vor-
handen sind oder fehlen, gstalten sich die Bedingungen für die Ge-
bärdenmitteilung verschieden. Nicht minder ist die Frage, ob der
Taubstumme im Hause, in der ausschließlichen Umgebung Hören-
der, oder ob er in Anstalten mit seinesgleichen aufwächst, und end-
lich, unter welchem Unterrichtssystem er erzogen wird, von Be-
deutung.
Am ungünstigsten für die spontane Entwicklung der Gebärden-
sprache ist begreiflicherweise das Leben des einzelnen Taubstummen
in einer hörenden Umgebung. Wie das hörende, so empfängt auch
das gehörlose Kind die erste Anregung zur Mitteilung seiner Wünsche
und Vorstellungen vom Erwachsenen. Die Unmöglichkeit, sich ihm
durch Laute verständlich zu machen, läßt dann von selbst zu ein-
fachsten, zunächst fast ausschließlich hinweisenden Gebärden greifen.
Sobald sich aber die Intelligenz des Kindes zureichend entwickelt
hat, pflegt allmählich die Umgebung das gesprochene Wort durch
das geschriebene zu ergänzen, und da die wirkliche Schrift nicht über-
all zur Hand ist, so wird sie dann durch die Nachbildung der Schrift-
zeichen mit den Fingern ersetzt. So kann gewissermaßen auf natür-
Wundt, Völkejrpsychologie. I. 4. Aufl. 1"
]^46 I^i® Gebärdensprache.
lichem Weg eine völlig künstliche, erst auf Grundlage der Schrift
mögliche Gebärdensprache entstehen.
Diese Verhältnisse machen es verständlich, daß der erste Ver-
such einer systematischen Ausbildung der Gebärdensprache für die
Zwecke des Taubstummenunterrichts das Fingeralphabet war. In
Spanien, der Heimat dieses Unterrichtszweigs, erfunden, ist es in
verschiedenen Formen, bald als einhändiges, bald als zweihändiges
Zeichensystem, durch alle zivilisierten Länder gewandert, und es
hat sich später namentlich in der Gunst solcher Taubstummenlehrer
erhalten, die in der natürlichen Gebärde ein Hindernis für die Er-
reichung des höchsten Zieles der Taubstummenbildung, der Erwerbung
der artikulierten Lautsprache, erblickten.
Den vollen Gegensatz zu dieser ganz und gar künstlichen Finger-
schrift bildet nun jene Gebärdensprache, die sich von selbst ausbildet,
wenn entweder von früh an mehrere Taubstumme zusammenleben,
oder wenn, was bis zu einem gewissen Grade diese zwingendste Be-
dingung ersetzen kann, die hörende Umgebung sich selbst den Be-
dürfnissen des Stummen anzupassen und in seine Vorstellungs- und
Gefühlsweise einzuleben sucht. Mit Recht kann man das so sich bil-
dende Zeichensystem eine natürliche Gebärdensprache nennen,
weil es an sich gar keine schon existierenden Hilfsmittel der Mit-
teilung, weder die Lautsprache noch die Schrift, fordert und darum
auch nicht notwendig einer fortlaufenden längeren Tradition bedarf,
sondern nötigenfalls in einem Kreise von Taubstummen oder von
Taubstummen und Hörenden völlig selbständig entstehen kann.
Freilich kommt das nur selten wirklich vor, da irgendeine Art Über-
lieferung nicht leicht fehlt und namentlich in den Fällen, wo Taub-
stumme dauernd zusammenbleiben, also in den Taubstummenanstalten,
eine so überwiegende Rolle spielt, daß das in einer solchen Anstalt
herrschende System von Gebärdezeichen beinahe ebensosehr als
ein durch Überlieferung angeeignetes und konventionelles angesehen
werden kann, wie ein beliebiger lokaler Dialekt einer Lautsprache.
Immerhin tritt auch dann der natürliche Charakter eines solchen
Systems in ^wei Erscheinungen hervor, die . der Lautsprache fehlen
oder höchstens in entfernten Andeutungen in ihr vorkommen. Die
eine besteht darin, daß innerhalb eines räumlich beschränkten Gebiets
Gebärdensprache der Taubstummen. 147
Neubildungen außerordentlich häufig auftreten: sie sind durch die
Natur der Gebärdenmitteilung nahegelegt und verbinden sich daher
fortwährend und oft ohne deutliches Bewußtsein der Neubildung mit
dem Gebrauch der überkommenen Symbole. Die zweite, noch augen-
fälligere Erscheinung ist die, daß räumlich weit voneinander ent-
fernte und zweifellos ganz unabhängig entstandene Zeichensysteme
in einem großen Teil ihrer Bestandteile einander gleichen oder doch
nahe verwandt sind, eine Verständigung also zwischen denen, die
sich solcher Gebärdeformen bedienen, meist ohne Schwierigkeit mög-
lich ist. Hierin besteht eben die oft gerühmte Universalität der Ge-
bärdensprache. Übrigens versteht es sich von selbst, daß diese Univer-
salität nur für Vorstellungen gilt, die hinreichend allgemeingültiger
Art sind. Demnach bilden das Ich und Du, das Dieser und Jener, das
Hier und Dort, oder die Erde, der Himmel, die Wolken, die Sonne,
das Haus, der Baum, die Blume, ferner das Gehen, Stehen, Liegen,
Schlagen und viele andere Gegenstände und Tätigkeiten, die im wesent-
lichen überall nach den nämlichen bevorzugten Merkmalen apper-
zipiert werden, die Substrate eines mit wenigen Variationen überein-
stimmend wiederkehrenden Vorrats von Gebärdezeichen. Die ein-
zelnen Personen, die in der bestimmten Gemeinschaft leben, die be-
sonderen, an den Wohnort und an die speziellen Zeitbedingungen
gebundenen Gegenstände, Gewohnheiten und Erinnerungen aber,
sie variieren natürlich auch in den Zeichen, die für sie gebraucht wer-
den, von Ort zu Ort und in vielen ihrer Bestandteile sogar von einer
Generation zur andern, ja von Jahr zu Jahr mit den wechselnden
Erlebnissen. In dieser Beziehung gibt die Gebärdensprache sogar
ein lebendigeres Bild von dem fortwährenden Fluß der Lebensinhalte
einer jeden beschränkteren wie weiteren Gemeinschaft, als es die
Lautsprache zu tun vermag, weil diese in viel höherem Maße an einen
festen Bestand von Symbolen gebunden ist und daher zumeist auch
das Neue enger an das Bekannte anschließt. Da auf diese Weise inner-
halb der Gebärdensprache fortan weit radikalere Neubildungen vor-
kommen als in der ungleich stabileren Lautsprache, so fordert jene
aber auch in höherem Grade zu willkürlichen Neubildungen heraus,
und diese, wenn sie nur irgendwie den auszudrückenden Begriffen
adäquat sind, gehen dann ohne Schwierigkeit in den allgemeinen Be-
10*
248 I^® Gebärdensprache.
sitz über. Von der Scheu, die auf dem Gebiet der Lautsprache den
überkommenen Wortschatz im ganzen getreu bewahrt und neue
Eindringlinge nur selten zuläßt, ist in der Gebärdensprache nicht die
Rede. Sie bemächtigt sich begierig neuer Bildungen, um damit ihrer
stets empfundenen Armut abzuhelfen. Mehr noch als den Taub-
stummen selbst macht sich dieses Bedürfnis oft ihrer hörenden Um-
gebung fühlbar, die immer mit der Schwierigkeit kämpfen muß, das
in der Lautsprache Gedachte durch Gebärden auszudrücken. So-
bald dieser Einfluß der Umgebung überwiegend wird, so streben in
die Gebärdensprache auch solche Elemente überzugehen, die eigent-
lich nur in der Lautsprache möglich, also, wenn sie in Gebärden um-
gesetzt werden, künstlich erfundene Symbole sind. Immerhin können
diese im Sinne der Gebärdensprache erfunden werden, und dies ge-
schieht um so mehr, wenn schon der ganze Bewußtseinszustand auf
das Denken in Gebärden angelegt ist. Hierdurch unterscheiden sich
immerhin auch diese künstlichen Bestandteile der Gebärdensprache
sehr wesentlich von der Fingerschrift.
Die Frage, ob und in welchem Umfang eine solche Bereicherung
der natürlichen Gebärden durch willkürliche, aber soviel als mög-
lich in ihrem Geist erfundene Zeichen zulässig sei, hat von der Mitte
des 18. Jahrhunderts an bis auf unsere Tage herab in dem Streite
zwischen der französischen und der deutschen Methode des Taub-
stummenunterrichts eine wichtige Rolle gespielt. Dieser Streit selbst
hat aber eine psychologische und eine ethische Seite. Die französische
Schule fordert das psychologisch Angemessene, die deutsche das
ethisch Erstrebenswerte. Nun ist die den Fähigkeiten des Taubstummen
angemessene Sprache selbstverständlich die Gebärdensprache. Ver-
möge seiner natürlichen Anlagen würde er nie zu einer andern Art
der Mitteilung gelangen. Die französische Schule, nach den vom
Abbe de l'Epee gemachten Anfängen hauptsächlich von Abbe Sicard
begründet, suchte daher die natürliche Gebärdenmitteilung fort-
zubilden, indem sie im Sinne derselben weitere Zeichen und solche
logische und grammatische Hilfsmittel erfand, durch die ihr die Er-
werbungen der Lautsprache möglichst zugänglich gemacht werden
sollten^). „Nicht wir sind die Erfinder der Zeichen," sagt Sicard,
^) Sicard, Theorie des signes pour l'instruction des sourdsmuets, Paris
Gebärdensprache der Taubstummen. 149
„sondern die Taubstummen selbst, und wir haben nur ihren wahren
Erfindern nachzuschreiben, wenn wir die Theorie dieser Zeichen zu
geben suchen." Ist diese Methode zweifellos diejenige, die das zu er-
reichende Ziel am meisten den psychischen Eigenschaften des Taub-
stummen anpaßt, so ist aber dieses Ziel selbst ein ethisch unbefriedi-
gendes: es verurteilt den Gehörlosen zu einer Sonderexistenz unter
seinesgleichen oder in der Gesellschaft der Vollsinnigen, in der er nur
in kümmerlichster Weise an den Gütern des gemeinsamen Lebens
teilnimmt. Auch ist es, wenn maÄi, wie es die französische Methode
prinzipiell tut, die natürliche Gebärdensprache des Taubstummen
soviel als möglich der Stufe der Lautsprache zu nähern sucht, sehr
schwer, die Grenze einzuhalten, bei der das erfundene Zeichen nicht
dennoch zu einem gekünstelten wird, das den natürlichen Bedingungen
der Gebärdensprache selbst widerspricht. Wenn z. B. in dem System
Sicards die Auf- und Abwärtsbewegung der geschlossenen Hände
auf der Brust bei auswärts gekehrten Daumen das Verbum substan-
tivum sdin, das Vorwärtsstoßen der geballten Fäuste mit aufwärts
gerichteten Daumen das Adverbium noch, die Bewegung der Finger
von den Schläfen nach außen die Konjunktion wann bedeuten soll
usw., so können diese Zeichen schon deshalb keine naturgemäßen
Weiterbildungen der ursprünglichen Gebärdensprache sein, weil in
dieser solche abstrakte Verba und Partikeln nicht existieren und ihrem
ganzen Charakter nach nicht existieren können. Die Interpretation,
die diese künstlichen mit den natürlichen Zeichen verknüpft, läuft
darum, falls sie überhaupt versucht wird, auf irgendeine fernliegende
Assoziation hinaus, die von dem Taubstummen mühselig erlernt wer-
den muß, wenn er sie verstehen soll, und die er samt dem Zeichen,
das durch sie begreiflich gemacht wird, in der Regel vergißt, sobald
er sich von dem Zwang der Schule befreit weiß.
Die deutsche Schule stellt nun im Gegensatz zu der französischen
den ethischen Zweck, die Taubstummen soviel als möglich zu voll-
1808, 2 vols. Über die Geschichte des Taubstummenunterrichts überhaupt vgJ.
Ed. Schmalz, Über die Taubstummen und ihre Bildung, 1838, ^ 1848, S. 120 ff.
A. Hartmann, Taubstummheit und Taubstummenbildung, 1880, S. 125 ff.
W. R. Scott, The Deaf and Dumb, ^ 1870, p. 95 ff.
J50 I^^® Gebärdensprache.
wertigen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen, in den Vordergrund.
Nach dem Vorbild ihres Begründers Samuel Heinicke benützt sie
daher die Gebärden nur als vorübergehende Hilfsmittel, durch die
jenen allmählich die Lautsprache selbst zugänglich werden solP).
Bei dieser Aneignung der artikulierten Lautsprache fallen aber für
den Gehörlosen naturgemäß die beiden Fähigkeiten, die Sprache zu
verstehen und sie zu gebrauchen, ungleich mehr auseinander als für
das hörende Kind, bei dem der Laut alsbald das Streben erweckt,
ihn nachzuahmen, so daß sich hier Sprachlaute und Artikulations-
empfindungen von frühe an fest assoziieren. Für den Gehörlosen
sind, weil ihm gerade diejenige Sinnesempfindung fehlt, die das natür-
liche Mittelglied dieser Assoziationen ist. Verstehen und Gebrauch
der Lautsprache von Anfang an gesonderte Tätigkeiten, die allmäh-
lich erst durch eine völlig neue, künstlich eingeübte Assoziation an-
einander gekettet werden. Verstehen lernt er die Sprache dadurch,
daß er sie vom Munde abliest, also in der Form einer Folge von Ge-
sichtsbildern. Gebrauchen lernt er sie, indem er die Artikulations-
bewegungen des Hörenden und Sprechenden nachbildet. Die fran-
zösische Schule sucht also den Gehörlosen innerhalb der ihm gebliebenen
Sinnessphären zu entwickeln, indem sie dabei jeden Sinn nur in den
ihm auch beim Hörenden zukommenden Funktionen weiterzubilden
bemüht ist. Die deutsche Schule will für den fehlenden Gehörssinn
dadurch Ersatz schaffen, daß sie ihm andere Sinne substituiert. Diese
Selbstvertretung übernimmt dann für das Verstehen der Sprache der
Gesichtssinn, für den Gebrauch der Sprache der Tastsinn mit den
die Artikulationsbewegungen begleitenden inneren und äußeren Tast-
empfindungen. Hierdurch verliert aber jener Vorzug der Natürlich-
keit, den man der einseitigen Pflege der Gebärdensprache zuschreibt,
einigermaßen seine Bedeutung. Die artikuHerte Sprache des Taub-
stummen beruht so gut wie die des Hörenden auf der Einübung be-
stimmter Assoziationen zwischen Empfindungen verschiedener Sinnes-
gebiete 2). Mögen nun auch die Assoziationen zwischen Sprachlauten
^) Samuel Heinicke, Beobachtungen über Stumme und über die mensch-
liche Sprache, Hamburg 1878, S. 54 f f .
^) W. Gude, Die Gesetze der Physiologie und Psychologie über Ent-
stehung der Bewegungen und der Artikulationsunterricht der Taubstum-
Gebärdensprache der Taubstummen. 151
und Artikulationsempfindungen, die bei der Lautsprache wirken,
durch die generelle Entwicklung vorbereitet, also durch angeborene
Anlagen begünstigt und durch die genauere Kontrolle, die der Gehörs-
sinn zuläßt, erleichtert sein, so ist doch die Ausbildung der weit schwie-
rigeren Assoziationen zwischen den Gesichtsbildern der Sprach-
bewegungen und den Artikulationsempfindungen keineswegs eine
unmögliche, und sie ist das Ersatzmittel, auf das die bei mangeln-
dem Gehör von selbst sich einstellende regere Tätigkeit des Gesichts-
sinns gewissermaßen als auf ein natürliches hinweist. Freilich bringt
aber die größere Schwierigkeit der Bildung jener eigenartigen Asso-
ziationen für die Lautsprache des Gehörlosen die Einschränkung^
mit sich, daß das Niveau geistiger Anlagen, das zur Aneignung der
Sprache erfordert wird, hier ein höheres ist als beim vollsinnigen
Menschen, daß also die Aneignung in eine spätere Lebenszeit fallen
muß, und daß sie manchen Individuen ganz versagt bleibt, eine Ein-
schränkung, die natürlich für die Gebärdensprache bei weitem nicht
in ähnlichem Maß besteht. Dieser Umstand ist es denn auch haupt-
sächlich, der heute noch dem französischen System in den Ländern
romanischer Zunge den Vorzug verschafft hat. Insoweit es grund-
sätzlich eine künstliche, von grammatischen Begriffen beherrschte
Weiterbildung der natürlichen Gebärdensprache erstrebt, wird da-
durch allerdings seine psychologische Bedeutung beeinträchtigt.
Auf der andern Seite wird aber darüber geklagt, daß der deutsche Unter-
richt allzusehr darauf ausgehe, den natürlichen Ausdruck der Gebärde
zu unterdrücken, wodurch dann natürlich auch das Material für die
psychologische Beobachtung eingeschränkt wird^). Am meisten
scheint man in England auf die Konservierung der natürlichen
men, 1880, S. 40 ff. Als weiteres assoziatives Hilfsmittel wird in neuerer
Zeit bei dem sogenannten ,, imitativen Sprachunterricht" auch noch die
Assoziation der Schriftzeichen mit den entsprechenden Laut- und Schreib-,
bewegungen verwendet. Demnach handelt es sich hierbei wesentlich nur-
um eine Vermehrung der im Gebiet des Tast- und Gesichtssinns zu Gebote
stehenden Assoziationshilfen. Vgl. G. Forchhammer, Der imitative Sprach-.
Unterricht in der Taubstummenschule usw. Aus dem Dänischen von E..
Göpfert, 1899.
1) Heidsiek, Der Taubstumme und seine Sprache, 1889, S. 127 ff.
152 I^iö Gebärdeasprache.
Gebärdenzeichen Bedacht zu nehmen, ohne allerdings künst-
liche Nachhilfen im Sinne des französischen Systems ganz zu
verschmähen ^)
3. Gebärdensprache bei den Naturvölkern.
Ist infolge der Einflüsse, die Umgebung, Erziehung und Unter-
richtsweise auf den Taubstummen ausüben, dessen Gebärdensprache
durchaus kein einheitliches und nur noch teilweise ein ursprüngliches
Erzeugnis seines Bewußtseins, so verhält sich das einigermaßen ähn-
lich bei der Gebärdensprache der Naturvölker, wie sie namentlich
bei den Stämmen der nordamerikanischen Indianer beobachtet
worden ist^).
Zwei Bedingungen können im allgemeinen der Entstehung einer
solchen Gebärdensprache zugrunde liegen, und es ist anzunehmen,
daß sie meist ineinander eingreifen. Erstens pflegen schon bei den
1) W. R. Scott, The Deaf and Dumb, ^ 1870, p. 108. Vgl. übrigens zu dieser
ganzen Frage den Bericht von H. Gutzmann, Archiv für die ges. Psychol. Bd. 1,
1903, S. 67 ff.
2) Der folgenden Analyse sind hauptsächlich die eingehenden Mitteilungen
zugrunde gelegt, die wir über die Gebärden der nordamerikanischen Indianer
von Garrick Mallery besitzen, in seiner von zahlreichen Abbildungen begleiteten
Arbeit: Signe Language among North American Indians, First annual Report
of the Bureau of Ethnology, Smithsonian Institution, 1879 — 80, p. 269 — 552.
Ein anderes Verzeichnis indianischer Gebärdezeichen, das besonders bei den
Indianern der Rocky mountains und der angrenzenden Territorien gesammelt
ist, hat der Prinz von Wied mitgeteilt (Reise in das Innere von Nordamerika,
1832—1834, Coblenz 1841, II S. 645—653). Wied bemerkt, man versichere ihm,
die Stämme der Rocky mountains wüßten sich sämtlich untereinander, nicht
aber mit den Dakotas und anderen Nationen in der Gebärdensprache zu ver-
ständigen. In der Tat finden sich zwischen den von ihm und den von Mallery
gesammelten Zeichen viele Unterschiede, jedoch auch manche Übereinstimmungen.
Ähnlich ist das Verhältnis zwischen den Indianern und den Rassen anderer Erd-
teile, wie Australiern, Afrikanern, asiatischen Völkern (Arabern, Japanern),
von denen wir freilich meist nur unvollständigere Nachrichten besitzen. Über
die Gebärdensprache der Australier, bei denen sie übrigens, wahrscheinlich
unter dem wechselnden Einfluß des Verkehrs, in sehr verschiedener Aus-
bildung vorkommt, vgl. Howitt, The native Tribes of South-East Australia,
1904, p. 723 ff.
Gebärdensprache bei den Naturvölkern. 153
Genossen einer und derselben Horde Wort und Affektäußerung bei
lebhafter Mitteilung zusammenzuwirken. So kommt es, daß in vielen
Pällen auf das begleitende Wort verzichtet wird, sei es weil die Ge-
bärde zur Verständigung genügt, sei es, weil man die lautlose Mit-
teilung aus irgendwelchen Gründen vorzieht. Zweitens tritt bei dem
Verkehr verschiedener Stämme oder dialektisch gesonderter Zweige
des gleichen Stammes die Gebärde ins Mittel, sobald die Verständigung
durch die Lautsprache erschwert ist. Die so gepflegte Gewohnheit,
mit Mitgliedern fremder Herkunft durch Gebärden zu verkehren,
muß dann aber wieder auf deren Gebrauch zwischen den näheren
Genossen fördernd zurückwirken. So erklärt es sich wohl, daß nament-
lich bei manchen Indianerstämmen Nordamerikas, wo alle jene Be-
dingungen durch ein unstetes Jäger- und Kriegerleben gefördert wur-
den, die Gebärdensprache einen hohen Grad der Ausbildung erreicht
hat. Sichtlich haben an ihr viele Generationen gearbeitet, und wenn
sie auch weit mehr als die Lautsprache eine fortwährende Neubildung
von Symbolen gestattet, so hat sich doch in ihr eine vielleicht schon
Jahrhunderte bestehende Tradition ausgebildet, durch die sie in ge-
wissem Grad dem Einzelnen als ein fertiges System von Zeichen über-
liefert wird. Zeugnis hierfür ist die Tatsache, daß der Indianer manche
Gebärden konventionell anwendet, bei denen er über die Beziehung
zwischen Symbol und Bedeutung keine Rechenschaft mehr geben
kann^). Teils diese lange dauernde Tradition, teils andere damit zu-
sammenhängende Bedingungen unterscheiden diese Zeichensprache
sehr wesentlich von derjenigen der Taubstummen. Wenn man von
den willkürlich erfundenen Symbolen des französichen Systems
oder des Fingeralphabets, die hier nicht in Vergleich gezogen
werden können, absieht, so ist daher diese Gebärdensprache nicht
nur überhaupt reicher an Symbolen, sondern namentlich auch
reicher an solchen, die nur dem Eingeweihten verständlich, und
die in einzelnen Fällen auch für diesen zu bloß konventionellen
-Zeichen geworden sind.
1) Mallery a. a. O. pag. 409 ff .
154 T)i6 Gebärdensprache.
4. Überlieferte Gebärdezeichen bei Kulturvölkern.
In dieser Beziehung schließt sich eine dritte Entwicklungsform
der Gebärdensprache auf das engste an die Zeichensysteme der Wilden
an, wenn sie auch infolge der sehr verschiedenen Kulturbedingungen
in der Beschaffenheit der gebrauchten Symbole erheblich abweicht.
Das ist die bei den südlichen Völkern Europas, namentlich bei den
Süditalienern, übliche Form der Gebärdenmitteilung. Sie ist vor-
zugsweise in den niederen Volkskreisen verbreitet, wird aber auck
vom Gebildeten zum Teil verstanden und im Verkehr mit dem Volk
angewandt. Am eingehendsten ist unter ihnen die neapolitanische
studiert worden^). Sie ist durch ihren Eeichtum und durch die Be-
harrlichkeit ausgezeichnet, mit der sie sich seit Jahrhunderten erhalten
hat. Denn zahlreiche der noch heute beim süditalienischen Volk ge-
brauchten Zeichen finden sich in analoger Bedeutung auf antiken
Kunstdenkmälern oder werden von älteren Schriftstellern erwähnt^).
Dadurch erweist sich auch diese Form als das Produkt einer langen,
viele Jahrhunderte dauernden Tradition. Wie die Formen uralten
heidnischen Aberglaubens noch heute, zum Teil in christlichen Ver-
kleidungen, im süditalienischen Volke fortleben, so sind die Gebärde-
zeichen, die uns gegenwärtig auf den Straßen Neapels begegnen, mit
wenig Ausnahmen dieselben, wie sie in den Tagen des August us und
^) Andrea de Jorio, La mimica deg]i antichi investigata nel gestire na-
poletano, Napoli 1832. In seinem antiquarischen Teil gentigt dieses Werk natür-
lich heutigen Ansprüchen nicht mehr. Die Sammlung der beim neapolitanischen
Volk verbreiteten Gebärdezeichen bleibt aber wertvoll. Sie dürfte, obgleich
mehr als ein halbes Jahrhundert alt, dem heutigen Zustande noch durchaus
entsprechen, und auch in seiner Annahme, daß die meisten der heute gebrauchten
Gebärden bis in das Altertum zurückreichen, hat der Verfasser ohne Zweifel
das Richtige getroffen.
2) Viele hierher gehörige Züge hat schon Jorio beigebracht. Das archäo-
logische und literarhistorische Material ist in neuerer Zeit von Sittl gesammelt
worden in seinem Werk über die Gebärden der Griechen und Römer, 1890, in
welchem jedoch die Beziehung zu den heute gebrauchten Zeichen nicht näher
verfolgt wird. Unter den Berichten älterer Schriftsteller ist die schon oben er-
wähnte Abhandlung Quintilians über den Gestus in Lib. XI seiner Institut,
orator. das vollständigste und wertvollste Dokument.
überlieferte Gebärdezeichen bei Kulturvölkern 155
wahrscheinlich in einer noch viel weiter zurückliegenden Zeit im Ge-
brauch waren. Diese lange Überlieferung bedingt es, daß, ähnlich wie
bei den Indianern Nordamerikas, viele jener Zeichen völlig konven-
tionell geworden und in ihrer ursprünglichen Bedeutung verblaßt
sind. Da jedoch in diesem Fall die Gebärde zwar nicht selten das ge-
sprochene Wort verdrängt hat, aber es nicht, wie bei dem Verkehr
zwischen stammesfremden Wilden, völlig ersetzt, so hat der Besitz
der fortwährend ergänzend und erläuternd eingreifenden Lautsprache
hier zugleich auf die Erhaltung und Entwicklung der Gebärden för-
dernd eingewirkt. Die heute bei den südlichen Völkern Europas vor-
kommende Zeichensprache erscheint so als ein Überlebnis der in der
antiken Welt überhaupt lebendigeren Begleitung der Sprache durch
die Gebärde, einer Erscheinung, die in der Pflege der Pantomime und
in dem großen Wert sich ausspricht, den die Alten bei der Kede auf
den Gestus legten. Darum ist es nun aber auch eine falsche Auffassung,
wenn man dies allgemein als Zeichen eines niedrigen Standes der
Kultur, und demnach das Vorkommen der Gebärdensprache bei
Menschen, die zugleich der Lautsprache mächtig sind, als eine Eigen-
tümlichkeit unzivilisierter Völker betrachtet hat. Der Südfranzose
und der Italiener zeigen noch heute ein weit lebhafteres Gebärden-
spiel als der Engländer und der Deutsche, und dieser Unterschied
erstreckt sich auf alle Kreise der Gesellschaft ziemlich gleichförmig.
Nicht die Bildung, sondern der Grad des Affekts oder die dauernde
Affektanlage, das Temperament, ist vor allen Dingen für die Ent-
stehung der Gebärde entscheidend. Besteht einmal vermöge dieser
Anlage die Neigung zu einem lebhaften Mienenspiel, so begleitet dieses
nicht bloß von selbst die gesprochene Rede, sondern es tritt auch
leicht an deren Stelle, wenn die laute Gedankenäußerung unterdrückt
wird ; und aus dieser freieren Übung entspringt naturgemäß eine ästhe-
tische Freude ^an der bedeutsamen Gebärde als solcher. Die Alten
haben diese Freude auch im gewöhnlichen Verkehr der Menschen
offenbar mehr gekannt, als wir sie heute kennen, und die Eegeln der
Sitte geboten bei ihnen zwar das Übermaß der Affektäußerung, nicht
aber, wie bei uns, die Affektäußerung selbst zu unterdrücken. Die
Alten besaßen also ein lebendigeres Gefühl für die Bedeutung der Ge-
bärde, nicht weil ihre Kultur eine niedrigere, sondern weil sie eine
156 Die Gebärdensprache.
andere war als die luisere, un(| weil insbesondere der Sinn für die
äußere Erscheinungsweise des Menschen feiner ausgebildet, in dieser
Beziehung also die Kultur eine ästhetisch höhere war. Wenn sich
diese lebendigere Ausdrucksweise bei den von ihnen abstammenden
Völkern mehr in den niedrigeren als in den höheren Kreisen der Ge-
sellschaft erhalten hat, so ist dieser besondere Zug dann allerdings
ein Symptom der Kulturstufe. Denn diese Erscheinung fällt unter
die allgemeine Regel, daß die Reste alter Anschauungen und Sitten
am längsten in den Massen des Volkes zurückbleiben.
Ähnliche Überlieferungen eines hoch ausgebildeten Zeichen -
Systems bestehen nun noch mannigfach sonst auf unserer Erde. Be-
sonders der Orient bietet hier ein reiches Feld der Beobachtung. Bei
den islamitischen Arabern scheint der Gebärdenausdruck ein viel
gebrauchtes, von den arabischen Philosophen als eine eigene Art der
Sprache anerkanntes Hilfsmittel nicht nur der Verständigung, son-
dern auch der sinnlichen Interpretation des gesprochenen Wortes
gewesen zu sein, dessen sich der Prophet selbst mit Vorliebe bediente^).
Andere, wahrscheinlich ebenfalls auf sehr alter Tradition beruhende
und zumeist wieder unabhängig entstandene Entwicklungen der
Gebärdensprache sind bei den Chinesen, Japanern und andern orien-
talischen Völkern zu finden^). Was wir von diesen Ausdrucksformen
wissen, läßt im allgemeinen den Schluß zu, daß sie sich nicht wesent-
lich anders zueinander verhalten als etwa die Gesten des Neapoli-
taners zu denen des nordamerikanischen Indianers. Der verschiedene
Zustand der Kultur, mag er au,ch auf gewisse spezifisch gebrauchte
Zeichen von Einfluß sein, berührt also den Charakter der Gebärden-
sprache nicht wesentlich. Nicht bloß gewisse Gebärden, die allgemein-
gültige Vorstellungen bezeichnen, wie das Ich, Du und Er, das Hier und
^) Goldziher, Über Gebärden- und Zeichensprache bei den Arabern, Zeit-
schr. für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, XVI, S. 369 ff.
2) Der Freundlichkeit des Herrn J. Jrie in Sendai, Japan, verdanke ich
die Mitteilung einer Anzahl in Japan üblicher Gebärden, die in gewissen ali-
gemeinen Symbolen der Höflichkeit, Ehrfurcht, der Liebe, der Verachtung,
des Spottes usw. den im Abendland gebrauchten ähnlich oder ganz gleich sind,
daneben aber auch vereinzelt Formen darbieten, die den abendländischen Sy-
stemen fehlen.
überlieferte Gebärdezeichen bei Kulturvölkern. 157
Dort, Groß und Klein, den Himmel, die Erde, die Wolke, den Regen,
das Gehen, Stehen, Sitzen, Schlagen, den Tod und den Schlaf und
viele andere, sondern auch die Ausbildung des Zeichensystems, die
Fähigkeit der Übertragung sinnlicher Zeichen auf nicht sinnliche
Gegenstände, die Art, wie sich in der Zusammenfügung der Gebärden
die Gedankenfolge spiegelt, alles das charakterisiert die verschiedenen
Formen als Erscheinungen, die weder wesentliche Unterschiede der
Vollkommenheit, noch solche der Qualität imd Struktur erkennen
lassen. Dadurch nähern sie sich in einem gewissen Grad einer Uni-
versalsprache, wenn auch nicht ganz in dem Sinne, in dem man dieses
Wort in der Regel anwendet. Nicht so nämlich, als ob die in einem
bestimmten Volkskreise gebrauchten Zeichen für jeden, oder auch
nur für denjenigen, der eine auf anderer Grundlage erwachsene
Art der Gebärdensprache gebraucht, ohne weiteres verständlich
wären. Das ist in Wirklichkeit nur sehr teilweise der Fall. Der
Dakotaindianer, den man in die Straßen Neapels versetzte, würde
zunächst wahrscheinlich von den Gebärden seiner Umgebung nicht
viel verstehen. Er würde aber freilich dieses Verständnis
unvergleichlich schneller gewinnen, als es bei der Lautsprache
möglich ist.
Mehr als der Unterschied der Kultur ist jedoch ein anderes Mo-
ment auf diese zumeist konventionell gewordenen Formen der Ge-
bärdensprache von Einfluß. In ihren ursprünglichen, dem Ersatz
oder der Unterstützung der Lautsprache dienenden Formen will sie
vor allem verständlich sein. Unter der Wirkung dieses Strebens bilden
sich hinweisende und zeichnende Gebärden aus, die wegen ihrer engen
Beziehung zu den sinnlichen Gegenständen, die sie andeuten, einer
näheren Interpretation oder vorangegangenen Verständigung nicht
bedürfen. Aber die Gebärdenmitteilung kann auch als eine Geheim-
sprache benutzt werden. Eine solche ist zwar als Lautsprache eben-
falls möglich, wie die wichtigste solcher Geheimsprachen, die Gauner-
sprache, zeigt. Aber die Gebärde bleibt selbst für diesen ihrem Ur-
sprungsmotiv entgegengesetzten Zweck gewissermaßen das natür-
lichste Hilfsmittel. Denn sie bietet in ihren übertragenen, symbolischen
Formen immerhin noch ein anschauliches Bild, dessen Verständnis
für den, dem solche Art der Mitteilung vertraut ist, durch die Beziehung
158 Die Gebärdensprache.
zu andern Symbolen unterstützt wird. Auch hat sie den großen Vor-
zug, daß sie eine stumme Sprache ist, die sich vor andern leichter ver-
bergen läßt, so daß man in ihr nach Belieben das in der Lautsprache
Geäußerte in einer nur dem Kundigen bemerkbaren Form ergänzen
oder selbst widerrufen kann. Schon die Gebärden der Neapolitaner
sind daher in sehr vielen Fällen plastische, durch Formung der Hand
erzeugte Bilder, da ein flüchtiger Hinweis oder ein in die Luft ge-
zeichnetes Bild leicht nicht bloß andern, denen es verborgen bleiben
soll, sondern auch dem entgeht, für den es bestimmt ist, während
eine plastische Handgebärde so lange festgehalten werden kann, bis
sie ihren Zweck erreicht hat.
Hierin bildet nun der rituelle Gebrauch der Gebärde einen
vollen Gegensatz zu dieser okkulten Pantomimik der Diebe und Vaga-
bunden. Sie dient im allgemeinen der besonderen Akzentuierung
bestimmter Bestandteile der gesprochenen Rede durch eine ausdrucks-
volle Bewegung. Auch sie bezweckt daher keine zusammenhängende
Gedankenmitteilung. Aber dadurch, daß jene Akzentuierung aus
einer starken Gefühlsbetonung hervorgeht und zugleich in ein feier-
liches Zeremoniell sich einfügt, nehmen diese rituellen Gebärden eine
intensiv wie extensiv gesteigerte Form an: intensiv, indem die den
gewöhnlichen Verlauf der affektbetonten Vorstellungen begleitende
Ausdrucksbewegung verstärkt wird, extensiv, indem sie sich über
eine längere Zeit ausdehnt. So bei den Gebärden des Gebets, der
Demütigung, der Segenspendung usw. Eine besondere Abzweigung
ritueller Handlungen, die ebenfalls religiösen Ursprungs ist, aber sich
infolge der Konkurrenz mit Zwecken des bürgerlichen Lebens teil-
weise verweltlicht hat, bilden die rituellen Rechtssymbole. In
dem heutigen Rechtsleben bis auf dürftige Reste geschwunden, bilden
sie in den Rechtssitten aller Völker, insbesondere auch im alten rö-
mischen und im deutschen Recht des Mittelalters wichtige Bestand-
teile der Rechtshandlungen. Das Rechtsbuch des ,, Sachsenspiegels''
hat uns in seinen Bilderhandschriften Darstellungen dieser Symbole
bewahrt. Sie sind durchweg Handgebärden, teils, wie das Erheben
der gegen den Himmel gerichteten Schwurfingier, hinweisender, teils,
wie das die Besitznahme andeutende Ergreifen eines Gegenstandes,
zeichnender oder endlich, wie die Handreichung bei der Vertrags-
Gebärdezeiöhen der Zisterzienser mönche. 159
Schließung und die meisten andern, symbolischer Art^). Dabei bildet
es überall einen charakteristischen Unterschied dieser rituellen Ge-
bärden von der gewöhnlichen Gebärdensprache, z. B. der Taubstummen,
daß jene durch ihre längere Dauer stärker sich einprägen und einen
feierlichen Charakter gewinnen. Gleichwohl fehlt hier die oben er-
wähnte plastische Gebärde so gut wie ganz. Denn die rituelle Ge-
bärde will so eindrucksvoll und deutlich wie möglich sein: das wird
•erreicht, indem die an sich vergängliche, aber unmittelbar verständ-
liche hinweisende und zeichnende Bewegung durch ihre langsame,
feierliche Form selbst zu einem plastischen Bilde wird. Eine beson-
dere Abzweigung dieser rituellen bilden schließlich die Zaubergebärden,
die ihrerseits wieder eine wichtige Klasse der Zaubersymbole und
Zaubermittel sind. Die Vorstellung, daß die Gebärde eine bindende
oder lösende magische Kraft besitze, ist gerade in den noch im heu-
tigen Aberglauben verbreiteten Zaubergebärden lebendig geblieben.
Doch reichen diese bereits in das jenseits der Gebärdensprache als
solcher liegende Gebiet der Zauberkulte, das uns später beschäftigen
wird^).
5. Gebärdezeichen der Zisterziensermönche.
Eine letzte Entwicklungsform der Gebärdensprache, bei der
man von vornherein mehr als bei irgendeiner der vorangegangenen
einen willkürlichen und rein konventionellen Ursprung vermuten
muß, entsteht in solchen Fällen, wo eine Gesellschaft Hörender ab-
^) K. von Amira, Die Handgebärden in den Biiderhandschriften des
Sachsenspiegels. Abh. der Bayr. Akademie der Wiss. I. KL, Bd. 23, S. 163 ff.
2) Nur einer Gattung dieser Zaubergebärden sei hier gedacht, in denen
der ursprüngliche magische Charakter der entsprechenden rituellen Gebär-
den noch deutlich zu erkennen ist. Man könnte sie die „umkehrenden Gebärden"
nennen, weil sie gewissen feierlich verpflichtenden Gebärdensymbolen entgegen-
gesetzt sind, daher sie denn auch eine Aufhebung jener Verpflichtung bezwecken.
Dahin gehören besonders die von A. Hellwig (Archiv für Religionswissenschaft,
Bd. 12, 1909, S. 46 ff.) mitgeteilten Gebärden zur Aufhebung eines Eidschwurs.
Der Schwörende richtet z. B., während er die Rechte zum Schwur erhebt, die
Linke mit der gleichen Schwurgebärde zum Boden, oder er wendet die Schwur-
hand selbst mit ihrer Hohlfläche gegen den Richter, Zeichen, deren Kontrast-
und Abwehrbedeutung auf der Hand liegt.
160 I^i® Gebärdensprache.
sichtlicli auf den Gebrauch der Lautsprache verzichtet und sich so
gewissermaßen künstlich in die Lage der Taubstummen versetzt.
Seit alter Zeit aber bildet das Gelübde des Schweigens einen Bestand-
teil religiöser Askese, ob es nun, wie im Altertum in der Sekte der
jüngeren Pythagoreer, nur vorübergehend dem Novizen als Prüfung
auferlegt wird oder ihn, wie in dem Mönchsorden der Zisterzienser,
für immer bindet. Über die Gebärdensprache der Zisterzienser be-
sitzen wir zwei interessante Verzeichnisse von Leibniz, ein latei-
nisches ohne nähere Angabe seiner Herkunft und ein niederdeutsches
aus dem vormaligen Kloster Lockum. Das eine zählt 143, das andere
145 Nummern^). Ein älteres (aus dem 11. Jahrhundert) aus einem
englischen Kloster, in angelsächsischer Sprache, das die Beschreibung
von 127 Zeichen enthält, hat F. Kluge mitgeteilt 2). Alle diese Ver-
zeichnisse sind wenig umfangreich, vermutlich weil sich die Gebärden-
mitteilung der Mönche auf das Nötigste beschränkte. Aber sie sind
hinreichend, um eine Vergleichung mit andern Formen der Gebärden-
sprache niöglich zu machen. Diese ergibt nun in vielen Punkten eine
große Übereinstimmung. Doch ist das System der Zisterzienser ziem-
lich reich an Zeichen, die offenbar willkürlich erfunden und verabredet
sind. Auf der andern Seite zeigt es, wo Beziehungen zu den sonstigen
Formen vorliegen, mehr Übereinstimmung mit den einfacheren und
leichter verständlichen Gebärden der Taubstummen als mit den auf
längerer Tradition beruhenden der Indianer und Neapolitaner. Das
System macht so den Eindruck einer Mischung aus Fragmenten einer
natürlichen Gebärdensprache einfachster Beschaffenheit und eines
völlig künstlichen Zeichensystems. Da die Zeichen der letzteren Art
die Entstehung dieser Form der Mitteilung aus einer willkürlichen
Übereinkunft unzweifelhaft machen, so ist sie für die sprachpsycho-
logischen Fragen von geringerer Bedeutung. Immerhin ist sie inso-
') Leibnitii opera omnia ed. Dutens, Tom. VI, Pars II, Collect, etymo-
logica pag. 207.
2) F. Kluge, Zur Geschichte der Zeichensprache. (Angelsächsische indicia
monasterialia. ) Techmers Zeitschr. f. allgem. Sprachwissenschaft. II, 1885,
S. 116 ff. Im Eingang der Klugeschen Arbeit sind noch einige andere ähnliche
Verzeichnisse erwähnt. Ebenso findet sich ein solches in Ducanges Glossarium
nov. ad Script, med. aet. v. Signum n. 9.
Gebärdezeichen der Zisterziensermönche. 161
fern lehrreich, als sie zeigt, daß eine solche Ühereinkunft da, wo es
sich um geläufige sinnliche Vorstellungen handelt, zu ähnlichen leicht
verständlichen Zeichen greift wie der natürliche Gebärdenausdruck.
Dies beweist aber, daß eben das, was man die ,, Natürlichkeit" der
Gebärdensprache zu nennen pflegt, über die Frage der Entstehung
derselben an und für sich noch nichts aussagt. Eine Gebärde, die
weder unmittelbar noch in der Zurückverfolgung auf ihren Ursprung
irgendeine anschauliche Beziehung zu ihrer Bedeutung erkennen
läßt, ist ganz gewiß willkürlich erfunden. Eine Gebärde dagegen,
bei der eine solche Beziehung nachweisbar ist, kann ebensowohl natür-
lich entstanden wie erfunden sein. Die tatsächlichen Eigenschaften
können also niemals die Kenntnis der wirklichen Entstehungsbedingun-
gen ersetzen^).
Wenn wir uns nun bei den verschiedenen oben erörterten Ent-
wicklungsformen der Gebärdensprache diese Entstehungsbedingungen
vergegenwärtigen, so spricht alles dafür, daß sie überall von zusammen-
gesetzter Art sind, daß also keine der vorhandenen Formen psycho-
logisch auf einen einheitlichen Ursprung zurückgeführt werden kann.
Alle diese Systeme sind, wenn wir die populären Begriffe des Natür-
lichen und Künstlichen auf sie anwenden wollen, natürlich und künst-
lich zugleich. Und zwar erscheinen nicht nur einzelne Zeichen als
natürliche, ohne Wahl und Überlegung hervorgebrachte Reaktionen,
andere als Produkte einer erfinderischen Tätigkeit; sondern diese
verschiedenen psychischen Funktionen verbinden sich auch nicht
selten bei der Entwicklung einer und derselben Gebärde. Dadurch
werden sich aber die verschiedenen Formen der Gebärdensprache
näher gerückt, als die äußeren Umstände, unter denen sie vorkommen,
vermuten lassen. Als diejenige Bedingung,- die für die Differenzierung
der Erscheinungen die wichtigste ist, erweist sich der Einfluß der
Zeit. Denn mehr als die Kulturstufe, mehr als das vermutliche Maß
^) Zu den großenteils künstlich erfundenen, aber doch durch die überall
wirksamen Assoziationen vielfach mit den natürlichen Gebärdeformen zusammen-
hängenden Zeichen gehören auch die sogenannten „Kennzinken" der Gauner.
(Zinken ist wahrscheinlich volksetymologische Umbildung von lat. signum.)
Wir werden auf dieselben unten (V, 3) bei der Erörterung des Zusammenhangs
von Gebärdensprachen und Bilderschrift zurückkommen.
Wundt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl.
162 I^i® Gebärdensprache.
von Zwang oder Freiheit ist offenbar der Umstand maßgebend, ob
eine bestimmte Form der Gebärdensprache eine lange Tradition hinter
sich hat, wie die der nordamerikanischen Indianer oder der NeapoH-
taner, oder ob sie im Vergleich damit eine Neubildung ist, die sich
in der Kegel nur durch wenige Generationen hindurch verfolgen läßt,
wie die Zeichen der Taubstummen.
Da es diese Unterschiede der Zeit und der Tradition sind, mit
denen, wie wir sogleich sehen werden, auch bemerkenswerte Eigen-
tümlichkeiten der einzelnen Gebärden zusammenhängen, so wollen
wir diese beiden Fälle im folgenden kurz als die der neugebildeten
und der überlieferten Gebärdensprache auseinanderhalten. Natür-
lich sind diese Ausdrücke nur im relativen Sinne zu verstehen. Denn
es gibt wohl keine neugebildete Gebärdensprache, die nicht in einem
gewissen Maß unter dem Einflüsse von Überlieferungen steht, noch
weniger aber eine überlieferte, in der nicht fortwährend sporadische
Neubildungen vorkommen.
IL Grundformen der Gebärden.
1. Psychologische Klassifikation der Gebärden.
Wenn man die verschiedenen Entwicklungsformen der Gebärden-
sprache mit einem der Lautsprache entnommenen Bild ihre Dia-
lekte nennen kann, so läßt sich wohl eine Klassifikation der Gebärden,
die von genetischen Gesichtspunkten aus unternommen wird, als
eine Art Etymologie derselben bezeichnen. Freilich verschiebt sich
aber die Bedeutung der Ausdrücke erheblich bei dieser Übertragung,
und diese Verschiebung wirft wiederum ein gewisses Licht auf die
Natur der Gebärdensprache selbst. Man kann nämlich bei ihr, wenn
wir von den ganz und gar künstlichen Zeichensystemen absehen,
zwar von verschiedenen Dialekten, aber niemals von verschiedenen
Sprachstämmen reden; und außerdem sind die vorkommenden dia-
lektischen Unterschiede mehr von den äußeren Lebensverhältnissen
und von der Existenz einer längeren Überlieferung als von der ur-
Psychologische Klassifikation der Gebärden. 163
sprüngliclien Verwandtschaft oder der gemeinsamen Abstammung
der Menschen abhängig. Hieraus ergibt sich die Folgerung, daß eine
Etymologie der Gebärden nur zum geringsten Teil darin bestehen
kann, die Herkunft eines gegebenen Zeichens aus andern ursprüng-
licheren Gebärden nachzuweisen. Eine derartige Nach Weisung ist
nur in solchen Fällen möglich, wo eine Gebärde im Laufe der Tradi-
tion entweder selbst Änderungen erfahren oder ihre Bedeutung ge-
wechselt hat. Daß das letztere vorkommt, davon werden wir uns
in der Tat bei der Betrachtung des Bedeutungswandels gewisser Sym-
bole überzeugen. Aber das Maß dieser Entwicklung ist doch hier
ein sehr beschränktes. Da selbst bei jenen Formen der Gebärden-
sprache, die auf einer lange dauernden Überlieferung beruhen, die
Zahl der in ihrer Beschaffenheit oder Bedeutung erheblich veränderten
Symbole relativ klein ist, so kann demnach die Frage der Herkunft
bei der Mehrzahl der Gebärden überhaupt nur im psychologischen
Sinne verstanden werden. Muß sich die Etymologie der Lautsprache
mit der Ermittelung der Anfangsbildungen begnügen, die sie als ge-
schichtlich gegebene und nicht weiter abzuleitende, eben deshalb
aber auch in der Regel als unerklärbare anzusehen hat, so ist das
„Etymon" einer Gebärde dann nachgewiesen, wenn ihre psycho-
logische Bedeutung und ihr Zusammenhang mit den allgemeinen
Prinzipien der Ausdrucksbewegungen erkannt ist. Hier beginnt also
das Problem gerade bei dem Punkte, wo es für die Etymologie der
Lautsprache aufzuhören pflegt. Die Bedeutung der Gebärdensprache
für die sprachpsychologischen Probleme überhaupt erhellt ohne
weiteres aus diesem Verhältnis. In gewissem Grade bleibt eben die
Gebärdensprache immer auf der Stufe eines Urzustandes, und was
wir in ihr von Spuren historischer Veränderungen beobachten, reicht
nur hin, ihren allgemeinen Charakter als Sprache auch in dieser Be-
ziehung erkennbar zu machen. Man könnte sagen: der Begriff einer
Ursprache, im Gebiet der Lautsprache ein hypothetischer Grenz-
begriff, wird bei der Gebärdensprache zur unmittelbar beobachteten
Wirklichkeit. Dieser Tatsache kann aber, wenn sie keinen andern
Nutzen hätte, mindestens der nicht bestritten werden, daß sie die
Notwendigkeit der Annahme einer Ursprache in diesem psycholo-
gischen Sinne beweist: die Notwendigkeit nämlich, daß es für jede
11*
164 I^ie Gebärdensprache.
Art natürlich entstandener Sprache einmal eine Zeit gegeben haben
muß, in der die Beziehung zwischen dem Zeichen und dem, was es
bezeichnet, eine unmittelbar anschauliche war. Daß freilich diese
Zeit nicht für den ganzen Inhalt einer Sprache die gleiche zu sein braucht,
dies lehrt wieder die Gebärdensprache, in der es neben den unver-
ändert gebliebenen Bestandteilen und Neubildungen auch an Wand-
lungen nicht fehlt, die das ursprünglich Bedeutsame in ein anscheinend
konventionelles Symbol überführen.
Eine Etymologie der Gebärdensprache, die der psychologischen
Herkunft der einzelnen Gebärden nachgeht, muß nun naturgemäß
die Ausdrucksbewegungen zum Anfangspunkt ihrer Betrachtungen
nehmen, da ja die Gebärdensprache selbst nichts anderes ist als ein
System von Ausdrucksbewegungen, dem der Trieb der Mitteilung
und Verständigung seine besonderen Eigenschaften verliehen hat.
In der Tat sind es die beiden Grundformen der Vorstellungsäußerung
der Affekte, die hinweisenden und die nachahmenden Gebärden,
die uns überall als die ursprünglichen Bestandteile des Inhalts der
Gebärdensprache wieder begegnen. Von diesen beiden Grundformen
bewahren die hinweisenden bei der Entwicklung der natürlichen
Affektäußerung zur Gebärdensprache im wesentlichen ihren ursprüng-
lichen Charakter unverändert. Wie ihre äußere Erscheinungsweise
keiner erheblichen Weiterbildung fähig ist, so bleibt nicht minder
ihre Bedeutung eine beschränkte. Dies verhält sich anders bei den
nachahmenden Gebärden. Sie hängen zwar sämtlich genetisch
mit der nachahmenden Bewegung zusammen, wie denn auch psycho-
logisch der Trieb zur Nachahmung des den Affekt erregenden Gegen-
standes in gewissem Maße bei ihnen allen noch fortwirkt. Aber dabei
haben sich doch diese aus der gleichen Wurzel entsprossenen Gebärde-
formen derart differenziert, daß das Wort „Nachahmung" sie ebenso-
wenig mehr zureichend bezeichnet, wie etwa für die Gesamtheit der
bildenden Künste der Ausdruck „nachahmende Künste" zutreffend
sein würde. Wir wollen deshalb die zweite Klasse mit einem alle ihre
einzelnen Anwendungen umfassenden Ausdruck als die der dar-
stellenden Gebärden bezeichnen, und sie dann in die beiden Unter-
klassen der nachbildenden und der mitbezeichnenden ein-
teilen. Unter ihnen stehen die nachbildenden, wie ihr Name schon
Hinweisende Gebärden. 165
andeutet, der bloßen Nachahmung am nächsten, und sie fallen in
den einfachsten Fällen ohne weiteres mit ihr zusammen. Aber im
ganzen treffen wir doch schon bei ihnen die Nachbildung gewisser-
maßen auf einer höheren Stufe, da die Umbildungen, die der Gegen-
stand in der Phantasie des Beschauers erfährt, ehe er nachgebildet
wird, hierbei eine Rolle spielen. Die Nachbildung gestaltet also das
Bild eines Gegenstandes in einem ähnlichen Sinne freier, wie es die
bildende Kunst gegenüber der bloß nachahmenden Technik tut. In
diesem Verhältnis liegt denn auch der Grund, daß sich aus der nach-
bildenden die mitbezeichnende Gebärde aussondert, bei der die Be-
ziehung zwischen dem Zeichen und seinem Gegenstand erst durch
die mithelfende und ergänzende Funktion der Phantasie zustande
kommt. Als eine dritte Hauptklasse unterscheiden wir endlich die
symbolischen Gebärden. Sie sind insofern sekundärer Art, als ihre
Formen stets auf hinweisende oder darstellende Gebärden oder auf
eine Vereinigung beider zurückgeführt werden können. Auch nimmt
zweifellos ihre Anzahl mit der Entwicklung der Gebärdensprache zu.
Doch reichen die einfachsten symbolischen Zeichen jedenfalls in eine
sehr frühe Zeit, wenn nicht in die Anfänge der Gebärdensprache zurück.
Der allgemeine Charakter der symbolischen Gebärde besteht aber
darin, daß sie die auszudrückenden Vorstellungen aus einem An-
schauungsgebiet in ein anderes überträgt, also z. B. zeitliche Vor-
stellungen räumUch andeutet, oder daß sie abstrakte Begriffe sinnlich
veranschaulicht^).
2. Hinweisende Gebärden.
Daß die hinweisende Gebärde unter den genannten Formen nicht
bloß die einfachste, sondern auch die ursprünglichste ist, läßt sich
aus verschiedenen Tatsachen erschließen. Unter den Ausdrucks-
^) Vgl. zu dieser Klassifikation und zu dem Folgenden, zugleich mit Rück-
sicht auf die Bemerkungen Delbrücks (Grundfragen der Sprachforschung, S. 48 ff. )
und Sütterlins (Das Wesen der sprachlichen Gebilde, S. 14 ff.), meine Schrift:
Sprachgeschichte und Sprachpsychologie, S. 35 ff.
166 Die Gebärdensprache.
bewegungen des Kindes kommt das Hindeuten auf die Gegenstände
am frühesten und selbständigsten zum Zweck der Mitteilung, also
in der allgemeinen Bedeutung der Sprachgebärde vor. Ebenso über-
wiegen die einfach hinweisenden Bewegungen bei den neugebildeten
Formen der Gebärdensprache, während bei den überlieferten die nach-
bildenden die Mehrzahl bilden und die hinweisenden meist nur in
Verbindung mit ihnen in zusammengesetztere Gebärdeformen eingehen.
Diese größere Ursprünglichkeit erklärt sich ohne weiteres aus den
psychologischen Bedingungen ihrer Entstehung. Wo der Gegenstand,
auf den sich irgendeine Gebärdenmitteilung bezieht, im Sehbereich
liegt, da ist die unmittelbare Richtung des Zeigefingers gegen ihn das
einfachste, weil das sicherste und eindeutigste Mittel die Aufmerk-
samkeit auf ihn zu lenken, ein Mittel, das in der Regel ohne Über-
legung, aus dem unmittelbaren Trieb nach Mitteilung heraus an-
gewandt wird. Wo eine individuelle Gebärdensprache vollkommen
neu sich ausbildet, wo etwa ein Taubstummer isoliert in hörender Um-
gebung aufwächst, da ist daher anfänglich die Hinweisung auf die
Objekte fast die einzige überhaupt vorkommende Gebärde, und sie
genügt für diesen Anfang um so mehr, weil sich bei dieser ersten Ent-
wicklung das Interesse, das zur Mitteilung führt, nur solchen Gegen-
ständen zuwendet, die der unmittelbaren Wahrnehmung zugänglich
sind. Das wird anders, wo die Erinnerung eine größere Rolle zu spielen
beginnt, und wo nun bei der Verwendung der Gebärde zur Erzählung
vergangener Erlebnisse oder zum Ausdruck von Befehlen und Wünschen
die Objekte der Vorstellungen nicht immer gegenwärtig sind. Dann
führt der Trieb nach Mitteilung des Gedachten von selbst dazu, das
vorgestellte Objekt durch Andeutung seiner Eigenschaften kennt-
lich zu machen. Aber auch hier greift der Taubstumme noch gern,
falls sich nur ähnliche Objekte im Sehbereich vorfinden, zur hinweisen-
den Gebärde, oder er zieht sie wenigstens neben der nachbildenden
zu Hilfe. Beide zusammen verraten nun durch den nachahmenden
Bestandteil die Abwesenheit des Gegenstandes, durch die Hinweisung
auf ein ähnliches Objekt beseitigen sie die Unsicherheit der bloß nach-
ahmenden Bewegung. Dies ist einigermaßen anders bei den Formen
der überlieferten Gebärdensprache, wo die verschiedenen Arten nach-
bildender Zeichen durch eine lange eingelebte Gewöhnung festere
Hinweisende Gebärden. 167
Bedeutungen gewonnen haben. Zuweilen mag übrigens hier das Zu-
rückdrängen jener einfachsten Gebärdeform auch dadurch bedingt
sein, daß die Gebärdensprache den Charakter einer Geheimsprache
annimmt, bei der die Hinweisung auf den Gegenstand gerade um ihrer
leichten Verständlichkeit willen vermieden wird.
In ihrer ursprünglichen Bedeutung bezeichnet demnach die hin-
weisende Gebärde schlechthin den anwesenden Gegenstand,
auf den sie die Aufmerksamkeit lenkt. Da aber alle zur umgebenden
Welt gehörenden Objekte gelegentlich auch abwesend sein können,
so entstehen, namentlich nachdem sich eine gewisse Tradition aus-
gebildet hat, bald für die meisten Außendinge selbständige, nach-
bildende, sie unabhängig von ihrer Anwesenheit andeutende Zeichen.
Hierdurch wird die hinweisende Gebärde aus ihrer ersten allgemeinen
Anwendung allmählich verdrängt. Nur zwei Vorstellungsgebiete
bleiben zurück, für die fortan der unmittelbare Hinweis die ange-
messene Bezeichnung bleibt, weil ihre Objekte fortwährend an-
wesend sind. Das erste dieser Gebiete ist das der Personen der
Unterredung, das zweite das der räumlichen Verhältnisse.
Das Ich und Du sind immer wiederkehrende Attribute der Gedanken-
mitteilung. Mögen auch die Personen der Unterredung wechseln,
dies ihr Verhältnis zueinander mit der Bedingung unmittelbarer
Gegenwart bleibt bestehen. Bis zu einem gewissen Grade, wenn-
gleich minder konstant, kann aber auch eine dritte Person oder eine
Mehrzahl dritter Personen eine analoge Rolle spielen. Ähnlich können
räumliche Richtungen, ein Oben und Unten, Rechts und Links, Vom
und Hinten nicht anders ausgedrückt werden als durch hinweisende
Gebärden, die von dem eigenen Körper, als dem Mittelpunkt aller
Orientierungen im Raum, ausgehen.
An diese räumlichen Hinweisungen schließen sich dann weitere
an, die in ihrer Form nicht wesentlich abweichen, nach ihrer Bedeu-
tung jedoch nicht mehr als rein hinweisende Zeichen betrachtet wer-
den können. Hierher gehören erstens diejenigen Gebärdeformen,,
die Größe und Kleinheit, namentlich in der Höhendimension, zu-
weilen aber auch in andern räumlichen Richtungen ausdrücken; so-
dann solche hinweisende Bewegungen, die gegen Teile des eigenen
Leibes gekehrt sind, um entweder diese Teile selbst oder gewisse ihrer;-
168 I^ie Gebärdensprache.
Eigenschaften oder ihre Funktion auszudrücken; endlich Gebärden,
welche die drei räumlichen Beziehungen des unmittelbar gegenwärtigen
Ortes, der zurückgelegten und der zurückzulegenden Strecke in die
zeitlichen Bedeutungen der Gegenwart, Vergangenheit und Zu-
kunft übertragen. Diese drei Entwicklungsformen gehören, ebenso
wie der einfache Hinweis, zu den verbreitetsten Gebärden: sie sind
übereinstimmender Weise unter den Zeichen der Taubstummen,
der Zisterzienser und in den verschiedenen Formen üb^lieferter Ge-
bärdensprache zu finden. Wir haben also allen Grund, diese demon-
strativen Zeichen sämtlich für in hohem Grade natürliche Ausdrucks-
mittel zu halten. Nach ihrer Bedeutung besitzen sie aber den Charakter
von Übergangsstufen zwischen der primären Form des Hinweises
und verschiedenen Arten nachbildender Gebärden. Obgleich den
hinweisenden Zeichen gleichend und mit den nämlichen Hilfsmitteln
ausgeführt, liegt in ihnen stets noch ein weiterer Vorstellungsinhalt,
der über den durch die Bewegung selbst ausgedrückten hinausgeht.
So ist bei den Gebärden der Größe und Kleinheit die hinweisende
offenbar ganz in der nachbildenden Bedeutung aufgegangen. Näher
scheint die Bezeichnung der Organe, ihrer Eigenschaften und Funk-
tionen durch Hinweis auf Teile des eigenen Leibes der primären Be-
deutung zu stehen. Läßt sie sich doch als eine besondere Gestaltung
des einfachen Hinweises auf sich selbst ansehen. So werden Kopf,
Brust, Bein, Auge, Ohr, Nase, Zunge usw. durch derartige Bewegungen
angedeutet; und ähnliche bezeichnen die Funktion der Organe: das
Sehen, Hören, Riechen, Schmecken usw. In allen diesen Fällen ist
demnach gegenüber dem einfachen Hinweis eine Erweiterung der
Bedeutung eingetreten, die sich mit dem Übergange von der Person
auf ihre Teile von selbst verbindet. Auch bezieht sich ein solcher
Hinweis auf ein einzelnes Organ in der Regel nicht mehr bloß auf den
Redenden selbst, sondern dieser benutzt jenes nur als das nächste
Beispiel, um den Begriff überhaupt auszudrücken. Darum verbinden
sich hiermit leicht noch andere Bedeutungsentwicklungen: so der
Übergang vom Organ auf seine Funktion, wie bei den Sinnesorganen;
oder es treten zu den hinweisenden andere, näher determinierende
Bewegungen, die bereits direkt den Charakter darstellender Gebärden
besitzen. So, wenn eine weitverbreitete Gebärde das Sehen zuerst
Hinweisende Gebärden. 169
durch den Hinweis auf das Auge und dann durch eine von diesem aus-
gehende, in den Kaum gerichtete Bewegung des Zeigefingers anzeigt,
wodurch die Funktion von dem Organ selbst unterschieden wird.
Oder wenn ,, Fleisch" bei den Taubstummen und den Zisterzienser-
mönchen übereinstimmend durch Emporheben einer Hautfalte am
Arm angedeutet wird, eine Modifikation, die zur Unterscheidung
von dem Arm als solchem dient, wo aber eben deshalb die Gebärde
rschon in ihrer äußeren Erscheinungsweise den Charakter einer bloß
Tiinweisenden verloren hat. Wie auf die Funktionen, so können end-
lich auch auf die Eigenschaften der Organe oder, in einer sich weiter
.anschließenden Übertragung, auf irgendwelche andere Vorstellungen,
•die mit diesen Eigenschaften in Beziehung stehen, die nämlichen Ge-
bärden übergehen. So, wenn die Farbe ,,rot" durch Hinweisung auf
»den roten Lippenrand oder auf die Wange, oder wenn gar bei den
.Zisterziensern der „Wein" durch eine Berührung der Nase, gleichsam
;als ,,der, der die Nase rötet", angedeutet wird — eine Gebärde, die
durch die Gleichförmigkeit, mit der sie sich in der Kloster spräche der
verschiedenen Jahrhunderte wiederholt, ein merkwürdiges Licht
auf die Verbreitung wirft, in der dieses Symptom bei den frommen
Brüdern vorgekommen sein muß. Alles dies sind natürlich sekun-
däre Übertragungen, die schon in das Gebiet des Bedeutungswandels
der Gebärden hineinreichen.
Eine etwas andere Stellung nehmen nach ihrem psychologischen
Inhalt die sekundären demonstrativen Gebärden ein, bei denen der
ursprünglich räumlichen eine zeitliche Bedeutung untergeschoben
ist. Die Regelmäßigkeit, mit der diese Darstellung der Zeit durch
hinweisende Zeichen in den neugebildeten wie in den überlieferten
Gebärdensprachen angewandt wird, bildet vielleicht einen der sprechend-
sten Belege für die ürsprünglichkeit der Verbindung beider Anschau-
nngsformen. Da aber bei dieser Substitution der Raum ein Symbol
der Zeit, wenn auch ein noch so natürliches und ursprüngliches ist,
so ist diese dritte Form zugleich zu den symbolischen Gebärden zu
rechnen.
170 I^ie Gebärdensprache.
3. Nachbildende Gebärden.
Ungleich größer an Zalil und mannigfaltiger ist die Klasse der
darstellenden Gebärden. Sie zerfallen, wie schon oben bemerkt, in
mehrere Formen, die man am zweckmäßigsten wieder nach ihren
genetischen Beziehungen ordnet. Während bei den hinweisenden
die sekundären Formen immer zugleich in darstellende übergingen,
worin sich die natürliche Armut der bloßen Demonstrativzeichen
verriet, bleibt bei den verschiedenen Entwicklungsstufen der dar-
stellenden Gebärden selbst der enge Zusammenhang mit der pri-
mären Form, aus der sie sich differenziert haben, dauernd erhalten.
Diese primäre Form ist aber die der nachbildenden Gebärden.
Sie sind unmittelbare Weiterentwicklungen der nachahmenden
Ausdrucksbewegungen, mit denen sie in ihrer ursprünglichen Erschei-
nungsweise vollständig zusammenfallen. Die ausgebildeten Gebärden
dieser Klasse lassen sich dann in zwei verschiedene Arten unterscheiden..
Entweder nämlich werden die Umrißlinien des vorgestellten Gegen-
standes mit dem bewegten Zeigefinder in die Luft gezeichnet; oder
die Gestalt des Gegenstandes wird durch die Hände in einer bleibenden
Form nachgebildet. Hiernach können wir jene die zeichnende,,
diese die plastische Form der nachahmenden Gebärden nennen.
Beide, die vergänglichere und die bleibendere Form, können sich üb-
rigens miteinander verbinden, und wo sich die Gebärdenmitteilung
weiter ausgebildet hat, da geschieht dies in der Tat fortwährend. Im
allgemeinen läßt sich aber die vergängliche Form, das flüchtig vom
Finger in die Luft gezeichnete Bild, als die primitivere betrachten.
Sie herrscht in der natürlichen Gebärdensprache unserer Taubstum-
men vor, während sich die entwickelteren, auf einer langen Tradition
beruhenden Zeichensprachen mehr der in solchen Fällen mit großer
Fertigkeit geübten Plastik der Hände, wenn nötig unter Hinzunahme
bewegter Umrißzeichnungen und hinweisender Bewegungen, bedienen ^).
^) Deutlich erhellt dieses Übergewicht zeichnender Gebärden bei den
Taubstummen, wenn man das von Ed. Schmalz (Über die Taubstummen und
ihre Bildung, S. 314 ff.) gesammelte ausführliche Verzeichnis durchgeht und
mit den Verzeichnissen von Mallery und A. de Jorio (a. a. 0.), die sich auf über-
Nachbildende Gebärden. 171
So bezeichnet der Taubstumme das ,,Ha^s", indem er Giebeldach
und Seitenwände mit dem Zeigefinger in der Luft andeutet. Ebenso
der Zisterzienser, der die „Kirche" vom gewöhnlichen Hause noch
dadurch unterscheidet, daß er nachträglich über dem Dach ein Kreuz
beschreibt. Ein ,, Zimmer" wird durch Beschreibung eines Vierecks,
ein ,,Hof", ein ,, Platz", ein ,, Garten" entweder ebenso oder häufiger
durch Beschreiben eines Kreises angedeutet. Der Zusammenhang
der Rede oder hinzutretende demonstrative und mitbezeichnende
Gebärden sondern wieder diese verschiedenen Begriffe: so den Garten
vom Platze die der Umrißzeichnung des Kreises angehängte Gebärde
des Riechens an einer Blume, der durch mehrmalige Bewegung des
Daumens und Zeigefingers gegen die Nase angedeutet wird. Der*
,, Rauch" wird durch eine die Bewegung der Rauchwolken annähernd
wiedergebende spiralige Drehung des Zeigefingers von unten nach
oben ausgedrückt. Soll gesagt werden, daß der Rauch aus einem Ge-
bäude aufsteigt, so wird diese Gebärde dem obenerwähnten Zeichen
des Daches beigefügt. Ist ein von einer brennenden Flamme auf-
steigender Rauch gemeint, so wird durch Blasen gegen den empor-
gehaltenen Zeigefinger die Flamme angedeutet: diese beiden Gebärden
der Flamme und des Rauches zusammen werden daher auch benutzt,
um überhaupt ,, Feuer" auszudrücken. Ähnliche Verbindungen der
zeichnenden mit mitbezeichnenden Bewegungen, die zur Erläute-
rung jener dienen, kommen noch in der mannigfaltigsten Weise vor.
Für „Brot" zeichnet der Taubstumme einen Kreis in die Luft, die
Form des Brotlaibs wiedergebend, und macht dann die Gebärde des
Brotschneidens. ,,Buch" drücken der Taubstumme und der Zister-
zienser in gleicher Weise dadurch aus, daß sie die beiden Hände in
der Form eines aufgeschlagenen Buches, in dem man liest, vor das
Angesicht halten und mit dem Munde Bewegungen ausführen, die
das Lesen nachahmen. Den ,,Hut" als männliche Kopfbedeckung
drückt der Taubstumme aus, indem er die Umrisse eines Zylinder-
lieferte Gebärdensprachen beziehen, vergleicht. Schmalz ist übrigens der ein-
zige unter diesen Autoren, der die Gebärden in gewisse Klassen geordnet hat —
freilich in solche, die der Grammatik der Lautsprache entlehnt sind und also,
da deren Kategorien in der Gebärdensprache nicht existieren, für diese keine Be-
deutung besitzen (vgl. oben S. 135 f.).
172 I^iö Gebärdensprache.
huts über dem Kopfe zeichnet. Dasselbe Zeicben teilt der Prinz von
Wied von den Indianern der Kocky mountains mit; es war aber zu-
gleich auf den weißen Mann selbst, als den buttragenden, im Unter-
schiede vom Eingeborenen, übergegangen. Der Neger wurde, da er
in Amerika meist in europäischer Kleidung geht, in derselben Weise
angedeutet, aber als Unterscheidungsmerkmal eine Bewegung mit
der flachen Hand über das Haar beigefügt, die auf das Wollhaar hin-
wies. Die verschiedenen Tiere werden bei Taubstummen wie In-
dianern in der Regel durch Umrißzeichnungen nicht des ganzen Tieres,
sondern einzelner charakteristischer Teile ausgedrückt: so der ,, Hirsch"
durch Zeichnung des Geweihes über der eigenen Stirne, der „Ochse"
Äurch ähnliche Beschreibung der Hörner, die „Ziege" durch Zeich-
nung ihres Bartes, der ,, Vogel" durch Nachbildung seines Schnabels
mit Zeigefinger und Daumen, die gegeneinander bewegt werden. Ähn-
liche flüchtige Umrißzeichnungen bieten sich endlich überall von
selbst dar, wo es sich um den Ausdruck von Vorgängen und Tätig-
keiten handelt, die in der Zeit verlaufende Erscheinungen sind, also
für die meisten der in der Lautsprache durch Verbalformen aus-
gedrückten Begriffe. So gibt der Taubstumme den Begriff „gehen"
durch die Nachahmung von Gehbewegungen mit dem rechten Zeige-
und Mittelfinger auf dem emporgehaltenen linken Vorderarm wieder;
,, reiten", indem er mit den nämlichen Fingern die Beine eines Reiters
und mit ihnen gleichfalls auf dem Vorderarm der andern Seite die
Bewegungen des Reiters nachbildet; ,, sprechen" durch nachahmende
Bewegungen der Lippen. Diese Bewegungen nehmen die Bedeutung
,, nennen" an, wenn zugleich der Zeigefinger vom Mund aus gegen
die benannte Person oder Sache hingeführt wird; die Bedeutung
,, singen", wenn Arm und Zeigefinger die Bewegungen des Taktschiagens
machen. ,, Schlagen" wird unmittelbar durch schlagende Bewegungen
mit dem rechten Arm, „verbergen" durch Verstecken der rechten
Hand unter dem Kleide der linken Seite, ,, Handel treiben", ,, kaufen"
durch abwechselndes Hinlegen eines fingierten Gegenstandes und Auf-
nehmen eines andern mit der Hand, also eigentlich durch abwechseln-
des Geben und Nehmen ausgedrückt usw.
Neben diesen in der Ausführung von Umrißzeichnungen in der
Luft bestehenden Zeichen haben sich nun namentlich in den über-
Nachbildende Gebärden.
173
lieferten, auf eine längere Tradition zurückgehenden Gebärdensprachen
dauerndere, plastische Gebärden entwickelt. Sie kommen dadurch
zustande, daß die Hände als plastische Organe die Nachbildung der
verschiedenen Natur- oder Kunstformen gestatten und sich in dieser
Fähigkeit noch in hohem Grade durch Übung vervollkommnen. Unter
den Ausdrucksmitteln der Taubstummen fehlen diese plastischen
Gebärden fast gänzlich, wogegen sie in der Sprache der Indianer und
des neapolitanischen Volkes eine große Rolle spielen. Eine kleine
Sammlung solcher Zeichen geben die Figuren 26 — 28. In Fig. 26 sind
Gebärden neapolitanischen, in Fig. 27 und 28 solche amerikanischen
Ursprungs dargestellt^).
^-W /
h c
Fig. 26. Neapolitanische Handgebärden.
So ist die Gebärde a (Fig. 26) das in Neapel viel und in mancher-
lei Bedeutungen gebrauchte Zeichen eines „gehörnten Kopfes":
Zeige- und kleiner Finger ausgestreckt bezeichnen die beiden Hörner,
die übrige Hand den Kopf. Die Urbedeutung ist natürlich die eines
gehörnten Tier köpf s oder Tieres. Ebenso ist h die Nachbildung eines
„Eselskopfs": die nach oben gehaltenen Daumen beider Hände sind
die Ohren, durch den Zwischenraum zwischen den kleinen Fingern
und der übrigen Hand wird die Mundspalte angedeutet. Werden
die beiden Hände in derselben Stellung zueinander mit den Finger-
spitzen nach abwärts gerichtet, während die Daumen fester aneinan-
^) Die Zeichnungen in Fig. 26 sind dem Werke A. de Jorios (a. a. 0. Taf. 19
und 20), die in Fig. 27 und 28 der Arbeit G. Mallerys entnommen.
174
Die Gebärdensprache.
der gedrückt werden, wie in c, so stellt diese Form abermals den Kopf
des Esels dar, aber nicht wie vorhin im Profil, sondern in der Vorder-
ansicht. Eine oft gebrauchte Gebärde der Neapolitaner ist endlich
das in d wiedergegebene Bild der „Flasche": der nach oben gekehrte
Daumen bedeutet deren Hals, die übrige Hand mit den gebogenen
Fingern den Bauch,
Noch mannigfaltiger sind die plastischen Handgebärden der
Indianer, e (Fig. 27) ist das gewöhnliche Zeichen für „Geld". Es
Fig. 27. Nordamerikanische Handgebärden.
ist die Nachbildung der Form des Geldstücks und als solche auch
an andern Orten der Erde verbreitet: so z. B. mit der gleichen Bedeu-
tung in Japan. / ist das indianische Zeichen für „Sonne". Es besteht
ebenfalls nur in der Nachbildung eines runden Gegenstandes, wie
das vorige; aber der größere Umfang des mit beiden Händen gebildeten
Kreises deutet die erhebliche Größe an. Zur näheren Begrenzung
der Bedeutung werden zuweilen noch die so zusammengefügten Hände
von Osten nach Westen bewegt: gleichsam ,,der große runde Gegen-
Nachbildende Gebärden.
175
stand, der von Osten nach Westen geht". Die Unbestimmtheit dieses
Kreiszeichens macht es übrigens auch in anderem Sinne verwend-
bar. So dient es nach Prinz Wied zur Bezeichnung eines indianischen
,, Dorf es", wo zur bestimmteren Hervorhebung dieser Vorstellung
die Zeigefinger und Daumen etwas voneinander entfernt werden, um
die beiden Eingänge, die durch die Umzäunung des Dorfes führen,
anzudeuten. Ein Zelt kann, wie in g, durch eine einzige Hand nach-
Fig. 28. Nordamerikanische Handgebärden.
gebildet werden, deren Hohlfläche nach vorn sieht, und deren Finger-
spitzen so nach oben gekehrt sind, daß sich einige Fingerglieder kreuzen,
ähnlich den Zeltstangen. Wird die Hand ohne diese Kreuzung der
Finger noch stärker gehöhlt, wie in h, und nach oben gekehrt, so bedeutet
dies ein „Trinkgefäß" oder in übertragener Bedeutung auch den ,, Trank",
das „Wasser". Eine etwas vollständigere Weise für die Bezeichnung
des Zeltes ist die in i dargestellte zweihändige Gebärde, bei der durch
die Kreuzung der Finger beider Hände die Kreuzung der Zeltpfähle
176 Die Gebärdensprache.
wiedergegeben ist. Werden die Finger der Hände gekreuzt und mit
dem Rücken nach vorn gekehrt, wie in h, so bedeutet dies ein ,, Block-
haus", wobei wiederum die Kreuzung der Finger die Anordnung der
Blöcke nachbildet. Die mit der Hohlhand und den ausgestreckten
Fingern nach oben gekehrte Hand in l bezeichnet endlich, wenn sie
bei aufwärts gekehrtem Arm ausgeführt wird, einen ,,Baum", mit
abwärts gegen den Boden gekehrtem einen ,, Strauch" oder das
„Gras".
Eine weitere Reihe plastischer Handgebärden zeigt die Fig. 28.
Wird die nämliche Handstellung gewählt wie in l der vorigen Figur,
während die Finger mehr horizontal gelagert sind und sich die Hand
gleichzeitig aufwärts bewegt (m), so bedeutet dies ,, Rauch". Beide
Hände in umgekehrter, abwärts gerichteter Haltung und mit gleich-
zeitiger Bewegung im selben Sinne (n) bezeichnen ,, Regen". Tiere
drückt der Indianer wie der Neapolitaner durch die Umrißkonturen
des Kopfes oder anderer charakteristischer Körperteile aus. So be-
zeichnet die in f dargestellte Handform die Tatze des „Bären", die
in q den Kopf des ,, Pferdes", die in r den der „Antilope". Diese an
sich vieldeutigen Gestalten können aber natürlich erst durch den
Zusammenhang der Rede oder durch hinzugefügte andere Zeichen
verständlich gemacht werden: so das Pferd, indem man dem Zeichen
desselben das in o wiedergegebene für ,, reiten" beifügt.
In vielen andern Fällen wird der Sinn einer bestimmten plasti-
schen Gebärde dadurch näher bestimmt, daß mit ihr eine den Um-
rißlinien des Gegenstandes folgende zeichnende Bewegung verbunden
ist. So kann, wie schon erwähnt, das Zeichen für „Sonne" (Fig. 27 /)
verdeutlicht werden, indem man gleichzeitig eine rasche Bewegung
von Osten nach Westen ausführt. Die nämliche Gebärde nimmt aber
die Bedeutung ,,Tag" an, wenn die zum Kreise verbundenen Hände,
oder wenn bei einfacherer Ausführung die einzelne den Kreis dar-
stellende Hand (e Fig. 27) von Osten nach Westen und dann wieder
zurückbewegt wird. Das Zeichen für ,, Wolke" besteht gewöhnlich
darin, daß beide Hände in der Höhe des Kopfes die Form eines herab-
hängenden Wolkenbauchs nachbilden, ein Zeichen, welches dann,
um den bewölkten Himmel auszudrücken, mit der Bewegung des
Zeigefingers gegen den Himmel verbunden wird. Mallery hat schon
Nachbildende Gebärden. 177
darauf hingewiesen, daß diese und andere Gebärden auffallend an die
Symbole erinnern, mit denen die gleiclien Gegenstände in der Bilder-
schrift der Indianer bezeichnet werden, während zugleich zwischen
den offenbar unabhängig entstandenen Formen der Bilderschrift
verschiedener Völker eine ähnliche universelle Verwandtschaft be-
steht wie zwischen den entsprechenden Gebärdezeichen ^).
Abgesehen von den Händen, die durch die Beweglichkeit der
Finger zur Darstellung plastischer Formen in bevorzugter Weise ge-
eignet sind, ist es noch die mimische Muskulatur des Angesichts, die
bei der Erzeugung plastischer Gebärden mitwirkt. Aber während
die Hand alle möglichen äußeren Gegenstände nachzubilden vermag,
ist das Angesicht immer nur imstande, sich selbst in den verschiedenen
Zuständen wiederzugeben, in die es durch den Ausdruck der Affekte
versetzt wird. Wie die Hand die auf Objekte bezogenen Vorstellungen,
so deutet daher die Plastik der mimischen Muskeln alle jene subjek-
tiven Zustände an, die durch die Mimik des Angesichts ausgedrückt
werden können: demnach in erster Linie die Gefühle und Affekte,
dann aber auch andere Zustände des Bewußtseins, die, wie Schlaf
und Tod oder gespannte Aufmerksamkeit, vorzugsweise an mimischen
Merkmalen zu erkennen sind. Die Plastik des Angesichts besteht also
in einer Verwertung des natürlichen Mienenspiels für die Gebärden-
sprache, bei der aber eine bestimmte Gebärde nicht mehr direkt den
ihr entsprechenden Seelenzustand selbst, sondern nur noch die Vor-
stellung dieses Zustandes ausdrückt. Diese Übertragung ist eine so
naheliegende, daß die hierher gehörenden Gebärden, im Unterschied
von der nur in den entwickelteren Zeichensprachen ausgebildeten
Plastik der Hände, ein sehr frühes und allgemein verbreitetes, zu-
gleich aber auch ein überaus beharrliches Besitztum der Gebärden-
sprache sind. So werden ganz allgemein ,, Freude", „Schmerz", ,, Trauer",
„Kummer", „Zorn" und andere Affekte lediglich durch ihren natür-
lichen mimischen Ausdruck angedeutet, während meist noch hin-
weisende oder zeichnende Gebärden zu Hilfe kommen. Ähnlich wird
der Begriff der ,, Aufmerksamkeit" bei Taubstummen und Wilden
1) Mallery a. a. 0. S. 349 ff. Vgl. auch Tylor a. a. 0. S. 105 ff., sowie unten
V, 3.
Wnndt, Völkerpsychologie. I. 4. Anfl. 1^
;[78 I^^® Gebärdensprache.
durch den gespannten Gesiclitsausdruck, unterstützt durch die Er-
hebung des Zeigefingers, ausgedrückt. Zur Bezeichnung von „Schlaf"
und ,,Tod" wird der Kopf mit geschlossenen Augen auf die rechte
Hand gelegt. Wird die hinweisende Bewegung des Zeigefingers auf
den Boden beigefügt, so sagt dies, daß der Tod, gleichsam der „Schlaf
dort unten", gemeint sei.
4. Mitbezeichnende Gebärden.
Als eine zweite Unterform darstellender Gebärden wurden oben
(S. 164) die mitbezeichnenden unterschieden. Ihre charakteristische
Eigenschaft besteht darin, daß sie nicht den Gegenstand selbst in
seinen gesamten Umrissen oder in denen eines besonders in die Augen
fallenden Teiles wiedergeben, sondern daß sie irgendein sekundäres,
willkürlich herausgegriffenes Merkmal zu seiner Bezeichnung wählen.
Natürlich ist zwischen dieser und der vorigen Form keine scharfe
Grenze zu ziehen. So wird man z. B. die in der unteren Reihe der Fig. 28
mitgeteilten Beispiele (p, q, r) noch zur vorigen Gattung, die An-
deutung der Ziege durch die in die Luft gezeichneten Konturen ihres
Bartes, oder die des Esels durch die seiner Ohren schon zu den mit-
bezeichnenden Gebärden stellen können. Die Allmählichkeit des
Übergangs liegt hier, wie in andern ähnlichen Fällen dieses Gebiets,
in der Natur der Sache. Alle Arten darstellender Gebärden sind eben
auf gemeinsamem Stamm erwachsene Entwicklungsformen. Wo
statt der Umrißzeichnung oder der plastischen Wiedergabe ein neben-
sächliches Merkmal zureicht, da begnügt sich die Gebärde mit der
Andeutung eines solchen, das dann durch Assoziation das Erinnerungs-
bild wachruft.
Wie nun die nachbildenden Gebärden in doppelter Gestalt vor-
kommen, als in die Luft geschriebene flüchtige Bilder oder Umriß -
Zeichnungen, und als dauerndere plastische Nachbildungen, so sind
auch bei den mitbezeichnenden eine solche vergängliche und eine blei-
bendere Form zu unterscheiden; nur daß beide noch häufiger ineinan-
der übergehen und sich verbinden können. Übrigens trifft es auch
hier zu, daß die vergängliche, zeichnende Form mehr der ursprüng-
lichen, neugebildeten Gebärdensprache, die dauerndere, plastische
Mitbezeichnende Gebärden. 179
der traditionell überlieferten eigen ist. So bezeichnet der Taubstumme
den Begriff „Mann'*, indem er die Gebärde des Hutabnehmens aus-
führt. Die Gebärde ist natürlich ein spezifisch abendländisches Zeichen,
da es von der im Orient im allgemeinen unbekannten Sitte des Hut-
abnehmens beim Gruße herrührt. Da aber diese Sitte bei uns nur für
den Mann, nicht für die Frau gilt, so ist das in der Gebärde ausgedrückte
Merkmal vollkommen zureichend. Eine „Frau" wird bei den Taub-
stummen in der Regel durch die auf die Brust gelegte Hand ausgedrückt.
Die Zisterzienser bedienten sich zum gleichen Zweck einer mit dem
Zeigefinger horizontal über die Stirn ausgeführten Bewegung, um
damit die geringere Körpergröße anzudeuten. Daß das Zeichen kein
zufälliges und vereinzeltes ist, dafür spricht übrigens die Tatsache,
daß Prinz Wied bei den nordamerikanischen Indianern das nämliche
Zeichen beobachtete. Der ,,Mann" wurde bei ihnen im Gegensatz
dazu durch Erheben des Zeigefingers über das Haupt bezeichnet.
Doch könnte darin auch schon eine mitwirkende symbolische Be-
deutung, die der beherrschenden Stellung des Mannes, gesehen werden.
Das ,,Kind" bezeichnet der deutsche Taubstumme meist durch Schau-
keln des rechten Ellbogens auf der linken Hand, gleichsam als das,
was auf dem Arm getragen und geschaukelt wird. Die Zisterzienser
drückten denselben Begriff durch den an den Mund geführten Zeige-
finger aus, eine Gebärde, die nach Mallerys Nachweisungen auch bei
den Indianern weitverbreitet ist, und die genau ebenso in der hiero-
glyphischen Bilderschrift der Ägypter und in den Darstellungen des
„Harpokrates", des „Gottes des Schweigens", wiederkehrt. In der
Tat soll mit der Gebärde offenbar die Sprachlosigkeit des Kindes
angedeutet werden. Eine verwandte Gebärde ist in Japan für ein
„altes Weib" in Gebrauch; der Zeigefinger weist aber dabei auf die
Zähne oder auf Zahnlücken hin, die Gebärde hat also wohl die Be-
deutung der ,, Zahnlosen". Weitere mitbezeichnende Gebärden aus
der Taubstummensprache, die den Charakter einer in die Luft ge-
zeichneten Bilderschrift besitzen, sind die folgenden: ,, Feuer" Blasen
gegen den aufgehobenen Zeigefinger, ,, Butter" Bewegung des Butter-
streichens, ,,Salz" die des Salzstreuens, ,, Stein" die des Aufhebens
vom Boden und Klopfen an die Zähne, um die Härte anzudeuten.
Die letztere Gebärde allein kann auch für die Eigenschaft ,,hart"
12*
180
Die Gebärdensprache.
oder in anderem Zusammenhang für ,,weiß" gebraucht werden. Einige
fernere Gebärden von ähnlicher Art sind als begleitende und die Be-
deutung determinierende Bewegungen zu nachbildenden, nament-
lich plastischen schon erwähnt worden: so die Bewegung von Osten
nach Westen zum Ausdruck der Sonne oder des Tages, die Bewegung
der das Bild eines Baumes wiedergebenden Hand nach oben, um das
Wachstum anzudeuten, usw.
Gegenüber allen diesen in veränderlichen Bewegungen bestehen-
den Zeichen, an denen meist ausschließlich die Hände beteiligt sind,
verhalten sich die plastischen Gebärden von mitbezeichnendem
rv"*x-~
Fig. 29. Mimische Zeichea der Neapolitaner
Charakter insofern eigenartig, als sie in der Regel durch ein eigen-,
tümliches Zusammenwirken der Hände und des Angesichts zustande
kommen. Dabei gibt der Ausdruck des Angesichts gewissermaßen
den Grundton der für das Verständnis der Gebärde unerläßlichen
Gefühlsrichtung an, während die eigentliche Funktion der Mitbezeich-
nung der mit dem Gesicht in irgendwelche Verbindung gebrachten
Hand zufällt. Diese plastische Unterform läßt sich demnach auch
als eine Modifikation jener Gebärden betrachten, bei denen die Vor-
stellmig einer Gemütsbewegung durch ihren mimischen Gesichts-
ausdruck wiedergegeben wird (S. 174 f.). Die Fig. 29 zeigt einige Bei-
spiele, die der neapolitanischen Gebärdensprache entnommen sind^
Mitbezeichnende Gebärden. 181
aber in denselben oder ähnlichen Formen auch sonst vorkommen^).
So ist die in a dargestellte Gebärde der ebenso alte wie allgemeine
Ausdruck der „Stille", zunächst als Warnung oder Aufforderung
gegenüber einem andern, dann aber auch als allgemeines Zeichen
für den Begriff überhaupt. Die Gebärde zerfällt, wie man sieht, in
einen mimischen und in einen pantomimischen Bestandteil. Jener
deutet durch die fest geschlossenen Lippen das Schweigen, durch
den fixierenden Blick die erhöhte Aufmerksamkeit und, wenn der
Blick auf eine bestimmte Person gerichtet ist, die an diese gerichtete
Auffordermig an. Der pantomimische Teil, der erhobene Zeigefinger,
verleiht der letzteren den Charakter des Befehls. Beide Bestandteile
unterstützen und interpretieren sich demnach wechselseitig. Nicht
in gleicher Weise eindeutig ist die in h dargestellte Gebärde. Das
Erfassen der beiden Wangen hat zunächst die Bedeutung des Hin-
weises: es will den Blick auf das Angesicht, vor allem auf denjenigen
Teil desselben lenken, der hauptsächlich für dessen Form bestimmend
ist. Was mit der Hinweisung gemeint ist, darüber entscheidet aber,
ähnlich wie bei der vorigen Figur, der mimische Ausdruck. Ist dieser,
Avie in &, ein freundlich lächelnder, so bezeichnet die Gebärde ein an-
genehmes, schönes Gesicht oder allgemein ,, Schönheit". Wird das
Angesicht zur Fratze verzerrt, so nimmt sie im Gegenteil den Begriff
der ,, Häßlichkeit" an. Wird es in die Länge gezogen, während der
Druck der Finger den so entstehenden Eindruck der Hohlwangig-
keit unterstützt, so gewinnt sie die Bedeutung der ,, Magerkeit",
,, Dürftigkeit". Werden umgekehrt die Wangen aufgeblasen, so wird
dadurch ein Vollmondsgesicht oder allgemein ,, Wohlbeleibtheit"
ausgedrückt. Bei der in c dargestellten Gebärde wirken der mimische
und der pantomimische Teil zusammen, um „Hunger" oder, in etwas
übertragenem Sinne, „Bedürftigkeit" wiederzugeben. Der Mund
ist begehrlich geöffnet, während der übrige mimische Ausdruck die
Unlust des Hungernden andeutet. Dazu macht die rechte Hand eine
auf den Mund hinweisende Gebärde, die durch die eigentümliche,
das Ergreifen eines Bissens andeutende Krümmung der Finger unter-
stützt wird. Eine in Japan übliche Gebärde, der in den Mund und
1) A. de Jorio a. a. O. Taf. 21.
182 I^G Gebärdensprache.
zwischen die Zähne gesteckte Zeigefinger, verbunden mit dem begehr-
lichen Ausdruck des Angesichts, drückt ursprünglich wohl das näm-
liche aus; sie hat aber den allgemeinen Begriff des ,, Wunsches" an-
genommen und ist damit in eine symbolische Gebärde übergegangen.
Eine ähnliche Zwischenstufe zwischen Mitbezeichnung und Symbol
hat die im Neapolitanischen gebrauchte Bewegung des Streichens
mit der flachen Hand über die Stirn, während das Gesicht den Aus-
druck der Anstrengung zeigt. Die Gebärde veranschaulicht das Ab-
wischen des Schweißes bei anstrengender Arbeit. Sie bedeutet daher
zunächst physische Anstrengung, dann aber ,,Mühe'' und „Ermüdung"
überhaupt. Wie in diesen, so geht noch in vielen andern Fällen auch
die mitbezeichnende Form in die dritte und für die innere Entwick-
lung der Gebärdensprache wichtigste Gattung darstellender Gebärden,
in die der symbolischen, über.
5. Symbolische Gebärden.
Wenn wir die Gebärdensprache dem Begriff der Sprache über-
haupt unterordnen, so kann bei ihr von Symbolen zunächst in jenem
allgemeinsten Sinne geredet werden, in welchem wir auch bei der
Lautsprache das Wort ein Symbol des Begriffs nennen. Symbol
bedeutet hier lediglich ein Zeichen irgendwelcher Art, das uns an den
zu denkenden Begriff erinnert, gleichgültig, ob die zwischen beiden
stehende Verbindung auf irgendeiner inneren Beziehung beruht, oder
ob sie bloß eine äußere und konventionelle ist. Für unser heutiges
Denken ist, von wenigen Fällen abgesehen, das Wort in der Tat nur
solch ein äußeres Zeichen. Von der Vorstellung, die es ausdrückt,
ist es an sich ebenso verschieden wie ein algebraisches Symbol von
dem Größenbegriff, dem es substituiert wird. Höchstens hat es den
Vorzug der konstanteren Assoziation mit seiner Bedeutung. Dies
ist nun zugleich der Punkt, wo sich die Gebärdensprache von der
Lautsprache scheidet. Die Gebärden erscheinen uns nicht als bloß
äußere und zufällige, sondern als adäquate Symbole der Vorstellungen.
Dadurch kommt es aber, daß sich hier aus dem allgemeinen Begriff
der ,, Gebärdensymbole'*, der auf jede irgendeine Vorstellung aus-
Symbolische Gebärden. 183
drückende Gebärde anwendbar ist, der engere Begriff der symbo-
lischen Gebärden aussondert. Ibn werden wir nämlich dann an-
wenden können, wenn die Gebärde nicht, wie in den bisherigen Fällen,
eine unmittelbare Andeutung der Vorslellung enthält, sondern
wenn sie mittelbar, infolge irgendwelcher durch Assoziation be-
wirkter Begriffsübertragungen, auf sie hinweist. Da man unter einem
., Symbol'' ein sinnliches Bild versteht, das einen von ihm selbst ver-
schiedenen, aber zu ihm in assoziacivei Beziehung stehenden Begriff
darstellen soll, so wird im Sinne dieser allgemeinen Bedeutung eine
,, symbolische Gebärde" eine solche sein, die zunächst eine bestimmte
sinnliche Vorstellung erweckt, um mit dieser einen andern, von ihr
abweichenden, jedoch irgendwie durch innere Eigenschaften asso-
ziierten Gedankeninhalb zu verbinden. Demnach können wir die
symbolischen Gebärden kurz als die mittelbar andeutenden von
allen andern als den unmittelbar andeutenden unterscheiden.
Wenn ich auf einen Gegenstand hinweise, so ist das eine unmittel-
bare Andeutung desselben. Ebenso, wenn ich sein Bild in die Luft
zeichne oder seine plastische Form mit der Hand nachbilde. Und
auch dann noch, wenn ich irgendeine Eigenschaft oder eine äußere
Beziehung des Gegenstandes hervorhebe, die ihm nur unter gewissen
Bedingungen zukommt, wird dies dem Gebiet unmittelbar andeuten-
der Zeichen zuzurechnen sein. Anders bei der mittelbaren Andeutung.
Hier wird durch die Gebärde eine Vorstellung ausgedrückt, die nicht
selbst der mitzuteilende Begriff ist, auch sich nicht als begleitendes
Merkmal mit ihm verbindet, sondern die ihn erst durch entferntere
psychologische Zwischenglieder im Bewußtsein wachruft. Der Unter-
schied von der nächstverwandten mitbezeichnenden Gebärde besteht
aber darin, daß die S5rmbolische nicht eine zum auszudrückenden
Begriff selbst gehörende, sondern eine von ihm ganz verschiedene
Vorstellung erweckt, die erst vermöge der ihr beigelegten Eigen-
schaften jenen Begriff vertreten kann. Man darf somit hier bei dem
Begriff des Symbols nicht an die Weiterbildungen denken, die er
im Gebiet der symbolisierenden Kirnst findet. Weder braucht die
symbolische Gebärde Gedankeninhalte, die der sinnlichen Anschau-
ung fern liegen, noch überhaupt abstrakte Begriffe auszudrücken.
Vielmehr besteht das Wesen des Symbols zunächst nur darin, daß.^
184 Die Gebärdensprache.
es irgendeinen geistigen Inhalt in einer Form darstellt, die durch irgend-
welche Mittelglieder mit ihm verbunden ist.
Nun besteht bei jeder Gebärde die Beziehung zwischen ihr und
der Vorstellung, die sie bedeutet, in einer Assoziation. Bei den bis-
her behandelten Zeichen führt diese Assoziation unmittelbar von der
Vorstellung zu der Gebärde und von dieser wieder direkt zu der Vor-
stellung zurück. So assoziiert sich die hinweisende Bewegung ohne
weiteres mit dem Gegenstand, gegen den sie gerichtet ist. Nicht min-
der erwecken nachbildende und mitbezeichnende Gebärden unmittel-
bar die entsprechenden Vorstellungen, weil ihre eigenen Merkmale
oder diejenigen, auf die es ankommt, mit Merkmalen des Gegenstandes
übereinstimmen. Dies ändert sich bei den symbolischen Gebärden,
indem hier mindestens eine Zwischenvorstellung, die ebenso-
wohl mit der Gebärde selbst wie mit der auszudrückenden Vorstellung
assoziativ verbunden ist, zwischen beide tritt. Der Unterschied zwischen
diesen Fällen entspricht demnach durchaus dem zwischen unmittel-
barer und mittelbarer Assoziation. So ist die gleich einem
Schöpfgefäß gehöhlte Hand eine auf unmittelbarer Assoziation be-
ruhende Gebärde für ein ,, Trinkgefäß" (Fig. 27 h). Die nämliche
braucht aber der Indianer, um „Wasser" auszudrücken; hier ist es
dann offenbar eine mittelbare Assoziation, durch welche Gebärde und
Gegenstand miteinander verbunden werden: die Gebärde erweckt
die Vorstellung eines Trinkgefäßes, das Trinkgefäß die seines Inhalts.
In dieser neuen Anwendung ist daher die Gebärde bereits im all-
gemeinsten Sinn eine symbolische: sie benutzt eine Vorstellung, nicht
um diese selbst, sondern um einen von ihr verschiedenen Begriff zu
bezeichnen. Die Bedeutung bleibt dabei eine sinnliche, und es kann
daher leicht in diesem Fall die symbolische durch eine direkt an-
deutende Gebärde ersetzt werden, z. B. durch Hinweisung auf zu-
fällig vorhandenes Wasser oder durch die mitbezeichnende Hand-
lung des Trinkens. Gerade die symbolischen Gebärden sind nun in-
sofern für die psychologische Entwicklung des Symbolischen überhaupt
lehrreich, als sie uns alle möglichen Übergangsstufen von dieser primi-
tiven Form zu der ausgebildeteren darbieten, wo das Symbol sinn-
licher Ausdruck für einen an sich sinnlich nicht darzustellenden Be-
griff wird. Doch schiebt sich dann in der Regel zugleich eine größere
Symbolische Gebärden. 185
Anzahl von Assoziationsgliedern zwischen die in der Gebärde direkt
iiusgedrückte und die von ihr angedeutete Vorstellung. So wird die
plastische Nachbildung des Eselskopfs mit der Hand (Fig. 26 b und c),
ebenso wie das bekannte das Ohr des Esels am eigenen Ohr durch
•die ausgestreckte Hand andeutende Zeichen, wohl selten in der ur-
sprünglichen Bedeutung, sehr häufig aber als symbolischer Ausdruck
der ,, Dummheit" gebraucht. Auch hier ist die Symbolik noch "eine
einfache, weil nur eine einzige Vorstellung als assoziatives Zwischen-
glied existiert, nämlich die dem Esel sprichwörtlich zugeschriebene
X)ummheit. Schon tritt aber in diesem Fall das Symbol für einen
Begriff ein, der anders als symbolisch überhaupt nicht ausgedrückt
^werden kann, weil er sich auf keine sinnliche Eigenschaft bezieht.
Aus solchen einfachsten symbolischen Gebärden, bei denen eine einzige
einfache Assoziation von der direkten zur symbolischen Bedeutung
mberführt, können nun leicht durch die Dazwischenkunft weiterer
Assoziationsglieder symbolische Gebärden von verwickelterem Ur-
:sprung hervorgehen. Sie sind dann aber auch meist vieldeutiger Art
und erst durch den Zusammenhang der Gedanken verständlich. So
kann die plastische Nachbildung des gehörnten Stierkopfs (a Fig. 26)
bei dem Neapolitaner, neben ihrer unmittelbaren Bedeutung, sym-
bolisch die „Stärke", als die Haupteigenschaft des Stieres, dann die
,,, Gefahr", zunächst die vom Anstürmen eines wütenden Stieres
drohende, hierauf die Gefahr überhaupt, und endlich infolge einer
dritten Übertragung den ,, Wunsch vor Gefahr behütet zu werden"
ausdrücken. Hier springt alsbald in die Augen, wie die fortschreitende
Zunahme assoziativer Zwischenglieder die symbolische von der nach-
bildenden Bedeutung immer weiter entfernt.
Geht man bei der Betrachtung der symbolischen Gebärden von
dem in diesen Beispielen hervortretenden Verhältnis zu den nach-
bildenden und mitbezeichnenden aus, so scheiden sich jene in zwei
große Gruppen, je nachdem sie in einem leicht nachzuweisenden Über-
gang aus andern Gebärdeformen, oder aber von Anfang an in sym-
bolischer Bedeutung entstanden sind. Wir können demnach diese
beiden Gruppen als die der sekundären und der primären sym-
boUschen Gebärden unterscheiden. Von ihnen sind jedoch die sekun-
dären die ursprünglicheren. Erst nachdem überhaupt auf dem Wege
186 Die Gebärdensprache.
jener allmähliclien assoziativen Verschiebung der Bedeutung, die
oben geschildert wurde, andere Formen darstellender Gebärden sym-
bolische Bedeutung angenommen haben, wird wahrscheinlich eine
primäre Symbolik möglich, bei der ein bestimmtes Zeichen von An-
fang an nur symbolisch gemeint ist. Natürlich schließt dies nicht aus,
daß nicht auch dann der Gebärde irgendein nicht symbolischer Sinn
untergeschoben werden kann; ja es liegt in der Natur der Sache, daß
dies immer möglich ist, da eben das Symbol in der Übertragung irgend-
eines geistigen Inhalts in eine sinnliche Form besteht. Diese sinnliche
Form selbst kann darum stets als die unmittelbare Bedeutung des
Symbols angesehen werden. Nur ist bei den primären Symbolen der
sinnliche Ausdruck so weit von der geistigen Bedeutung entfernt,
daß ohne die Kenntnis des wirklichen Zusammenhangs ein Schluß
von jenem auf diese niemals möglich sein würde. Dies ist dadurch
bedingt, daß hier der Begriff in seiner allgemeinen Gestaltung der
in der Gebärde für ihn gewählten sinnlichen Verkörperung voraus-
ging. Darum sind die primären symbolischen Gebärden durchweg
solche, die abstrakten Begriffen entsprechen, woraus sich ohne
weiteres ihre spätere Entstehung erklärt. Übrigens ist in vielen Fällen
kaum festzustellen, ob ein gegebenes, seit langer Zeit ausschließlich
in symbolischem Sinne gebrauchtes Zeichen von Anfang an diesen
Charakter hatte. Nur in gewissen Grenzfällen kann man mit zu-
reichender Wahrscheinlichkeit hierüber entscheiden. So ist es wohl
als ein sekundäres Symbol anzusehen, wenn der Indianer, um den Be-
griff ,, Häuptling" auszudrücken, Arm und Hand über sein Haupt
erhebt: die einfach sinnliche Bedeutung der übertragenden Körper-
größe liegt hier noch nahe genug. Wenn dagegen Indianer wie Taub-
stumme die ,,Lüge" durch eine mit dem Zeigefinger der linken Hand
vom Mund aus nach links und abwärts gerichtete Bewegung andeuten,
gleichsam als eine „schiefe, links gerichtete Rede", so haben wir allen
Grund, hierin ein primäres Symbol zu sehen. Denn es läßt sich denken,
daß für den Begriff Lüge, nachdem er vorhanden war, dieses sinn^
liehe Zeichen gewählt wurde; aber dem Zeichen selbst läßt sich ab-
gesehen von jenem Begriff keine der unmittelbaren Anschauung ent-
sprechende Bedeutung zuschreiben. Anderseits ist es natürlich un-
möglich, festzustellen, ob etwa die Gebärde des Eselskopfs früher
Symbolische Gebärden. 187
für das wirkliche Tier oder zur Verspottung eines Dummkopfs gebraucht
wurde. In noch andern Fällen mag ein Teil der Gebärde eine sekun-
däre, ein anderer eine primäre Symbolik enthalten: so z. B. die Ge-
bärde der Indianer für ,, Frieden^', die in der Andeutung einer Pfeife
und in der Hinzufügung irgendeiner Gruß- oder Freundschafts-
gebärde, wie der ineinander verschlungenen Hände oder der umeinan-
der geschlungenen Zeigefinger (Fig. 32 l), besteht. Hier ist die Pfeife
ein der Sitte entstammendes sekundäres, das Freundschaftszeichen
dagegen offenbar ein primäres Symbol. Wegen dieses mannigfachen
Ineinandergreifens von Gebärden verschiedenen Ursprungs mid der
oft zweifelhaften Stellung anderer würde eine Klassifikation der sym-
bohschen Gebärden auf dieser Grundlage kaum durchzuführen sein.
Die Unterscheidung bleibt aber deshalb wichtig, weil uns die Existenz
der sekundären Symbole den Weg andeutet^ auf dem ursprünglich
überhaupt ein Symbolik entstehen konnte, ob diese nun der Gebärden-
oder der Lautsprache oder, wie in der Bilderschrift, den Anfängen
bildender Kunst angehören mag.
Der genetische Zusammenhang der symbolischen mit den un-
mittelbar nachbildenden Gebärden ist schließlich auch daraus zu
erkennen, daß die hier unterschiedenen beiden Klassen zeichnender,
rasch vorübergehender und plastischer, dauernder Zeichen bei den
symbolischen Gebärden ebenfalls wiederkehren. So ist die oben er-
wähnte Bewegung des Zeigefingers vom Mund aus in schräger Rich-
tung für ,,Lüge", in geradliniger für ,, Wahrheit" eine zeichnende
Gebärde; ebenso, wenn bei den Indianern die Erhebung der Hand
über das Haupt den ,, Häuptling", die Umrißzeichnung der Pfeife
den „Frieden" bedeutet. Nicht minder gehört hierher die weitere
indianische Gebärde der Bewegung des Zeigefingers vom Auge des
Redenden zu dem eines andern oder vom Herzen zum Herzen, um
Übereinstimmung der Anschammgen und der Gesinnungen auszu-
drücken, sowie die auch bei den Zisterziensern vorkommende Ge-
bärde für „Zorn": die Bewegung beider Hände von der Herzgrube
aus, das Überwallen oder Ausströmen des Herzens andeutend. Die
weit verbreiteten Gebärden der Bejahung, der Verneinung, des Zweifels,
der Zustimmung, der Unterwürfigkeit, der Zuneigung, die aus den
die Rede begleitenden Ausdrucksbewegungen der Affekte in die selb-
Igg Die Gebärdensprache.
ständige Gebärdensprache übergegangen sind, können ebenfalls dabin
gerechnet werden. Die Modifikationen, die bei ihnen beobachtet
werden, bieten zugleich gute Beispiele für die Veränderungen, deren
eine bestimmte Gebärde fähig ist. Gerade die symbolischen Gebärden
bieten solchen Variationen einen weiten Spielraum. In Anbetracht
dieses Spielraums ist sogar die vorhandene Übereinstimmung in vielen
symbolischen Gebärden und so vor allem auch in diesen allgemeinen
eine überraschend große. Bei der Bejahung und Verneinung ist das
allerdings bestritten worden, und man hat es als einen Beweis für den
Mangel jedes inneren Zusammenhangs zwischen dem Gestus und
seiner Bedeutung bezeichnet, daß die bejahende und verneinende
Gebärde im Orient fast im geraden Gegenteil derjenigen Kopf-
bewegungen bestehe, die wir im Abendland anwenden^). Will der
moderne Araber etwas bejahen, so schüttelt er den Kopf; zum Zeichen
der Verneinung wirft er den Kopf nach rückwärts und schnalzt zu-
gleich mit der Zunge. Schon dies ist nun freilich kein voller Gegen-
satz. Was hier als Zeichen der Verneinung geschildert wird, ist eine
Gebärde, die mit einer in Süditalien im Sinne der Abweisung oder
Geringschätzung gebrauchten die größte Verwandtschaft hat. Diese
besteht darin, daß zuerst die Hand unter das Kinn gelegt und dann
gegen den Angeredeten bewegt wird, während der Kopf sich etwas
rückwärts wendet^). Mit ihr ist dann wieder die weit verbreitete
des ,, Schnippchenschiagens", bei der Mittelfinger und Daumen zu-
erst gegeneinander gestemmt und hierauf gegen den Angeredeten
losgeschnellt werden, nahe verwandt. In diesen drei Fällen ist die
nämliche abweisende und durch die Art der Ausführung zugleich
die Geringfügigkeit des Gegenstandes andeutende Bewegung nur
verschiedenen Organen zugewiesen. Denn das Schlagen des ,, Schnipp-
chens" besteht eigentlich in einer Übertragung der von dem Orien-
talen geübten Bewegung der Zunge auf die beiden Finger; und noch
unmittelbarer wiederholt sich weithin sichtbar die nämliche Bewegung
in der neapolitanischen Gebärde, bei der auch die begleitende Rück-
wärtsbewegung des Kopfes beibehalten ist. Befremdlicher ist aller-
1) Goldziher, Zeitschr. für Völkerpsych. Bd. 16, S. 377.
2) A. de Jorio a. a. 0. Taf. 21, Fig. 2.
Symbolische Gebärden. 189
dings das Schütteln des Hauptes als Zeicben der Bejahung. Wie es
scheint, ist dies aber eine moderne Gebärde, die aus irgendwelchen
unbekannten Ursachen aus einer älteren, mit der unserigen über-
einstimmenden hervorging, da die mohammedanische Tradition aus
der Zeit des Propheten Vorwärts- und Kückwärtsbeugung des Kopfes
als die allgemeingültigen Zeichen der Bejahung und Verneinung an-
führt^). Daneben wird auch Schütteln des Gewandes mit der Hand
oder eine andere ähnliche, das Abschütteln von Staub andeutende
Gebärde als orientalisches Zeichen der Verneinung erwähnt; und
ebenso sind noch sonst, z. B. bei den Eingeborenen Amerikas, ana-
loge Zeichen der Zustimmung und der Ablehnung, wie sie der Euro-
päer mit dem Kopf ausführt, der Hand zugeteilt. Die Bejahung wird
dann durch eine Bewegung der rechten Hand von der Brust nach
vorn angedeutet, bei der zuletzt die Hand mit der Volarseite nach
oben geöffnet ist, die Verneinung durch eine in ihrem Anfang über-
einstimmende Bewegung, die aber in eine rasche Seitwärts- und Ab-
wärtswendung übergeht^). Alles dies bestätigt, daß es sich hier über-
all um Symbole handelt, die unabhängig entstanden und darum ver-
schiedener äußerer Gestaltungen fähig, jedoch in ihrem Grundcharakter
verwandt sind.
Ähnlich verhält es sich mit den mannigfachen Gebärden des
Grußes, der Freundschaft, der Zuneigung. Hier ist z. B. das Verhält-
nis der orientalischen Grußgebärden zu den abendländischen ein
solches, daß jene als gesteigerte, diese als abgeschwächte Gestaltungen
einer und derselben Grundform betrachtet werden können. Dabei
haben sich jedoch begleitende Gebärden hinzugesellt, die gelegentlich
jene hauptsächlich in der Neigung des Körpers, besonders des Hauptes
bestehende Grundform zum Teil verdrängen konnten: so die moham-
medanische Kreuzung der Arme über der Brust, die mit den begleiten-
den Gebetsworten zusammenhängt, oder die spezifisch abendländische
Entblößung des Hauptes, die wohl darauf zurückzuführen ist, daß
bei Römern wie Germanen der Helm oder Hut als Symbol der Frei-
1) Goldziher a. a. 0. S. 378.
2) Reise des Prinzen Wied II, S. 648, Nr. 34, 35. Mallery a. a. O.
S. 454 ff.
J^90 I^iß Gebärdensprache.
heit galt, wodurch dann die Abnahme desselben zum Symbol der
Unterwerfung wurde ^). Ähnlich ist der Kuß eine, wie es scheint,
auf die Kulturvölker der Alten Welt beschränkte Sitte. Doch überall,
wo er fehlt, finden sich andere ursprüngliche Ausdrucksformen von
gleicher Bedeutung, wie das Reiben der Nasenspitzen aneinander,
das Reiben oder Klopfen der Arme, der Brust oder anderer Körper-
teile, in denen sich der Trieb nach engster Verbindung mit dem Gegen-
stand der Liebe ausspricht^). Auch der Handschlag ist als Zeichen
der freundschaftlichen Begrüßung außerhalb der Grenzen abend-
ländischer Zivilisation unbekannt. Bei den nordamerikanischen In-
dianern war er einst nur als Symbol des Friedens heimisch — eine
Bedeutung, die wohl überall die ursprüngliche ist. Als solches der
Freundschaft wird er von ihnen noch jetzt fast nur im Verkehr mit
Weißen gebraucht. Unter ihnen selbst ersetzen ihn in dieser Beziehung
die sonstigen Symbole der Liebe und Zuneigung, die Umarmung oder
das Reiben der Brust und der Arme aneinander^).
Die angeführten Beispiele bieten so in ihren verschiedenen Formen
deutliche Belege für die abweichende psychologische Entstehung
symbolischer Gebärden. Die Zeichen für Wahrheit und Lüge, oder
die für Übereinstimmung der Ansichten und Gesinnungen durch Hin-
weisung auf Auge und Herz sind nur im Zusammenhang der eigent-
lichen Gebärdensprache möglich. Es ist nicht denkbar, daß sie anders
als aus dem Trieb der Mitteilung heraus entstanden seien. Dagegen
sind die einfache Bejahung und Verneinung sowie die verschiedenen
Gebärden, die Zuneigung, Freundschaft, Hochachtung und ähnliche
^) Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer, ^ S. 152.
2) Darwin, Ausdruck der Gemütsbewegungen, S. 218. R. Andree,
Ethnographische Parallelen und Vergleiche, II, 1889, S. 223 ff. Der Nasen-
gruß, für den Andree ganz bestimmte Verbreitungsbezirke nachweist,
könnte, wie dieser Autor vermutet, aus dem Beriechen hervorgegangen
sein, das, mit der feineren Ausbildung des Geruchssinns beim Natur-
menschen zusammenhängend, in einem primitiven Zustand die Unter-
scheidung von Stammesgenossen und Stammesfrqmden vermittelt haben
mag. Dann würde er übrigens zugleich eine sekundäre symbolische Ge-
bärde sein.
3) Mallery a. a. 0. S. 385.
Symbolische Gebärden. 191
Gefühle ausdrücken, zum Teil jedenfalls aus natürlichen Ausdrucks-
bewegungen hervorgegangen, die ursprünglich nur dem subjektiven
Zustand Befriedigung schafften und erst sekundär die Kundgebung
der Affekte selbst und dann endlich auch die Mitteilung von Vor-
stellungen bezweckten. Hierbei wurden sie allmählich zu bloßen An-
deutungen der einstigen Ausdrucksbewegungen abgeschwächt. Außer-
dem erfuhren sie in der Regel Bedeutungsänderungen: so z. B. beim
Übergang des Handschlags als Friedens- in ein Freundschaftssymbol,
oder der Entblößung des Hauptes als Zeichen der Unterwerfung in
eine bloße Achtungsbezeigung. Wie die erste Entstehung solcher
symbolischer Gebärden aus Ausdrucksbewegungen, so sind aber auch
die Metamorphosen ihrer Bedeutung Prozesse, die sich aus dem stetigen
Wandel der psychischen Zustände von selbst ergeben. Dagegen be-
sitzen jene Symbole, die, wie die Zeichen für Wahrheit und Lüge,
von Anfang an in der Absicht der Mitteilung entstanden sind, in höherem
Grade den Charakter willkürlicher Schöpfungen und gelegentlich
sogar absichtlicher Erfindungen. Dies schließt natürlich nicht aus,
daß die Bedingungen ihrer Entstehung trotzdem in allgemeingültigen
psychischen Eigenschaften und Anlagen begründet sein können. In
der Tat ist es nur aus solchen zu erklären, daß uns auch die Gebärden
dieser Art trotz ihrer scheinbaren Willkürlichkeit vielfach in gleichen
oder mindestens in analogen Gestaltungen unabhängig voneinander
begegnen.
Trifft auf diese Weise für die der zeichnenden Gebärde sich an-
schließenden Symbole das Merkmal einer gewissen Allgemeingültig-
keit zu, die allerdings mannigfache Variationen nicht ausschließt,
so nehmen auch hier wieder die plastischen Gebärden eine etwas
abweichende Stellung ein. Sie finden sich abermals vorzugsweise
in solchen Entwicklungsformen der Gebärdensprache, die eine längere
Vergangenheit hinter sich haben. Viele von ihnen sind daher innerhalb
bestimmter Gebiete konventionell geworden. Da sich zu diesen Be-
dingungen lokaler Beschränkung auch noch die Unbestimmtheit
und Vieldeutigkeit aller Symbolik hinzugesellt, so fehlt vor allem den
plastischen Gebärden von symbolischer Bedeutung in vielen Fällen
jene unmittelbare Verständlichkeit, die sonst der Gebärdensprache
eigen ist. Nach den bei ihnen zur Verwendung kommenden äußeren
192
Die Gebärdensprache.
Hilfsmitteln lassen sie sich übrigens in zwei Gruppen ordnen: in solche,
bei denen Angesicht und Hand zusammenwirken, und in andere, bei
denen die Hände ausschließlich die plastische Form darbieten. Die
erste dieser Gruppen schließt sich jenen plastisch -mimischen Gebärden
an, die durch den mimischen Ausdruck einer Gemütsbewegung die
Vorstellung derselben erwecken, indes die Hand zur näheren Bestim-
mung der Vorstellung mithilft (Fig. 29). Auch bei den symbolischen
Gebärden, die hierher gehören, ist der mimische Ausdruck für das
Verständnis der Gebärde entscheidend. Er gibt den allgemeinen Ge-
fühlston an, unter dem die begleitende Handgebärde aufgefaßt wer-
Fig. 30. Mimische Zeichen der Neapolitaner.
den soll. Diese bringt dann die entsprechenden Vorstellungen hinzu.
So ist in Fig. 30 das erste Bild (d) die in Neapel übliche Gebärde des
Mißtrauens. Zunächst dient sie der Warnung, in welcher Bedeutung
sie sofort leicht verständlich ist. Die linke Hand zieht das untere
Augenlid herab, um der Person, auf die der Blick gerichtet ist, zu
sagen, sie solle das Auge offen halten. Der Ausdruck aufmerksamer
Spannung im Gesicht, der durch den emporgehobenen Zeigefinger
Symbolische Gebärden. 193
der rechten Hand unterstützt werden kann, verstärkt diesen Ein-
druck, während ein leise lächelnder Zug den der Schlauheit hinzu-
fügt. Eine sehr merkwürdige Gebärde zeigt das zweite Bild (e). Es
ist der in Neapel geläufige Ausdruck für ,,Lüge" oder ,, Betrug", zu-
nächst ebenfalls im Sinne der Warnung gebraucht. Der Blick ist mit
einem ähnlichen, noch etwas gesteigerten Grade der Aufmerksam-
keit und Schlauheit wie vorhin auf den Gewarnten gerichtet. Die
linke Hand, zwischen Krawatte und Hals gesteckt, scheint einem allzu
starken Bissen, der verschluckt werden muß, den erforderlichen Platz
schaffen zu sollen. Ausdrücke wie ,,eine Lüge verschlucken" oder
„ein starker Bissen" für die Zumutung, eine unwahrscheinliche Sache
zu glauben, verdeutlichen die sinnliche Grundlage dieses Symbols.
Die in / dargestellte Gebärde endlich wird für ,, Schlauheit", jjFalsch-
heit" gebraucht. In Sprichwort wie Gebärde ist ja die Nase das Sinnes-
organ, das als spezifische Verkörperung feiner Empfindlichkeit, scharfen
Spürsinns, dann aber auch der Schlauheit, die sich nach außen betätigt,
gebraucht wird. Das deuten hier Daumen und Zeigefinger an, indem
sie die Nase umfassen, während die geöffneten Augen Wachsamkeit
ausdrücken. Noch bei einer andern, als Verspottung sehr verbreiteten
Gebärde, bei der die Hand mit dem Daumen an die Nase angesetzt
und der kleine Finger gegen die verspottete Person ausgestreckt wird,
spielt die Nase die Hauptrolle. Diese Gebärde ist aber sicherlich nur
die Übersetzung der Redensart ,, einem eine Nase drehen" aus dem
Bild in die Gebärde. Da dieser Redensart wahrscheinlich die wächserne
Nase zugrunde liegt, die man sich bald als Maskenscherz selbst auf-
setzte, bald als verunstaltende Verspottung von andern aufgesetzt
bekam 1), so kann die gedrehte Nase als Gebärde ebensogut eine ur-
sprünglich mimisch gemeinte Verunstaltung des Gesichts wie eine
mimische Nachahmung des Gegenstandes sein. Dieser ähnlich nach
Form und Bedeutung ist die Gebärde des ,, Eselbohrens", nur daß
hier der Daumen an das Ohr angesetzt, und wieder der kleine Finger
gegen den Verspotteten ausgestreckt wird. Beide Gebärden scheinen
bloß bei den europäischen Völkern vorzukommen. In Japan findet
sich als Ausdruck der Verspottung teils das Ausstrecken der Zunge,
^) Grimm, Deutsches Wörterbuch VII (Lexer), S. 407.
Wandt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. ^^
194 I^i® Gebärdensprache.
das, als natürliche Ausdrucksbewegung des Widerwillens, über alle
Teile der Erde verbreitet zu sein scheint. Außerdem besitzen die
Japaner als Zeichen verspottender Geringschätzung das auch im
Abendlande gelegentlich vorkommende Klatschen mit der flachen
Hand auf den etwas vorgeneigten Hinterteil des Körpers, eine Ge-
bärde, die wohl mit der bekannten Aufforderung, diesen Teil mit dem
Angesicht zu verwechseln, zusammenhängt. Der Spott über den Hoch-
mut oder das Selbstlob eines andern wird endlich in Japan ausgedrückt,
indem man die Nase durch die angesetzte Faust verlängert und nach
oben kehrt, was in seiner Bedeutung einigermaßen mit unserer Redens-
art ,, seine Nase hoch tragen" zusammenfällt^).
Sehr viel mannigfaltiger noch als diese halb mimischen Gebärden
von symbolischer Bedeutung sind diejenigen, die durch die plastischen
Formungen der Hände zustande kommen. Hier stellt die Fig. 31 eine
Reihe neapolitanischer Beispiele, die Fig. 32 einige von nordameri-
kanischen Indianern dar. Viele dieser Formen, die mit natürlichen
Ausdrucksbewegungen oder mit zeichnenden Gebärden zusammen-
hängen, sind übrigens weiter verbreitet. Dahin gehört vor allem die
Gebärde a (Fig. 31), als Aufforderung zur Ruhe auch bei uns viel
gebraucht. Sie versinnlicht das abnehmende Geräusch räumlich durch
die gesenkte, mit der Hohlfläche nach abwärts gekehrte Hand. Ver-
bunden mit einer leisen Auswärtswendung, wie in h (Fig. 32), geht
sie in die ablehnende Gebärde über, die irgendeinen Vorschlag, eine
gehörte Meinung u. dgl. zurückweist, daher sie bei den Indianern
auch allgemein als Zeichen der Verneinung vorkommt. Den Gegen-
satz zu diesen Symbolen der Ruhe und der Ablehnung bildet die in
Fig. 32 i wiedergegebene Indianergebärde, bei der die Handfläche
nach oben gekehrt ist. Ahnlich wie die vorige ist auch sie allgemeiner
verbreitet und kann je nach leisen Modifikationen und begleitenden
Mienen die Aufforderung zu reden, also eine Frage, dann bei ener-
^) Nach Mitteilungen des Herrn J. Irie in Sendai. Die oben angeführten
symbolischen Gebärden der Neapolitaner sind A. de Jorio entnommen, a. a. 0.
Taf. 21. Die Gebärden d und e (Fig. 30) erwähnt übrigens schon J. J. Engel in
seinen „Ideen zu einer Mimik" als in Italien vorkommend. Er meint, beide,
und namentlich die zweite, seien unerklärlich. (Engel, Fig. 1 und 2, I,
S. 92 ff.)
Symbolische Gebärden.
195
gischer Ausführung Zustimmung, Gewährung einer Bitte 9-usdrücken.
Eine andere weitverbreitete Gebärde ist der aufgehobene Zeigefinger
(Fig. 31 b), der zunächst den Befehl, aufmerksam zu sein, und dann
allgemein den Begriff ,, Aufmerksamkeit" bezeichnet. Daran schließen
sich je nach der begleitenden Mimik und sonstigen Modifikationen
der Bewegung mehrere abgeleitete Bedeutungen. So ist uns die Ge-
bärde in Verbindung mit dem fest geschlossenen Munde bereits oben
Fig. 31. Symbolische Handgebärden der Neapolitaner.
als Aufforderung zur Stille begegnet (Fig. 29 a). Verbunden mit dem
drohenden Blick bedeutet sie eine Warnung. Losgelöst von allen
Affektäußerungen kann sie die Einheit bezeichnen. Dann als eine
Verallgemeinerung dieser Bedeutung den Begriff des Zählens. Sie
läßt sich hier als eine generalisierende Form zu allen weiteren Zahl-
gebärden betrachten, die durch Hinzunahme der übrigen Finger ent-
stehen. Diese sind, vom Zeigefinger als der Eins anfangend, bis zum
kleinen Finger fortschreitend und dann den Daumen zu Hilfe nehmend,
Id*
196 I^iß Gebärdensprache.
Symbole der Einlieiten. Die ganze Hand wird so zum S}Tnbol der
,,Fünf", die beiden Hände zusammen versinnlichen die „Zehn". Diesen
Zahlgebärden kann man eine andere, für den unbestimmten Quan-
titätsbegriff „wenig" gebrauchte Ausdrucksform anschließen: Daumen
und Zeigefinger werden aufwärts gekehrt und gegeneinander gepreßt,
als wollten sie eine kleine Menge eines winzigen Gegenstandes fest-
halten (Fig. 31 c). Auch dieses Zeichen ist sehr verbreitet. Es ist
eine plastische Umbildung der zeichnenden Gebärde für ,, streuen",
,, Pulver", ,,Salz" und ähnliches, aus der es hervorgeht, wenn die
beiden genannten Finger nach oben statt nach unten gekehrt und in
ihrer Stellung fixiert werden. Für ,,viel" gibt es keine plastische Ge-
bärde, sondern dieser Begriff wird überall, wie es scheint, durch Be-
wegungen ausgedrückt, die der Vorstellung einer Aufsammlung vieler
Dinge oder einer Anhäufung von Gegenständen entsprechen. So
werden bei mehreren Indianerstämmen beide Hände mit ausgestreckten
Fingern in der Höhe der Hüften nach außen gehalten und dann gegen-
einander und zugleich in die Höhe bewegt, eine Anhäufung übereinander
getürmter Massen darstellend. Taubstumme pflegen mit beiden Hän-
den geschäftig und oft nacheinander dahin und dorthin zu greifen.
Alle diese Zeichen für Quantitätsbegriffe stehen auf der Grenze zwischen
nachbildenden und symbolischen Gebärden. Sie fallen einerseits
noch in den Bereich jener konkreten Versinnlichung der Vorstellungen
durch einzelne Beispiele, welche die unmittelbar nachbildenden Ge-
bärden kennzeichnet; anderseits ist die Vorstellung, die auf solche
Weise dargestellt wird, schon so allgemeiner Art, daß die Versinn-
lichung den Charakter eines Beispiels verliert und als eine Umwand-
lung des allgemeinen Begriffs in eine repräsentative Vorstellung, also
eben als ein Symbol erscheint. Gerade diese Grenzfälle zeigen das.
Symbolische gewissermaßen in seinem Entstehungsmoment.
AVeit mehr als eigentliche Symbole sind einige andere plastische
Ausdrucksformen anzusehen, die verschiedene Weiterentwicklungen
der Gebärde des emporgehaltenen Zeigefingers (Fig. 31 6) zu sein
scheinen. So haben die Zeigefinger beider Hände dicht nebeneinander
gehalten bei den Indianern wie bei unsern Taubstummen zunächst
die allgemeine Bedeutung ,, zweier Gefährten". Von da aus geht die
Gebärde in ,, Geschwister" und ,, Gatten" über. In den beiden letzteren
Symbolische Gebärden.
197
Fällen werden aber auch zuweilen Zeige- und Mittelfinger oder auch
Zeigefinger und Daumen gebraucht. Hier steht dann mit diesen Ge-
bärden ein in Neapel viel gebrauchtes Zeichen (Fig. 31 /) in naher
Beziehung, welches, der ,,Kuß des Daumens und des Zeigefingers"
genannt, die „Liebe", die „Ehe" oder die „Ehegatten" bedeutet.
Tritt bei der vorangegangenen Gebärde zu der in der Vereinigung der
beiden Finger gelegenen Symbolik der engen Gemeinschaft noch durch
Fig. 32. Symbolische Handgebärden der Nordamerikaner.
den Gebrauch verschiedener Finger die Andeutung eines Wertunter-
schieds, so gewinnt nun dieser letztere seinen besonderen Einfluß
in den mannigfachen Verwendungen, welche die Gebärdensymbolik
von dem Gegensatze des Daumens und des kleinen Fingers macht.
,, Stark" und ,, schwach", ,,gut" und ,,böse", und dann in einer weiteren
Übertragung das starke und das schwache Geschlecht, also ,,Mann"
und „Frau", oder „Bruder" und „Schwester", werden so durch den
stärksten und den schwächsten Finger ausgedrückt.
Neben diesen Gebärdensymbolen, die, weil sie auf allgemein-
gültigen Assoziations- und Apperzeptionsbedingungen beruhen, in
198 Die Gebärdensprache.
ähnlichen oder verwandten Gestaltungen weitverbreitet vorkommen,
gibt es aber noch andere, die aus besonderen Anschauungen hervor-
gegangen sind. Ein charakteristisches Beispiel hierfür ist das neapoli-
tanische Zeichen für ,, Gerechtigkeit" (Fig. 31 e), das in der Finger-
stellung besteht, mit der man, um die freie Bewegung der Wagebalken
nicht zu hindern, eine Wage zu halten pflegt. Man hat in dieser Ge-
bärde offenbar nichts anderes als eine pantomimische Nachahmung
der symbolischen Darstellungen der Justitia in der bildenden Kunst
zu sehen. Eine andere neapolitanische Gebärde (Fig. 31 ^) erinnert
an die oben erwähnte symbolische Bedeutung des kleinen Fingers:
so verbreitet diese, so singulär ist aber wohl jene Anwendung, bei der
die beiden kleinen Finger umeinander geschlungen werden, als kon-
ventionelles Zeichen für „Falschheit". Wahrscheinlich liegt hier,
abgesehen von der allgemeinen Symbolik der kleinen Finger, noch
in der Verschlingung derselben eine weitere, das Anschmiegen des
falschen Freundes versinnlichende Gebärde. In dieser Beziehung
bildet ein indianisches Zeichen für ,, Freundschaft", das in der ana-
logen Verschlingung der beiden Zeigefinger besteht (Fig. 32 1), das
genaue Gegenbild: wie die enge Verbindung der Zeigefinger hier die
wahre, so symbolisiert dort die der kleinen Finger die falsche Freund-
schaft. Diese Freundschaftsgebärde in l ist übrigens nur eine Ver-
stärkung des oben erwähnten Symbols der nebeneinander gehaltenen
Zeigefinger, von der eine andere Modifikation eine in Je mitgeteilte
australische Gebärde für Freundschaft ist. Als Seitenstück zur Justitia
mag endlich noch der ,, Diebstahl" erwähnt werden. Als plastische
Gebärde, gleichzeitig das Ergreifen und das Verbergen eines Gegen-
standes unnachahmlich andeutend, kommt das in d (Fig. 31) wieder-
gegebene Zeichen, ähnlich wie das obige Falschheitssymbol, wohl nur
in dem Hauptgebiet des plastischen Gebärdenspiels, im Neapoli-
tanischen, vor. Anderwärts wird der gleiche Begriff, wie die meisten,
die sich auf sinnlich wahrnehmbare Handlungen beziehen, durch
zeichnende Bewegungen ausgedrückt: so bei den Taubstummen durch
di^ Bewegung des Wegnehmens und Einsteckens, bei den Indianern
durch eine Greifbewegung mit darauf folgendem Verschlusse der
rückwärts bewegten Hand, ein Symbol, das die beiden Vorstellungen
des Ergreifen s und Aneignens wiederum anschaulich verbindet, eben
Symbolische Gebärden. 199
darum aber auch mehr den unmittelbar nachbildenden als den sym-
bolischen Gebärden zugehört^). Erst die Einschränkung auf die Plastik
der Hand gibt der Gebärde d Fig. 31, da sie nur einen einzelnen an
und für sich mannigfacher Deutungen fähigen Zug herausgreift, einen
symbolischen und gleichzeitig konventionellen Charakter. Das näm-
liche gilt in noch höherem Maße\on einigen Indianerzeichen, die in
m und n der Fig. 32 wiedergegeben sind : m ist das bei den Eingeborenen
Nordamerikas weit verbreitete Zeichen für ,, Tausch und Handel".
Man könnte geneigt sein, es, etwa ähnlich wie das mit den beiden
Zeigefingern ausgeführte Freundschaftssymbol Z, für einen ursprüng-
lichen symbolischen Bestandteil der Gebärdensprache zu halten.
Aber eine andere Interpretation liegt hier näher. Zwei sich kreuzende
Striche sind in der Bilderschrift der Indianer das übliche Zeichen
für ,, Tausch". Da die Gebärde m wahrscheinlich späten Ursprungs
ist, so darf man daher vermuten, daß sie in einer Übertragung dieses
Zeichens in die Gebärdensprache besteht^).
Haben sich einmal auf solche Weise, sei. es durch die direkte Ent-
wicklung aus nachbildenden Gebärden, sei es, wie im letzten Bei-
spiel, durch die Herübernahme aus der Bilderschrift, Symbole von
relativ abstrakter Bedeutung entwickelt, so können sich nun aber
weiterhin an sie andere anschließen, die von vornherein symbolisch
gemeint sind. Die so entstehenden Zeichen tragen dann freilich auch
stets das Gepräge einer willkürlichen Erfindung, nicht einer natür-
lichen Entwicklung, oder diese greift doch höchstens insofern ein,
als solche künstliche Gebärden von natürlich entstandenen auszu-
gehen pflegen. In diesem Sinne ist z. B. das Zeichen n (Fig. 32) auf-
zufassen, das bei den Indianern in der Bedeutung von ,,Kauf" ge-
braucht wird, und das offenbar eine erfundene Abänderung der Ge-
bärde m ist.
1) Mallery a. a. 0. S. 293, Fig. 75
^) Über den mutmaßlichen Ursprung des Zeichens in der Bilderschrift
vgl. unten V, 2.
200 Die Gebärdensprache.
III. Vieldeutigkeit und Bedeutungswandel der
Gebärden.
1. Unbestimmtheit der Begriffskategorien.
Nach einer oft gemachten Bemerkung entbehrt die Gebärden-
sprache aller und jeder grammatischen Kategorien. Sie hat weder
Wortbiegungen noch irgendwelche Merkmale, die erkennen lassen,
ob ein bestimmtes Zeichen als Substantivum, Adjektivum oder Ver-
bum gebraucht werde; von einer Unterscheidung der Partikeln kann
schon deshalb nicht die Kede sein, weil die in diesen Wortformen
ausgedrückten abstrakteren Begriffsbeziehungen der natürlichen Ge-
bärdensprache überhaupt mangelten^).
An dieser Behauptung ist jedenfalls richtig, daß es besondere
formale Kennzeichen nicht gibt, durch die irgendeine Gebärde einer
der Wortkategorien zugeordnet würde, die uns aus den entwickelteren
Lautsprachen geläufig sind. Aber Steinthal hat schon bemerkt, daß
jene formale Unterscheidung auch nicht für alle Lautsprachen zu-
trifft, ohne daß darum die Unterscheidimg der Begriffe selbst fehlt.
Vielmehr ergibt sich in solchen Fällen die Stellung dieser im allgemeinen
unzweideutig aus dem Zusammenhang der Kede. Eben weil sie dies
tut, konnte sie auch bekanntlich gewissen Sprachen, die sie einst
besaßen, wieder verloren gehen. Hier sind also die logischen Kate-
gorien vorhanden; dem Worte selbst fehlen aber die Merkmale, an
denen seine Zugehörigkeit zu einer solchen zu erkennen ist.
Wenden wir nun diese Gesichtspunkte auf die Gebärdensprache
an, so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß auch in ihr gewisse
logische Kategorien zur Entwicklung gelangen, daß aber diese nur
selten durch Hilfsmittel, die den grammatischen Unterscheidungen
analog sind, nämlich durch besondere Modifikationen der Gebärden
selbst ausgedrückt werden. Dagegen ergeben sie sich durchweg auch
hier aus dem Zusammenhang und der Aufeinanderfolge der einzelnen
1) Steinthal, Über die Sprache der Taubstummen in Prutz' und Wolf-
sohns Deutschem Museum, I, 1851, S. 919 ff. Tylor, Forschungen über die Ur-
geschichte der Menschheit, S. 20 ff.
Unbestimmtheit der Begriffskategorien. 201
Zeichen. Nur erleidet in diesem Falle die kategor iale Unterscheidung
dadurch noch eine wesentliche Einschränkung, daß sich die natür-
liche Gebärdensprache erstens vorzugsweise auf Begriffe mit sinnlich
anschaulichem Inhalt, und daß sie sich zweitens ausschließlich auf
solche Begriffe erstreckt, die in den drei logischen Grundkategorien
der Gegenstands-, Eigenschafts- und Zustandsbegriffe ent-
halten sind. Hierbei sind übrigens unter dem letzteren Ausdruck
nicht bloß dauernde, sondern auch veränderliche und wechselnde Zu-
stände, also Vorgänge und Handlungen, zu verstehen. Wo man Be-
griffe der grammatischen Hilfskategorien nach den in der Lautsprache
ausgebildeten Wortformen, also Präpositionen, Konjunktionen, abstrakte
Adverbien, erwarten müßte, da fehlen aber diese vollständig, oder
vielmehr : statt ihrer finden sich konkrete Vorstellungen, die wiederum
auf jene drei Hauptkategorien zurückgehen.
Auch die drei Begriffsformen der Gegenstände, Eigenschaften
und Zustände werden nun freilich im allgemeinen nicht durch die
Gebärde als solche unterschieden. Doch ist in manchen Fällen schon
.aus der Art, wie die Gebärde ausgeführt wird, ihr allgemeiner Begriffs-
«charakter zu erkennen. Deutlicher geschieht dies noch durch beson-
dere Hilfsgebärden, die den Hauptgebärden beigefügt werden,
und die man, da sie nur die logische Form des Begriffs, zu dem sie
hinzutreten, andeuten, immerhin den reinen Formelementen der
Lautsprachen vergleichen könnte. Sie unterscheiden sich von ihnen
allerdings dadurch, daß sie, außer in dieser bloß formgebenden Be-
deutung, stets als selbständige Zeichen vorkommen. Auch können
solche Hilfsgebärden die verschiedensten Grade der Selbständigkeit
darbieten, von einer bloß leisen Nuancierung der Hauptgebärde an
bis zur Verbindung zweier ursprünglich selbständiger Ausdrucks-
formen, die durch ihre momentane Verbindung zu Zeichen eines ein-
zigen Begriffs werden. So kann in der Gebärdensprache des Taub-
stummen die Berührung eines Zahnes mit dem Zeigefinger in einer
vierfachen Bedeutung vorkommen: erstens für ,,Zahn" selbst, sodann
für einen der beiden Eigenschaftsbegriffe ,,weiß" oder ,,hart", und
endlich für einen harten Gegenstand z. B. einen ,, Stein". Die Artj
wie die Gebärde ausgeführt oder mit determinierenden Hilfsgebärden
verknüpft wird, unterscheidet alle diese Bedeutungen leicht von-
202 Die Gebärdensprache.
einander. Ist der ,,Zahn" gemeint, so genügt eine leise Berührung
desselben. Soll die gleiche Bewegung den Begriff ,,weiß'' ausdrücken,
so wird möglichst die ganze Reihe der Zähne gezeigt und zugleich
das Auge mit strahlendem Ausdruck geöffnet, um den hellen Licht-
eindruck anzudeuten. Für ,,hart" besteht die Gebärde in einem Klopfen
des Zeigefingers gegen einen der Schneidezähne. Für ,, Stein" wird
der Bewegung für hart die des Werfens als nähere Bestimmung bei-
gefügt. Ähnlich kann die Berührung der Lippe sowohl die ,, Lippe"
wie die Eigenschaft ,,rot" bedeuten. Im ersten Fall wird, wenn er-
forderlich, nach der Ausführung der hinweisenden Gebärde die Lippe
selbst noch zwischen Daumen und Zeigefinger gefaßt. Wird die Hand
mit aufwärts gekehrter Hohlhand vom Boden her nach oben bewegt,^
so kann dies die Tätigkeit des ,, Hebens" oder einen gehobenen Gegen-
stand, ein ,, Gewicht", oder auch die Eigenschaften ,, leicht" oder
,, schwer" bedeuten. Wird die Tätigkeit des ,, Hebens*' in der Regel
durch mehrere aufeinander folgende Bewegungen angezeigt, so genügt
die einmalige Gebärde, um ,, Gewicht" auszudrücken; ,, leicht" be-
deutet die Hebebewegung, wenn sie rasch und mit einem heiteren
Ausdruck, ,, schwer", wenn sie langsam und mit dem mimischen Zug
der Anstrengung ausgeführt wird. Eine hinweisende Bewegung gegen
den Himmel kann den ,, Himmel" selbst im physischen, oder sie kann
ihn im übertragenen religiösen Sinne, das ,, Jenseits", ausdrücken;
sie kann dann weiterhin auf ,,Gott" bezogen werden, oder endlich
auch bloß die Farbe ,,blau" bezeichnen. Im ersten dieser Fälle wird
die Gebärde im allgemeinen mit einer gleichgültigen Miene aus-
geführt, im zweiten mit dem Ausdruck der Andacht, im dritten
unter Hinzufügung der Gebetsgebärde, im vierten mit dem be-
gleitenden mimischen Ausdruck der Heiterkeit. Verfolgt man in
dieser Weise die eine gegebene Gebärde näher determinierenden
Ausdrucksbewegungen, so dürften vielleicht nur wenige Fälle zurück-
bleiben, wo trotz verschiedener Bedeutungen der Ausdruck ein ganz
übereinstimmender ist.
Am häufigsten bestehen solche Fälle von wirklicher Vieldeutig-
keit darin, daß Tätigkeiten und die durch sie hervorgebrachten Er-
zeugnisse, Gegenstände und die mit ihnen vorgenommenen Hand-
lungen nicht unterschieden werden. So bedeutet die Gebärde des
Unbestimmtheit der Begriffskategorien. 203
*
Ausstreuens mit Daumen und Zeigefinger ebensowolil diese Hand-
lung selbst wie ein auszustreuendes Pulver, in der Regel das aus dem
täglichen Gebraucli bekannteste, das ,,Salz". Die Gebärde des Trinkens
mit der ähnlich einem Becher geschlossenen Hand bezeichnet nicht
nur die Handlung ,, trinken'*, sondern auch das „Getränk", nament-
lich das häufigste der Getränke, das ,, Wasser". Werden Gebärden
aus mehreren zusammengesetzt, dadurch, daß zu einer Hauptgebärde
weitere, näher determinierende hinzutreten, so steigert sich meist
noch ihre Vieldeutigkeit. Denn ein solcher Zusammenhang läßt un-
bestimmt, welche Gebärde der eigentliche Träger der logischen Kate-
gorie sei. Führt z. B. der Taubstumme zuerst die Bewegung des
Mahlens an einer fingierten, auf dem Schöße gehaltenen Kaffeemühle,
und dann die des Trinkens aus, so kann entweder das ,, Mahlen des
Kaffees" oder das „Trinken von Kaffee" oder auch der Kaffee selbst
gemeint sein. Im ersten dieser Fälle ruht demnach auf der ersten
Gebärde der Hauptbegriff, im zweiten auf der zweiten, im dritten
haben beide Gebärden eigentlich einen bloß determinierenden Charak-
ter, während der Gegenstand zu den Handlungen, die ihn andeuten,
hinzugedacht wird. Eine ähnliche vieldeutige Zusammensetzung
ist die folgende. Wenn der Indianer Eßbewegungen und gleichzeitig
mit dem Zeigefinger die schneidende Bewegung eines Messers vor dem
Munde nachahmt, so hängt diese Gebärde mit der Sitte der Indianer
zusammen, den zu verschluckenden Bissen erst, wenn ihn die Zähne
erfaßt haben, von einem größeren Fleischstück abzuschneiden. Sie
kann demnach entweder die durch die Bewegung ausgedrückte Hand-
lung, das ,, Abschneiden des Fleisches", oder sie kann „essen", sie
kann aber auch ,, Fleisch" und eventuell sogar ,, Messer" bedeuten.
Diese Beispiele zeigen, daß es im allgemeinen zwei Momente gibt,
die bei solchen Kombinationen die Mehrdeutigkeit befördern. Das
erste besteht darin, daß eine und dieselbe Gebärde in der nämlichen
Verbindung einen verschiedenen logischen Sinn haben kann, indem
sie bald Hauptbegriff, bald bloß determinierendes Begriffselement
ist. Das andere ist dies, daß jede Gebärde, die eine Handlung andeutet,
in fast unbegrenzter Weise als Stellvertreterin für Gegenstandsbegriffe
gebraucht wird, die mit jener Handlung in Beziehung stehen. Denn
es kommen nicht bloß solche Übergänge vor, bei denen zwar die lo-
204 Diö Gebärdensprache.
gische Kategorie wechselt, die Grundbedeutung der Vorstellung aber
dieselbe bleibt; sondern, wo dies irgend durch häufig geübte Asso-
ziationen nahegelegt ist, da kann der Übergang möglicherweise auf
ganz verschiedene Gegenstandsbegriffe erfolgen. In allen solchen
Fällen ist es natürlich nur noch der Zusammenhang der Vorstellungen,
der die wirklich gemeinte Bedeutung feststellt.
Bietet diese Übertragung von Gebärden, die an sich Handlungen
oder Zustände ausdrücken, auf Gegenstandsbegriffe eine nicht zu ver-
kennende Analogie mit dem uns aus der Lautsprache geläufigen Über-
gang von Verbalformen in substantivische Bildungen, nur mit dem
Unterschied, daß die Gebärdensprache schrankenloser und nach be-
liebig wechselnden Assoziationen solche Übertragungen ausführt,
so fehlt es ims nun auch, ähnlich wie in der Lautsprache, an dem um-
gekehrten Übergang nicht. Während aber die zeichnenden Ge-
bärden das Gebiet bilden, auf dem sich Übergänge der ersten Art ab-
spielen, sind es durchgängig die plastischen, die eine umgekehrt
gerichtete Verschiebung der Begriffe vermitteln. Dies liegt, wie kaum
bemerkt zu werden braucht, in der ursprünglichen Natur dieser beiden
Formen begründet. Die natürlichste Nachbildung einer Handlimg
ist selbst eine Handlung. Sie kann also in adäquater Weise nur durch
eine zeichnende Gebärde ausgeführt werden, die eben eine vor dem
Auge sich vollziehende Handlung ist. Der Gegenstand dagegen läßt
an sich eine doppelte Art der Nachbildung zu: einmal eine solche
durch die Handlung, die ihn hervorbringt, also wiederum durch die
zeichnende Gebärde; dann aber durch das plastische Bild, das seine
ruhende Form zeigt. Hierin ist unmittelbar der psychologische Grund
aufgedeckt, der den Übergang der zuständlichen in die gegenständ-
liche Bedeutung einer Gebärde zum allgemeineren macht. Immer-
hin läßt die fast unbegrenzte Assoziierbarkeit der Vorstellungen auch
die umgekehrte Übertragung von der plastischen Gebärde aus zu.
Dabei kann unterstützend mitwirken, daß gerade hier überkommene
Tradition und konventionelle Symbolik eine größere Rolle spielen,
wobei dann zugleich die einzelne Gebärde einen ganzen Satz andeuten
kann. So gebraucht der Neapolitaner die mit der Hand gebildete
plastische Gebärde der Flasche {d Fig. 26) häufiger, um „trinken",
als um ,,Wein" oder ,, Flasche" auszudrücken. Zumeist aber steht
Unbestimmtheit der Begriffskategorien. 205
sie an Stelle des Satzes ,,icli will jetzt trinken" oder der Aufforderung
,,laß uns trinken". Das Zeichen für Diebstahl (d Fig. 31) kann eben-
sogut wie den ,,Dieb" oder den ,, Diebstahl" auch die Mitteilung be-
deuten, daß gestohlen worden sei, oder daß jemand zu stehlen beab-
sichtige. Ähnlich verhält es sich mit vielen Indianergebärden. Nament-
lich die symbolischen Zeichen sind auf diese Weise in der Regel viel-
deutig, da sie oft nur den Hauptbegriff eines Gedankens enthalten,
dessen Nebenbestandteile unausgesprochen bleiben und dabei mannig-
fach variieren können. Hierin kommt übrigens nur in gesteigertem
Maß eine allgemeine Eigenschaft der Gebärdensprache zum Aus-
druck. Diese ist stets eine Art Abbreviatursprache: sie eilt über alle
die Teile des Gedankens hinweg, die sich aus dem Zusammenhang
von selbst ergeben, während sie auf der andern Seite nicht minder
durch Wiederholung des gleichen Begriffs in verschiedener Form etwa
möglichen Mißverständnissen zu begegnen sucht. So ist sie gleich-
zeitig kürzer und weitläufiger als die Lautsprache.
Mit diesen Eigenschaften hängt noch eine andere zusammen,
durch die sich die natürliche Gebärdensprache von den meisten Ver-
suchen ihrer künstlichen Weiterbildung scheidet. Sie besteht in der
oben erwähnten Beschränkung auf die drei logischen Haupt-
kategorien. Alle näheren Bestimmungen der Gegenstands-, Eigen-
schafts- und Zustandsbegriffe bleiben dahingestellt. Die Gebärden
als solche bezeichnen in ihrer Aufeinanderfolge lediglich eine Reihe
von Vorstellungen, deren jede, wie sie durch ein anschauliolies Zeichen
ausgedrückt wird, so auch schon für sich allein anschaulich gedacht
werden kann. In welchen logischen, räumlichen oder zeitlichen Be-
ziehungen die Vorstellungen zueinander stehen, das lassen jene Zeichen
nicht erkennen. Solche Beziehungen können nur dem Zusammen-
hang entnommen werden, in den sie durch ihre Aufeinanderfolge
treten. So ist die Erzählung eines vergangenen Ereignisses von der
eines gegenwärtigen Geschehens oder von der Mitteilung einer bevor-
stehenden Handlung im allgemeinen nicht zu unterscheiden. Nur
wenn derartige Zeitbegriffe selbständige Gedankeninhalte bilden,
können sie durch symbolische Zeichen ausgedrückt werden, indem
dann die früher erwähnten räumlichen Versinnlichungen durch hin-
weisende Gebärden für sie eintreten (S. 169). Davon abgesehen ver-
206 Die Gebärdensprache.
wandelt aber die Gebärdensprache jedes Ereignis in ein unmittelbar
gegenwärtiges. Hierauf beruht zugleich ihre eigentümliche Lebendig-
keit. Sie macht den Redenden ebenso wie jeden andern gewisser-
maßen zum Miterlebenden alles dessen, was sie ausdrückt. Selbst
da, wo die drei Zeitstufen räumlich symbolisiert werden, pflegt sie
daher den Begriff, soweit es nur immer geschehen kann, konkret zu
gestalten, indem sie durch die besondere Art der Bewegungen andeutet,
ob ein Ereignis in naher oder ferner Vergangenheit liege, ob es in naher
oder ferner Zukunft geschehen werde. Der Indianer liebt es in solchen
Fällen sogar, die Zahl der Tage, Monate oder Jahre, die verflossen
sind oder verfließen sollen, durch besondere Gebärden anzugeben.
Auf diese Weise nähern sich diese Ausdrucksformen der Zeitstufen
selbst schon der Darstellung der Arten des Zeitverlaufs, die eine
überaus charakteristische Seite dei Gebärdenmitteilung ausmacht.
Will der Taubstumme eine Handlung erzählen, so begnügt er sich
nicht zu berichten, daß sie geschehen sei, sondern er schildert wie
sie geschehen ist. Die mit Zeigefinger und Mittelfmger der rechten
Hand auf dem linken Vorderarm nachgeahmten Gehbewegungen,
die den Begriff des Gehens wiedergeben, werden also entweder schnell
oder langsam, bald mit dem mimischen Ausdruck der Hast, bald mit
dem der Bedächtigkeit ausgeführt. Oder die gleiche Bewegung wird
mehrmals wiederholt, in hin- und rückwärts gekehrter Richtung.
Ebenso verbinden sich mit den Gebärden für tragen, fahren, arbeiten,
einsammele, tauschen, kaufen und andern sehr häufig Modifikationen
der zeichnenden Bewegung selbst oder des begleitenden mimischen
Ausdrucks, die ein Bild der Art des geschilderten Tuns zu geben
suchen.
Ähnlicher sinnlicher Ausdrucksmittel bedient sich die Gebärden-
sprache für diejenigen Gedankenelemente, die unsern abstrakten
Partikeln entsprechen. So wird der in der Präposition liegende Begriff,
wenn er ein räumliches Verhältniß einschließt, durch eine hinweisende
Bewegung bezeichnet. Ist der Gegenstand selbst, der in eine räum-
liche Beziehung zu einem andern gebracht werden soll, im Sehbereich
anwesend, so drückt dann eine und dieselbe Gebärde beides zugleich,
den Gegenstand und seine Beziehung aus. So kann der Taubstumme
,,die Katze auf dem Dache" möglicherweise in vierfacher Form wieder-
Unbestimmtheit der Begriffskategorien. 207
geben, je racMem der ganze Inhalt dieser Verbindung oder nur ein
Teil oder gar nichts von ihr in der unmittelbaren Anschauung vor-
handen ist. Im ersten Fall bezeichnet die hinweisende Gebärde den
ganzen Zusammenhang mit einem Male. Im letzten wiid zuerst die
Katze durch irgendeine mitbezeichnende Gebärde angedeutet, z. B.
durch Nachahmung ihres Schnauzbarts am eigenen Munde und des
Kratzens mit den zu Krallen gekrümmten Fingern, dann werden
die Umrisse eines Giebeldachs in der Luft beschrieben, und endlich
wird mit dem Zeigefinger nach oben gezeigt, gleichsam ,, Katze Dach
oben". Ebenso können die andern räumlichen Beziehungen, wie sie
den Präpositionen in, aus, durch, von u? w. innewohnen, durch hin-
weisende Bewegungen ausgedrückt werden. Aber jene wichtigen
Begriffsmetamorphosen, durch die unsere Präpositionen Ausdrucks-
mi;;tel der mannigfaltigsten logischen Beziehungen geworden sind,
macht die Gebärdensprache nicht mit. Wo logische oder kausale
Beziehungen überhaup: vorkommen, da überläßt sie es entweder
dem Zusammenhang der Vorstellungen, sie angemessen zu interpolieren,
oder sie ersetzt sie durch konkrete Versinnlichungen. In der Gebärden-
sprache berichtet man nicht, irgendeine Person sei wegen Diebstahls
gehenkt worden, sondern man fügt der Bezeichnung der Person die
Gebärde für Dieb oder Stehlen (z. B. Fig. 31 cZ) und die der Strangu-
lation, die Andeutung eines um den Hals gelegten Strickes, bei. In
der Gebärdensprache heißt es nicht: ,,er starb, weil er dem Trunk
ergeben war", sondern: ,,er trank, er trank, er starb", oder eigentlich,
da es in ihr keine Flexionsformen des Verbums gibt: „trinken, trinken,
sterben". Die Gebärde des Trinkens wird mehrmals nacheinander
ausgeführt, dann als Zeichen für Tod der Kopf mit geschlossenen
Augen auf die rechte Hand gelegt und eine hinweisende Gebärde nach
dem Boden hinzugefügt: ,, schlafen da unten". Wo endlich in der
Lautsprache abstrakte Adverbien zu Verbalformen hinzutreten, um
in denkbar kürzester Weise bestimmte Veränderungen des Verbal-
begriffs hervorzubringen, da löst, ganz im Sinne dieser Ausdrucks-
mittel für die Beziehungsformen der Begriffe, die Gebärdensprache
entweder die Verdichtung des Gedankens in die konkreten Einzel-
vorstellungen auf, oder sie überläßt wiederum dem Zusammenhang
die stillschweigende logische Ergänzung.
208 Die Gebärdensprache.
2. Begriffsübertragungen und Bedeutungswandel der Gebärden.
Die Bewunderer der natürliclien Gebärdensprache, wie sie vor
allem unter den Taubstummenlehrern gefunden werden, pflegen von
ihr zu rühmen, sie sei nicht nur eine Universalsprache, sondern sie
zeichne sich auch ganz besonders durch eine jedes Mißverständnis
ausschließende Eindeutigkeit der Begriffssymbole aus. Synonyma
sollen in ihr wegen der unmittelbaren sinnlichen Anschaulichkeit und
Verständlichkeit der Gebärden völlig ausgeschlossen sein^). Daß
diese Meinung bei der Beobachtung der Taubstummen überhaupt
entstehen konnte, ist für den eigentümlichen Charakter dieses Zweiges
der Gebärdensprache immerhin bezeichnend. Bei solchen Formen
derselben, die sich, wie die der Neapolitaner oder der nordamerika-
nischen Indianer, durch viele Generationen hindurch entwickelt haben,
würde sie jedenfalls unmöglich gewesen sein. Hier fällt die ungeheure
Vieldeutigkeit vieler Zeichen sofort in die Augen. Besonders von
den plastischen Gebärden, die durchweg meist älteren Ursprungs sind
und zu einer konventionellen Anwendung hinneigen, läßt sich wohl
sagen, daß sie im allgemeinen vieldeutiger sind, als Worte zu sein
pflegen.
Man erkennt leicht, daß diese Unterschiede mit der verschiedenen
psychologischen Natur der Gebärden zusammenhängen. Am wenigsten
vieldeutig sind die unmittelbar nachbildenden, vor allem die zeich-
nenden. Hier ist eine Mehrdeutigkeit nur innerhalb der Grenzen der
oben besprochenen kategorialen Verschiebungen möglich. Daß für
die Gebärde als solche Begriffe wie ,, geben" und „Gabe" oder wie
,,Dieb", ,, Diebstahl" und ,, stehlen" und ähnliche zusammenfallen,
das ist aber in Wahrheit keine Vieldeutigkeit der begrifflichen Grund-
bedeutung, sondern eine formale Eigenschaft der Gebärdensprache,
da diese Modifikationen eines Begriffs, die durch seine Verbindung
mit andern Begriffen zustande kommen, überhaupt nicht unterscheidet.
Daß dagegen die Grundbedeutung einer nachbildenden Gebärde
völlig eindeutig sein muß, wenn das Bild die Vorstellung, die es zu
^) Einige Äußerungen dieser Art hat Steinthal zusammengestellt, Prutz,
und Wolfsohns Deutsches Museum, I, S. 906.
Begriffsübertragungen und Bedeutungswandel der Gebärden. 209
erzeugen strebt, wirklich hervorbringen soll, ist einleuchtend.
Mit der Umrißzeichnung eines Hauses kann immer nur ein
Haus, mit dem mimischen Ausdrucke des Zornes nur die Ge-
mütsbewegung des Zornes, mit der nachahmenden Bewegung
des Gehens nur die Handlung des Gehens gemeint sein. Da
die Gebärden der Taubstummen ganz vorzugsweise zu den
zeichnenden Gebärden gehören, so erklärt es sich also hieraus,
daß gerade bei ihnen die angebliche Eindeutigkeit der Gebärden
gerühmt wird. Aber schon bei der plastischen Unterform der nach-
bildenden Zeichen gilt das nicht mehr in gleichem Grade, weil
hier die Vorstellung und ihre Bedeutung viel weiter voneinander
entfernt liegen, daher denn auch in diesem Fall eine plastische Hand-
gebärde von gleicher Beschaffenheit sehr verschiedene Bedeutungen
haben kann, wie ein Blick auf die Figg. 27 und 28 lehrt. Eine noch
größere Variation der Bedeutungen ist bei den mitbezeichnenden
Gebärden möglich. Während die unmittelbar nachbildenden in der
Regel nur die logische und grammatische Kategorie unbestimmt
lassen, in der ein gewisses Zeichen gedacht wird, erstreckt sich bei
den mitbezeichnenden die Möglichkeit des Wechsels schon über den
ganzen Umkreis der Vorstellungen, die in irgendeiner leicht assoziier-
baren psychologischen Beziehung zu der ausgedrückten Eigenschaft
oder Handlung stehen. So kann die Gebärde des Hutabnehmens
einen ,,Mann", sie kann aber auch eine ,, Begrüßung" oder in einem
etwas abstrakteren Sinne die ,, Höflichkeit" bedeuten. Die Gebärde
des Riechens an einem Gegenstande, durch die Bewegung von Daumen
und Zeigefinger in der Scellung, in der man einen Blumenstengel
zu halten pflegt, gegen die Nase hin ausgeführt, kann „Blume",
„Geruch", oder in anderem Zusammenhange „Schnupftabak", sie
kann aber auch als unmittelbar zeichnende Bewegung „riechen"
ausdrücken usw.
Am weitesten reicht endlich der Kreis möglicher Bedeutungen
bei den symbolischen Gebärden. Hier liegt in vielen Fällen eine
Mehrdeutigkeit schon darin begründet, daß die nämliche Gebärde
auch in ihrem ursprünglichen, nicht symbohschen Sinne gebraucht
werden kann. Freilich ist das nur bei den sekundären Formen der
Fall (S. 186), und selbst hier ist ein solches Schwanken zwischen un-
Wun dt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. ^^
210 Die Gebärdensprache.
mittelbarer Nachbildung und Symbol im ganzen selten, weil meistens
die symbolische Bedeutung die ursprüngliche völlig verdrängt hat,
wenn auch die letztere in der Form einer leisen Assoziation immer
noch nachklingt. Man denke z. B. an plastische Gebärden wie die
des gehörnten Kopfes (Fig. 26 a), des Eselskopfs (ebenda b und c),
an die pantomimische Andeutung der Eselsohren u. dgl. Weit viel-
gestaltiger ist diejenige Verzweigung der Bedeutungen, die entsteht,
wenn entweder eine und dieselbe Gebärde von Anfang an verschiedene
symbolische Anwendungen nebeneinander hat, oder wenn sich aus
einer bestimmten symbolischen Beziehung eine andere entwickelt.
Das erstere kommt häufiger bei primären, das letztere bei sekundären
Symbolen vor. Wenn z. B. das offenbar primäre Symbol der beiden
aneinander gelegten Zeigefinger ,,zwei Gatten", ,,zwei Gefährten",
,,zwei Geschwister" oder endlich ,,zwei Gegenstände" bedeuten kann,
so läßt sich kaum sagen, ob eine dieser Anwendungen früher gewesen
sei als die andere. Wir werden höchstens voraussetzen dürfen, da im
allgemeinen die konkreten Begriffe früher sind als die abstrakten,
daß die Gebärde als Symbol der reinen arithmetischen ,,Zwei" später
ist als ihre Anwendung auf irgend zwei einzelne, zusammen gedachte
Objekte. Dagegen kann man in vielen andern Fällen nicht zweifeln,
daß sich eine bestimmte symbolische Bedeutung erst aus einer früheren,
ebenfalls schon symbolischen entwickelt hat. Dies trifft am häufigsten
bei sekundären Symbolen zu. Denn bei ihnen kann in der Regel auch
dann, nachdem die nachbildende Bedeutung ganz verschwunden
ist, noch eine gewisse Entwicklungsfolge bemerkt werden. Ein Krite-
rium späterer Entstehung pflegt in solchem Falle dies zu sein, daß
eine Bedeutung aus einer bestimmten andern abgeleitet werden muß,
die selbst nachweislich sekundär entstanden ist. So kann es keinem
Zweifel unterliegen, daß die Gebärde e Fig. 31 früher symbolisch für
,, Gerechtigkeit" als für „Strafe" gebraucht wurde, weil das sinnliche
Bild der Wage direkt zur Gerechtigkeit, deren symboHsches Attribut
jene ist, aber erst indirekt, nämlich eben durch die Gerechtigkeit als
Mittelglied, zum Begriff der Strafe führt. Das von den Indianern
als Zeichen der Frage gebrauchte Symbol (Fig. 32 i) ist offenbar von
der Bedeutung des Gebens als der unmittelbareren ausgegangen:
denn jene Bedeutung wird nur durch ihren Ursprung aus der an einen
Begriffsübertragungen und Bedeutungswandel der Gebärden. 211
andern gerichteten Aufforderung zu geben, mitzuteilen, also auch,
von Gegenständen auf Gedanken übertragen, seine Gedanken mit-
zuteilen, verständlich. Noch augenfälliger ist der spätere Ursprung,
falls die eine Bedeutung die andere unbedingt voraussetzt. So wenn
die Gebärde des gehörnten Kopfes einerseits eine drohende Gefahr,
anderseits aber auch Beschwörung gegen eine solche oder Schutz vor
ihr bezeichnet. Hier bilden die Begriffe : Stärke, Gefahr (die von einer
Gewalt droht), Schutz gegen Gefahr, Bitte um solchen Schutz eine
Begriffsreihe, in der im allgemeinen jedes folgende Glied das voran-
gegangene fordert, und die sich daher nicht wohl anders als in der
angegebenen Folge entwickelt haben kann. In manchen Fällen, nament-
lich bei sekundären Symbolen, kann es freilich auch unsicher bleiben,
welche von zwei Bedeutungen früher sei, oder ob sie sich unabhängig
aus einer und derselben Grundbedeutung entwickelt haben. So kann
man bei jener in Neapel in so mannigfaltigem Sinn gebrauchten Ge-
bärde des gehörnten Kopfes wohl zweifeln, ob von den Bedeutungen
der physischen Stärke, der Drohung, der Gefahr eine früher sei als
die andere, da sie alle möglicherweise unabhängig voneinander aus
der ursprünglichen sinnlichen Vorstellung des Stierkopfs entstanden
sein können. Wenn endlich dasselbe Zeichen als Symbol „ehelicher
Untreue" gebraucht wird, so darf man dieses wohl als eine Über-
tragung der sprichwörtlichen Redensart ,, einem Hörner aufsetzen"
in die Gebärde oder auch als die pantomimische Nachahmung einer
die Untreue symbolisierenden Zeichnung ansehen. Die Redensart
selbst soll aber aus einem Volksglauben hervorgegangen sein, nach
dem die Untreue der Frau durch ein Hörn angezeigt werde, das ihrem
Manne aus der Stirn wachse. Da der Ursprung dieses Volksglaubens
unsicher ist und den sonstigen Anwendungen der gleichen Gebärde
wahrscheinlich ganz ferne liegt, so läßt sich natürlich nicht entscheiden,
welche Bedeutung die ältere sei^).
1) M. Heyne (Grimm, Deutsches Wörterbuch, IV, 2, Sp., 1815) führt die
erwähnte Redensart auf eine mittelalterliche Legende zurück. Doch hat die
Gebärde, ebenso wie das Sprichwort, schon im Altertum existiert. Sittl (Die
Gebärden der Griechen und Römer, S. 104) deutet jene auf die Zweiheit der
Männer. Eine Nebenbeziehung hierauf mag immerhin vorhanden sein, wie auch
die von Sittl zitierten neapolitanischen Sprichwörter zu zeigen scheinen. Aber
14*
212 Die Gebärdensprache.
Auf diese Weise eröffnet vor allem der Übergang nachbildender
in symbolische Gebärden und die daran sich schließende weitere Ent-
wicklung die Möglichkeit zu einer wachsenden Vieldeutigkeit. Natür-
lich muß aber diese Zunahme der Bedeutungen wesentlich durch die
Veränderung der Bedingungen unterstützt werden, die bei der Tradi-
tion bestimmter Zeichen durch viele Generationen hindurch eintritt.
Darum ist die Mannigfaltigkeit der Bedeutungen sehr viel größer bei
den überlieferten, als bei den neugebildeten Formen der Gebärden-
sprache. So zählt A. de Jorio von der obenerwähnten Gebärde der
„Mano cornuta" ungefähr zwanzig Bedeutungen auf, die zum größten
Teil symbolischer Art sind, und von denen die meisten wahrscheinlich
bis in das Altertum zurückreichen^). Indem aber hierbei bestimmte
Bedeutungen zwar nur in seltenen Fällen direkt, um so häufiger je-
doch indirekt, nach den vorhandenen Abhängigkeitsverhältnissen
der Begriffe, als hervorgegangen aus gewissen andern nachgewiesen
werden können, zeigt sich die Gebärde gerade so gut wie das Wort
einem Bedeutungswandel unterworfen. Und auch hier pflegt der
Übergang auf ferner liegende Begriffe durch Zwischenstufen ver-
mittelt zu werden, so daß der ganze Vorgang als eine kontinuierliche
Entwicklung erscheint, bei der die Assoziationen, durch die neue Vor-
stellungen mit früheren verbunden werden, den Übergang bewirken.
Dabei können diese Assoziationen die Vorstellungen bald durch die
ihnen eigentümlichen Inhalte, bald infolge rein äußerer, zum Teil
zufälliger Beziehungen verbinden. So ist es sichtlich eine innere Be-
ziehung der Vorstellungen, wenn die Gebärde der gehörnten Hand
zunächst durch die Assoziation mit der Stärke des gehörnten Tieres,
des Stieres, die physische Stärke, dann durch weitere daran geknüpfte
Assoziationen die Gewalt überhaupt, die Gefahr, die Bedrohung durch
Gefahr, die Beleidigung, endlich den Schutz vor Gefahr bedeutet.
Dagegen beruht es auf einem äußeren und darum in seinen besonderen
Wirkungen kaum zu berechnenden Spiel von Assoziationen, wenn
die nämliche Gebärde durch die Anlehnung an den Aberglauben von
diese Beziehung auf die Zweiheit ist vielleicht selbst eine sekundäre, die erst
aus der Gebärde entstand.
1) A, de Jorio a. a. O. S. 90 ff.
Begriffsübertragungen und Bedeutungswandel der Gebärden. 213
der Zeichnung des betrogenen Ehegatten durch das Hörn in das Sym-
bol der ehelichen Untreue überging. Darum steht nun aber auch diese
Bedeutung wahrscheinlich außerhalb der Keihe der sonstigen Be-
griffsentwicklungen der gleichen Gebärde, falls sie nicht etwa doch
ein Seitensproß aus dem Begriff der Bedrohung sein sollte, der zuerst
in Beschimpfung überhaupt, dann in diese spezielle Form der Be-
schimpfung übergegangen sein könnte. Doch der Zusammenhang
mit der erwähnten sprichwörtlichen Redensart macht diese Annahme
wenig wahrscheinlich. Zugleich zeigt das Beispiel, wie leicht uns
selbst bei der Gebärdensprache die Spuren verloren gehen können,
die den Weg einer bestimmten Bedeutungsentwicklung sicher erkennen
lassen.
Hiemach entspricht die Gebärdensprache auch darin dem all-
gemeinen Begriff einer Sprache, daß sie keineswegs, wie die von ihr
gerühmte „Pasilalie" vermuten ließe, überall und unverändert immer
dieselbe bleibt. Vielmehr sind Gebärden wie Worte einer Bedeutungs-
entwicklung unterworfen, vermöge deren sie sich den wechselnden
Bedürfnissen des Denkens anpassen. Es muß allerdings zugestanden
werden, daß auf diesen Bedeutungswandel der Gebärden der Besitz
der Lautsprache nicht ohne Einfluß ist. Der oben berührte Zusammen-
hang gewisser Gebärden mit sprichwörtlichen Redeweisen bietet
dafür einen augenfälligen Beleg. Auch ist ja die Veränderung der
Begriffe der Natur der Sache nach bei den aus einer längeren Über-
lieferung hervorgegangenen Formen viel eingreifender als bei den re-
lativ neu entstandenen. Jene sind aber infolge ihrer allgemeinen Ent-
wicklungsbedingungen immer zugleich mit dem Gebrauch der Laut-
sprache verbunden. Die Annahme, daß in solchen Fällen der Bedeu-
tungswandel nicht bloß durch die länger dauernde Tradition, sondern
nicht minder durch die Koexistenz mit der Lautsprache gefördert
werde, läßt sich also nicht abweisen. Aber in beschränkterem Um-
fang vollziehen sich solche Wandlungen doch auch in den neuent-
wickelten, dieses Einflusses fast ganz entbehrenden Formen der Ge-
bärdenmitteilung. Wenn z. B., wie Tylor^) berichtet, in einer Ber-
liner Taubstummenanstalt einer der Lehrer durch die Gebärde des
^) Tylor, Forschungen über die Urgeschichte, S. 29 ff.
214 Die Gebärdensprache.
Armabhauens bezeichnet wurde, weil er aus Spandau war, und eines
der Kinder dort einmal einen einarmigen Menschen gesehen hatte,
so beruhte das offenbar auf einem Bedeutungswandel, der zwei Asso-
ziationsglieder umfaßte: erstens war die nachbildende Gebärde für
den ,,Mann mit dem abgehauenen Arm" zur sekundären symbolischen
Gebärde für den ,,Mann aus Spandau" geworden, und dann war die
Bedeutung in die eines „einzelnen Mannes aus Spandau", des Lehrers,
übergegangen. Ähnlich, wenn in der gleichen Anstalt „Frankreich"
durch die Gebärde des Kopfabschlagens bezeichnet wurde. Hier war
— eine Reminiszens aus der französischen Revolutionsgeschichte —
der Begriff des Köpfens zuerst auf den geköpften König Ludwig XVL
und dann von diesem auf das Land übergegangen. Ähnliche Ent-
wicklungen kommen überall in der Gebärdensprache vor, und wo
etwa ein und dasselbe Zeichen in mehreren Bedeutungen auftritt,
da läßt sich meist auch bei den Zeichen der Taubstummen diese Diver-
genz als die Folge eines Bedeutungswandels erkennen. So kann sich
die Gebärde der über das Haupt erhobenen Hand im Sinne eines in
geistiger Beziehung großen, über andere hervorragenden Mannes
natürlich nur aus der sinnlichen Bedeutung des körperlich großen
Mannes entwickelt haben. Die Gebärde des Taktschiagens in der
Bedeutmig von Musik oder Gesang kann nur aus der ursprünglicheren
des Taktschiagens selbst oder des den Takt angebenden Dirigenten
hervorgegangen sein. Ebenso in vielen andern Fällen. Nur umfaßt
bei der neugebildeten Gebärdensprache der Bedeutungswandel be-
greiflicherweise immer bloß wenige Glieder, während sich die Erschei-
nungen bei den überlieferten Formen weit mehr den entsprechenden
der Lautsprache nähern.
Neben der allgemeinen Übereinstimmung, die Gebärden- und
Lautsprache in diesen Vorgängen darbieten, dürfen nun aber auch
die wesentlichen Unterschiede nicht übersehen werden. Zunächst
ist der Bedeutungswandel der Gebärden, sobald er nicht, wie in den
zuletzt erwähnten Beispielen, neuesten Ursprungs und einfachster
Art ist, selten direkt in der Beobachtung zu verfolgen. Eine Ge-
schichte der Gebärden, analog der Geschichte der Wörter, besitzen
wir nicht, da es auf ihrem Gebiet, abgesehen von zufälligen Über-
lieferungen auf Kunstdenkmälern und bei früheren Schriftstellern,
Begriffsübertragungen und Bedeutungswandel der Gebärden. 215
nichts gibt, was der literarischen Überlieferung entspricht. Wo sich
etwa, wie bei der ,,Mano cornuta", mehrere Begriffe nebeneinander
erhalten haben, da ist daher im allgemeinen nur nach psychologischer
Wahrscheinlichkeit zu entscheiden, welcher der primäre, und welcher
der sekundäre sei. Sodann ist der Bedeutungswandel, so mannig-
fache Übertragungen er auch in einzelnen Fällen hervorgebracht
hat, doch im ganzen genommen von beschränktem Umfang, und ge-
rade die wichtigsten imd ursprünglichsten Gebärdeformen, die hin-
weisenden und nachbildenden, bleiben ihm fast ganz entzogen. Ersteres
erklärt sich aus der meist kurzen Lebensdauer der Gebärdensprache,
letzteres aus dem treuen Festhalten der unmittelbar sinnlichen Be-
deutung gerade dieser ursprünglicheren Zeichen. Aber selbst bei den
symbolischen Gebärden, die dem Bedeutungswandel einen weiteren
Spielraum eröffnen, bedarf es offenbar besonderer Anlässe, um nach-
einander und nebeneinander zahlreiche Anwendungen des nämlichen
Symbols hervorzubringen. So hat innerhalb der neapolitanischen
Zeichensprache die gehörnte Hand (Fig. 26 a) eine sehr viel reichere
Bedeutungsentwicklung erfahren als die plastische Gebärde des Esels-
kopfs (b und c ebenda). Dieser Unterschied ist aber sichtlich davon
abhängig, daß jene schon in ihrer ursprünglichen Form, als der gehörnte
Kopf überhaupt, eine umfassendere Bedeutung hat, wozu dann spe-
zielle kulturhistorische Einflüsse hinzutreten mochten, die ihre Wahl
als Droh-, Spott- und Beschwörungsgebärde begünstigten.
Zu diesen Eigentümlichkeiten des Bedeutungswandels der Ge-
bärden kommt endlich als eine letzte, wohl am meisten bezeichnende
die, daß er fast überall nicht als ein bloßer Wechsel, sondern als
eine Verzweigung der Bedeutungen erscheint, als ein Ansetzen
neuer Begriffe an einen vorhandenen, der daneben erhalten bleibt.
So ist von den zwanzig und mehr Bedeutungen der süditalienischen
„Mano cornuta" keine einzige erloschen. Am ehesten noch findet
sich die Verdunklung bestimmter, dereinst lebendig gewesener Vor-
stellungen beim Übergang nachbildender in symbolische Gebärden,
indem hier die sinnliche Bedeutung zur selteneren, manchmal kaum
mehr gebrauchten werden kann. Doch pflegt auch in diesen Fällen
die erloschene Bedeutung aus dem Gebrauch, aber nicht ganz aus dem
Bewußtsein zu verschwinden. So kommt die Handgebärde des Esels-
216 Die Gebärdensprache.
kopfs (Fig. 26 h und c) und die des Eselsohrs kaum noch in anderem
als in symbolischem Sinne vor; aber schwerlich wird sie jemals aus-
geführt, ohne daß die Vorstellung an den wirklichen Esel im Bewußt-
sein anklingt. Ja selbst in den Fällen, wo Beziehungen auf entschwun-
dene Gebräuche oder unverständlich gewordene sprichwörtliche Kede-
weisen zugrunde liegen, wie bei der Gebärde des Nasendrehens, des
Verschluckens einer Lüge (Fig. 30 e), erhält sich immer noch die Nei-
gung, dem konventionell gewordenen Zeichen irgendeine anschauliche
Bedeutung unterzulegen, wenn diese auch von der ursprünglichen
abweichen mag^).
IV. Syntax der Gebärdensprache.
1. Gebärdenfolge der Taubstummen.
Man hat von der Gebärdensprache gesagt, sie sei ,,ohne Satz,
also ohne Grammatik". Wenn der Taubstumme, um zu sagen ,,der
Vater gab mir einen Apfel", zuerst das Zeichen für „Apfel", dann
das für „Vater" und endlich das für „ich" mache, ohne ein Zeichen
für „geben" hinzuzufügen, also: ,, Apfel Vater ich", so sei das nichts
weniger als ein Satz; denn es fehle diesem Ausdruck eben das, was
das Wesen des Satzes ausmache, die eigentliche Aussage 2). Nach
dieser Auffassung würde, da die einzelne Gebärde einem Wort äqui-
valent ist, eine Gebärdenmitteilung lediglich in einer Summe einzelner
Wörter bestehen ; es würde ihr aber das fehlen, was die Sprache eigent-
lich erst zur Sprache macht: die Verbindung zu einem Ganzen, in
welchem jeder Begriff in einem bestimmten logischen Verhältnisse
zu andern Begriffen steht.
1) Die bei dem Bedeutungswandel der Gebärden wirksamen psychischen
Elementarprozesse sind oben nur andeutend berührt worden. Da sie vollständig
mit den beim Bedeutungswandel der Wörter nachzuweisenden übereinstimmen,
so wird erst bei diesem, der uns die gleichen Phänomene in viel weiterem Um-
fang erkennen läßt, hierauf einzugehen sein. (Vgl. Kap. VIII.)
2) Steinthal in Prutz' und Wolfsohns Deutschem Museum, I, S. 923.
Gebärdenfolge der Taubstummen. 217
Diese Auffassung von der ungrammatischen Natur der Gebärden-
sprache stützt sich teils darauf, daß eine dem Verbalausdruck ent-
sprechende Gebärde in manchen Fällen hinwegbleiben kann, teils
darauf, daß jene formalen Elemente, welche die Subsumtion unter
grammatische Kategorien vermitteln, hier gänzlich fehlen. Der erste
dieser Mängel ist jedoch keineswegs ein allgemeiner; er hängt mit
der Eigenschaft der Gebärdensprache zusammen, das Selbstverständ-
liche zu übergehen, und vielleicht fällt der Verbalbegriff nicht ein-
mal häufiger als irgendein anderer Bestandteil der Rede dieser Lex
parsimoniae zum Opfer. Auch in dem obigen Beispiel ,, Apfel Vater
ich" wird ein dem Verbum entsprechender Gebärdenausdruck nicht
immer fehlen. Wenn es eine Bitte enthält, so kann diese in dem mi-
mischen Ausdruck enthalten sein, der die Hinweisung auf das Ich
begleitet. Die Sätze ,, Vater gib mir einen Apfel" mid „der Vater gab
mir einen Apfel" werden also in diesem Sinn auch bei der Gebärd en-
mitteilmig deutlich unterschieden. Wo aber je einmal Zweifel über den
hinzuzudenkenden Verbalbegriff entstehen sollten, da würde der
Taubstumme schwerlich versäumen, die Handlung des Gebens selbst
durch eine bezeichnende Gebärde, etwa dadurch, daß er mit der einen
Hand einen imaginären, zwischen den Fingern gehaltenen Gegenstand
in die andere legt, auszudrücken. Dementsprechend hat denn auch
die Gebärdensprache für alle die Begriffe, die bestimmte, die verbalen
Prädikate der Sätze bildende Handlungen oder Zustände enthalten,
wie gehen, tragen, schlagen, arbeiten, lesen, hören, sehen usw., durch-
weg ihre besonderen Ausdrucksmittel. Die zweite angeblich die Bildung
eigentlicher Sätze verhindernde Eigenschaft, das Fehlen gramma-
tischer Kategorien, ist, wie wir bereits oben (S. 200 f.) gesehen haben,
nur partiell und in bedingter Weise anzuerkennen. Partiell, weil ein
absoluter Mangel nur für gewisse abstrakte Redeteile zutrifft, die
entweder ganz hinwegfallen oder durch konkrete Versinnlichungen
der Begriffe ersetzt werden. Das mag immerhin eine niedrige Ent-
wicklungsstufe bezeichnen; eine Eigenschaft, durch welche die Ge-
bärdensprache der Fähigkeit zur Satzbildung beraubt würde, ist es
nicht. Noch weniger gilt dies von jenem relativen Mangel grammatischer
Unterscheidung, wonach die einzelne Gebärde als solche nicht er-
kennen läßt, welche Stellung sie in der ganzen Mitteilung einnimmt.
218 I^ie Gebärdensprache.
Denn eben hier läßt sich die logische Kategorie, der das einzelne Zeichen
zuzurechnen ist, aus dem Zusammenhang unzweideutig erkennen»
Dabei stellt es sich aber heraus, daß gerade das, was der Gebärden-
sprache angeblich fehlen soll, die Verbindung der einzelnen Vor-
stellungen zu einem Satzganzen, für sie das Hilfsmittel ist, durch
das der grammatische Wert der einzelnen Gebärden bestimmt wird.
Hieraus ergibt sich ohne weiteres, daß von einer Syntax der Ge-
bärdensprache mit vollem Recht geredet werden kann, insofern eben
S3mtaktische Stellung der Wörter und Satz zusammengehörige Wechsel-
begriffe sind. Wo ein Satz existiert, da muß es auch bestimmte Ge-
setze der Wortfügung geben, und umgekehrt: wo diese nachzuweisen
sind, da ist auch der Satz vorhanden. Man muß daher, statt aus der
indifferenten Beschaffenheit der einzelnen Gebärden auf das Fehlen
des Satzes zu schließen, vielmehr aus dem Dasein bestimmter syn-
taktischer Gesetze folgern, daß auch die Gebärdensprache nicht bloß
aus einzelnen Zeichen, sondern aus Sätzen besteht. Ja der Satz spielt
in ihr sogar eine größere Rolle, insofern er es ist, der erst dem einzelnen
Zeichen seine grammatische Bedeutung verleiht. Natürlich lassen
uns aber aus dem gleichen Grunde die zumeist in der Lautsprache
dem Wort anhaftenden Merkmale seiner syntaktischen Stellung im
Stich, und wir müssen diese vielmehr aus dem ganzen Zusammen-
hang des Gedankenausdrucks erschließen. Darum kann wohl gelegent-
lich die syntaktische Stellung zweifelhaft werden, ähnlich wie dies
übrigens auch in der Lautsprache vorkommt, namentlich wenn diese
der charakterisierenden Flexionselemente entbehrt. Es kann z. B.
ungewiß sein, ob ein Gegenstandsbegriff als Subjekt oder als Objekt
des Satzes, ob ein verbaler Prädikatbegriff aktiv oder passiv gedacht
sei u. dgl. Mag nun auch diese Mehrdeutigkeit wegen des Mangels
aller Hilfsmittel syntaktischer Wortunterscheidung hier selbstverständ-
lich größer sein als in der Lautsprache, so werden wir doch die syn-
taktischen Begriffe der letzteren schon deshalb mit vollem Recht
auch auf die Gebärdensprache übertragen dürfen, weil jene Mehr-
deutigkeit höchstens für den, an den sich die Mitteilung richtet, nie
aber für den Sprechenden selbst existiert^).
^) Abgesehen von der hier angedeuteten Verwechslung des Redenden und
Gebärdenfolge der Taubstummen. 219
Über die Aufeinanderfolge der Gebärden in der natürlichen Ge-
bärdenspracbe der Taubstummen besitzen wir nun mehrere Auf-
zeichnungen von Taubstummenlehrern ^). Sie stimmen darin über-
ein, daß in der Regel das Subjekt des Satzes zuerst kommt, entsprechend
der gewöhnlichen Ordnung in der Grammatik der Lautsprachen.
Dagegen trennt sich die Gebärde von der im Deutschen, Englischen,
Französischen und andern modernen Sprachen bevorzugten Be-
griffsfolge, indem sie das Attribut, sobald es ein einfacher, in der Sprache
durch ein Adjektivum auszudrückender Eigenschaftsbegriff ist, hinter
den Gegenstandsbegriff stellt, zu dem es gehört, das Objekt vor die
Handlung, auf die sie sich bezieht. Von diesen syntaktischen Regeln
wird bekanntlich die zweite auch im Griechischen und Lateinischen
befolgt, wogegen die erste hier nicht in gleicher Weise gilt, da in diesen
Sprachen sowohl das Substantivum wie das Adjektivum vorangehen
kann, je nachdem dieses oder jenes stärker betont werden soll. Der
Taubstumme sagt also nicht ,,ein gewaltiger Berg", sondern ,,ein
Berg ein gewaltiger", wo im Lateinischen sowohl mons ingens wie
ingens mons stehen könnte. Und er sagt nicht ,,der Lehrer lobt den
Knaben", sondern ,,der Lehrer den Knaben lobt", analog dem latei-
nischen Magister fuerum laudat. Einen Satz wie diesen: ,,der zornige
Mann schlug das Kind", würde der Taubstumme folgendermaßen
ausdrücken: er würde zuerst auf die Person, die geschlagen hat, hin-
des Zuschauers wird dieses Verhältnis zuweilen auch noch durch die Annahme
eines von dem logischen spezifisch verschiedenen psychologischen Subjekt-
begriff verdunkelt. So von Sütterlin, Das Wesen der sprachlichen Gebilde,
1902, S. Iftf. (Vgl. dazu die Ausführungen über das „psychologische Subjekt"
unten Bd. 2, Kap. 7, III. ) Schwer begreiflich ist auch die Behauptung Delbrücks,
eine Syntax der Gebärdensprache sei, wo sie überhaupt existiere, von der Laut-
sprache aus eingedrungen (Grundfragen der Sprachforschung, S. 69). Die Tat-
sachen beweisen genau das Gegenteil; und wenn Delbrück selbst einmal versucht
hätte, sich in der Gebärdensprache zu üben — was nicht allzu schwer ist — ,
so würde ihm kaum entgangen sein, daß die unten (3) zu erörternden psycholo-
gischen Bedingungen der Aneinanderreihung der Gebärden mit unwidersteh-
licher Gewalt dieser ihre eignen, von der Lautsprache unabhängigen Wege an-
weisen. Vgl. hierzu meine Schrift: Sprachgeschichte und Sprachpsychologie,
S. 41 ff.
^) Schmalz, Über die Taubstummen und ihre Bildung, ^ S. 266 ff. Scott,
The Deaf and Dumb, 2 p. 134 ff.
220 I^i® Gebärdensprache.
weisen, oder sie auf andere Weise andeuten, dann den mimisclien
Ausdruck des Zornes annehmen, hierauf die Gebärde für Kind durch
Wiegen des einen Armes auf dem andern ausführen, oder, wenn das
Kind anwesend ist, wiederum auf dasselbe hinweisen, und endlich
mit der Gebärde des Schiagens den Satz beschließen, also, da Tem-
pora und Kasus durch die Gebärde nicht angegeben werden: ,,Mann
zornig Kind schlagen". Bezeichnen wir die grammatischen Kate-
gorien des Subjekts, des Objekts, des Adjektivums und Verbums
durch ihre Anfangsbuchstaben, und deuten wir die Verbindungen
der Begriffe durch verbindende Bogenlinien an, so ist demnach die
Struktur des Satzes in der Gebärdensprache die nachstehende:
Sie ist in der Stellung von Subjekt und Prädikat übereinstimmend,
sonst aber in jeder Beziehung entgegengesetzt der in der Grammatik
der modernen Sprachen befolgten Ordnung:
Treten zu dem Verbum noch adverbiale Bestimmungen, so folgt die
Gebärdensprache der nämlichen Begel wie bei dem Substantiv: der
•adverbiale Begriff steht hinter dem Verbum, zu dem er gehört, wenn
er nicht, was gerade bei den abstrakteren Adverbien nicht selten vor-
kommt, unmittelbar durch die den Verbalausdruck vertretende Ge-
bärde selbst angedeutet wird, indem die Art der Ausführung dieser
ein anschauliches Ersatzmittel des Adverbs ist. So wird der Aus-
druck: ,,er schlug heftig" durch die energische Bewegung, oder der
andere: ,,er schlug oft" durch die mehrmalige Wiederholung des
Schiagens wiedergegeben. In manchen Fällen, wenn die Handlung
pantomimisch durch Arm und Hand, die nähere Bestimmung durch
den mimischen Gesichtsausdruck angedeutet wird, wie in den Ver-
bindungen: „er schlug ihn zornig", ,,er winkte ihm freundlich", können
sich verbaler und adverbialer Begriff vollkommen simultan begleiten;
Gebärdenfolge der Taubstummen. 221
und das ähnliche kann dann natürlich auch bei dem Substantivum
und seinen attributiven Bestimmungen stattfinden. Einen Satz wie
diesen: „er redete laut" oder „seine Stimme verbreitete sich weit"
würde der Taubstumme so ausdrücken, daß er zuerst die Gebärde
des Sprechens, dann eine Bewegung vom Munde aus nach auswärts
machte und hierauf mit beiden Händen einen weiten Kreis beschriebe.
Ein vollständiger Satz der Gebärdensprache würde also, wenn wir außer
den oben angewandten Symbolen noch das Zeichen A' für adver-
biale Bestimmungen einführen, folgendermaßen gebaut sein:
S Ä 0 V A'
Dieses Schema der Hauptbestandteile des Satzes verkürzt sich
natürlich, wenn einzelne der Unterglieder hin wegfallen. Es kann
sich aber auch erweitern, wenn etwa mehrere attributive Bestim-
mungen oder mehrere Objektbegriffe die Zusammensetzung steigern.
Von besonderem Interesse ist unter diesen Komplikationen diejenige
Verbindung zweier Gegenstandsbegriffe, die ein Besitz- oder sonstiges
Zugehörigkeitsverhältnis bezeichnet, wie es in der Lautsprache durch
den Genitiv ausgedrückt wird. Wo eine solche Verbindung vorkommt,
da folgt zumeist der attributive Gegenstandsbegriff nicht, wie die
Eigenschaft, dem Hauptbegriff nach, sondern er geht ihm voran.
Der Taubstumme sagt also „Mann zorniger", aber ,,der Kirche Turm",
entsprechend der in imserer deutschen Wortzusammensetzung ein-
getretenen Folge „Kirchturm": er drückt etwa zuerst durch die Zeich-
nung eines Daches mit darauf gesetztem Kreuz die Kirche, und dann
durch die Erhebung beider Arme mit abermals darüber gezeichnetem
Dache den Turm aus. Dabei sind alle diese Kegeln offenbar natür-
liche Ergebnisse der Eigenart der Gebärdensprache, nicht im geringsten
konventionelle Formen. Sie treten überall in derselben Weise auf,
wo Taubstumme untereinander oder mit Hörenden verkehren. Sie
befestigen sich aber dann allerdings auch durch den Gebrauch, so daß
sie der Taubstumme, der in der Lautsprache unterrichtet wird, nicht
selten auf diese überträgt, ebenso wie er noch längere Zeit die Neigung
bewahrt, auf Flexionsformen zu verzichten und die Umschreibungen,
222 I^ie Gebärdensprache.
deren die Gebärdensprache bedarf, in der Lautspiache, wo sie über-
flüssig sind, anzuwenden. So sagt er etwa im Anfang des Unterrichts:
„Lehrer Garten gehen^' statt: ,,der Lehrer ist in den Garten gegangen",
oder: „Lehrer klug, schreiben, lesen, arbeiten" statt einfach: „der
Lehrer ist klug und fleißig". Statt „der Regen macht das Land frucht-
bar" schrieb ein Taubstummer: ,,der Regen fällt, die Pflanzen wachsen",
statt ,,ich muß meinen Lehrer lieben und achten" ein anderer ,,ich
schlage, betrüge, schimpfe nicht Lehrer, ich liebe und ehre". Neben
diesen verdeutlichenden Umschreibungen ist noch lange Zeit der
Mangel der Konjunktionen und des Relativpronomens bezeichnend.
Die blinde und taubstumme Laura Bridgman schrieb, als sie sich
schon des Verbum substantivum bedienen gelernt hatte, noch die
Definitionen nieder: ,, Witwe ist Frau, Mann tot und kalt", ,, Jung-
gesell nicht haben Weib". Alle diese Erscheinungen zeigen, daß sich
in dieser Beziehung die Gebärdensprache nicht anders verhält wie
jede andere Sprache. Die eingeübte Sprachform ist nicht bloß ein
äußeres Gewand des Gedankens, sondern sie beeinflußt diesen selbst,
so daß sie sich zunächst jede neu angeeignete Sprachform Untertan
macht 1).
Übrigens können in der Gebärdensprache der Taubstummen
von der regelmäßigen syntaktischen Folge auch mannigfache Ab-
weichungen stattfinden. Dies gilt schon für die Stellung der Haupt-
glieder des Satzes, Subjekt und Prädikat, indem die Prädikatvor-
stellung da, wo sie sich mit besonderer Intensität dem Bewußtsein
aufdrängt, auch im Ausdrucke dem Subjekt vorangehen kann. Wünscht
z. B. der Stumme Wasser zu trinken, so wird er, wenn die Begierde
nach dem Trünke sehr lebendig ist, zuerst das Wasser andeuten, in-
dem er etwa das Pumpen am Brunnen und das Vorhalten eines Gefäßes
nachahmt, dann die Gebärde des Trinkens machen und zuletzt auf
sich selbst hinweisen: ,, Wasser trinken ich", also in Zeichen aus-
^) Über die allmähliche Aneignung der Formen der Lautsprache durch
Taubstumme während des Unterrichts hat namentlich der selbst taubstumme
Kruse eine große Zahl von Beobachtungen gesammelt. (Kruse, Über die Taub-
stummen, 1853, S. 56 ff. Vgl. auch Steinthal a. a. O. S. 923 ff.) Über die Sprache
der blinden Taubstummen Laura Bridgman vgl. W. Jerusalem, Laura Bridgman,
1890, S. 41 ff.
Gebärdenfolge der Indianer. 223
gedrückt: GVS, nicht S 0 V. Augenscheinlich hat demnach die ge-
wöhnliche Folge nicht die Bedeutung eines unabänderlich wirken-
den Gesetzes, sondern sie ordnet sich selbst einem allgemeineren psy-
chologischen Prinzip unter, nach welchem die Vorstellung, die sich
zuerst zur Apperzeption drängt, immer auch zuerst durch die Ge-
bärde ausgedrückt wird. Die Folge S Ä O V ist aber offenbar die-
jenige, die diesem Prinzipe der bevorzugten Apperzeption am häufigsten
entspricht.
2. Gebärdenfolge der Indianer.
Diese Folgerung wird durch die Tatsache bestätigt, daß jene
Form der Gebärdensprache, die allein noch in bezug auf ihre Syn-
tax durch die Bemühungen der amerikanischen Ethnologen genauer
bekannt geworden ist, die der nordamerikanischen Indianer, der Ge-
bärdensprache der Taubstummen in jenen Eigenschaften im wesent-
lichen gleicht. Diese Übereinstimmung fällt um so mehr ins Gewicht,
da die Lautsprachen, die den Verbreitungsgebieten dieser verschiedenen
Entwicklungsformen der Gebärdensprache angehören, eine völlig
abweichende Struktur besitzen.
Für das Studium der Syntax der indianischen Gebärdensprache
bietet die von G. Mallery mitgeteilte Sammlung von Redensarten,
Unterredungen und Erzählungen ein reiches Material, aus dem hier
nur einige kurze Beispiele angeführt werden sollen^). Um zu fragen,
,,wo ist deine Mutter?" macht der Indianer zuerst die Gebärde für
„Mutter", indem er den Zeigefinger der linken Hand in den Mund
steckt, ein Zeichen, das in anderer Verbindung auch „Kind" be-
deuten könnte, dann durch Hinweisung mit dem rechten Zeigefinger
auf den Angeredeten das Zeichen für „du". Hierauf hält er Zeige-
und Mittelfinger ausgespreizt vor das Auge und bewegt sie in den
Raum hinaus, für ,, sehen". Dann macht er durch eine hinwegweisende
Bewegung mit der rechten Hand bei abwärts gekehrter Handfläche
das Zeichen für „nicht", und endlich blickt er fragend den Angeredeten
1) Mallery a. a. 0. S. 479 ff.
224 Die Gebärdensprache.
an, indem er sicli rings umsieht: ,, Mutter deine sehen nicht wo?"
Der Begriff ,, Mutter" ist offenbar Subjekt dieses Satzes. Daß wir
das Wort bei der gewählten Konstruktion in das Objekt verwandeln,
ist unwesentlich, wir könnten dem Satz auch die Form geben: ,, deine
Mutter wird nicht von mir gesehen, wo ist sie V Demnach ist >S ^ V A'
die Ordnung der Begriffe. Zugleich zeigt dieses Beispiel deutlich,
wie bei der Gebärdensprache wegen der größeren Unbestimmtheit
der einzelnen Zeichen und der daraus entstehenden Gewohnheit, eine
Gebärde wenn nötig durch eine andere zu erläutern, das einzelne
Zeichen zumeist erst durch den Zusammenhang der Rede seinen Be-
griffsinhalt gewinnt. So erhält die erste der angeführten Gebärden
die Bedeutung ,, Mutter" erst durch die folgende Hinweisung auf
den Angeredeten; in anderm Zusammenhang könnte sie ebensogut
heißen: ,,als du ein Kind (eigentlich ein Säugling) warst". Die Schluß-
gebärde würde in anderem Zusammenhang auch ,, überall" bedeuten
können: durch das Vorangegangene und den begleitenden Gesichts-
ausdruck verwandelt sie sich in die Frage ,,wo". Den Satz ,,ich will
in zwei Tagen nach Hause gehen" drückte ein Indianer folgender-
maßen aus. Zuerst wurden beide Hände mit der Handfläche nach
abwärts in der Höhe der Ellbogen horizontal hin und her bewegt und
dann die rechte über die linke gelegt: Zeichen für ,, Nacht" (eigentlich
eine Verbindung der Zeichen für „Himmel" und ,, Decke"). Hierauf
wurden Zeige- und Mittelfinger in die Höhe gehoben: Zeichen für
,,zwei"; mit dem Zeigefinger der Rechten gegen die eigene Brust ge-
zeigt: „ich"; nun wies derselbe Finger ausgestreckt auf den Weg hin:
,, gehen". Endlich wurde die geballte rechte Faust gegen den Boden
herabbewegt, auf dem der Redende stand: ,, Heimat". Also wört-
Uch: ,, Nacht zwei ich gehen Heimat". Seinem Sinne nach läßt sich
dieser Satz in zwei Sätze zerlegen, in deren erstem das Prädikat
unterdrückt worden ist: ,,zwei Nächte (werden vergehen)"
„(dann werde) ich (in meine) Heimat gehen", mit der Begriffsfolge
S A (7), S V A'.
Schließlich mag hier als ein etwas verwickelteres Beispiel noch
ein Satz aus einer Erzählung eines Mescaleroindianers, zum Volke
der Apachen gehörend, angeführt werden. Der Satz lautet in der
Übersetzung: ,, Weiße Soldaten, die von einem Offizier von hohem
Gebärdenfolge der Indianer. 225
Rang, aber geringer Intelligenz geführt wurden, nahmen die Mes-
caleroindianer gefangen." Die Aufeinanderfolge der Zeichen ist die
folgende: 1. „Soldaten": die Daumen werden an die beiden Schläfen
gesetzt, die Zeigefinger vorwärts gerichtet, auf der Stirn aneinander
stoßend, die übrigen Finger geschlossen (Nachahmung eines soldatischen
Mützenschildes), 2. „Haar": Berührung des eigenen Haares, 3. „weiß":
Berührung der Zähne, 4. ,, Offizier": Berührung der Spitze der Schulter
(Andeutung der Achselstücke), 5. „hochgestellt": Erhebung beider
Hände über den Kopf (dieselbe Gebärde wie für Häuptling), 6. ,, töricht" :
der Zeigefinger berührt die Stirn und wird dann um Gesicht und Kopf
herumgeführt (das übliche Zeichen für närrisch oder dumm), 7. ,,Mes-
caleroindianer" : die Hände werden von den Schenkeln zum Körper
hinaufgezogen, dann auf die eigene Brust gedeutet (die erste Gebärde
Andeutung der Mokassins, der eigentümlichen Fußbekleidung der
Indianer, die zweite auf den Stamm des Redenden hinweisend),
8. ,, gefangen": die beiden Hände werden einander genähert, mit den
Handflächen einander zugekehrt, dann beide Daumen und Zeige-
finger zu einem Kreise geschlossen (zeichnende Gebärde für gefaßt
und eingeschlossen). Also: ,, Soldaten (deren) Haar weiß (unter einem)
Offizier hochgestellt (aber) töricht die Mescaleroindianer (nahmen)
gefangen". Dies entspricht genau der Folge: S Ä O V, nur zerfällt
das hier mit dem Symbol Ä bezeichnete Attribut des Subjektbegriffs S
in mehrere attributive Bestimmungen von verschiedener Ordnung,
für deren Verbindung wieder im wesentlichen die nämlichen Regeln
gelten wie für die Hauptbegriffe. Das nähere Attribut zu S (den Sol-
daten) ist weißhaarig, nach der Regel S A (Haar weiß) zusammen-
gesetzt; das fernere und daher nachfolgende ist der Offizier, zu dem
eine entsprechende Präposition hinzuzudenken ist (unter einem
Offizier), und dem wieder zwei Attribute (hochgestellt, töricht)
nach der Regel S A beigefügt sind. Aus allem diesem erhellt,
daß die Gebärdensprache der Indianer in der Aufeinanderfolge
der einzelnen Zeichen durchaus mit der Taubstummensprache
übereinstimmt.
Wund t, Völkerpsychologie, I. 4. Aufl. 15
226 I^i® Gebärdensprache.
3. Psychologische Ursachen der Gebärdensyntax.
Daß eine Regelmäßigkeit, die unter so abweichenden Verhält-
nissen wiederkehrt, allgemeingültige Ursachen habe, läßt sich nicht
wohl bezweifeln. Auch wird man von vornherein zugestehen, daß
diese Ursachen psychologische sein müssen, mögen sie nun als solche
mit den allgemeinen Gesetzen des Vorstellungsverlaufs zusammen-
hängen, wie man das bei der von Laut- wie Gebärdensprache bevor-
zugten Voranstellung des Subjekts vor dem Prädikat wohl vermuten
wird, oder mögen sie aus den besonderen Verhältnissen der Gebärden-
mitteilung ihren Ursprung nehmen.
Die Syntax der Gebärden läßt sich nun zunächst, wie jede Syn-
tax, auf drei Prinzipien zurückführen, die wir kurz als die Prinzipien
der logischen, der zeitlichen und der räumlichen Abhängig-
keit bezeichnen können. Wirken diese drei in gleichem Sinne, so ist
damit auch die Stellung der Begriffszeichen unweigerlich bestimmt.
Wirken sie aber, wie es häufig vorkommt, in verschiedenem Sinne,
so kann bald der eine, bald der andere Einfluß das Übergewicht ge-
winnen. Hierbei ist es nun eine charakteristische Eigenschaft der
Gebärdensprache, daß bei ihr die zeitliche und die räumliche Ab-
hängigkeit, die wir beide zusammen auch die anschauliche nennen
können, von überwiegender Wirkung sind. Diese Eigenschaft läßt
sich wieder aus zwei andern unschwer begreifen. Die erste besteht
in der sinnlichen Anschaulichkeit und unmittelbaren Verständlich-
keit der einzelnen Zeichen, was notwendig auch auf ihre Anordnung
herüberwirken muß; die zweite in der im Verhältnis zur Schnellig-
keit der Lautsprache sehr viel langsameren Aufeinanderfolge der
Zeichen, eine SchwerfäUigkeit der Bewegung, die noch durch die oft
sich einstellende Notwendigkeit erläuternder Hilfsgebärden ver-
größert wird.
Diese Bedingungen bewirken es, daß gerade diejenige syntaktische
Regel, die am meisten die logische Abhängigkeit der Bestandteile
des Satzes zur Geltung bringt, die Regel des voranstehenden Sub-
jekts, in der Gebärdensprache zwar im allgemeinen befolgt, aber
auch am leichtesten verletzt wird. Dabei kommt zugleich in Betracht,
daß überall da, wo das Prädikat ein Objekt enthält, dieses durch eine
Psychologische Ursachen der Gebärdensyntax. 227
nur unerhebliche Verschiebung der Vorstellungen auch als Subjekt
gedacht werden kann, und daß eine Gebärdenfolge, die einem einzigen
Satze der gesprochenen Rede äquivalent ist, nicht selten nach dem
Sinn des Gedankens angemessener als eine Aneinanderreihung von
zwei oder mehr Sätzen betrachtet werden muß. Gerade in solchen
Fällen, wo die Stellung des Subjekts zum Prädikat sich umkehrt,
wird aber meist eine solche Zerlegung gefordert. So kann wohl der
Taubstumme statt der Folge „der Mann der zornige das Kind er schlug"
auch die andere wählen: „das Kind er schlug der Mann der zornige".
Aber wir können hier ebensogut und wahrscheinlich im Geiste der
Gebärdensprache zutreffender interpretieren: „das Kind wurde ge-
schlagen, der Mann war zornig". Dem entspricht es in der Tat, daß
solche scheinbare Umkehrungen der Stellung von Subjekt und Prädi-
kat vorzugsweise in lebhafter, affekterregter Rede vorkommen, unter
Bedingungen also, die ebensowohl zur besonderen Betonung und darum
Voranstellung der Handlungen, von denen berichtet wird, heraus-
fordern, wie zur Zerlegung der Rede in kleinere Teile, deren jeder
ein abgeschlossenes, aber rasch vorübergehendes Bild vor die Seele
ruft, — ganz wie die einzelnen Momente des Affekts selbst rasch einan-
der ablösen. Daher diese beiden Eigenschaften, die Voranstellung
des Prädikats und der Abfluß der Rede in kleinen, den Zusammen-
hang der Gedanken in seine einzelnen Momente zerlegenden Sätzen,
auch in der Lautsprache dem Affekt eigen zu sein pflegen. In der
Gebärdensprache führt aber, da ihr eine von der syntaktischen Stellung
unabhängige grammatische Charakteristik der einzelnen Vorstellungs-
zeichen fehlt, die Koexistenz dieser beiden Eigenschaften der affekt-
vollen Rede notwendig dazu, daß ein Satz, in welchem das Objekt
mit dem zugehörigen verbalen Prädikat voransteht, immer als eine
Aufeinanderfolge zweier Sätze mit zwei verschiedenen Subjekten
gedeutet werden kann. Dazu tritt noch eine weitere Tatsache für
diese letztere Deutung entscheidend ein: die Gebärdensprache kennt
die Voranstellimg des Prädikats nur in dem Fall, wo dieses neben
dem Verbal- zugleich einen Objektbegriff enthält, der eben als das
Subjekt zu jenem gedacht wird. Sie kennt jene Voranstellung nicht
bei rein verbalen Prädikaten. So würde es nicht oder doch nur unter
besonderen, durch das Vorangegangene gerechtfertigten Bedingungen
15*
228 Die Gebärdensprache.
möglich sein, zu sagen ,,es schoß der Jäger" statt ,,der Jäger schoß",
„es weinte das Kind" statt ,,das Kind weinte". Auch erkennt man
leicht, sobald man sich nur den Ausdruck eines solchen Satzes in Ge-
bärden vergegenwärtigt, den Grund, aus dem jene in der Lautsprache
immerhin nicht seltenen Begriffsfolgen in der Gebärdensprache un-
möglich sind. Hier ist es eben das Gebot der Anschaulichkeit, das
ihnen um so mehr widerstreitet, je mehr jede einzelne Gebärde durch
die Langsamkeit der Aufeinanderfolge in gewissem Grad als eine
selbständige Vorstellung aufgefaßt werden muß. Die Bewegungen
des Schießens, des Weinens für sich ausgeführt, noch bevor klar ist,
auf wen sie bezogen werden sollen, würden gewissermaßen in der Luft
schweben. Um überhaupt in ihrem Verhältnis zum Ganzen des Ge-
dankens begriffen zu werden, bedürfen sie der Gegenstands vorstellmig,
auf die sie sofort bezogen werden können, und die ihnen daher auch
in der äußeren Folge der Gebärdezeichen vorangeht.
Wie auf solche Weise die mit der logischen Verbindung der Be-
griffe übereinstimmende Stellung der beiden Hauptteile des Satzes
im allgemeinen zugleich den Bedingungen der Anschaulichkeit ent-
spricht, so ist es nun auch vor allem diese letztere, die alle andern
syntaktischen Erscheinungen in der Gebärdensprache beherrscht.
Dabei ist das Prinzip der zeitlichen Anschaulichkeit für die Auf-
einanderfolge der größeren Zusammenhänge, das der räumlichen
für die engeren Verbindimgen innerhalb eines einzelnen Satzes vor-
zugsweise bestimmend. Die Gebärdensprache berichtet Ereignisse
genau in der Folge, in der sie erlebt wurden. Sie beschreibt Gegen-
stände genau in der Ordnung, in der sich ihre Teile der Beobachtung
aufdrängen. Darum weiß sie in der Regel nichts von jenen Umstellungen,
welche die ausgebildete Lautsprache um bestimmter logischer Zwecke
willen vornimmt. Schon der Umstand, daß ihr die abstrakten Wort-
formen, besonders die Konjunktionen fehlen, macht es für sie not-
wendig, die Zeitbestimmungen durch das einfachste und zugleich
anschaulichste Hilfsmittel auszudrücken: dadurch, daß die Zeitfolge
der Gebärden eine Nachbildung der Zeitfolge der Ereignisse ist. Zu
dieser Folge wird sie aber schon deshalb gedrängt, weil die einzelnen
Gebärden in ihren wichtigsten Formen selbst Nachbildungen auf-
einander folgender Handlungen sind. So überträgt das Prinzip der
Psychologische Ursachen der Gebärdensyntax. 229
zeitlichen Anscliaulichkeit nur eine Eigenschaft der einzelnen Ge-
bärden auf deren Zusammenhang.
In anderer Weise ist dieses Prinzip für die Verbindung der attri-
butiven Bestimmungen mit dem Substantivbegriff sowie für die ana-
loge Verbindung der Verbalvorstellung mit ihrem Objekt maßgebend.
Hier sind die zwei zusammengehörigen Begriffe so eng aneinander
gebunden, daß sie in der wirklichen Anschauung überhaupt niemals
in zeitlicher Folge apperzipiert werden können. Das Attribut ist im
allgemeinen gleichzeitig mit dem Gegenstand; denn es gehört selbst
zu den Merkmalen, an denen dieser erkannt wird. Das Objekt ist
gleichzeitig mit der Handlung, von der es leidet, und diese ist in dem
gegebenen Zusammenhang gar nicht ohne das Objekt zu denken.
Nun kann aber die Gebärdensprache noch weniger als die Lautsprache
die simultanen Verbindungen der Begriffe durch einen simultanen
Ausdruck darstellen. Vielmehr bleiben gerade bei ihr wegen der Lang-
samkeit ihrer Zeichenfolge auch die zusammengehörigen Begriffe
zeitlich weiter getrennt. Um so mehr ist es daher Bedingung der An-
schaulichkeit, daß diejenige Vorstellung vorangeht, die nötigenfalls
ohne die andere gedacht werden kann, und daß diejenige nachfolgt,
die in der gegebenen Gedankenverbindung der andern bedarf. Alle
diese Beziehungen, die attributiven wie die objektiven, lassen sich
aber in eine konstantere selbständige und in eine variablere abhängige
Vorstellung zerlegen. So ist in der Verbindung „ein großes Haus"
das Haus die festere und selbständige, die Größe die variablere und
abhängige Vorstellung: das Haus läßt sich noch mit vielen andern
Eigenschaften denken, die Größe ist stets an einen Gegenstand, in
diesem Fall an das Haus gebunden. Ebenso ist in dem Prädikat des
Satzes ,,der Baumeister baut das Haus" wiederum das Haus eine
selbständig zu denkende Vorstellung, doch die Handlung des Bauens
kann nicht vorgestellt werden ohne den Gegenstand, der gebaut wird.
Auf diese Weise sind die beiden Regeln der Stellung des Adjektivs
hinter dem Substantiv und des Verbums hinter dem Objekt einer-
seits einfache Folgen der realen Koexistenz des Gegenstandes und
seiner Eigenschaften, der Handlung und ihres Objekts. Anderseits
entspringen sie aus der relativen Langsamkeit der Gebärdenfolge,
welche die Forderung mit sich führt, jede einzelne Gebärde sei derart
230 Die Gebärdensprache.
in den Zusammenhang der Rede einzufügen, daß sie für sich allein
oder in ihrer Beziehung auf vorangegangene Gebärden unmittelbar
verständlich ist. Dies verhält sich in der Lautsprache, in der ein Sub-
stantiv und sein Attribut, ein Verbum und sein Objekt im Fluß der
Rede vollständig zu einer Worteinheit verbunden sein können, wesent-
lich anders. Verbindungen wie mons ingens und ingens mons, puerum
laudat und laudat puerum sind beide für unser Denken simultanen
Verbindungen äquivalent. Bei der Gebärdensprache, wo sich jeder
Begriff selbständiger vom andern abhebt, würde eine Gebärde, die
erst durch eine folgende ihre Stellung im Satz erhielte, leicht eine un-
erträgliche Hemmung im Flusse der Vorstellungen erzeugen.
Hiernach lassen sich die syntaktischen Eigenschaften der Ge-
bärdensprache auf zwei allgemeine Bedingungen zurückführen:
erstens auf das in ihr streng festgehaltene Prinzip, daß die einzelnen
Zeichen in der Ordnung einander folgen, in der sie in der Anschauung
voneinander abhängig sind; und zweitens auf die verhältnismäßig
langsame Aufeinanderfolge der einzelnen Zeichen, welche die Forde-
rung mit sich führt, daß ein gegebenes Symbol, soweit es nicht an
sich selbst deutlich ist, durch vorangehende, nicht erst durch nach-
folgende Symbole seine Bedeutung erhält. Sobald diese beiden Postu-
late erfüllt sind, kann sich auch noch ein drittes Moment geltend machen :
das Bedürfnis, diejenigen Vorstellungen zuerst auszudrücken, die
mehr als andere affektbetont sind. Eine wichtige Hilfe, diesem Be-
dürfnis zu genügen, ohne die Bedingungen der Anschaulichkeit und
der Verständlichkeit zu verletzen, besteht aber für die Gebärden-
sprache darin, daß sie einen zusammenhängenden Gedanken in mehrere
einzelne Sätze gliedert. Besonders erreicht sie hierbei einen der Voran-
stellung des Prädikats äquivalenten Erfolg dadurch, daß sie aus dem
verbalen Prädikat und seinem Objekt einen selbständigen Satz bildet,
zu dessen Subjekt nun jenes Objekt wird. Damit hängt zusammen,
daß überhaupt in der Gebärdensprache alle solche Unterscheidungen,
die auf der feineren Gliederung und Periodisierung der Rede beruhen,
hinfällig werden. Ein zusammengesetzter Satz wird darum in ihr stets
zu einer Aufeinanderfolge mehrerer einfacher Sätze.
Urspining der Gebärdensprache aus den Ausdrucksbewegungen. 231
V. Psychologische Entwicklung der Gebärden-
sprache.
1. Ursprung der Gebärdensprache aus den Ausdrucks-
bewegungen.
Die Gebärdensprache ist ein natürliches Entwicklungsprodukt
der Ausdrucksbewegungen; und sie ist, mindestens in dem Umfang
und in der Ausbildung, in der sie den Entwicklungsformen der Laut-
sprache an die Seite gestellt werden kann, ein spezifisch mensch-
liches Erzeugnis. Die höheren Tiere zeigen zwar eine Fülle charakte-
ristischer Ausdrucksbewegungen, die denen des Menschen in ihren
allgemeinsten Eigenschaften verwandt sind. Doch von allem dem,
was die menschliche Gebärdensprache erst zu einer eigentlichen Sprache
macht, von der Entwicklung verschiedener Grundformen der Gebärde,
von den Übertragungen der Bedeutung und dem Bedeutungswandel,
endlich von einer nach bestimmten Gesetzen geregelten syntaktischen
Ordnung kann dort nirgends die Rede sein.
Ein Zeugnis für diese niedrigere Stufe der Gebärdenentwicklung
bei den Tieren liegt schon darin, daß diejenige Gebärdeform, die beim
Menschen überall als die urspünglichste erscheint, und die daher
noch beim Kinde am frühesten in spontaner Entstehung beobachtet
wird, die hinweisende, beim Tiere kaum vorkommt oder höchstens
auf einer Art Zwischenstufe zwischen der ursprünglichen Greifbewegung
und der hinweisenden Bewegung stehen geblieben ist. So namentlich
auch bei dem durch den Bau seiner Hände zu Greifbewegungen ganz
besonders veranlagten Affen ^).
Ähnlich verhält es sich mit der Klasse der darstellenden Ge-
bärden. Sie haben in den nachahmenden Ausdrucksbewegungen
ihre natürliche Grundlage. Aber der große Schritt, durch den jene
allgemein im Tierreich verbreiteten imitativen Bewegungen, bei denen
ein Wesen die Handlungen eines andern ihm ähnlichen nachahmt,
in Nachahmungen beliebiger objektiver Handlungen über-
gehen, ist erst innerhalb der menschlichen Entwicklung getan worden ;
1) Vgl. oben Kap. I, S. 136 f.
232 Die Gebärdensprache.
und erst aus dieser letzteren Form können naturgemäß die in der
Gebärdensprache vorkommenden verscliiedenen Arten darstellender
Gebärden entspringen. Unter diesen stehen die nachbildenden
den gewöhnlichen nachahmenden Affektäußerungen am nächsten.
Was sie von diesen scheidet, ist nur die Entwicklung, die sie unter
dem Einfluß der Wechselwirkung der Individuen erfahren.
Indem die Affektäußerung von dem, an den sich der Affekt richtet,
auf seinen Urheber zurückgeht, verändert sie zugleich ihren Inhalt,
und indem diese Veränderung auch die Vorstellungsinhalte des Affekts,
ja diese wegen der größeren Mannigfaltigkeit, die sie innerhalb einer
und derselben Grundstimmung zulassen, ganz besonders trifft, wird
allmählich jene hin und her gehende Bewegung des Gebärdenspiels
zu einem Austausch der im Bewußtsein der Einzelnen hervortreten-
den Vorstellungen. Zunächst erheben sich noch diese Vorstellungen
innerhalb einer und derselben Grundstimmung. Dann tragen sie durch
die Rückwirkung des Vorstellungswechsels auf die Gefühle die Macht
in sich, auch den Gefühlsinhalten der Affekte eine veränderte Rich-
tung zu geben. Der ,, Mitteilungstrieb" ist daher ebensowenig eine
einheitliche psychische Kraft wie der ,, Nachahmungstrieb", sondern
ein notwendiges Produkt des Wechsel Verkehrs der Individuen. Asso-
ziieren sich bei dem Nachahmungstrieb mit den Ausdrucksbewegungen
des einen in einem andern die zugehörigen Gefühle, aus denen nun
die gleichen Ausdrucksbewegungen entstehen, so geht der ,,Mitteilungs-
trieb" unmittelbar aus der Gefühlswirkung hervor, welche die Wahr-
nehmung dieser sympathischen Affektwirkung begleitet. Denn die
Gefühlswirkung wird nun zum impulsiven Motiv, gleiche Affekt-
äußerungen des andern hervorzurufen; und damit verbindet sich
dann von selbst auch die Mitteilung der den Affekt begleitenden Vor-
stellungen. Bei der Wiederholung des Vorgangs kann diese Mitteilung
allmählich selbst zum Motiv werden. Je mehr das geschieht, um so
mehr gesellen sich aber, wie wir vermuten dürfen, zu den hinweisenden
nachahmende Bewegungen. Auf solche Weise sind die letzteren wahr-
scheinlich ebensosehr Produkte der entstehenden Gebärdenmitteilung,
wie sie anderseits selbst diese erst in ihrer vollkommeneren Ausbildung
möglich machen. So geht aus der absichtslos dem Affekt entströmen-
den Vorstellungsäußerung im Wechselverkehr der Einzelnen die trieb-
Ursprung der Gebärdensprache aus den Ausdrucksbewegungen. 233
artige Mitteilung und dann aus dieser, indem der Handelnde die Er-
folge seines Tuns auf sich wirken läßt, schließlicli die willkürliche
Mitteilung durch Gebärden hervor. Dabei bleibt aber die Grenze
zwischen der ursprünglichen, sich selbst genügenden Äußerung und
der später entstandenen, von dem Willen zur Wirkung auf andere
getragenen fortan eine fließende. Selbst in der voll entwickelten Ge-
bärdensprache ist daher die willkürlich nur zum Zweck der Mitteilung
ausgeführte Bewegung auf einzelne Momente beschränkt, zwischen
denen sich ganz in der ursprünglichen Weise der Affektäußerung
die Gebärden nach rein gefühlsmäßigen Impulsen aneinander
schließen.
Mit dem Übergang der nachahmenden Ausdrucksbewegungen
in Bestandteile einer zusammenhängenden Gebärdenäußerung ist
nun aber auch der Anlaß zur Entwicklung verschiedener formen
von Gebärden gegeben, die in der allgemeinen Eigenschaft, durch
irgendein dem Gesichtssinn wahrnehmbares Bild die entsprechende
Vorstellung zu erwecken, den ursprünglichen nachahmenden Bewegun-
gen gleichen, während sie doch dem wachsenden Reichtum der Vor-
stellungen und ihrer Verbindungen sich anpassen. Unter den so ent-
standenen Gebärdeformen stellt die zeichnende die direkte, im wesent-
lichen unverändert gebliebene Fortsetzung der reinen Nachahmungs-
bewegung dar : sie hat ganz den dieser Ursprungsform eigenen Charakter
rasch vorübergehender Bewegungen beibehalten, wie sie der Natur
des Affekts entspricht; und zugleich deutet sie immittelbar das Ob-
jekt oder die Handlung selbst an. Von dieser Ursprungsform aus
divergiert nun die Entwicklung nach zwei Richtungen. Auf der
einen Seite regt sich, indem der begleitende Affekt schwächer wird,
der Trieb nach dauernderer Festhaltung einer dem Auge einzuprägen-
den Form. Aus diesem Motiv entspringt die plastische Gebärde.
Sie setzt unbedingt voraus, daß sich die ursprüngliche Affektgrund-
lage der Bewegungen ermäßigt hat. Denn der Affekt treibt um so
mehr, je intensiver er ist, zu rasch vorübergehenden Bewegungen.
Plastische Gebärden fordern überdies zumeist eine gewisse Überlegung,
und sie beruhen darum auch viel häufiger als die zeichnenden in ihren
eigentümlichen Bedeutungen auf konventioneller Geltung. Auf der
andern Seite entwickelt sich aus der zeichnenden die mitbezeich-
234 Die Gebärdensprache.
nende Gebärde. Sie entstellt, sobald das Bedürfnis erwacht, Gegen-
stände oder Handlungen auszudrücken, die durch eine Umrißzeich-
nung nicht oder nur unsicher festgehalten werden können, während
sich bei ihnen charakteristische Nebenmerkmale der zeichnenden
Nachbildung darbieten. Die mitbezeichnende Gebärde liegt daher
genetisch der nachahmenden in ihrer ursprünglichen Gestalt wahr-
scheinlich näher als die plastische Nachbildung. Aber in der isolieren-
den Aufmerksamkeit auf einzelne Eigenschaften, die sie fordert, in
dem Streben, ein zur Verständigung dienliches Merkmal herauszu-
greifen, verrät doch auch sie eine wachsende Ermäßigung des Affekts
und einen zunehmenden Einfluß der Reflexion.
Die letzte Stufe der Entwicklung bezeichnen endlich die sym-
bolischen Gebärden. Hierher gehören zunächst die früher (S. 202 f.)
erwähnten ursprünglichsten Fälle assoziativer Übertragung von einer
sinnlichen Vorstellung auf eine andere. Bei ihrer weiteren Entwick-
lung werden dann aber die symbolischen Gebärden für Begriffe an-
gewandt, die überhaupt nicht durch ein bestimmtes Bild darstellbar
sind, für die also eine zeichnende oder plastische Bewegung nur noch
die Bedeutung einer stellvertretenden Vorstellung hat. Eine
solche Stellvertretung ist im Gebiet der natürlichen Gebärdensprache
nur dadurch möglich, daß eine psychologische Verwandtschaft zwischen
dem Begriff und der stellvertretenden Vorstellung besteht. Dadurch
unterscheiden sich zugleich die natürlichen Symbole von den künst-
lich erfundenen, bei denen jene Beziehung auf willkürlicher Überein-
kunft beruht. Indem nun die symbolischen Gebärden auch in ihrer
natürlichen Form bereits auf verwickeiteren psychologischen Be-
dingungen beruhen, ist es begreiflich, daß sich in vielen Fällen die
Grenzen zwischen natürlicher Entstehung und willkürlicher Erfindung
verwischen. Im allgemeinen wird es aber als nächstes Kriterium natür-
licher Entstehung eines Symbols gelten können, wenn sich ein be-
stimmtes sinnliches Bild so unmittelbar für einen Begriff bietet, daß
zunächst überhaupt kein deutliches Bewußtsein der Verschieden-
heit von Bild und Bedeutung besteht. In zweiter Linie werden dann
noch diejenigen Symbole als natürlich entstanden zu betrachten
sein, die aus solchen primären auf dem Weg einer einfachen Bedeu-
tungsentwicklung hervorgehen. Hiernach sind primäre symbolische
Ursprung der Gebärdensprache aus den Ausdrucksbewegungen. 235
Gebärden vor allem jene, die aus hinweisenden entstanden sind, wie
die Andeutung der Zeitformen der Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft durch räumliche Richtungen (S. 169 f.). Die Assoziation
ist hier um so inniger, da eigentlich auch das Räumliche ohne beglei-
tende zeitliche Eigenschaften nicht vorgestellt werden kann. Die
hinweisende Bewegung bezeichnet daher in ihrer ursprünglichsten
Bedeutung immer zugleich ein Gehen in der angegebenen Richtung,
demnach einen zeitlich-räumlichen Vorgang.
Untei? den aus nachbildenden Gebärden entstandenen Sym-
bolen stehen diesen einfachsten Assoziationen jene am nächsten,
bei denen geistige Eigenschaften, wie Herrschaft, Mut, durch ent-
sprechende physische, wie Körpergröße, Muskelkraft u. dgl., aus-
gedrückt werden. Den Häuptling oder Herrscher als den großen Mann,
den Mutigen als den starken zu bezeichnen, liegt dem Naturmenschen
darum nahe, weil der Anführer im Kriege wirklich durch Körpergröße
hervorzuragen pflegt, und weil er den Mut nur verbunden mit phy-
sischer Kraft kennt. Von diesen Assoziationen aus bilden sich dann
andere, bei denen zwischen das sinnliche Zeichen und seine Bedeutung
mannigfache Zwischenglieder treten. Wird die Wahrheit durch eine
geradlinige, die Lüge durch eine schräge Bewegung vom Mund aus
bezeichnet, so scheint die Vorstellung der direkten Bewegung auf das
Ziel und der Abbiegung von demselben von der Handlung des Gehens
auf die des Redens übertragen zu werden. Aber auch hier entspringt
diese Übertragung wohl aus einer direkten Assoziation der Vorstellungen,
und sie wird darum von dem naiven Denken zugleich als Wirklich-
keit empfunden. Der Lügner, wie er den Blick scheu an dem Getäusch-
ten vorübergehen läßt, wagt auch seine Worte diesem nicht direkt
ins Angesicht zu sprechen, sondern er redet an ihm vorbei. Wenn
ferner die Umfangsverhältnisse der Finger auf moralische Qualitäten
übertragen werden, der Daumen also ,,gut", der kleine Finger ,, schlecht"
bedeutet, so muß man sich erinnern, daß für den Naturmenschen
überhaupt physische Stärke und moralische Tüchtigkeit, physische
Schwäche imd niedrige Gesinnung zusammenfallen. Ursprünglich
liegt also hier wiederum die Symbolik nicht sowohl darin, daß die
moralischen durch physische Eigenschaften, als darin, daß über-
haupt Personen durch emporgestreckte Finger versinnlicht werden.
236 Die Gebärdensprache.
Aber auch diese weit verbreitete Symbolik führt auf eine einfachere,
noch nicht symbolisch empfundene Assoziation zurück. Wie der
Zeigefinger die Person, auf die er hinweist, unmittelbar dadurch an-
deutet, daß er den Blick auf sie lenkt, also ein Hilfsmittel ist, um den
Gegenstand durch sich selbst vertreten zu lassen, so kann, wenn be-
begünstigende Bedingungen hinzukommen, auch die abwesende Person
noch durch den ausgestreckten Finger bezeichnet werden, sobald
die Umstände eine ähnliche Ergänzung durch die Assoziation mit
dem Erinnerungsbilde bedingen. Eine häufige Ursache zur Entstehung
einer solchen Erinnerungsassoziation liegt in der Vorstellung einer
bestimmten Anzahl von Personen, wo die in entsprechender Anzahl
emporgereckten Finger nun die erforderlichen Assoziationen erwecken
und zunächst jeder Finger auf eine bestimmte einzelne Person bezogen
wird. Indem diese hinzugedachten Vorstellungen allmählich ver-
blassen, werden dann die Finger zu eigentlichen Zahlsymbolen: sie
repräsentieren jetzt irgendwelche zählbare Gegenstände, während
sie vorher nur regelmäßig assoziierte Hilfsvorstellungen gewesen waren,
neben denen die hinzugedachten Gegenstände selbst ins Bewußtsein
traten. Aus dieser Zeit, wo das stellvertretende Zeichen noch nicht
von seinem Gegenstande gesondert war, haben sich ohne Zweifel
die besonderen Beziehungen erhalten, die den verschiedenen Fingern
und ihren Kombinationen in der ausgebildeten SymboHk der Gebärden
beigelegt werden. So war es, nachdem einmal der Zeigefinger durch
Assoziation mit einer abwesenden Person für diese eine repräsen-
tative Bedeutung erlangt hatte, nur noch ein kleiner Schritt zur Be-
zeichnung zweier regelmäßig verbundener Genossen, Brüder, Ehe-
gatten oder Kriegsgefährten, durch emporgereckten Zeige- und Mittel-
finger. Und nachdem dies vollbracht war, konnte dann leicht noch
der weitere Schritt geschehen, die Innigkeit der Verbindung selbst
durch die Verschlingung der zwei Finger auszudrücken (l Fig. 32,
S. 197). Auch hier darf man annehmen, daß für die ursprüngUche
Anschauung Symbol und Wirklichkeit ineinander flössen, indem zu
der Gebärde die sinnliche Bedeutung, die sie ausdrückte, unmittel-
bar assoziiert wurde. War nun aber einmal, wie es im Laufe der Zeit
geschehen mußte, jene assoziierte Vorstellung, die in allen diesen
Fällen das in der Gebärde sich darstellende Bild zur Wirklichkeit
Ursprung der Gebärdensprache aus den Ausdrucksbewegungen. 237
erhob, bis zur Unbestimmtlieit verdunkelt, dann konnte zwar noch
unter günstigen Umständen der einstige Sinn der Gebärde erfaßt
werden, um so mehr mußte sich jedoch, eben weil die Assoziation
zurücktrat, der Unterschied zwischen der ursprünglichen und der
neuen Bedeutung hervordrängen. Damit war dann der Weg von der
unter Mithilfe von Assoziationen indirekt nachbildenden zu der im
engeren Sinne symbolischen Gebärde vollständig zurückgelegt.
Eine weitere Komplikation, die den Übergang der vorbereiten-
den Zwischenstufen in symbolische Gebärden wesentlich begünstigt,
besteht darin, daß verschiedene Symbole aufeinander einwirken und
auf diese Weise gemischte symbolische Gebärden erzeugen, bei denen
infolge der Verbindung der Motive die Assoziation mit der einstigen
sinnlichen Bedeutung vollständig verschwinden kann. Ein charakte-
ristisches Beispiel dieser Art ist die Gebärde für „Falschheit" (S. 195,
Fig. 31 g), die sich einerseits aus der für Freundschaft, Vertrauen
und ähnliche Begriffe vorkommenden (Fig. 32 l) und anderseits aus
der Symbolisierung entgegengesetzter Wertbegriffe durch die Größen-
unterschiede der Finger erklärt. Ebenso fehlt natürlich die unmittel-
bare sinnliche Anlehnung in solchen Fällen, wo die Gebärde selbst
nur ein anderwärts, aus der bildlichen Darstellung oder aus der Sitte
entlehntes Symbol ist, wie bei der Drehung einer Nase zum Zweck
der Verhöhnung (S. 194), bei dem Symbol der „Gerechtigkeit" (Fig. 31 e),
bei dem Zeichen der Indianer für „Tausch" oder „Handel" (Fig. 32 m)
und in vielen andern Fällen.
Der Vorgang der Entwicklung symbolischer Gebärden stellt
sich hiernach, solang er sich rein im Gebiet der Gebärdenmitteilung
selber vollzieht, als eine durch Assoziationen vermittelte Ver-
schiebung der Vorstellungen dar, die durch allmähliche
Ausschaltung einzelner Assoziationsglieder infolge ihrer
Verdunklung im Bewußtsein eintritt. Solange hierbei alle wirk-
samen Assoziationsglieder einigermaßen lebendig sind, bleibt die
Symbolik eine latente, da das Symbol und seine Bedeutung noch
vollständig zusammenfallen oder so eng verbunden sind, daß das
symbolische Zeichen als ein Teil der Vorstellung des Gegenstandes
selbst betrachtet wird. Dagegen wird es als Symbol, dabei aber als
ein natürliches, dem Gegenstand durchaus adäquates aufgefaßt, wenn
238 I^i® Gebärdensprache.
einzelne Assoziationsglieder aus dem Bewußtsein verschwunden sind,
wäkrend das Gefühl der Verbindung und die entsprechende Analogie
der Vorstellungen noch erhalten blieben. Der Übergang in rein kon-
ventionelle Gebärdensymbole kann dann von hier aus entweder durch
weitere Verdunklung der Assoziationsglieder oder durch die Verbin-
dung verschiedener Zeichen, oder endlich durch Aufnahme von außen
als Nachbildung symbolischer Gebräuche sowie gewisser Zeichen
der Bilderschrift erfolgen.
2. Die Gebärde und die Anfänge der bildenden Kunst.
Wie die Hände als Greiforgane durch die im Gefolge der psychi-
schen Entwicklung eingetretene Abschwächung einzelner Greif -
bewegungen zu Hilfsmitteln hinweisender Gebärden geworden
sind, so dürfen wir wohl ihre Beteiligung an den verschiedenen Formen
darstellender Gebärden mit jener vollkommeneren Tätigkeit dieser
Greif Organe in Beziehung bringen, die zur Verfertigung künst-
licher Gegenstände aus Materialien der Umgebung fortgeschritten
ist. Das einmal geschaffene Werk wird dann weiterhin zum Vorbild,
das zum Nachschaffen anregt. Diese nachbildende Tätigkeit be-
schränkt sich aber allmählich nicht mehr auf die Gegenstände und
Verrichtungen, die den Lebensbedürfnissen dienen, sondern sie geht
zur Nachbildung von Gegenständen der Natur selbst über. Jline solche
mag gelegentlich dadurch entstanden sein, daß planlos in Stein oder
Fels gezeichnete Striche eine zufällige, durch reproduktive Assimi-
lationen gesteigerte Ähnlichkeit mit Gegenständen annahmen, worauf
dann erst eine spontanere Nachahmung einsetzte^). In andern Fällen
mag wohl auch die Erinnerung an das Gesehene unmittelbar dessen
Nachbildung angeregt haben. Für eine solche primäre Nachbildung
spricht, daß besonders Höhlenzeichnungen ohne solche Spuren voraus-
gegangener zufälliger Motive aufgefunden worden sind. Hier ist das
Halbdunkel der von der Außenwelt abgeschiedenen Höhle vorzugs-
weise geeignet, Erinnerungs- und Phantasiebilder wachzurufen, die
nun auf die Wand übertragen werden. Manche dieser Bilder mögen
^) Th. Koch- Grünberg, Südamerikanische Felszeichnungen, 1907i
Die Gebärde und die Anfänge der bildenden Kunst. 239
eine kultische Bedeutung besitzen; andere tragen, indem sie, wie
einzelne Höhlenbilder der Buschmänner, prägnante Szenen aus dem
Leben darstellen, offenbar einen primitiven Denkmalscharakter an
sich. Dafür spricht auch die Tatsache, daß solche Höhlenzeichnungen
bei den Buschleuten geflissentlich während langer Zeit geschont
werden^).
Auf diese Weise treten die verschiedenen Formen nachbildender
Gebärden in enge Beziehungen zu den Anfängen der bildenden
Kunst. Ist doch die zeichnende Gebärde gewissermaßen eine ur-
sprünglichste Form der zeichnenden Kunst, welche nicht an einem
dauernden Material geübt wird, sondern in flüchtigen Bewegungen
besteht, die an den Gegenstand erinnern, indem sie ein Bild desselben
in dem Zuschauer hervorrufen. Dabei ist freilich der Umkreis der
Zwecke des künstlerischen Schaffens von Anfang an ein ungleich
weiterer. Gerade auf primitiver Stufe verbindet sich mit jener Fixie-
rung eines Erinnerungsbildes in dauerndem Material überhaupt noch
nicht die Absicht einer Mitteilung an andere, sondern es wirken ent-
weder bloß der Trieb, das im Bewußtsein festgehaltene Bild zu ob-
jektivieren, und die Lust an der diesen Trieb befriedigenden Tätig-
keit; oder es verbinden sich damit Motive des Zauberkultus: dem Gegen-
stand werden zauberische Wirkungen zugeschrieben, die sich auf das
Bild übertragen. Auch darin besteht eine gewisse Analogie der Ge-
bärde mit den Erzeugnissen der bildenden Kunst, daß Merkzeichen
von einfach hinweisender Bedeutung, die freilich an sich noch nicht
dem Gebiete der Kunst angehören, den Objekten der bildenden Kunst
wahrscheinlich lange vorausgehen, und daß unter diesen wieder die
Zeichnung früher ist als das plastische Kunstwerk, ähnlich wie die
zeichnende erheblich früher als die plastische Gebärde ist. Zugleich
entfernen sich die Erzeugnisse der primitiven plastischen Kunst meist
weiter als die der zeichnenden von der Wirklichkeit, ganz wie das von
der plastischen gegenüber der zeichnenden Gebärde gilt. Diese ent-
wirft freilich nur ein flüchtiges und unvollkommenes Bild; aber sie
bemüht sich doch, die Wirklichkeit so treu wie möglich wiederzu-
^) Moszeik, Die Malereien der Buschmänner in Südafrika, 1910, S. 15 ff.
Vgl. auch Bd. S^ (Kunst), Kap. II, S. 178 ff.
240 I^ie Gebärdensprache.
geben. Die plastische dagegen ist in ihrer mimischen Form meist
ein absichtlich übertreibender Gesichtsausdruck; und wo sie in der
plastischen Formung der Hände besteht, da rechnet sie auf die Phan-
tasie des Beschauers, woraus sich denn auch wohl erklärt, daß die
Mehrzahl der symbolischen Gebärden dieser plastischen Form an-
gehört. Ebenso entspringt bei der ursprünglichen Zeichnung die Ab-
weichung von der Wirklichkeit in der Kegel nur aus der Un Vollkommen-
heit der Kunstübung, nicht aus der Absicht etwas zu erzeugen, was
wirklich von der Natur verschieden ist. Das plastische Bild dagegen
regt von frühe an zu übertreibenden Umgestaltungen oder Kombi-
nationen von Natur formen an. Dabei mag gelegentlich das verwendete
Material, der Baumstumpf oder Felsblock, aus dem die Form gebildet
wird, selbst schon gewisse Ähnlichkeiten mit Menschen- oder Tier-
formen bieten, die als groteske Umgestaltungen erscheinen und so
die Phantasie zu weiteren herausfordern. Zudem spielt hier wohl der
Zauberzweck, dem von frühe an gerade das plastische Werk zu dienen
pflegt, eine bedeutsame Rolle, wie dies besonders die furchterregenden
Gesichtsmasken zeigen, deren sich aller Orten die Medizinmänner
und Schamanen bedienen. Naturgemäß wird dann freilich diese phan-
tastische Übertreibung und Umformung auch wiederum von der
Plastik auf die Zeichnung übertragen. Auf einer gewissen Mittelstufe
primitiver Kultur, wie sie etwa in der Kunstübung der nordameri-
kanischen Indianer vertreten ist, findet sich so in den Zeichnungen
und Malereien eine eigentümliche Mischung beider Motive. Auch
ihr entspricht aber wieder der Reichtum an symbolischen Übertragungen
in der Gebärdensprache dieser Stämme.
3. Gebärdensprache und Bilderschrift.
Die Schrift in der engeren Bedeutung dieses Wortes, als ein System
von Gesichtszeichen, welches die Lautgebilde der Sprache festhält
und so ihre Mitteilung in unbestimmte Fernen des Raumes und der
Zeit möglich macht, liegt außerhalb der Grenzen, die hier der völker-
psychologischen Betrachtung gezogen sind. So starke Wirkungen
auch die Schrift auf die Sprache der Kulturvölker ausgeübt hat, so
Gebärdensprache und Bilderschrift. 241
gehört sie selbst doch durchaus dem Umkreis technischer Erfindungen
an, die in dem allgemeinen Kulturmedium, in welchem sich die spätere
Entwicklung der Sprache vollzieht, einen nicht hinwegzudenkenden
Wert besitzen, selbst aber, ebensogut wie die geschichtlichen Sonder-
entwicklungen der Kunst und Literatur, der Kleidung und Wohnung
usw., über die Grenzen des rein Psychologischen in die Gebiete der
allgemeinen Kultur-, Kunst- und Literaturgeschichte hineinreichen.
Nur in einer Beziehung bleibt hier, ähnlich wie in den andern zu den
historischen und philologischen Sondergebieten gehörenden Erschei-
nungen, eine diesen bis zu einem gewissen Grade mit der Völker-
psychologie gemeinsame Aufgabe in den Problemen bestehen, die
dem Übergang der allgemeingültigen psychologischen Motive in solche
spezifische Kulturgüter angehören. Ein Grenzgebiet dieser Art ist
im vorliegenden Fall die unter dem Zusammenwirken der sprach-
lichen Gedankenäußerung und der primitiven Kunstübung entstehende
Bilderschrift. Zunächst selbst noch zwischen natürlichem Aus
druck des Denkens und willkürlicher Kunstübmig mitteninne liegend,
besitzt sie in dem Stadium, in welchem sie in den sprachlichen Ver-
kehr eingreift, ähnlich der Gebärde, einen ungleich allgemeingültigeren
Charakter als die spätere, unter dem Einfluß willkürlicher Erfindung
stehende Schrift. Zugleich hat sie in dieser Beziehung eine vorbild-
liche Bedeutung für alle andern in ähnlicher Weise auf der Grund-
lage allgemeiner geistiger Anlagen und Triebe aus der erfinderischen
Tätigkeit Einzelner hervorgegangenen Kultur er Zeugnisse. Sie alle
sind auf einer natürlichen Grundlage erwachsen. In diesem Sinne ist
die Bilderschrift ein völkerpsychologisches, die Schrift in ihren ein-
zelnen, der erweiterten Mitteilung durch die Lautsprache dienenden
Formen ein spezifisch kulturhistorisches Phänomen. Als ein Produkt
aus sprachlichem Mitteilungstrieb und primitivem künstlerischem
Schaffen ist sie aber der Gebärdensprache verwandt, die nur ihrer
allgemeinen Bedeutung nach als ein noch primitiverer, in ihren frühesten
Äußerungen der natürlichen Ausdrucksbewegung näherstehender Er-
satz der Lautsprache durch sichtbare Zeichen betrachtet werden
kann.
Diese Beziehung des Bildzeichens zur Gebärde spricht sich nun
auch darin aus, daß dort wie hier hinweisende und darstellende
W u a d t , Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. ^"
242 I^iö Gebärdensprache.
Zeichen einander gegenüberstehen. Freilich trennt bei den Bildzeichen
beide Arten der Symbole nicht bloß ein wahrscheinlich viel längerer
Zeitraum, sondern sie weichen auch in ihrer qualitativen Beschaffen-
heit weit mehr voneinander ab. Zwar sind schon bei dem Kinde neben
den ursprünglichen Greifbewegungen sehr früh hinweisende Hand-
und Fingergebärden zu beobachten, während malende Zeichen einer
wesentlich späteren Zeit angehören. Aber beide stehen hier doch
einander näher, so daß sie sich unmittelbar miteinander verbinden
können. So drückt das Kind etwa den Wunsch, von der Wärterin
aufgenommen und geschaukelt zu werden, durch wiederholtes rhyth-
misches Heben und Senken seiner gegen sie ausgestreckten Arme
aus. Die demonstrativen Symbole der Naturvölker dagegen, die als
die ersten Vorläufer der Bilderschrift gelten können, gehören über-
haupt einer andern Gattung objektiver Merkzeichen an. Ein ge-
knickter Zweig deutet etwa dem später Kommenden den Weg an,
den ein Vorausgehender eingeschlagen hat, oder quer über den Weg
gelegt warnt er vor dem Begehen desselben. Andere Wegzeichen,
die sich da und dort noch bis in unsere Tage erhalten haben, sind in
den Weg gelegte Steine, in den Sand gezeichnete oder auf Stein ge-
ritzte Pfeile usw. 1). Solche Wegmarken sind, wie Vierkandt richtig
bemerkt hat, offenbar nicht sowohl Erfindungen als Nachbildungen
zufällig vorgefundener Gegenstände, die der Wandernde zuerst zu
seiner eigenen Orientierung benutzt hat. Ist die natürhche Wegmarke
erst einmal zum Hilfsmittel der Mitteilung an andere geworden, so
kann sie sich dann aber gelegentlich auch schon mit einem Bildzeichen
verbinden. So kann etwa ein in den Sand gezeichneter Fisch als Weg-
marke dienen, um die Genossen auf eine zum Fischfang günstige Stelle
aufmerksam zu machen^). Doch die planmäßigere Verwendung des
gezeichneten Bildes zur Mitteilung knüpft in der Regel erst an jene
fortgeschritteneren Gebilde zeichnender Kunst an, welche auf Fels-
wänden und in Felshöhlen, die als Zufluchtsstätten dienen, zunächst
1) G. Mallery, First Report of the Ethnol. Bureau, Washington, 187&— 80.
A. Vierkandt, Die Stetigkeit im Kulturwandel, 1908, S. 49.
2) K. von den Steinen, Unter den Naturvölkern Zentralbrasiliens, 1897.
S. 232.
Gebärdensprache und Bilderschrift. 243
ebenfalls ohne Absicht der Mitteilung entstanden sind, aber doch
im Gegensatz zu den natürlichen Wegmarken von hinweisender Be-
deutung bereits eine gewisse Kunstübung voraussetzen. Eben darum
trennt mm aber eine ziemlich weite Strecke der Entwicklung primi-
tiver Kultur jene hinweisenden Zeichen von den Bildern, die als Äqui-
valente darstellender Gebärden dienen. Auch ist der Weg, der zwischen
der primitiven Kunst als solcher und ihrer Verwendung zur Mitteilung
liegt, offenbar ein weit größerer als bei den zufällig vorgefundenen
Wegmarken. Mag nun das Bild zunächst noch ganz aus dem Trieb
des in seiner Felsklause sitzenden primitiven Künstlers entstanden
sein, sich die Tiere, denen er als Jäger nachstellt, oder vor denen er
Schutz sucht, lebendiger zu vergegenwärtigen, als es das bloße Er-
innerungsbild vermag, oder mag sich auf einer etwas späteren Stufe
der magische Eindruck, der dem Gegenstand anhaftet, auf sein Bild
übertragen und dieses zum Objekt eines primitiven Zauberkults machen,
beide Motive liegen noch weit von der Bilderschrift entfernt. Eben-
sowenig lassen sich aber die Produkte dieser zeichnenden Kunst als
Erzeugnisse eines Spieles der Phantasie betrachten, das nur um seiner
erfreuenden Wirkung willen geübt werde. Die primitive Kunstleistung
mag erfreuen, nachdem sie da ist, aber wo sie überhaupt noch nicht
existiert, da kann sie auch keine lusterregende Wirkung ausüben.
Was ihr dagegen von frühe an eigen ist, das ist der Trieb, die Affekte
in ihren natürlichen Ausdrucksformen der mimischen und panto-
mimischen Bewegungen kundzugeben. Hier sind es insbesondere die
pantomimischen Affektäußerungen, die belebend und verstärkend
auf die Vorstellungsinhalte der Affekte selbst zurückwirken. Wie
der primitive Tiertanz die Bewegungen der Tiere nachahmt, weil ihr
Erinnerungsbild die gleichen Affekte wachruft, die das Tier selbst
erregte, so ist auch die Zeichnung zunächst nur ein Ausdruck der
lebendigen, durch pantomimische Mitbewegungen sich verstärkenden
Erinnerung an den Gegenstand. Und wie der Tanz erst durch das
lebendige Spiel der rhythmischen Bewegungen die an diese gebun-
denen Lustgefühle erweckt, so kann das Wohlgefallen, das sich an die
ersten Übungen der zeichnenden Kunst knüpft, nicht die Ursache
ihrer Entstehung, sondern nur eine Folgewirkung sein, die dann aller-
dings, einmal entstanden, auf ihre Weiterbildung fördernd einwirkt.
16*
244 I^iß Gebärdensprache.
So stehen sicli der Tiertanz und die Tierzeichnung als natürliche Aus-
drucksformen gegenüber, in denen sich das Leben des primitiven
Jägers spiegelt: beim Tanz in der Rückwirkung des erinnerten Bildes
auf den eigenen Körper, bei der Zeichnung in dem Trieb das erinnerte
Bild in der Anschauung festzuhalten. Darum ist es nicht bedeutungs-
los, daß allem Anscheine nach die Felshöhle die früheste Stätte zeich-
nender Kunst ist. Sie macht die pantomimische Selbstdarstellung
des innerlich Geschauten am eigenen Körper unmöglich; um so mehr
drängt sie dazu, das durch die Pantomime in die Luft gezeichnete
flüchtige Bild auf dauerndem Material zu fixieren. Danach ist jene
primitive Form der Pantomime, die Tiernachahmung, der entsprechenden
Form der Zeichnung, dem Tierbild, lange vorangegangen, und zwischen
diesem und seinem Übergang in einer Bilderschrift liegt abermals
ein großer, wahrscheinlich durch verschiedene Stufen eines sukzessiven
Bedeutungswandels vermittelter Zeitraum. Das gezeichnete Bild,
zunächst wohl ohne die Absicht dauernder Erhaltung entstanden,
wird durch seine Dauer von selbst in doppeltem Sinne zu einem Er-
innerungsmal: es erinnert den, der es geschaffen, an früher Gesehenes
und Erlebtes, und es erinnert, wo es von besonderer Kunstfertigkeit
Zeugnis gibt, an seinen Urheber. So wird von den Buschmännern '
berichtet, daß sie sich scheuen, die Malereien der Felshöhlen zu über-
malen, solange sie sich ihrer Urheber erinnern^). In dem Augenblick,
wo diese primitive Kunst von der Nachbildung einzelner Tier- oder
Menschengestalten zur Darstellung ganzer Szenen überging, in denen
sich der primitive Künstler selbst ein eindrucksvolles Erlebnis ver-
gegenwärtigte, mußte nun dieses Erinnerungsmal eine von seinem
Schöpfer imabhängige objektive Bedeutung gewinnen. Es wurde zum
Denkmal, das die Erinnerung an ein Ereignis länger, als es die bloße
mündliche Überlieferung vermochte, festhielt^). Aber auch dem Denk-
mal auf dieser Grenze zwischen unabsichtlich entstandenem und will-
kürlich geschaffenem Erinnerungsmal fehlt zum Übergang in die
Bilderschrift noch eins: die Absicht der Mitteilung. Gewiß ist auch
^) Moszeik, Die Malereien der Buschmänner, S. 27.
2) Über Buschmannszeichnungen, die hierher gehören, vgl. Bd. 3 ^, Kap. II>
S. 187.
Gebärdensprache und Bilderschrift. 245
sie gewissermaßen latent schon vorhanden. Der primitive Künstler
wünscht, je stolzer er auf die Produkte seiner Kunst sein darf, um
so mehr, daß sie auch von andern gesehen werden. Aber noch mangelt
in diesem Stadium der Zweck einer bestimmten Mitteilung, die
in der Zeichnung zur Darstellung gelangt, und durch die sich die letz-
tere von selbst, ebenso wie der Gedanke, den sie ausdrückt, in einzelne
zueinander in Beziehung gesetzte Teile gliedert. Diesen Übergang
vermittelt dann sichtlich zumeist der Hinzutritt von Linien, die,
zwischen den einzelnen Teilen des Bildes gezogen, solche Beziehungen
andeuten, ähnlich wie in der Gebärdensprache zwischen den zeich-
nenden hinweisende Gebärden in interpretierendem Sinne eingeschaltet
werden. Gerade dieser letzte Schritt ist wahrscheinlich der größte
in dieser ganzen Entwicklung, und die ausgebildete Bilderschrift,
zu der er erst geführt hat, liegt daher schon auf der Schwelle von der
primitiven zu einer entwickelten Kultur. Die Bilderschrift selbst
wird aber dadurch zu einer transitorischen Erscheinung. Denn je
zusammengesetzter die Mitteilungen werden, um so mehr drängt dies
zur Abkürzung der Bilder und zum Gebrauch symbolischer, nicht
ohne weiteres verständlicher Zeichen, damit aber auch zu einer künst-
lichen Begriffschrift, wie sie uns die ältere Hieroglyphik der
Ägypter und die Zeichensysteme der süd- und zentralamerikanischen
Kulturvölker vor Augen führen.
Innerhalb jener Übergangszone, wo die Bilderschrift noch Bild
und Schrift zugleich ist, Bild in ihrer unmittelbar anschaulichen Be-
deutung, Schrift durch den Zweck der Mitteilung, greifen nun zugleich
Gebärdensprache und Bilderschrift in ihrer Entwicklung deutlich
erkennbar ineinander ein. Dieser Zusammenhang spricht sich auch
darin aus, daß es hier in manchen Fällen zweifelhaft sein kann, ob ein
gegebenes Zeichen der Bilderschrift eine im Bild fixierte Gebärde,
oder ob umgekehrt eine Gebärde die flüchtige Nachahmung eines
Bildes ist. Bei beiden Übergängen bedarf es wiederum keiner beson-
deren Erfindung, sondern nur der von selbst sich bildenden Assoziation
mit jenen längst gebrauchten Merkzeichen, wie sie etwa einzuschlagende
oder zu vermeidende Wege andeuten. In dem AugenbUck, wo sich
diese Assoziation vollzieht, wird dann aber auch jenes hinweisende
Merkzeichen in die Bilderschrift herübergenommen, wo es sich nun
246
Die Gebärdensprache.
in eine der Zeiclinung zugefügte Richtlinie oder in eine Mehrheit solcher
Richtlinien umwandelt, die dem Beschauer deutlich machen, wie die
einzelnen Teile des durch die Zeichnung dargestellten Gedankens
zusammenhängen. Damit erst ist die eigentliche Bilderschrift ins
Leben getreten, und durch diese Verbindung von Bildern mit richtung-
gebenden Linien wird die Analogie mit den darstellenden und hin-
weisenden Zeichen der Gebärdensprache zu einer vollständigen. Da-
mit ist aber dann zugleich jener Wechselwirkung zwischen beiden
Formen der Mitteilung Raum gegeben, bei der einerseits Gebärden
direkt unter die Zeichen der Bilderschrift aufgenommen werden, an-
Fig. 33. Brief eines Indianerhäuptlings in Bilderschrift.
der sei ts aber auch umgekehrt diese auf jene zurückwirken. Da ims
über die Entstehung solcher Zeichen eine historische Tradition nicht
zu Gebote steht, so kann freilich hier nur aus der Beschaffenheit der
Symbole selbst eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die eine oder die
andere jener Möglichkeiten gewonnen werden. Doch gibt es beson-
ders in der Bilderschrift Zeichen, denen man auf den ersten Blick
ansieht, daß sie eigentlich nur Andeutungen von Gebärden sind;
und nicht minder scheinen andere auf ein nachträglich erst durch eine
Gebärde nachgeahmtes symbolisches Bild hinzuweisen.
Einen Fall der ersten Art und zugleich ein typisches Beispiel
ursprünglicher Bilderschrift bietet die Fig. 33. Sie ist die verkleinerte
Kopie eines aus der Gegend des oberen Sees in Michigan stammen-
den, farbig auf Pergament ausgeführten Dokuments in Bilderschrift,
Gebärdensprache und Bilderschrift. 247
welches die Botschaft eines Häuptlings aus dem Adlertotem (1) an
den Präsidenten der Vereinigten Staaten (8) enthält. Die Andeutung
des letzteren tritt in dem farbigen Original durch die weiße Farbe des
Hauses und des Gesichts der Figur noch deutlicher hervor („der weiße
Mann im weißen Hause"). Der Inhalt der in dem Bilde ausgedrückten
Botschaft ist etwa der folgende^): „Ich (1) und einige meiner Krieger
(2 — 5) nebst einigen andern mächtigeren Häuptlingen anderer Totems
(6, 9) sind versammelt und bieten dir durch mich Freundschaft. Wir
sind alle gleicher Ansicht mit dir. Drei Abteilungen meines Stammes
(3, 4, 5) wollen von nun an in Häusern leben (7)." Der Totem, dem
die Versammelten angehören, ist durch die Tiergestalten (1 — 5 Adler-
totem, 6 Fischtotem, 9 unbestimmt) angedeutet. Die Häuptlingswürde
wird durch vom Kopf aufsteigende Linien ausgedrückt: nach der
Zahl dieser Linien ist zugleich die Macht des Häuptlings zu bemessen.
Der Brief sehr eiber (1) stellt also seine eigene Macht — sei es wahr-
heitsgemäß, sei es aus Höflichkeit gegen seine Gäste — weit niedriger
als die von 6 und 9. Das Anerbieten von Friede und Freundschaft
wird durch die ausgestreckte Hand, die Übereinstimmung der An-
sichten durch die Linien symbolisiert, welche die Augen aller an der
Botschaft Beteiligten mit dem rechten Auge des Präsidenten ver-
binden. Der Wille der drei Stammesgenossen (3, 4, 5), sich häuslich
niederzulassen, also das Jägerleben aufzugeben, wird durch drei unter
ihnen gezeichnete Häuser angedeutet (7). Dabei dürfte das größere
Haus unter dem größeren Vogel wieder die bedeutendere Macht dieses
Kriegers im Vergleiche mit den beiden andern ver sinnlichen. Man
muß gestehen, daß ein Brief in gewöhnlicher Schrift und Sprache
eine derartige Botschaft kaum kürzer auszudrücken vermöchte, und
daß er diese jedenfalls nicht in so anschaulicher Weise wiedergeben
würde. Die einzelnen Zeichen, die das Schriftstück zusammensetzen,
sind teils nachbildende, wie der Präsident in seinem Hause (8) und
die drei Häuser unter den Kriegern (7), teils halbsymbolische: so
^) Die farbige Kopie nebst Erklärung siehe bei Schoolcraft, Ethnological
Researches resp. the Red Man of America, 1851, I, PI. 62, p. 418 f. Die bei School-
craft dem Original nahekommende Größe ist in Fig. 33 auf die Hälfte
verkleinert.
248 Die Gebärdensprache.
die Totemf iguren ; teils sind sie ganz symbolisclie : so die Bezeich-
nungen der Häuptlingswürde, die Freundschaftsversicherung und
der Ausdruck der Übereinstimmung. Die Bilder der ersten Art sind
möglicherweise der Bilderschrift ursprünglich eigen. Wo sie gleich-
zeitig als Gebärden vorkommen, wie die Andeutung eines Hauses
durch seine in die Luft gezeichneten Begrenzungslinien, da kann dies
ebensogut Nachahmung eines wirklichen Hauses wie die eines Bildes
sein. Insofern sich Gebärde und Bild in gewissem Sinne wie Skizze
und Ausführung verhalten, mögen sie wie diese in Wechselbeziehung
zueinander entstanden sein. Anders ist das mit den ganz symbolischen
Gebärden, die eigentlich den Hauptinhalt der Mitteilung in dem obigen
Beispiel ausmachen. Hier kann zunächst nicht zweifelhaft sein, daß
die ausgestreckte Hand die unmittelbare Nachahmung der entsprechen-
den Gebärde ist. Bemerkenswert noch ist aber die Übertragung
der Gebärde in die Bilderschrift, wo diese zugleich Veränderungen
mit sich bringt, die in der abweichenden Ausführung ihren Grund
haben. Dahin gehören in erster Linie in Fig. 33 die an den Köpfen
der Figuren 1, 6 und 9 nach oben gerichteten Striche, welche die
Häuptlingswürds andeuten. Diese symbolischen Striche werden uns
sofort verständlich, wenn wir uns des Zeichens erinnern, das in der
Gebärdensprache der Indianer einen Häuptling andeutet, und das
in der Bewegung beider Hände vom Kopfe an aufwärts besteht (S. 186).
Die beiden Linien, die wir über dem Kopf der Fig. 1 bemerken, sind
augenscheinlich nichts anderes als Andeutungen dieser Gebärde. Es
mag dann aber allerdings eine selbständige Weiterbildung dieses Zeichens
in der Bilderschrift sein, wenn wir, um die noch höhere Würde und
Macht anzudeuten, die Zahl der Linien über dem Haupt in der Fig. 6
auf fünf, und in der Fig. 9 auf sieben gesteigert sehen. Übrigens zeigt
diese Steigerung, wie sehr die noch in unserer heutigen Kultur lebendig
gebliebenen Symbole adeligen Geschlechts und königlicher Würde
bis zu dieser einfachen Symbolik ursprünglicher Bilderschrift und durch
sie sogar bis zur Gebärdensprache zurückreichen. Denn in dem Augen-
blick, wo sich die zwei Linien zu 5 oder gar 7 vermehren, wird die Re-
miniszenz an die Gebärde zum primitiven Bild einer Krone; und das
heraldische Merkmal, an dem sich heute noch die verschiedenen Stufen
adeliger Geburt unterscheiden, scheint so in direkter Deszendenz
Gebärdensprache und Bilderschrift. 249
von der einfachen Symbolik herzukommen, durch die bereits die Bilder-
schrift der Wilden das primitive Zeichen der Macht zu Weigern sucht.
Ein ebenfalls der Gebärdensprache entnommenes, aber nach den
Forderungen der Bilderschrift umgemodeltes Symbol tritt uns endlich
in den Linien entgegen, welche die Augen der sämtlichen symbolischen
Repräsentanten der Personen verbinden. Übereinstimmung der An-
sichten drückt die Gebärdensprache anschaulich durch hinweisende
Bewegungen aus, die von Auge zu Auge gehen, ähnlich wie die Über-
einstimmung der Gefühle durch Hinweisung zuerst auf das eigene Herz,
dann auf das des Angeredeten, oder Austausch der Meinungen in
Rede und Gegenrede durch eine den eigenen Mund mit dem Munde
des andern verbindende Bewegung. Die Bilderschrift der Indianer
hat nun alle diese Zeichen aufgenommen, indem sie die Bewegung der
Hand oder des Zeigefingers in einer bestimmten Richtung jedesmal
durch eine verbindende Linie ersetzt. Ähnlich der in Fig. 33 dar-
gestellten Vereinigung der Augen finden sich so in andern Dokumenten
namentlich Verbindungslinien zwischen den in den Körperumriß ein-
gezeichneten Herzen sehr häufig. Diese Herzen sieht man ohne solche
Linien auch an den beiden Figuren 6 und 8 der Fig. 33. In einzelnen
Fällen indianischer Bilderschrift erstrecken sich, um die Überein-
stimmung der Ansichten und Gefühle mit besonderer Emphase her-
vorzuheben, die Verbindungslinien gleichzeitig zwischen den Augen
und den Herzen^). Auf andern wird eine Unterredung dadurch sym-
bolisiert, daß die die Lippen verbindenden Linien unterbrochen, oder
daß statt ihrer einzelne fingerähnliche Körperchen, die von Mund zu
Mund zu fliegen scheinen, gezeichnet sind 2), ähnlich jenen naiven
Madonnen- und Heiligenbildern der älteren deutschen Meister, aus
deren Munde auf langen Streifen die Worte hervorquellen. Es mag
dahingestellt bleiben, ob hierdurch nur die Gliederung der Rede in
Worte angedeutet werden soll, oder ob darin noch eine unmittelbare
Beziehung auf die Hin- und Herbewegung des Zeigefingers enthalten
ist. Wie es sich aber damit verhalten mag, jedenfalls führen alle diese
symbolischen Zeichen auf Entlehnungen aus der Gebärdensprache zurück,
1) Schoolcraft a. a. 0. PL 60, p. 416.
2) Mallery, Sign Language, Fig. 192—194, p. 374 ff .
250 I^iß Gebärdensprache.
wenn sie auch von dieser losgelöst eine Art selbständigen Daseins
führen können.
Diesen Fällen, in denen die Bilderschrift gewisse Zeichen ursprüng-
lich der Gebärdensprache entnommen hat, stehen jedoch andere gegen-
über, wo die umgekehrte Wanderung wahrscheinlich ist. Namentlich
die Klasse der symbolischen Gebärden bietet hier wieder Beispiele.
So kann, wie früher bemerkt wurde, das Gebärdensymbol der Gerech-
tigkeit (Fig. 31 e, S. 195) nur als Nachbildung der bekannten plastischen
Darstellungen der Justitia verstanden werden. Aber selbst unter den
Symbolen der primitiven Bilderschrift fehlen solche nicht, die wahr-
Fig. 34. Handelsbrief eines Indianers in Bilderschrift.
scheinlich erst aus ihr in die Gebärdensprache übergegangen sind.
Ein Beispiel dieser Art enthält ein vom Prinzen Wied mitgeteilter,
in Fig. 34 wiedergegebener Brief eines Mandan -Indianers an einen
Pelzhändler ^). Eechts ist ein Bison, eine Fischotter und ein Fischer
(Mustela canadensis) abgebildet, links eine Flinte, ein Biber und hinter
diesem 30 Striche. Zwischen beiden Gruppen findet sich ein Kreuz,
das in der Bilderschrift der Indianer das Zeichen des Tausches ist.
Dementsprechend ist der Sinn des Briefes dieser: „Ich biete dir die
Felle eines Bisons, einer Fischotter und eines Fischers gegen eine Flinte
und dreißig Biberfelle an." Nun haben wir gesehen, daß das Kreuz
in der Form zweier gekreuzter Zeigefinger auch als symbolische Ge-
^) Reise in das innere Nordamerika, II, S. 657, Beilage B.
Gebärdensprache und Bilderschrift. 251
bärde für Tausch vorkommt (Fig. 32 m). Man könnte daher vermuten,
auch hier sei die Gebärde in die Bilderschrift übergegangen. Dem
steht aber entgegen, daß unter dieser Voraussetzung die Entstehung
der Gebärde selbst dunkel bleibt. Verkehr und Tausch durch Kreuzung
der Finger zu bezeichnen, würde mindestens eine sehr weit her-
geholte Symbolik sein. Dagegen liegt der Gebrauch des Kreuzes als
Bild in diesem Fall ziemlich nahe, sobald man sich der ursprüng-
lichen Bedingungen erinnert, unter denen der Tauschverkehr bei
Völkern primitiver Kultur entsteht. Überall, wo sich das Bedürfnis
eines solchen mit einer gewissen Regelmäßigkeit einstellt, da pflegt
nämlich dieser Orte zu wählen, an denen sich die von verschiedenen
Siedelungen und Jagdgebieten kommenden Wege kreuzen. Noch
auf einer erheblich höheren Verkehrsstufe, in der Wirtschaftsent-
wicklung des deutschen Mittelalters, hat sich daher an den Kreuzweg
der Markt und an den Ort des Marktes mit den ihm erteilten öffent-
lichen Gerechtsamen der Anfang eines städtischen Gemeinwesens
angeschlossen^). Auch wenn noch keine festen Pfade durch das Ge-
filde gelegt sind, bilden sich durch den Zug der Gebirge, der Täler
und Flußläufe und infolge der Verbreitung verschiedener Horden
über bestimmte Territorien solche Kreuzimgspunkte des Verkehrs
aus, die zu natürlichen Tauschplätzen werden, sei es, daß die Tauschen-
den persönlich zusammentreffen, sei es, daß sie an diesen Orten die
Gegenstände, die sie auszutauschen wünschen, niederlegen. Demnach
ist jenes Symbol der Bilderschrift ohne weiteres erklärlich, wenn man
es als die Andeutung eines solchen dem primitiven Tauschverkehr
dienenden Ortes auffaßt. Dann ist aber das Zeichen der Kreuzung
der Finger für „Tausch" offenbar aus der Bilderschrift in die Ge-
bärdensprache hinübergewandert.
Ähnliche Wechselwirkungen zwischen Gebärde und Schrift be-
gegnen uns schließlich bei jener eigenartigen Bilderschrift, die, in-
mitten unserer Kulturwelt entstanden, trotzdem eine natürliche Ähn-
lichkeit mit den primitiven Bilderschriften der Naturvölker bewahrt:
in den schon oben (S. 161, Anm. 1) erwähnten „Zinken" der Gauner.
So wird bei ihnen, wie bei den Indianern, die Nacht durch eine ge-
^) Vgl. Lamprecht, Deutsche Geschichte, III, S. 32 ff.
252 Die Gebärdensprache.
wölbte Decke, die Freude oder ein freudiges Ereignis durch ein Herz
bezeichnet. Zwei dachähnlich sich aneinander lehnende schräge Linien,
die dem Indianer ein Zelt oder Haus bedeuten, sind Zeichen des Ge-
fängnisses. Wird damit noch das gleiche Zeichen in umgekehrter
Stellung kombiniert, so ist dies das Symbol der ,, Enthaftung". Eine
große Rolle spielen aber besonders die symbolischen Zeichen: so be-
zeichnet eine aufrecht stehende gerade Linie ,, standhaftes Leugnen",
eine horizontale Linie dagegen ,, Eingeständnis" usw. ^). Die Über-
einstimmungen mit der Bilderschrift der Naturvölker ist augenfällig,
wenn auch im Hinblick auf den spezifischen Interessenkreis und auf
den Umstand, daß die Zeichen der Gauner den Charakter einer Ge-
heimschrift besitzen, Unterschiede nicht fehlen.
4. Psychologischer Charakter der Gebärdensprache.
Die im Eingange dieses Kapitels berührte Frage, ob die Gebär-
densprache erfunden sei, oder ob sie sich aus allgemeingültigen Be-
dingungen der psychophysischen Organisation des Menschen nach
bestimmten, überall wiederkehrenden psychologischen Gesetzen ent-
wickelt habe, kann wohl nach den vorangegangenen Ergebnissen
für erledigt gelten. Die natürliche Gebärdensprache, die sich unter
ähnlichen Bedingungen immer wieder spontan in ähnlichen Formen
entwickelt, trägt eben in dieser Übereinstimmung der Bedingungen
und ihrer Wirkungen die zuverlässigste Bürgschaft ihrer von äußerem
Zwang und willkürlicher Erfindung gleich unabhängigen psycholo-
gischen Gesetzmäßigkeit in sich. Aber diese Gesetzmäßigkeit schließt
willkürliche Einflüsse Einzelner und künstliche Erfindungen, die an
der Vervollkommnung der Gebärdenmitteilung im Interesse beson-
derer durch sie zu erreichender Zwecke arbeiten, keineswegs aus.
Solche Einflüsse springen in einzelnen Fällen deutUch genug in die
Augen. Sie sind an den Umdeutungen der Zeichen zu erkennen, die
^) Hanns Gross, Handbuch für Untersuchungsrichter 3, 1899, S. 261, 275 ff.
Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalstatistik, II, S. 1, 33 ff. (Dazu
Taf. 20 ff.)
Psychologischer Charakter der Gebärdensprache. 253
der Absiclit, die Gebärdensprache zu einer Gebeimsprache zu machen,
entstammen, wie bei manchen der neapolitanischen Symbole. Eben-
so weisen die sichtbaren Entlehnungen aus der Bilderschrift und deren
weitere symbolische Umgestaltungen auf ähnliche Einflüsse hin. Man
erinnere sich z. B. der verschiedenen Umdeutungen des Symbols der
Gerechtigkeit (Fig. 31 e, S. 195) und an das Tauschsymbol mit seinen
Weiterbildungen (Fig. 32 m und w, S. 197). Motive, die solche künst-
liche Übertragungen hervorbringen, und die aller Wahrscheinlichkeit
nach auf willkürliche Einfälle Einzelner zurückgehen, begleiten von
Anfang an die Entwicklung der Gebärdensprache, und es erhebt sich
daher unabweislich die Erage nach dem Verhältnis dieser Momente
natürlicher Entstehung und künstlicher Umbildung überhaupt. Diese
Frage hängt aber wieder auf das engste mit der andern zusammen,
welches in beiden Fällen die psychischen Vorgänge sind, aus denen
die äußeren Wirkungen entspringen, und in welchen Beziehungen
hier die generellen, auf allgemeingültigen psychischen Gesetzen be-
ruhenden Prozesse zu den individuellen, ursprünglich auf ein einzelnes
Bewußtsein beschränkten Motiven stehen.
Für die Beantwortung beider Fragen bildet der Ursprung der
Gebärden aus den Ausdrucksbewegungen die feste Grundlage^
von der die psychologische Analyse ausgehen muß. Dieses Ursprungs-
gesetz führt mit Notwendigkeit zu der Voraussetzung, daß die pri-
märe Ursache einer natürlichen Gebärde nicht in dem Motiv der Mit-
teilung einer Vorstellung, sondern in dem des Ausdrucks einer
Gemütsbewegung liegt. Die Gebärde ist zunächst und ursprüng-
lich Affektäußerung. So wesentlich es für die Gebärdensprache
ist, daß sie sich über diese Stufe allmählich erhebt, so würde sie selbst
doch ohne ursprüngliche Affektmotive niemals entstehen können.
Nur sekundär, insofern jeder Affekt gefühlsstarke Vorstellungen ent-
hält, wird die Gebärde zugleich Vor Stellungsäußerung. In den weiteren
psychischen Wirkungen, die sich an diesen Nebenbestandteil der
Affektäußerung knüpfen, liegt aber die Ursache für die ganze Weiter-
entwicklung zur eigentlichen Gebärdensprache. Als Vorstellungs-
äußerung vor allem vermag die Ausdrucksbewegung in andern die
gleichen Affekte wachzurufen, indem durch die Einwirkung überein-
stimmender Vorstellungen erst eine Übereinstimmimg der Affekte
254 I)ie Gebärdensprache.
entstehen kann. Die Gefühlsäußerungen vermögen immer nur die
gleichen Grundrichtungen der Gemütsbewegung anzugeben und wieder-
zuerzeugen. Einen sichern Anhalt gewinnt, wie der Affekt selbst,
so auch seine Wiederentstehung im andern durch die Vorstellungs-
inhalte und durch die Bewegungen, in denen sich diese nach
außen kundgeben. Mit der Wiedererzeugung des Affekts geht
aber noch ein anderer Einfluß der Vorstellungsäußerung Hand
in Hand. Indem diese der in dem Genossen entstandenen Wieder-
spiegelung der Gemütsbewegung ein festeres Substrat gibt, regt
sie weitere Vorstellungen an, die mit den durch die Gebärden
mitgeteilten in Beziehung stehen, sie weiterführen oder auch,
wenn sich widerstrebende Affekte regen, zu ihnen in einen Gegen-
satz treten. Jetzt ist daher die Gebärde des Zweiten nicht mehr
ein bloßer Reflex der Bewegung des Ersten, sondern aus der
Mitbewegung ist eine Antwortbewegung geworden. Mögen zu-
nächst die Grenzen zwischen dieser und jener noch ineinanderfließen,
allmählich müssen sie sich, je reger die Vorstellungsbewegungen
im individuellen Bewußtsein werden, weiter und weiter entfernen.
War die Antwort zuerst wenig mehr als eine Nacherzeugung desselben
Vorstellungsinhalts, so tritt im weiteren Verlaufe die Wiederholung
des Wahrgenommenen hinter den neu angesponnenen Vorstellungs-
inhalten zurück. Auf diese Weise ist der individuelle in einen gemein-
samen, unter der fortwirkenden Hin- und Herbewegung der Gebärden
sich fortan verändernden Affekt übergegangen. Indem sich dann
noch durch die überwiegende Betonung der Vorstellungsinhalte die
Gefühlselemente der Affekte und dadurch die Affekte selbst ermäßigen,
wird endlich der gemeinsam erlebte, mit der Gebärdenäußerung hin-
und herwogende Affekt zum gemeinsamen, im Wechselverkehre
der Gebärdenäußerung sich betätigenden Denken.
Ihrem psychologischen Charakter nach sind somit die Bewegungen,
aus denen sich die ursprünglichen Gebärden und ihre Übergänge in
eine mehr und mehr sich regelnde Gebärdenmitteilung zusammen-
setzen, Triebhandlungen, d. h. Willenshandlungen, die auf ein
einziges Motiv erfolgen und diesem Motiv angepaßt sind, aber ohne
einen irgend merklichen Zusammenstoß desselben mit weiteren Mo-
tiven zu verraten (vgl. S. 44 ff.). Insofern nun ein Motiv stets in einem
Psychologischer Charakter der Gebärdensprache. 255
Gefühl mit entsprechendem Vorstellungsinhalt oder, wie wir es bei
etwaigem Übergewicht des letzteren ausdrücken können, in einer
gefühlsstarken Vorstellung besteht, wird auch bei der Triebhandlung
der Effekt in dem Vorstellungsinhalt des Motivs antizipiert. Die
Hinweisung auf die Objekte oder bei stärkerer Affekterregung deren
Nachbildung durch die eigene Bewegung ist daher Affektsymptom
und Motivsymptom zugleich: die Gebärde ist unmittelbarer Ausdruck
derjenigen Vorstellungen, die den Affekt im Augenblicke beherrscht.
Bei der ursprünglichen Ausbreitung von Affektäußerungen ist es das-
selbe Motiv, das in einem Ersten die Gebärde erzeugt, und das dann
in einem Zweiten wieder anklingt, um den nämlichen äußeren Erfolg
herbeizuführen. Indem aber jenes Motiv in dem Zweiten allmählich
noch weitere Motive hervorruft, ändert sich entsprechend die Ge-
bärdenäußerung. Auf diese Weise vollzieht sich, immer noch in den
Grenzen bloßer Triebhandlungen, der Übergang der Mitbewegung
in die Antwortbewegung, der der eigentliche Geburtsmoment der
Gebärdensprache ist. Doch liegen allerdings in eben jenen Verände-
rungen, aus denen der Wechsel der Motive und ihrer äußeren Wir-
kungen bei der Hin- und Herbewegung der Gebärden entsteht, zu-
gleich die Bedingungen für ein allmählich hervortretendes willkür-
liches Handeln, das nun an entscheidenden Stellen in den Verlauf
der Triebbewegungen einzugreifen und seine weitere Richtung zu
bestimmen pflegt. Denn sobald die von außen aufgenommene Vor-
stellung andere Vorstellungen wachruft, müssen diese nach den be-
sonderen Vorbedingungen des individuellen Bewußtseins variieren.
Zudem können sich jetzt mehrere Assoziationswirkungen gleichzeitig
geltend machen, indem der Eindruck nach verschiedenen Richtungen
hin assoziative Beziehungen darbietet. So wiederholen sich hier die
nämlichen Momente, welche die Willensentwicklung überall zeigt.
Zuerst entsteht ein passiv erlebter Kampf der Motive, der mit dem
Übergewicht eines bestimmten Motivs endigt. Dieser Kampf gestaltet
sich dann, indem in wachsendem Maße die Vorerlebnisse auf den gerade
ablaufenden Prozeß einwirken, zu einem Vorgang der Wahl oder
der aktiven Bevorzugung des herrschend gewordenen Motivs, der
sich von jenem passiv erlebten Kampf der Motive subjektiv nur durch
die stärkere Beteiligung von Aufmerksamkeitsvorgängen und Tätig-
256 I^ie Gebärdensprache.
keitsgefühlen unterscheidet. In gleichem Maße beginnen sich dann
die Assoziationen zu deutlichen intellektuellen Prozessen zu ordnen:
bewußte Beziehungen und Vergleichungen treten hervor. Es
gestaltet sich so allmählich aus der triebartigen Aufnahme, Wieder-
holung und Umänderung der Gebärden eine reflektierende und in
entscheidenden Momenten erfinderische Verwendung und Umwand-
lung derselben.
So kann man denn schon von der Gebärdensprache, dieser un-
vollkommensten, aber eben wegen ihrer Un Vollkommenheit für die
allgemeinsten Probleme vielleicht lehrreichsten Form der Sprache,
sagen, sie repräsentiere in ihrer Bildung alle Entv/icklungsstufen,
die das geistige Leben des Menschen überhaupt zurücklegt. Darum
ist es aber auch nicht möglich, sie auf eine einfache psychologische
Formel zurückzuführen. Die Sprache, und so bereits die Gebärden-
sprache, ist ein treuer Abdruck des Menschen in der Gesamtheit seiner
psychischen Leistungen. Das Grundgesetz aller geistigen Entwick-
lung, wonach das Folgende ganz und gar aus dem Vorangegangenen
entsteht und dennoch ihm gegenüber als eine neue Schöpfung erscheint,
dieses Gesetz der ,, psychischen Resultanten'' oder der ,, schöpferischen
Synthese" bewährt sich Schritt für Schritt auch in der Aufeinander-
folge der seelischen Vorgänge, aus denen sich die Entwicklung der
Gebärdensprache zusammensetzt. Jede Stufe dieser Entwicklung
ist im Keime schon in der vorangegangenen enthalten und ist doch
ihr gegenüber ein Neues. So ist die Antwortgebärde ein gewaltiger
Schritt nach vorwärts gegenüber der bloßen Nachahmung, und doch
ist sie, wie wir annehmen dürfen, aus dieser ohne irgendein Herein-
tragen fremdartiger Kräfte, rein durch die Steigerung der dort schon
wirksamen elementaren psychischen Bedingungen entstanden. Nicht
anders leitet die triebartige Reaktion auf äußeye Eindrücke in ein
willkürliches, besonnenes Handeln, und dieses endlich in das Gebiet
erfinderischer Leistungen über. Hierbei greifen nur mehr und mehr
wegen der sich steigernden Mannigfaltigkeit singulärer Bedingungen
auch die Handlungen Einzelner maßgebend in das Getriebe der all-
gemeinen psychischen Wirkungen ein. In dieser ganzen Entwicklung
erblicken wir überall nur ein den Ereignissen selbst immanentes Fort-
schreiten über die erreichten Grenzen, nirgends ein Hineingreifen
Psychologischer Charakter der Gebärdensprache. 257
äußerer fremdartiger Kräfte, nirgends ein Hervortreten neuer spezi-
fischer „Seelen vermögen". Was wir besonnene Walil zwischen ver-
schiedenen Motiven und erfinderische Tätigkeit nennen, das ist eben
selbst nur die höchste Steigerung und zugleich der notwendige End-
erfolg der Wirkung ursprünglichster einfacher Triebe und der zu diesen
hinzukommenden, vor allem durch das gemeinsame Leben gebotenen
Bedingungen. In diesem naturnotwendigen und doch durch und durch
zwecktätigen, von den vorhandenen zu neuen und vollkommeneren
Zwecken aufsteigenden Fortschritt liefert die Gebärdensprache ein
Beispiel der Sprachentwicklung überhaupt, ausgezeichnet durch' die
Einfachheit und Durchsichtigkeit der Erscheinungen.
Wnndt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. 1»
Drittes Kapitel.
Die Sprachlaute.
I. Stimmlaute im Tierreich.
1. Stimmlaute als Ausdrucksbewegungen.
Der Sprachlaut ist psychologisch betrachtet eine Ausdrucks-
bewegung, vor andern ausgezeichnet durch die Beteiligung der mus-
kulösen Tonapparate des Kehlkopfes und der Mundhöhle sowie der
respiratorischen Muskeln, die das Anblasen dieser Tonapparate ver-
mitteln. Die besonderen Muskelwirkungen, die dem so erzeugten
Schall jene mannigfaltigen Klang- und Geräuschqualitäten verleihen,
durch die er seine Eigentümlichkeit als Sprachlaut gewinnt, gehören
im weiteren Sinne dem Gebiet der mimischen Bewegungen an. Vor
den stummen Gefühlssymptomen, deren Hauptsitz die Mimik des
Angesichts ist, zeichnen sich diese die Sprachlaute begleitenden mi-
mischen Bewegungen nur dadurch aus, daß an ihnen neben den äußeren
innere Bewegungen der in Mundhöhle und Rachen gelegenen Muskeln
beteiligt sind, allen voran das durch feinste Beweglichkeit und Tast-
empfindlichkeit ausgezeichnete muskulöse Organ: die Zunge. Die
Beziehung ihrer Stellungen und Bewegungen zu den verschiedenen
Sprachlauten hat sich der Beobachtung so frühe schon aufgedrängt,
daß in vielen Sprachen die Bezeichnung der Zunge ohne weiteres
auf die Sprache selbst übergegangen ist (lingita, yXaiaaa, hebr.
laschon usw.).
Als die Vorstufen der Sprachlaute sind hiernach alle jene tie-
rischen Lautäußerungen anzusehen, die durch ähnliche respiratorisch
erregte Tonwerkzeuge hervorgebracht werden und die psychophysische
Bedeutung von Ausdrucksbewegungen besitzen. So die Schreie und
Stimmlaute ak Ausdrucksbewegungen. 259
Lockrufe vieler Tiere aus der Klasse der Amphibien, wie der Frösche,
Kröten, Krokodile, Schildkröten, namentlich aber der Vögel Und
Säugetiere, während andere Geräuschbildungen im Tierreich, wie
das Geräusch der Klapperschlangen, die Laute mancher Fische, die
das Ausströmen der Luft aus der Schwimmblase begleiten, endlich
die Geräusche vieler Insekten, die durch die schwingenden Bewegungen
der Flügel oder durch das Aneinanderreihen horniger Teile des Haut-
skeletts entstehen, weder nach ihren physiologischen Bedingungen
noch wahrscheinlich nach ihrer psychologischen Funktion hierher
gehören. Denn dies kennzeichnet alle mit respiratorischen Tonappa-
raten erzeugten Schreie und Rufe der Tiere und läßt sie als Vorstufen
der Sprachlaute erscheinen, daß sie unmittelbare Ausdrucks-
mittel psychischer Zustände sind. Als solche sind sie durch die
doppelte Eigenschaft ausgezeichnet, daß die erzeugten Laute durch
den Eindruck auf das Gehör des rufenden Tieres eine energischere
Entladung der Gefühle bewirken, und daß sie in andern Tieren der
gleichen Art ähnliche Gefühle erwecken können. Dabei gilt für sie
dasselbe, was für die Ausdrucksbewegungen überhaupt gilt: nicht
die objektive Bedeutung ist die primäre, sondern die subjektive. Da
die respiratorischen Symptome bei den heftigeren Affekten an und
für sich schon stärker hervortreten, so ist die Lautäußerung zunächst
nur eine weitere Steigerung der allgemeinen Affektwirkung; und da
in allen Fällen die Empfindungen, welche die Ausdrucksbewegungen
begleiten, durch ihren unmittelbaren sinnlichen Gefühlston die Affekte
selbst verstärken, so liegt auch die Lautwirkung auf das eigene Ohr
noch innerhalb der Grenzen der allgemeingültigen Affektvorgänge.
Nur gewinnt dieser sonst zurücktretende Bestandteil hier sofort eine
vorherrschende Bedeutung.
Jene subjektiven Motive der Affekte und ihrer Ausdrucksformen
finden nun aber in dem Zusammenleben der Tiere weitere Bedingungen
vor, die auf die ursprünglichen Gefühlsmotive verändernd und ar-
weiternd zurückwirken. Wie die Ausdrucksbewegung überhaupt
zuerst ein triebartig, dann aber in einzelnen Momenten willkürlich
gebrauchtes Ausdrucksmittel ist, so entwickelt sich der ursprüng-
liche Gefühlslaut zum Ruf laut und Locklaut. Auch diese bleiben
fortan vorherrschend Gefühlsäußerungen. Die Hilfe- und Lockrufe
17*
260 I^ie Sprachlaute.
der Tiere entstehen nicht bloß ursprünglich ohne Bewußtsein der
Zwecke, denen sie künftig dienen können, sondern sie werden auch,
nachdem sie zu Hilfsmittehi der Mitteilung geworden sind, immer
noch in vielen Fällen, ganz wie andere Ausdrucksbewegungen, ohne
einen solchen Zweck hervorgebracht. Die primären Gefühlsäußerungen
durch die Stimme sind daher aller Wahrscheinlichkeit nach rein sub-
jektive Gefühlslaute, die nur auf die stärksten, schmerzerregenden
Sinnesreize eintreten. Unter diesen sind im wilden Zustand der Tiere
die mit heftigstem Unlustgefühl verbundenen Hungerempfindungen
die häufigsten; und an das den Hunger ausdrückende Wehgeheul
schließen sich dann in natürlicher Assoziation Lautäußerungen an,
die die Verfolgung und Bewältigung der Beutetiere, endlich solche,
die den Kampf um die Beute begleiten, — Übertragungen, bei denen
sich die Art der Laute nach den veränderten Bedingungen, die für
die Gefühle und ihre Äußerungen entstehen, von selbst modifiziert.
Der Schmerzensschrei und der Wutschrei werden aber auch um
deswillen als die ursprünglichsten Stimmäußerungen gelten müssen,
weil sie noch jetzt die allgemeinsten sind. Viele Nagetiere, wie der
Hase, der Maulwurf, das Eichhörnchen, verhalten sich in der Regel
stumm, nur heftige Sinnesreize oder die äußerste Angst entlocken
ihnen einen durchdringenden Schmerzensschrei. Dazu gesellt sich
namentlich bei den wild lebenden Karnivoren, als eine eigentümliche
Dauerform des Schmerzensschreies, das Wehgeheul des Hungers,
und endlich, wahrscheinlich aus diesem entstanden, der Wutschrei.
Mit der Ermäßigung der Affekte mildern sich auch hier die Affekt-
äußerungen, und es gewinnen so die Stimmlaute feinere Nuancen,
durch die sie mannigfaltigere Lust- wie Unlustgefühle verraten. Unter
ihnen werden jene Gefühlslaute, die die Liebeswerbung begleiten,
sichtlich in vielen Fällen für die reichere Entwicklung der Lautäußerun-
gen von hervorragender Bedeutung. Dies zeigen vor allem die Be-
dingungen, unter denen die Singvögel ihre Lockrufe ertönen lassen,
wie denn auch die Tatsache, daß vorzugsweise die männlichen Vögel
mit Gesangsmitteln ausgestattet sind, deutlich auf diesen Zusammen-
hang hinweist^). Doch ist der Vogelgesang schon eine verhältnis-
^) Darwin, Abstammung des Menschen. Deutsch von J. V. Carus, 1871,
II, S. 43 ff.
Stimmlaute als Ausdrucksbewegungen. 261
mäßig hochstehende, auf eine kleine Gruppe von Tieren beschränkte
Gefühlsäußerung, und die Bedingungen seines Vorkommens machen
es wahrscheinlich, daß er sich aus roheren Formen der Lautäußerung,
vielleicht aus dem Wutgeschrei der in der Paarungszeit miteinander
kämpfenden männlichen Tiere, entwickelt hat. Nachdem jene Form
der Ausdruckslaute entstanden war, mußte sie sich aber, gemäß dem
allgemeinen Prinzip der Übertragung der Ausdrucksbewegungen,
alsbald auf andere Affekte von verwandtem Gefühlston ausbreiten.
Mag darum der Gesang des männlichen Singvogels in vielen Fällen
Lockruf bleiben, seine allgemeine Bedeutung ist dies jedenfalls nicht
mehr, sondern er ist, ähnlich den fortwährenden zwecklosen Flug-
und sonstigen Körperbewegungen der meisten kleineren Vögel, zu
einem allgemeinen Ausdrucksmittel von Gefühlen meist heiteren
Charakters geworden. Bei dieser ganzen Entwicklung spielen objek-
tive Zweckmotive, wie sie von Anfang an fehlen, so auch im weiteren
Fortgang keine wesentliche Rolle. Vielleicht sind die subjektiven,
ohne Absicht hervorgebrachten Gefühlslaute, wie die verbreite tsten,
so überall die ursprünglichsten, und sie behalten fortwährend das
Übergewicht, wenn sie auch allmählich in einzelnen Fällen von will-
kürlichen Handlungen abgelöst werden, die sich dieser Ausdrucks-
mittel bemächtigen. Doch mußten diese bereits vorhanden sein, ehe
sie in den Dienst der geselligen Triebe treten konnten. Und noch jetzt
sind in der Tierreihe das heftige Schmerzgefühl und der Affekt der
Wut die beiden Seelenzustände, die sich allgemein und mit unwider-
stehlicher Gewalt in Lauten äußern. Infolge der Differenzierung
der Gefühle, die mit zunehmender psychischer Entwicklimg eintrat,
sind aber diese Lautäußerungen allmählich auf andere Gemütszu-
stände übergegangen. Dabei wurden sie dann teils abgeschwächt,
teils abgeändert, teils verbanden sie sich mit den mannigfachen Vor-
stellungsinhalten und Willensrichtungen, so daß schließlich die voll-
kommeneren dieser Ausdruckslaute, die Hilfe- und Lockrufe, bereits
als eine Art Vorstufe der Sprache betrachtet werden können. Übrigens
sind hier unter Hilfe- und Lockrufen nur solche Laute zu verstehen,
die unmittelbare Äußerimgen sozialer Triebe sind, und mit denen sich
daher direkt das Begehren nach Hilfe oder nach Herbeilockung an-
derer, namentlich der weiblichen Tiere verbindet. Diese Grenzen
262 Die Sprachlaute.
pflegt man, wie überall bei der Beurteilung tierischer Lebensäußerungen,
nicht immer einzuhalten, sondern man ist geneigt, jeder Handlung,
die geeignet ist, einen bestimmten Erfolg herbeizuführen, auch so-
fort die Vorstellung dieses Erfolges unterzuschieben.
2. Allgemeine Entwicklung der Ausdruckslaute.
Der Ausgangspunkt aller Äußerung tierischer Stimmlaute ist,
wie oben bemerkt, der Schrei, der in seiner Qualität wie Intensität
nur unerhebliche Modifikationen bietet. Denn Schmerz und Wut,
die beiden einzigen Affekte, die sich auf dieser ersten Stufe mit Laut-
äußerungen verbinden, sind beide heftige Unlustregungen. Der so
unter stärkstem Exspirationsdruck in den gespannten Stimmbändern
erzeugte, dem weit geöffneten Kachen entweichende Schrei ist nach
seinem musikalischen Charakter ein von starken dissonanten Neben-
tönen begleiteter, also geräuschähnlicher Klang. Er ist je nach den
Dimensionen des Stimmorgans von verschiedener, aber bei einem
und demselben Tiere nahezu gleichbleibender Tonlage. Diese variiert
nur etwas nach der Intensität des Affekts, da der stärkere Affekt
eine Steigerung des Atemdrucks und der Stimmbänderspannung und
dadurch eine Erhöhung der Tonlage bewirkt. Gemäß den allgemeinen
Gesetzen des Verlaufs der Affekte steigt dabei die Tonhöhe zuerst
mehr oder weniger rasch an, um dann wieder abzufallen. Außerdem
zeigt sie zuweilen, namentlich bei den Zorn- und Wutaffekten, einen
intermittierenden, mehrmals auf- und absteigenden Rhythmus. So
spiegelt sich der Verlauf des Affekts genau in den Veränderungen der
Tonhöhe und Tonstärke oder in dem abwechselnden crescendo und
decrescendo der Lautäußerungen. Der Stimmlaut selbst aber bleibt
lediglich ein Symptom der Entladung starker Gefühle^).
Dies wird anders auf der zweiten dieser Stufen. Zu dem Schmerz-
und Wutschrei treten nun Lautäußerungen mäßiger Affekte.
Der Übergang zu ihnen hängt nicht oder wenigstens nicht in erster
Linie von der zunehmenden psychischen Entwicklung, sondern haupt-
1) Über den intermittierenden Charakter dieser Affekte vgl. Physiologische
Psychologie, III«, S. 193 f.
Allgemeine Entwicklung der Ausdruckslaute. 263
sächlich, wie es scheint, von der Lebensweise der Tiere ab, da bei
den in Schwärmen oder Familien lebenden diese Weiterbildung eher
als bei den solitär lebenden beobachtet wird. Schon dies spricht dafür,
daß es die unter dem Einfluß des Zusammenlebens erfolgende
Ermäßigung der Schmerz- und Wutlaute zu Hilfe- und Lockrufen ist,
die den Übergang vermittelt. Dabei zeigt sich aber zugleich, daß
diese Ermäßigung, einmal eingetreten, nicht auf die sie zuerst hervor-
bringenden Triebäußerungen beschränkt bleibt, sondern daß nun
teils schwächere Unlustaffekte, die auf der ersten Stufe noch
keine Stimmreaktionen zur Folge haben, teils Lustaffekte mannig-
fachen Inhalts zu Grundlagen der Lustäußerungen werden können.
Hier hängt es dann ganz von dem Temperament der Tiere ab, ob die
eine oder andere Affektrichtung mehr hervortritt. In vielen Fällen
bestehen die Lautreaktionen schwacher Affekte in einer einfachen
Abnahme der ursprünglichen Schreilaute. Bei schwächerem Respi-
rationsdruck und geringerer Spannung der Stimmbänder werden
Laute erzeugt, die sich im wesentlichen nur durch ihre verminderte
Intensität und durch ihre tiefere Tonlage unterscheiden. Unterstützt
wird diese Veränderung des Klangcharakters außerdem dadurch, daß
die Mundhöhle weniger geöffnet wird, weshalb die in dem Stimmton
enthaltenen hohen, scharf dissonierenden Obertöne geschwächt wer-
den, zugleich jedoch gewisse Verschlußgeräusche im Ansatzrohr des
Stimmorgans entstehen können, die den Laut ebenfalls qualitativ
abändern. Charakteristische und bekannte Beispiele dieser Klang-
modifikationen sind das Blöken der Schafe, das Grunzen der Schweine,
das Schnattern der Gänse, das Gackern der Hühner usw. Zugleich
bemerkt man in den meisten dieser Fälle eine Veränderung des zeit-
lichen Verlaufs der Lautäußerungen. Da schwache Affekte, nament-
lich Lustaffekte, durchweg mehr den Charakter dauernder Stim-
mungen als momentaner Affektanfälle haben, so verteilen sich auch
die Lautäußerungen über eine längere Zeit: sie bestehen in der Regel
in mehreren rhythmisch sich wiederholenden Tonstößen, in deren
Tempo sich zumeist das stationäre Temperament der Tiere, zuweilen
aber auch in einem gewissen Grade die momentane Temperaments-
lage spiegelt. Vergleicht man z. B. das imruhig hastige Gackern der
Hühner mit dem phlegmatischen Blöken der Schafe oder dem lang
264 I^ie Sprachlaute.
gezogenen, in großen Pausen sich wiederholenden Brüllen einer Kuh-
herde, so fallen diese Unterscliiede sofort auf. Auch zeigt sich hierbei,
daß es besonders die temperamentvolleren Tiere sind, bei dejien inner-
halb der Lautäußerungen der Lustaffekte mannigfachere Abstufungen
vorkommen. Die ruhig zufriedene Stimmung äußert sich in einem
langsameren Rhythmus und in gedämpfteren Lauten, als die auf-
geregte Freude oder das heftige Verlangen. So entwickeln sich in
einzelnen Fällen besondere intensive Freudelaute, die entweder bloß
durch eigentümliche Nuancen des Ausdrucks von den Schmerz- und
Wutausbrüchen der gleichen Tiere verschieden sind, wie das ver-
gnügte Bellen des Hundes, das freudige Greschnatter einer auf ihr
Futter losstürzenden Entenschar, oder die sich zu besonderen lauten
Rufformen ausbilden, wie das Krähen des Hahnes.
Diese Erscheinimgen stehen bereits auf der Schwelle zu den
Lautäußerungen der dritten Stufe. Sie ist dadurch gekennzeichnet,
daß sich zwei völlig verschiedene Arten von Stimmlauten
ausbilden, von denen die eine den Schreilauten der ersten Stufe ent-
spricht und gleich diesen als Ausdrucksmittel stärkster Affekte er-
halten bleibt, während die zweite, höhere Form zum feiner nuancierten
Ausdruck schwächerer Gefühle wird. Dabei überwiegen unter diesen
die Lustgefühle, daher mäßige Unluststimmungen sogar in der Regel
nur daran kenntlich sind, daß die gewohnheitsmäßige Lustäußerung
auf einen gedämpfteren Ton und auf ein langsameres Tempo herab-
gestimmt ist. Bezeichnen wir um der Unterscheidung willen sowie mit
Rücksicht darauf, daß diese feiner nuancierten Lautäußerungen im
allgemeinen in höherem Grade den Toncharakter an sich tragen, die
Ausdruckslaute der ersten und zweiten Stufe als Schreilaute, die
der dritten als Tonlaute, so sind demnach die Schreilaute das Ur-
sprüngliche und zugleich das Bleibende; die Tonlaute sind das höher
Entwickelte und Vollkommenere, das nicht nur von einer Spezies
zur andern, sondern selbst von einem Individium zum andern und von
einem Affekt zum andern variiert. Dieser höheren Stufe entspricht
es, daß die Tonlaute wieder in zwei verschiedenen Formen vorkommen:
als Tonmodulation und als Lautartikulation. Beide weichen
sowohl in den physiologischen Hilfsmitteln ihrer Bildung wie in ihrer
subjektiven und objektiven psychophysischen Wirkung wesentlich
Tonmodulationen als Ausdrucksfonnen bei Tieren. 265
voneinander ab. Dennoch sind sie Ausdrucksmittel, die im allgemeinen
einander begleiten. Namentlich ist, wo die Ausbildung der feineren
Oefühlssprache in der Richtung der Lautartikulation erfolgt ist, mit
dieser stets auch eine Tonmodulation verbunden. Darin dokumen-
tiert sich unter diesen beiden Formen wieder die der Lautartikulation
als die höhere Stufe.
3. Tonmodulationen als Ausdrucksformen bei Tieren.
Die Tonmodulation der Stimmlaute ist, wenn man die unvoll-
kommeneren Anfänge und die Übergänge zwischen Schrei und Ton-
laut hinzunimmt, weit verbreitet im Tierreich. Beschränkt man sich
-aber auf die deutlicheren Tonbildungen, so lassen sich namentlich
manche Ausdruckslaute unserer intelligenteren Haustiere hierher
zählen. Man denke z. B. an die mannigfachen Modulationen im Bellen
und Heulen des Hundes, an das zornige und das fröhliche Bellen oder,
bei mäßigeren Affekten, an das unmutige und das heitere, von ein-
zelnen jauchzenden Gefühlsausbrüchen unterbrochene Knurren, ferner
an das laute Schmerzgeheul und das manchmal ganz in melodischen
Tongefällen sich bewegende wehmutsvolle Heulen beim Anhören
von Musik. Ebenso verfügen manche Affenarten, besonders der Gibbon
xmd der amerikanische Brüllaffe (Mycetes), über eine verhältnismäßig
reiche Tonmodulation; doch scheint es nicht, daß sich gerade bei
diesen menschenähnlichen Tieren eine solche in regelmäßigen musi-
kalischen Intervallen bewegt^). Weit in den Schatten gestellt werden
aber diese Erscheinungen durch die Stimmlaute der Singvögel.
Bei ihnen sitzt der im übrigen dem Kehlkopf der Säugetiere analog
gebaute Tonapparat an der Stelle, wo sich die Luftröhre in die beiden
Bronchien gabelt (im unteren Kehlkopf), eine Einrichtung, die mit
dem spezifisch musikalischen Charakter des Singtons der Vögel zu-
^) Letzteres ist allerdings speziell vom Gibbon behauptet worden. Die
nicht auf eigene Beobachtung gegründete Nachricht Darwins (Abstammung
des Menschen, II, S. 291) über den Gesang dieses Affen erweist sich jedoch bei
näherer Nachforschung als unzuverlässig. (Vgl. darüber: Sprachgeschichte und
Sprachpsychologie, S. 96 f.)
266 Die Sprachlaute.
sammenhängt. Indem liier nämlich die Luftröhre ein Ansatzrohr von
regelmäßigen und unveränderlichen Dimensionen bildet, analog wie
bei unseren Blasinstrumenten mit konstantem Ansatzrohr, hat der
Stimmapparat eine vorwaltend musikalische, zur Erzeugung von Ton-
modulationen geeignete Beschaffenheit, während bei dem Stimm-
organ des Menschen und der Säugetiere die Rachen- und Mundhöhle
ein Ansatzrohr von sehr veränderlichen Dimensionen darstellt, das
eben deshalb in hohem Grade der Bildung von Lautartikulationen
fähig ist. Der Ausbildung der äußeren Tonapparate in der Klasse der
Vögel geht offenbar die der zentralen Gebiete des Gehörsinns und der
mit ihnen zusammenhängenden Innervationsherde der Stimmbewegun-
gen parallel. Sie äußert sich in der Neigung vieler Vögel, gehörte
Laute nachzuahmen, besonders aber in der Eigenschaft mancher
Singvögel, die Singtöne in annähernd harmonischen Intervallen an-
einanderzureihen. Die erste dieser Erscheinungen, die Nachahmung
von Lauten, kommt wieder in doppelter Form vor : in der Nachahmung,
der Tonmodulationen anderer Vögel, und in der Nachahmung von
Lautartikulationen, besonders auch menschlicher Sprachlaute, bei
den Papageien, Staren, Krähen, Drosseln u. a. Bei einzelnen dieser
Tiere, wie der Drossel, sind beide Nachahmungstalente in einem ge-
wissen Grade vereinigt. Im allgemeinen sind es jedoch vorzugsweise
Sehr ei Vögel mit sehr geringer Fähigkeit der Tonmodulation, die es
zu einer artikulierten Sprache bringen.
Die musikalische Anlage der Singvögel ist hauptsächlich in der
zweiten der obenerwähnten Eigenschaften, in der Verbindung der
Töne zu harmonischen Tonfolgen zu erkennen. Da Tonmodulation
und Lautartikulation immer verbunden sind, so lassen sie sich auch
bei dem Anhören der Singweise irgendeines Vogels stets nebeneinander
wahrnehmen. Zwischen dem menschlichen Kunstgesang und dem
natürlichen Vogelgesang besteht in dieser Beziehung, wenn man von
der sprachlichen Bedeutung der menschlichen Laute absieht, der
Unterschied bloß darin, daß der Vogel über eine geringere Zahl von
Lauten verfügt, und daß sich diese in einer höchst einförmigen Weise
wiederholen. Auch ist die Lautartikulation meist sehr viel undeut-
licher, ein Umstand, der es unmöglich macht, sie in unseren Laut-
zeichen genau wiederzugeben; nicht bloß deshalb, weil die gehörten
Tonmodulationen als Ausdrucksformen bei Tieren. 267
Laute nur selten mit den Lautbedeutungen unserer Zeichen überein-
stimmen, sondern mebr noch, weil wir überall geneigt sind, in das un-
deutlich Gehörte irgendwelche geläufige Laute hineinzuhören. Gerade
die Auffassung des Vogelgesangs bietet daher einen auffallenden Beleg
für jenes Spiel psychischer Assimilationen, das wir auch bei den Laut-
assimilationen der Sprache kennen lernen werden^). Man kann sich
davon leicht überzeugen, wenn man sich vornimmt, in den Schlag
eines und desselben Singvogels verschiedene Laute hineinzuhören,
ein Versuch, der in ziemlich weitem Umfange zu gelingen pflegt. Wo
eigentliche Singvögel, wie die Drossel oder gar der Kanarienvogel,
sprechen lernen, da beruht darum auch die Nachahmung weniger
auf einer wirklichen Ähnlichkeit der Lautartikulationen, als auf einer
solchen der Tonmodulationen der menschlichen Stimme, und selbst
bei dem eigentlichen Sprechvogel, dem Papagei, spielt dieses Moment
eine erhebliche Rolle. Hauptsächlich hierauf und weniger auf Ver-
schiedenheiten der individuellen Lautbildungen ist es wohl zurück-
zuführen, wenn die Angaben der Beobachter über den Schlag ver-
schiedener Singvögel nicht wenig voneinander abweichen. Demnach
ist es nur als eine sehr ungefähre Andeutung solcher Laute anzu-
sehen, wenn man den Schlag der Nachtigall durch tiu tiu tiu tio tio tio
qutio qutio qutio tzü tzü tzü , den der Lerche durch tiri tiri tiri tiri
, des Sperlings durch schilf schuf schuf ti ti ti ti ti usw.
wiedergibt^).
Weit deutlicher ausgeprägt ist derjenige Bestandteil des Vogel-
gesangs, zu dem jene Lautartikulationen nur den unentbehrlichen
Text bilden: die Tonmodulation. Das Merkmal, das sie von den
unvollkommeneren Tonmodulationen tierischer Schreie wesentlich
unterscheidet, ist der nicht bloß den einzelnen Tönen, sondern bei
1) Vgl. unten Nr. II, 5 und Kap. IV.
2) Versuche, die Lautbildungen der Vögel, namentlich der Singvögel, auf-
zuzeichnen, sind von Beobachtern des Lebens der Vögel mehrfach gemacht wor-
den. Besonders in dem umfangreichen Werke von J. A. Naumann, Naturgeschichte
der Vögel Deutschlands, herausgeg. von seinem Sohne J. F. Naumann, 6 Bde.
1822 — 33, ist diesem Punkte große Sorgfalt gewidmet, wogegen von den Ver-
fassern dieses Werkes leider kein Versuch gemacht wurde, auch die Tonmodu-
lationen in Noten aufzuzeichnen.
268 Die Sprächlaute.
den besseren Sängern auch den Tonfolgen eigene musikalische Cha-
rakter. Terzen und Quintsn, daneben zuweilen Oktaven und ganze
Töne bilden hier die regelmäßigen Aufeinanderfolgen, neben denen
es freilich auch an unharmonischen Abweichungen nicht fehlt. Weniger
ist der Rhythmus ausgebildet. Er fehlt zwar nicht völlig, ist aber
doch nur in den allem Vogelgesang eigenen Wiederholungen des
gleichen Tones, sowie in der gleichförmigen Aufeinanderfolge der Triller
oder gewisser, immer wiederkehrender Tonläufe zu finden, nicht
in wirklichen rhyhmischen Melodien. Im ganzen läßt hiernach
die musikalische Anlage der Singvögel zwei Stufen unterscheiden,
die durch Übergänge verbunden sind. Die niedrigere Form besteht
in einer nur wenig durch melodische Kadenzen unterbrochenen ein-
fachen oder trillernden Wiederholung des gleichen Tones. Diesen
Typus einfacher Ton Wiederholungen zeigt z. B. die ganze Familie der
Finken, wie Buchfink, Stieglitz, Sperling usw. Ein Beispiel gibt das
folgende, dem Sperling nachgeschriebene Motiv ^):
Sperling
Die zweite vollkommenere Form der Tonmodulation besteht
darin, daß, meist rasch nacheinander und nicht selten durch Ton-
^) Ich entnehme dies und die folgenden Notenbeispiele der Arbeit von
Xenos Clark, Animal Musik, in the American Naturalist, Vol. XIII, Nr. 4, 1879.
Die Genauigkeit des musikalischen Gehörs vieler Singvögel ergibt sich übrigens
auch aus der Fähigkeit derselben, andere Vogelstimmen und Vogelmelodien
oft täuschend nachzuahmen. Über einige auffallende Beispiele solcher Art be-
richtet B. Placzek, Der Vogelgesang nach seiner Tendenz und Entwicklung (Ver-
handl. des naturforsch. Vereins in Brunn XVII, S. 19, 34 f.).
2) Die Bezeichnung „guttural" soll einen Kehllaut anzeigen, der musi-
kalisch aus einem raschen Triller zwischen dem tiefen Ton und seinen höhereu
Oktaven zu bestehen schemt. Auf die Exaktheit der Taktgliederung, die wohl
in der Niederschrift nur im Anschluß an die musikalische Übung gewählt
ist, darf man sich natürlich bei allen diesen Beispielen nicht verlassen,
wie aus dem, was oben über den Rhythmus der Vogelmelodien gesagt wurde,
hervorgeht.
Tonmodulationen als Aiisdrucksformen bei Tieren. 269
Wiederholungen unterbrochen, Tonläufe zwischen zwei oder drei zu-
einander harmonischen Tönen eintreten. Indem diese ebenfalls in
der Regel mehrmajs sich wiederholen, geben sie sich als eine höhere
Entwicklung der einfachen Ton Wiederholungen zu erkennen. Denn
man darf vielleicht annehmen, daß diese durch den Triller allmäh-
lich in den Tonlauf übergegangen ist. Ein Beispiel dieses zweiten
Typus zeigt das folgende, dem Schlag der Nachtigall nachgeschriebene
Motiv :
Nachtigall
iprjirv»jr-^^jiirv-iJ5]J5]^:iJg:^
Die ersten zweigliedrigen Tonläufe springen in der Oktave von
d zu d, und die folgenden dreigliedrigen Kadenzen bilden einen c?-Dur-
akkord, von dem aus die Melodie wieder in die Tonika d übergeht.
Eine so große musikalische Regelmäßigkeit mag immerhin zufällig
und selten sein. Im ganzen ist aber nicht zu bezweifeln, daß beson-
ders bei diesem zweiten Typus regelmäßige Wiederholungen annähernd
harmonischer Tonfolgen vorkommen.
Je abwechslungsreicher die Tonmodulation wird, um so mehr
kann sie natürlich variieren. Unter diesen Variationen sind diejenigen
von besonderem Interesse, die bei einem und demselben Individuum
je nach der Gemütslage stattfinden. Wir können sie namentlich bei
unseren Zimmervögeln häufig beobachten, wenn es auch als Regel
gilt, daß, sobald die Gemütsstimmung imter ein gewisses Niveau sinkt,
der Vogel überhaupt zu singen aufhört. Die in dieser Beziehung be-
obachteten Schwankungen betreffen daher meist bloß die Gefühls-
richtungen der größeren oder geringeren Erregung und Spannung,
letzteres z. B. bei der Neugier, zu der manche Vögel in hohem Grade
geneigt sind. In der Dimension der Lust- und Unlustgefühle begegnen
uns dagegen in den Gesangweisen der Vögel im allgemeinen nur solche
Schwankungen, die noch innerhalb der Lustrichtung liegen; die An-
näherung an Unluststimmungen kündet sich bloß durch verlang-
samtes Tempo, abnehmende Tonstärke und Tonhöhe an. Bei Schreck,
Furcht, Zorn und andern wirklichen Unlustaffekten gehen aber die
270
Die Sprachlaute.
Tonmodulationen regelmäßig in Schreilaute über, die dann mit ent-
spreclienden Veränderungen, der Artikulationslaute verbunden sind.
Die drei folgenden Beispiele, Modifikationen der in der ersten der
obigen Notierungen nachgebildeten Sperlingsmelodie, geben ein Bild
dieser, im Verhältnis zu den uns geläufigen musikalischen Ausdrucks-
mitteln freilich sehr dürftigen, aber in den elementaren Grundlagen
doch übereinstimmenden Veränderungen:
Freude
Niedergeschlagenheit
Heftige Erregung |gf fTT
Darwin meint, es bleibe ein Rätsel, warum beim Menschen und
bei den Tieren in gewissen Gemütsbewegungen hohe und in andern
tiefe Töne verwendet werden, und keine der über den Ursprung des
musikalischen Ausdrucks aufgestellten Theorien sei imstande, dieses
Rätsel zu lösen ^). Nach den in Kap. I erörterten Tatsachen wird
man diesem Ausspruch kaum beipflichten können. Zunächst ordnen
sich hier die Stimmbewegungen dem allgemeinen Prinzip der Affekt-
äußerungen unter, wonach die größere oder geringere Schnellkraft
und Energie der Bewegungen mit den Gefühlsrichtungen der Affekte,
und zwar zunächst und direkt mit den Erregungs- und Spannungs-
gefühlen, dann infolge der Verbindungen derselben auch mit den Lust-
und Unlustgefühlen eng zusammenhängt. Die Ausdrucksbewegungen
sind nun nicht bloß eine natürliche Wirkung der diese Gefühle beglei-
tenden Innervationszustände, sondern sie entsprechen auch in ihren
eigenen sinnlichen Gefühlswirkungen wiederum den primären Ge-
fühlen, mit denen sie daher verschmelzen, und die sie verstärken.
Das nämliche gilt aber auch von den Bewegungsempfindungen der
^) Darwin, Abstammung des Menschen, II, S. 295, Anm.
Tonmodulationen als Ausdrucksformen bei Tieren. 271
Stimmorgane und den an sie gebundenen Gefühlen. Nur kommt
bei ihnen noch eine Folgewirkung hinzu, die bei den andern Ausdrucks-
formen fehlt: der Stimmlaut, der ebenfalls Veränderungen erfährt,
die sich mit der wechselnden Energie und Schnelligkeit der Bewegungen
von selbst einstellen. Er hat zugleich in noch ganz anderem Maß als
die an sonstige Bewegungen gebundene innere Tastempfindung die
Eigenschaft, selbst wiederum Gefühle zu erregen, die nach Qualität
und Stärke den ursprünglichen, zu deren Ausdruck die Laute dienen,
verwandt sind. Durch diese stärkere Eindrucksfähigkeit eignen sich
daher die Stimmlaute in besonderem Grade dazu, diejenigen Wir-
kungen herbeizuführen, die bei allen Ausdrucksformen als erhaltende
und modifizierende Bedingungen mitspielen: die Entladung des
Affekts, und die durch sie nach der ersten konsensuellen Verstärkung
allmählich eintretende Lösung desselben. Gleichwohl würde es noch
nicht gerechtfertigt sein, deshalb die Wirkung hoher und tiefer, starker
und schwacher Töne oder selbst die der schnellen und langsamen
Rhythmen bloß aus den äußeren Körperbewegungen und den sie be-
gleitenden Empfindungen ableiten zu wollen. Die Tatsache, daß die
Gefühlsfärbungen verschiedener Empfindungen einander verwandt
sind und sich daher bei ihrer Verbindung steigern, müssen wir viel-
mehr als eine ursprüngliche, nicht weiter abzuleitende anerkennen.
Denn diese Beziehung begegnet uns ja auch da, wo zu einer Verbindung
des Sinneseindrucks mit bestimmt modifizierten Ausdrucksbewegungen
kein Anlaß gegeben ist, z. B. bei den Gefühlseigenschaften der ver-
schiedenen Farben. Die ursprüngliche psychologische Verwandt-
schaft bestimmter Gefühle und die Verbindung, in die sie außerdem
infolge der Bedingungen ihrer subjektiven Entstehung zueinander
treten können, schließen sich aber nicht im geringsten aus. Das Zu-
sammentreffen dieser Motive zu übereinstimmender Wirkung ent-
spricht vielmehr ganz dem allgemeinen Zusammenhang und der wechsel-
seitigen Anpassung der Funktionen. Die Rückwirkung der Funktion
auf ihre Entstehungsbedingungen, im vorliegenden Fall also der Stimm-
laute auf die Gefühle, deren Ausdruck sie sind, bildet nun zugleich
den Hauptantrieb in der Entwicklung der Gefühlsäußerungen durch
Stimmlaute. Zwischen dem unmelodischen und unartikulierten
Schmerzensschrei und den schon eine reiche Skala von Gefühlen um-
272 I>ie Sprachlaute.
fassenden Tonmodulationen des Singvogels liegt sicherlicli eine weite
Kluft. Dennoch bleibt die Mannigfaltigkeit der Äußerungsformen
auch hier noch eine beschränkte. Denn eine Schranke des Ausdrucks-
mittels der Tonmodulation ist es immer, daß diese sich niemals über
eine reine Gefühlssprache erheben kann. Die Gefühle selbst bedürfen
aber zu ihrer reicheren Entwicklung einer reicheren Vorstellungs-
welt. Da eine solche nur mit Hilfe der artikulierten Sprache
möglich ist, so wird daraus auch der ungeheure Abstand be-
greiflich, der den menschlichen Kunstgesang und die aus ihm
hervorgegangene Kunst der Musik von dem natürlichen Gesang des
Vogels scheidet.
4. Tonmodulation und Lautartikulation beim Menschen.
Der menschliche Gesang bildet den einzigen sicher bezeugten
Fall, wo sich die beiden in der Entwicklung der Stimmlaute neben-
einander hergehenden Momente, Lautartikulation und Tonmodu-
lation, in vollkommnerer Ausbildung vereinigt haben. Im allgemeinen
sind darum wohl beide als zwei ursprünglich aus dem intensivsten
Gefühlslaut, dem Schrei, hervorgegangene divergierende Ent-
wicklungen anzusehen, während doch jede dieser Ausdrucksformen
immer auch bis zu einem gewissen Grade die Mitwirkung der andern
voraussetzt. Denn es gibt ebensowenig eine Lautartikulation ohne
einen gewissen Grad von Tonmodulation, wie diese ohne jene möglich
ist. Nun scheint die menschliche Sprache ursprünglich mit den
Stimmlauten anderer mit Lautartikulation begabter Wesen auf gleicher
^tufe zu stehen. So ungewöhnlich mannigfaltig die artikulierten Laute
der menschlichen Stimme sind, ihrer Tonmodulation fehlt der musi-
kalische Charakter. Schon in einer sehr frühen Lebenszeit bringt zwar
das menschliche Kind bedeutungslose artikulierte Laute hervor,
die zugleich eine deutliche Tonmodulation erkennen lassen. Aber
diese ist unmusikalisch, sie entbehrt durchaus des regelmäßigen Ton-
falls. Diesen eignet sich das Kind erst viel später an, indem es vor-
gesungene Melodien nachahmt, ungefähr in derselben Zeit, in der es
zuerst auch seine artikulierten Laute verbindet, um bestimmte Worte
Tonmodulation und Lautartikulation beim Menschen. 273
nachzuahmen. Hiermit scheinen die Tatsachen der generellen Ent-
wicklung übereinzustimmen, soweit uns diese heute noch einigermaßen
zugänglich sind. Obwohl Tonmodulation und wechselnde Lautstärke
überall miteinander verbundene Faktoren des sprachlichen Aus-
drucks sind, so bilden doch sichtlich beide relativ unabhängige Bestand-
teile, die aus verschiedenen Motiven entspringen. Die Tonmodulation
ist, wie ihr charakteristischer Wechsel bei Frage, Ausruf, Bekräftigung
einer Aussage usw. zeigt, vor allem Ausdruck der die Rede begleiten-
den Gefühlslage. Der Wechsel der Lautstärke dagegen oder der
exspira torische Akzent ist Ausdruck wie Ursache der rhythmischen
Bewegung der Rede, mag er nun aus dem rhythmischen Gefühl
selbst entstehen, oder mag er aus der Hebung gewisser Hauptbestand-
teile des Gedankens hervorgehen. Dabei ist diese Rhythmik der ge-
sprochenen Rede von der Tonmodulation an sich unabhängig. Beide
repräsentieren eben ganz verschiedene Motive des sprachlichen Aus-
drucks: die Tonmodulation die qualitative Gefühlsstimmung, der
Akzent den Rhythmus der Artikulationsbewegungen, der als solcher
einen Bestandteil der allgemeinen rhythmischen Körperbewegungen
bildet. Darum ist die übliche Unterscheidung von ,, Tonakzent" und
,, dynamischem Akzent" irreführend. Es gibt nur einen eigentlichen
Akzent, das ist der dynamische oder exspira torische. Beide können
einander nicht ersetzen; wohl aber kann der eine den andern ver-
drängen, und dies scheint in der Tat durchweg in dem Sinne geschehen
zu sein, daß die Tonmodulation in der gewöhnlichen Rede durch den
dynamischen Akzent zurückgedrängt wurde, um dann erst im Kunst-
gesang wieder das Übergewicht über diesen zu erlangen. Denn in
allen Sprachen, in denen die Tonmodulation vorherrscht, tritt der
exspira torische Akzent zurück ; und nachweislich ist in vielen Sprachen
im Laufe ihrer Entwicklung die Tonmodulation durch den Akzent
zurückgedrängt worden^). Zugleich scheint sich bei Völkern mit
überwiegender Tonmodulation der Gesang von der gewöhnlichen
^) Belehrende Beispiele bieten hier vor allem die afrikanischen Sprachen
(Meinhof, Archiv für Anthropologie, N. F. Bd. IX, 1910, S. 188 ff.). Doch werden
wir auch auf germanischem Sprachgebiet hierher gehörige Erscheinungen kennen
lernen. (Vgl. unten Kap. IV, Nr. VI.)
Wun dt, Völkerpsychologie. I. 4. Anfl. 1^
274 1^6 Sprachlaute.
Rede weniger zu entfernen. Er bleibt, ebenso wie die Musik, ein-
förmiger und ist weniger harmoniscli ausgebildet als da, wo durch
die Herrschaft des rhythmischen Akzents die gewöhnliche Rede und
der Gesang schärfer sich sondern^).
Alle diese Erscheinungen deuten bereits die Richtung an, in der
die Antwort auf die alte Frage nach dem Verhältnis von Gesang und
Sprache gesucht werden muß. Sicherlich kann man sich nicht mit
Lucrez den Gesang des Menschen aus dem der Singvögel durch Nach-
ahmung entstanden denken^). Nicht minder unhaltbar ist die Meinung
Darwins, Mensch und Vogel seien zwar unabhängig voneinander,
aber durch die gleichen ursprünglichen Motive zu Gesangslauten ge-
langt, indem diese sexuelle Lockrufe gewesen seien, durch die einst-
mals der Mann um das Weib nicht anders geworben habe, als wie
es noch heute in der Paarungszeit die männlichen Vögel um ihre
Weibchen tun^). Abgesehen von den unzulänglichen Analogien aus
dem Tierreich fehlt die Hauptsache: ein Unterschied der Geschlechter
^) Eine hochausgebildete Tonmodulation mit sehr schwacher dynamischer
Akzentuierung findet sich in den ostasiatischen Sprachen, dem Chinesischen,
Japanischen, Siamesischen. Die lange Abgeschlossenheit dieser ostasiatischen
Kultur hat hier wohl konservierend auf diesen an sich ursprünglicheren Zustand
gewirkt. Über die Beziehungen des Akzents und der Tonmodulation zur Satz-
fügung siehe Bd. 2, Kap. VII.
Ein gutes Beispiel für die verdrängende Wirkung der dynamischen Akzen-
tuierung auf die. Tonmodulation bietet übrigens die Übung unserer Kinder in
der poetischen Rezitation von Gedichten. Zuerst, bei dem bekannten Herunter-
leiern des Auswendiggelernten, herrscht durchaus eine einförmig über wenige
Tonstufen sich erstreckende Tonmodulation. Wird die Rezitation ausdrucks-
voller, so gewinnt dann mehr und mehr der dynamische Akzent und mit
ihm die den Gedanken sich anschmiegende Rhythmisierung die Ober-
hand.
*) „At liquidas avium voces imitarier ore
ante fuit multo quam levia carmina cantu
concelebrare homines possent aurisque juvare."
(T. Lucretii Cari De rerum natura, V, 1366.)
Über eine an diese Vorstellungen zum Teil wieder anknüpfende, auch von B. Del-
brück gebilligte Theorie von O. Jespersen vgl. Sprachgeschichte und Sprach-
psychologie, S. 92 ff., und unten Bd. 2, Kap. IX.
3) Darwin, Abstammung des Menschen, II, S. 290 ff.
Tonmodulation und Lautartikulation beim Menschen. 275
in der Anlage zum Gesang ist beim Menschen nicht nachzuweisen^).
Ist der menschliche Gesang, wie die Tatsachen der generellen und der
individuellen Entwicklung wahrscheinlich machen, ein Erwerb der
Kultur, so ist er — das scheidet ihn von dem, was wir bei den Ton-
modulationen des Vogels Gesang nennen — von Anfang an das Er-
zeugnis einer, wenn auch noch so primitiven, Kunst. Darum kann
man zwar von natürlichen Tonmodulationen der menschlichen Stimm-
laute, aber man kann nicht von einer ,, na türlichen Musik" der Sprache
im eigentlichen Sinne des Wortes reden, um dann mit Herbert Spencer
aus der "Weiterentwicklung derselben, wie sie besonders durch die
leidenschaftlich erregte Rede nahegelegt werde, die Entstehung har-
monischer Kadenzen abzuleiten^). Auch diese Hypothese trägt den
Stempel der Willkür. Rhythmus und Tonbewegung in harmonischen
Intervallen bilden die unveräußerlichen Merkmale des Gesangs. Es
kann vorkommen, daß der Rhythmus wenig ausgebildet ist, oder daß
umgekehrt ein bestimmter Rhythmus besteht, aber die Tonintervalle
nur annähernd einen musikalischen Charakter besitzen. Niemals
jedoch kann die Tonmodulation als solche, ohne Rhythmus und ohne
harmonische Ton Verhältnisse, Gesang genannt werden. Vollends im
gesteigerten Affekt besitzt die Sprache am wenigsten musikalische
Eigenschaften: denn hier besonders fallen die Laute leicht in die pri-
mitive Form disharmonischer Schreilaute zurück, und es bewegt sich
die Rede unter dem Einfluß des starken und irregulären Wechsels
der Gefühle in völlig unrhythmischen Formen^).
Mehr trifft mit diesen Bedingungen eine andere Ansicht zusammen,
die, im Gegensatz zu diesen Versuchen einer Ableitung aus Ursprung-
^) Darwin beruft sich hier allerdings auf zwei Zeugnisse. Diese wider-
sprechen sich aber eigentlich wechselseitig. Erstens sollen die Männchen einiger
Quadrumanen entwickeltere Stimmorgane besitzen als die Weibchen. Zweitens
werde allgemein angenommen, daß die Frauen angenehmere Stimmen be-
säßen als die Männer, was als Fingerzeig dienen könne, „daß sie zuerst
musikalische Kräfte erlangten, um das andere Geschlecht anzuziehen"
(S. 295 f.).
2) Herbert Spencer, The Origin and Function of Music, in Essays political
and speculative. 1858.
^) Über die Bedeutung von Rhythmus und Tonmodulation für die Gliede-
rung der Rede vgl. unten Kap. VII, Nr. VIL
18*
276 Die Sprachlaute.
liehen Naturbedingungen, in der Kunst selbst, und zwar in der bereits
entwickelten Dichtkunst, die Quelle des musikalischen Ausdrucks
sieht. ,,Aus betonter, gemessener Rezitation der Worte entsprang",
wie Jacob Grimm sich ausdrückt, ,, Gesang und Lied, aus dem Lied
die andere Dichtkunst, aus dem Gesang durch gesteigerte Abstrak-
tion alle übrige Musik" ^). Diese Erklärung hat nur den einen Fehler,
daß sie gegenüber der vorangegangenen in das entgegengesetzte Ex-
trem verfällt. Der Rezitator, der die Taten der Helden preist, oder der
Priester, der den Opferkultus mit Gebeten begleitet, sie sind Erschei-
nungen einer bereits fortgeschrittenen Kultur. Daß das Epos und das
Kultusgebet nicht von Anfang an Lied und Gesang, also von Rhyth-
mus und melodischer Tonfolge begleitet gewesen seien, erscheint
mindestens unwahrscheinlich. Die Kunst des wandernden Sängers
und der religiöse Kultgesang mögen daher immerhin für die Weiter-
entwicklung des musikalischen Ausdrucks ihre Bedeutung haben,
als Beginn desselben können sie ebensowenig gelten, wie das Ho-
merische Epos ein Urzustand der Poesie oder die Homerische Götter-
welt eine primitive Mythologie ist. So gewinnt denn auch die Hypo-
these Jacob Grimms ihr Recht, wenn wir sie aus der vermeintlichen
Urzeit der Homerischen Welt in die wirkliche Urzeit der Kultur zurück-
verlegen, soweit uns diese in dem Leben der heutigen primitiven Völker
erreichbar ist. Nicht der epische Gesang, sondern der Tanz, begleitet
von einem monotonen und oft bedeutungslosen Gesang, bildet hier
überall die ursprünglichste und trotz dieser Ursprünglichkeit hoch
ausgebildete Kunst ^). Mag er als Kulttanz oder als reine, dem Genuß
der eigenen rhythmischen Körperbewegimgen hingegebene Affekt-
äußerung auftreten, er beherrscht so sehr das Leben des Naturmenschen,
^) Jacob Grimm, Über den Ursprung der Sprache, ^ 1858, Ö. 54. Eine
ähnliche Ansicht hat auch Herbert Spencer in seiner Soziologie vorgetragen,
indem er teils aus den lobpreisenden Triumph- und Siegesgesängen, die einem
sieghaften Häuptling dargebracht wurden, teils aus religiösen Zeremonial- und
Opfergesängen die Kunstformen der Poesie und Musik hervorgehen läßt. Da-
neben nimmt er aber auch hier noch im Sinne seiner obenerwähnten älteren
Theorie an, daß schon in den gewöhnlichen, namentlich leidenschaftlichen Äuße-
rungen eine Hinneigung zum musikalischen Ausdruck liege. (Soziologie, deutsche
Ausg. IV, Kap. III, S. 141 ff., 255.)
2) Vgl. hierzu Bd. 3 3 (Kunst), S. 470 ff.
Tonmodulation und Lautartikulation beim Menschen. 277
daß sich ihm alle andern Kunstformen unterordnen. Ist er doch selbst
gewissermaßen die primitive bildende Kunst, die hier noch ganz in
der Selbstdarstellung der menschlichen Gestalt in der Mannigfaltig-
keit ihrer dem jedesmaligen Affekt folgenden Bewegungen aufgeht.
Das primitive Lied und die primitive Musik, die, dieser Herrschaft
des Rhythmus über die Melodie folgend, mehr über Lärmwerkzeuge
als über musikalische Instrumente gebietet, ordnen sich völlig dieser
rein rhythmischen Kunst unter. Vor allem bei den die überwiegende
Zahl der primitiven Tänze bildenden Nachahmungen der Tiere bildet
nun aber die Verbindung einer treuen Nachbildung der an sich meist
unregelmäßigen Bewegungen des Tieres mit der Unterordnung unter
die streng festgehaltene rhythmische Form einen besonderen Antrieb
zur Entwicklung einer komplizierten Technik. Während Alte und
Junge, Männer und Frauen, wo beide am Tanze teilnehmen, in der
Raschheit und Gewandtheit ihrer Bewegungen mannigfach abweichen,
werden sie doch durch den gleichen Rhythmus zusammengehalten.
So entstehen von selbst kunstvolle Tanzformen, die man, vom Rhyth-
mischen in das Melodische übersetzt, den polyphonen Leistungen eines
aus verschiedenen Instrumenten zusammengesetzten Orchesters ver-
gleichen könnte, und zu denen die monotone und zuweilen nur in
unartikulierten oder traditionellen, nicht mehr verstandenen Wörtern
bestehende Stimmbegleitung in starkem Kontrast steht. Nun ist
es sicherlich kein zufälliges Zusammentreffen, daß bei den gleichen
Naturvölkern, bei denen sich der Rhythmus der Körperbewegungen
so reich entwickelt hat, nicht bloß die Gesangsmelodie höchst unvoll-
kommen geblieben ist, sondern daß auch die gewöhnliche Sprache
eine ähnlich gleichförmige Tonmodulation zeigt, während eine dy-
namische Akzentuierung der Rede fast ganz fehlt. Mit andern Worten :
Gesang und gewöhnliche Sprache sind wenig geschieden und ent-
sprechend nehmen die Artikulationsorgane an dem allgemeinen Rhyth-
mus der Körperbewegungen noch fast gar keinen Anteil. Dies äußert
sich natürlich besonders in der spezifisch rhythmischen Kunstform,
im Tanze; aber es gilt doch für die Beziehungen der Körper- zu den
Stimmbewegungen überhaupt.
So begreift es sich, daß Tonmodulation und Akzent in ihren aus-
geprägten Formen bis zu einem gewissen Grade sich ausschließen,
278 I>ie Sprachlaute.
daß sie aber nicht im mindesten Erscheinungen sind, die einander
vertreten können. Die Tonmodulation ist Ausdruck qualitativer
Nuancen der Rede, wie wir das auch in den sonst vom dynamischen
Akzent beherrschten Sprachen noch deutlich bemerken können, wo
sie für besondere Modifikationen der Bedeutung stehen geblieben
ist : so in der Erhöhung des Tones bei der Frage, in der etwas geringeren,
aber mit Tonverstärkung verbundenen Tonerhöhung beim Ausruf,
endlich in der Vertiefung des Tones am Ende einer Aussage^). Sie
sind neben bedeutungslos gewordenen dialektischen und individuellen
Modulationen des Tones die letzten Spuren einer Qualifikation der
Bedeutung durch den Tonfall, wie sie in ausgeprägterer, auf den ge-
samten Begriffsinhalt des Wortes übergreifender Form die ostasia-
tischen Sprachen bieten. Kann doch auch für uns noch in gewissen
Fällen ein und dasselbe Wort, wie das ,,ja ?" der Frage oder des Zweifels
und das ,,3a!" der Verwunderung oder der Versicherung, im Zusammen-
hang der Gedanken wesentlich verschiedene Bedeutungen besitzen^).
Demgegenüber besitzt der exspiratorische Akzent, der auf ein ein-
faches Wort oder auf einen Wortbestandteil gelegt wird, an sich nur
den Wert einer quantitativen Steigerung. Darum ist er zunächst
nur Ausdruck der Affektstärke, während die Gefühlsqualität des Affekts,
die an den sonstigen Bedeutungsinhalt gebunden ist, vom exspira-
torischen Akzent unberührt bleibt. Dagegen ist dieser ein Teil der
gesamten Ausdrucksbewegungen, und er hat hier, wie seine allmäh-
liche Entwicklung in vielen Sprachen lehrt, zugleich die Bedeutung
eines komplementären Ausdrucksmittels. Je mehr die äußeren pan-
tomimischen Ausdrucksbewegungen zurücktreten, ein um so größeres
Gewicht gewinnt die an den entscheidenden Stellen eintretende Laut-
steigerung durch den Affekt. Beispiele eines so sich entwickelnden
Gegensatzes begegnen uns heute noch deutlich in der Sprechweise
der uns bekannten Kulturvölker. Das Französische hat sich unter
den romanischen Sprachen wohl am meisten die Tonmodulation be-
wahrt, neben der auch in ihm der dynamische Akzent zurücktritt.
Dafür besitzt der Franzose ein um so wirksameres Mittel des Affekt-
^ ) Meinhof, Die moderne Sprachforschung in Afrika, S. 68 ff.
2) Vgl. Bd. 2, Kap. VII.
Tonmodulation und Lautartikulation beim Menschen. 279
ausdrucks in dem Gebärdenspiel, das seine Rede begleitet. Der eng-
lische Redner bleibt äußerlich unbewegt, und seine Worte bewegen
sieb nur innerhalb eines ausnehmend geringen Umfangs der Ton-
modidation ; aber er verfügt über einen sehr umfangreichen und wechseln-
den dynamischen Akzent. Erscheinungen wie diese bei sonst in der
Kultur einander nahestehenden Völkern können uns wohl auch am
ehesten über die Ursachen der allmählichen Verdrängung der Ton-
modulation durch den dynamischen Akzent Aufschluß geben. Sicht-
lich ist diese Verdrängung nicht direkt erfolgt, sondern das Anwachsen
der exspiratorischen Betonung ist selbst allem Anscheine nach erst
die Wirkung der allmählich infolge besonderer nationaler Anlagen,
die sich unter dem Zusammenfluß für uns im einzelnen nicht mehr
nachzuweisender Faktoren entwickelt haben, eingetretenen Unter-
drückung des äußeren, die Rede begleitenden Gestus. Dieser hat
sich aber, da der Affekt fortan sich Luft machen muß, um so ener-
gischer auf die Artikulationsbewegungen selbst geworfen. Hier
unterdrückt er seinerseits wieder jede ausgiebigere Tonmodulation,
wie uns das die Vergleichung der gesprochenen Rede mit dem
Gesang vor Augen führt. Denn auch hier muß der letztere
eben deshalb auf die stärksten dynamischen Akzente verzichten,
weil ein übermäßiger Exspirationsdruck die feineren Tonunterschiede
zurückdrängt.
Dagegen bewegt sich der dynamische Akzent der gewöhnlichen
Sprache selbst wieder zwischen zwei wesentlich abweichenden Mo-
tiven, einem rhythmischen, bei dem die Lautfolge als solche, ohne
Rücksicht auf die Beziehung der Laute zum Bedeutungsinhalt des
Wortes für die Betonung entscheidend ist, und einem logischen, das
umgekehrt auf den Bedeutungswert des Lautes das Schwergewicht
legt. Ausgeprägte Beispiele für die Vorherrschaft des ersten, rhyth-
mischen Motivs bieten hier das Griechische und Lateinische auf der
einen Seite, in denen sich die Betonung nach der Stellung der betonten
Silbe richtet, und das Germanische auf der andern, wo die Stamm-
silbe, also derjenige Lautbestandteil, der dem Wort seinen wesent-
lichen Bedeutungsinhalt verleiht, den Akzent trägt. Dort, bei der
Betonung nach der Position, bewirkt der Wechsel der Klangstärke
einen rhythmischen Abfluß der Laute, indem in beiden Sprachen
280 Die Sprachlaute.
die Stellung des Akzents im allgemeinen eine solche ist, daß ein auf-
und abwogender Rhythmus entsteht, ähnlich wie er, nur strenger
gebunden, die musikalische Methode beherrscht. So ist denn auch
diese rhythmische Form der dynamischen Betonung noch mit einer
ausgiebigeren Tonmodulation vereinbar, wie unter den neueren
Sprachen wieder besonders das Französische zeigt. Ganz anders in
den germanischen Sprachen, wo das logische Prinzip der dynamischen
Akzentuierung zur Herrschaft gelangte. Ohne Rücksicht auf rhyth-
mischen Aufbau der Worte schreitet hier die Rede fort. Indem sich
■aber gleichzeitig die den Affekt widerspiegelnde äußere Körper-
bewegung ermäßigt hat und der Respirationsdruck an ihre Stelle
getreten ist, erhält der Satzakzent, der die durch den Affekt ge-
hobenen Stellen der Rede scharf hervortreten läßt, die Vorherrschaft
über den Wortakzent, und die Sprache gewinnt jenen rhythmischen
Tonfall, den sie im einzelnen Wort verloren, im Satze wieder. Doch
die Tonmodulation, die an den melodischen Wortklang gebunden ist,
tritt jetzt um so mehr in der in ihrem gesamten Aufbau von der ex-
spiratorischen Betonung beherrschten Rede zurück. Nach allem dem
läßt sich die rhythmische Form des dynamischen Wortakzents wohl
auch einerseits als eine Zwischenstufe betrachten zwischen einem
früheren Zustand mit herrschender Tonmodulation und einem späteren
mit vorwaltend dynamischer Betonung, anderseits aber zugleich als
eine solche zwischen einem Stadium, wo das einzelne Wort nach Klang
wie Betonung einen relativ veränderlichen Wert hat, und einem an-
dern, in dem es innerhalb des vom dynamischen Satzakzent beherrschten
Ganzen des Gedankens einer verschiedenen Abstufung fähig ist. Da-
bei sind übrigens diese Verhältnisse durchaus nicht maßgebend für
die Ausbildung der Sprache überhaupt. Eine Sprache mit fast reiner
Tonmodulation und sehr geringem dynamischen Akzent wie das Chi-
nesische verfügt vermöge dieser einseitigen Ausbildung über Mittel,
die unseren europäischen Kultursprachen nicht zu Gebote stehen.
Eine andere, die, wie das Französische, durch die Verbindung von Ton-
abstufung und rhythmischer Akzentuierung einen den feineren Ge-
fühlsnuancen des Ausdrucks sich anschmiegenden musikalischen
Charakter bewahrt hat, besitzt hierin einen Vorzug, welcher den nur
über logische Wort- und affektbetonte Satzakzente verfügenden
Tonniodulation und Lautartikulation beim Menschen. 281
Sprachen abgeht. Denn während diese ihrerseits die den Gedanken
tragenden Hauptbegriffe mehr zu Gehör bringen, steht ihnen als Aus-
druck subjektiver Stimmung lediglich die Stärke der Betonung in
ihrer bloß intensiven Steigerung zu Gebote. Auch hier macht sich
eben im Gebiet der Sprache die allgemeine psychologische Tatsache
geltend, daß in den Ausdrucksbewegungen der Affekte hinter den
Intensitätsäußerungen die sonstigen, namentlich also die qualitativen
Gefühlsnuancen zurücktreten^). In allem dem bieten uns aber noch
die Sprachen der heutigen Kulturvölker nicht bloß letzte Spuren
einer allgemeinen in Betonung und Sprechmelodie in gesetzmäßiger
Weise die ganze Geschichte der Sprache begleitenden Entwicklung,
sondern auch deutliche Wirkungen einer Differenzierung dieser
Entwicklung, in der Melodie und Rhythmus der Rede, mit
ihren subjektiven psychischen Korrelaten, qualitativer Nuan-
cierung der Gefühle und intensiver Affekterregung, miteinander
konkurrieren.
In diesen Eigenschaften der Tonmodulation und des Rhythmus
liegt nun auch das Verhältnis von Sprache und Gesang begründet.
Ist hier zweifellos die Sprache das Frühere, so begleiten sich doch
beide, so weit wir in der Entwicklung der Menschheit zurückgehen
können, und sie nähern sich zugleich um so mehr, auf einer je ur-
sprünglicheren Stufe wir sie antreffen: in der Sprache überwiegt die
Tonmodulation, und der Gesang entfernt sich noch wenig von der
gewöhnlichen Rede. Dabei wirkt aber die Kunst auf beide in einer
primitiveren Form ein, nämlich in dem eine ursprüngliche Einheit
bildender und musischer Kunst repräsentierenden Tanz. In der Be-
gleitung zum Tanz erhebt sich zuerst die gesprochene Rede zum Lied
und dieses wirkt dann seinerseits wieder auf die Sprache zurück. Es
bringt strengeren Rhythmus in die Rede, und es schafft reichere Ton-
modulationen. In beiden Eigenschaften, in der Steigerung des rhyth-
mischen und des melodischen Faktors scheidet sich so mehr und mehr
der Gesang von der gesprochenen Rede. In diese Entwicklung tritt
endlich die Differenziermig des Liedes ein. Dieses wird schon inner-
M Vgl. Physiol. Psychol. III», S. 199 ff., 260 ff. Über das Verhältms von
Wort- und Satzakzent siehe unten Kap. VIL
282 I^ie Sprachlaute.
halb eines primitiven Zauberkultus zum Kultlied, das in seinen
Anfängen wohl stets mit dem Tanz verbunden ist, der weiterhin in
dem Kulttanz verwickeitere, von einem strengen Zeremoniell geregelte
Formen annimmt, während er in der langsamen Feierlichkeit vieler
derselben der Ausbildung des melodischen Faktors fördernd entgegen-
kommt. Anderseits greift nun aber auch die rhythmisierte Rede über
das Gebiet des Tanzes und des unter seiner Mitwirkung entstandenen
Kultlieds in das profane Leben und dessen alltägliche, nicht weniger
wie der Tanz durch die Organisation der Bewegungswerkzeuge sich
mit rhythmischer Gliederung verbindenden Beschäftigungen hinüber.
So sind die Arbeiten des Schmiedens, des Holzfällens, des Säens, dann
die Tret- und Schlagbewegungen, die dem Enthülsen des Getreides
dienen, das Spinnen, das Weben, das Flechten usw. entweder von
selbst an regelmäßige rhythmische Körperbewegungen gebunden,
oder sie werden mindestens in hohem Grade durch eine der Natur der
Arbeit sich anpassende Rhythmik der Bewegungen erleichtert, so
daß die Arbeit selbst in ein erfreuendes Spiel sich verwandeln kann.
Diese erleichternde Wirkung des Rhythmus auf den Vollzug der Be-
wegungen findet ihren psychologischen Ausdruck in den wechselnden
Spannungs-, Lösungs- und Lustgefühlen, die die Arbeit begleiten.
So regt sich der Trieb, diesen lusterregenden Wechsel der Gefühle
mit Lauten zu begleiten, die durch die hinzukommenden Artikula-
tions- und Gehörsempfindungen das rhythmische Gefühl verstärken
und regulierend und fördernd auf die Arbeitsbewegungen zurück-
wirken. Diese begleitenden Laute lassen ferner, wo sich zu der gleichen
Arbeit mehrere vereinigen, diese in übereinstimmendem Rh5rthmu&
die Bewegungen ausführen. Arbeitsgesänge gehören daher, wie
K. Bücher gezeigt hat, wahrscheinlich zu den frühesten Gattungen
der Poesie und des musikalischen Ausdrucks^). Bisweilen enthalten
sie nichts als sinnlose artikulierte Laute, die dem Rhythmus der ge-
leisteten Arbeit angepaßt sind. Reste solcher Lautbildungen mögen
sich noch in den Refrainzeilen mancher Volkslieder finden 2). Dann
1) Karl Bücher, Arbeit und Rhythmus, * 1908.
2) Ein Beispiel bei Bücher a. a. O. S. 271.
Stadien der Lautbildung beim Kinde. 283
füllen sich allmälilich die Takte mit sprachlichem Inhalt, der sich
bald auf die Arbeit selbst, bald auf andere Begegnisse des täglichen
Lebens bezieht, und der zunächst durch Improvisation entsteht, ehe
er sich zu bestimmten, bei der gleichen Arbeit regelmäßig wieder-
holten Liedern fixiert^). Nach einer andern Seite entwickeln sich
aus dem Kulttanz, ursprünglich als spezifische Formen desselben,
der Jagd- und der Kriegstanz; und in weiterer Rückwirkung über-
trägt sich der Rhythmus dieser Tänze durch begleitende Lärm- und
Musikinstrumente auf den Anmarsch zum Kampfe und auf die Wieder-
holung in Spiel und Waffentanz. So entsteht der Kampf gesang und,
auf ihn zurückgehend, das Lied des Sängers, der die Taten der Helden
feiert^).
IL Sprachlaute des Kindes.
1. Stadien der Lautbildung beim Kinde.
Die Entwicklung der kindlichen Stimmlaute läßt sich deutlich
in drei Stadien unterscheiden. Das erste, das in der Regel bis in die
sechste Lebenswoche herabreicht, ist das der Schreilaute. Das
zweite, von der siebenten Woche bis zum Ende des ersten, manch-
mal auch bei noch normalen Kindern bis gegen Ende des zweiten
Lebensjahrs sich erstreckend, ist das der artikulierten sinnlosen
Laute. Das dritte beginnt mit der Hervorbringung artikulierter
Laute, denen die bestimmte Absicht der Benennung beiwohnt:
das Stadium der eigentlichen Sprachbildung, es umfaßt die
folgenden Lebensjahre. Man kann, freilich etwas willkürlich, seine
obere Grenze da annehmen, wo das Kind seine Vorstellungen und
Willensakte durchweg in regelmäßig geordneten Sätzen ausdrückt.
Zur Sprachentwicklung im weiteren Sinne gehören natürlich alle drei
1) Ebenda S. 252 ff.
2) Vgl. hierzu Bd. 3» (Die Kunst), Kap. III.
284 • Die Sprachlaute.
Stadien; denn jede vorausgehende Stufe bildet die psychophysische
Vorbedingung der folgenden. Den Anfang der eigentlichen Sprach-
bildung wird man aber erst ansetzen können, wo das Kind wirk-
lich, wenn auch noch so unvollkommen, willkürlich Gegenstände
und Vorgänge seiner Umgebung mit artikulierten Lauten zu be-
zeichnen beginnt. In diesen Verlauf schieben sich dann außer-
dem Zwischenstufen ein, die den Übergang vermitteln, und die
namentlich zwischen den beiden letzten Stadien von psychologischem
Interesse sind^).
Die erste Lautreaktion des neugeborenen Kindes ist bekannt-
lich der Schmerzensschrei. Kälte und Hunger scheinen die Reize
zu sein, die diese Reaktion auslösen. Sie besteht in unartikulierten, meist
bei weit geöffnetem Munde vorgebrachten Lauten von vokalischem
Klangcharakter, wie a, a, u, uä. Schon in der ersten Lebensw^oche
pflegt sich der Gebrauch dieser Schreilaute zu erweitern, indem sich
nicht bloß Schmerz, sondern auch sonstige, z. B. durch eine ungewohnte
Lage oder durch die plötzliche Entziehung der Nahrung hervorgerufene
Unluststimmungen durch ein ähnliches Geschrei kundgeben, das
nun in seinem äußersten Grade den Charakter des Wutschreies
annimmt. Wie der Schmerz- und der Wutschrei die allgemeinen Aus-
gangspunkte des Ausdrucks der Gemütsbewegungen durch Stimm-
laute im Tierreich sind, so ordnet sich demnach auch ihre individuelle
Entstehung beim Kinde dieser generellen Entwicklung unter. Der
Hauptfortschritt, der sich dann um das Ende des ersten mid den An-
fang des zweiten Lebensmonats vollzieht, besteht darin, daß allmäh-
lich auch schwächere Gefühle von Lautäußerungen begleitet
werden: so die geringeren Grade des Unbehagens, der Ungeduld, des
Verdrusses, und in leisen Anfängen schon gewisse Lustgefühle, die
letzteren freilich zunächst in der mehr negativen als positiven Form
1) Die folgenden Angaben stützen sich zumeist auf Beobachtungen, die ich
selbst an zweien meiner Kinder ausgeführt habe. Sorgfältige Aufzeichnungen
über die Sprachentwicklung des Kindes geben außerdem W. Preyer (Die Seele
des Kindes, * S. 364 ff.) und besonders Clara und WUliam Stern, Die Kinder-
sprache, 1907, zugleich mit einer ausführlichen Übersicht über die reiche
Literatur.
Stadien der Lautbildung beim Kinde. 285
des nachlassenden Mißvergnügens, denen aber bald Laute der Be-
friedigung, des Behagens nachfolgen. In gleichem Maße nehmen die
Lustäußerungen ermäßigte Formen an, und neben den eigentlichen
Schreilauten treten moderierte Ausdruckslaute auf. Infolge der hier-
bei vorhandenen geringeren und wechselnderen Spannung der Stimm-
bänder wird die Tonmodulation der Laute eine mannigfaltigere; und
durch die gleichzeitig sich einstellenden wechselnderen Formungen
der Teile der Mundhöhle wächst, wenn auch noch in beschränktem
Maße, die Anzahl der Lautartikulationen. Die Vokalklänge vermehren
sich daher, und teilweise verbinden sie sich mit Verschluß- und Re-
sonanzlauten: Lautbildungen wie ör, rö, ra, ta, am, hu treten zu den
früheren hinzu. Sowohl nach dem Charakter dieser halbartikulierten
Laute wie nach den Anlässen, bei denen sie hervorgebracht werden,
bildet so diese Zeit bereits eine Zwischenstufe zu dem folgenden Sta-
dium.
Dieses zweite Stadium selbst ist zunächst durch die rasch wach-
sende Zahl der Lautartikulationen gekennzeichnet. Sie kommt, ab-
gesehen von der zunehmenden Beweglichkeit der Mund- und Rachen-
teile, hauptsächlich auf Rechnung der in der Regel im 7. bis 8. Monate
hervorbrechenden Schneidezähne. Gleichzeitig wächst aber sichtlich
auch der Reichtum der Gemütsstimmungen, namentlich der Lust-
affekte und der an sie sich anschließenden Affekte der Neugier, Er-
wartung, Verwunderung, indes sich die Unlustaffekte noch auf lange
hinaus weder nach ihren psychologischen Anlässen noch in ihren phy-
sischen Symptomen wesentlich zu ändern pflegen. Während sich
daher Schmerz und Zorn ganz wie früher durch lautes unartikuliertes
Geschrei kundgeben, nehmen mehr und mehr die Perioden zu, wo das
Rind, in zufriedener Stimmung, fast ununterbrochen artikulierte Laute
ausstößt. Gerade die deutlicheren Artikulationen, wie am, ah, ora,
ra, da, an, na, hu, hu, Verbindungen also von Resonanz- und Lippen-
verschlußlauten mit Vokalen, unter welchen letzteren nur das i zu-
nächst noch zurücktritt, sind augenscheinlich Äußerungen dauernder,
aber schwacher Lusterregungen. Stärkere Lustaffekte künden sich
in derselben Zeit gewöhnlich durch in lautes krähendes Geschrei
an, das sich von dem Wehgeschrei durch seine kürzere Dauer und
seine hohe Tonlage unterscheidet. Dabei muß freilich ein für allemal
286 Die Sprachlaute.
bemerkt werden, daß es sich bei Angaben über die artikulierten Laute
des Kindes in dieser Lebenszeit stets nur um eine annähernde Wieder-
gabe der häufiger vorkommenden Laute handeln kann. Eine den
Ansprüchen der Lautphysiologie genügende Charakterisierung ist
unmöglich, weil man fast ganz auf die Beurteilung des akustischen
Eindrucks angewiesen bleibt. Die wirklich hervorgebrachten Laute
sind zudem, wenn man die Übergänge und die in unseren konven-
tionellen Symbolen kaum darstellbaren Laute hinzunimmt, geradezu
unübersehbar in ihrer Mannigfaltigkeit.
Li dem geschilderten Verhalten ändert sich im Laufe der folgen-
den Monate nur wenig, abgesehen davon, daß die Lautartikulationen
zahlreicher werden, indem sich zunächst die Vokale, dann auch die
Konsonanten durch mannigfaltigere Abstufung der Lippen Verschluß-
laute und durch den Hinzutritt der Zungenlippenlaute, überhaupt
aber durch die immer größer werdende Beweglichkeit der Zunge ver-
vollständigen. So beobachtet man als häufiger auftretende neue Ar-
tikulationen Laute wie oi, eg, ge, ai, ja, eh, br, ta, ga, ha und ähnliche.
Damit ist schon ungefähr zu Ende des ersten Lebensjahrs ein zureichen-
des Material für die Lautgebilde der Sprache vorhanden. Nichts-
destoweniger haben diese Laute noch nicht im mindesten den Charakter
wirklicher Sprachlaute, sondern ihr einziger psychologischer Unter-
schied von den primitiven Schreilauten liegt darin, daß sie Ausdrucks-
mittel einer ganz andern Kategorie von Gefühlen sind, nämlich eben
jener mäßigen Lust-, Spannungs- und Erregungsgefühle, die allmählich
durch die eingetretene psychische Entwicklung entstanden. Ganz
diesem Stadium reiner Gefühlsäußerungen gehört auch noch die Bildmig
der Lautwiederholungen an, die in der Regel in die zweite Hälfte
des ersten Lebensjahrs fällt, also dem Auftreten der ersten artiku-
lierten Laute erst nach geraumer Zeit folgt. Lautlich scheint sie an
den zunehmenden Gebrauch der Dental- und Lippen Verschlußlaute
gebunden zu sein. Zunächst bilden sich meist mehrfache Wieder-
holungen, wie da-da-da-da, ba-ha-ha-ba, ma-ma-tna-ma. Das Kind
scheint sich bei ihrer Hervorbringung besonders behaglich zu fühlen.
Auch kommen bei ihnen gelegentlich Tonmodulationen von freilich
durchaus unharmonischer Art vor. Doch bedingen diese Wieder-
holungsformen zum erstenmal eine gewisse zeitliche Regelmäßigkeit
Stadien der Lautbildung beim Kinde. 287
der aufeinander folgenden Laute, in der sich Spuren eines rhyth-
mischen Gefühls und eines Wohlgefallens an rhythmischen Eindrücken
verraten. Allerdings ist dieses Gefühl noch von einfachster Art, da
sich der Rhythmus auch hier, analog wie bei den offenbar psycho-
logisch verwandten einfachsten Formen der Tonmodulation bei den
Vögeln (S. 268), auf die Einhaltung einer annähernden Zeitgleichheit
der einzelnen Laute beschränkt. So können denn auch diese Laut-
wiederholungen weder als Nachahmungen der eigenen vorangegangenen
Lautbildungen, wie man sie genannt hat, noch als Vorübungen zur
eigentlichen Sprache gedeutet werden, sondern sie beruhen, ähnlich
wie die analogen Erscheinungen bei Tieren, lediglich auf allgemeinen
psychophysischen Anlagen bestimmter Bewegungsorgane zu rhyth-
mischer Funktion. Neben den Organen der Lokomotion sind es be-
sonders auch die der Stimmbildung, denen diese Anlage eigen ist.
Man kann wohl vermuten, daß sie im Laufe der generellen Entwick-
lung erworben wurde. Im individuellen Leben entstehen aber
diese rhythmischen Bewegungen automatisch, und die Lustgefühle,
die sie erwecken, sind ihre Wirkungen, nicht ihre Ursachen.
Nachdem die Lautwiederholungen entstanden sind, bilden sie
ein günstiges Material für die Sprachentwicklung; ihrer eigenen
Entstehung liegt aber jede auch nur triebartige Richtung auf
diesen Zweck fern.
Bald nach dem Hervortreten der Wiederholungslaute, in der
Regel gegen das Ende des ersten Lebensjahrs, bietet sich nun noch
eine andere Erscheinung dar, in der zum erstenmal die selbständige
Lautbildung des Kindes mit den Einflüssen der Umgebung in Be-
ziehung tritt. Das Kind beginnt nämlich äußere Laute, manchmal
beliebige zufällige Geräusche, namentlich aber Sprachlaute, die ihm
vorgesagt werden, nachzuahmen. Die Neigung zu dieser ,,Echo-
sprache" ist bei verschiedenen Kindern in ungleichem Maße vor-
handen. Die Erscheinung selbst besteht aber in einem völlig verständ-
nislosen Nachahmen der Laute, ähnlich der bei geistigen Schwäche-
zuständen vorkommenden Echosprache, die in den Fällen von an-
geborenem Idiotismus eine auf dieser Stufe stehen gebliebene Kinder-
sprache ist. Sie ist Teilerscheinung anderer Nachahmungsbewegungen
besonders der Nachahmung von Gebärden, welche letztere zuerst
288 I>ie Sprachlaute.
als unwillkürliche Nachbildung mimischer Ausdrucksformen und dann,
auf einer etwas fortgeschritteneren Stufe, als solche von hinweisenden
und nachahmenden Handbewegungen vorzukommen pflegt. In etwa
derselben Zeit beginnt sich dann auch ein Verständnis gesehener Ge-
bärden und gehörter Wörter zu regen. Allem andern geht in dieser
Beziehung ein instinktives Verstehen mimischer Ausdrucksbewegungen
voran, das schon in den ersten Lebensmonaten deutlich an der Rück-
w^irkung auf die eigenen Gemütsbewegungen des Kindes zu bemerken
ist. Darauf folgt einige Monate später das Verstehen hinweisender
Gebärden und diesem wieder, meist erst gegen Ende des ersten Lebens-
jahrs, das Verstehen einzelner Wörter, das sich darin verrät, daß das
Kind nach dem Gegenstand oder der Person, die genannt werden,
blickt. Doch ist es bemerkenswert, daß zwischen diesem Verstehen
gehörter Wörter und der eigenen Anwendung derselben zum Zweck
der Benennung immer noch eine geraume Zeit liegt; daher es
in dieser Entwicklung eine kurze Periode geben kann, in der
das Kind einerseits verständnislos AVörter nachspricht, ander-
seits solche versteht, gleichwohl aber selbst noch nicht im
eigentlichen Sinne spricht, das heißt Worte in der Absicht der
Benennung gebraucht.
Der Eintritt in dieses letzte Stadium, in das der eigentlichen
Sprachbildung, ist demnach durch das Zusammentreffen zweier
Momente bestimmt: der Lautnachahmung, wie sie in der Echo-
sprache ihren Ausdruck findet, und des Verstehens gehörter artiku-
lierter Laute, das sich an das Verstehen mimischer und pantomimischer
Bewegungen als ein letzter Vorgang anschließt. Mit diesem fällt je-
doch der verständnisvolle Gebrauch der Worte zeitlich noch nicht
zusammen; sondern erst, nachdem Nachahmung und Verständnis,
beide unabhängig voneinander eine Zeitlang geübt worden sind, treten
die ersten mit der Absicht der Mitteilung gebrauchten sprachlichen
Benennungen auf. Zunächst sind es Personen und Vorkommnisse der
täglichen Umgebung, die das Kind zur Benennxmg anregen oder es
veranlassen, ihm vorgesprochene Wörter in gleicher Bedeutung nach-
zusprechen: so in den bekannten Lallwörtern Mama, Pa^pa, ferner
atta für das Fortgehen einer Person, mimi für die Milchflasche und
dergleichen mehr. Diesen Erscheinungen, die in der Regel in die Wende
Stadien der Lautbildung beim Kinde. 289
des ersten und zweiten oder in die ersten Monate des zweiten Lebens-
jahrs fallen, folgen dann die weiteren Wortbildungen der Kinder-
sprache meist so rasch, daß schon in der zweiten Hälfte des zweiten
Lebensjahrs für die das Interesse erregenden Gegenstände der Um-
gebung zureichende Bezeichnungen vorhanden sind. Bei einem Mädchen,
dessen erste mit dem Zweck der Benennung gebrauchte Sprachlaute
genau in den 12. Monat fielen, zählte ich im 19. Monat bereits 66 Wörter,
die sich einen Monat später abermals um 12 vermehrt hatten. Bei-
spiele dieser Wortbildungen sind: Oggo Onkel, Dada Tante, Opapa,
Omama Großpapa, Großmama, Eje Marie, Wida Friedrich, Mann
Mann, Mne Junge, Pipi Vogel, Wauwau Hund, Hotto Pferd, Mi Katze,
Mu Kuh, Wa Wagen, Ägga Auge, Mon Mond, Muni guten Morgen,
Nan gute Nacht, U Hütchen, Gag Kleid, Jüja Schleier, Aga Jacke,
üa Schuh, Bo Boden, Bat Band, Bu Buch, Mia Finger, Miawut Finger-
hut, Guga Kuchen, Dida (Tiktak) Uhr, Aga Kaffee, Joj Schoß, adda
spazieren gehen, teail aufstehen usw. Erst nach dieser Zeit der ersten
Wortbildungen vermehren sich auch die häufiger gebrauchten artiku-
lierten Gefühlslaute. So sind von der zweiten Hälfte des zweiten
Lebensjahrs an Laute wie chi, up, id, ol, tschi, pu, Jcch, mp, schi, klu
u. a. zu hören. Gegen die Mitte des dritten Lebensjahrs pflegen die
sämtlichen in der Sprache der Umgebung vorkommenden Laute auch
in der Sprache des Kindes und in den bloßen Gefühlsartikulationen,
die längere Zeit neben der eigentlichen Sprache fortbestehen, eine
Rolle zu spielen. Dabei werden freilich noch verschiedene Laute mit-
einander verwechselt, eine Erscheinung, die aber nur zum allergeringsten
Teil in einer wirklichen Unfähigkeit der Artikulation, sondern zumeist
in ganz andern Bedingungen ihren Grund hat, auf die wir unten noch
zurückkommen werden.
Wandt, Völkerpsychologie. I. 4. Anfl. *
290 I^ie Sprachlaute.
2. Angebliche Worterfindung des Kindes.
Bei Müttern und Ammen herrscht weitverbreitet die Ansicht,
das Kind erfinde sich seine Sprache selber, und von frühe an wende
es diesem Zwecke seine Aufmerksamkeit und Überlegung zu. Die
Entstehung dieser Ansicht ist begreiflich genug. Das Kind bringt
seine ersten, noch bedeutungslosen artikulierten Laute spontan her-
vor; und wenn es dann später diese Laute zu wirklichen Wörtern
verbindet, so läßt sich zwar der Einfluß des Vorsprechens nicht ganz
übersehen, aber in vielen Fällen liegt er doch nicht ohne weiteres zu-
tage. Dazu kommt der eigenartige Charakter der Kindersprache.
Auffallend ist es übrigens, daß die nämliche Ansicht fast ausnahms-
los auch noch von den pädagogischen Beobachtern der Kindersprache
und von vielen Psychologen geteilt wird. Dies läßt sich wohl nur
daraus erklären, daß in der Psychologie jener Mütter und Ammen,
die von der wunderbaren Erfindungskraft des Kindes erfüllt sind,
ein Vorurteil vorkommt, das sich mit merkwürdiger Beharrlichkeit
auch in der Psychologie der Gelehrten behauptet hat: das Vorurteil,
daß der Mensch von Haus aus ein Wesen sei, das in seinen Hand-
lungen von logischen Reflexionen bestimmt werde. Diese Psycho-
logen zweifeln z. B. nicht daran, daß jede Empfindung, etwa die Emp-
findung blau, die uns der blaue Himmel verschafft, ein ,, Urteil" sei,
oder sich mit einem solchen verbinde, weil diese Empfindung irgend-
einen, wenn auch noch so primitiven, „Denkakt" ausmache^). Eben-
so wird in dem Gefühl der Lust oder Unlust nicht selten eine Be-
ziehung zur Güte oder Schlechtigkeit, Nützlichkeit oder Schädlich-
keit der Reize gesehen. Und daß vollends jede Willenshandlung aus
einer Vergleichung und Bevorzugung der gewollten Handlung her-
vorgehe, ist noch heute eine weitverbreitete Überzeugung. Ich
glaube nicht, daß in allen diesen Fällen, wenn man sich auf
die unbefangene Auffassung der Tatsachen selbst beschränkt,
ohne ihnen nachträgliche Reflexionen über sie unterzuschieben, im
^) Vgl. z. B. Franz Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte,
I, 1874, S. 182.
Angebliche Worterfindung des Bandes. 291
Ernst von einer Nachweisung solcher logischer Vorgänge die Rede
sein kann^).
In der Anwendung auf die Psychologie des Kindes äußert sich
nun jener Standpunkt der Reflexionspsychologie vor allem darin,
daß er auf jede Frage, die das Verhalten des Kindes stellen mag, von
vornherein und ohne jede Kontrolle des Beobachteten die Antwort
bereit hat. Da alle psychischen Vorgänge logische Denkakte sein
sollen, so erscheinen hier die Handlungen des Kindes im allgemeinen
als eindeutige Symptome. Wenn z. B. das neugeborene Kind auf
süße und bittere Geschmacksreize in verschiedener Weise den Mund
verzieht, gerade so wie dies der Erwachsene tut, so wird das als ein
Zeugnis dafür betrachtet, daß jenes ebenso wie dieser Abscheu oder
Wohlgefallen empfinde. Wenn das Kind sein Auge einem äußeren
Lichte zuwendet, so soll es dadurch seine Aufmerksamkeit kundgeben;
starrt es das Licht lange und auffallend an, so wird dies als ein Zeichen
der Verwunderung oder vielleicht gar des Nachdenkens betrachtet.
Daß es alles dies möglicherweise sein könnte, sofern man die Sym-
ptome für sich, ohne alle Rücksicht auf die sie begleitenden Bedingungen
ins Auge faßt, ist natürlich nicht zu bestreiten. Gewiß ist aber, daß
die genannten Erscheinungen eine solche Deutimg noch nicht recht-
fertigen, sondern daß andere, unzweideutige Merkmale gegeben sein
müssen, ehe wir über den Charakter der zugrunde liegenden psychi-
schen Vorgänge oder auch nur darüber entscheiden können, ob es sich
wirklich um psychische Vorgänge handelt. Denn in Wahrheit sind
alle jene Erscheinungen vieldeutiger Art, und bei dem Ungeheuern
Einfluß, den vererbte Organisationsbedingungen, wie sie in besonders
verwickelter Form in den Nervenzentren vorauszusetzen sind, auf
die Lebensäußerungen ausüben, ist die bloße Analogie gewisser Be-
wegungen mit unseren eigenen willkürlichen Handlungen für die
psychologische Natur der Prozesse selbst durchaus nicht entscheidend.
Hier bietet nun aber gerade die Sprache den großen Vorzug, daß
sie uns eine genauere Einsicht in die Bedingungen ihrer Entstehung
imd eine vollkommenere Beherrschung dieser Bedingungen gestattet
2) Vgl. hierzu die Bemerkungen der Einleitung, S. 19 ff.
19*
292 Die Sprachlaute.
als die meisten andern Vorgänge der psycMschen Entwicklung. In-
dem nämlich die Sprache von Anfang an im Verkehr mit der Um-
gebung sich bildet, wird ihre Entwicklung in viel höherem Grad als
die der sonstigen psychischen oder psychophysischen Funktionen
der Kontrolle durch die objektive Beobachtung zugänglich. Denn
jener Verkehr ist ein äußerer Vorgang, den wir bei zureichender Sorg-
falt wenigstens in dem Sinne vollkommen zu beherrschen vermögen,
daß sich nichts in ihm ereignet, was wir nicht sofort in seiner äußeren
Entstehungsweise und seinen objektiven Rückwirkungen verfolgen
können. Freilich bedarf es dazu einer täglichen, ja stündlichen Beobach-
tung des Kindes und womöglich einer verständnisvollen Mitwirkung
aller Personen, die mit dem Kinde verkehren, damit jede neu auf-
tretende Erscheinung in ihrem Entstehungsmoment registriert und
auf ihre Bedingungen zurückgeführt werden könne. Wenn daher
manche zweifellos sonst sorgfältige Beobachter zu Schlüssen gelangt
sind, die sich bei Einhaltung der angedeuteten Vorsichtsmaßregeln
nicht bestätigen, so trägt daran, wie ich glaube, lediglich jene logische
Interpretation der Vulgärpsychologie die Schuld, die sie von vorn-
herein geneigt macht, die Sprache im wesentlichen als eine „Erfindung'*
des Kindes anzusehen, und von der beherrscht sie begreiflicherweise
vor allem bemüht sein muß, den Spuren dieser erfinderischen Tätig-
keit nachzugehen. Auf die Nachweisung der äußeren Einflüsse, die
hierbei mitwirken, wird dann natürlich nicht die gleiche Sorgfalt ver-
wendet.
Schon die Auffassung des allerersten Stadiums der Sprachent-
wicklung, jener meist von der siebenten Lebenswoche an allmählich
auftretenden artikulierten Laute, die noch keine Sprache sind, aber
sie vorbereiten, leidet unter der Geltendmachung dieses logischen
Gesichtspunkts. Die populäre Meinung sieht in ihnen ,, Vorübungen",
in denen sich das Kind nicht ganz ohne eigene Absicht auf das künf-
tige Geschäft des Sprechenlernens vorbereite; und dieser Meinung
nähern sich auch die Schilderungen wissenschaftlicher Beobachter
gelegentlich in bedenklichem Grade. Mindestens erachtet man es für
eine ,, zweckmäßige Einrichtung der Natur", daß das Kind alle die
Laute, deren es später bedürfe, selbsttätig erzeuge und sich durch
ihre Wiederholung in deren Bildung vervollkommne. Nun kann man
Angebliche Worterfindung des Kindes. 293
es gewiß in retrospektiver Betraclitung für zweckmäßig halten, daß
das Kind in dem Augenblick, wo es zu sprechen anfängt, bereits über
das Lautmaterial verfügt, dessen es bedarf. Aber objektiv ist das nicht
bloß zweckmäßig, sondern notwendig; denn es würde gar nicht ein-
zusehen sein, wie eine Nachahmung von Sprachlauten möglich sein
sollte, ehe die dabei vorkommenden Lautartikulationen schon vor-
handen sind. Subjektiv kann aber von Zweckmäßigkeit nicht geredet
werden, weil das Kind mit seinen der Sprache vorausgehenden Lauten
überhaupt keinerlei Absicht, am allerwenigsten die, künftig sprechen
zu wollen, verbindet. Diese Laute sind reine Gefühlslaute, gerade
so gut wie die in einem noch früheren Stadium auftretenden Schrei-
laute. Sie unterscheiden sich von letzteren nur dadurch, daß sie an
mildere Gefühle, namentlich an mäßige Lustgefühle, gebunden sind.
Psychologisch sind sie also jedenfalls nur als Gefühlssymptome zu
deuten, und wenn sie späterhin außerdem das Material abgeben, aus
dem eigentliche Sprachlaute gebildet werden, so ist das kein anderer
Zusammenhang zwischen dem Vorausgehenden und Nachfolgen-
den, als wie er uns auch sonst überall in der Entwicklung psychischer
Funktionen begegnet.
Mehr als diese der Sprache vorausgehenden Lautartikulationen
haben nun aber die den Eintritt in die eigentliche Sprachentwick-
lung bezeichnenden Wortbildungen des Kindes die Aufmerksam-
keit psychologischer Beobachter gefesselt. Dabei konnte freilich nicht
verborgen bleiben, daß das Kind viele Worte von seiner Umgebung
aufnimmt imd nachspricht. Doch ist es bezeichnend, wie sehr selbst
diese bekannte Tatsache nicht selten durch den Begriff der „Erfin-
dung" in ein Licht gerückt wird, das auch diese nachgebildeten Sprach-
laute zur Hälfte als eigene Erfindungen erscheinen läßt. Das Nach-
sprechen des Kindes wird nämlich unmittelbar mit seiner Neigung
zu onomatopoetischen Wortbildungen in Verbindung gebracht. Echo-
sprache und onomatopoetische Worterfindung sollen daher im wesent-
lichen Vorgänge gleicher Art sein. Von den onomatopoetischen Bil-
dungen bezeichnet z. B. Taine die Laute hoho für das Huhn, oua-oiM
für den Hund entschieden als selbsterfundene, durch welche das Kind
diese Tiere absichtlich nachgeahmt habe. Als weitere Worterfindungen,
die mehr in das Gebiet der interjektionsartigen Ausdruckslaute fallen
294 Die Sprachlaute.
würden, führt er ham für „ich will essen", tem im Sinn eines Demon-
strativs für „gib, nimm, sieh" an^). In Darwins Beobachtungen be-
schränkte sich die angeblich ,, selbständige" Erfindung auf den Laut
mum, den das Kind in ähnlichem Sinne wie das von Taine bemerkte
ham anwandte, für den Wunsch zu essen oder auch für das Substan-
tivum ,, Essen", daher es später diesen Laut sogar in Zusammen-
setzungen gebrauchte, z. B. shu-mum im Zucker, blacJc-shu-mum für
Lakritzen ^). Sully beobachtete bei einem 8 Monate alten Knaben,
also in einer Zeit, die früher liegt als die eigentliche Sprachbildung,
die Laute ma-ma als Zeichen der Trauer, da-da als Zeichen der Freude.
Ferner hält er da für einen bei englischen und deutschen Kindern
instinktiv gebrauchten Demonstrativlaut, und ata oder tata für ein
Lautzeichen, welches den Abgang einer Person bedeute usw.^). Ein
noch reicheres Vokabular angeblich selbstgeschaffener Wörter geben
einige amerikanische Beobachter*).
Natürlich ist es völlig unmöglich, bei diesen Berichten nach-
träglich festzustellen, was wirklich eigene Tat des Kindes, und was
ihm etwa aus seiner Umgebung unbemerkt überliefert worden ist.
Aber so viel ist ohne weiteres ersichtlich, daß zahlreiche, der an-
gegebenen Wortschöpfungen entweder gewissen Wörtern aus der
Sprache der Erwachsenen »o ähnlich oder in der traditionellen Kinder-
sprache seit alter Zeit so heimisch sind, daß sie von vornherein als
der Entlehnung dringend verdächtig angesehen werden müssen.
Dahin gehören das koko des französischen Kindes für das Huhn, das mit
coque, tem für nimm, das mit tiens zusammenhängt, u. a. Die von
Sully schon im 8. Monat beobachteten Laute ma-ma und da-da fallen
noch in die Zeit der reinen artikulierten Gefühlslaute, wo der erste
Laut der gewöhnliche Begleiter der natürlichen Weinbewegungen
^) Taine, Revue philos., I, 1876, p. 5. Über den Verstand, deutsch von
L. Siegfried, 1880, I, S. 287 ff.
2) Darwin, Mind, Vol. II. 1876, p. 293.
3) Sully, Untersuchungen über die Kindheit, deutsche Ausg. 1892,
S. 130 f.
*) Vgl. besonders Moore, Psychological Review, 1896, Suppl. Nr. 3. Steven-
son, Science, 21, 1893. Hun, Monthly Joum. of psych. Med., 1886.
Angebliche Worterfindung des Kindes. 295
ist, während der zweite zu denen gehört, die das Kind neben andern
bei behaglicher Gemütsstimmung hervorbringt. Das demonstrative
da des deutschen und englischen steht aber ebenso wie das tem des
französischen Kindes imter dem Verdacht der Entstehung aus den
bekannten Demonstrativwörtem da, das, engl, ihat, und ata oder lata
für die Entfernung einer Person gehört ebensogut wie die onomato-
poetischen Tierlaute zu dem alten Inventar der Kindersprache. Was
Laute wie mum und ham für „essen" betrifft, so berichtet schon Sa-
muel Heinicke, ein 19 jähriger Taubstummer habe neben andern ge-
wohnheitsmäßig für gewisse Gegenstände gebrauchten Ausdrucks-
lauten auch das Wort mum in der Bedeutung ,, essen" gebraucht^).
Auch kann wohl die später zu erwähnende Tatsache, daß in zahl-
reichen Sprachen zur Bezeichnimg der Funktionen der Artikulations-
organe Laute Verwendung finden, bei denen diese Funktionen selbst
mitwirken, in diesem Fall als ein Zeugnis für eine natürliche Ent-
stehung der Laute angeführt werden 2). Eine andere Frage ist es aber,
ob diese Laute nicht, ebenso wie die mancherlei onomatopoetischen
Tiemamen, dem Kinde von seiner Umgebung mitgeteilt wurden. Ist
es doch eine beliebte Gebärde der Mütter und Wärterinnen, ehe sie
dem Kind etwas zu essen geben, die Eßbewegungen nachzuahmen.
Dem entspricht, daß mum in der Bedeutung „still" ein englisches
Wort ist, das offenbar aus der gleichen Ausdrucksbewegung entstand.
Über die Herkunft anderer angebhch selbständiger Worterfindungen
läßt sich natürlich nichts vermuten. Doch lehren Beobachtungen
über die Entstehung ähnlicher scheinbar ganz willkürlicher Bezeich-
nungen, wie vorsichtig man in dieser Beziehung sein muß. So erinnere
ich mich, daß ich bei der Beobachtung eines meiner Kinder mehrere
Tage von der Frage beunruhigt wurde, wie das Kind dazu kam, einen
Stuhl guTc zu nennen, bis ich ermittelte, daß das Kindermädchen mehr-
mals eine künstliche Katze auf den Stuhl gesetzt hatte und mit einer
hinweisenden Gebärde auf diese dem Kinde zurief „guch\ guckV (von
gucken provinziell = sehen) — die gewohnte Art, in der sie das Kind
aufforderte, nach einem Gegenstand hinzusehen. Das Kind hatte
^) Heinicke, Beobachtungen über Stumme, S. 137.
2) Vgl. unten III, 2.
296 I>iö Sprachlaute.
aber diese Aufforderung nicht auf das Sehen bezogen, sondern zu-
nächst als eine Benennung des Stuhles, und dann in zweiter Linie
auch als eine solche der Katze aufgefaßt. Aus dieser Erfahrung läßt
sich die Lehre entnehmen, daß ein neues und nicht ohne weiteres
erklärbares Wort im Mund eines Kindes darum noch lange keine eigene
Erfindung sein muß, da bei der ersten Assoziation eines Lautes mit
einem Gegenstand oft der seltsamste Zufall mitspielen kann. Höchstens
durch eine fortwährende sorgfältige Kontrolle aller Einflüsse, wie
sie außerordentlich schwer auszuführen ist, kann man hier hoffen,
in jedem einzelnen Falle dem Ursprung eines neu beobachteten Wortes
auf die Spur zu kommen.
Unter diesen Umständen ist es nun um so bemerkenswerter,
daß in einer Anzahl streng unter Anwendung der gebotenen Vor-
sichtsmaßregeln ausgeführter Beobachtungen nicht ein einziges
Wort als von dem Kinde selbständig erfunden nach-
gewiesen werden konnte. Hierher gehört in erster Linie die
Beobachtungsreihe Preyers ,,über die Urlaute und Sprachanfänge
eines während der ersten drei Jahre täglich beobachteten Kindes",
jedenfalls die eingehendste und sorgfältigste, die wir besitzen. Sie
führte in der Frage der Worterfindung zu dem Ergebnis, daß das
einzige Wort, das möglicherweise das Kind selbständig erfunden haben
konnte, ein schon zu Ende des 11. Monats beobachtetes atta oder
hatta, hötta war, das vorkam, wenn jemand das Zimmer verließ, oder
wenn das Licht ausgelöscht wurde. Aber Preyer selbst läßt dahin-
gestellt, ob nicht auch dieses Wort ein nachgesprochenes sei; und
da atta in dem Sinne, in dem es hier gebraucht wurde, ein bekanntes
Wort der konventionellen Kindersprache ist, so hat diese Ver-
mutung offenbar die größte Wahrscheinlichkeit für sich^). Dies
Ergebnis Preyers ist übrigens um so bemerkenswerter, weil
dieser Beobachter selbst sich jener Art logischer Interpretation
psychischer Vorgänge, aus der die Annahme der ,, Erfindung" der
Sprache durch das Kind hervorgegangen ist, durchweg zuneigt.
Er würde also von vornherein schwerlich abgeneigt gewesen sein,
1) Preyer a. a. 0. S. 372.
Angebliche Worterfindung des Kindes. 297
eine solche Erfindung zu konstatieren, wenn sie sich nur hätte
nachweisen lassen.
Ich selbst habe in zwei Fällen die Entwicklung der Sprache in
der Weise verfolgt, daß ich über jedes neu auftretende Wort und seine
Bedeutung sorgfältig Buch führte und sofort seinen Ursprung zu er-
mitteln suchte, während zugleich alle Personen der Umgebung an-
gewiesen waren, auf die in Betracht kommenden Erscheinungen zu
achten. Als Kesultat ergab sich, daß bei dem einen dieser Kinder
kein einziges Wort, das in der Zeit der eigentlichen Sprachbildung
mit dem ersichtlichen Zweck der Benennung entstand, ursprüng-
liches Eigentum des Kindes war. Die Beobachtungen bei dem andern
Kinde führten zu dem gleichen Ergebnis, mit der Ausnahme, daß
für eine einzige Benennung die selbständige Lautbildung nicht als
absolut ausgeschlossen gelten konnte. Dieser Ausnahmefall betraf
aber nicht eigentlich ein "Wort, sondern ein Geräusch, das von dem
Kinde, wie es schien, nachgeahmt wurde. Wenn man nämlich einen
Schlüsselbund vor ihm schüttelte, so brachte es mit der Zunge den
vibrierenden Laut l-l-l-l-l- hervor, und es gebrauchte dann diesen
Laut auch beim Anblick eines einzelnen Schlüssels. Aber in diesem
Fall ist es wieder sehr wohl möglich, daß das von dem Kinde gehörte
Wort „Schlüssel" auf jenen Laut eingewirkt hatte. Zu dem gleichen
negativen Resultat kamen Clara und William Stern sowie E. Meu-
mann in ihren sorgfältig durchgeführten Beobachtungen^). Natür-
lich bezieht sich dies nur auf die Zeit der ursprünglichen Sprach-
bildung, wogegen später, etwa vom 5. Lebensjahr an, auch schon beim
Kinde willkürliche Benennungen, analog den scherzhaften Wort-
erfindungen des Erwachsenen, gelegentlich vorkommen.
Dieses Resultat bestätigt vollkommen, was sich eigentlich schon
aus dem S. 287 geschilderten Verhältnis der ersten Sprachäußerungen
1) Cl. und W. Stern a. a. 0. S. 327 ff. E. Meumann, Die Entstehung der
ersten Wortbedeutungen beim Kinde, ^ 1908, S. 89 ff. Auch Meringer, (Aus
dem Leben der Sprache, 1906, S. 206 ff.) schließt sich dem an. Ähnhch wer-
den wohl mehrere andere angeblich „erfundene'' Wörter zu deuten sein, die
Ament (Die Entwicklung von Sprechen und Denken, 1899, S. 63) von verschie-
denen Beobachtern anführt, z. B. Hbu für Vogel (Piepvogel ?), adi für Kuchen
(essen?) u. a.
298 Di© Sprachlaute.
zu gewissen andern in die gleiche Periode fallenden Erscheinungen
erschließen läßt. Die eine dieser Erscheinungen ist die Echo spräche,
die zweite das Auftreten von Grebärden, die deutlich ein eingetretenes
Wortverständnis verraten, wie das Hinblicken nach Personen oder
Gegenständen, deren Namen genannt werden. Daß beide Erschei-
nungen dem spontanen Gebrauch der Sprache vorauszugehen
pflegen, ist für die Motive der ersten Wortbildung überaus bezeichnend.
Das Kind spricht verständnislos Wörter nach, und es versteht ein-
zelne der von seiner Umgebung gebrauchten Wörter, ehe es selbst
ein Wort zur Bezeichnung irgendeines Gegenstandes anwendet. Daraus
geht hervor, daß in dem Augenblick, wo dies geschieht, die Bedingungen
einer nachahmenden Wortbezeichnung vollkommen im Kinde
bereit liegen. Es braucht nur noch die beiden bisher getrennt geübten
Funktionen, Wortwahrnehmung und Wortverständnis, miteinander
zu verbinden, um sich die Wortsprache anzueignen. Jede unbefangene
Beobachtung bestätigt, daß dies der wirkliche Weg der Entwicklung
ist, und daß die entgegenstehende Annahme teils auf unzulänglicher
Beobachtung, teils und hauptsächlich auf der Fälschung des wirklich
Beobachteten durch die Einmengung vulgärpsychologischer Vor-
urteile und Reflexionen beruht. Dieser letztere Fehler wurzelt um so
tiefer, als er noch über die Periode der ersten Wortbildung hinaus die
Beurteilung über das Verhalten des Kindes zu bestimmen pflegt.
So bemerkt Preyer, die ,, Begriffsbildung" sei von den ersten An-
fängen der Wortbildung an da und gestatte dem Kinde, Wörter, die
man ihm mitgeteilt, beliebig in ihrer begrifflichen Bedeutung zu er-
weitern oder auf neue Begriffe zu übertragen^); und Taine meint,
in vielen Fällen, wo dem Kind ein Wort mitgeteilt werde, sei es erst
das Kind selbst, das seine Bedeutung bestimme: „wir haben ihm den
Ton gegeben, es hat den Sinn dazu erfunden". Im großen und ganzen
,, erlerne es daher die fertige Sprache wie ein wahrer Musiker den Kontra-
punkt, ein wahrer Dichter die Prosodie". Worterfindung und An-
eignung mit willkürlicher Umformung der Begriffe sollen auf diese
Weise fortwährend ineinander greifen. Das von Taine beobachtete
Kind gebrauchte z. B. das Wort he he anfänglich nur für das kleine Jesus-
^) Preyer, Seele des Kindes, * S. 380, und an andern Stellen.
Angebliche Worterfindung des Kindes. 299
kind, das man ilim auf einem bestimmten Gemälde gezeigt hatte.
Dann zeigte man ihm andere Kinder und endlich sein eigenes Bild
im Spiegel, indem man dasselbe Wort ,bebe* sagte. „Hiervon aus-
gehend hat das Kind den Sinn des Wortes erweitert; „bebe" nennt
es nun alle kleinen Figuren, z. B. die halbgroßen Gipsfiguren auf der
Treppe" usw. ^).
Es scheint mir, der Fehler, den die Reflexionspsychologie bei
der Beurteilung der von dem Kinde herbeigeführten Wortübertragungen
begeht, läßt sich nicht deutlicher kenntlich machen, als es durch dieses
Beispiel geschieht. Wenn wir nachträglich die verschiedenen Be-
deutungen, die das Kind einem und demselben Wort im Verlauf der
Zeit gibt, auf ihr logisches Verhältnis prüfen, so ergeben sich natür-
lich Verallgemeinerungen, Verengerungen und sonstige Umwand-
lungen der Begriffe. Diese Begriffsoperationen verlegt man nun in
das Kind selber. Man nimmt an, dieses ändere den Sinn eines Wortes
willkürlich nach seinen Bedürfnissen und womöglich infolge einer
Überlegung. Aber nicht nur erklären sich alle jene Erfolge vollkommen
zureichend aus naheliegenden Assoziationswirkungen, sondern sie
sind auch gelegentlich von Erscheinungen begleitet, die direkt auf
bestimmte Wahrnehmungsassoziationen hinweisen, während sie jeder
Art logischer Reflexion widersprechen. Wenn das Kind Taines das
Wort hebe von dem Jesuskind des einzelnen Gemäldes allmählich
auf alle möglichen kleinen Menschengestalten übertrug, so ist das um
so weniger zu verwundern, weil man es schon gelehrt hatte, das Wort
auf sehr verschiedene analoge Fälle anzuwenden. Die Assoziation
ähnlicher Vorstellungen hätte also bei ihm eine merkwürdig unent-
wickelte sein müssen, wenn es nicht zu den vielen Fällen der ihm ge-
^) Taine a. a. O. S. 286 ff. Wenn auch nicht alle psychologischen und päda-
gogischen Beobachter des Kindes so weit gehen, wie hier von Taine und andern
Vertretern der „Erfindungstheorie" geschieht, so huldigen doch die meisten
insofern einer ähnlichen Interpretationsweise, als sie in reinen Assoziations-
wirkungen, wie den oben geschilderten, bald Umfangserweiterungen der Be-
griffe, bald Urteile oder Schlüsse erblicken. Vgl. z. B. Ament, Die Entwicklung
von Sprechen und Denken beim Kinde, 1889, S. 148 ff., Begriff und Begriffe
in der Kindersprache, 1902, S. 142 ff. Compayre, Die Entwicklung der Kindes -
Seele, übers, von Ufer, 1900, Bd. I, S. 310 ff. u. a.
300 r>ie Sprachlaute.
zeigten Anwendung auch noch einige andere von ähnlicher Beschaffen-
heit hinzugefügt hätte. Das letztere wird dem Kind um so leichter,
je unbestimmter vielfach die Vorstellungen sind, die es sich bildet,
weshalb man auch bei ihm Ähnlichkeitsassoziationen zwischen Gegen-
ständen beobachten kann, zwischen denen wir selbst nimmermehr
solche bilden würden. Besonders spielen dabei die unvollkommenen
Tiefenvorstellungen des Kindes, mit denen wieder seine höchst schwan-
kenden Größenvorstellungen zusammenhängen, eine Rolle. So kann
man leicht sogar in einem schon vorgerückteren Stadium beobachten,
daß ein Kind etwa eine kleine Wasserpfütze und einen See für gleiche
oder ähnliche Dinge hält, oder daß es für den Unterschied des von
ihm aus dem Material seines Baukastens gebauten und eines wirk-
lichen Hauses kein rechtes Maß hat. Helmholtz erzählt, als kleiner
Knabe habe er, auf dem Arm seiner Mutter sitzend, von dieser ver-
langt, sie solle ihm die Dachdecker vom nächsten Turm, die er für
kleine Puppen hielt, herabholen ^). Wenn demnach das Kind meist
in viel weiterem Umfang Ähnlichkeitsassoziationen ausführt als der
Erwachsene, so beruht das nicht auf einer umfassenderen Tätigkeit
der „Vergleichung", sondern umgekehrt darauf, daß es leichter Gegen-
stände verwechselt, die nur eine entfernte Ähnlichkeit haben, und daß
bei ihm namentlich Größen- und Entfernungsunterschiede noch fast
gar keine Rolle spielen. Dagegen kann man nicht minder beobachten,
daß es zu solchen Assoziationen, bei denen Reflexionsmomente zu
assoziativen Wirkungen verdichtet sind, und die sich bei uns ohne
weiteres vollziehen, nicht oder erst dann gelangt, wenn es durch den
übereinstimmenden Namen zu einer Assoziation veranlaßt wird.
Diese bleibt aber dann zunächst eine reine Wortassoziation. So wurde
es einem Kinde, nachdem es einen Stuhl von einer bestimmten Form
tül genannt hatte, zuerst schwer, dasselbe Wort auf Stühle von ganz
anderer Form zu übertragen. Es zeigte also in dieser Beziehung immer
noch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Hunde, dem man durch asso-
ziative Übung das Kunststück beigebracht hat, eine bestimmte Tür
zuzuschlagen, der aber nicht sofort veranlaßt werden kann, die näm-
^) Helmholtz, Physiologische Optik, 2 S. 770.
Angebliche Worterfindung des Kindes. 301
liehe Leistung auch, an einer andern zu wiederholen^). Ein anderes
Kind übertrug dagegen das Wort dül sofort von einem Stuhl auf ein
Sofa^). Sicherlich wird man diesen Unterschied nicht darauf zurück-
führen können, daß das erste dieser Kinder nur Begriffe von beschränk-
tem, das andere solche von weitestem Umfang gebildet habe, sondern
eben nur darauf, daß dort die Assoziation zufällig an einem Merkmal
haften blieb, das bloß dem einen StuhLzukam, etwa an seiner Stellung
im Zimmer, während sie hier offenbar von der sich häufiger wieder-
holenden Vorstellung des Sitzens gelenkt wurde. In der Tat lassen
sich in der Periode der Sprachentwicklung, um die es sich hier handelt,
durchaus keine Merkmale nachweisen, die über die Absicht, jedesmal
nur den einzelnen konkreten Gegenstand zu benennen, hinausgehen.
Auch das Kind, das ein Sofa als Stuhl bezeichnet, will damit keinen
alle Sitzgelegenheiten umfassenden Allgemeinbegriff ausdrücken, son-
der eben nur das eine Objekt, auf das es den Namen durch Asso-
ziation übertragen hat. Eine solche Assoziation tritt aber ein, sobald
irgendeine Ähnlichkeit oder eine äußere Beziehung gegeben ist, welche
zureicht, um bei dem Anblick des neuen Gegenstandes das nämliche
Wort zu reproduzieren, das sich mit dem Anblick des früheren kompli-
ziert hatte. Nun setzen natürlich alle Begriffe Assoziationen voraus;
doch von einer wirklich eingetretenen Begriffsbildung können wir
nur dann reden, wenn zwischen den Vorstellungen Beziehungen ent-
stehen, die in Urteilen ihren Ausdruck finden. Eine Subsumtion der
mit dem gleichen Wort benannten Gegenstände unter eine und die-
selbe Gattung kann vollends erst stattfinden, wenn Vergleichungen
zwischen den Gegenständen ausgeführt werden, auf Grund deren
ein allgemeinerer, ihnen übergeordneter Begriff entsteht. Gewiß
kommen Anfänge solcher Begriffsbildung auch beim Kinde vor.
Aber sie gehören einer weit späteren Periode an, in der ihm die
Sprache schon ein verhältnismäßig geläufiges Werkzeug gewor-
den ist.
Deutliche Belege für diesen rein assoziativen Charakter der
ursprünglichen Namenübertragungen bieten sich insbesondere auch
1) Vgl. meine Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele, * S. 458.
2) Nach einer Beobachtung von Prof, K. Brugmann.
302 Die Sprachlaute.
bei solclien Benennungen, die aus melir oder minder zufälligen äußeren
Berülirungsassoziationen entstanden sind. Hierher gehört der oben
berichtete Fall, wo ein Kind das Wort guck, durch das es auf eine
künstliche Katze, die auf einem Stuhl stand, aufmerksam gemacht
werden sollte, zunächst auf den Stuhl bezog, dann aber auch auf die
Katze selbst, so daß nun das gleiche Wort zwei gänzlich verschiedene
Bedeutungen angenommen hatte. Einen ähnlichen Fall erzählt Ro-
manes nach einer Beobachtung Darwins an dessen Enkelkinde. Das
Kind gebrauchte das Wort quah nicht bloß zur Bezeichnung der Enten,
in welcher Bedeutung es ihm mitgeteilt worden war, sondern auch
zu der des Wassers, und von da aus übertrug es dann das gleiche
Wort einerseits auf alle Vögel und fliegenden Insekten, und anderseits
auf alle möglichen fließenden Substanzen^). Man wird schwerlich
fehlgehen, wenn man nach Analogie mit dem vorigen Fall annimmt,
daß hier der Laut, der mit der hinweisenden Gebärde auf eine im Wasser
schwimmende Ente verbunden war, gelegentlich einmal mit der Ente
und bei einer andern Gelegenheit mit dem Wasser assoziiert wurde,
worauf sich dann alles Weitere vermöge der oben erörterten Ähnlich-
keitsassoziationen von selbst entwickelte. Oft bildet gerade die Ver-
schiedenheit der mit dem gleichen Wort bezeichneten Gegenstände
einen sprechenden Beleg für die bloß nach irgendeiner zufälligen Ähn-
lichkeit gebildete Assoziation. So übertrug ein 17 Monate altes Kind
das Wort eijebapp für die Eisenbahn, die es als Spielzeug besaß, ohne
weiteres auf das Bild mehrerer in gleichen Abständen hintereinander
gehender Hunde 2).
Darf man nun aus allen diesen Beobachtungen noch nicht schließen,
daß das Kind auch späterhin auf bloße Assoziationsbildungen be-
schränkt bleibe, sondern eben nur dies, daß die eigentliche Begriffs-
bildung einem späteren Stadium angehört und mit der ersten An-
^) Romanes, Die geistige Entwicklung des Menschen. Deutsche Ausgabe
S. 283.
2) Das nämliche Kind hatte, im 13. Monat stehend, das Wort ein bißchen
(für „behutsam"), das ihm zugerufen wurde, als es nach der Brille seines Vaters
griff, auf die Brille übertragen, nach der es jedesmal griff, wenn das Wort in ganz
anderem Zusammenhang vorkam. (Mitteilung von Prof. Brugmann.)
Angebliche Worterfindung des Kindes. 303
eignung der Sprache nichts zu tun hat, so gilt dies auch für den Ur-
sprung der Sprache selbst. Daß das Kind unter den normalen Ver-
hältnissen seiner Entwicklung die Sprache nicht selbsttätig erzeugt,
sondern daß sie ihm von seiner Umgebung mitgeteilt wird, ist zweifel-
los. Dies schließt aber natürlich nicht aus, daß es irgendeine Sprache,
irgendeine Art und Weise, seine Vorstellungen und Gefühle durch
Laute kundzugeben, — nicht „erfinden" würde, denn dieser Aus-
druck ist kein adäquater Begriff für die hier stattfindenden Vorgänge
— wohl aber selbständig erzeugen und ausbilden würde, wenn nicht
die ihm von außen mitgeteilte Sprache dem zuvorkäme. Wäre es
möglich, Kinder, ohne ein Wort vor ihnen auszusprechen, aufwachsen
zu lassen, so würde vermutlich neben der natürlichen Gebärden-
sprache auch eine natürliche, wenngleich vielleicht sehr unvollkommene
Lautsprache bei ihnen entstehen. Aber dies würde nach allem, was
wir bei der Sprachentwicklung des Kindes beobachten, in einer andern
Weise, und es würde sicherlich sehr viel später geschehen^). Die
Sprachbildung unserer Kinder ist, weil sie unter dem Einflüsse der
redenden Umgebung stattfindet, eine verfrühte Entwicklung.
Sie wird hervorgerufen, lange bevor sie spontan erfolgen würde. Es
verhält sich mit ihr nicht anders als mit allen ihr nachfol-
genden Formen geistiger Entwicklung. Was sich die Gattung
in allmählichem Fortschritt durch die Arbeit zahlloser Gene-
rationen erringen mußte, das ist für den Einzelnen von früh an ein
überlieferter Besitz.
^) Einige namentlich in der älteren Literatur vorkommende Angaben
über Kinder, die sich, zusammen aufwachsend, eine eigene Sprache gebildet
haben sollen, sind wohl ein für allemal in das Gebiet der Fabel zu verweisen.
Da genauere Angaben über jene eigenartige Sprache fehlen, so liegt mög-
licherweise eine Verwechselung mit den gewöhnlichen artikulierten Gefühls-
lauten vor.
304 Die Sprachlaute.
3. Psychophysische Bedingungen der individuellen
Sprachentwicklung.
Unter den Ergebnissen, die wir der Beobachtung der Sprach-
entwicklung des Kindes entnehmen können, steht die Tatsache oben-
an, daß die ursprüngliche Entstehung artikulierter Laute und die
Anwendung dieser Laute zur Benennung von Gegenständen zwei
nach ihren inneren und äußeren Bedingungen völlig auseinander-
fallende Vorgänge sind. Die ursprünglichen artikulierten Laute sind
reine Gefühlsäußerungen. Als solche sind sie psychische Symptome,
so gut wie die Wortbildungen. Aber sie sind im Unterschied von
diesen keiner andern Beschränkung unterworfen als der, daß sie, im
Gegensatz zu den Schreilauten, mäßige Gemütsbewegungen
begleiten. Irgendeine speziellere Beziehung zwischen der Art der
Gefühlserregung und der Beschaffenheit der Laute läßt sich hier ge-
rade so wenig wie bei den analogen Gefühlsäußerungen vieler Tiere
auffinden. Demnach müssen sie wohl, gleich diesen, auf eine phy-
siologische Anlage zurückgeführt werden, vermöge deren das Kind
ebenso auf Gefühlserregungen mit artikulierten Lauten reagiert, wie
es etwa auf süße, saure und bittere Geschmacksreize mit den ent-
sprechenden mimischen Bewegungen antwortet. Der Unterschied
beider Fälle ist nur der, daß die ursprünglichen Geschmacksreaktionen
wahrscheinlich rein physiologische Reflexe in niederen Nervenzentren
sind, da sie bereits von der Geburt an beobachtet werden, während
die artikulierten Lautreaktionen Lustgefühle voraussetzen, die in
der frühesten Lebenszeit noch nicht vorkommen und physiologisch
wahrscheinlich erst auf Grund einer umfänglicheren Entwicklung
der Leitungsbahnen des Großhirns möglich sind. In der Tat lassen
sich die erwähnten Lautartikulationen nach Ursprung wie Wirkung
durchaus den mimischen Ausdrucksbewegungen an die Seite stellen,
mit dem einen Unterschied, daß jene bald sehr viel mannigfaltiger
werden. Daß das menschliche Kind schon in sehr früher Zeit über ein
so reiches Register von Lautreaktionen verfügt, die nach ihrer psy-
chischen Bedeutung schwerlich in gleichem Grade nuanciert sind,
dies kann aber nur auf einer vererbten physiologischen Anlage be-
ruhen. Das Kind bringt — so werden wir annehmen können — in-
Psychophysische Bedingungen der individuellen Sprachentwicklung. 305
folge seiner Abstammung von einer mizählbaren Reihe von Ahnen,
die alle schon im Besitz der Sprache gewesen sind, die Anlage zu zahl-
reichen, schon in den ersten Lebenswochen sich ausbildenden zentralen
Leitimgen zur Welt mit, so daß sich seine Gefühle, sobald diese Ent-
wicklung vollendet ist, außer in mimischen Bewegungen auch in Laut-
artikulationen äußern. Dabei sind die zentralen Verbindungen, von
denen die Innervation der Stimmorgane abhängt, von vornherein
so mannigfaltig, daß der einzelne Laut ohne merkliche Änderung der
Gefühlsqualität in weitem Umfang wechseln kann. Die artikulierten
Laute des Kindes sind somit Ausdrucksbewegungen, die in ihrer Viel-
gestaltigkeit weit über das nächste Bedürfnis, dem sie dienen, hinaus-
gehen, weil sie eben Produkte vererbter Anlagen sind, auf welche die
verwickeitere Funktion, die später auch im individuellen Leben aus
ihnen hervorgeht, in der generellen Entwicklung bereits einge-
wirkt hat.
Diese nahe Beziehung der Lautartikulationen zu den sonstigen
Ausdrucksbewegungen läßt sich nun auch daraus erkennen, daß sich
bei jenen, ebenso wie bei diesen, sehr früh schon gewisse individuelle
Nuancen ausprägen, die allmählich zunehmen, und aus denen sich
später die Sprechweise des einzelnen Menschen entwickelt. Noch
größere Unterschiede zeigen in dieser Beziehung die verschiedenen
Nationen. Wie sehr Lautartikulation imd Tonmodulation bei dem
Deutschen, Engländer, Franzosen, Italiener abweichen, ist ja all-
bekannt. Daß aber diese Unterschiede nicht bloß von den Anforde-
rungen, die der Lautcharakter der Sprache an die Sprachorgane stellt,
sondern bis zu einem gewissen Grad auch von Rassenverschieden-
heiten in der physischen Bildung der Artikulationswerkzeuge ab-
hängen, lehren die bekannten Erfahrungen über die Aneignung frem-
der Sprachen, nach denen selbst bei vollkommener Übung in der Regel
noch die Artikulationsweise der Muttersprache ihren Einfluß aus-
übt. Natürlich stehen diese beiden Momente in Wechselwirkung:
die Eigenschaften der Lautorgane wirken auf die Sprache, imd diese
wirkt wieder auf jene zurück. Durch Umgewöhnung und Übung
können daher schließlich auch solche Stellungen und Bewegungen
entstehen, die dem individuellen Sprachorgan ursprünglich nicht
eigen waren. Deshalb ist es nicht leicht, mit Sicherheit festzustellen,
Wu n dt, Yölterpsychologie. I. 4. Aufl. ^0
306 ^i® Sprachlaute.
ob diese Anpassung des Organs an die Sprache bloß die Wirkung in-
dividueller Einübung, oder ob sie in irgendeinem Grade in der an-
geborenen Organisation bereits vorgebildet ist. Bedenkt man, wie
sehr der Artikulationsmechanismus mit den mimischen Bewegungen
und durch diese mit der dauernden Gesichtsbildmig zusammenhängt,
so ist von vornherein ein gewisser Grad angeborener Anlage auch hier
nicht ausgeschlossen. Sind doch bekanntlich einzelne rassenphysio-
gnomische Merkmale zuweilen selbst bei stammverwandten Nationen,
z. B. Deutschen und Engländern, bereits in sehr früher Lebenszeit
zu erkennen. Auch scheinen schon in den Lallsilben der Säuglinge
Rassenunterschiede vorzukommen, wenn die folgende Zusammen-
stellung der von Frey er und K. C. Moore mitgeteilten Laute einen
Schluß zuläßt. Als Zeitpunkt ist in beiden Fällen die 12. bis 14. Lebens-
woche gewählt^).
Deutsches Kind. Kind englischer Zunge,
am, ma, ör, rö, ar, ra, hu, ua, om, in, eng, gr-r-r-r, bo-wo, ang, diddle, ing,
ab, la, ho, . mö, nä, na, an, mg, mb, bow-wow, th, udn, pop-pä-pä-bä, udu,
gr, ha, bu, me, nt. bob-bä, um-go, good, momä.
Nun mag man dem Spiele des Zufalls einen noch so großen Ein-
fluß einräumen und zugeben, daß große Verschiedenheiten in ähn-
lichem Sinn auch bei Kindern gleicher Rasse nicht fehlen; dennoch
erscheint der Unterschied bedeutend genug und auch im allgemeinen
dem Lautcharakter der beiden Sprachen angemessen. Werden der-
gestalt wahrscheinlich selbst die Anlagen zu der besonderen Nuan-
cierung der Lautbildungen, wie sie den verschiedenen Sprachen eigen-
tümlich sind, in gewissem Grade vererbt, so ist aber um so mehr an-
zunehmen, daß jene Fülle artikulierter Gefühlsäußerungen, der wir
vom zweiten Lebensmonat an beim Kinde begegnen, mit der all-
gemeinen Erwerbung der Sprache durch die Gattung zusammen-
^) Ich habe aus der Tabelle von K. C. Moore die Schreilaute, sowie einige
Laute, die annähernde Wiederholungen der bereits notierten sind, aus der Auf-
zeichnung Preyers die reinen Vokallaute, weil für die Artikulation minder cha-
rakteristisch, hinweggelassen. Vgl. die Originaltabellen bei Preyer a. a. 0. S. 344,
Moore S. 116.
Psychophysische Bedingungen der individuellen Sprachentwicklung. 307
hängt. Da in den vorsprachlichen Artikulationslauten des Kindes
neben den häufiger gebrauchten, den späteren Sprachlauten einiger-
maßen ähnlichen immer gelegentlich auch andere, ganz abweichende
vorkommen, so liegt übrigens in dieser großen Mannigfaltigkeit von
Bildungen wohl zugleich die Erklärung dafür, daß sich das Kind,
sobald es in die Periode der eigentlichen Sprache eingetreten ist, leicht
ein völlig fremdes Lautsystem aneignen kann, dessen Bewältigung
dem Erwachsenen weit schwerer wird. Die kindlichen Sprachorgane
können sich eben in dieser Zeit noch, unbeschadet der etwa vorhan-
denen vererbten Anlage, jedem möglichen Lautsystem, das ihnen
durch die Umgebung dargeboten wird, anpassen^).
Für die individuelle Sprachentwicklung ist es nun offenbar von
größter Bedeutung, daß die Reize, durch die jene vererbten Anlagen
zur Funktion erregt werden, selber nicht dem Vorgange der Sprach-
bildung angehören. Nur hierdurch wird es möglich, daß die Aneignung
der Sprache in eine Periode des individuellen Lebens fällt, in der die
Fähigkeit zur spontanen Erzeugung derselben noch lange nicht vor-
handen sein würde. Denn diese Aneignung besteht eben lediglich
darin, daß das Kind die Laute, die es bis dahin als bloße Gefühls-
äußerungen hervorbrachte, unter dem Einflüsse des erwachenden
Nachahmungstriebes nach den von den Personen der Umgebung
vorgesprochenen Lauten umbildet. Auch die ersten Lautnach-
ahmungen geschehen daher in jener behaglichen Luststimmung, die
das Kind überhaupt zur Lautbildung anregt, und sie beruhen offenbar
darauf, daß die Art der Gefühlsäußerung direkt durch den vorge-
sprochenen Laut bestimmt wird. So entsteht in der Regel zuerst jene
verständnislose ,, Echosprache", die die eigentliche Sprache vor-
bereitet. In diesem Stadium wird demnach zu dem gehörten Wort
und der gesehenen Lautartikulation eines der bereits eingeübten Laut-
gebilde, das einen ähnlichen Schalleindruck hervorbringt, assoziiert.
Dies ist eine Gleichheitsassoziation, die sich im Gebiet des Gehörs-
sinns abspielt, aber teils durch die objektive Komplikation mit dem
^) So hat man mehrfach beobachtet, daß Kinder europäischer Missionare
Sprachlaute, die ihren Eltern unüberwindliche Schwierigkeiten bereiteten, z. B.
die Schnalzlaute der Hottentotten, spielend erlernten.
20*
308 I>i© Sprachlaute.
Gesichtsbilde, teils durcli die subjektive mit den Bewegungsempfin-
dungen des Spracblauts vervollständigt wird. Der Bildung dieser
assoziativen Nachabmung liegt daber allerdings bereits eine Funktion
der Aufmerksamkeit zugrunde, in der sieb das erste Erwacben intellek-
tueller Tätigkeit ankündigt. Aber diese Funktion bestebt nocb nicbt
in der Nacbabmung selbst, die sieb durcb reine Assoziation vollzieht,
sondern vielmehr in der erleichterten Apperzeption äußerer Keize,
die sich in solcher Assoziation verrät. Dem gebt dann unter der Wirkung
dieser zunehmenden Aufmerksamkeit auf Sinnesreize eine zweite Asso-
ziation zur Seite: das ist die durch die Gebärden und Blicke der Per-
sonen der Umgebung vermittelte bestimmter Worte mit den Gegen-
ständen. Erst wenn beide Assoziationen gebildet sind, ist der weitere
Schritt ihrer Verbindung mögUch. Diese ist demnach eine Verbindung
zweiter Stufe. Als solche, nicht als direkte Beziehung des selbst-
erzeugten Wortes auf das Objekt, charakterisiert sie sich schon da-
durch, daß jene beiden Assoziationen eine Zeitlang unabhängig neben-
einander bestehen, ehe sie sich zu dieser Resultante vereinigen. Ab-
gesehen von der stärkeren Spannung der Aufmerksamkeit, welche
die Vereinigung der zwei unabhängig entstandenen Verbindungen
erfordert erweist sich aber auch hier der Prozeß als ein rein asso-
ziativer. Als solcher läßt er sich seinen Hauptbestandteilen nach
in die Gleichheitsassoziationen des gehörten Wortes mit dem selbst-
erzeugten Sprachlaut und in die Berührungsassoziation mit der hin-
weisenden Gebärde und mit dem durcb sie bezeichneten Gegenstande
zerlegen, wozu als komplikatives Mittelglied noch die Empfindung
der eigenen Artikulationsbewegungen hinzukommt.
Eine wichtige Rolle bei dieser Entwicklung spielt endlich die
Gebärde. Sie ist es, die am frühesten von dem Kinde „verstanden",
das heißt als eine Andeutung davon aufgefaßt wird, daß mit dem
Worte der gezeigte Gegenstand gemeint sei. Diese Auffassung ist
aber freilich nicht ohne weiteres vorhanden, sondern sie entsteht bei
den ersten Benennungen infolge wiederholter hinweisender Gebärden.
Auch hier wird man daher annehmen dürfen, daß zunächst die Wahr-
nehmung der Gebärde mit der des Gegenstandes ein Ganzes bildet,
das mit dem Wort assoziiert wird, worauf dann erst die Gebärde durch
ihre relativ gleichförmige Wiederholung hinter dem gezeigten Objekt
Psychophysische Bedingungen der individuellen Sprachentwicklung. 309
zurücktritt. Auf diese Weise ist es gewissermaßen eine Verbindung
von^ Gebärdensprache und Lautspracbe, die dem Kind allmählich
die freie Verfügung über die mitgeteilten Wörter verschafft, und die
den Übergang von den vorwiegend durch äußere Verbindungen der
Eindrücke erweckten Assoziationen zu den apperzeptiven Verbin-
dungen vermittelt^).
Die allmähliche Entwicklung der apperzeptiven Funktionen
aus den Assoziationen tritt in diesem Fall augenfällig darin zutage,
daß die nächste Verbindung, die wegen der elektiven Wirkung der
Aufmerksamkeit als eine apperzeptive betrachtet werden muß, zu-
gleich ein unmittelbares Ergebnis der vorausgehenden Assoziationen
ist. Aus der Assoziation zwischen Sprachlaut, Gebärde und Gegen-
stand sondern sich für die Apperzeption Sprachlaut und Gegenstand
als die beiden zusammengehörigen Bestandteile. Dies kann aber nur
geschehen, weil die das Mittelglied bildende Gebärde durch die Be-
dingungen der Assoziation selbst schon zurückgedrängt wird. Ist
einmal erst irgendein Wort durch jene assoziative Auslese ohne die
Gebärde und ohne sonstige ursprünglich begleitende Nebenvorstellungen
als Zeichen eines bestimmten Gegenstandes apperzipiert worden,
so bedarf es nun in künftigen Fällen jener assoziativen Eliminations-
prozesse nicht mehr, sondern bei jedem andern Gegenstande wird
das gleichzeitig ausgesprochene Wort ohne weiteres als das ihm zu-
gehörige Zeichen aufgefaßt. Die zuerst nur durch den Mechanismus
der Assoziationen entstandene Auslese ist so zu einer gewollten
geworden. Bestand bei der ursprünglichen Nachahmung der Sprach-
laute der Willensvorgang nur in der Kichtung der Aufmerksamkeit
auf den gehörten Laut und auf das durch die Gebärde gezeigte Ob-
jekt, so betätigt er sich nun auch darin, daß er unter allen den Ein-
drücken, die in einem Moment zusammentreffen, gerade diese zwei,
^) Die große Bedeutung der Gebärde für die Sprachentwicklung des Kindes
ist sehr deutlich auch daran zu beobachten, daß das Band selbst sehr häufig Ge-
bärden früher als Sprachlaute zur Bezeichnung von Gegenständen anwendet,
wobei es diese Gebärden nur mit beliebigen Gefühlslauten begleitet. Bei der
Gebärde, namentlich der hinweisenden, ist eben die Beziehung zu dem Gegen-
stand eine unmittelbare, während sie bei dem Wort erst durch die assoziative
Einübung entstehen muß.
310 Die Sprachlaute.
den Sprachlaut und den zu ilim gehörigen Gegenstand, als zusammen-
gehörige herausgreift. Damit ist aber die Apperzeption des einzelnen
Eindrucks in eine apperzeptive Verbindung übergegangen.
4. Psychologische Eigenschaften der kindlichen Sprache.
Wenn in solcher Weise im allgemeinen jedes Wort der kind-
lichen Sprache eine bloße Nachahmung eines vorgesprochenen Wortes
ist, wie erklären sich dann aber die Eigenschaften dieser Sprache?
Bekanntlich haben besonders die onomatopoetischen Wörter die An-
nahme veranlaßt, das Wort werde mindestens in vielen Fällen von
dem Kinde selbst ,, erfunden". Denn diese Lautnachahmungen er-
scheinen nicht bloß an sich als natürliche, der Auffassungsstufe des
Kindes entsprechende Bildungen, sondern sie sind auch in gewissem
Grade, analog wie die Gebärden, eine Art Universalsprache. Aller-
dings fehlt es in dieser nicht an dialektischen Unterschieden, in denen
sich die Spuren des Einflusses der allgemeinen Sprache der Umgebung
verraten: so wenn das deutsche Kind den Hund wau-wau, das fran-
zösische oua-oua, das niederländische waf-waf, oder wenn das deutsche
das Huhn gluh-gluk oder tuh-tuk, das französische koh-koh nennt u. dgl.
Der bemerkenswerteste Unterschied ist aber wohl der, daß die Neigung
zu onomatopoetischen Wortbildungen außerordentlich variiert.
Während sie sich bei den europäischen Nationen im wesentlichen
auf einige Tiemamen und wenige Vorgänge des täglichen Lebens,
wie das Essen, das Klingeln der Hausglocke u. dgl., beschränkt, sind
z. B. die japanische und die chinesische Kindersprache überaus reich
an solchen Formen^). Viele dieser Formen sind in die tägliche Um-
1) Die folgende kleine Tabelle ist ein Auszug aus einer im ganzen 53 ono-
matopoetische Wörter umfassenden Sammlung der japanischen Kindersprache,
die ich der Güte des Herrn J. Jrie in Sendai verdanke: dö-dö Pferd mö-mö Kuh,
wan-wan Hund, nya-nya Katze, ziu-ziu Maus, ka-ka Krähe, kokko Huhn, ho-
kekio Nachtigall, po-po Taube, zion-zion Sperling, gizzion Heimchen, bun-bun
Biene, pi-pi Flöte, sian-sian oder gon-gon große Glocke, zirin-zirin kleine Glocke,
don-don Trommel, gara-gara Wagen, goro-goro Donner, kon-kon Husten, mon-
mon Buchstabe (Nachahmung der Lippenbewegungen), /w-/u Feuer (von der
Psychologische Eigenschaften der kindlichen Sprache. 311
gangssprache übergegangen, wie sicli denn namentlich das Japanisclie,
ähnlich den malaio-polynesischen Sprachen, durch den reichen Ge-
brauch von Verdoppelungsformen auszeichnet, von denen manche
ursprünglich der Kindersprache entlehnt sein mögen. Anderseits
ist es aber doch wahrscheinlich, daß die Motive, die allge-
mein als psychologische Ursachen der Lautwiederholung vor-
kommen, in jenen Sprachen überhaupt sehr viel wirksamer ge-
wesen sind, so daß nun diese Eigenschaft auch wieder die
Kindersprache beeinflußte^).
Demnach ist der internationale, hierin der Gebärdenmitteilung
verwandte Charakter der Kindersprache zwar ein Zeugnis für die
unmittelbare Verständlichkeit ihrer onomatopoetischen Lautbil-
dungen, ohne daß diese darum ein ursprüngliches Eigentum des Kin-
des selbst zu sein brauchen. Wohl aber werden wir, gemäß der all-
gemeinen Entstehungsweise der kindlichen Wortbildungen, schließen
dürfen, daß es besondere, von denen der sonstigen Sprache im all-
gemeinen abweichende Motive sind, welche die Personen der Um-
gebung im Verkehr mit dem Kinde zu jenen eigentümlichen Wort-
bildungen veranlassen — oder irgendeinmal veranlaßt haben, denn
eine große Anzahl dieser Wörter ist ja ebenso ein überliefertes Gut
wie die sonstige Sprache. Doch in jedem Falle bleibt es die Eigen-
art solcher Lautbildungen, daß sie für diesen spezifischen Zweck über-
liefert sind, und daß bei ihnen die Affinität zwischen Laut und Be-
deutung, wenn nicht dem Kinde, so mindestens dem Erwachseneu
gegenwärtig ist, daher er denn auch leicht den überkommenen Wort-
schatz mit analogen, selbstgeschaffenen Bildungen vermehrt. Eben
deshalb werden wir aber annehmen dürfen, daß die nämlichen psycho-
logischen Bedingungen, die uns bei diesen fortwährend neu entstehen-
den Bestandteilen begegnen, bei der ursprünglichen Bildung jener
Kindersprache wirksam waren. Solcher Motive gibt es im allgemeinen
Mundbewegung beim Anblasen desselben), uma-uma Essen (Eßbewegungen),
ita-ita schmerzhaft, auch Messer (Ausruf bei der Schmerzempfindung), pappa
Tabak (vom ,, paffen*', des Rauchers).
^) Über die psychologischen Ursachen der Verdoppelungserscheinungen
im allgemeinen vgl. unten Kap. V, Nr. V, 3.
312 1^16 Sprachlaute.
zwei. Das erste bestellt in dem Bestreben, die eigene Wortbildung
dem leicht verfügbaren Lautvorrate des Kindes und den in den vor-
spracMiclien artikulierten Lautbildungen am häufigsten auftreten-
den Verbindungen anzupassen; das zweite in dem Triebe, das Wort
so zu bilden, daß es durch sich selbst verständlich werde. Beide Mo-
tive entspringen wieder in keiner Weise aus irgendeiner Reflexion
über Mittel und Zweck, sondern sie bestehen in Trieben, das heißt
in einfachen, durch die unmittelbare Wahrnehmung und die an sie
gebundenen Gefühle veranlaßten Willenserregungen und Hand-
lungen. Der erste dieser Triebe stimmt mit dem Nachahmungstrieb
des Kindes, wie er sich in der Echosprache äußert, wesentlich überein,
und er wird selbst durch die Echosprache stark angeregt. Kann man
doch, wenn erst dieses Stadium eingetreten ist, nicht selten beobachten,
daß Mutter und Kind einander wiederholt irgendein Wort zurufen,
das im Grunde für beide Teile die Bedeutung eines Echowortes hat,
weil es bloß aus der Lust an der Wiederholung hervorgeht. Bei dem
gewöhnlichen Vorsprechen kommt zu dieser Äußerung des Nach-
ahmungstriebs als zweites Motiv die Absicht, einen bestimmten Gegen-
stand durch Laut wie Gebärde dem Kinde deutlich zu machen. Dies
ist kein einfacher Gefühlsimpuls mehr, sondern meist schon ein kom-
plizierter Willensvorgang. Immerhin folgt auch er nicht selten trieb-
artig den Motiven, die sich aus der Situation ergeben. Demnach wird
die Benennung von selbst halb Nachahmung der kindlichen Lailaute,
halb Nachbildung irgendeines am Gegenstande wahrgenommenen
Merkmals. Das Produkt dieser Mischung der Motive ist notwendig
irgendeine onomatopoetische Wortbildung. Da das Kind gerade
in der Periode, die der eigentlichen Sprachbildung vorausgeht, ohne-
hin stark zu Lautwiederholungen neigt, an denen sich sein erwachen-
des rhythmisches Gefühl erfreut, so erklärt sich schon hieraus, daß
diese Neigung auch der Kindersprache sich mitteilt oder vielmehr
instinktiv von der Umgebung des Kindes ihr mitgeteilt wird,
indem sich dabei nur die mehrfache Wiederholimg in der
Eegel auf die einfache Verdoppelung einschränkt. In geringerem
Grade wirken dann gelegentlich auch die von den Objekten
selbst hervorgebrachten Laute mit, wie bei „wau-wau" für den
Hund, „hot-hot" für das Pferd. Aber entscheidend ist dieses Motiv
Psychologische Eigenschaften der kindlichen Sprache. 313
jedenfalls niclit, da es bei andern Namen, wie z. B. bei „Papa"
und „Mama" ganz binwegfällt.
Nach allem dem ist die kindlicbe Spracbe ein Erzeugnis der Um-
gebung des Kindes, an dem das Kind selbst wesentlich nur passiv
mitwirkt. Diese Mitwirkung besteht hauptsächlich darin, daß das
Kind die Laute am leichtesten nachahmt, die am deut-
lichsten von ihm gesehen werden, daher diese nun auch für
den Lautvorrat der Kindersprache bestimmend sind. Dazu kommt
dann, daß der Erwachsene, der mit dem Kinde verkehrt, instinktiv
seine Äußerungen dem wirklichen oder vermeintlichen Anschau-
imgskreise des Kindes anpaßt, indes die dem Kinde vermöge natür-
licher Gefühlsmotive eigene Neigung zu Lautwiederholungen die ono-
matopoetische Gestaltung der Wörter beeinflußt. Eine wesentliche
Rolle bei der Mitteilung der Bedeutungen spielt endlich die meist
triebartig mit dem Worte verbundene Gebärde, die durch ihre an-
schauliche Beziehung zu dem Gegenstand dem Kind am frühesten
verständlich ist und am frühesten und selbständigsten von ihm wieder-
holt wird. Für das Problem, wie die Sprache ursprünglich entstanden
ist, bietet somit die Analyse der kindlichen Sprachentwicklung keine
unmittelbar verwertbaren Ergebnisse, immerhin aber einige indirekte
Wegweiser in der bei ihr so augenfällig hervortretenden instinktiven
Anpassung des Redenden an Anschauungen und Gefühle des An-
geredeten, sowie in der Bedeutung der Gebärde für die erste Verstän-
digung durch die Lautsprache ^).
^) Mit dem Ergebnis, daß die kindliche Sprache nicht von dem Kind „er-
funden'*, sondern ihm unter den oben erörterten Bedingungen des wechsel-
seitigen Verkehrs von der Umgebung mitgeteilt ist, erledigt sich von selbst die
in verschiedenen Schriften über die Sprache des Kindes wiederkehrende Be-
hauptung, die Entwicklung der kindlichen Sprache sei „eine abgekürzte Wieder-
holung der Sprachentwicklung überhaupt". (Ament, Die Entwicklung von
Sprechen und Denken, S. 42.) In Wahrheit ist die Entwicklung der kindlichen
Stimmlaute eine annähernde Wiederholung der allgemeinen Entwicklung der
Stimmlaute genau bis zu dem Zeitpunkt, wo die Sprache anfängt, also im
Stadium der unartikulierten Schreilaute und allenfalls auch noch der unartiku-
lierten sinnlosen Gefühlslaute; darüber hinaus ist sie es nicht mehr. Ähnlich-
keiten mit den Lautsystemen der Naturvölker, speziell der Polynesier, die H. Gutz-
mann (Zeitschrift für pädagogische Psychologie, I, 1899, S. 28 ff.) als beweisend
314 Die Sprachlaute.
5. Lautvertauschungen und Lautverstümmelungen
in der Kindersprache.
Sind die bisher betrachteten Eigenschaften der Kindersprache
Wirkungen des Verkehrs mit der Umgebung, an denen diese im all'
gemeinen mehr beteiligt ist als das Kind, so verhält sich dies nun
wesentlich anders bei einer letzten Reihe von Erscheinungen, die so
gut wie ausschließlich in dem sprechenden Kinde selbst ihre Quelle
haben: das sind die Lautvertauschungen und die „Lautverstümme-
lungen". Sie sind zugleich diejenigen Erscheinungen, die am längsten
andauern, so daß ihre letzten Spuren in der Regel noch zu beobachten
sind, wenn im übrigen eine vollständige Aneignung der Sprache ein-
getreten ist.
Die herrschende Meinung geht dahin, alle diese Lautverände-
rungen seien durch das Unvermögen des Kindes bestimmte Laute
hervorzubringen veranlaßt. Das Kind substituiere daher regelmäßig
dem schwierigeren Laut einen leichteren. Fritz Schnitze suchte das
Prinzip dieser Substitution auf die Regel zurückzuführen, für den
unaussprechbaren Laut setze das Kind den ihm nächst verwandten,
mit geringerer physiologischer Schwierigkeit sprechbaren ein, und
wenn es diesen nicht zu beherrschen vermöge, so lasse es den Laut
ansieht, sind dies um so weniger, als die Eigenschaften und die genealogischen
Zusammenhänge der polynesischen Sprachen annehmen lassen, daß diese dereinst
ein reicheres Lautsystem besaßen, und daß sie überhaupt lautlich sehr starke
Veränderungen erfahren haben. (Fr. Müller, Expedition der Novara, Linguistischer
Teil, 1867, S. 290.) Auch stehen z. B. die melanesischen Sprachen jedenfalls
nicht höher in ihrer Entwicklung; gleichwohl sind sie verhältnismäßig reich
namentlich auch an konsonantischen Lauten. (Vgl. H. C. von der Gabelentz,
Die melanesischen Sprachen, I, S. 253, 266.) In dem lautgeschichtlich am zu-
verlässigsten durchforschten Gebiet aber, in dem der indogermanischen Sprachen,
scheint der Lautbestand der uns erreichbaren Urzeit nicht ärmer, sondern reicher
zu sein als der der meisten Sprachzweige, die aus der Ursprache hervorgegangen
sind. Wenn gewisse Analogien der kindlichen Sprache mit der der Naturvölker
trotzdem existieren, so liegen sie, wie sich später zeigen wird, auf einem
ganz andern Gebiet: auf dem der Wort- und Satzfügung, und sie lassen
sich nicht aus einem „biogenetischen Grundgesetz", wohl aber aus den
allgemeinen Eigenschaften eines unentwickelten Bewußtseins ableiten. (Vgl.
Kap. VIL)
Lautvertauschungen und Lautverstümmelungen in der Kindersprache. 315
ganz weg^). Dieser Kegel haben andere Beobachter teils zugestimmt,
teils widersprochen. Im ganzen ist aber dabei nicht das Prinzip als
solches, sondern nur die ihm beigegebene Eegel beanstandet worden^).
Ich bin im Gegenteil geneigt, dem von Schultze aufgestellten Satze,
daß bei den Lautumwandlungen des Kindes die Verschlußstelle von
hinten nach vorn verlegt wird, von den gutturalen und palatalen zu
den labialen und dentalen Artikulationen, eine gewisse Geltung ein-
zuräumen. Dagegen glaube ich, daß das ziemlich allgemein angenom-
mene Prinzip, das Kind substituiere überall da andere Laute, wo
ihm die geforderten unmöglich oder schwierig sind, nicht aufrecht-
erhalten werden kann. Diese Annahme wird, wie mir scheint, einfach
dadurch widerlegt, daß das Kind meistens schon in den Anfängen
seiner nachahmenden Sprachbewegungen im vollen Besitz aller der
Artikulationen ist, die zu den verschiedenen Lautbildungen erfordert
werden, indem es dieselben fortwährend in den der eigentlichen Sprache
vorausgehenden Gefühlslauten verwendet. Dazu kommt, daß die
gleichen Laute in gewissen Wörtern vermieden und gleichzeitig in
andern gebraucht werden. Das nämliche Kind, welches das Kind
,,Tind" und die Pfeife ,,Peipe" nennt, spricht etwa das Wort Gasse
,,Gack" und Vater ,,Faata'' aus. Nicht in dem Unvermögen, die Laute
überhaupt hervorzubringen, sondern in andern Bedingungen müssen
also diese Umwandlungen ihren Grund haben. In der Tat ergibt die
Beobachtung des Kindes selbst und die nähere Betrachtung der statt-
findenden Lautumwandlungen zwei Bedingungen, die es vollkommen
begreiflich machen, daß trotz der Fähigkeit, die geforderten Laute
zu erzeugen, mehr oder minder eingreifende Veränderungen beim
Nachsprechen derselben entstehen müssen. Die erste dieser Be-
dingungen besteht in der unvollkommenen akustischen wie
optischen Apperzeption der Laute und Lautbewegungen,
die zweite in den innerhalb der zusammenhängenden Rede ein-
tretenden, beim Kinde wesentlich gesteigerten Kontaktwirkungen
der Laute.
1) Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes, 1880, S. 34 ff.
3) So besonders von Preyer, Seele des Kindes, 3 S. 346, 434, sowie von
W. Ament, Die Entwicklung von Sprechen und Denken usw., S. 65 ff.
316 Die Sprachlaute.
Zunächst wird die erste Entstellung nachalimender Artikula-
tionsbewegungen niclit bloß dadurch bestimmt, daß die Laute gehört,
sondern wesentlich auch dadurch, daß die Lautbewegungen gesehen
werden. Blindgeborene Kinder beginnen daher viel später nachzu-
sprechen als sehende, und in den meisten Fällen sogenannter „Hör-
stummheit", bei der die Entwicklung der Sprache trotz vorhandener
Hörfähigkeit und anscheinend zureichender Intelligenz ausbleibt,
erweisen sich Defekte des Sehens mindestens als mitbeteiligt^). Solche
Sehdefekte hemmen freilich noch aus einem andern Grunde die Wort-
nachahmung: sie hindern die Assoziation zwischen Wort, Gebärde
und Gegenstand. Aber eine wichtige Seite dieses hemmenden Ein-
flusses wird man immerhin auch darin erblicken müssen, daß der von
den gesehenen Artikulationsbewegungen ausgehende Antrieb hin weg-
fällt. Beobachtet man doch gerade in der ersten Zeit der Wortbildung,
besonders auch bei der sogenannten Echosprache, daß das Kind dem
Sprechenden aufmerksam das Wort vom Munde abliest, ehe es das-
selbe wiederholt. Es ahmt also gleichzeitig den akustischen und den
optischen Eindruck des Wortes, und zunächst sogar vorzugsweise
den letzteren nach, da die gesehene Artikulationsbewegung einen weit
stärkeren Impuls zur Mitbewegung hervorbringt als der gehörte Laut.
Hieraus erklärt sich immittelbar das starke Übergewicht der la-
bialen und dentalen Laute in der Kindersprache: das Kind
ahmt eben vor allem diejenigen Komponenten der Lautbewegungen
nach, die es sieht. Erst in zweiter Linie steht die Ungenauigkeit der
Gehörswahrnehmung, die es dann freilich mitbedingt, daß das Kind
lange Zeit bei seinen falschen Artikulationen verharrt. In dieser Be-
ziehung zeigt sich aber beim Kinde nur in verstärktem Maße, was wir
fortwährend auch in der Kede des erwachsenen Menschen beobachten
können, wenn dieser Laute nachbildet, die seinem Sprachorgan un-
gewohnt sind. Unsere eingeübten Wortvorstellungen sind Kompli-
kationen von Lautempfindungen und Artikulationsempfindungen
1) A. Liebmann, Vorlesungen über Sprachstörungen, Heft 3: Hörstumm-
heit, 1898, S. 16. Über kindliche Sprachstörungen und Sprachhemmungen über-
haupt vgl. H. Gutzmann, Des Kindes Sprache und Sprachfehler, 1894. Sprach-
entwicklung des ELindes und ihre Hemmungen, 1902.
Lautvertauschungen und Lautverstümmelungen in der Kindersprache. 317
und die Worteindrücke werden erst von dem Augenblick an verhält-
nismäßig treu apperzipiert, wo ihnen die entsprechenden Lautemp-
findungen früherer gleicher Eindrücke assimilierend entgegenkommen,
und wo sie sich zugleich unmittelbar mit den zu ihnen gehörigen Ar-
tikulationen assoziieren. Darum vermögen wir nur solche Sprach-
laute vollkommen richtig zu hören, die wir auch selbst richtig erzeugen
können. Wer im eigenen Sprechen das linguale mit dem gutturalen r
oder die Tenuis mit der Media verwechselt, dem entgehen die Unter-
schiede meist auch beim Hören der Laute. Nicht anders verhält es
sich bei der Aneignung einer fremden Sprache, die darum in ihrem
Lautcharakter stets nach den geläufigen Lauten der eigenen um-
gemodelt wird. Nun sind beim Kinde alle diese Assoziationen von
Laut- und Artikulationsempfindungen noch unausgebildet, und eben-
so stehen ihm anfänglich assimilierende Wortgebilde noch nicht oder
nur in abgeänderter Beschaffenheit zu Gebote. Es ist daher selbst-
verständlich, daß sich die Sprachlaute, in denen es die unvollkommen
gehörten und gesehenen Laute nachbildet, nur sehr allmählich mit
der Sprache seiner Umgebung in Einklang setzen.
Zu den abändernden Einflüssen, denen der einzelne Laut als
solcher unterworfen ist, kommen aber als ein zweites die Lautform
wesentlich bestimmendes Moment die Kontaktwirkungen der
Laute, die durch ihre Verbindung zu zusammengesetzten Wort-
gebilden eintreten, und die wiederum nach denselben allgemein-
gültigen Gesetzen erfolgen, nach denen wir sie überall in der Sprache
wirksam finden, denen aber allerdings die kindliche Sprache nicht
nur in stärkerem Grade, sondern auch überwiegend in anderer Rich-
tung unterworfen ist, als die seiner Umgebung. Alle diese unter den
Bezeichnungen der „progressiven und regressiven Assimilationen und
Dissimilationen" bekannten Wirkungen werden uns als normale sprach-
liche Erscheinungen im folgenden Kapitel näher beschäftigen. Hier
sei nur soviel bemerkt, daß sie als psychophysische, gleichzeitig auf
Assoziationen der Lautvorstellungen und auf mechanischen Bedingungen
der Artikulationsbewegungen beruhende Vorgänge zu deuten sind,
die sich mit der Geschwindigkeit des Eedeflusses steigern, mit der
wachsenden Übung der Artikulations- und der ihnen parallel gehen-
den Vorstellimgsbewegungen aber abnehmen. Nun besitzt natürlich
318 Die Sprachlaute.
das Kind diese Übung in sehr geringem Maße, und auch die Vor-
stellungsbewegung ist bei ihm eine verlangsamte gegenüber dem nor-
malen Bewußtsein. Daraus erklärt sich, daß die Sprache des Kindes
geradezu überfüllt ist mit diesen Kontaktwirkungen, durch welche
die Laute einander angeglichen oder durch Dissimilation gesondert
oder ganz unterdrückt werden. Es erklärt sich aber aus der lang-
sameren Vorstellungsbewegung des Kindes insbesondere auch die
andere Tatsache, daß bei ihm die progressiven Assimilationen
weitaus überwiegen. Aus einer großen Zahl hierher gehöriger
Beobachtungen vermag ich nur sehr wenige regressive Assi-
milationen anzuführen; sie sind durchweg zugleich solche, bei
denen ohnehin die Richtung der selbständigen Lautvertauschung
der Veränderung begünstigend entgegenkommt. So wott für
fort, Däthe für Käthe, Nanone für Kanone. Diesen Bei-
spielen steht eine große Menge progressiver Assimilationen teils
für sich teils mit Lautvertauschungen und Dissimilationen
vermischt gegenüber, z. B. Nana für Nase, Tata für Tante, Munn
für Mund, Nann für Nacht, Gag für Kleid, Guga für Kuchen,
Dedde für Decke, Bebe für Besen, Bübü für Bücher, Bihhe für Bitte,
Joj für Schoß, Auau für Auge, Mormor für Morgen, Dodanana für
Promenade usw. Die Assimilationen sind, wie man sieht, bald konso-
nantische, bald vokalische, am häufigsten aber beides zugleich, während
nicht selten außerdem Dissimilationen mitspielen. Letztere kommen
übrigens auch gelegentlich, namentlich bei dem Zusammentreffen
von Konsonanten, für sich allein vor: so in Faata für Vater, Aam für
Arm, Baat für Bart. Jenes Überwiegen der progressiven Assimilation
ist besonders deshalb bemerkenswert, weil in allen Kultursprachen
indogermanischer und semitischer Herkunft überwiegend die um-
gekehrte, regressive Form der Assimilation vorkommt, während in
andern Sprachen, z. B. in den ural-altaischen, ähnlich wie beim Kinde,
die progressive, und zwar vorzugsweise die vokalische vorherrscht.
Die Erklärung dieser Erscheinungen wird uns später beschäftigen.
Hier mußten sie nur als diejenigen Momente hervorgehoben werden,
die vor allem andern die Lautabweichungen der Kindersprache be-
dingen. Zugleich sieht man unmittelbar an den obigen Beispielen,
wie sehr diese Erscheinungen die der Kindersprache eigenen Laut-
Primäre und sekundäre Interjektionen. 319
Wiederholungen begünstigen. Indem die vorangehende Silbe auf die
nachfolgende assimilierend einwirkt, bringt sie eben ohne weiteres
eine Lautwiederholung hervor.
III. Naturlaute der Sprache und ihre Umbildungen.
1. Primäre und sekundäre Interjektionen.
„Naturlaute" nennen wir, wenn der Begriff im Zusammenhange
mit dem des Sprachlauts und zugleich im Gegensatze zu diesem ge-
braucht wird, alle Stimmlaute der Tiere und des Menschen, die der
Wortsprache vorausgehen oder als Überlebnisse eines vorsprach-
lichen Zustandes in sie hineinreichen. In diesem Sinne sind die sämt-
lichen natürlichen Stimmlaute der Tiere und die Lautäußerungen des
Kindes, bevor es zu sprechen anfängt, Naturlaute. Das Kind, nach-
dem es sprechen gelernt hat, fährt fort, seine lebhafteren Gefühle
in ihnen zu äußern. Beim entwickelten Menschen treten sie zurück:
sie werden mehr und mehr von der Sprache verdrängt, indem auch
die lebhafteren Gefühle allmählich in sprachliche Formen eingekleidet
werden. Doch ganz verschwinden sie niemals. Vielmehr dauern sie
in den beiden Gattungen fort, in die sie sich schon bei manchen Tieren
und beim Kinde in den ersten Lebenswochen geschieden haben: als
unartikulierte Schreilaute, die sich allerdings beim erwachsenen
Menschen durchgehends auf die äußersten Grade des Schmerzes oder
allenfalls noch der Wut oder des Jubels einschränken, und als
artikulierte Gefühlslaute, die im ganzen mäßigere Gefühle
ausdrücken, infolge der fortschreitenden Ablösung durch die
Sprache aber ebenfalls seltener und auf intensivere Gefühle zurück-
gedrängt werden.
Die stehen gebliebenen Keste dieser reinen Naturlaute sind die
primären Interjektionen. „Primär'* wollen wir sie nennen, weil
sie die ursprünglichsten sind, und weil sie den Charakter von Natur-
lauten vollständig bewahrt haben. Mit der eigentlichen Sprache in
gar keiner inneren Verbindung stehend, bilden sie gleichsam ver-
einzelte Trümmer einer vorsprachlichen Stufe, die den Zusammen-
320 Die Sprachlaute.
hang der Rede unterbreclien. Dahin gehören Laute wie im Deutschen
oA, achy ah, au, weh, ha, he, ei, juhe. Rufe, die in den Sprachen der
modernen Kulturvölker nur gering an Zahl sind, im Griechischen
und Lateinischen aber in mannigfaltigeren Abstufungen vorkommen
und, wie es scheint, häufiger gebraucht wurden. So hat das Latei-
nische als Rufe der Freude io, iu, ha, euoe, des Schmerzes vae, heu,
eheu, ohe, au, der Verwunderung o, en, ecce, hui, hem, vah, des Zurufs
heus, o, eho, froh, die sämtlich in die Literatursprache, namentlich
der Komödiendichter, übergangen sind, und wozu gelegentlich auch
noch andere, mehr zufällige Gefühlslaute kommen, die kein festes
Bürgerrecht in der Sprache erworben haben. Denn gerade dieses Ge-
biet ist momentanen Neubildungen besonders zugänglich. Auch die
Sprachen primitiver Kulturvölker sind reich an primären Interjek-
tionen^). Dabei tragen alle diese Gefühlslaute in den verschiedensten
Sprachen namentlich insofern einen verwandten Lautcharakter,
als die Naturlaute für heftige erregende Affekte die hohen, solche
für deprimierende Gefühle die tieferen Vokalklänge enthalten. Doch
ist es sichtlich nicht sowohl die Kultur an sich, die diese Zahl all-
mählich beschränkt, als vielmehr die von der Sitte gebotene Mäßigimg
der Affektäußerungen. Der antike Mensch gibt seine Freude wie seinen
Schmerz ungehemmter in Gebärden wie Lauten kund. So werden
bekanntlich die Helden Homers gelegentlich schreiend und laut jam-
mernd geschildert, wobei es freilich der epische Dichter meist dem
Hörer überläßt, sich die Laute hinzuzudenken. Auf der Bühne, wo
die Handlung nicht bloß erzählt, sondern unmittelbar vorgeführt
wird, äußern die tragischen Helden ihren Schmerz in Lauten, die zu
einem großen Teil dem Gebiete beliebig wechselnder primärer Interjek-
1) In W. von Humboldts Werk über die Kawi- Sprache (ergänzt von
Buschmann, HI, S. 982) sind aus dem Tongischen 10, aus dem Tahitischen 8
primäre Interjektionen aufgeführt. Ungefähr die gleiche Zahl erreicht
Riggs in der Dakota- Sprache (Contributions to the North American Ethnol.
Vol. IX, 1893, p. 54), wobei es freilich im letzteren Falle zweifelhaft ist,
ob nicht einige von sekundärer Natur darunter sind. Vgl. auch Steinthals Ver-
zeichnis der Interjektionen in den Mande-Negersprachen, S. 132, 184,
Leider sind in den meisten neueren Wörterverzeichnissen und Grammatiken
von Sprachen der Naturvölker die Interjektionen wenig oder gar nicht berück-
sichtigt.
Primäre und sekundäre Interjektionen. 321
tionen angehören, wie: «TrorTra?, jfaTTaTCTtaTCaTCTta-TcaTCTTauajtocly ho
aTTazccl usw. (Sophokles, Philoktet, 742 — 800). Der heutige Über-
setzer ist nicht mehr imstande, diese Schmerzenslaute treu wieder-
zugeben; er sieht sich genötigt, sie teilweise in Sätze zu übertragen,
wie: „o weh mir Armen", ,,o Schmerz" u. dgl. Hierin spiegelt sich
aber ein Vorgang, der wahrscheinlich, solange die Sprache besteht,
wirksam gewesen ist: der allmähliche Ersatz der primären durch
sekundäre Interjektionen, wobei wir mit dem letzteren Namen
diejenigen reinen Gefühlsäußerungen bezeichnen wollen, die in andere
sprachliche Formen eingekleidet werden. Dahin gehören also Rufe
wie: ,^Z€v'\ ,,me hercle", ,,apage", ,,mein Gott", ,,mein Himmel",
,, Jesus Maria", ,, Donnerwetter", ,, Blitz" usw., sowie die aus solchen
Wörtern und aus primären Interjektionen zusammengesetzten Gebilde
wie: ,,0 Himmel", ,, potztausend", ,,ach Gott". Wenn wir die Sprache
der griechischen und römischen mit der unserer heutigen Dramatiker,
selbst solcher vergleichen, die beflissen sind, die Redeweise des ge-
wöhnlichen Lebens so naturgetreu wie möglich abzuschildern, so ge-
winnt man den Eindruck, daß sich bei dem modernen Menschen der
Naturlaut des Gefühls durch zunehmende assoziative Übertragung
mehr und mehr in Worte umgesetzt hat. Hierdurch erklärt es sich,
daß in den modernen Sprachen die Zahl der primären Interjektionen
eine außerordentlich spärliche geworden, daß aber die der sekundären
um so mehr gewachsen ist. Dieser Prozeß ist vermutlich noch nicht
abgeschlossen. Denn sollten auch die primären Interjektionen etwa
schon auf dem für sie erreichbaren Minimalstand angelangt sein, so
werden doch sekundäre immer wieder neu geschaffen, und jedes Zeit-
alter gibt ihnen sein eigenes Gepräge. Das Altertum ruft die Götter
an, das Mittelalter setzt die Personen der heiligen Familie und der
Heiligen an deren Stelle. In beiden Fällen sind es offenbare Gebets-
formeln, die zuerst zu Flüchen und dann zu unbestimmteren Inter-
jektionen geworden sind. Bei dem modernen Menschen endlich sind
es Wettererscheinungen und Zahlen — die letzteren natürlich von
Geldwerten herstammend — die für sich allein oder mit Fragmenten
der früheren Formeln gemischt die Stelle der Götter und Heiligen
einnehmen. So in Ausdrücken wie: ,, Donnerwetter", ,,alle Hagel",
,, potztausend", „Kreuzdonnerwetter" und ähnlichen.
Wundt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. "^
322 I>ie Sprachlaute.
2. Wortformen mit Affektbetonung: Vokativ und Imperativ.
An die sekundäre Interjektion schließt sich, gewissermaßen als
eine auf eine bestimmte Vorstellung bezogene Unterform derselben,
der sprachliche Ausdruck des Vokativs an. Mit Recht haben schon
die alten Grammatiker ihn für keinen echten Kasus gehalten. Er ist
im Grunde nichts anderes als der interjektional verwendete, entweder
mit einem interjektionalen Zeichen allgemeinerer Art versehene oder
auch nur von der entsprechenden Betonung begleitete Nominal-
stamm. Wenn ich ,,Karr' rufe, um entweder einer Person mit Namen
Karl meine Verwunderung oder meine Mißbilligung oder meinen
Wunsch, daß sie stillstehe, auszudrücken, so ist die Bedeutung des
Wortes keine andere als die der Interjektionen oh oder eh oder he,
mit dem einen Unterschiede, daß dort die Interjektion gleichzeitig
eindeutiger und vieldeutiger geworden ist: eindeutiger hinsichtlich
der Person, auf die sie sich bezieht, vieldeutiger hinsichtlich der Ge-
fühle, die sie ausdrückt. Solange wir uns der allgemeinen Interjek-
tionen bedienen, wenden wir für Freude, Verwunderung, Schmerz
usw. verschiedene Laute an. Hier dagegen kann das eine Wort ,,Karr'
alle diese Gefühle ausdrücken. Freilich mindert sich auch dieser Unter-
schied dadurch, daß die Tonmodulation, in der das Wort gesprochen
wird, jene Anlässe ziemlich treu widerspiegelt. Wie ein Eigenname,
so können dann aber auch andere Wörter, die irgendeine das Gefühl
erregende Vorstellung bezeichnen, die Stelle einer Interjektion ein-
nehmen. So wenn im Kriege der Kuf ,,der Feind" den plötzlich wahr-
genommenen Anmarsch feindlicher Truppen ankündigt, oder wenn
jemand bei den entsprechenden Anlässen ,, Feuer' ', ,, Diebe", ,, Mörder"
ruft. So trägt denn auch der Vokativ überall da, wo er in der Sprache
einen besonderen Ausdruck gefunden hat, diesen Charakter einer an
eine konkrete Vorstellung gebundenen Interjektion an sich. In den
indogermanischen Sprachen geschieht dies häufig durch das Vor-
rücken des Akzents auf die Anfangssilbe. So wird jiaTiJQ zu jtclteq,
altind. JDiyäHS (Zeug) zu Diyäus, usw. Umgekehrt kann aber auch
die interjektionale Betonung dadurch bewirkt werden, daß die letzte
Silbe verlängert wird oder der Akzent auf sie rückt, oder auch indem
Wortformen mit Affektbetonung: Vokativ und Imperativ. 323
besondere interjektionale Elemente dem Wort angehängt oder voran-
gestellt werden^). Manche Sprachen, wie z. B. das Litauische, be-
sitzen diese letztere, übrigens auch anderwärts der Volkserzählung
zukommende Eigenschaft in hohem Maße. Dabei wird dann stets
die Interjektion mit einem irgendeinen Vorgang schildernden Verbum,
als eine Gefühlsverstärkung desselben, verbunden 2). Wenn in andern
Fällen solche spezifische Eufformen keinen besonderen grammatischen
Ausdruck gefunden haben, so ist das wahrscheinlich nur ein schein-
barer Mangel, da unwillkürlich bald die Anfangs-, bald die End-
silbe oder auch, bei einsilbigen Wörtern, das ganze Wort stärker
betont wird. Wir rufen Feuer, Diebe, Otto oder Otto, Marie oder
Marie usw.
Man hat solche E-ufformen als abgekürzte Sätze betrachtet, bei
denen das gerufene Wort Subjekt, das Prädikat aber aus der gesamten
Situation zu ergänzen sei. Der Euf ,,Karr' oder ,, Feuer" bedeute
etwa ,,Karl komm hierher" oder ,,es ist Feuer ausgebrochen" usw.^).
Nun mag es sein, daß jemand mit dem Ruf wirklich einen solchen
Wunsch verbindet. Doch selbst in diesen Fällen dürfen wir nicht über-
sehen, daß die Übertragung in einen Satz immer eine logische Inter-
pretation bleibt, die den psychologischen Zustand des Bewußtseins
deshalb nicht getreu wiedergibt, weil auch dann, wenn die Inter-
pretation richtig ist, der Satz nicht im entwickelten, sondern im un-
1) So wurden nach den Angaben der indischen Grammatiker die Endungen
-ä, -äi, -äu im Vokativ auf drei Moren gedehnt. (Jak. Wackernagel, Altindische
Grammatik, I, 1896, S. 297 ff.) Auch die besonders in Personennamen
häufig vorkommende Gemination eines Konsonanten inmitten des Wortes
ist nach Brugmanns Vermutung aus einer ursprünglich nur im Vokativ
vorhandenen Lautverstärkung zu erklären, die dann auf die übrigen Kasus
überging, wie in griech. <PiV,iog, .lat. Gracchus, Varro, Mummius, ahd.
Aggo, Uta.
2) Leskien, Indogermanische Forschungen herausgeg. von Brugmann
und Streitberg, Bd. 13, S. 165 ff. In gewissem Grad ist diese Unterbrechung
durch Interjektionen eine allgemein verbreitete, den Ausdruck belebende Er-
scheinung innerhalb der Volkserzählung, z. B. „bums, da lag er", — ,, patsch,
da war er gefangen" u. dgl. Auch darin bewährt sich hier die Interjektion als
ein Ausdruck des Affekts, daß sie verschwindet, sobald die Erzählung einen
ruhigen, epischen Stil annimmt.
3) Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte, * S. 130.
21*
324 Die Sprachlaute.
entwickelten Zustand im Bewußtsein steht, als eine Gesamtvorstellung,
die sich nur in bezug auf die im Ruf ausgedrückten Bestandteile ge-
gliedert hat^). Der Ausdruck dieser Bestandteile ist aber durch den
hinzutretenden Affekt bestimmt, der den Ruf zugleich zu einer be-
sonders gearteten Interjektion macht. Als solche zeichnet ihn nur
der außerdem vorhandene Vorstellungsinhalt aus, durch den er even-
tuell in einen Satz übergehen kann, ohne darum doch selber ein Satz
zu sein.
Eine Strecke näher auf dem Wege vom Naturlaut zum Satze
stehen dem letzteren die eigentlichen Imperative, zu denen unter
den obenerwähnten Wortverbindungen schon diejenigen gezählt
werden können, die irgendeiner bestimmt gerichteten Aufforderung
dienen. Umgestaltungen der Lautform von interjektionalem Charakter
zeigt allerdings der Imperativ im ganzen seltener als der Vokativ.
Bald kommen bei ihm Lautverkürzungen, bald interjektionale Präfixe
oder Suffixe vor^). Gleichwohl nimmt er unter den Verbalformen
eine durchaus analoge Stellung wie der Vokativ unter den Nominal-
bildungen ein. Auch er ist ein Ausdruck einer interjektional betonten
konkreten Vorstellung. Doch bringt der Charakter der Verbalbegriffe
einen gewissen Unterschied mit sich. Eine gegenständliche Vorstellung
kann im allgemeinen in sehr wechselnden Gedankenverbindungen
vorkommen. Jene nachträgliche grammatische Interpretation, die
zu einem interjektional gebrauchten Gegenstandsbegriff einen Satz
ergänzt, ist daher vieldeutig, und dem entspricht in den meisten Fällen
die Bewußtseinslage dessen, der die nominal geformte Interjektion
gebraucht. Anders bei dem Verbalbegriff. Die Handlung, die er aus-
drückt, ist in dem Augenblick der Anwendung des Wortes in der Regel
eindeutiger Art; und wo die Verbalvorstellung ohne alle Zeitbeziehung,
aber versehen mit dem interjektionalen Akzent auftritt, da ist darum
') Vgl. Kap. VII, Nr. 1, 5.
■^) So noch im Deutschen, z. B. bliuwä herre bliu („schlag zu, o Herr, schlag
zu'*), wo bliuwä eine Erweiterung der 2. Pers. Sing, durch die Interjektion ä
ist. (Weinhold, Mittelhochdeutsche Grammatik, 2 1883, S. 345.) In den Sprachen
der Naturvölker finden sich vielfach analoge Erscheinungen. (Vgl. z. B. Hum-
boldt, Kawi- Sprache, III, S. 872 f.)
Naturlaute als Grundbestandteile von Wortbildungen. 325
auch der mit ihr im Bewußtsein des Redenden verbundene weitere
Vorstellungsinhalt in diesem unmittelbarer gegenwärtig und von
dem Hörenden unzweideutiger zu ergänzen als im vorigen Falle. Zu-
rufe wie „gib", „komm", „geh", ,, bring", ,,hilf" usw. pflegen uns
daher schon vollständig als Äquivalente von Sätzen zu gelten. Sie
sind das freilich genau genommen auch nicht. Doch in dem allmäh-
lichen Übergange von der reinen Interjektion zum ausgebildeten Satze
bezeichnen sie immerhin wegen der prädizier enden Funktion, die dem
Verbum anhaftet, eine letzte Stufe, Den verbalen Imperativen stehen
dann aber gewisse befehlend gebrauchte Adverbien oder adverbiale
Nominal Verbindungen gleich, denen nach ihrer eigenen Natur oder
vermöge der Situation, in der sie vorkommen, der ergänzende Verbal-
begriff eindeutig zugeordnet ist, wie ,,zu Hilfe", ,, herbei", ,,fort",
,, hinweg" u. a. Ihrer psychologischen Bedeutung nach sind alle diese
Redeformen sekundäre Interjektionen. Als solche sind sie Glieder
einer Entwicklung, die in dem Moment beginnt, wo der in der Inter-
jektion ursprünglich ausgedrückte Naturlaut mit der Sprache in Wech-
selwirkung tritt, indem er Wörter der Sprache in Interjektionen um-
wandelt und diese dann wiederum allmählich in Sätze einfügt. Der
Endpunkt dieser Entwicklung ist naturgemäß da gegeben, wo die
Interjektion auch im sprachlichen Ausdruck zu einem vollständigen
Satze geworden ist.
3. Naturlaute als Grundbestandteile von Wortbildungen.
Neben dem Übergange der Interjektion aus ihrer primären in
diese sekundären Formen gibt es noch einen zweiten Weg, auf dem
der Naturlaut Eingang in die Sprache finden kann. Er besteht darin,
daß ein solcher unmittelbar von der Sprache aufgenommen und in
sprachliche Formen gekleidet wird, so daß er wie eine Wurzel erscheint,
die einer Wortbildung oder einer Reihe von Wortbildungen zugrunde
liegt. Die primäre Interjektion ist demnach Ausgangspunkt zweier
divergierender Entwicklungen: auf der einen Seite assimiliert der
natürliche Gefühlslaut vorhandene Wörter der Sprache, mit denen er
sich zuerst verbindet, um dann ganz in ihnen unterzugehen; auf der
326 I>ie Sprachlaute.
andern Seite geht er selbst in die Sprache über und wird Anlaß zu
Wortbildungen, die in ihrer Bedeutung den an die Gefühlslaute ge-
bundenen Vorstellungen entsprechen. Im ersten Falle wird der Natur-
laut durch das Wort verdrängt, das psychologisch ihm äquivalent
geworden ist; im zweiten dringt er umgekehrt in das Wort ein und
verliert dadurch seinen ursprünglichen Gefühlswert, um, gleich andern
Wortbildungen, eine objektive, begriffliche Bedeutung anzunehmen.
Die Zahl der so an der Wortbildung teilnehmenden Naturlaute scheint
in den einzelnen Sprachen eine sehr verschiedene zu sein. Am all-
gemeinsten ist dieser Übergang bei denjenigen Interjektionen, die
lediglich Ausdruckslaute von Gemütserregungen sind, wie im griech.
oXoXvl^co (heule), aid^^o), axofiai (ächze), ala?<.a^co (schreie, haupt-
sächlich vom Kampfgeschrei gebraucht), oder im lat. ukilare (heulen),
jubilare (jubeln), ejulare (jammern); ebenso im Deutschen die Verba
heulen, ächzen, das Substantivum Weh mit seinen Ableitungen (weh-
klagen, Wehgeschrei u. a.). Manche dieser Ableitungen sind alt, wie
das deutsche heulen (ahd. hiuwüdn, eigtl. ,, jubeln"), und es kann dann
natürlich die Entstehung aus einer Interjektion einigermaßen fraglich
sein; in andern Fällen, wie bei ächzen und Weh, handelt es sich um
neue Wortbildungen, denen die entsprechenden Gefühlslaute jeden-
falls lange vorausgegangen sind. In noch andern kann sich die Inter-
jektion auf einen objektiven Vorgang beziehen und mit einem ono-
matopoetischen Verbum in Zusammenhang stehen, wie paff mit
paffen, plumps mit plumpsen u. ä. Auch hier ist, da es sich meist um
neue Wortbildungen handelt, wohl in der Regel die Interjektion früher
als das Verbum i).
1) Einen Beleg für diese meist anzunehmende Priorität der Interjektion
bildet wohl auch die Tatsache, daß z. B. das Litauische, das, wie oben (S. 323)
bemerkt, in der Erzählung die interjektionalen Zwischenrufe oft im Übermaß
zeigt, besonders reich an onomatopoetischen Verben ist. Vgl. das Verzeichnis
bei Leskien, a. a. O. S. 183 ff. Ein Beispiel aus einem weit entfernten Sprach-
gebiet ist ferner das Runa simi oder Keshua (Peru), das eine Fülle von primären
Interjektionen besitzt, aus deren jeder mit Hilfe des Verbums niy „sagen" ein
zusammengesetztes Verbum gebildet werden kann, das ,, jammern", „überrascht
sein" usw. ausdrückt (Middendorf, Das Runa simi oder die Keshua -Sprache,
1890, S. 125 f.), eine Erscheinung, in der sich offenbar eine analoge Verbindung,
wie wir sie in unserm Verbum „wehklagen" besitzen, in weiterer Ausdehnung
wiederholt.
Naturlaute als Grundbestandteile von Wortbildungen. 327
Abgesehen von der immerhin im allgemeinen beschränkten An-
zahl von Wörtern, die mit primären Interjektionen zusammenhängen,
kann nun aber die Frage entstehen, ob nicht auch solche Gefühls-
laute, die, ohne der Klasse der allgemein verbreiteten Interjektionen
anzugehören, unter besonderen Bedingungen als Gefühlsäußerungen
vorkommen, auf gewisse Wortbildungen eingewirkt haben. In der
Tat gibt es ein Wortpaar, für das ein solcher Ursprung mit großer
Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann: das ist die Benennung
von Vater und Mutter. Hier hat schon im 18. Jahrhundert de la
Condamine^) auf die weite Verbreitung von Namen, die unsem Kin-
derlauten Papa und Mama ähnlich sind, hingewiesen. Eine umfassende
Zusammenstellung solcher Namen hat dann Buschmann in seiner
Schrift „Über den Naturlaut" gegeben. Sie erstreckt sich über eine
große Zahl der verschiedensten Sprachen von Natur- wie Kultur-
völkern^). Buschmann unterscheidet für die Benennung des Vaters
die vier typischen Laute: fa, ap, ta, at, für die der Mutter: wm, am,
na, an — Laute, die sich in den Einzelsprachen in verschiedenen Modi-
fikationen finden, wie z. B. pa in den Formen ba, ho, fa, hi, hau usw.
Außerdem können sie entweder in dem Zustande des unveränderten
Naturlauts vorkommen, wie in dem Papa und Mama unserer Kinder-
sprache, oder sie können von der Sprache assimiliert sein, wie in Vater
und Mutter. Sicherlich würde sich das von Buschmann mitgeteilte,
mehr als zweihundert Einzelsprachen umfassende Verzeichnis heute
bedeutend vervollständigen und teilweise berichtigen lassen; das all-
gemeine Ergebnis würde dadurch keine nennenswerte Veränderung
erfahren. Daß man in einem solchen Zusammentreffen ein Werk des
Zufalls vor sich habe, ist aber ausgeschlossen. Die auf Grund der
Theorie der Ableitung aller Wörter aus Begriffswurzeln versuchte
1) Voyage dans Tlnt^rieur de l'Amerique m6ridionale, 1745.
2) Über den Naturlaut. Berlin 1853. Über die Namen für Vater und Mutter
in den indogermanischen Sprachen handelt außerdem Delbrück, Abh. der sächs.
Ges. d. Wiss. Phil. -bist. Kl. Bd. 11, S. 381 ff. Eine vergleichende Zusammen-
stellung aus verschiedenen Sprachgebieten folgt unten (4 a). Eine nach
Koelles Polyglotta Africana und andern Quellen verfaßte Tabelle teilt
John Lubbock mit (Die Entstehung der Zivilisation, deutsche Ausg. 1875,
S. 354 ff.).
328 Die Sprachlaute.
Zurückführimg unseres Vater- und Mutternamens auf gewisse all-
gemeinere Begriffe, wie die des ,,Bescliützens" und des ,,Ernährens",
müßte daher, auch wenn sie im übrigen psychologisch haltbar wäre,
gegenüber diesem offenkundigen Zusammenhang mit bestimmten
Naturlauten abgelehnt werden^). Die Naturlaute, um die es sich
hier handelt, unterscheiden sich aber von den oben betrachteten pri-
mären Interjektionen wesentlich dadurch, daß sie im Vergleich mit
diesen in ihrem Gefühlscharakter indifferent sind. Als Interjektionen
kommen Laute wie fa, ta, ma usw. wohl nur ausnahmsweise vor.
Dagegen gehören sie zu den frühesten Lailauten des Kindes in dem
die eigentliche Sprachbildung vorbereitenden Stadium und dabei
zugleich zu denjenigen Lauten, die das Kind aus den oben (S. 315 f.)
angeführten Gründen bei der Nachahmung von Lautartikulationen
am frühesten verwendet. Demnach dürfen wir schließen, daß, wie
überall, so auch hier diesen Lauten nicht vom Kinde selbst,
sondern von seiner Umgebung ihre Bedeutung angewiesen
wurde. Wie die ersten Sprachlaute des Kindes überhaupt früher
auf Personen, wegen der größeren Aufmerksamkeit, die diese erregen,
als auf Gegenstände bezogen werden, so stehen naturgemäß unter
diesen Personen die nächsten, die Eltern, wieder im Vordergrunde.
Auf sie werden daher in jenem ersten wechselseitigen Nachsprechen,
das sich aus Anlaß der Echosprache zwischen dem Kind und seiner
Umgebung entwickelt, die frühesten artikulierten Laute bezogen.
In den unentwickelteren Sprachen sind dann die so entstandenen
Namen auf der Stufe einfacher oder durch Verdoppelung erweiterter
Naturlaute, wie in unserem ,,Papa" und ,,Mama", stehen geblieben.
In den Kultursprachen hat auch hier, ähnlich wie bei den aus Inter-
jektionen hervorgegangenen Wortbildungen, der Naturlaut nur die
Wurzel abgegeben, aus der ein Wort hervorging, das sich im übrigen
an die sonstigen typischen Formen der Wortbildung anlehnte. „Vater"
und ,, Mutter" unterscheiden sich daher in ihrer formalen Bildung
nicht mehr von andern Wörtern, wie ,, Bruder" und ,, Schwester",
1) Über diese Ableitungen aus allgemeinen Begriffswuizeln sowie über die
Wurzeltheorie überhaupt vgl. unten Kap. V, Nr. III, 4.
Schallnachahrnuiigeii und Lautbilder. 329
die völlig unabhängig von irgendwelchen Naturlauten entstan-
den sind.
IV. Lautnachahmungen in der Sprache.
1. Schallnachahmungen und Lautbilder.
In allen Sprachen begegnen uns Wörter, die in ihrer Lautbildung
eine so unmittelbare Beziehung zu den Gegenständen oder Merkmalen,
die sie bedeuten, erkennen lassen, daß sie gewöhnlich als ,, Lautnach-
ahmungen" bezeichnet werden. Leicht lassen sich diese Wortbildungen
in zwei Klassen ordnen. Die erste umfaßt solche Fälle, wo der Sprach-
laut einem objektiven Lautvorgang ähnlich ist. So bei den Tier-
namen Rabe, Krähe, Kuckuck, Uhu, bei denen, analog wie bei den
onomatopoetischen Tiernamen der Kindersprache, die von den Tieren
hervorgebrachten Laute wahrscheinlich auf die Wortbildung einge-
wirkt haben ; ferner bei Wörtern wie : bellen, donnern, flüstern, gackern,
glucksen, kichern, klatschen, klirren, knistern, knirschen, krachen, krähen,
krächzen, kreischen, munkeln, murren, faffen, pfeifen (aus lat. pipare),
prusten, puffen, rasseln, räuspern, stöhnen, summen, ticken, zirpen,
zischen, zwitschern u. a. ^). Man kann sie, weil bei ihnen der Sprach-
laut Nachahmung eines äußeren Schalles ist, speziell als Schall -
nachahmungen bezeichnen. Außer ihnen umfaßt aber der weitere
Begriff der sogenannten ,, Lautnachahmung" noch solche Wörter,
in denen irgendein mit keinerlei Schallbildung verbundener Vorgang
durch einen Laut wiedergegeben wird, und wo demnach mittels einer
Übertragung des Eindrucks auf einen andern Sinn, meist den Ge-
sichts- oder Tastsinn, in eine Lautform diese dem äußeren Vorgange
nachgebildet scheint. Hierher gehören Wörter wie: bummeln, baumeln,
flimmern, hätscheln, krabbeln, kribbeln, pfuschen, torkeln, wimmeln
u. a., wozu noch manche kommen, bei denen es zweifelhaft ist, ob
^) Eine größere Zahl solcher verhältnismäßig junger „Onomatopoetica-'
aus deutschem Sprachgebiet hat H. Paul, Prinzipien, ^ S. 180 f. zusammen-
gestellt. Die oben ausgewählten sind nur die häufiger gebrauchten.
330 Die Sprachlaute.
bei ihnen nicht Schallnachahmungen mindestens mitwirkten, wie
z. B. huschen, lullen, rempeln, schlottern, stolfern, tätscheln und viele
andere. Wir wollen diese Nachbildungen äußerer Vorgänge, bei denen
eine eigentliche Schallnachahmung entweder ausgeschlossen oder
zweifelhaft ist, der Kürze wegen Lautbilder nennen. Natürlich
ist die Frage, ob eine „Schallnachahmung" vorliegt, im allgemeinen
sicherer zu entscheiden als die, ob man in einem gegebenen Wort
ein ,, Lautbild" zu sehen habe. Li der Tat hat man zuweilen nicht
bloß Wörter wie die oben aufgeführten, sondern auch solche wie ,,hart",
,,süß", ,, bitter", oder ,, Schmerz", ,, Liebe", ,,Zom", ,,Haß" und an-
dere für sinnliche Nachbildungen der Begriffe gehalten, und ähnlich
ist sogar schon den einfachen Sprachlauten, namentlich den Vokalen,
ein auf ihrem Klangcharakter beruhender Gefühls- und Bedeutungs-
wert zugeschrieben worden^). Solche Vermutungen mögen hier ganz
außer Betracht bleiben, da bei ihnen die Gefahr einer nachträglichen
und umgekehrten Assoziation allzu nahe liegt. Der Begriff hat in
diesem Falle möglicherweise dem Wort seine eigentümliche Gefühls-
färbung erst mitgeteilt, worauf dann diese für eine ursprüngliche Eigen-
schaft des Wortes selbst oder einzelner Lautelemente desselben gehalten
wird. Mag übrigens der Kreis der unmittelbaren Beziehungen von
Laut und Bedeutung etwas weiter oder enger gezogen werden, sicher
ist jedenfalls, daß solche Beziehungen in einer Anzahl von Fällen
existieren. Sicher ist aber allerdings auch, daß alle diese Fälle, selbst
wenn man die zweifelhaften mitrechnen wollte, gegenüber der Un-
geheuern Menge anderer, wo gar keine Beziehung nachzuweisen ist,
eine verschwindende Minderheit bilden.
Trotzdem ist es nicht gerechtfertigt, wenn man wegen dieser
geringen Anzahl sogenannter ,,Onomatopoetica" auf ihre Existenz
überhaupt keinen Wert legt. In der Sprache ist jede Erscheinung,
die irgendeine Affinität zwischen Laut und Bedeutung erkennen läßt,
von Interesse, mag sie nun oft vorkommen oder nicht. Ebenso bildet
der Umstand, daß es sich hier häufig um neue Wortbildungen handelt ,
1) Vgl. z. B. Jacob Grimm, Über den Ursprung der Sprache, ^ 1852, S. 93 f.
K. W. L. Heyse, System der Sprachwissenschaft, 1866, S. 77 ff. C. L. Merkel,
Physiologie der menschlischen Sprache, 1866, S. 79 ff.
Schallnachahmungen und Lautbilder. 331
keinen Grund gegen den Wert der Erscheinung. Diese Argumente
stehen schon unter der Voraussetzung, alles, was sich heute im Leben
der Sprache ereignet, lasse auf deren frühere Entwicklungszustände
keine Schlüsse zu. In der Tat bemerkt Lazarus Geiger, die Worte
besäßen „erst in ziemlich späten Schichten eine gewisse Neigung,
den Objekten schildernd nahezutreten". Wörter wie Rabe^ Krähe,
Kuckuck, donnern, schwirren u. a. seien zwar im Laufe der Zeit zu
Lautnachahmungen geworden, ihren Wurzeln liege aber eine solche
Beziehung fern^). Wird hier immerhin noch eine sekundäre Wirkung
• der Vorstellung auf den Laut zugestanden, so sind nun manche Sprach-
forscher geneigt, selbst innerhalb dieser Grenzen eine solche Affinität
möglichst zu beschränken. Sobald diese in verwandten Sprachen oder
in älteren Sprachformen des gleichen Gebiets nicht existiert, so gilt
sie ihnen als eine nichtssagende, zufällige Erscheinung 2).
In diesen Anschauuügen spiegelt sich deutlich die merkwürdige
Mischung von Romantik und Skepsis, die in der heutigen Sprach-
wissenschaft als das natürliche Produkt ihres Ursprungs aus der ro-
mantischen Geistesströmung und des allmählichen Hineinwachsens
dieser in das Zeitalter des positivistischen Kleinbetriebs hervorgegangen
ist. Max Müller, dessen linguistische wie mythologische Theorien
im einzelnen längst obsolet geworden sind, ist hier immer noch der
typische Repräsentant der geltenden Meinungen^). Sie lassen sich
in bezug auf die vorliegende Frage in die zwei Sätze zusammenfassen:
1) Wo eine Beziehung zwischen Laut und Bedeutung nicht in den
Urbestandteilen einer Sprache, den Wurzeln, nachzuweisen ist,
da existiert sie überhaupt nicht. 2) Jede Lautänderung, die
im Laufe der geschichtlichen Entwicklung der Sprache ein-
getreten ist, muß auf rein lautgesetzliche Vorgänge zurück-
geführt werden, die als solche mit der Bedeutung der Wörter gar
nichts zu tun haben.
1) Lazarus Geiger, Ursprung und Entwicklung der menschlichen Sprache
und Vernunft, I, 1868, S. 168. Vgl. a. L. Noir6, Logos, Ursprung und Wesen
der Begriffe, 1885, S. 105.
2) Vgl. z. B. Sütterlin, Das Wesen der sprachlichen Gebilde, S. 34.
^) Max Müller, Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache, Bd. 1,
1863, S. 307 ff., 6, Aufl. (1892), S. 455 ff.
332 r>ie Sprachlaute.
Daß die „Wurzeln" selbst, wie wir später sehen werden, Pro-
dukte einer grammatischen Abstraktion sind, die willkürlich und
im Widerspruch mit allen Erscheinungen der Sprache zu wirklichen
Urwörtern gemacht wurden, charakterisiert die romantische Grund-
lage dieser Auffassung^). Daß dieses Phantasiegebilde einer Ursprache
zu einem von allen psychologischen Einflüssen unberührt bleiben-
den Objekt einer irgendwo in den Wolken schwebenden historischen
Gesetzmäßigkeit erhoben wird, nach deren Bedingungen man nicht
zu fragen habe, charakterisiert aber jenen historischen Skeptizismus,
wie er in dieser Form wiederum eigentlich nur auf dem Boden der
Romantik möglich war. Nun ist freilich die Unhaltbarkeit eines solchen
Standpunkts bereits allerorten zutage getreten. Den mannigfachen
psychophysischen Kontakt- und Assoziationswirkungen, die überall
die sprachlichen Gebilde nach Laut wie Bedeutung verändern, hat
die Sprachwissenschaft bereitwillig ihre Tore öffnen müssen. Aber
man fügte sich doch nur notgedrungen, wenn ein anderer Ausweg
schlechterdings nicht zu finden war, der Herbeiziehung solcher psycho-
logischer und psychophysischer Einflüsse. Diese deckten sich nun
im wesentlichen mit dem Gebiete der früheren grammatischen „Aus-
nahmen''. Nur hatte sich das Verhältnis zwischen Regeln und Aus-
nahmen dadurch in eigentümlicher Weise gestaltet, daß man für die
Ausnahmen plausible psychologische Gründe geltend machte, während
die Regeln in dem geheimnisvollen Dunkel einer unerforschlichen
historischen Gesetzmäßigkeit verblieben. Für die regelmäßigen sprach-
lichen Bildungen stehen so im wesentlichen noch heute die beiden
oben formulierten Dogmen in kaum beschränkter Geltung, obgleich
sie nicht bloß willkürliche, sondern im Grunde sehr unwahrschein-
liche Annahmen sind. Denn wenn überhaupt assoziative Beziehungen
irgendwelcher Art zwischen dem Lautcharakter und dem Begriffs-
inhalt eines Wortes entstehen, so wird dies wohl zu jeder Zeit geschehen
können. Nur werden solche da, wo sie einer jüngeren Zeit angehören,
selbstverständlich leichter nachweisbar sein. Vermögen wir doch
absolut nicht zu übersehen, welche Nebenmomente der Tonlage, des
2) Vgl. unten Kap. V, Nr. III.
Schallnachahmungen und Lautbilder. 333
Tonwechsels und der sonstigen nur mangelliaft durch die Tradition
erhaltenen Erscheinungen in einer frühen Zeit wirksam gewesen sein
mögen. Die Behauptung, onomatopoetische Beziehungen seien nur
von Wert, wenn sie einer ursprünglichen, nicht wenn sie einer jüngeren
Sprachstufe angehören, ist daher genau in ihr Gegenteil umzukehren.
Für die assoziativen Kräfte, die überhaupt in der Sprache wirken,
sind die uns näher liegenden Formen die wertvolleren, weil in ihnen
jene Wechselwirkungen am wenigsten durch andere, unserer Nach-
weisung entzogene Einflüsse getrübt sind. Wo sich aber auf einer
früheren Sprachstufe analoge Beziehungen, wie sie sich gelegentlich
noch heute bilden, auffinden lassen, da ist es natürlich vollends un-
zulässig, diese für zufällig oder bedeutungslos zu erklären, weil sie
in sonst verwandten Sprachen nicht existieren. Wörter wie knirschen,
kichern, glucksen, klatschen, f rüsten und viele andere hören doch darum
nicht auf onomatopoetisch zu sein, weil sie in dieser Form dem neu-
hochdeutschen Sprachgebiet ausschließlich eigen sind. Und warum
sollten z. B. analoge Wortgebilde im Hebräischen nicht onomato-
poetisch sein, weil sie es in andern semitischen Sprachen nicht sind,
oder weil die zweisilbigen Wortstämme, mit denen hier nicht selten
der onomatopoetische Charakter zusammenhängt, den sonst ver-
wandten hami tischen Sprachen nicht zukommen ? Es ist klar, daß
hier nicht dem psychologischen der historische Gesichtspunkt, son-
dern daß dem wirklichen geschichtlichen Werden der Sprache eine
hypothetische Urgeschichte substituiert wird. Mit der Unterschätzung
der lebendigen Wirklichkeit verbindet sich aber zugleich eine ins
äußerste getriebene Skepsis gegenüber allen Erscheinungen, in denen
gewisse tatsächliche Beziehungen hervortreten, sobald diese ge-
schichtlich nicht näher zu verfolgen sind. Ein Beispiel mag genügen,
diesen extremen Historismus zu kennzeichnen. Oben ist schon der
Tatsache gedacht worden, daß gewisse Lallaute des Kindes, wie fa,
ha, ma, na u. a., vielfach in den Namen für Vater und Mutter vor-
kommen, wobei die Explosivlaute den Vater-, die Resonanzlaute den
Mutternamen kennzeichnen. Da diese Beziehung in hunderten von
Sprachen wiederkehrt, so ist für jeden, der die Prinzipien der empi-
rischen Wahrscheinlichkeit nicht für eine leere Erfindung der Mathe-
matiker ansieht, der Zufall ausgeschlossen. Dem extremen Sprach-
334 I^iö Sprachlaute.
historiker gilt die Frage trotzdem als zweifelhaft. Denn es kommen
einige Fälle vor, in denen sicli das gewöhnliclie Verhältnis umkehrt,
indem der Vater Mama und die Mutter Papa oder ähnlicli genannt
wird^). Man fordert also eine absolute Ausnahmslosigkeit. Daß diese
in solchem Fall einer an Unmöglichkeit grenzenden Unwahrschein -
lichkeit gleichkommen würde, bedenkt man nicht.
Wie das erste, so ist nun aber auch das zweite der oben formu-
lierten Dogmen unhaltbar. Zunächst sind ja die lautgesetzlichen
Vorgänge an sich nicht sowohl letzte Erklärmigsgründe als
vielmehr Probleme, die überall der physiologischen oder psycho-
logischen Interpretation bedürfen. In diesem Sinne gibt es
daher eine rein historische Erklärung dieser Vorgänge überhaupt
nicht, sondern das historisch Gewordene, mag es so umfassend
oder so beschränkt sein wie es wolle, fordert stets eine Zurück-
führung auf seine Ursachen und Motive. Nun sind aber die
geschichtlichen Tatsachen überall, und so auch im Gebiet der
Sprachgeschichte, höchst komplexer Art. Selbst da, wo eine be-
stimmte Lautbildung auf einen lautgesetzlichen Vorgang von
allgemeinerer Verbreitung zurückgeführt werden kann, bleibt daher
erstens die Frage nach den Bedingungen jenes Vorgangs eine offene,
und ist zweitens die Mitwirkung besonderer Motive, die in dem spe-
ziellen Fall unterstützend oder modifizierend in ihn eingreifen, nicht
ausgeschlossen. Auch das mag durch ein Beispiel belegt werden, bei
dem sich, weil es einer neueren Periode der Sprachgeschichte an-
gehört, die Interferenz der Wirkungen verhältnismäßig sicher nach-
weisen läßt. Wir legen heute den beiden Wörtern Rahe und Rappe
eine onomatopoetische Färbung bei: in dem Raben meinen wir das
krächzende Geschrei des Vogels zu hören, bei dem Rappen denken
wir an das trapp trapp des Pferdes. Nun lehrt aber die Sprachgeschichte,
daß die Differenzierung der Wörter Rahe und Rappe erst in neuhoch-
deutscher Zeit und wohl gleichzeitig mit der Übertragung des Namens
von dem schwarzen Vogel auf ein schwarzes Pferd eingetreten ist.
Ursprünglich war das Wort nur Vogelname und wurde in der Regel
1) Sütteriin a. a. 0. S. 31.
Sohallnachahmungen und Lautbilder. 335
in Niederdeutschland Rabe, in Oberdeutschland Raffe ausge-
sprochen. Das Neuhochdeutsche hat also die Wörter differen-
ziert, indem es die Benennung des Vogels dem niederdeutschen,
die des Pferdes dem oberdeutschen Sprachgebiet entnahm.
Folglich ist — so schließt man vom rein historischen Stand-
punkt aus — diese Differenzierung eine ,, zufällige", und eine
onomatopoetische Bedeutung besitzen die Wörter überhaupt nicht ^).
Nun würde dieser Schluß offenbar selbst dann nicht bindend sein,
wenn die Differenzierung auf die hochdeutsche Schriftsprache und
Sprechweise beschränkt geblieben wäre. Denn da der Zufall
auch für die Sprachgeschichte kein Begriff von erklärendem Wert
ist, so bleibt immer noch die Frage, warum das Neuhochdeutsche
überhaupt diese Scheidung vorgenommen hat, und warum sie
nicht ,, zufällig" in entgegengesetzter Richtung erfolgt ist. Und
hier ist dann wohl die wahrscheinlichste Interpretation die, daß die
Assoziation mit dem Ruf des Vogels einerseits und mit dem Pferde-
getrappel anderseits diese Richtung veranlaßt hat. Eine solche Deu-
tung wird in der Tat dadurch verstärkt, daß, wie die vorhandenen
Dialektwörterbücher lehren, jene Unterscheidung auch in die Dia-
lekte eingedrungen ist, so daß heute im Niederdeutschen das schwarze
Pferd ebenfalls Rappe, nicht Rabe, und im Oberdeutschen der Vogel
sehr häufig Rabe, das Pferd aber stets Rappe genannt wird. Offen-
bar ist in diesem Fall die historische Verfolgung des Vorgangs deshalb
besonders belehrend, weil sie augenfällig zeigt, wie sich in solchen Ent-
wicklungen die rein lautlichen Differenzierungen mit den psycho-
logischen Assoziationen zwischen Laut und Bedeutung durchkreuzen
können, und wie irrig daher der so oft stillschweigend oder ausdrück-
lich befolgte Grundsatz ist, da, wo irgendein Vorgang auf lautgeschicht-
liche Bedingungen zurückgeführt sei, werde damit die Mitwirkung
anderer Momente von selbst hinfällig. Das Gegenteil ist richtig:
bei einer so komplexen Funktion wie der Sprache ist eine
komplexe Beschaffenheit der Ursachen von vornherein
wahrscheinlich.
1) Delbrück, Grundfragen der Sprachforschung, S. 155. Vgl. über diese
und ähnliche Erscheinungen unten Kap. VIII, Nr. I, 2.
336 Die Sprachlaute.
Hiernach werden wir im Gegensatze zu den oben formulierten
Grundsätzen eines einseitigen Historismus die folgenden drei Ge-
sichtspunkte als diejenigen festhalten dürfen, die unter den
obwaltenden Bedingungen brauchbare, wenn auch bei der Un-
sicherheit und der schwankenden Natur der Erscheinungen nicht
immer entscheidende Kriterien für das Vorhandensein irgendwelcher
psychologischer Beziehungen zwischen Laut und Bedeutung ab-
geben können:
1. Wo in einer Sprache den Variationen der Bedeutung bestimmte
Variationen des Lautes in einer so großen Zahl gleicher oder ana-
loger Fälle parallel gehen, daß dadurch die Annahme eines Zufalls
ausgeschlossen ist, und wo diese Variationen zugleich einer unmittel-
bar wahrzunehmenden Empfindungs- und Gefühlswirkung der Laute
entsprechen, da darf mit Wahrscheinlichkeit eine Beziehung zwischen
Laut und Bedeutung vermutet werden.
2. Lautgesetzliche Änderungen und psychisch bedingte Modi-
fikationen der Laute schließen sich nicht notwendig aus, da den kom-
plexen Vorgängen hier wie überall im allgemeinen auch komplexe
Ursachen zugrunde liegen. Dabei können die psychischen Bedingungen
bald die lautgesetzlichen Wirkungen unterstützen, bald über ihr ur-
sprüngliches Gebiet ausdehnen, bald sich mit ihnen zu Differenzierungen
der Bedeutung verbinden. Wo die Vermutung einer solchen Kompli-
kation der Ursachen vorliegt, da bildet dann das Vorkommen analoger
Erscheinungen unter ähnlichen, einfacheren Bedingungen ein Krite-
rium ihrer Wahrscheinlichkeit.
3. Beziehungen zwischen Laut und Bedeutung werden voraus-
sichtlich vor allem da unserem psychologischen Verständnis näher
zu bringen sein, wo' ihre Entstehung einer verhältnismäßig neuen
Stufe der Sprachentwicklung angehört, weil hier die unmittelbaren
Wirkungen der Laute unserer Beobachtung leichter zugänglich, und
andere unbekannte Nebenwirkungen, welche die psychologischen
Beziehungen der Laute komplizieren könnten, wie abweichender
Sprechrhythmus und Tonfall, relativ ausgeschlossen sind. Wo sich
aber auf älteren Sprachstufen Beziehungen zwischen Laut und Be-
deutung überhaupt finden, da sind dieselben nach Analogie der Fälle
zu beurteilen, die in der lebenden Sprache vorkommen.
Allgemeine Bedeutung der Lautnachahmungen. 337
Diese Gesichtspunkte stehen in vieler Beziehung im Gegensatz
zu verbreiteten Anschauungen. Denn in der Regel legt man auf jene
bekannte Anwendung der empirischen Wahrscheinlichkeit, welche
die allgemeine Methodenlehre als das „Prinzip der sich begleitenden
Veränderungen" bezeichnet, in der Sprachwissenschaft nur geringes
Gewicht. Dem methodologischen Grundsatze aber, daß komplexe
Erscheinungen meist auch komplexe Ursachen voraussetzen, sub-
stituiert man zumeist den andern: wo irgendeine einzelne Bedingung
einer Erscheinung nachgewiesen oder wahrscheinlich gemacht sei,
da seien mitwirkende Ursachen ausgeschlossen. Endlich pflegt man
selbst da, wo es sich lediglich um Tatsachen der Erfahrung handelt,
noch immer zuweilen den Erscheinungen, die unserer Beobachtung
näher liegen, solche vorzuziehen, die einer entfernteren Vergangen-
heit oder gar der mindestens teilweise hypothetischen Vorgeschichte
der Sprache angehören.
2. Allgemeine Bedeutung der Lautnachahmung.
Das Wort ,, Lautnachahmung" kann von vornherein in doppeltem
Sinne verstanden werden. Man kann es entweder als eine ,, Nach-
ahmung des Lautes" oder als eine ,, Nachahmung durch den Laut"
interpretieren. Nicht selten ist ihm ausschließlich die erste Bedeutung
gegeben worden. Damit wird dann der Begriff auf die Gruppe der
oben als ,, Schallnachahmungen" bezeichneten Erscheinungen ein-
geschränkt. Während die Gegner der Onomatopöie vorzugsweise
diesen engeren Begriff bekämpften, steckten deren Anhänger in der
Regel das Gebiet viel weiter ab: überall wo der Laut auch nur einen
Gefühlston anklingen läßt, der durch das Objekt erregt zu sein scheint,
waren sie geneigt, eine ,, Lautnachahmung" anzunehmen^). Nun
1) ,, Allen Sinnen liegt Gefühl zum Grunde**, sagt Herder in seiner Schrift
über den Ursprung der Sprache, ,,und dies gibt den verschiedenartigsten Sen-
sationen schon ein so inniges, starkes, unaussprechliches Band, daß aus dieser
Verbindung die sonderbarsten Erscheinungen entstehen. . . . Wir sind voll solcher
Wundt, Yölkerpsychologie. I. 4. Aufl. 22
338 I^iö Sprachlaute.
ist ersichtlicli, daß es zahlreiclie Fälle gibt, in denen schon deshalb
von einer Nacbabmung eines Scballeindrucks nicht die Rede sein kann,
weil der benannte Vorgang oder Gegenstand keinen Eindruck auf
unsern Gehörssinn macht, während gleichwohl das Wort als ein ,, Laut-
bild" gelten muß. Auch handelt es sich gerade hier meist um sprach-
liche Neuschöpfungen, bei denen, weil irgendwelche lautgeschicht-
liche Bedingungen gar nicht mitgewirkt haben, ein im weiteren Sinn
onomatopoetisches Motiv nicht bezweifelt werden kann. Wenn aber
Wörter wie bummeln, baumeln, krippeln, torkeln, pfuschen, wimmeln
gerade so gut wie donnern, klirren, knarren, rasseln, murren als Laut-
nachahmungen empfunden werden, so kann die allgemeine Bedeutung
solcher offenbar nur darin bestehen, daß sie Nachahmungen durch
den Laut, nicht oder doch nur in gewissen Fällen auch Nach-
ahmungen des Lautes sind. Hierdurch wird jedoch zugleich der
Zweifel angeregt, ob selbst da, wo für unser Ohr das Wort
eine Schallnachahmung bedeutet, der Sprechende selbst damit die
Absicht verbunden habe, den gehörten Schall durch einen Sprach-
laut nachzuahmen.
Wird die Frage so gestellt, so kann nun in der Tat die Antwort
kaum zweifelhaft sein. Eine absichtliche Nachbildung der durch einen
äußeren Vorgang erregten Schallempfindung würde nicht bloß mit
der Existenz von Lautbildern, die sich auf lautlose Eindrücke be-
ziehen, schwer zu vereinigen sein, sondern sie würde auch psychische
Vorgänge voraussetzen, die im gewöhnlichen Verlauf der Sprach-
äußerungen nicht oder nur unter Bedingungen vorkommen, die in
diesem Fall äußerst unwahrscheinlich sind. Zuvörderst ist es nämlich
klar, daß der Prozeß der Nachbildung irgendwelcher unhörbarer
Vorgänge durch Laute, wie er bei den oben so genannten ,, Lautbildern"
vorliegt, an und für sich von weit allgemeinerer Art ist als das Gebiet
der bloßen ,, Schallnachahmung". Denn da bei dem ersteren Sinnes-
eindrücke von jeder möglichen Beschaffenheit durch Sprachlaute
wiedergegeben werden, so ist nicht einzusehen, warum dies nicht
auch bei den Schalleindrücken in analoger Weise sollte geschehen
Verknüpfungen der verschiedensten Sinne.*' (Herders sämtl. Werke, Ausgabe
von Suphan, V, S. 61.)
Allgemeine Bedeutung der Lautnachahmung. 339
können. Dann ist aber die „Schallnacliahmung" nur eine beson-
dere, durch nichts als durch den Eindruck auf den Gehörssinn aus-
gezeichnete Art von Lautbildern. Dazu kommt das noch entscheiden-
dere Bedenken, daß eine „Schallnachahmung" im eigentlichen Sinne,
das heißt als absichtliche Nachahmung eines äußeren Schalles durch
die Sprachorgane, tatsächlich nur unter Bedingungen vorkommt,
die im allgemeinen bei der Neubildung von Wörtern nicht voraus-
zusetzen sind. Wenn wir z. B. Tierlaute oder Sprachlaute anderer
Menschen oder sonstige zufällige Naturlaute willkürlich nachahmen,
so ist die Lage, in der sich bei solchen Gelegenheiten unser Bewußt-
sein befindet, sicherlich nicht diejenige, die bei der Bildung wirklicher
Wörter angenommen werden kann. Bei der willkürlichen Nachahmung
wird, wo sie auch vorkommen mag, unmittelbar nur die Wiedergabe
des Lautes selbst bezweckt, nicht die Bezeichnung des Gegenstandes.
Wo sich etwa die letztere Absicht regt, da handelt es sich um einen
selbständigen, erst zu der Nachahmung hinzutretenden Vorgang.
Wir mögen also willkürlich hervorgebrachte Lautnachahmungen
unter Umständen nachträglich benützen, um sie zur Namengebung
zu verwenden; dagegen läßt sich eine Umkehrung dieses Prozesses,
wie sie vorausgesetzt wird, wenn man den Vorgang onomatopoetischer
Wortbildung als eine Nachahmung des Lautes auffaßt, nirgends
nachweisen. So ist es ja auch bei der Entwicklung der kindlichen
Sprache aus der „Echosprache" nicht die Absicht der Mitteilung, aus
der die Nachahmung entspringt. Vielmehr ist umgekehrt die Nach-
ahmung zunächst da, und dann erst bemächtigt sich der Trieb nach
Mitteilung der durch jene zur Verfügung gestellten Bezeichnungen
in dem angemessenen Sinne. Auch die Nachahmung ist aber hier
wiederum keine willkürliche, sondern triebartig folgt dem gehörten
Laute die Artikulationsbewegung, die dann von selbst einen analogen
Laut hervorbringt. Direkt wirkt also der gehörte Laut nur auf die
Artikulation der Sprachwerkzeuge, erst indirekt auf den Sprachlaut
selbst. Die Unhaltbarkeit des Begriffs der Lautnachahmung in dem
vulgären Sinn einer absichtlichen Wortschöpfung,^ die den gehörten
Schall benutzt, um sein akustisches Bild vor dem Hörer zu wieder-
holen, liegt demnach darin, daß sie in die Auffassung der sprach-
bildenden Vorgänge den Begriff der Erfindung hinüberträgt. Nun
22*
340 Die Sprachlaute.
können künstliche Worterfindungen und sogar ganze künstliche
Sprachen bekanntlich vorkommen; auch können die ersteren, wie
vor allem die Geschichte der wissenschaftlichen Terminologie lehrt,
in die allgemeine Sprache übergehen. Doch die onomatopoetischen
Wörter sind in der Regel nicht solche Kunsterzeugnisse, sondern Ge-
bilde der natürlichen Sprache. Sie tragen so in jeder Beziehung die
Merkmale einer aus der fortwirkenden Macht ursprünglicher sprach-
bildender Kräfte entstandenen Neuschöpfung an sich, und sie sind
als solche wohl meist überhaupt nicht individuellen Ursprungs, son-
dern entstehen gleichzeitig in zahlreichen Mitgliedern einer Sprach-
gemeinschaft, wobei dann erst die etwa vorkommenden individuellen
Nuancen des Ausdrucks durch eine unabsehbare Summe von Wechsel-
wirkungen zwischen Sprechenden und Hörenden allmählich aus-
geglichen werden.
Das Ergebnis, daß eine onomatopoetische Wortbildung von ab-
sichtlicher Nachahmung wie von direkter Nachbildung des Schall-
eindrucks gleicherweise verschieden ist, legt nun eine Annahme nahe,
die besonders von Steinthal näher ausgeführt wurde. Entsteht der
Laut als eine absichtliche Reaktion auf den Eindruck, so scheint er
zunächst dem Gebiet der Reflexe verwandt zu sein. Die Beziehung
zum Gegenstand würde sich dann dem allgemeinen Prinzip der Re-
flexbewegungen unterordnen, nach welchem diese vermöge der ver-
erbten und erworbenen Anlagen des zentralen Nervensystems den
Sinnesreizen in einer dem Ort und der Art des Eindrucks adäquaten
Weise mechanisch zugeordnet sind (S. 47). Ist der Laut nur bei einer
beschränkten Anzahl onomatopoetischer Wortbildungen eine direkte
Nachahmung des äußeren Schalles, so scheint ferner der nächste Aus-
weg, um über jene allgemeinere Beziehung Rechenschaft zu geben,
der zu sein, daß man das Gefühl zu Hilfe nimmt, das durch seine
mannigfachen Assoziationen und Analogien bei den Empfindungen
der verschiedenen Sinne überall geeignet ist, das Mittelglied zu bilden,
das den Eindruck mit dem durch ihn ausgelösten Laute verbindet.
Das onomatopoetische Lautgebilde, mag es eigentliche Schallnach-
ahmung oder bloßes ,, Lautbild'* im Sinne der obigen Unterscheidungen
sein, wird daher von Steinthal als ein ,, Reflex" aufgefaßt, der in seiner
Form von der Beschaffenheit des Objekts abhänge, und dessen Ver-
Allgemeine Bedeutung der Lautnachahmung. 341
wandtschaft mit diesem durch die analogen Gefühle vermittelt sei,
die durch den Eindruck des Objekts und durch den des Lautes er-
weckt werden. Demnach soll jede Lautnachahmung einerseits auf
einem gänzlich willenlosen Vorgang, anderseits aber auf einer in-
direkten, durch das begleitende Gefühl erzeugten Assoziation mit
dem Gegenstande beruhen-^).
Diese Auffassung begegnet aber schon deshalb Bedenken, weil
sie den Begriff des ,,Eeflexes" in einem seiner physiologischen An-
wendung widersprechenden Sinne verwendet. Denn sie dehnt dessen
Geltungsbereich auf psychophysische Vorgänge aus, die er nach seinem
ursprünglichen Inhalt ausschließt. Auch für die Psychologie besteht
nämlich der Wert dieses Begriffs gerade darin, daß er eine wohl de-
finierbare wichtige Gruppe rein physiologisch bedingter, ohne be-
gleitende psychische Vorgänge verlaufender Bewegungen um-
faßt. Sind solche Vorgänge in der Form von Empfindungen und Ge-
fühlen vorhanden, so nennen wir eben die eintretende Handlung nicht
mehr eine Keflexbewegung, sondern eine Trieb- oder einfache Willens-
handlung, da jener gleichzeitige Empfindungs- und Gefühlsinhalt
psychologisch durchaus die Rolle eines die Handlung bestimmenden
Motivs spielt, dessen Wirksamkeit sich von derjenigen der Motive
zusammengesetzter Willenshandlungen nur dadurch unterscheidet,
daß es das allein vorhandene und darum auch das allein wirksame
Motiv ist^). Liegt demnach zwischen Reflex- und Triebbewegung
das unmittelbar unterscheidende Merkmal nur in dem begleitenden
Bewußtseinsvorgang, so hängt nun damit auch der weitere Unter-
schied zusammen, daß die Bewegung, wo sie rein physisch bedingt
ist, ohne weitere Folgewirkungen abläuft, während Empfindung und
Gefühl stets Nachwirkungen zurücklassen, vermöge deren sich
an die Triebhandlung weitere psychische oder psychophysische Vor-
gänge anschließen können. In der Tat trifft dies ganz besonders da
zu, wo die Triebbewegung in einer durch den Eindruck eines gesehenen
1) Steinthal, Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft, 1871,
S. 376 ff. Ursprung der Sprache, * 1888, S. 368 ff.
2) Vgl. oben Kap. I, S. 43 ff., und Physiol. Psychologie, ^ III,
S. 235 ff.
342 Die Sprachlaute.
oder betasteten Objekts ausgelösten Lautäußerung bestellt. Denn
indem die Gebörsempfindungen mit den Eindrücken der andern Sinne
mannigfaltige Komplikationen bilden können, die sich durch Wieder-
holung befestigen, wird hier der Übergang der Lautäußerung in den
Sprachlaut unmittelbar nahegelegt. Tragen auf diese Weise die ono-
matopoetischen Lautbildungen in dem, was ihnen ihre Bedeutung
in der Sprache verleiht, Eigenschaften an sich, die sie von den eigent-
lichen Keflexen wesentlich unterscheiden, so wird demnach der Aus-
druck ,, Sprachreflex" in diesem Zusammenhang zu vermeiden und
durch das zu ersetzen sein, was die Bewegung wirklich ist: durch den
Begriff einer Triebbewegung, die, weil sie die Sprachorgane er-
greift, von selbst mit Lautbildung verbunden ist.
Hieran schließt sich dann sofort die weitere Frage, was dem auf
solche Weise hervorgebrachten Laute die Eigenschaften verleiht, durch
die er auch dem Hörer als ein dem objektiven Eindruck ähnlicher oder
sonst irgendwie angemessener erscheint. Erfolgt die Lautäußerung
als eine einfache Triebbewegung, so wird damit die naive Annahme,
daß sie absichtliche Nachahmung eines Schalleindrucks oder ab-
sichtliche Übertragung irgendeines andern Sinnesreizes in ein Schall-
bild sei, von selbst hinfällig. Denn die Beziehung zwischen Laut und
Bedeutung kann nun keine im voraus gewollte, sondern nur
eine nachträglich entstandene sein. Der Laut wurde nicht
gebildet, weil er eine bestimmte Ähnlichkeit mit dem objektiven Ein-
druck besaß, sondern er wurde umgekehrt dem Eindruck ähnlich,
weil die Artikulationsbewegung, aus der er hervorging, dies notwendig
so mit sich führte. Hierdurch werden wir auf das hingewiesen, was
den Laut selber erst erzeugt: auf die Lautbewegung der Sprach-
organe. Unmittelbar sind es ja nicht die Laute, sondern die Laut-
bewegungen, die durch den äußeren Eindruck triebartig ausgelöst
werden. Hier bieten aber offenbar alle Arten sogenannter „Laut-
nachahmung" den ausgezeichneten Fall dar, daß die Artikulation
der Sprachorgane eine äußere Bewegung oder die Wirkung einer solchen,
die noch deutlich den Bewegungsmodus erkennen läßt, nachbildet.
Daß dies willkürlich geschehe, ist wiederum durch die Natur der ur-
sprünglichen Triebbewegungen ausgeschlossen. Wie vielmehr jeder
lebhaft erregte Beobachter einen Bewegungsvorgang, den er sieht,
Allgemeine Bedeutung der Lautnachahmung. 343
mit Mienen und Gebärden begleitet, so und nicht anders haben wir
uns jene Lautbewegungen zu denken: als Bewegungen, die, indem
sie die durcb den Eindruck erregten subjektiven Gefühle ausdrücken,
unwillkürlich aucb den das Gefühl erregenden Vorgang selbst nacb-
bilden. Diese Mitbewegungen sind gerade so gut wie alle andern ur-
sprünglichen Gebärden unwillkürliche Akte; aber sie sind nicht bloße
Reflexe, sondern Triebhandlungen, in denen sich die vorhandene
psychische Erregung äußert. Nach diesem Zusammenhange mit den
sonstigen Gebärden können wir eine solche nachahmende oder nach-
bildende Bewegung der Artikulationsorgane am zutreffendsten als
eine Lautgebärde bezeichnen. Die Beziehung zwischen dem ob-
jektiven Eindruck und der Lautnachahmung besteht dann aber darin,
daß diese in keiner Weise eine Nachahmung des Lautes, sondern
eine unwillkürliche Nachbildung des äußeren Vorgangs durch den
Laut ist, die in der Übereinstimmung der triebartig entstehenden
Lautgebärde mit dem äußeren Eindruck ihre eigentliche Quelle hat.
Unter ,, Lautgebärden" können wir hiernach mimische Bewegungen
der Artikulationsorgane verstehen, die zumeist der Kategorie der
nachbildenden Gebärden angehören, und die sich von andern Ge-
bärden nur dadurch unterscheiden, daß sich mit ihnen ein den be-
gleitenden Affekt ausdrückender Stimmlaut verbindet, der durch
die mimische Bewegung seine eigentümliche Artikulation und Mo-
dulation erhält^).
Das aufgestellte Prinzip macht nun vor allem die zweite Klasse
onomatopoetischer Bildungen, die der Lautbilder, leicht verständ-
lich. Um hier, wo von einer wirklichen Nachahmung des Lautes nicht
die Rede sein kann, über die nicht zu verkennende Beziehung zwischen
Laut und Bedeutung Rechenschaft zu geben, bezeichnet man in der
^) Den Ausdruck „Lautgebärde*' hat bereits Heyse (System der Sprach-
wissenschaft, S. 73), aber in einem wesentlich andern, engeren Sinn angewandt.
Er nennt so die meist von Gebärden begleiteten interjektionalen Zurufe, wie
stf he, holla; synonym gebraucht er daher auch für sie den Ausdruck „Begeh-
rungslaute". Nach den oben gewählten Bezeichnungen sind diese Interjektionen
nicht Lautgebärden sondern unmittelbare Gefühlslaute, die nur als Begleiter
anderer Gebärden, also bloß mittelbar, eine Beziehung zu dem äußeren Objekt
gewinnen können.
344 Die Sprachlaute.
Regel diese Erscheinungen unterschiedslos als „Lautmetaphern"
oder „Lautsymbole". Der irgendeinem andern Sinnesgebiet angehörige
Eindruck soll in einen verwandt erscheinenden Schalleindruck über-
tragen werden 1). Nach der oben gegebenen Erläuterung des Vorgangs
handelt es sich jedoch hier offenbar überhaupt um keine Übertragung.
Nicht durch den Laut selbst, sondern durch die Artikulationsbewegung
wird zunächst der äußere Eindruck nachgebildet. Bei dieser mimischen
Gebärde bedarf es aber keines Übergangs auf ein anderes Sinnes-
gebiet, sondern die äußere Bewegung oder der als Bewegung auf-
gefaßte Eindruck wird unmittelbar durch die Gebärde wiedergegeben.
Diese nachbildende Gebärde, die sich dann von selbst auch dem Laute
mitteilt, ist es, nicht ein als Metapher oder Symbol aufzufassendes
Lautbild, das bei Wörtern wie bummeln, flimmern, kribbeln, torkeln,
wimmeln und ähnlichen den Eindruck einer Nachahmung der Wirk-
lichkeit hervorbringt. Nicht der Laut als solcher ist also die Quelle
dieses Eindrucks, sondern die Artikulationsbewegung, namentlich
die fein nuancierte Bewegung der Zunge und der Lippen. Die Wir-
kung dieser mimischen Gebärde auf den hervorgebrachten Laut muß
dann allerdings auch bei solchen durch den Laut selbst gar nicht
nachzubildenden, weil lautlosen Eindrücken die Wirkung der Ge-
bärde verstärken. Denn der Laut ist wieder innig mit der Lautbewegung
assoziiert, so daß er in dem Hörer die ähnliche mimische Bewegung
hervorzubringen strebt. Doch der Satz, daß die durch einen äußeren
Eindruck erweckten Lautgebärden in erster Linie mimische Bewegungen
und dann erst sekundär zugleich Laute sind, gilt selbstverständlich
auch für die Schallnachahmungen. Bei Wörtern wie klatschen,
knistern, krachen, stöhnen, summen usw., bei denen der wahrgenommene
Eindruck selbst ein Laut und das Wort ein ihm ähnlicher Laut ist,
wird gleichwohl der gehörte Schall entweder unmittelbar von einer
1) Heyse, System der Sprachwissenschaft, S. 93 ff. Heyse selbst faßt
übrigens den Begriff der „Lautmetapher" ziemlich weit, da er Wörter wie „sanft",
,, scharf", „weich", „hell", „lind", und viele andere hierher rechnet, die jeden-
falls nicht zu den „Lautgebärden" in dem oben begrenzten Sinne gehören, und
bei denen es sehr zweifelhaft ist, ob die vermeintliche Lautnachahmung nicht
erst auf der gewohnheitsmäßigen Assoziation des Lautes mit dem Begriff beruht,
(Siehe oben S. 330.)
Lautgebärden zur Bezeichnung der Artikulationsorgane. 345
Artikulationsbewegung begleitet, oder diese assoziiert sich ohne
weiteres mit ihm. Nur die Wirkung des mit der Lautgebärde ver-
bundenen Lautes wird in diesem Fall voraussichtlich eine stärkere
sein als vorhin, weil hier der Laut als solcher, nicht bloß durch die
mimischen Bewegungen, die er anregt, an den ursprünglichen Ein-
druck gebunden ist und so nachträglich als eine unmittelbare Wieder-
gabe desselben erscheint.
3. Lautgebärden zur Bezeichnung der Artikulationsorgane.
Die Zurückführung der Schallnachahmungen wie der Lautbilder
a-uf Lautgebärden macht eine Gruppe von Erscheinungen sofort ver-
ständlich, auf die der Begriff der ,, Lautnachahmung" unter keinen
Umständen anwendbar ist, von denen man aber sagen könnte, sie
seien ihrer Natur nach in eigentlicherem Sinne Lautgebärden als
alle andern. Diese Erscheinungen bestehen darin, daß Organe und
Tätigkeiten, die zur Bildung der Sprachlaute in Be-
ziehung stehen, sehr häufig mit Wörtern benannt werden,
bei deren Artikulation die gleichen Organe und Tätig-
keiten mitwirken. Demnach erinnern diese Wortbildungen an
gewisse in der Kindersprache vorkommende Ausdruckslaute, wie z. B.
an die früher erwähnten Laute für ,, essen": mum, ham, am (S. 295).
In der Tat mag es sein, daß hier, ähnlich wie bei den Namen für Vater
und Mutter, eine gewisse Nachwirkung der kindlichen Lallaute nicht
ausgeschlossen ist. Von dem Lautwandel scheinen ferner auch diese
Erscheinungen nicht wesentlich berührt zu werden, da bei dem durch
ihn bewirkten Wechsel der Laute diese immerhin in derselben Laut-
klasse verbleiben, so daß die Beziehung zu dem Artilmlationsorgan
nicht verloren geht, übrigens ist es charakteristisch, daß sich die
hierher gehörigen Lautbilder ausschließlich auf solche Organe und
deren Funktionen beziehen, die der Sitz deutlicher Artikulations-
empfindungen sind: so in erster Linie auf Zunge und Mund, dann
aber auch auf Nase und Zähne.
So enthält vor allem der Name für das Hauptorgan der Laut-
artikulation, die Zunge, in zahlreichen Sprachen einen lingualen
346 Die Sprachlaute.
oder dentalen Konsonanten als den Hauptti'äger des Wortes. Da
diese beiden GeräuscUaute in gleicher Weise unter ausgeprägter
Mitwirkung der Zungenbewegung entstellen, so liat der ünterscbied,
ob lingual oder dental, sowie der Übergang des einen Lautes in den
andern durch eintretenden Lautwandel in diesem Fall keine Bedeutung.
Äbnlicli kebrt in den Bezeicbnungen des Mundes und gewisser mit
ibm zusammenhängender Tätigkeiten, wie schließen (griech. ^vw),
essen (chin. nam, jav. mangan), still sein (hebr. alam, latein. mutus),
der labiale Resonanzlaut wieder. In manchen Sprachen scheint der
vom Ausatmungsstrom begleitete labiale Explosivlaut gleichzeitig
dem Begriff des Blasens und dem des Mundes zugrunde zu liegen:
so im hebr. faah blasen, feh Mund. In noch andern Sprachen, be-
sonders in solchen des malaio-polynesischen Gebiets, ist ein Aus-
druckslaut, der vielleicht mit der mimischen Nachbildung des Vogel-
schnabels zusammenhängt, auf die Bezeichnung des menschlichen
Mimdes übergegangen: so gibt es im Malaiischen neben einem älteren
Wort mulut für Mund auch ein neueres chotok, welches ursprünglich
Schnabel bedeutet, im Javanischen wird aber nur das Wort chochot
für beide Begriffe gebraucht^). Diese Beziehungen sind keineswegs
allgemeingültiger Art. In vielen Fällen sind die Benennungen der
Sprachorgane offenbar ganz andern, für ims nicht mehr erkennbaren
Ursprungs. Doch der Zusammenhang mit Gebärdebewegungen der
Artikulationsorgane ist immerhin häufig genug, um einen Zufall aus-
zuschließen. Übrigens ist derselbe wieder am häufigsten für die Zunge^.
etwas seltener für die übrigen Organe und ihre Tätigkeit nachzu-
weisen^).
1) Vgl. die Worttafel bei W. von Humboldt, Kawi-Sprache, II,
S. 250.
2) Zur Veranschaulichung des oben Bemerkten lasse ich hier eine Zu--
sammenstellung von Wörtern verschiedener Sprachen für die genannten Or-
gane und Tätigkeiten folgen, die ich hauptsächlich Humboldts Kawi-Sprache,
Koelles Polyglotta Africana und Adelung- Vaters „Mithridates" entnehme.
Dieses Material entspricht natürlich in vieler Beziehung, namentlich was die
Schreibung der Laute betrifft, nicht mehr den heutigen Anforderungen. Doch
darf man wohl voraussetzen, daß die hier allein in Betracht kommenden Haupt -
unterschiede der Laute dabei hinreichend zum Ausdruck kommen.
Zunge: Türk. du, Ungar, hyelo. Ja van. liüaty Madec. lela, Polyn. elelOy
Laut gebärden zur Bezeichnung der Artikulationsorgane. 347
Im Unterschied von den gewöhnliclien ,,Lautnaclialimungen",
die sich in sehr vielen Fällen als sprachliche Neubildungen erweisen,
kommen diese unmittelbaren Ausdruckslaute der Sprachorgane gleicher-
weise in älteren wie in neueren Sprachformen vor; sie scheinen daher
ebenso zu den ursprünglichsten wie zu den unvergänglichsten Er-
scheinungen der Sprache zu gehören. Dies erklärt sich wohl aus den
Bedingungen ihrer Entstehung. Können wir nämlich die ,, Schall-
nachahmungen'* und die „Lautbilder" als nachbildende Laut-
gebärden von übereinstimmendem Charakter auffassen, die sich
erst sekundär, durch die Wirkung, die bei der ersteren Form der ge-
hörte Laut auf den Redenden wie Hörenden ausübte, gesondert haben,
so besitzen die Ausdruckslaute für die Artikulationsorgane und ihre
Bewegungen die Bedeutung hinweisender Lautgebärden. Auf
diese Weise ergibt sich eine vollständige Analogie mit den beiden
allgemeineren Klassen der nachbildenden und der hinweisenden Ge-
bärden. Zugleich ist aber im vorliegenden Fall der Unterschied beider
Formen ein relativ geringerer als sonst. Denn die nachbildende Laut-
gebärde erscheint lediglich als eine Übertragung der demonstrativen
Bewegungen der Sprachorgane auf äußere, ebenfalls durch charakte-
Mal. leda, Austral, tullun, Afrik. (Bornu) telam, Südafr. (Basünde) ludtmi, Mo-
zamb. limi.
Mund: Mongol. am, Samoj. namo. Mal. mulut, Afrik. (Fulbe) hüiom, Süd-
afr. (Ründa) mülam, Madec. muluh.
Essen: Chines. nanif Ja van. mangan, Tahit. amw, Madec. human, Surinam.
njarriy Austral. nomang, Südafr. (Susu) nimiu.
Stille sein: Tahit. namu, Fidschi hamu, Peruan. amu, Mpongwe-Indian.
imamUy Hebr. alam.
Blasen: Mal. pupuf, Tongan. huhu, Neuseel. pupu% Austral. iohun, Kafir.
pupma, Galla lufa, Peruan. pumöni, Finn. puTckia, Hebr. päah, Nhd.
pusten.
Für die relative Häufigkeit dieser Ausdruckslaute mag es ein gewisses
Maß abgeben, daß unter den 200 von Koelle (Polyglotta Africana, 1854) auf-
geführten afrikanischen Sprachen nach Ausscheidung aller irgend zweifelhaften
Formen für die Zunge etwa 100, für den Mund bloß 53 als Lautgebärden gedeutet
werden können. Natürlich kommt dabei in Betracht, daß vielfach Wörter
gleicher Abstammung mehreren Sprachen gemeinsam sind. Da dies aber auch
für die abweichenden Wortbildungen gilt, so wird man jenes Maß immerhin als
ein annäherndes betrachten dürfen.
348 Di© Sprachlaute.
ristisclie Bewegungen sich auszeichnende Objekte, so daß hier die
beiden Arten der Lautgebärde die natürlichen und notwendigen Modi-
fikationen einer und derselben Grundform sind, die in gewissem Sinne
nachbildend und hinweisend zugleich ist.
4. Natürliche Lautmetaphern.
Unter einer ,, Lautmetapher" verstehen wir im allgemeinen eine
Beziehung des Sprachlauts zu seiner Bedeutung, die sich dadurch
dem Bewußtsein aufdrängt, daß der Gefühlston des Lautes dem an
die bezeichnete Vorstellung gebundenen Gefühl verwandt ist. Solche
Metaphern sind künstlich, wenn der Dichter oder Eedner die Schall-
färbung und den Ehythmus seiner Worte so wählt, daß sie den Gefühls-
ton des Gedankeninhalts wiedergeben. Dabei kann zugleich die Laut-
metapher ohne scharfe Grenze in die Lautnachahmung übergehen.
So bleibt der homerische Vers (Od. XI, 598): avtig emtxa Ttidovöe
Tivllvöevo läccg ävaiöijg noch im wesentlichen in den Grenzen der
Lautmetapher, die Übersetzung von Voß: ,, Hurtig mit Donnergepolter
entrollte der tückische Marmor" ist aber fast vollständig zur Schall-
nachahmung geworden. In dem Schillerschen Lied von der Glocke
nähern sich die Verse „Von dem Dome schwer und bang tönt die
Glocke Grabgesang" der Schallnachahmung, die Schluß verse ,, Ziehet,
ziehet, hebt, sie bewegt sich, schwebt" enthalten keine Spur einer
solchen, aber sie haben den allgemeinen Charakter der Lautmetapher.
Natürliche Lautmetaphern werden wir nun nach Analogie dieser
Beispiele solche Wortbildungen nennen, die auf dem Wege der natür-
lichen Sprachentwicklung entstanden sind und zugleich eine durch
den Gefühlston des Lautes vermittelte Beziehung zwischen
diesem und seiner Bedeutung erkennen lassen. Während die künst-
liche Lautmetapher, da sie ein gegebenes und an sich im allgemeinen
nicht metaphorisches Lautmaterial verwendet, er^t in größeren Wort-
verbänden und Satzfügungen zur Geltung kommt, haftet die natür-
liche dem einzelnen Worte selbst an. Nun braucht auch eine dichte-
rische Lautmetapher kein Erzeugnis planmäßiger Absicht zu sein,
Natürliche Lautmetaphern. 349
sondern sie kann sich ungesucht darbieten, lediglicli unter der
Wirkung des Triebes, den Ausdruck adäquat der Vorstellung zu
gestalten. Der Gegensatz des ,, Künstlichen" und ,, Na türlichen"
bezieht sich also hier weniger auf die Entstehung der Laut-
metapher selbst als auf die der Spracherzeugnisse, in denen sie
vorkommt. Dieser Unterschied kann dann aber freilich zugleich
den andern mit sich führen, daß die künstliche zu einer absicht-
lichen wird, wie das bei dem angeführten Hexameter von Voß
zweifellos der Fall ist.
Hat schon die künstliche Lautmetapher infolge der Mannig-
faltigkeit der Gefühlsassoziationen der Klänge eine gewisse Unbestimmt-
heit und Vieldeutigkeit, so gilt dies nun in noch höherem Grade von
der natürlichen, da diese dem Laut des einzelnen Wortes an-
haftet, so daß ihr alle die Mittel der Klang Verbindung und des Rhyth-
mus, deren sich poetische Lautmetaphern bedienen, abgehen. Statt
dessen kommt bei ihr durchweg ein anderes Moment zur Geltung,
das im allgemeinen zugleich das einzig sichere Kriterium für ihre Unter-
scheidung von zufälligen oder auf eingeübter Assoziation beruhen-
den Beziehungen zwischen Laut und Bedeutung bildet. Es besteht
darin, daß die natürliche Lautmetapher stets ein Glied in einer Reihe
zusammengehöriger Erscheinungen ist, aus deren Vergleichung erst
der metaphorische Charakter des einzelnen Lautes erschlossen werden
kann. ,, Na türliche Lautmetaphern" setzen also korrelative Ver-
änderungen von Laut und Bedeutung voraus. Die Erscheinungen
sind aber nur dann mit einiger Sicherheit als Lautmetaphern aufzu-
fassen, wenn das einzelne Wort nicht einen isolierten Fall bildet, son-
dern wenn Wörter von etwas abweichendem Laut- und Bedeutungs-
inhalt vorkommen, und die Lautvariation, die dabei beim Übergang
des einen Wortes zum andern stattfindet, mit einem entsprechen-
den Wechsel des sinnlichen Gefühlstons der Laute verbunden ist.
Hierdurch wird sofort eine große Zahl von Wörtern, in denen man
oft mit Vorliebe Lautmetaphern gesehen hat, von diesem Gebiet
ausgeschlossen, weil bei ihnen jenes Kriterium korrelativer Laut-
äriderungen fehlt. Dahin gehören Wörter wie Liehe, Schmerz, lind,
sanft, hart usw. Von andern wie süß, bitter, spitz, stumpf muß es wenig-
stens dahingestellt bleiben. (Vg. oben S. 330.) Auch bei diesen zweifei-
350 Die Sprachlaute.
haften Beispielen sind es aber solche, die, wie süß und hitter^ Gegen-
sätze des Gefühls andeuten, bei denen eine Lautmetapher noch am
wahrscheinlichsten ist^).
Beschränken wir uns nun auf Fälle, in denen das angegebene
Merkmal zutrifft, so können namentlich folgende Erscheinungen mit
Wahrscheinlichkeit als natürliche Lautmetaphern angesehen werden:
1) die Bezeichnungen von Vater und Mutter mit ihren meist den
konsonantischen Bestandteilen dieser Wörter anhaftenden, dem Gegen-
satz des starken und des schwachen Geschlechts entsprechenden Laut-
färbungen; 2) die Lautabstufungen bei Wörtern, die verschiedene
räumliche Entfernungen entweder direkt ausdrücken, wie die
Ortsadverbien, oder stillschweigend enthalten, wie die Demonstrativ-
und Personalpronomina, indem hier in vielen Fällen der größeren
Entfernung der stärkere Laut entspricht; 3) die Lautvariationen bei
Wörtern, die verschiedene Modifikationen einer und der-
selben Tätigkeit bezeichnen, wobei die jedesmalige Lautfärbung
die der Bedeutungsmodifikation entsprechende Gefühlsfärbung
wiedergibt.
a. Lautmetaphern in den Wörtern für Vater und Mutter.
Der großen Analogie zahlreicher und zum Teil weit entlegener
Sprachen in den Namen für Vater und Mutter ist schon oben als eines
Zeugnisses für den Übergang gewisser Naturlaute in die Sprache ge-
dacht worden (S. 327 f.). In den dort erwähnten je vier Typen, fa,
ap, ta, at für den Vater, ma, am, na, an für die Mutter ist aber zu-
gleich ein Lautunterschied ausgeprägt, nach welchem dem stärkeren
Geschlecht der stärkere, dem schwächeren der schwächere Laut ent-
spricht, insofern wir diese Unterscheidungen des stärker und schwächer
für den Gegensatz der labialen oder dentalen Explosivlaute f und t
gegenüber den labialen oder nasalen Kesonanzlauten m und n hier
der Kürze wegen anwenden dürfen. Denn gewiß sind ja diese Bezeich-
nungen auch mit Rücksicht auf den Gefühlston der Laute nicht er-
1) Über die Wörter für süß und bitter in verschiedenen Sprachen vgl. üb-
rigens unten Kap. VIII, Nr. IV.
Natürliche Lautmetaphern.
351
schöpfend, da namentlich die längere Dauer und der klangartige Cha-
rakter der Resonanzlaute ihre Gefühlswirkung wesentlich mitbedingt.
Daß diese Regelmäßigkeit eine zufällige sei, ist wieder durch die Zahl
der Fälle ausgeschlossen. Auch findet sich gelegentlich ein vokalischer
Lautunterschied, der einen ähnlichen Gegensatz auszudrücken scheint,
indem der stärkere Vokal, a oder u, für den Vater, der schwächere e
oder i, für die Mutter charakteristisch ist^).
Für diese Korrelation, die durch die Beschaffenheit der Laut-
gebilde den Gedanken an die Lailaute des Kindes unmittelbar nahe-
legt, sind im allgemeinen drei Erklärungen gegeben worden. Erstens
meint man, der Laut ma sei der frühere und der häufigere unter den
vorsprachlichen Artikulationen des Kindes, darum sei er für die Mutter
gewählt worden, worauf der andere fa allein für den Vater übrig
blieb ^). Diese Deutung scheitert jedoch aus mehreren Gründen.
1) Einige Beispiele aus Buschmanns Tabellen (a. a. 0. S. 14 ff.) mögen
diese Verhältnisse veranschaulichen. Ich wähle die Beispiele so, daß möglichst
die verschiedenen obenerwähnten Fälle in ihnen repräsentiert sind.
Semitisch
Vater: ab
Mutter: am
Asiatisch-europäische Sprachen:
Türkisch Mongolisch Tungusisch Finnisch Baskisch
ata, aha dba ami oeta, atya aita
ana ege aenni enne ama
Afrikanische Sprachen:
Kosah Bechuana Mozambique Suaheli Kongo Galla Hottentottisch
Vater: vao baato tete, tili babe lata aba iip
Mutter: mao naacho mama, amao amowo mama häda mama
Vater:
Mutter:
Amerikanische Sprachen:
Lummi-Ind. Cataquina Kuki Khajin Dakota Cherokee
man payu fall amay atä atoteh
tan nayu noh iney innan atsing
Malaio-polynesische Sprachen:
Javanisch Bugi Madecassisch Tagalisch Neuseeländisch
bapa ama rai, bdha awa matua tane
ma ina reni ina matua wähina
(Elter Mann, Elter Frau).
2) Sütterlin, Das Wesen der sprachlichen Gebilde, S. 3L
Malaisch
Vater: pa, bdha
Mutter: ama
352 Die Sprachlaute.
Zunächst ist es überhaupt nicht richtig, daß der ma-Laut der ur-
sprünglichere und der häufigere sei. Wenigstens gilt das nicht, wenn
man an die Lallaute des Kindes denkt, unter denen ha ha, pa pa, da
da usw.. Laute, die den Vater zu charakterisieren pflegen, weit über-
wiegen^). Sodann müßte nach dieser Theorie notwendig erwartet
werden, daß der ma-Laut als Muttername der frequentere, der pa-
Laut als Vater name der seltenere sei. Wiederum ist aber, wie schon
eine flüchtige Durchmusterung der Vokabularien lehrt, das Gegen-
teil richtig^). Nach einer zweiten Hypothese soll ebenfalls der Mutter-
name der Ausgangspunkt der Unterscheidung gewesen und die Be-
zeichnung des Vaters daher nur als eine zufällige Ergänzung desselben
entstanden sein, der ma-Laut für die Mutter soll aber an die Saug-
bewegungen des Kindes erinnern^). Abgesehen davon, daß die vor-
hin erwähnte größere Häufigkeit des 2?a-Lautes für den Vaternamen
auch mit dieser Interpretation unvereinbar ist, dürfte jedoch die Be-
hauptung, das bald glucksende bald schmatzende Geräusch des trinken-
den Säuglings erinnere an den Laut ma, bei jedem, der Säuglinge be-
obachtet hat, erheblichen Bedenken begegnen. Eher ließe sich, wenn
man einmal zufällige und einseitige Assoziationen zu Hilfe nehmen
will, an die Möglichkeit denken, daß zwar nicht unter den zur Zeit
der Wortbildung vornehmlich in Betracht kommenden Lallworten
des Kindes, wohl aber von frühe an unter den Schreilauten der Laut
ma nicht selten vorkommt. Da könnte dann allenfalls auf die Mutter,
die das schreiende Kind beruhigt, dieser Schreilaut übertragen worden
^) Dies lehren nicht bloß meine eigenen Aufzeichnungen, sondern auch
die Mitteilungen von Preyer u. a. Vgl. z. B. Preyer, Die Seele des Kindes, ^ S. 370 ff.
424 ff. Moore, The Child, p. 116.
2) In Koelles Vokabularien afrikanischer Sprachen, die, wenn sie auch
heutigen lautphysiologischen Ansprüchen nicht mehr völlig genügen, für die
verhältnismäßig rohen Artikulationsunterschiede, um die es sich hier handelt,
einen vergleichenden Maßstab abgeben können, finde ich in einer Gesamtzahl
von 200 Sprachen 158 Fälle des Typus pa oder ta für Vater, und nur 99 Fälle
des Typus ma oder na für Mutter. Im Mutternamen spielt eben die vo-
kalische Dämpfung eine größere Rolle, und sie findet sich bei sonst ab-
weichender Lautbildung auch da, wo der Vatername jenen häufigsten Typen
folgt.
3) Delbrück, Grundfragen der Sprachforschung, S. 78.
Natürliche Lautmetaphem. 353
sein. Mag man das nun immerhin, nach dem Prinzip der Kompli-
kation der Bedingungen, als eine möglicherweise mitwirkende Ur-
sache gelten lassen, für die Gesamtheit der Erscheinungen würde auch
diese Interpretation unzulänglich sein, teils wegen des schon erwähnten
Übergewichts der fa- und ^a-Laute für den Vater, teils weil sie über-
haupt für alle die Fälle nicht zutrifft, in denen die Unterscheidung
ganz und gar dem Gebiet der Vokalbildung angehört, hier aber nicht
minder in einer den Zufall ausschließenden Kegelmäßigkeit in dem
oben angegebenen Sinne zu beobachten ist, wie vor allem im Gebiet
der amerikanischen und zum Teil auch der ural-altaischen Sprachen.
Dies führt zugleich auf die dritte der möglichen Erklärungen, die
jedenfalls den Vorzug hat, daß sie alle Erscheinungen dieses Gebiets
zusammenfaßt und für beide Elternnamen zutrifft, nicht den einen,
und dazu noch den konstanteren, als bloßes Produkt des Zufalls an-
sieht. Ein solcher Zufall wird ohnehin schon dadurch unwahrschein-
lich, daß hier die Lautgebilde selbst zumeist in einer deutlich erkenn-
baren Korrelation stehen. Dabei können dann diese Lautbeziehungen
äußerlich von sehr verschiedener Beschaffenheit sein, während sie
doch in dem psychologischen Charakter der Lautdifferenzierung über-
einstimmen. Lautgebilde wie yafa und mama auf der einen, ama
und ina auf der andern Seite sind ja an sich außerordentlich ver-
schieden. Aber in einer dem zweiten Wort eigenen Schwächung des
Lautes stimmen sie überein. Und da nun diese Form sich begleitender
Veränderungen nicht auf w^enige Fälle beschränkt ist, sondern in einer
großen Zahl der lebenden Sprachen wiederkehrt, so haben wir allen
Anlaß, einen psychologischen Grund zu vermuten. Hierbei isb je-
doch zu bedenken, daß nicht das Kind, sondern die erwachsene Um-
gebung im Verkehr mit dem Kinde auch diese Lautdifferenzierung
geschaffen hat, da gerade die Namen für Vater und Mutter, wie schon
Preyer bemerkte, nachweislich immer erst von außen dem Kinde
dargeboten und von ihm meist nur allmählich richtig angewandt
werden^). Eben darum nehmen nun diese Namen an jenem allgemeinen
Zug zu onomatopoetischen Bildungen teil, die weder das Kind noch
1) Preyer, Seele des Kindes, 3 S. 353. Vgl. oben S. 288 ff.
W u n ä t , VölterpBychologie. 1. 4. AbA. 23
354 I^iö Sprachlaute.
der Erwachsene für sich zustande bringen würde, die sich aber mit
instinktivem Zwang als eine natürliche Ausdrucksform einstellen,
wo sich die Umgebung des Kindes diesem unter Benutzung seines
Lautmaterials verständlich machen will. Wo eine eigentliche Laut-
nachahmung nicht zu Gebote steht, da greift dann die Mutter oder
Amme zur Lautmetapher, das heißt zu Lautbildern, die zu den Gegen-
ständen selbst keine objektiven Beziehungen bieten, denen aber eine
dem Unterschied der Objekte entsprechende Verschiedenheit des
Gefühlstons eigen ist. Somit ist die Entstehung der Bezeichnungen
für Vater und Mutter kein spezifischer Ausnahmefall, sondern sie
zeigt nur in einer stabil gewordenen Form eine Erscheinung, die sich
in einer vergänglicheren Weise in den fortwährend entstehenden und
verschwindenden Lautmetaphern der Kinderstube unter unsern
Augen ereignet. In dem Verkehr zwischen Mutter und Kind hat jeder
Sprachlaut seinen Gefühlston, mag er nun in die vorgefundenen Wörter
hineingelegt werden, oder mag er in neuen Lautbildungen sich Luft
machen.
b. Lautmetaphern in Ortsadverbien und Pronominal-
formen.
Isc die vokalische Lautabstufung bei der Unterscheidung von
Vater und Mutter eine seltenere Lautmetapher, so scheint sie
dagegen bei der Unterscheidung der Ortsbegriffe entschie-
den vorzuwalten. Sie besteht hier in einer Korrelation
zwischen Lautsteigerung und Zunahme des Raumes.
Besonders die Sprachen der primitiven Kulturvölker zeigen
diese Erscheinung in augenfälliger Weise, während sie z. B. in den
semitischen und indogermanischen Sprachen entweder ganz fehlt
oder sich jedenfalls der sicheren Nachweisung entzieht. Ahnlich
den Ortsadverbien „hier" und ,,dort" verhalten sich in dieser
Beziehung die Demonstrativpronomina ,, dieser" und ,, jener".
Wie der entferntere Ort, so wird die entferntere Person durch
Steigerung des Vokaltons ausgedrückt, wobei durchweg a, o und u
als die stärkeren, e und i als die schwächeren Vokale erscheinen.
Natürliche Lautmetaphem. 355
Daneben kommen dann auch konsonantische Lautverstäikungen
vor^).
Augenfällige Zeugnisse für das Vorkommen natürlicher Laut-
metaphern in diesen Fällen liefern die Sprachen mancher Natur-
völker, namentlich da, wo sich in ihnen eine mehrfache Abstufung
solcher Unterschiede ausgebildet hat, eine Erscheinung, die nicht
ganz selten vorkommt, und die durchaus der konkreten Form des
Denkens in diesen Sprachen gemäß ist. So finden sich in den poly-
nesischen Sprachen im allgemeinen drei Ortsabstufungen mit den
Stammsilben ni, nei, na und m; nur in einzelnen dieser Sprachen
haben sich aber alle drei Abstufungen erhalten. Ebenso verhält es
sich mit dem Demonstrativpronomen, wo das Neuseeländische die
Steigerungsformen tenei, tena, tera (oder enei, ena, era), ,, dieser", ,, jener
hier", ,, jener dort", besitzt, die wieder nichts anderes als pronominale
ümwandlungsformen der drei Ortsadverbien nei, na, ra sind (,,hier",
„dort", „dort in der Feme" oder, von der Zeit gebraucht, „damals").
Das Tahiti hat dafür die drei Stufen teie ,, dieser", teienei „dieser dort"
1) Das folgende Verzeichnis mag diese Sätze veranschaulichen.
Ortsadverbien
Madecassisch Tahitisch Tagalisch Japanisch Dhimalisch Ossetisch
hier:
io
io nei
dito
ko ita
am
dort:
ao
ia na
taon
ka Uta
um
Suluanisch
Sahaptinisch
Mutsunisch
Tarahumaranisch
Vai
hier:
aya
kina
ne
ihe
nt
dort:
apo .
kuna
nu
ale
nu
Demonstrativpronomina:
Javanisch Neuseeländisch Tagalisch Tamulisch Dhimalisch Soso
dieser: iki tinei dini i iti yo
jener: iku tera yari a uti na
Mande Vai Jorubanisch Abchassisch Magyarisch
dieser: nyin me na dbri ez
jener: wo ke ni uhri az
23*
356 I^ie Sprachlaute.
und taua ra „jener*' ^). Der Übergang von der ersten zur zweiten Stufe
wird also meist durch Vokalsteigerung, der von der zweiten zur dritten
durch konsonantische Verstärkung vermittelt. Ebenso besitzen die
Sudan- und die Bantusprachen für die Abstufungen der Orts- und der
Personenbezeichnung zumeist Vokalsteigerungen, zuweilen aber auch
Konsonantenverstärkungen: z. B. für ,, dieser" und ,, jener" im Soso
yi und na, im Mande nyin und wo, dagegen im Vai me und he; für ,,hier"
und ,,dort" hat das letztere wieder verschiedene Abstufungen, näm-
lich nie und nu, oder auch nume, nume und nuro^). In den Bantu-
sprachen hat im allgemeinen das Pronomen der ersten Person den hohen,
das der zweiten den tiefen Ton (m^ und Jeu), und das ähnliche findet
sich meist bei dem nach drei Entfernungen abgestuften Demonstrativ-
pronomen; doch werden hier die Erscheinungen zum Teil durch Vor-
gänge des Lautwandels modifiziert^). Nicht minder ausgeprägt finden
sich diese Vokalabstufungen in den hami tischen Sprachen. In der
Regel bezeichnet dabei i die kleinste, a eine mittlere und u die größte
Entfernung*). Wo die Tonmodulation vorherrscht, wie in den Sudan-
sprachen, kann in solchen Fällen der Klangcharakter des Vokals der
gleiche bleiben und nur die Tonhöhe in entsprechendem Sinne wechseln.
Alle diese Erscheinungen zeigen freilich zugleich, daß die Gefühls-
betonungen der Laute keine konstanten, in allen Sprachen über-
einstimmenden Werte sind. Auch können sie durch Akzent und Dauer
der Laute sowie durch die sonstigen Bedingungen des Lautwandels
Abänderungen erfahren. Darum kann hier immer erst eine größere
Zahl parallel gehender Variationen von Laut und Bedeutung eine
entsprechende Lautmetapher wahrscheinlich machen. Auch sind
die Lautabstufungen des Personalpronomens wohl ebenfalls den räum-
lichen Entfernungsunterschieden zuzuordnen. Doch dürfte zuweilen
noch ein anderes Moment mitwirken, das der Lautmetapher ihren
eigenartigen Charakter verleiht. Auffallend häufig kommen nämlich
1) Buschmann in Humboldts Kawi- Sprache, III, S. 819. Fr. Müller, Grund-
riß der Sprachwissenschaft, II, 2, S. 29.
2) Steinthal, Die Mande- Negersprachen, S. 81 ff.
3) Meinhof, Grammatik der Bantusprachen, 1906, S. 35 ff.
*) Meinhof, Archiv für Anthropologie, N. F., Bd. 9, 1910, S. 198.
Natürliche Lautmetaphern.
357
für das „Ich'' die Resonanzlaute, namentlich der labiale m, in
sonst gänzlich stammesfremden Sprachen vor. Da schon der Natur-
mensch nach weitverbreiteten animistischen Vorstellungen sein Ich
in das Innere seines Körpers verlegt, so mag der bei verschlossenen
Lippen hervorgebrachte Laut hier als eine natürliche Lautmetapher
für das Ich empfunden werden. In einzelnen Fällen, wie z. B. im
Lateinischen, Griechischen, Deutschen, ist der labiale Resonanzlaut
aus der Nominativform verschwunden, während er im Akkusativ
erhalten blieb (ego — me, ich — mich). Diese Lautanalogien haben
bisweilen einen genealogischen Zusammenhang der Sprachen oder
eine äußere Übertragung vermuten lassen. Wenn aber die Laut-
abstufungen ma, ta, sa, mit denen das Sanskrit das Ich, Du und Er
bezeichnete, mit dem Hebräischen ani, attu, hu, dem mon, ton, son
des Lappen, dem an, ad, u (ai) des Somali und mit den gleichen Formen
noch vieler anderer Sprachen analoge Variationen darbieten, so kann
namentlich in den letzteren Fällen weder an ursprüngliche Verwandt-
schaft noch selbst an eine frühe Übertragung gedacht werden^). Denn
das Ich und das Du (für die dritte Person tritt zumeist ein Demon-
strativpronomen ein) gehören überall zu den frühesten Bestandteilen
der Sprache. Auch ist der wirkliche genealogische Zusammenhang,
wie er z. B. die verschiedenen indogermanischen Sprachen verbindet,
1) Die folgende Übersicht, ein kurzer Auszug aus den Paradigmen in Fr.
Müllers Grundriß der Sprachwissenschaft, mag dies veranschaulichen.
Sanskr. Hebräisch Somali Lappisch Türkisch Mandschu Mongolisch
ma {äham) ani an mon hen hi ben
ta {twam) atta ad ton sen si isehi
sa hu u {ai) son öl tere tere
Tumelisch Madecassisch Hawaiisch Javanisch Südaustralisch Loango Kongo
'iigi ahu au haku ngai i meno
ninna u nge
pa ha oyandi
ngo
ano
ko}>
kowe
ngu
iza
ja
hiya
Amakosa
Mande
Lenni-Lennape
Sahaptin
mina
en
ni
in
ivena
i
ki
im
Jena
a
neka
ipi
358 Die Sprachlaute.
von der wahrsclieinlicli nur durcli übereinstimmende Lautmetaphern
vermittelten Analogie olme weiteres zu unterscheiden. Dort tritt uns
eine eigentliclie Lautverwandtschaft, hier bloß eine analoge Abstufung
der Laute bei im übrigen meist völliger Verscbiedenlieit entgegen.
Poch ist anzuerkennen, daß diese Regel der Lautabstufung beim per-
sönlichen im ganzen häufiger als beim hinweisenden Pronomen von
Ausnahmen durchkreuzt wird. Dies mag, abgesehen von den sonstigen,
namentlich im Lautwechsel gelegenen Bedingungen, teilweise schon
aus der soeben berührten Komplikation verschiedener Lautmetaphern
zu erklären sein. Vor allem aber ist zu bedenken, daß die hier überall
zugrunde liegende räumliche Entfernungsanschauung beim Demon-
strativum eine weit unmittelbarere ist als bei dem Personale, bei dem
sie wohl erst durch eine Assoziation mit jenem zustande kommt.
Übrigens muß auch hier betont werden, daß einzelne Beispiele, die
sich dem Prinzip der Lautmetapher nicht fügen, in allen diesen Fällen
nicht als Gegeninstanzen gelten können. Eine ausnahmslose Über-
einstimmung würde angesichts der Komplikation verschiedener und
zum Teil widerstreitender Bedingungen eine absolute Unmöglich-
keit sein. Wenn im Hebräischen eine sonst weitverbreitete Laut-
metapher vorkommt, die das Assyrische nicht hat, so hört darum jene
nicht auf, eine Lautmetapher zu sein; gerade so wenig, wie für uns
das Wort donnern aufhört eine Schallnachahmung zu sein, weil das
stammverwandte Wort in andern indogermanischen Sprachen keine
solche ist. Es gibt zweifellos ursprüngliche, und es gibt ge-
wordene Schallbilder und Lautmetaphern, und diese gewordenen
können ebensogut Neubildungen wie Ableitungen aus alten Wort-
stämmen sein, in denen solche Beziehungen noch nicht vor-
handen waren ^).
1) Danach kann ich auch die von P. W. Schmidt (Mitteilungen der An-
thropologischen Gesellschaft in Wien, Bd. 33, 1903, S. 369) beigebrachten Gegen-
beispiele nicht als richtig anerkennen.
Natürliche Lautmetaphern. 359
c. Korrespondierende Laut- und Bedeutungsvariationen
bei Eigenschafts- und Tätigkeitsbegriffen.
Eine dritte Reihe hierher gehöriger Erscheinungen besteht in
Lautvariationen stammverwandter Wörter bei intensiven oder quali-
tativen Abstufungen von Eigenschafts- und Tätigkeitsbegriffen.
Dabei ist eine Lautmetapher an dem ursprünglichen Wortstamm in
der Regel nicht zu erkennen. Aber die von dieser anscheinend in-
differenten Grundlage ausgehenden Lautvariationen lassen sie deut-
lich hervortreten. Belehrende Beispiele bietet hier das Gebiet der
Sudansprachen, und wiederum sind es die Vokale, die je nach Klang-
farbe oder Tonhöhe die Bedeutung in ähnlichem Sinn modifizieren
wie beim Demonstrativum. So bedeutet im Ewe ein Adjektiv mit
Tiefton und mit verlängertem Vokal gesprochen einen großen, im
Hochton und mit verkürztem Vokal einen kleinen Gegenstand^).
Mit Recht hat schon Meinhof darauf hingewiesen, daß wir uns un-
willkürlich der gleichen Lautvariation bedienen, wenn wir einem
Kinde Geschichten erzählen, in denen Riesen oder große Tiere und
Zwerge oder kleine Tiere vorkommen. Der Naturmensch, dessen
Denken überall ein anschauliches und in diesem Sinne kindliches
ist, fixiert ohne weiteres in der allgemeinen Sprache, was wir erst in
diesem besonderen Fall, wo wir uns der kindlichen Anschauung an-
passen wollen, in sie hineinlegen. Doch wenn Meinhof diese Laut-
variation darauf bezieht, daß große Menschen und Tiere ciefen, kleine
hohen Stimmton besitzen, so mag das wohl als schwache Assoziation
mitwirken, — der Hauptsache nach wird man aber auch hier den
Wechsel auf den kontrastierenden Gefühlston zurückführen müssen,
der die Vorstellungen begleitet^). Der Menschenfresser wird weniger
deshalb mit Tiefton geschildert, weil er ungewöhnlich groß ist — das
braucht er nicht einmal notwendig zu sein — sondern weil er Furcht
erweckt, und von den Feen und Elfen wird im Hochton erzählt, ohne
daß man sie sich kleiner als andere Frauen denkt. Auch hat man bei
diesem Parallelgehen des Ausdrucks für groß und klein mit dem für
1) B. Westermaim, Grammatik der Ewe- Sprache, 1907, S. 44.
2) Meirihof, Die moderne Sprachforschung in Afrika, S. 8L
360 Die Sprachlaute,
fern und nahe wohl eher an eine unmittelbare räumliche Assoziation
als etwa daran zu denken, daß die Stimme des Riesen erst auf seine
Größe und dann diese auf die große Raumentfernung übertragen
worden sei. Dieser Beziehung zum Affekt der Furcht, des Grauens
auf der einen, des Heitern oder Komischen auf der andern Seite ent-
spricht es denn auch, daß analoge Lautvariationen für andere gegen-
sätzliche Eigenschaften, wie z. B. für einen angenehmen und einen
unangenehmen Geruch, für süß und bitter, weich und hart usw., nicht
selten sind, und daß endlich, wie wir sogleich sehen werden, in den
gleichen Sprachen die Gegensätze hoher und tiefer Töne dem Aus-
druck der Tätigkeit und des Leidens dienen i). In der Tat bieten die
Verbalformen in den verschiedenen Bedeutungswandlungeri, die bei
ihnen ein und derselbe Verbalstamm erfahren kann, besonders günstige
Angriffspunkte für solche einander parallel gehende Variationen von
Laut und Bedeutung. Sie sind hier zuerst auf indogermanischem Sprach-
gebiet von A. F. Pott beobachtet und unter dem Namen der ,, Wurzel-
variation" beschrieben worden^). Manche dieser Erscheinungen reichen
in das Gebiet der eigentlichen Lautgebärden. Doch können in der
nämlichen Wortreihe Variationen vorkommen, bei denen wohl nur
eine natürliche Lautmetapher vorliegt. So gibt es eine Anzahl so-
genannter indogermanischer Wurzeln, die mit dem Laute hr beginnen
und sämtlich den Begriff des Geräusches in irgendeiner Weise mo-
difiziert ausdrücken. Kommt noch der explosive Auslaut k hinzu,
so wird daraus der Begriff des lauten Geräusches; die einzelnen
Modifikationen dieses letzteren werden dann durch die verschiedenen
vokalischen Inlaute ausgedrückt: krak das plötzliche laute Geräusch
(z^a^w krächzen), krauk den dauernden, dumpferen lauten Schall
(y.Qavyri Lärm), krik den scharfen eindringenden Laut {kqI^co kreischen,
schwirren). Alle diese Formen lassen sich zugleich als ,, Lautnach-
ahmungen" deuten. Sie verhalten sich ähnlich etwa unseren deutschen
Wörtern schnarren^ schnurren, schwirren u. a. Die nämliche Erschei-
nung begegnet uns, zugleich in ihren mannigfachsten Übergängen
^) Westermann, a. a. O., S. 130.
2) Pott, Etymologische Forschungen, 1,2 S. 27, 169. II,^ S. 22.
Natürliche Lautmetaphem. 361
zwischen direkter Lautgebärde und Lautmetapher, in den semi bischen
Sprachen. Die Laut Variation besteht hier in einem Wechsel des Aus-
lauts der in diesen Sprachen in der Regel zweisilbigen Wortstämme ^).
So in der folgenden Wortreihe: "para lösen, parad trennen, parat von
sich werfen, param teilen, paras zerstreuen, paraz ausbreiten, parak
brechen, parar spalten. Die Beziehung zwischen Laut- und Bedeu-
tungsvariation ist augenfällig; aber von einer eigentlichen Laut-
nachahmung läßt sich nur selten reden. Höchstens findet sich inso-
fern eine direkte Beziehung, als die dauerndere Tätigkeit durch einen
dauernderen, die intensivere durch einen stärkeren Laut ver sinnlicht
wird. So stehen sich z. B. parad trennen und parak brechen, sarak
ausbreiten und sarak aussprengen, parad trennen und parar spalten,
^arab rauh sein und garar schnarren, gaal wegwerfen und gaar zurück-
stoßen gegenüber. Nun läßt sich wohl sagen, das explosive k im Aus-
laut mache im Vergleich mit andern Lauten den Eindruck des Plötz-
lichen, Gewaltsamen, der Zitterlaut r den einer intensiven, dauernden
oder sich wiederholenden Tätigkeit. Dennoch handelt es sich dabei
offenbar um die Übertragung anderweitiger Sinneseindrücke in die
Lautform oder vielmehr in eine Lautgebärde, die entsprechende Modi-
fikationen der Lautform hervorbringt. Diese Übertragung beruht
aber in erster Linie auf der Verwandtschaft des den Eindruck und des
die Lautgebärde und den Laut begleitenden Gefühlstons, einer Asso-
ziation, die wir oben als die wesentliche Bedingung der natürlichen
Lautmetapher kennen lernten (S. 348).
Neben diesen, der indogermanischen „Wurzelvariation" an
die Seite zu stellenden Variationen des Auslautes besitzen übrigens
die semitischen Sprachen noch eine zweite mit der AVortflexion ver-
bundene Form von Laut Variation, die teils zu den Präfixbildungen,
*) Eingehend hat auf diese Gruppen zusammengehöriger Wortstämme
Oesenius hingewiesen in seinem „Ausführlichen Lehrgebäude der hebräischen
Spräche'S S. 183 ff., vgl. Hebr. Grammatik, i* S. 71. In jedem hebräischen
Lexikon fallen diese zusammengehörigen dreikonsonantigen Wortstämme
in die Augen. Es versteht sich übrigens von selbst, daß auch hier
der onomatopoetische Charakter von der Frage des Ursprungs ganz unab-
hängig ist.
362 Die Sprachlaute.
teils zu den Umlauterscheinungen gehört, während sie im Hinblick
auf die Kichtung der Lautänderungen wohl zugleich den Lautmeta-
phern zugezählt werden kann: es sind dies jene Konjugationsformen,
welche die verschiedenen Arten einer Handlung, die reflexive, passive,
kausative, iterative, bezeichnen. Diese Formen des sogenannten
Niphal, Fiel, Pual, Hiphil, Hophal, Hitpael usw. verraten zum großen
Teil schon in ihren den einzelnen Flexionen des hebr. Verbums päal
entnommenen Benennungen eine metaphorische Beziehung zwischen
Laut und Bedeutung; und wo diese bei einzelnen Formen undeut-
licher ist, wird sie durch deren Einordnung in die Keihe wahrschein-
lich. Zwei direkt auf die Veränderung des begleitenden Gefühls hin-
weisende Mittel sind es nämlich, die hier zur Anwendung kommen:
erstens die Erhöhung und Vertiefung des Vokaltons, von denen jene
einer erregenden, diese einer herabstimmenden Gefühlswirkung ent-
spricht; und zweitens Verstärkungen des Anlauts durch Präfixe.
Diese drücken im allgemeinen eine verstärkende, dabei aber je nach
der Beschaffenheit der Verbindung wechselnde Modifikation der Be-
deutung, namentlich eine reflexive oder kausative oder eine Vereinigung
beider, aus. Am klarsten tritt hier die natürliche Lautmetapher in
der Erhöhung und Vertiefung des vokalischen Inlauts hervor, während
sich bei den mit Präfixen versehenen Formen dazu noch eine Art hin-
weisender Lautgebärde zu gesellen scheint. So enthält das Piel den
reinen Begriff der Verstärkung und Wiederholung der Handlung,
z. B. schüal bitten, schiel betteln; im Pual ist im Gegensatze dazu der
Begriff des Leidens ausgeprägt: käfal schlagen, kuttal geschlagen wer-
den. Besonders diese das Passivum charakterisierende Tonvertiefung
ist übrigens w^eit verbreitet auch in den hamitischen, den Bantu- und
Sudansprachen. Sie bildet so die dritte Parallele zu den Gegensätzen
des Hoch- und Tieftons und ist hier am nächsten dem Kontrast des
Furchtbaren, Unheimlichen und des Erfreulichen, Heitern verwandt^).
1) MeJnhof, Archiv der Anthropologie, N. F., Bd. 9, S. 189 f. Ebenda
Beispiele von Laut Variationen noch für weitere Modifikationen des Verbal-
begriffs. So wird im Haussa ein i an ein Verbum actionis angehängt, wenn
eine Bewegung vom Redenden weg, ein o, wenn sie auf ihn zu stattfindet,
eine Unterscheidung, die wiederum auf die der räumlichen Entfernungen durch
die gleichen Vokale zurückgeht.
Natürliche Lautmetaphem. 363
Das Niphal stellt an dem andern Ende dieser Formenreihe : es ent-
hält bloß die als Präfix hinzugefügte Lautgebärde, ohne Änderung
des vokalischen Inlauts: satar verhüllen, nistar sich verbergen. Eine
Kombination beider Ausdrucksmittel findet sich im Hiphil und Hit-
pael, von denen das erstere im allgemeinen rein kausativ ist: kadasch
heilig sein, hikdisch heiligen, für heilig erklären; das zweite reflexiv
und kausativ zugleich: hitkadesch sich heiligen. Daneben steht die
Form des Hophal, die wiederum die passive Bedeutung durch die
Vertiefung des Vokaltons anzeigt: hokdasch geheiligt werden. Außer
diesen Formen, in denen sich Lautmetapher und Lautgebärde direkt
zu verbinden scheinen, fehlt es endlich nicht an solchen, in denen
eine reine Lautnachahmung hervortritt. So bei gewissen selteneren
Konjugationen, die eigens dem Ausdruck rasch sich wiederholender
Bewegungen dienen und daher auch nur bei den zu einer solchen Bil-
dung herausfordernden Verbalstämmen vorkommen. Hierher gehören
z. B. die Formen des semitischen Palpel: von zalal klingen zilzel
klingeln, von gara ziehen (den Atem) gargar gurgeln. Diese Erschei-
nungen zeigen deutlich, daß die Einordnung einer Verbalform in ein
allgemeingültiges Flexionsschema die Mitwirkung onomatopoetischer
Motive keineswegs ausschließt, sondern daß auch hier die Geltung
des Prinzips des Zusammenwirkens mehrfacher Ursachen bei kom-
plexen Wirkimgen wahrscheinlicher ist als das Gegenteil. So könnte
es z. B. sehr wohl sein, daß das hebr. Pual zunächst durch eine rein
äußere Ursache den tiefen Inlaut gewonnen hat^). Aber wenn nun
dieser auch auf alle andern passiven Formen übergegangen ist (Hophal,
Hotpael), für die sich eine solche äußere Ursache nicht nachweisen
läßt, so würde immer noch ein an die passive Bedeutung als solche
gebundener Grund dieser Ausdehnung wahrscheinlich sein. Ebenso
kann man wohl bezweifeln, ob garah ziehen an und für sich schon
onomatopoetisch sei; daß gargar gurgeln eine w^irkliche Lautnach-
^) In der Tat wird im Ägyptischen das Passiv durch Suffigierung von
ut oder tu gebildet, woraus möglicherweise durch Eindringen des u in den
Wortkörper die Form des Pual entstanden sein kann. (Fr. Müller, Grund-
riß, 111,2, S. 271. P. W. Schmidt, Mitteilungen der Anthropol. Ges. in Wien,
Bd. 33, 1903, S. 371.)
264 Die Sprachlaute.
ahmung ist, wird man schwerlich bestreiten. Man wird demnach
auch annehmen dürfen, daß das psychologische Motiv zur Entstehung
der Palpel-Yoim. in diesem Fall eben die onomatopoetische Wirkmig
selbst gewesen sei.
Die zuletzt angeführten Beispiele bilden zugleich treffende Be-
lege für den allgemeinen Zusammenhang zwischen den natürlichen
Lautmetaphern und den eigentlichen Lautnachahmungen oder, wie
wir sie nach dem früher Gesagten besser nennen, zu den nachahmen-
den und hinweisenden Lautgebärden. Bei den Palpelformen
des Semitischen sind die Bewegungen der Artikulationsorgane so
treue Nachbildungen der gesehenen und gehörten Schallbewegungen,
daß der Laut von selbst zur Lautnachahmung werden kann. Aber
nur selten fordern die äußeren Eindrücke unmittelbar zu ihrer Nach-
bildung heraus. Dann bleibt gleichwohl eine hinweisende Laut-
gebärde möglich, und sie tritt naturgemäß auf, sobald die Handlung
durch ihre Beschaffenheit zu einem Hinweis anregt. Diese Bedingung
ist nun in besonderem Grade bei den reflexiven und kausativen Formen,
bei denen vorzugsweise hinweisende Präfixe vorkommen, erfüllt.
Daß z. B. die Handlungen des Sichverbergens, des Heiligsprechens,
in ganz anderem Maß einen Hinweis veranlassen, als die des Ver-
hüllens, des Heiligseins, ist augenfällig. Hierzu kommen endlich noch
Modifikationen der Bedeutung, zu deren Ausdruck weder nachahmende
noch hinweisende Lautgebärden zur Verfügung stehen, die sich aber
um so entschiedener durch ihren eigentümlichen Gefühlston aus-
zeichnen. Dahin gehört namentlich einerseits die Steigerung einer
Handlung, wie sie entweder unmittelbar durch intensivere Aktion
oder mittelbar durch Wiederholung der nämlichen Tätigkeit hervor-
gebracht werden kann, und anderseits die Umkehrung dieses Vor-
ganges, das Leiden, das durch das Erdulden einer Handlung entsteht.
Hier beginnt das Gebiet der reinen natürlichen Lautmetaphern, die
nun durch die Gegensätze der Erhöhung und der Vertiefung des Vo-
kaltons ausgedrückt werden können. Als bloße Empfindungen, ohne
Rücksicht auf das begleitende Gefühl betrachtet, haben diese Ver-
änderimgen gerade so wenig eine Beziehung zu den entsprechenden
Variationen der Bedeutung, wie hohe Töne zu hellen Farben und
tiefe Töne zu dunkelm Lichte. Hier wie dort wird diese Beziehunj;
Natürliche Lautmetaphern. 365
erst durch die Gefühle vermittelt, welche die Empfindungen begleiten,
und in beiden Fällen handelt es sich in der Tat um die gleichen Gegen-
sätze der erregenden und deprimierenden Gefühle. Die inten-
sivere oder wiederholte Tätigkeit wirkt erregend, der Zustand des
Leidens niederdrückend. Beide finden so in Lautartikulationen ihren
natürlichen Ausdruck, die sich schon im Gebiet der ursprünglichen
Naturlaute, bei den primären Interjektionen, in der verschiedenen
Vokalfärbung kundgeben (S. 319f.). Wie sich der Zuruf, der auf einen
starken Sinneseindruck reagiert und eventuell die Aufmerksamkeit
eines andern auf den nämlichen Eindruck lenken soll, in hohen und
hellen, der verhaltene Schmerz in tiefen und dumpfen Vokaltönen
äußert, so wird, wenn auch in abgedämpfterem Maße, infolge der
nämlichen Assoziationen der Gefühle der hohe Vokalton zum Aus-
druck des Intensiven und Iterativen, der tiefe zu dem des Passiven.
Diese reinen Gefühls änderungen der Laute vermischen sich dann,
ohne daß ein Unterschied zwischen diesen Ausdrucksmitteln zum
Bewußtsein kommt, mit den Lautgebärden, wie das so charakteristisch
die gemischten Formen des Hiphil, Hophal, Hitpael usw. zeigen.
Kommt doch auch bei ihnen in dem Präfix, das als Wirkung einer
demonstrativen Lautgebärde aufgefaßt werden kann, neben dem Hin-
weis noch die Steigerung und Vertiefung des Vokaltons in der Unter-
scheidung der aktiven und passiven Form zur Geltung. So müssen
wir uns denn überhaupt vorstellen, daß alle diese Miotel des Ausdrucks,
Lautgebärden verschiedener Art und Lautmetaphern, nicht in der
Wirklichkeic, sondern nur in unserer unterscheidenden psycholo-
gischen Abstraktion voneinander zu sondern sind. Wie diese Aus-
drucksmittel ohne Wahl und Überlegung, rein triebmäßig zur An-
wendung kommen, als Reaktionen, die von selbst den Eindrücken
folgen, weil eine natürliche psychologische Affinität die Ausdrucks-
bewegungen mit den sie erregenden Reizen verbindet, so kommt es
auch in dem unmittelbaren Bewußtsein niemals zu einer Unterschei-
dung der verschiedenen psychologischen Bedingungen, unter denen
jene Affinität steht. Vielmehr erscheinen Lautgebärden und natür-
liche Lautmetaphern gleicherweise unmittelbar als adäquate Reak-
tionen auf den Eindruck. Durch dieses Verhältnis rechtfertigt sich
nun auch die Bezeichnung ,, natürliche Lautmetaphern" für die zu-
366 Die Sprachlaute.
letzt erörterte Gruppe von Erscheinungen. Dem allgemeinen Begriff
der ,, Metapher" fügen sie sich deshalb, weil sie einerseits durch Gefühls-
assoziationen vermittelte Übertragungen des Eindrucks auf ein an-
deres Sinnesgebiet, nämlich direkt auf das der Artikulationsempfin-
dungen, und dann weiterhin indirekt auf das der Schallempfindungen
sind, und weil anderseits durch diese Übertragung die Gefühlswirkung
des Eindrucks verstärkt wird — zwei Merkmale, die der Metapher
auch in ihren „künstlichen" Formen eigen sind^). ,, Natürlich" ist
aber die ursprüngliche Lautmetapher deshalb, weil sie unter der un-
mittelbaren Wirkung der natürlichen Motive der Ausdrucksbewegungen
entsteht, indem sie die Lautgebärde je nach Umständen ergänzt oder
verstärkt, ohne daß ein bestimmtes Bewußtsein ihres Unterschieds
von dieser und der stattfindenden Übertragung auf ein anderes Sinnes -
gebiet besteht. Diese Bedingungen bringen es dann freilich auch mit
sich, daß die natürliche Lautmetapher Wirkungen entfaltet, die von
denen der poetischen Metapher weit abliegen, und auf denen eben
ihre die nachahmenden und hinweisenden Gebärden ergänzende Be-
deutung beruht. Indem sie nicht bloß, wie die poetische Metapher,
der intensiveren Gefühlsbetonung einer im allgemeinen schon ohne
sie vorhandenen Vorstellung dient, sondern als unmittelbare Reaktion
auf einen Eindruck entsteht, erweckt sie durch ihre Assoziation mit
diesem überhaupt erst die Vorstellimg. So wird sie ein natürliches
Ausdrucksmittel, nicht bloß, wie die poetische Metapher, ein Ver-
stärkimgsmittel des Denkens. Als ein solches Ausdrucksmittel ver-
mengt sie sich aber imterschiedslos mit den hinweisenden und nach-
ahmenden Gebärden der Sprachorgane, von denen sie sich eben nur
dadurch unterscheidet, daß bei ihr die Gefühlsassoziation wegen ihrer
fast unbeschränkten Beziehungen auch für solche Vorstellungen ad-
äquate Ausdrucksformen liefert;, die den eigentlichen Lautgebärden,
den hinweisenden wie den nachahmenden, unzugänglich sind.
1) Vgl. Kap. VIII, Nr. V.
Psychologische Entstehung der Lautgebärden und Lautmetaphem. 367
5. Psychologische Entstehung der Lautgebärden
und Lautmetaphern.
Gegen diese Betrachtungen bleiben, wenn man von der offen-
bar unwahrscheinliclien Annahme absieht, daß es sich hier überall
nur um Spiele des Zufalls handle, zwei Einwände, die in der Tat
in den Augen vieler gewichtig genug gewesen sind, um dem ganzen
Gebiet der Naturlaute, der Lautnachahmungen und der Lautmeta-
phern zwar ein gewisses Recht einzuräumen, dieses aber zugleich
so zu beschränken, daß es für die Probleme der Entstehung und Ent-
wicklung der Sprache kaum in Betracht kommt. Der erste Einwand
besteht in dem verhältnismäßig späten und darum möglicherweise
sekundären Ursprung mancher dieser Erscheinungen. Der zweite
beruft sich auf die weit überwiegende Zahl sprachlicher Formen, bei
denen irgendeine Beziehung zwischen Laut und Bedeutung über-
haupt nicht nachzuweisen ist. Daß der erste Einwand für viele Fälle
zutrifft, für andere wenigstens nicht unbedingt zurückgewiesen wer-
den kann, wurde schon hervor^hoben (S. 330 f.). Wortstämme,
die jetzt für uns in deutlicher Lautaffinität zueinander stehen,
können diese erst durch sekundäre Veränderungen erlangt haben;
und andere Erscheinungen sind zwar alt, aber nicht ursprünglich,
da sie verwandten Sprachen fehlen. Offenbar handelt es sich
also hier überall um sekundäre Bildungen. Gleichwohl beruht
dieser ganze Einwand teils auf einer Verkennung der wirklichen
Natur der psychogenetischen Sprachprobleme, teils auf einer
irrigen Abschätzung der Bedeutung, die den heute oder in
näherer geschichtlicher Vergangenheit nachweisbaren Tatsachen für
die Beurteilung früherer, unserer Beobachtung entzogener Vor-
gänge zukommt. Die Bedingungen, von denen die Beziehungen
der Laute zu ihren Bedeutungen abhängen, lassen sich der Natur
der Sache nach mit einiger Sicherheit nur an den lebenden
oder an den für uns in zureichenden Überlieferungen lebendig ge-
bliebenen Sprachen beobachten. Wollen wir aber über Zustände,
die diesen vorausgegangen sind, begründete Vermutungen auf-
368 Die Sprachlaute.
stellen, so wird zu solchen in erster Linie die gehören, daß
sich die allgemeinsten Eigenschaften des Menschen nicht geändert
haben, seit es eine Sprache gibt. Es mag darum sein, daß
von allem dem, was ursprünglich an Lautgebärden und natür-
lichen Lautmetaphern in menschlichen Sprachen vorhanden war,
heute überhaupt nichts mehr existiert. Daß aber die Sprache
zu irgendeiner Zeit jener sinnlichen Ausdrucksmittel entbehrt
habe, die sie uns heute in manchen ihrer Bestandteile un-
mittelbar verständlich machen, dies ist gerade so unwahr-
scheinlich, wie es etwa die Annahme sein würde, der Unter-
schied hoher und tiefer Töne, heller und dunkler Farben sei
für den Urmenschen von absolut andersartigen Gefühlswirkungen
begleitet gewesen als für den heutigen, oder jener habe etwa seine
Freude durch stöhnende, seinen Schmerz durch jubelnde Laute
geäußert u. dgl.
Schwerer wiegt auf den ersten Blick der zweite Einwand: alle
Lautgebärden und Lautmetaphern seien immer nur ein verhältnis-
mäßig kleiner Teil des Lautbestandes einer Sprache. Gleichwohl
lassen sich hiergegen zwei Gesichtspunkte geltend machen.
Erstens kennen wir andere Motive für eine Beziehung zwischen
Laut und Bedeutung, die uns den Laut als einen unmittelbar
sich darbietenden und verständlichen Ausdruck der Vorstellung
begreifen ließe, überhaupt nicht. Eine ganz willkürliche oder
zufällige Assoziation könnte daher zwar als eine mögliche,
keinesfalls jedoch als eine natürliche, dem Ausdruck eines be-
stimmten seelischen Vorgangs adäquate Beziehung gelten. Zwei-
tens liegt in den starken Wandlungen, denen der Lautbestand
der Wörter im Laufe der Zeit unterworfen ist, ein zureichender
Grund dafür, daß deuthche Beziehungen zwischen Laut und Be-
griff zu den relativ seltenen, und daß sie zumeist zu den jüngeren
Erscheinungen der Sprache gehören. Denn es darf hier überall
nicht übersehen werden, daß, so wichtig eine solche Affinität
bei der ersten Entstehung eines Wortes sein mag, diese für
die weitere Erhaltung desselben in der Regel nicht von Belang
ist, falls nicht, wie bei den eigentlichen Lautgebärden, der
Trieb zur Nachbildung besonders geweckt wird. Im allgemeinen
Psychologische Entstehung der Lautgebärden und Lautmetaphem. 369
erhält sich daher die Bedeutung des Wortes in der Tat nur
durch die äußere gewohnheitsmäßige Assoziation oder, wenn
die Bedingungen dazu günstig sind, durch neu hinzutretende
Assoziationen, ohne daß dabei der Lautcharakter des Wortes eine
Rolle spielt.
Daß jedoch diese Tatsache mit einer ursprünglichen Affinität
zwischen Laut und Bedeutung sehr wohl vereinbar sein kann, lehrt
die Gebärdensprache, und lehren im Grunde alle jene Erschei-
nungen, bei denen ein analoger Übergang ursprünglich psychisch
vermittelter Vorgänge in gewohnheitsmäßige automatische Ver-
bindungen nachzuweisen ist. Auch die Gebärden gehen ja in
eingeübte und konventionelle Zeichen über. Nur liegt bei ihnen
dieser Übergang wegen der fortwährenden Neubildung und der
sinnlichen Anschaulichkeit der Gebärden in der Regel in so
naher Vergangenheit, daß nur bei einer kleinen Zahl die ur-
sprüngliche psychologische Bedeutung zweifelhaft sein kann. Wenn
sich dieses Verhältnis bei der Lautsprache umkehrt, so bleibt
dies auch dann noch begreiflich, wenn wir annehmen, in ihr
sei ursprünglich alles ein ebenso natürliches und psychologisch
wohl motiviertes Ausdrucksmittel gewesen. Nun würden bei
dieser Annahme kaum andere Beziehungen zwischen Laut und
Bedeutung verständlich sein als diejenigen, die uns bei den hin-
weisenden und nachahmenden Lautgebärden sowie bei den natür-
lichen Lautmetaphern begegnet sind. In der Tat entsprechen
aber diese drei Formen bedeutsamer Lautbewegungen durchaus
den drei Arten von Gebärden, die wir im vorigen Kapitel
kennen lernten: den hinweisenden, nachbildenden und sym-
bolischen, nur daß bei der letzteren Gattung in Anbetracht
der willkürlichen erfinderischen Tätigkeit, der die Gebärden-
sprache in höherem Grade unterworfen ist, der Übergang in
das eigentliche Symbol näher liegt als bei der Lautsprache.
Darum können wir wohl von natürlichen Metaphern, nicht aber
berechtigterweise von ,, Lautsymbolen" reden, während die hier-
her gehörigen Gebärden wirkliche Symbole sind. Denn das
Symbol liegt dem bezeichneten Gegenstand gleichzeitig femer
und näher als die Metapher: ferner, weil sich bei ihm eine
Wnndt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. 24
370 I^i© Sprachlaute.
zusammengesetzte Vorstellung zwischen die Ausdrucksbewegung
und ilire Bedeutung einschiebt, näher, weil diese Vorstellung ge-
rade infolge ihrer zusammengesetzten Beschaffenheit ein deutlicheres
Zeichen des Begriffs sein kann. Die natürliche Lautmetapher
besteht demnach lediglich in der Übertragung einer Vorstellung
in eine Ausdrucks- und Lautbewegung, die durch die Assoziation
der an beide gebundenen übereinstimmenden Gefühle vermittelt
wird. Bei der symbolischen Gebärde wird durch diese Gefühls-
assoziation erst noch eine zwischenliegende Vorstellung erweckt,
die durch die Verbindung ihrer Teile nach ihrem allgemeinen Gefühls-
charakter dem symbolisierten Begriff verwandt erscheint. In diesem
Sinn ist Erhöhung und Vertiefung des Lautes für den Ausdruck
der intensiveren Tätigkeit und des Leidens eine Lautmetapher;
die gerade und die schiefe Bewegung des Zeigefingers vom Mund
aus für die Begriffe der Wahrheit und Lüge sind Gebärden-
symbole. Aus diesem Verhältnis erklärt es sich zugleich, daß die
Sprache zwar natürliche Lautmetaphern in Fülle, aber natürliche
Lautsymbole nicht besitzt. Der Laut als solcher kann immer
nur bestimmte Gefühle und, insofern an den Laut eine Vorstellung
geknüpft wird, auch eine diesen Gefühlen entsprechende Modifi-
kation der Vorstellung erwecken. Er ist aber als Bewegung
wie als Laut ein zu einfaches sinnliches Gebilde, um ohne weiteres
einen nicht in der unmittelbaren Anschauung vorhandenen Begriff
sinnlich vertreten zu können. Dazu bedarf es hier schon der aus
Worten zusammengesetzten Rede, die erst fähig wird ein geglie-
dertes Ganzes der Anschauung im Bewußtsein wachzurufen. Dies
verhält sich anders bei der Gebärde, die wegen der deutlichen
Sichtbarkeit ihrer räumlichen Erscheinungsweise jenen für das Sym-
bol erforderlichen Zusammenhang immittelbar zu erzeugen vermag.
Hier ist also die Gebärde dem Sprachlaut überlegen. Freilich ist das
nur eine Überlegenheit der unvollkommeneren Entwicklungsstufe,
mit der zugleich die Beschränkung der Gebärde auf Symbole einfachster
sinnlicher Art zusammenhängt.
Wären alle Sprachlaute auf hinweisende und nachahmende
Lautgebärden und auf natürliche Lautmetaphern zurückzuführen,
so würde die Sprache hinsichtlich des Lautmaterials, aus dem
Phychologische Entstehung der Lautgebärden und Lautmetaphern. 371
sie besteht, vollständig erklärt sein, ähnlich wie uns die Ge-
bärdensprache in ihrem Aufbau aus einzelnen ausdrucksvollen
Gebärden im wesentlichen vollständig erkennbar ist. Auch dann
würde aber die Lautsprache sicherlich nicht jener Mannig-
faltigkeit der Ausdrucksformen für den gleichen Begriff er-
mangeln, die bei dem gegenwärtigen, für uns zumeist undurch-
sichtigen Zustand ihres Lautmaterials an den ungeheuren Ver-
schiedenheiten menschlicher Sprachen einen wichtigen Anteil hat,
imd durch die sie sich von der gleichartigen Beschaffenheit
der Gebärdensprache unterscheidet. Zu einem wesentlichen Teile
liegt dies jedenfalls in den nämlichen Ursachen begründet, die
zwar die Gebärde, jedoch nicht den Laut als solchen zum
Symbol werden lassen, sondern ihn auf das unbestimmtere
Gebiet natürlicher Lautmetaphern einschränken. Denn jene Ur-
sachen sind auch in dem Verhältnis der hinweisenden und
nachahmenden Lautgebärden zu den entsprechenden Formen
äußerer Gebärden erkennbar. Wie die Lautmetapher, so ist die
Lautgebärde vieldeutig. Sogar im engsten Umkreis der Ono-
matopöie, bei der eigentlichen Schallnachahmung, ist die Artiku-
lationsbewegung nicht bloß von dem objektiven Laut, sondern
von der Art, wie er apperzipiert wird, abhängig. Darum können
selbst für eine und dieselbe Schall vor Stellung die nachbildenden
Wörter verschiedener Sprachen sehr voneinander abweichen. Voll-
ends wo Gefühlsassoziationen mit ins Spiel kommen, wie bei
den Lautmetaphern, da können bald wechselnde Gefühle an eine
und dieselbe Vorstellung geknüpft, bald übereinstimmende in sehr
verschiedener Weise ausgedrückt werden. Was die eine Sprache
durch die Verstärkung eines konsonantischen Lautes, das deutet
die andere durch eine Erhöhung des Vokaltons, wieder eine andere
durch ein interjektionsartig wirkendes Prä- oder Suffix an usw.,
und manche dieser Ausdrucksmittel, namentlich solche, die dem
Gebiet der Tonmelodie und des Sprechtakts angehören, sind in
den uns erhaltenen Überlieferungen älterer Sprachformen wahr-
scheinlich unerkennbar geworden. Zu jenem Wechsel der psychi-
schen Wirkungen kommen dann noch Abweichungen der physi-
schen Lautwerkzeuge, die selbst dann, wenn die psychischen
24*
372 Die Sprachlaute.
Motive dieselben bleiben, den Lautausdruck verschieden gestalten
können. Alle diese wechselnden Eigenschaften sind aber endlich
infolge der Vorgänge des Lautwandels in einem fortwährenden
Flusse begriffen. Dieser verändert den Lautbestand der Wörter
unablässig, und er kann daher die ursprüngliche Beziehung zu
dem sinnlichen Eindruck unkenntlich machen oder auch umge-
kehrt Beziehungen hervorbringen, die dem ursprünglichen Sprach-
laute fehlten.
Viertes Kapitel.
Der Lautwandel.
I. Die Lautgesetze in der Sprachwissenschaft.
1. Das Postulat der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze.
Die Erscheinungen des Lautwandels verdanken die bevorzug fce
Stelle, die sie in der sprachwissenschaftliclien Forschung einnehmen,
wohl in erster Linie dem Umstände, daß sie ein Gebiet büden, auf
dem mehr als auf irgendeinem andern eine strenge Gesetzmäßigkeit
das Leben der Sprache zu beherrschen scheint. Zwar folgen Wort-
bildung und Satzfügung im allgemeinen nicht minder festen Ge-
setzen. Aber da es sich bei ihnen mehr um dauernde Zustände handelt,
so erwecken sie nicht so unmittelbar wie die Veränderungen der Laute
den Eindruck eines kausalen Zusammenhangs, der an die Regelmäßig-
keit gewisser Naturvorgänge erinnert.
Die Beobachtung dieser Regelmäßigkeit ist es, die zu dem in
der neueren Sprachwissenschaft energisch betonten Postulat der
,, Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze" geführt hat. Ein solches Postu-
lat konnte natürlich niemals in dem Sinne verstanden werden, daß
man Gesetze annahm, die in jedem einzelnen Fall zur Wirkung ge-
langten, sondern nur in dem andern, daß die Lautgesetze, gerade
so wie die Naturgesetze, ausnahmslos dann wirken, wenn sie nicht
durch andere Gesetze oder durch singulare Ursachen, die ihnen ent-
gegenwirken, aufgehoben werden^). Nicht um die ausnahmslose
1) In diesem Sinne, nämlich mit der Voraussetzung, daß Ausnahmen von
den Lautgesetzen immer nur Fälle bezeichnen könnten, in denen der zu erwartende
Lautwandel aus bestimmten, erkennbaren Ursachen nicht eingetreten ist, inter-
pretiert schon A. Leskien, der zuerst den Ausdruck „Ausnahmslosigkeit" in diesem
374 Der Lautwandel.
Geltung irgendeines einzelnen Gesetzes handelt es sicli also dabei,
sondern um eine ausnahmslose Gesetzmäßigkeit, das heißt
um den Grundsatz, daß für jede geschichtliche Lautänderung irgend-
eine Ursache, sei es nun ein in weitem Umfang gültiges Lautgesetz,
sei es eine beschränktere, nur für eine Reihe von Fällen oder vielleicht
sogar nur für einen einzelnen Fall geltende Bedingung anzunehmen
ist. Die in diesem Sinne verstandene ,,Ausnahmslosigkeit der Laut-
gesetze'* kehrt vor allem ihre Spitze gegen die Ausnahmen der alten
Grammatik, die auf der Voraussetzung beruhten, daß irgendeine
Abweichung von einer sonst gültigen Regel als ein Spiel des Zufalls
oder einer willkürlichen Laune anzusehen sei. Sieht man von dieser
polemischen Spitze ab, so würde aber der Ausdruck offenbar zweck-
mäßiger durch den andern einer „allgemeingültigen Gesetzmäßig-
keit des Lautwandels" ersetzt werden. Auch die Naturgesetze gelten
ja nicht ausnahmslos, da ihre Wirkungen im einzelnen Fall durch
hinzutretende Bedingungen abgeändert oder ganz aufgehoben wer-
den können. Wo es sich um sogenannte ,, empirische Gesetze" handelt,
da ist übrigens eine Nachweisung kompensierender Bedingungen
häufig nicht möglich; sondern solche empirische Gesetze gelten ent-
weder, oder sie gelten nicht, und wenn sie nicht gelten, so können
wir unter günstigen Bedingungen die Ursachen nachweisen, die ihre
Geltung verhindern, oder die anderweitigen Gesetze, die für sie ein-
treten; wir sind aber nicht imstande, dem nicht zur Anwendung
kommenden Gesetze selbst noch irgendeine Partialwirkung innerhalb
der zusammengesetzten Erscheinung zuzuweisen. Das Gesetz z. B.,
daß der Kohlenstoff ein ,,vierwertiges" Element ist bewährt sich
bei einer bestimmten Kohlenstoff Verbindung, oder es bewährt sich
nicht; das sogenannte Dovesche ,, Drehungsgesetz der Winde" trifft
in einem bestimmten Falle zu, oder es trifft nicht zu. Der Grund
dieses Verhaltens ist unschwer einzusehen. „Empirische Gesetze"
nennen wir im allgemeinen im Gegensatz zu den abstrakten und axio-
Zusammenhange gebraucht hat, jene Forderung. (Die Deklination im Slavisch-
Litauischen und Germanischen, 1875, S. 2; Preisschrift der Jablonowskischen
Ges. zu Leipzig, Nr. XIX.) Ähnlich sprechen sich Osthoff und Brugmann aus.
(Morphologische Untersuchungen auf dem Gebiete der indogermanischen Sprachen,
I, Vorwort, S. XIII. ^
Das Postulat der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze. 375
matisch angenommenen Gesetzen der Mechanik komplexe Gleicli-
förmigkeiten des Geschehens, die wir nicht oder mindestens nicht
vollständig in die Summe der Bedingungen zerlegen können, die ihnen
zugrunde liegen. Ein solches Gesetz gilt daher nur solange, als die
sämtlichen zur Erhaltung jener Gleichförmigkeit erforderlichen Be-
dingungen vorhanden sind. Es hört auf zu gelten in dem Augenblicke,
wo die dem Enderfolg entgegenwirkenden Bedingungen überwiegen.
Wenn nun vollends auf den Inhalt eines empirischen Gesetzes psy-
chologische Momente von mitbestimmendem Einflüsse sind, wie das
bei den ,, Lautgesetzen" von vornherein wahrscheinlich ist, da wird
es zweifelhaft, ob überhaupt auch nur für die einfachsten Fälle jene
Voraussetzung einer Verbindung an sich unaufhebbarer Wirkimgen,
wie wir es dem Schema des Kräfteparallelogramms entnehmen, zu-
treffend sei. Wo z. B. dem Bewußtsein verschiedene Assoziationen
zur Verfügung stehen, da vollzieht es irgendeine von ihnen, und für
diese werden gewiß entscheidende Gründe wirken; aber die andern
beteiligen sich nicht etwa nach Maßgabe der sie in das Bewußtsein
hebenden Kräfte, sondern sie beteiligen sich in der Regel gar nicht.
Oder wenn wir zwischen verschiedenen Motiven des Handelns schwan-
ken, so kann der Kampf der Motive ein deutlich in unserem Bewußt-
sein verlaufender Vorgang sein; doch nachdem die Entscheidung
erfolgt ist, pflegen die überwundenen Motive in der resultierenden
Handlung nicht mehr nachzuwirken. Ob diese Fälle auf das allge-
meine Verhalten sogenannter empirischer Gesetze zurückzuführen
seien, oder ob bei ihnen besondere Eigenschaften der psychischen
Kausalität in Rechnung kommen, mag hier dahingestellt bleiben,
der Erfolg ist jedenfalls der nämliche: von einer ausnahmslosen Geltung
kann unter keinen Umständen die Rede sein. Die einzige Bedeutung,
die diesem Ausdruck in Anwendung auf die Lautgesetze beigelegt
werden kann, ist also die, daß die Veränderungen der Sprachlaute
einer strengen Kausalität unterworfen sind, die teils in bestimmt
formulierbaren Gesetzen von weitverbreiteter Geltung, teils in nach-
weisbaren einzelnen Ursachen, die jene Geltung in besonderen Fällen
aufheben, ihren Ausdruck findet^).
1) Über die Anwendung des Gesetzesbegriffs überhaupt und über den
376 Der Lautwandel.
2. Teleologische Hypothesen über die Ursachen der
Lautänderungen.
Indem das Postulat der ,,Ausnahmslosigkeit" durch die ihm
ausdrücklich oder stillschweigend gegebene Deutung nicht bloß die
Lautgesetze selbst mit den Naturgesetzen in Analogie bringt, son-
dern auch für die Ursachen, welche die Wirksamkeit dieser Gesetze
stören, eine Unterordnung unter gesetzmäßige Bedingungen fordert,
richtet nun aber jener Begriff seine Spitze nicht allein gegen die Aus-
nahmen der alten Grammatik, sondern nicht minder gegen eine Inter-
pretation sprachlicher Vorgänge, welche diese auf gewisse Zweck-
mäßigkeitsmotive zurückführt.
Von den Vertretern dieser teleologischen Erklärungsweise wurde
zwar anerkannt, Regeln wie Ausnahmen seien von bestimmten Ur-
sachen abhängig; aber man hielt daran fest, die Sprachforschung
müsse, wie die Naturforschung, vor allem ,, normale und abnorme
Erscheinungen unterscheiden". Dann lasse auch das Abnorme ,, durch
Zusammenstellung verwandter Abnormitäten selbst wieder eine ge-
wisse Ordnung erkennen''^). Durch diese Vergleichung war, da das
Pathologische mit dem Physiologischen in den allgemeinen Eigen-
schaften des Lebens übereinkommt, eigentlich schon gefordert, daß
für Regel wie Ausnahme die Ursachen auf dem gleichen Gebiete zu
suchen seien. In der Tat bemühte man sich daher, alle Lautänderungen
auf gewisse ,, Triebe'' zurückzuführen, denen man zwecktätig wirkende
psychische Motive unterlegte. Ob diese Motive zugleich als willkür-
liche gedacht waren, mag dahingestellt bleiben; es genügt, daß man
von ihnen nach Analogie bekannter willkürlicher Zweckmotive Ge-
brauch machte. Solcher Triebe wurden hauptsächlich drei ange-
nommen: erstens das Streben nach Bequemlichkeit, zweitens das
Streben bedeutsame Laute zu erhalten oder zum Zwecke der Unter-
Begriff des ,, empirischen Gesetzes" insbesondere vgl. togik, III ^ S. 123 ff.
Über gewisse Grenzfälle einer wirklichen oder scheinbaren „Ausnahmslosigkeit"
der Lautgesetze vgl. übrigens unten Nr. VI, 5.
1) Curtius, Grundzüge der griech. Etymologie, ^ S. 90.
Teleologische Hypothesen über die Ursachen der Lautänderungen. 377
Scheidung der Begriffe zu sondern, und drittens der Trieb nach Gleich-
förmigkeit, der unter der Wirkung anderer Wortformen ,, falsche
Analogien" veranlasse, das heißt Lautbildungen, die den regelmäßigen
Lautgesetzen widersprechen. Von diesen Trieben sollen die beiden
ersten, der nach Bequemlichkeit und der ihm bis zu einem gewissen
Grade das Gleichgewicht haltende nach Unterscheddung, die nor-
malen Eigenschaften bestimmen, worunter man die regelmäßigen
Lautgesetze und gewisse wünschenswerte Einschränkungen derselben
verstand. Aus ,, falschen Analogiebildungen" dagegen sollte ein jenen
regelmäßig wirkenden Kräften entgegengesetztes, abnormes Ver-
halten hervorgehen. Demgemäß nahm man an, die beiden ersten
Triebe seien in den älteren Zeiten der Sprachentwicklung fast aus-
schließlich herrschend gewesen, während der letzte, abnorme mehr
den späteren Stadien des Verfalls der sprachlichen Formen an-
gehöre^).
Diese Auffassung verwickelte sich nun schon innerhalb der von
ihr gemachten Voraussetzungen mit sich selbst in einen eigentüm-
lichen psychologischen AViderspruch. Gerade das, was sie vorzugs-
weise als das Normale und ursprüngliche ansieht, die Lautgesetze,
führt sie nämlich auf das Streben nach ,, Bequemlichkeit" zurück,
also auf eine Eigenschaft, die bereits der Grenze des abnormen Ver-
haltens nahekommt. Damit stimmt überein, daß ,, Verwitterung"
und ,, lautlicher Verfall" der Sprache, ohne Frage pathologische Zu-
stände, als das Ergebnis dieser Kräfte der Sprachentwicklung betrachtet
werden. Daß eine Verfallserscheinung das Normale und Gesetzmäßige
sein soll, ist aber nicht minder widerspruchsvoll wie das andere, daß
^) Der hier kurz gekennzeichnete psychologische Standpunkt ist von einer
Reihe von Forschern festgehalten worden, die dabei zugleich von dem Streben
geleitet waren, willkürlichen etymologischen Versuchen durch strengere Be-
tonung der Lautgesetze zu steuern. Hierher gehören namentlich G. Curtius,
A. Schleicher, Benfey, Pott, Max Müller u. a. Am eingehendsten wurden diese
Anschauungen, besonders auch in ihrer psychologischen Begründung, von Cur-
tius vertreten in seiner Griech. Etymologie, ^ S. 21 ff., 409 ff und an anderen
Orten. Vgl. bes. die Streitschrift: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung,
1885, und die Erwiderung K. Brugmanns, Zum heutigen Stand der Sprach-
wissenschaft, 1885.
378 Der Lautwandel.
der ,, konservative Trieb", der diesem Verfalle zum Trotz bedeut-
same Unterschiede bewahre, auf der einen Seite als ein Zeichen un-
geschwächter Nachwirkung der sprachbildenden Kräfte, auf der an-
dern aber doch, dem ,, Gesetzmäßigen'' gegenüber, das ja dem unauf-
haltsamen Verfall entgegenftihrt, als etwas Abnormes angesehen wird.
Dazu kommt, daß auch der ,, falschen Analogie" unter Umständen
ein der lautgesetzlichen Zerstörung entgegenwirkender Einfluß nicht
abgesprochen werden kann. So ergibt sich ein merkwürdiges Resul-
tat: am Erfolge gemessen erscheint das Abnorme zumeist als da&
erhaltende und gesunde, das Normale als das kranke und zerstörende
Prinzip. Dieses paradoxe Ergebnis fällt natürlich vor allen Dingen
auf Rechnung des Umstandes, daß diese Gegenüberstellungen von
,, normal" und ,, abnorm", von ,, physiologisch" und ,, pathologisch"
selbst ,, falsche Analogien" sind. Das nämliche gilt von den bildlichen
Ausdrücken ,, Verwitterung" und ,, Verfall". Sie erwecken unver-
meidlich die Vorstellung eines rückläufigen Zersetzungsprozesses.
Nun ist aber nicht im mindesten einzusehen, warum, wenn beispiels-
weise eine Aspirata gh^ dh, bh im Laufe des regelmäßigen Lautwandel»
in eine einfache sogenannte Media g, d, h, oder wenn diese in eine Te-
nnis k, t, f übergeht, solches als ,, Verwitterung" oder ,, Verfall" zu
deuten sei. Man könnte mit demselben Rechte meinen, der Über-
gang der Media in die Tennis bezeichne eine Erhebung der Sprache
zu größerer Kraft, was ungefähr auf das Gegenteil der Verwitterungs-
theorie hinauskäme^). Mit welchem Rechte will man ferner behaupten,,
der Übergang eines Vokals a in e oder i, oder eines a in o oder gar^
wie z. B. im Althochd., in uo sei eine Verfallserscheinung? Ebenso-
gut kann man sagen, bei der Bildung des a sei die Mundartikulation
und folglich die Innervation verhältnismäßig einfacher als bei den
andern Vokalen, demnach bezeichneten diese eine höhere Stufe der
Lautentwicklung. Natürlich wird man am besten weder das eine noch
das andere tun, sondern daraus, daß solche Lautänderungen in sehr
verschiedener Richtung vor sich gehen, schließen, irgendeine kon-
stante Richtung in bezug auf Erleichterung oder Erschwerung der
1) In der Tat ist diese Auffassung schon von Jakob Grimm und dann von
G. Curtius selbst in einer älteren Abhandlung (Kuhns Zeitschr. für vergl. Sprach-
forschung II, 1853, S. 331) angedeutet worden. Vgl. unten Nr. III, 6.
Teleologische Hypothesen über die Ursachen der Lautänderungen, 379
Artikulation bestehe überhaupt nicht; dies um so mehr, da jene Be-
griffe selbst wieder relative sind, die von dem jedesmaligen Zustand
der Sprachorgane abhängen. Laute, deren Hervorbringung bei einem
bestimmten Zustande ,, bequem" ist, können möglicherweise bei einem
andern imbequem werden.
Leidet so die Vergleichung des regelmäßigen Lautwechsels mit
einem Verwitterungsvorgang unter einem falschen Bilde, das selbst
wieder durch eine fehlerhafte psychologische Begriffsbildung, den
,, Bequemlichkeitstrieb", veranlaßt ist, so steht nun der zur Erklärung
gewisser Ausnahmeerscheinungen herbeigezogene ,, Erhaltungstrieb"
ganz imd gar unter dem Banne der alten Erfindungstheorie. Einen
Trieb, der allgemein auf die Erhaltung der sprachlichen Laute gerichtet
wäre, könnte man sich ja noch als eine einfache Betätigung von Ge-
dächtnisassoziationen denken. Aber ein Trieb, dem das Gedächtnis
nur zu Hilfe kommt, wo es sich um die Erhaltung ,, bedeutsamer
Unterschiede" handelt, wäre nur als die Äußerung einer bedachtsam
handelnden Intelligenz möglich, die wir hier, angesichts der bekannten
Tatsache, daß die Sprache zufällige Lautübereinstimmungen bei totaler
Verschiedenheit der Bedeutungen duldet, billig bezweifeln dürfen.
Gegenüber dieser Annahme eines Erhaltungstriebs wurde end-
lich in der Anerkennung sporadischer ,, Analogiebildungen", das
heißt solcher Abweichungen von den Lautgesetzen, die durch das
Walten mehr äußerlich wirkender Laut- und Begriffsassoziationen
bedingt seien, auch dem Gebiet der unwillkürlichen seelischen Vor-
gänge ein gewisser Spielraum eingeräumt. Es ist aber bezeichnend,
daß, solange man den angedeuteten teleologischen Standpunkt fest-
hielt, gerade dieser Einfluß der Assoziationen eigentlich nur als ein
Notbehelf zugelassen war. Schon der Ausdruck „falsche Analogien"
ist dafür charakteristisch. Der konservative Trieb, obgleich an sich
den Lautgesetzen gegenüber etwas Abnormes, galt doch noch als eine
berechtigte Reaktion gegen die allzu zerstörende Wirksamkeit dieser
Gesetze. Die falsche Analogie dagegen erschien als etwas absolut
Unlogisches und zugleich Zweckloses, als eine ,, Mißbildung und Ver-
irrung gegenüber der gesunden Bildung"^).
^) Curtius, Zur Kritik dei neueren Sprachforschung, S. 44.
380 Der Lautwandel.
3. Annahme physischer und psychischer Momente der.
Lautentwicklung.
Bezeichnenderweise war es zunächst weniger die innere Un-
wahrscheinlichkeit der von der teleologischen Erklärung angenomme-
nen „Triebe'', als das Widerstreben gegen das angeblich planlose
Abirren der durch Analogie beeinflußten Lautänderungen, was den
Widerspruch herausforderte. Sollte überhaupt die Idee einer strengen
Gesetzmäßigkeit durchgeführt werden, so war das Bild eines zu-
fälligen ,, Mitlaufens mit einer andern Herde" unmöglich zu dulden,
sondern man fühlte sich gedrungen, der physischen Notwendigkeit
den Zwang absichtslos wirkender psychischer Motive gegenüberzu-
stellen. Für beide Begriffe boten die Lautgesetze einerseits, die Ana-
logiebildungen anderseits die Anhaltspunkte. Das Lautgesetz re-
präsentierte das Prinzip der strengen physischen Gesetzmäßigkeit,
die Analogie erschien als ein Resultat bewußtloser psychischer Kräfte,
das die allgemeinere Wirksamkeit der Lautgesetze zuweilen unter-
breche, um so mehr aber mit ihnen zusammen der ,,Ausnahmslosig-
keit" der Gesetze überhaupt als Stütze diene. So wurden beide als
das physiologische und das psychologische Moment des Laut-
wechsels unterschieden und ihnen die Forderung an die Seite ge-
stellt: sobald eine lautliche Erscheinung aus den physischen Laut-
gesetzen nicht abzuleiten sei, müsse man sie auf den psychischen Me-
chanismus der Analogie zurückzuführen suchen. Ein letzter Rest
jener Unterscheidung des Normalen und Abnormen blieb aber auch
hier noch in dem methodologischen Prinzip erhalten : an die Erklärung
einer Erscheinung durch Analogiebildung solle immer erst dann ge-
dacht werden, wenn sich alle lautgesetzlichen Interpretationen als
unmöglich herausstellten^).
Hiernach ist es keineswegs bloß die Betonung der strengen Kau-
salität des Lautwechsels, sondern eigentlich in noch höherem Grade
1) H. Paul in seinen und Braunes Beiträgen zur Geschichte der deutschen
Sprache und Literatur, VI, 1879, S. 1 ff. Osthoff, Das physiologische und psy-
chologische Moment der sprachlichen Formenbildung, 1879. Misteli, Laut-
gesetze und Analogie, Zeitschrift für Völkerpsychologie, XI, 1880, S. 410.
Annahme physischer und psychischer Momente der Lautentwicklung. 381
die Hervorhebung der ,, blind waltenden ''Gesetzmäßigkeit, was diese
Auffassung von den vorangegangenen Anschauungen scheidet. Von
einer gewissen Inkonsequenz und Willkür war aber auch sie nicht
frei. Die stärkste, die ihr als eine Art Erbstück von den Regeln und
Ausnahmen der alten Grammatik noch anhaftete, die nämlich, daß
die ,, Analogie" immer nur im Notfall und ,,so sparsam wie möglich"
herbeigezogen werden solle, wurde allerdings bald überwunden. In-
dem das ,, psychologische Moment" in den Vordergrund trat, war man
um so mehr geneigt, in ihm ein wichtiges neues Erklärungsprinzip
zu sehen, da sich hier das Merkwürdige ergab, daß man die ,, Regel",
nämlich die den Lautgesetzen folgenden Veränderungen, als etv\^as
zunächst noch ganz Unerklärliches hinnehmen mußte, während man
die ,, Ausnahmen", die Analogiewirkungen, als psychologisch begreif-
liche Erscheinungen betrachten lernte. So konnte es nicht ausbleiben,
daß das Erkennbare dem Unerkennbaren auch in der AVertschätzung
den Rang streitig machte, und daß man allmählich dazu geführt wurde,
Analogien und Lautgesetze einander gleichzustellen^). Immerhin
blieb auch jetzt noch eine qualitative Unterscheidung, zu der kein
positiver Rechtsgrund vorlag, weil die Ursachen der eigentlichen
Lautgesetze als unerkennbar angesehen wurden. Denn sind sie dies,
so ist offenbar jene Gegenüberstellung des ,, physiologischen" oder
,, mechanischen" und des ,, psychologischen" Moments vorläufig ganz
hypothetisch. In der Tat läßt es sich mindestens ebensogut denken,
daß psychische Bedingungen die letzten Ursachen der regelmäßigen
Lautänderungen seien, als daß rein äußere Einflüsse, etwa solche
des Klimas, der Naturumgebung oder der Ernährung, eine Umwand-
lung der physischen Organisation bewirkt haben sollten, von der
die Sprachorgane mit ergriffen wurden. Auch wird die Art, wie Laut-
1) Bezeichnende Äußerungen vgl. bei Brugmann, Zum heutigen Stand
der Sprachwissenschaft, S. 81, 85 ff. Sogar eine Bevorzugung der Analogie in
ihrem Werte für die Sprache tritt nicht selten hervor. So heißt es bei Brugmann
(S. 81 f.): „Der Lautwandel beeinträchtigt die Gruppierung (zusammengehöriger
Wortgruppen), lockert die Verbände, indem er zwecklose Unterschiede zwischen
zusammengehörigen Formen schafft. ' Dagegen „ist ein Mittel zur Reaktion in
der Analogiebildung gegeben. Jede Sprache ist unaufhörlich damit beschäftigt,
unnütze Ungleichmäßigkeiten zu beseitigen" usw.
382 Der Lautwandel.
gesetze und Analogiebildungen fortwährend ineinander greifen, offen-
bar viel verständlicher, wenn man sie nicht als disparate, einander
entgegenwirkende Kräfte, sondern als Bedingungen auffaßt, die
schließlich beide irgendwie in der psychophysischen Natur des Menschen
begründet sind. Damit stimmt überein, daß wir einerseits wegen
der gedächtnismäßigen Reproduktion lautgesetzlicher Formen not-
wendig bei diesen eine Mitwirkung der nämlichen Assoziationen voraus-
setzen müssen, die man zur Erklärung der Analogiebildungen heran-
zieht, und daß anderseits die Assoziationen, durch Einübung in auto-
matische Verbindungen übergehen, so daß diejenigen Erscheinungen,
die zuerst auf die Seite der psychischen Momente verlegt werden,
mit der Zeit auf die der physischen zu stehen kommen.
4. Komplikation der Ursachen des Lautwandels.
Machen die angedeuteten Umstände eine strenge Scheidung
der physiologischen und der psychologischen Faktoren dieser Vor-
gänge überhaupt unmöglich, so kommt nun noch der weitere Um-
stand hinzu, daß die Annahme, jeder Lautwechsel sei entweder auf
allgemeine Lautgesetze oder auf Analogiebildungen zurückzuführen,
an eine Voraussetzung geknüpft ist, die in der Wirklichkeit wahr-
scheinlich niemals vollständig zutrifft. Dies ist die Voraussetzung,
daß die Sprachgemeinschaft eine in sich geschlossene sei, also
nicht durch äußeren Verkehr und die an ihn gebundenen Sprach-
mischungen beeinflußt werde. Man pflegt darum die Geltung aller
bei jener Zweiteilung der Erscheinungen in Frage kommenden Wir-
kungen auf einen bestimmten Dialekt und auf eine bestimmte Periode
der Sprachentwicklung zu beschränken. Nun lassen sich aber weder
die Grenzen einer Periode noch die eines Dialekts fest bestimmen,
und überdies finden sich namentlich in einem Kulturvolke durch
das Zuströmen einzelner Individuen aus fremden Dialekten und durch
den in der Literatur vermittelten Austausch fortwährende Abwei-
chungen von dem angenommenen Stabilitätszustande, so daß dieser
zu einer Abstraktion wird, zu der die Wirklichkeit immer nur An-
näherungen bieten kann.
Komplikation der Ursachen des Lautwandels. 383
Auch da, wo derartige äußere Einflüsse hinwegfallen sollten,
bildet jedoch das „psychische" so wenig wie das ,, physische" Moment
der Lautentwicklung einen einheitlichen Begriff, sondern dieser zer-
legt sich jedesmal in eine Vielheit von Bedingungen. Mag nun gleich
unter den psychischen Bedingungen die „Analogie" der Interpreta-
tion einen sehr weiten Spielraum bieten, so ist doch kaum anzunehmen,
daß es außer ihr keinerlei psychologische Ursachen geben könne, die
auf die Gestaltung der Laute einwirken. Legen doch schon die beim
Zusammentreffen gewisser Laute innerhalb derselben Wörter oder
benachbarter Wörter entstehenden Lautänderungen (das ,,Sandhi"
der indischen Grammatiker) den Zweifel nahe, ob nicht auch hier
psychische Motive wirksam seien, die dann jedenfalls nicht auf ,, Ana-
logien" zurückzuführen sind. Ferner ist der ,, Nachahmungstrieb"
oder vielmehr die Summe eigentümlicher Assoziations- und Willens-
motive, die man unter diesem Namen zusammenfaßt, und die in der
Gebärdensprache eine so große Rolle spielen, möglicherweise auch
bei der Lautsprache von nicht zu unterschätzendem Einfluß. Frei-
lich wird er nur dann auf weitere Kreise wirken können, wenn ihm
sonst begünstigende Bedingungen entgegenkommen. Welcher Art
aber diese seien, das läßt sich von vornherein kaum bestimmen. Zu-
dem werden die Assoziationen, die den Lautwandel beeinflussen,
nicht allein von der Sprache selbst, sondern sie können ebenso von
irgendwelchen andern Lebensgebieten, von der Sitte und von den
mythologischen Vorstellungen ausgehen und auf die Sprache über-
greifen. Man denke nur an die bei manchen amerikanischen Stämmen
bestehende Sitte, beim Sprechen den Mund nicht zu schließen, eine
Gewohnheit, durch die sich das ganze Lautsystem dieser Sprachen
verändert hat. Darf man nun aber vielleicht auch annehmen, daß
solche Einflüsse mehr singulärer Natur sind, so bleibt doch schließ-
lich eine Gruppe von Tatsachen übrig, die den Lautgesetzen so wenig
wie den „Analogiebildungen" unterzuordnen ist. Sie besteht in allen
den Erscheinungen, die auf eine Wechselwirkung zwischen Laut
und Bedeutung hinweisen. Ihnen wird man um so weniger die Auf-
nahme unter die allgemeinen Ursachen der Lautänderungen versagen
können, als uns schon die Untersuchung der Sprachlaute eine Menge
solcher Assoziationen in den natürlichen Lautgebärden und Laut-
384 Der Lautwandel.
metapliern kennen lehrte. So gut wie die Neuschöpfung von Wörtern,
werden sie natürlich auch den Lautwandel beeinflussen. Ähnliches
wird man überall da annehmen dürfen, wo sich bestimmte Laut-
elemente mit bestimmten Begriffsmodifikationen assoziiert haben,
wie z. B. im Griechischen der i-Laut mit der Bedeutung des Optativs
usw. Daß sich solche begriffliche mit andern, rein lautlichen Asso-
ziationen mannigfach durchkreuzen, deren Wirkungen verstärken
oder aufheben hönnen, scheint unzweifelhaft. Doch muß es genügen,
hier auf diesen Punkt hinzuweisen. Denn die Frage dieser Wechsel-
beziehungen hängt so eng mit den allgemeinen Erscheinungen des
Bedeutungswandels zusammen, daß sie uns erst bei diesem näher
beschäftigen kann^).
Im Hinblick auf diese große Mannigfaltigkeit der Umstände,
die bei den Vorgängen des Lautwandels in Betracht kommen, ist es
vielleicht begreiflich, daß man in der Sprachwissenschaft nicht selten
nach dem Grundsatze handelt: sobald für eine gegebene Erscheinung
eine Ursache nachgewiesen sei, so werde dadurch von selbst die Auf-
suchung weiterer Bedingungen überflüssig. Doch kann dieser Grund-
satz auf sachliche Richtigkeit jedenfalls keinen Anspruch erheben.
Denn dieses Prinzip der Einheit der Ursache hat keinerlei Wahr-
scheinlichkeit für sich. Erscheinungen von so verwickelter Natur
sind in der Regel weder im ganzen noch in einem einzelnen Fall durch
eine einzige Bedingung zu erschöpfen. Nicht das Prinzip der Einfach-
heit, sondern das der Komplikation der Ursachen ist daher das-
jenige, das von vornherein der Beurteilung des Tatbestandes zugrunde
gelegt werden sollte.
^) Vgl. den Abschnitt über die Erscheinungen des korrelativen Laut- und
Bedeutungswandels in Kap. VIII, Nr. I.
Lautwandel und Lautwechsel. 385
IL Individuelle und generelle Formen der
Lautänderung,
1. Lautwandel und LautwechseL
Wie bei allen Erscheinungen, die zum Gebiet völkerpsyclio-
logiscber Betrachtungen gehören, das Individuum und die Gemein-
schaft in fortwährender Wechselwirkung stehen, so gilt dies natur-
gemäß auch von den Wandlungen der Sprachlaute. Eine generelle
Geltung kann aber im allgemeinen nur eine solche Abweichung er-
langen, die aus Bedingungen hervorgeht, denen zahlreiche Mitglieder
der Sprachgemeinschaft unterworfen sind.
Nun bringen es die physiologischen Verhältnisse der Lautbildung
mit sich, daß der individuelle Ursprung einer Lautänderung ein
doppelter sein kann: entweder ein allmählicher und stetiger,
bei dem zwischen dem Ausgangs- und dem Endlaut möglicherweise
eine unendliche Anzahl von Zwischenstufen liegt, oder ein plötz-
licher und sprungweiser, bei dem mit einem Male der Anfangs-
in den Endlaut übergeht. Man pflegt diese beiden Fälle als die des
stetigen und des springenden Lautwechsels zu bezeichnen und
demnach wohl auch, da der Begriff des „Wandels" die Nebenbedeu-
tung eines stetigen Vorgangs angenommen hat, den ersteren einen
„Lautwandel", den letzteren einen „Lautwechsel" im engeren Sinne
des Wortes zu nennen^).
Der Gegensatz dieser beiden Formen hängt mit dem physio-
logischen Charakter der beiden Laute, die als Anfangs- und End-
laut den Prozeß der Veränderung einschließen, zusammen. Ein
stetiger Lautwandel kann nur zwischen solchen Lauten stattfinden,
die durch alle möglichen Übergangsstufen ineinander übergeführt
werden können. Dagegen ist zwischen Lauten, bei denen ein solcher
Übergang ausgeschlossen ist, nur ein springender Wechsel möglich.
So kann z. B. a in e oder o, o in u, e in i, oder es kann d einerseits in
1) Sievers, Grundzüge der Phonetik, * 1983, S. 246, und in Pauls Grund-
riß der germanischen Philologie, 2 I, 1897, S. 309.
Wundt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. 25
386 Der Lautwandel.
t, anderseits in dh, dz, z ganz allmählich durch minimale Veränderungen
der Mundstellungen übergehen. Dagegen kann f m q, t m. f oder re
in er nur plötzlich überspringen, weil es zwischen den Artikulationen
des Anfangs- und des Endlauts keine Zwischenstellungen gibt, die eine
Reihe allmählicher Übergänge bilden könnten. Begegnet man in der
Sprache Lautänderungen, die sich individuell durch stetige Abstufungen
der ersten Art hervorbringen lassen, so pflegt man daher anzunehmen,
daß sie auch generell Erzeugnisse eines stetigen Lautwandels seien.
So wenn mhd. Hute in nhd. Leute, ahd. gasti in gesti „Gäste", urgerm.
^fad-er (& = engl, th) ^) in nhd. Vater, lat. ag-nus in ang-nus übergegangen
ist. Begegnet man anderseits solchen Lautänderungen, die sich in-
dividuell nicht stetig erzeugen lassen, so führt man sie auf den springen-
den Lautwechsel zurück. So wenn griech. "^qoteros in jtotbqoq, lat.
^finque in quinque, ahd. hrestan in nhd. bersten überging.
So wichtig nun dieser Unterschied für die physiologische Ent-
stehungsweise des Lautwechsels sein mag, so erweist er sich doch
in doppeltem Sinn als ein fließender. Erstens ist es natürlich nicht
ausgeschlossen, daß auch derjenige Wechsel, der seiner physiolo-
gischen Natur nach ein stetiger sein kann, im einzelnen Fall als ein
springender vorkommt; und wahrscheinlich würde er sich um so mehr
als ein solcher darstellen, je mehr man auf sein individuelles Vorkommen
zurückzugehen vermöchte. Beim Übergange von gasti in gesti z. B.
wird wohl der Einzelne gelegentlich einmal mehr nach a, ein anderes
Mal mehr nach e artikulieren, doch im ganzen wird er in jedem be-
sonderen Falle nicht um unendlich kleine, sondern um beliebige end-
liche Größen seine Mundstellung ändern. Ferner muß aber umgekehrt
auch derjenige Lautwechsel, der individuell ein springender war, bei
seiner generellen Verbreitung zu einem annähernd stetigen Vorgang
werden. Denn wie sich schon bei dem Einzelnen der Übergang von
der alten zur neuen Lautform nicht mit einem Mal als Regel durch-
setzt, sondern zunächst zeitweise auftritt und dann durch Gewöhnung
häufiger und häufiger wird, so wird vollends nie eine Abweichung
1) Mit einem Sternchen werden hier und im folgenden überall, nach dem
in der Sprachwissenschaft eingeführten Usus, solche Wörter bezeichnet, die laut-
gesetzlich erschlossen, aber nicht direkt belegt sind.
Lautwandel und Lautwechsel. 387
die ganze Sprachgemeinschaft gleichzeitig ergreifen, sondern all-
mählich durch eine Periode gemischten Gebrauchs sich ausbreiten,
um schließlich herrschend zu werden. Auf diese Weise kann ein noch
so allmählicher Lautwechsel im individuellen Sinn als ein sprin-
gender gelten, wenn er nur die Eigenschaft hat, in sehr vielen Ab-
stufungen variieren zu können; und umgekehrt kann jeder Laut-
wechsel, wie er auch individuell beschaffen sein mag, im generellen
Sinn als ein allmählicher und annähernd stetiger Vorgang angesehen
werden.
Mag aber gleich jener Unterschied des Stetigen und Plötzlichen,
solange man allein die äußere Erscheinungsweise der Lautänderungen
ins Auge faßt, nur ein relativer sein, so verhält es sich doch anders,
sobald man den ursprünglichen psychophysischen Bedingungen
der Lautänderungen nachgeht. Da diese Bedingungen notwendig
mit Einflüssen zusammenhängen, denen die individuellen Sprach-
organe unterworfen sind, so tritt darum hier der Grundsatz in seine
Rechte ein, daß sich kein Wechsel in einer redenden Gemeinschaft
vollziehen kann, der nicht in den Eigenschaften der Individuen
und in den Einwirkungen, denen sie unterworfen sind, vorgebildet
wäre. Demnach setzt die Analyse der generellen eine solche der
individuellen Bedingungen des Lautwandels voraus, und diese
können möglicherweise je nach der Beschaffenheit der Lautüber-
gänge abweichen, da Unterschieden der physischen Vorgänge auch
solche ihrer psychischen Bedingungen voraussichtlich entsprechen
werden.
In der Tat wird diese Voraussage durch die Beobachtung der
unabhängig von allen generellen Lautänderungen sich darbietenden
individuellen Abweichungen der Lautbildung durchaus
bestätigt. Solche Abweichungen treten nämlich erstens dadurch
ein, daß jedes individuelle Sprachorgan für jede Artikulationsweise,
die ihm möglich ist, einen gewissen Spielraum der Artikulation
besitzt, innerhalb dessen stetige Veränderungen möglich sind, die,
sobald irgendwelche Einflüsse eine bestimmte Richtung begünstigen,
die Anlage zur Entstehung eines stetig eintretenden Lautwandels
enthalten. Zweitens beobachten wir, daß im Verlaufe der Rede durch
fehlerhafte Artikulation ein Überspringen aus einer bestimmten
25*
388 Dei' Lautwandel.
Artikulationsform in eine andere, die außerhalb jenes Spielraums
der normalen Bewegungsamplitude liegt, eintreten kann, ein springen-
der Lautwechsel also, den man in seinen die normale Lautbildung
beeinflussenden Formen je nach seinen besonderen Eigenschaften
entweder als eine Lautvermengung oder als eine Wortvermengung
bezeichnet: das erstere dann, wenn die Abweichungen unter dem Ein-
flüsse nahe benachbarter Laute entstehen, das letztere, wenn sie in-
folge von Assoziationen mit andern, durch den Inhalt des Gesprochenen
lautlich oder begrifflich nahegelegten Wörtern zustande kommen.
Zu diesen Abweichungen kommt endlich noch eine dritte, darin be-
stehend, daß das individuelle Sprachorgan die Laute einer fremden
Sprache in ihrem Lautwerte zu verändern pflegt, auf welche Ver-
änderungen teils die abweichende physische Anlage des Sprachorgans,
teils Assoziationen mit Wörtern der eigenen Sprache bestimmend
einwirken. Das Studium dieser drei Arten individueller Lautände-
rungen, des Spielraums normaler Artikulationen, der Laut- und
Wortvermengungen, der Sprachmischungen, bildet so eine notwen-
dige Vorbereitung zu der psychophysischen Analyse jedes generellen
Lautwandels.
2. Spielraum der normalen Artikulationen.
Der Spielraum der normalen Artikulationen ist bei jedem ein-
zelnen Laut ein nicht unbeträchtlicher. Zugleich kann aber diesem
Begriff eine individuelle und eine generelle Bedeutung gegeben werden.
Der individuelle Spielraum äußert sich darin, daß der nämliche
Laut in verschiedenen Fällen innerhalb einer gewissen Breite variieren
kann. Dabei sind von diesem Begriff des individuellen Spielraums
diejenigen Lautmodifikationen auszuschließen, die von wechselnden
objektiven Bedingungen, namentlich von den verschiedenen Laut-
verbindungen abhängen. Denn hier handelt es sich in Wahrheit gar
nicht um denselben Laut, sondern um verschiedene Laute, die wir
nur wegen ihrer Ähnlichkeit gewöhnlich mit dem gleichen Zeichen
schreiben. Das a in lachen und laden, das e in gehen und Pferd, das p
in Post und Pfeil, vollends das betonte und das tonlose e in gehen,
lehen usw. sind wirklich verschiedene Laute, die in jeder strengeren
Spielraum der normalen Artikulationen. 389
phonetisciieii Schrift unterschieden werden müssen, wobei dann aber
wiederum wegen der unendlichen Zahl solcher Abstufungen eines
Lautes nur die größeren Intervalle berücksichtigt werden können.
Doch abgesehen von diesen wirklichen Unterschieden gibt es für einen
und denselben, in einem bestimmten Wort und unter sonst unver-
ändert bleibenden Bedingungen vorkommenden Sprachlaut gerade
so gut einen gewissen Spielraum der individuellen Artikulation, wie
unsere sonstigen Bewegungen, z. B. Größe, Verlauf und Richtung
der Gehbewegungen, variieren können.
Einen noch weiteren Umfang hat der Spielraum in der zweiten,
allgemeinen Bedeutung, wo er die Breite der Abweichungen der ein-
zelnen Individuen einer Sprachgemeinschaft von der mittleren durch-
schnittlichen Artikulationsform bezeichnet. Denn in diesem gene-
rellen Spielraum sind alle individuellen Spielräume enthalten,
derart, daß die häufigste Artikulationsweise des Einzelnen in jenem
eine bestimmte Stelle einnimmt. Hierdurch entsteht, zusammen
mit den Eigentümlichkeiten von Tonfall und Rhythmus, die indivi-
duelle Nuancierung der Sprache, die es uns möglich macht, eine uns
bekannte Person an ihrer Sprechweise unter Umständen aus tausend
andern Stimmen heraus zu erkennen.
In den beiden Bedeutungen, in denen hier der Begriff des Spiel-
raums der Artikulation gebraucht wurde, repräsentiert nun aber
dieser Begriff keine einfache, etwa nur nach zwei entgegengesetzten
Richtungen veränderliche Größe, sondern er läßt sich als eine ,, vier-
fach ausgedehnte Mannigfaltigkeit'^ auffassen, insofern er sich aus
vier Spielräumen zusammensetzt: aus der räumlichen Variation
der Artikulationsstelle, der zeitlichen der Lautdauer, der
intensiven der Lautstärke und der qualitativen der Tonhöhe.
In dem ersten dieser Spielräume bewegen sich die hauptsächlichsten
Veränderungen des Geräusch- und Klangcharakters, die den
Sprachlaut als solchen kennzeichnen. Der zweite und dritte kommen
vorzugsweise in dem Zusammenhang der verschiedenen Laute zur
Geltung, indem der zweite die relative Dauer, der dritte den relativen
Grad der Betonung bestimmt. Das nämliche gilt von dem vierten
Spielräume, dem der Tonhöhe. Nur kommt bei ihm außerdem in
Betracht, daß er bis zu einem gewissen Grade von dem ersten und
390 Der Lautwandel.
dritten, dem Klangcliarakter des Lautes und der Lautstärke, abhängt,
da namentlicli gewisse Vokalklänge höhere, andere tiefere Teiltöne
enthalten, und da mit der Lautstärke infolge der eintretenden größeren
Spannung der Stimmbänder in der Regel die Tonhöhe steigt. Ab-
gesehen vom Gesang, bilden schon in der gewöhnlichen Rede die Va-
riationen der Tonhöhe ein selbständiges Moment (S. 359 f). Durch
die innerhalb jener vier Spielräume möglichen Variationen sowie
durch die Wirkungen, die diese Schwankungen wieder aufeinander
ausüben, ist aber fortwährend die Möglichkeit zu allmählichen Laut-
änderungen gegeben. In der Tat sehen wir solche regelmäßig bereits
während des individuellen Lebens eintreten, namentlich wenn zu den
allgemeinen Bedingungen psychophysischer Entwicklung noch be-
sondere Einflüsse hinzutreten, wie sie Erziehung, Bildung und Ver-
kehr mit sich führen. Selten wird daher die Sprache eines Menschen
in zwei zeitlich weit auseinander liegenden Perioden seines Lebens
genau den gleichen Lautcharakter besitzen. Vielmehr kann sich hier
in beschränktem Umfang ein allmählicher Lautwandel vollziehen,
der sich möglicherweise von einer Generation zur andern steigert.
Darauf scheinen in der Tat die Unterschiede der Sprechweise hinzu-
weisen, die wir schon bei der Vergleichung der Sprache einer älteren
und einer jüngeren Generation des gleichen Volkes meist deutlich
bemerken ^).
3. Störungen der Lautbildung.
Anderer Art ist die zweite Klasse der obengenannten Bedin-
gungen möglicher Artikulationsänderungen, die der Artikulations-
fehler. Gröbere Fehler von konstanter Beschaffenheit sind Wirkimgen
1) So konnte Rousselot (Les modifications phon^tiques du langage, 6tu-
di^es dans le patois dune famille de Cellefrouin (Charente), 1901, p. 200) sogar
innerhalb einer ziemlich abgeschiedenen Bevölkerung schon bei der Vergleichung
zweier Generationen, die nur um 4 — 9 Jahre voneinander verschieden waren,
einen Übergang des moullierten l in / feststellen. Daß er bei seiner eigenen Mutter,
die er zehn Jahre hindurch beobachtete, keinerlei Veränderung wahrnahm, bildet
natürlich keine Gegeninstanz. Auch dürften wohl überhaupt die Perioden merk-
licher Änderungen, abgesehen von einem ausnahmsweise raschen Wechsel der
Lebensbedingungen, in der Regel größere sein.
Störungen der Lautbildung. 391
pathologischer Zustände, die als solche außerhalb des Kreises normaler
Lautänderungen liegen, aber deshalb hier herbeigezogen werden
müssen, weil sie gewissen noch in die Breite des Normalen fallenden
Erscheinungen analog sind. Nach ihren Sjnnptomen lassen sich die
pathologischen wie die normalen Artikulationsfehler in drei Klassen
ordnen, zwischen denen übrigens mannigfache Übergänge vorkommen
können: in die Lauterschwerungen (Dyslalien), die Lautver-
mengungen (Paralalien) und die Wortvermengungen (Onoma-
tomixien). Dabei verstehen wir unter den ,,Lautvermengungen''
solche Störungen der Lautbildung, die durch die Einwirkung von
Lauten des gleichen Wortes oder dicht aneinander grenzender Wörter
entstehen, während wir die aus der Einwirkung verschiedener, nicht
unmittelbar verbundener Wörter hervorgehenden Störungen als
Onomatomixien bezeichnen. Diese dritte Klasse wird von der zweiten
in der Regel nicht geschieden. Dennoch ist dies ebensowohl um des
verschiedenen Charakters der Erscheinungen willen, wie wegen der
Beziehungen, die sie zu wesentlich abweichenden Vorgängen des gene-
rellen Lautwechsels bieten, erforderlich^).
a. Lauterschwerungen.
Die Lauterschwerungen oder Dyslalien können entweder
auf fehlerhafter Bildung der peripheren Sprachwerkzeuge oder auf
zentralen Innervationsstörungen oder endlich auf beiden Momenten
zugleich beruhen. Ihre Symptome bestehen in einer Erschwerung
der Artikulation, die entweder alle Laute oder bloß einzelne treffen
kann. Ist dabei die Fähigkeit der Erzeugung der Laute vorhanden
und ihre Hervorbringung nur durch organische Bedingungen erschwert,
so entstehen die Erscheinungen des Stamm eins und Silbenstol-
perns. Bei ihnen pflegen sich stets mit peripheren Erschwerungen
1) Zusammenfassende Darstellungen der pathologischen Sprachstörungen
geben A. Kußmaul, Störungen der Sprache, 1877, S. 186 ff., und A. Liebmann,
Vorlesungen über Sprachstörungen, Heft 1—4, 1898 bis 1900. Die „Aphasie"
und „Paraphasie" werden uns, als Symptome, die für die psychologischen Be-
dingungen der Wortbildung bedeutsam sind, erst im nächsten Kapitel beschäf-
tigen.
392 Der Lautwandel.
zentrale Innervationsstörungen zu verbinden. Als der mildeste Fall
gehört hierher der Mangel an Übung in deutlicher Artikulation, wie
er als Folge fehlerhafter Erziehung und Selbsterziehung häufig vor-
kommt. Das durch periphere Erschwerungen oder mangelnde Sprach-
übung entstehende Stammeln kann ferner durch Angstgefühle, die
das Sprechen begleiten, und die auch mit sonstigen Störungen der
Koordination der Bewegungen verbunden sind, erheblich gesteigert
werden. Hier grenzt übrigens das Abnorme oft dicht an das noch
Normale. Denn jenes besteht eigentlich nur in einer schon bei gering-
fügigen Anlässen eintretenden Erschwerung des Sprechens, ähnlich
derjenigen, die auch dem gesunden Sprachorgan unter etwas schwie-
rigeren Bedingungen widerfährt. Mindestens bedarf es einer beson-
deren Übung, um nicht bei dem Versuche, schwer zu artikulierende
oder ungewöhnlich lange Wörter und Phrasen schnell auszusprechen,
dem Stammeln und Silbenstolpern anheimzufallen: so bei dem be-
kannten ,, Fritz frißt frische Fische" usw.
Wesentlich verschieden von diesen mit den Artikulations-
erschwerungen der normalen Sprache verwandten Erscheinungen
des Stammeins sind die des Stottern s. Sie beruhen auf einer teta-
nischen krampfhaften Innervation der Artikulationsorgane, sind
also, wie aus ihren Symptomen hervorgeht, vorwiegend zentralen
Ursprungs, wobei jedoch wiederum periphere Ursachen ihren Ein-
tritt begünstigen können. Auch der auffallende Einfluß psychischer
Bedingungen, die Verstärkung des Übels durch Angstgefühle, seine
Milderung durch methodische Erziehung und vor allem durch Übung
in willkürlicher langsamer Artikulation, bestätigen die zentrale Ent-
stehungsweise. Auf gemischte Ursachen sind schließlich die auf
einzelne Laute beschränkten Artikulationsfehler zurück-
zuführen, insofern bei ihnen ebenso die mangelnde Beweglichkeit
der äußeren Organe auf die Innervation wie umgekehrt die mangelnde
Übung dieser auf die Organe zurückwirken kann. Die beschränkten
Artikulationsfehler dieser Art führen regelmäßig zu Lautvertretun-
gen. Dabei lassen sich zwei verschiedene Grade der letzteren unter-
scheiden. Der stärkere besteht in der Substitution eines Lautes von
ganz abweichender Artikulationsform, z. B. in 'der Vertretung der
Oaumenlaute durch Resonanzlaute, der Lippenlaute durch Zungen-
Störungen der Lautbildung. 393
laute oder umgekehrt. Dies sind Lautvertretungen, wie man sie auch
beim Kind in der Zeit des Sprechenlernens (S. 314 ff.), sowie bei der
Assimilation der Wörter einer Sprache durch eine andere von abweichen-
dem Lautsystem beobachtet. Der schwächere Grad der Lautver-
tretung äußert sich in der Vertauschung nahe verwandter Laute,
wie z. B. in dem Ersatz des Zungen-r durch das Rachen-r, der Tenuis
f, h, t durch die Media h, g, d usw., Fälle, die bereits durchaus in die
Breite normaler Abweichungen und dialektischer Unterschiede hinüber-
spielen. Abgesehen hiervon bilden die Dyslalien denjenigen Grenz-
fall individueller Lautstörungen, wo diese ihrer Natur nach indivi-
duell bleiben. Denn indem die besonderen zentralen und peripheren
Momente, die eine derartige Erschwerung der Artikulation herbei-
führen, aus singulären Bedingungen der psychophysischen Organi-
sation entspringen, verschwinden sie im allgemeinen mit dem Indi-
viduum, bei dem sich jene Bedingungen vorfanden. Darin unterschei-
den sie sich wesentlich von den folgenden Lautstörungen, bei denen
eine jede individuell eintretende Abweichung in vielen andern In-
dividuen analoge Bedingungen vorfindet.
b. Lautvermengungen.
Im Unterschiede von der Dyslalie bleiben bei den Lautver-
mengungen oder Paralalien die einzelnen Lautbildungen an sich
normal, aber ihre Ordnung in der Zusammenfügung zum Worte wird
gestört. In diesem Symptom liegt schon ausgesprochen, daß aus-
schließlich zentrale Ursachen, und zwar solche, die den höheren Zen-
tralgebieten angehören, der pathologischen Paralalie zugrunde liegen.
Während uns ferner bei den Dyslalien, soweit sie zentral bedingt sind,
überall nur Störungen der Reflex- oder Koordinations Verbindungen be-
gegnen, ohne daß diesen physiologischen Vorgängen, die sich durchgängig
in den niedrigeren Nervenzentren abspielen, psychische Abweichungen
parallel gehen, sind umgekehrt bei den krankhaften Formen der Para-
lalie diese in der Regel vorhanden. So beobachtet man denn auch die auf-
fallendsten dieser Lautvermengungen in der Sprache Geisteskranker^).
1) Über die Sprache Geisteskranker vgl. Snell, AUg. Ztschr. f. Psychiatrie
IX, 1852, S. 11 ff. Brosius, ebenda XIV, 1857, S. 37 ff.
394 Der Lautwandel.
Zu den noch in die Breite des normalen Lebens fallenden
,,Paralalien" gehören viele Erscheinungen des sogenannten Ver-
sprechens. Sie sind ziemlich regelmäßige Begleitsymptome der
„Zerstreutheit", können aber außerdem durch eine ungewöhnliche
Geschwindigkeit des Kedeflusses unterstützt werden^). Hieraus er-
gibt sich, daß auch diese normalen Artikulationsfehler überwiegend
infolge psychischer Ursachen entstehen, denen gegenüber periphere
Bedingungen nur von sekundärer und untergeordneter Bedeutung
sind. Denn der Zustand der ,, Zerstreutheit" pflegt in einer Ablenkung
der Aufmerksamkeit zu bestehen, die ein Abschweifen auf assoziierte,
namentlich auch auf die unmittelbar nachfolgenden oder voraus-
gehenden Lautvorstellungen möglich macht.
Suchen wir die pathologischen Paralalien sowie die gewöhn-
lichen Erscheinungen des ,, Versprechens", soweit sie dem Gebiete
der oben definierten eigentlichen Lautvermengungen angehören,
nach psychologischen Gesichtspunkten zu ordnen, so lassen sie sich
in die drei Klassen der Einschaltungen, der Auslassungen und
der Umstellungen der Laute unterscheiden. Die erste dieser Er-
scheinungen, die Einschaltung, findet sich in pathologischen Fällen
außerordentlich häufig. Sie kann sich hier zu Einfügungen ganzer
Wort- und Satzbildungen erweitern oder auch aus völlig sinnlosen
Lautbildungen bestehen. In allen diesen Fällen sind die eingeschal-
teten Laute durch ihre häufige Wiederholung in hohem Grad eingeübt,
^) Meringer und Mayer, Versprechen und Verlesen. Eine psychologisch -
linguistische Studie, 1895. R. Meringer, Aus dem Leben der Sprache. 1908.
Viele der in beiden Schriften sorgfältig gesammelten Beispiele gehören aller-
dings nicht hierher, sondern teils zu der unten zu besprechenden Wortvermengung
(Onomatomixie), teils in das Gebiet der dem nächsten Kapitel vorzubehalten-
den Wortbildungsfehler (Paraphasien). Auch dehnen diese Autoren den Begriff
des ,, Versprechens" in einigen Fällen auf Redeformen aus, die zwar ungewöhn-
lich, deshalb aber doch nicht den Sprachstörungen zuzurechnen sind, so z. B.
auf die Vermischung bildlicher Ausdrücke in der poetischen Rede. Shakespeares
Worte im Hamlet ,,0r to take arms against a sea of troubles and by opposinge
end them" halte ich nicht mit den Verff. für eine falsche Kontamination (S. 58),
sondern für eine sehr schöne Metapher. Die Verstärkung des Eindrucks durch
eine Verbindung der Bilder ist eine berechtigte Eigentümlichkeit der Metapher.
(Vgl. unten Kap. VIII, Nr. V, 4.)
Störungen der Lautbildung. 395
SO daß sie offenbar meist absichtslos und nur dunkel bewußt auftreten.
Sie werden vor allem da in den Zusammenhang der Rede eingefügt,
wo diese aus irgendeinem Grunde vorübergehend stockt; doch können
sie sich in extremen Fällen auch fortwährend und zwangsweise der
Artikulation aufdrängen. Das Stocken des Gedankenflusses bietet
den nächsten Anlaß zu einer unwillkürlichen Ausfüllung der Pausen
durch Zwischenlaute, die dann zur Gewohnheit wird, so daß sie auch
da eintritt, wo jene ursprüngliche Ursache hinwegfällt. Innerhalb
längerer Wörter sind Schaltlaute als Silbenwiederholungen, z. B.
Indedeterminismus für Indeterminismus, oder als einfache Trennungen
zweier Laute, z. B. netonatorum für neonatorum, beim gewöhnlichen
Versprechen nicht ganz selten. Eine besondere Modifikation der Ein-
schaltungsgewohnheiten ist es, wenn manche Personen die Schluß-
worte der Sätze zu wiederholen pflegen. Da der Satzschluß in
der Regel mit einer Pause des Vor stellungs Verlaufs zusammen-
fällt, so ist dies nur ein spezieller Fall der allgemeinen Tat-
sache, daß die Schaltlaute vorzugsweise in derartigen Zwischen-
pausen auftreten.
Die zweite Klasse der Paralalien besteht in der Auslassung
von Lauten. Sie geht leicht durch Auslassung ganzer Wörter in die
syntaktischen Sprachfehler über. Bei der Lautfolge im einzelnen
Worte tritt die Auslassung besonders bei längeren Wörtern ein, und
es sind hier besonders die mittleren Laute, die ausfallen: die Laut-
bildung eilt ihrem Ende zu. So in der Ideenflucht der Irren, wo leicht
nicht nur Worte, sondern ganze Satzteile ausfallen können; aber auch
beim gewöhnlichen Versprechen, namentlich in sehr schneller Rede:
z. B. Substution für Substitution, Charaktologie für Charakterologie,
aller Leute für allerlei Leute u. ä. Durch die schon hier bemerk-
bare Antizipation des Folgenden, die die Lautbewegungen über-
stürzt, geht diese Verkürzung in die Erscheinungen der nächsten
Klasse über.
Diese dritte Klasse ist die der Umstellungen. Eine Um-
stellung von Lauten ist in doppelter Weise möglich. Entweder wird
ein späterer Laut vor einem andern, der ihm vorausgehen sollte, ge-
bildet; oder ein früherer Laut folgt einem andern nach, der eigentlich
später kommen sollte. Wo es sich um eine reine Umstellung handelt,
396 Der Lautwandel.
da sind natürlich beide Fälle immer zugleich vorhanden: jede Anti-
zipation ist für den Laut, der durch den vorausgenommenen zurück-
gedrängt wird, eine Postposition, und umgekehrt. Doch sind die
Störungen von verschiedenen Nebensymptomen begleitet, die bald
auf die eine, bald auf die andere Erscheinung als die primäre und für
beide zugleich auf abweichende Ursachen hinweisen. Die Voraus-
nahme besteht nämlich entweder in einer einfachen Umstellung,
wobei ein einzelner Laut oder ein ganzer Lautkomplex mit einem fol-
genden vertauscht wird, wie z. B. bei der Umwandlung von hegleiten
in gehleiten, von Raum und Zeit in Zaum und Reit, von Rotkohl in Kohl-
rot. Oder sie ist mit lautlichen Veränderungen verbunden, bei denen
sichtlich die ursprüngliche Lautform auf die veränderte noch ein-
gewirkt hat, wie z. B. bei dem Übergang von Totschläger in Schlag-
töter. In beiden Fällen kann kein Zweifel daran bestehen, daß die
Vorausnahme eines im regelmäßigen Vorstellungsverlaufe nach-
folgenden Gliedes die Ursache, und die eintretende Veränderung der
wirklich nachfolgenden bloß eine Folge jener Antizipation ist. Diese
selbst beruht aber offenbar darauf, daß die Wortvorstellungen samt
den an sie gebundenen Artikulationsimpulsen dem Fluß der Rede
vorauseilen. Im Verlaufe der normalen Rede ist fortwährend die
Hemmungsfunktion des Willens dahin gerichtet, Vorstellungsverlauf
und Artikulationsbewegung miteinander in Einklang zu bringen.
Wird die den Vorstellungen folgende Ausdrucksbewegung durch me-
chanische Ursachen verlangsamt, wie beim Schreiben oder aber auch
bei der Rede des Stammelnden, so treten daher solche Antizipationen
besonders leicht ein. Wir verschreiben uns schon unter normalen
Verhältnissen leichter als wir uns versprechen, und in den Schrift-
stücken der Idioten und paralytischen Geisteskranken ist, neben
der Auslassung von Silben oder Buchstaben, die Vorausnahme nach-
folgender Schriftzeichen eine häufige Erscheinung. Bei den nämlichen
Individuen findet man aber auch nicht selten das Symptom des so-
genannten ,,Silbenstolperns", das eben aus solchen Vorausnahmen
der Laute und den ihnen folgenden Wirkungen besteht. Die häufigste
dieser Wirkungen ist die, daß während der Antizipation einer folgen-
den Wortvorstellung auch die normale Assoziation der Laute, nament-
lich wenn diese durch mehrfache Anwendung eingeübt ist, auf die
Störungen der Lautbildung. 397
momentane Artikulation einwirkt, wodurch sich dann diese aus beiden
Wirkungen zusammensetzt: so bei der Umkehrung von Totschläger
in Schlagtöter,
Von allen diesen Erscheinungen imterscheiden sich durchaus
diejenigen Symptome, die entstehen, wenn ein bestimmter Laut oder
Laut komplex eine verspätete Wirkung auf das Bewußtsein ausübt.
Eine solche kann unabhängig von gleichzeitigen Vorausnahmen, die dann
stets als das Primäre anzusehen sind, nur in der Form einer Nach-
wirkung stattfinden, bei der ein vorangegangener Laut noch als
Vorstellung im Bewußtsein bleibt, während sich die folgenden Sprach-
bewegungen bereits abspielen. Dadurch entsteht entweder eine Ver-
mischung jenes vorausgegangenen mit dem augenblicklich geforderten
Laut oder eine völlige Verdrängung des letzteren durch jenen. So
in Artrillerie für Artillerie, Pomode für Pomade, Rautenkraune für
Rautenkrone. Besser als die Ausdrücke Antizipation und Postposition
drücken daher die andern der Vorausnahme und Nachwirkung
das Verhältnis der Vorgänge aus. Zugleich machen es diese Aus-
drücke verständlich, daß die durch Vorausnahme der Artikulationen
entstehenden Sprachfehler im allgemeinen häufiger sind als die aus
der Nachwirkung der Laute entspringenden. Daß der Vorstellungs-
verlauf schneller dahineilt als die Sprachbewegungen, ist eben eine
sehr leicht vorkommende, namentlich aber eine jeden Nachlaß der
normalen Willenshemmung begleitende Erscheinung. Darum ver-
sprechen wir uns in dieser Weise so leicht, wenn wir ,, zerstreut" sind.
Dagegen verschwindet das gesprochene Wort in der Regel sehr schnell
aus dem Bewußtsein, und nur ausnahmsweise, wenn aus irgendwelchen
Gründen die Vorstellungsbewegung gehemmt ist, bleibt es noch,
während sich schon ein neues Wort zur Apperzeption drängt. Einen
Fall dieser Art haben wir bei den regelmäßig progressiven Laut-
angleichungen der kindlichen Sprache beobachtet, wo eben offen-
bar die Schwerfälligkeit der Vorstellungsbewegung, die aus dem
Mangel an Übung entspringt, die Quelle der Erscheinung ist
(S. 318). Wegen ihrer wesentlich verschiedenen Bedingungen kommen
übrigens die Vorausnahme und die Nachwirkung der Laute selten
nebeneinander, und namentlich innerhalb einer und derselben Um-
stellimg fast niemals vor. Nur die pathologischen Fälle bieten hierzu
398 Der Lautwandel.
gelegentliche Beispiele, wie in Rartrillerie für Artillerie. Doch mögen
hier noch besondere Ursachen, in diesem Beispiel wahrscheinlich eine
abnorme Neigung zur Artikulation des r, hinzukommen.
c. Wortvermengungen.
Durch ihre dem eigenen Verlauf der Vorstellungen und Arti-
kulationen entgegengesetzte Richtung nähern sich die Nachwirkungen
der Laute bereits der dritten Klasse individueller Sprachstörungen,
den Wortvermengungen, unter denen wir hier Artikulationsfehler
verstehen, die infolge von Assoziationen mit andern laut- und be-
griff sverwandten Wörtern eintreten. Von den Erscheinungen des
gewöhnlichen Versprechens gehört hierher wahrscheinlich die aus-
nehmend häufige Verwechselung von Fisch und Schiff, wo sowohl
das erste für das zweite wie das zweite für das erste Wort eintreten
kann. Zwar läßt sich dies Beispiel auch als eine Vorausnahme der
Laute deuten. Doch stehen beide Wörter jedenfalls unter einer wechsel-
seitigen lautlichen und begrifflichen Assoziationswirkung, die wohl
zusammen den Austausch vermitteln. Häufiger kommen ähnliche
Erscheinungen in der Form falscher Wortzusammensetzungen vor,
wobei die Bestandteile aus verschiedenen assoziativ verbundenen
Wörtern bestehen, z. B. Zwittellaut, zusammengesetzt aus Mittellaut
und Zwitterlaut. Namentlich kurz vorher gesprochene Laute oder
Wörter assoziieren sich leicht auf diese Weise mit den nachfolgenden.
Jemand hat z. B. eben von Gegenständen gesprochen und redet dann
von der ,, Verschärfung der Gegenstände" statt der ,, Verschärfung
der Gegensätze''. Oder: „erworbene Körperveränderungen enverhen
sich nicht" statt „vererben sich nicht", konkret und kontrakt statt ab-
strakt usw. Auch bei Geisteskranken sind derartige Phänomene nicht
selten. Sie kommen hier besonders in der Form der Neubildung von
Wörtern vor, die freilich manchmal ganz willkürliche oder zufällig
aufgegriffene Lautgebilde sein können, oft aber auch aus der Asso-
ziation zweier irgendwie lautlich verwandter oder sonst in Beziehung
stejiender Wörter hervorgehen, wie z. B. Idensität aus Identität und
Intensität, Kontraktionskohäsion durch Lautassoziation von Kon-
traktion und Kohäsion u. a. Mehr als in solchen einzelnen Wort-
Störungen der Lautbildung. 399
bildungen gibt sich aber die ungeheure Macht der Lautasso-
ziationen bei der Ideenflucht der Irren in den Wortwiederholungen
kund, bei denen Laute, die ursprünglich vielleicht zufällig zu-
sammengeraten sind, fortwährend in der nämlichen äußeren Asso-
ziation wiederkehren.
Abgesehen von diesen Fällen des normalen Zerstreutseins oder
der pathologischen Gedankenverwirrung, die beide auf die gleiche
Ursache, auf die Vorherrschaft loser Assoziationen bei schweifender
Aufmerksamkeit, zurückführen, kommt die Onomatomixie aber auch
noch unter einer wesentlich andern Bedingung vor, nämlich bei man-
gelnder Übung im Gebrauch der Sprache überhaupt oder gewisser
in dem gegebenen Zusammenhang benutzter Wörter, an deren Stelle
sich dann andere irgendwie lautverwandte ganz oder teilweise ein-
schieben. So nicht selten beim Keden in einer fremden Sprache, als
Bestandteil des sogenannten Radebrechens. Dann aber auch bei der
verwandten Erscheinung des ,, Messingisch", den Vermischungen
von Dialekt und Schriftsprache bei solchen, die in der letzteren un-
geübt sind, oder endlich oft besonders drastisch in der Vermischung
von Fremdwörtern, Fritz Reuter bietet namentlich in der ,,Strom-
tid" dafür zahlreiche Beispiele, z. B. Element statt Eleve, Gregorius
für Chirurgus, Operamente statt Operationen (Assoziation mit Sakra-
mente) qualrfikaziert statt qualifiziert, nach Analogie von Qualifikation,
,,ich bin dem Herrn Großherzog sein Fasan'', statt Vasall usw. In
diesen Fällen ist es die unzureichende Festigkeit der Assoziation zwischen
dem Begriff und dem zugehörigen Wort, die die Vermengung her-
beiführt.
Diesen Erscheinungen nahe verwandt sind schließlich die falschen
Wortbildungen in der Sprache des Kindes, die in den der vollen Be-
herrschung der Sprache unmittelbar vorangehenden Stadien vor-
kommen, am meisten in der Zeit zwischen dem dritten und sechsten
Lebensjahr, aber in einzelnen Fehlgriffen auch noch darüber hinaus.
Vermengungen der Stammbestandteile laut- oder begriffsverwandter
Wörter finden sich in der Kindersprache selten; augenscheinlich weil
der Wortvorrat überhaupt noch ein beschränkter ist. Um so mehr
wirken die Abwandlungsformen des gleichen Wortes oder verschiedener
Wörter aufeinander ein und erzeugen dadurch die mannigfachsten
400 Der Lautwandel.
Vermengungen der Wortformen. So bildete ein Kind das Substantiv
Setz statt Sitz durcb Assoziation mit setzen, zu Ameise einen falschen
Singular Amaus nach Analogie zu Maus, Mäuse. Am verbreitetsten
sind aber, offenbar wegen ihrer die sichere Einübung erschwerenden
Mannigfaltigkeit, die durch Assoziationen bewirkten Abweichungen
der Verbalflexion. Sie können in den verschiedensten Eichtungen
auftreten. Besonders das deutsche Praeteritum mit seinem Wechsel
zwischen starker und schwacher Form und seinen verschiedenen vo-
kalischen Umlauten innerhalb der ersteren bietet Anlaß zu außer-
ordentlich häufigen Vermengungen. So bildete ein von mir beobach-
tetes Kind schaß zu schießen, offenbar durch Vermengmig mit aß
zu essen, dagegen iß zu essen durch Vermengung mit ließ zu
lassen. Zugleich ist bei allen diesen Vermengungen verschiedener
Wortformen leicht zu bemerken, daß die am häufigsten gebrauchten,
weil sie eben die eingeübteren sind, am leichtesten Assoziationswir-
kungen äußern. Hieraus erklärt sich, daß die anomalen, aus abweichen-
den Wortstämmen gebildeten Formen leicht nach Analogie der nor-
malen Bildungen umgewandelt werden: also guter statt besser, vieler
statt mehr, „wir hinnen'' statt „wir sind'' u. dgl. Auch die Erschei-
nung, daß das Kind beim Gebrauch der Genera das Neutrum be-
vorzugt oder allein anwendet, gehört hierher. Infolge des verschwen-
derischen Gebrauchs der Diminutivbildungen in der Kindersprache
hat in dieser das Neutrum von vornherein das Übergewicht, und die
Macht der Übung verschafft ihm daher in zweifelhaften Fällen stets
die Vorherrschaft. Endlich wird hierdurch die Tatsache verständlich,
daß die überwiegende Richtung der Vertauschungen im Deutschen
beim Nomen wie Verbum von der starken zur schwachen Form geht.
Da die schwachen Formen an und für sich schon die Mehrheit bilden
und außerdem durch die übrigen Formen des gleichen Wortes begünstigt
werden, so erkennt man darin wiederum die Wirkung der größeren
assoziativen Übung. So bildet das Kind mit Vorliebe Formen wie
gebte, gehte, trinhte für gab, ging, trank usw. ^). Zu diesen Wirkungen
^) Weitere hierher gehörige Beispiele vgl. bei Gust. Lindner, Aus dem
Naturgarten der Kindersprache, 1898, S. 101 ff., und W. Ament, Entwicklung
von Sprechen und Denken, S. 166 ff. Analoge Beobachtungen an französischen
Störungen der Lautbildung. 401
der assoziativen Angleichung anderer Wortformen an die häufigsten
und geübtesten gehört ohne Zweifel auch die in die früheste Zeit der
Aneignung der Sprache fallende Ersetzung aller möglichen andern
Verbalformen durch den Infinitiv. Sie ist die Folge des ausgedehnten
Gebrauchs, den in unseren modernen Sprachen der Infinitiv in seinen
Verbindungen mit den Hilfsverben findet. Indem in solchen Ver-
bindungen wie ,,ich will gehen", ,, werde gehen", ,,soll gehen", ,,muß
gehen" usw. durch alle Personen der Einzahl und Mehrzahl hindurch
immer das Wort ,, gehen" als konstanter Bestandteil wiederkehrt,
wird es zu derjenigen Form, die zum Ausdruck aller möglichen Modi-
fikationen des Begriffs dient, solange die für diese in der Sprache
vorhandenen Ausdrucksformen noch nicht geläufig sind. Auch diese
Erscheinung ist also eine Wirkung der Assoziationsübung, die nicht
im geringsten etwa mit der abstrakteren Bedeutung des Infinitivs
zusammenhängt, für die das Kind in dieser Lebenszeit überhaupt
kein Verständnis hat. Wie andere Sprachfehler, so kann übrigens
auch dieser bei fortdauerndem Mangel an Übung in begrifflicher Son-
derung der Redeteile aus der Kindheit in die spätere Lebenszeit hin-
übergenommen werden, wo er dann manchmal irrtümlicherweise für
absichtlichen Lakonismus gehalten wird.
Diese Erscheinungen der Kindersprache gleichen bereits so sehr
den in der normalen Sprachentwicklung vorkommenden sogenannten
,, Analogiebildungen", daß man vielfach nicht nur auf ihre unver-
kennbare Verwandtschaft hingewiesen, sondern sogar vermutet hat,
die ,, Analogiebildungen" seien ursprünglich aus der Kindersprache
in die allgemeine Sprache eingedrungen. Dies ist aber kaum wahr-
scheinlich. Einerseits ist nicht einzusehen, warum nicht dieselben
Assoziationsmotive, die beim Kinde wirksam sind, auch in der all-
gemeinen Sprache zur Geltung kommen sollten. Anderseits weichen
die Veränderungen dieser durch ihre allmähliche und stetige Ent-
wicklung durchaus ab von der irregulären, vielfach von Fall zu Fall
wechselnden Wortvermischung des Kindes. Diese unabhängige Ent-
Kindem bei E. Egger, Observations et r^flexions sur le d^veloppement de l'in-
telligence et du langage chez les enfants, 1879, p. 40. Compayre, Entwicklung
der Kindesseele, S. 316 ff.
Wunät, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. ^^
402 I^er Lautwandel.
stehungsweise ist es jedoch, die aucli liier die individuellen Erschei-
nungen für das Studium der generellen wertvoll macht, weil wir bei
jenen die Vorgänge, die uns hier im allgemeinen nur in ihren Kesul-
taten entgegentreten, noch in ihrer unmittelbaren Entstehungsweise
beobachten können.
Überblickt man die gesamten Laut- und Wort vermengungen,
wie sie in der Breite des normalen Lebens bald infolge schweifender
Aufmerksamkeit, bald als Wirkungen sich überstürzenden Rede-
flusses oder, wie beim Kind, als solche mangelnder Artikulations-
übung beobachtet werden, 'so sind es offenbar zwei Punkte, in denen
diese Erscheinungen übereinstimmen. Erstens vollziehen sie sich
stets absichtslos. Die Fehler des gewöhnlichen Versprechens wer-
den entweder von dem Redenden selbst gar nicht bemerkt oder ver-
spätet, nachdem das falsche Wort ausgesprochen ist. Das gilt selbst
von den auffallendsten dieser Sprechfehler, von den Laut- und Wort-
einschaltungen, wie sie als gewohnheitsmäßige Ausfüllungen der
Redepausen bei Gesunden und besonders bei Geisteskranken vor-
kommen. Auch diese fühlen sich widerstandslos der Macht der in
ihrem Bewußtsein auftauchenden und die Artikulationsorgane zur
Mitbewegung hinreißenden Laut vor Stellungen, selbst wenn solche
aus ganzen Wortgruppen und Sätzen bestehen, preisgegeben. Zweitens
spielen bei der Erzeugung dieser Sprachfehler gelegentlich wohl me-
chanische Erschwerungen der Artikulation eine gewisse Rolle. Doch
sind sie in vielen Fällen, namentlich bei den Lautversetzungen und
Wortvermengungen, ganz ausgeschlossen. So ist gebleiten nicht leichter
als hegleiten, Artrillerie ist schwieriger als Artillerie usw. Was dagegen
niemals fehlt, das sind gewisse psychische Einflüsse. Dahin gehört
zunächst als positive Bedingung der ungehemmte Fluß der von den
gesprochenen Lauten angeregten Laut- und Wortassoziationen.
Ihm tritt der Wegfall oder Nachlaß der diesen Lauf hemmenden Wir-
kungen des Willens und der Aufmerksamkeit als negatives Moment
zur Seite. Ob jenes Spiel der Assoziationen darin sich äußert, daß ein
kommender Laut antizipiert oder ein vorausgegangener reproduziert
oder ein gewohnheitsmäßiger zwischen andere eingeschaltet wird,
oder endlich darin, daß ganz andere Worte, die mit den gesprochenen
Lauten in assoziativer Beziehung stehen, auf diese herüberwirken, —
Störungen der Lautbildung. 403
alles dies bezeichnet nur Unterschiede in der Eichtung und allenfalls
in dem Spielraum der stattfindenden Assoziationen, nicht in der all-
gemeinen Natur derselben. Auch kann es in manchen Fällen zweifel-
haft sein, welcher Form man eine bestimmte Störung zuzurechnen,
oder ob man sie nicht mit größerem Rechte, nach dem Prinzip der
Komplikation der Ursachen, auf ein Zusammentreffen mehrerer Mo-
tive zurückzuführen habe. So kann die Umwandlung von hegleiten
in gehleiten auf Vorausnahme: sie kann aber auch auf freier Asso-
ziation zahlreicher Wörter mit der Anfangssilbe ge, oder sie kann end-
lich auf der speziellen Assoziation mit dem begriffsverwandten geleiten
beruhen. Netonatorum kann als einfache Einschaltung eines Lautes,
es kann aber auch als Vorausnahme des t der vorletzten Silbe gedeutet
werden. Pomode ist zunächst wohl eine Lautnachwirkung, doch ist
daneben die Assoziation mit Kommode nicht ausgeschlossen; bei Zauyn
und Reit ist die Vorausnahme wahrscheinlich das primäre Moment,
aber die Existenz der Wörter Zaum und reiten und ihre begriffliche
Assoziation mag mitgewirkt haben. Übrigens bilden die verschiedenen
Formen assoziativer Einflüsse insofern eine Stufenreihe der Symptome,
als infolge der natürlichen Richtung des Redeflusses die Voraus-
nahmen am leichtesten vorkommen, die Nachwirkungen und die
Übergänge auf andere Wortgebilde dagegen höhere Grade der Stö-
rung bezeichnen. Darum finden sich die Vorausnahmen in den ge-
wöhnlich beobachteten Fällen des Versprechens am häufigsten; die
Nachwirkungen und die Vermengungen disparater Wörter werden
nur bei hohen Graden der ,, Zerstreutheit", außerdem bei noch mangeln-
der Redeübung, oder endlich als Symptome geistiger Paralyse wahr-
genommen.
Alle diese Ergebnisse stehen im vollen Einklang mit bekannten
experimentellen Beobachtungen über Laut- und Wortassoziationen.
Ermittelt man in einer großen Zahl von Fällen die auf ein zugerufenes,
vorher nicht erwartetes Wort im Bewußtsein aufsteigenden Vor-
stellungen, so zeigt sich, daß schon beim normalen Menschen solche
Assoziationen überwiegen, bei denen das Wort ein anderes lediglich
nach der Lautähnlichkeit oder nach sonstigen äußeren Beziehungen,
z. B. nach häufiger Verbindung, wachruft. Mit dem Nachlaß hemmen-
der imd regulierender Willenseinflüsse auf den Vorstellungsverlauf
26*
404 Der Lautwandel.
nimmt nun aber namentlich die Menge der reinen Lautassoziationen
noch erheblich zu. Diese Zunahme ist daher eine der gewöhnlichsten
Erscheinungen der geistigen Störung^).
4. Sprachmischungen und Mischsprachen.
Mit der Betrachtung des Einflusses der Sprachmischungen auf
die individuelle Lautbildung betreten wir bereits ein Gebiet, auf dem
die individuellen in generelle Erscheinungen des Lautwechsels über-
gehen. Indem der Einzelne aus einer fremden Sprache ein Wort auf-
nimmt, ändert er dessen Lautcharakter nach der Anlage seiner Sprach-
organe und nach den besonderen Laut- und Begriffsassoziationen,
die in ihm bereit liegen. Auf diese Weise ist die entstehende Laut-
änderung zunächst ein individueller Vorgang. Aber da fast überall,
wo sich dieser Vorgang ereignet, ähnliche Bedingungen bei einer
größeren Zahl von Menschen wiederkehren, so entsteht aus dieser
individuellen sofort eine generelle Erscheinung, bei der nun die Ein-
zelnen in eine Wechselwirkung treten, infolge deren die größeren in-
dividuellen Unterschiede allmählich sich ausgleichen. Die Sprach-
mischung kann auf diesem Wege, wenn die Zufuhr fremden Sprach-
guts zunimmt, die der Gemeinschaft ursprünglich eigentümliche
Sprache mehr und mehr umgestalten und sie in eine Mischsprache
überführen^). Der Eintritt eines Einzelnen mit fremder Muttersprache
in eine bestimmte Sprachgemeinschaft pflegt einen Austausch herbei-
zuführen, der sich auf alle Bestandteile einer Sprache, auf Laute,
Wörter und Satzfügungen, erstrecken kann. Dieser Austausch steigert
^) Trautscholdt, Philos. Studien, I, 1883, S. 218. Asehaffenburg, Kraepe-
lins Psychologische Arbeiten, I, 1896, S. 64, 72. II, 1899, S. 4 ff., 14, 49 f. C. G.
Jung und F. Riklin, Diagnostische Assoziationsstudien, 1906.
2) Auf die Wichtigkeit des Studiums der Sprachmischungen für die Laut-
und Begriffsseite der Sprache hat besonders eindringlich H. Schuchardt hin-
gewiesen: Slawo-Deutsches und Slawo- Italienisches, .1884, und Zeitschrift für
romanische Philologie, herausgeg. von G. Gröber, XII, 1888, S. 242, 301 ff..
XIII, 1889, S. 463 ff . (Negerportugiesisch und Indoportugiesisch.) Vgl. a. Win-
disch, Zur Theorie der Mischsprachen und Lehnwörter, Ber. der sächs. Ges. der
Wiss. 1897.
Sprachmischungen und Mischsprachen. 405
sich, wenn mehrere mit dem gleichen fremden Idiom in dieselbe Ge-
meinschaft aufgenommen werden, und mit der wachsenden Zahl nähert
er sich der Grenze, wo ein annäherndes Gleichgewicht zwischen Nehmen
und Geben eintreten kann. Während das Idiom des einzelnen Ein-
wanderers in der Kegel sehr bald spurlos in der Masse verschwindet,
erhält nun aber eine zusammengehörige Gruppe, indem sie unter sich
die alte Muttersprache pflegt, diese länger und entwickelt einen größeren
Einfluß auf die Umgebung^). Das Maß dieses Einflusses, mit dem
die eigene Widerstandskraft gegen die fremde Sprache gleichen Schritt
hält, ist von verschiedenen Faktoren abhängig, und es verteilt sich
auf die Bestandteile der Sprache in sehr ungleichem Grade. So ist
der Einfluß kulturell höher stehender Individuen begreiflicherweise
im allgemeinen größer, und infolge dieses Übergewichts teilt bei Rassen-
mischungen die höhere Rasse leichter der niederen ihre Sprache mit
als umgekehrt. Ferner ist es eine Begleiterscheinung dieser über-
wiegenden Wirkung, daß die aufgenommene fremde Sprache
relativ wenig verändert wird, während die Muttersprache
derer, die sich das neue Idiom aneignen, durch Aufnahme
fremder Bestandteile entartet^). So ist das allemannische
Deutsch der Elsässer durch den Einfluß des Französischen, so das
Deutsch der in Amerika eingewanderten Deutschen unter dem Ein-
fluß des Englischen zur Mischsprache geworden, während das Fran-
zösisch der ersteren, das Englisch der letzteren weit weniger von ihrer
ursprünglichen deutschen Muttersprache beeinflußt werden. Dabei
verhalten sich aber die einzelnen Bestandteile der Sprache in diesem
Wettkampf der Kulturen wesentlich verschieden. Was die Sprache
der höheren Kultur in die der niederen überträgt, das ist hauptsäch-
lich ein Teil des Wortschatzes. Das neue Wort als Zeichen eines neuen
Begriffs wird mit diesem selbst aufgenommen. Viel widerstands-
fähiger als gegen die Einfuhr fremder Wörter verhält sich eine Sprache
1) Über einzelne Bedingungen solcher Ausbreitung finden sich lehrreiche
Ausführungen mit Bezug auf die slawischen Sprachmengungen in Österreich
bei Schuchardt, Slawo-Deutsches usw., S. 11 ff.
2) Vgl. Schuchardt, Slawo-Deutsches usw., S. 35 f. Windisch a. a. O.,
S. 104.
406 Der Lautwandel.
gegen die Aufnahme fremder Satzfügungen und Wortabwandlungen.
Dies ist leicht begreiflich, da diese Formen von den psychischen Ge-
setzen abhängen, nach denen die Vorstellungen verbunden werden.
Diese Gesetze können natürlich beharren, selbst wenn sich ein großer
Teil des Wortschatzes verändert hat. So läßt das Judendeutsch auch
da, wo es alle hebräischen Wortabkömmlinge abgestreift hat, und
wo die, die es reden, vielleicht keines einzigen hebräischen Wortes
mehr kundig sind, dennoch in Satzkonstruktion und Rhythmus deut-
lich den Einfluß der hebräischen Sprache erkennen.
Ahnlich ist das Lautmaterial, aus dem die Wörter einer Sprache
bestehen, sehr viel beharrlicher und widerstandsfähiger gegen in-
dividuelle Einflüsse als der Wortvorrat. Dies gibt sich daran zu er-
kennen, daß nicht bloß bei der Übertragung einzelner Lehnwörter,
sondern auch bei der Aufnahme ganzer Wortverbindungen und bei
der Entstehung wirklicher Sprachmischungen nicht der Laut-
bestand der aufnehmenden, sondern der der aufgenom-
menen Sprache die wesentlichsten Veränderungen erfährt.
Das Lehnwort wird durch Laut Vertretungen und Lautangleichungen,
aufgenommene Phrasen werden außerdem durch Einschiebung ge-
läufiger Wortbildungen aus der eigenen Sprache assimiliert. Dabei
ist es augenfällig, daß im geraden Gegensatz zu der Aufnahme der
begrifflichen Seite des Wortvorrats diese lautliche Umbildung um so
eingreifender, die Aneignung also um so vollständiger zu sein pflegt,
auf einer je niedrigeren Kulturstufe sich die aufnehmende Sprach-
gemeinschaft befindet. So erfahren die Wörter europäischer Sprachen
die stärksten Umwandlungen, wenn sie in die Sprachen der Natur-
völker übergehen^). Diese Umwandlungen sind denen der kindlichen
Sprache insofern ähnlich, als die Assimilation des Dargebotenen an
das eigene Lautmaterial in beiden Fällen eine möglichst vollstän-
dige ist. Hierin liegt zugleich die Erklärung für jenen überwiegenden
Einfluß, den bei der Sprachmischung die primitivere Rasse auf das
Lautmaterial der Sprache ausübt. Dieses Übergewicht beruht hier
1) Vgl. Beispiele aus dem kreolischen Romanisch bei Schuchardt, Gröbers
Zeitschrift, XII, S. 245 ff., XIII, S. 467 ff., dazu die Lautumwandlungen der
Kindersprache, oben Kap. III, S. 314 ff.
Sprachmischungen und Mischsprachen. 407
nicht sowohl auf einer positiven Einwirkung, als auf dem Unver-
mögen, den neu sich darbietenden Lautgebilden die eigenen Artiku-
lationsbewegungen anzupassen.
Abweichend von diesen Erscheinungen bei der Mischung fremder
Sprachen verhalten sich in mancher Beziehung die allmählichen Über-
tragungen und Ausgleichungen, die man da beobachtet, wo Dialekte
einer und derselben Sprache miteinander in Berührung treten.
Diese Vorgänge sind deshalb von besonderem Interesse, weil sich
dabei in gewissem Grad unter unsern Augen Ereignisse vollziehen,
die zweifellos bei allen allmählich imd stetig geschehenden Laut-
änderungen der Sprache wirksam sind. So beobachtet man, daß inner-
halb eines Bezirks mit kleineren dialektischen Abweichungen die
größeren Städte die ländliche Bevölkerung, aus der sie namentlich
die jugendlichen, neuen Eindrücken zugänglichsten Lebensalter an-
ziehen, auch in der Sprache allmählich sich angleichen. Mit städtischen
Lebensanschauungen und Sitten bringt der Dienstbote und Fabrik-
arbeiter die städtische Sprechweise in seine alte Heimat mit^). Noch
schärfer prägen sich diese Erscheinungen da aus, wo abweichendere
Dialekte aneinander grenzen. Auch in diesem Fall pflegt die An-
gleichung die Regel einzuhalten, daß die in Wirtschaft und Verkehr
zurückstehenden Gebiete vorwiegend von den fortgeschritteneren
beeinflußt werden. Dabei schreitet sie in bestimmten Stadien vor,
indem sie von solchen Lautgebilden ausgeht, die in den häufiger ge-
brauchten Wörtern vorkommen, um von da aus langsamer auf die
Gesamtheit der Laute überzugreifen^). In beiden Fällen ist es die
jüngere Generation, bei welcher die Veränderung beginnt. Zunächst
ist es wahrscheinlich das fortgeschrittenere Jugendalter, das fremde
Laute und Worte in die Heimat einführt. Dann ist es das Kindes-
alter in dem Stadium der sich vollendenden Aneignung der Sprache,
das die Neuerungen bereitwillig aufnimmt, während die Generation
der Alten auch hier noch an dem Überkommenen festhält. So ent-
1) Vgl. einige Beispiele aus deutschem Sprachgebiet bei Otto Bremer,
Deutsche Phonetik, 1893, Vorwort S. X.
2) Rousselot, Les modifications phon^tiques du langage etc., p. 147 ff.,
348.
408 Der Lautwandel.
springt dieser Einfluß der jüngeren Generation wohl aus zwei inein-
ander greifenden Momenten: aus dem lebhafteren Verkehr, der die
reifere Jugend beeinflußt, und aus der größeren Anpassungsfähig-
keit der Sprachorgane, an der mit dieser in noch höherem Maße das
Kindesalter teilnimmt. In einzelnen dieser Erscheinungen hat man
eine Stütze für die Annahme eines individuellen und zufälligen Ur-
sprungs solcher Veränderungen gesehen. Der ländliche Arbeiter bringe
etwa eine neue Aussprache aus der Stadt in seine Dorfgemeinde, weil
ihm jene als die vornehmere erscheine. Nun soll gewiß nicht geleugnet
werden, daß gelegentlich einmal etwas Derartiges vorkommt. Aber
diese singulären Fälle willkürlicher Nachahmung sind offenbar auf
die regelmäßigen Erscheinungen der Ausbreitung und Angleichung
der Lautformen im wesentlichen ohne Einfluß. Der individuelle Fall
verschwindet wirkungslos, wenn er einem weiter verbreiteten Vor-
gang sich einreiht. (Vgl. oben Einl. S. 22 ff.) So können wohl auch
einmal Sprachfehler Einzelner nachgeahmt werden. Doch der Zwang,
den sie den Sprachorganen aufnötigen, läßt sie bald spurlos wieder
verschwinden. Die dauernden Wandlungen der Laute verbreiten
sich aber unwillkürlich, und ohne daß die Beteiligten selbst davon
ein deutliches Bewußtsein besitzen, indem ihnen, im Gegensatze zu
jenen gezwungenen Nachahmungen, die Artikulation willig entgegen-
kommt. Dafür spricht denn auch, daß das Jünglingsalter bei der
ersten Aufnahme des Fremden, dagegen das frühere Kindesalter bei
der weiteren Ausbreitung die Hauptrolle spielt. Der individuelle
Einfluß gewinnt eben dann erst die zureichende Macht zur Hervor-
bringung allgemeiner Veränderungen, wenn er durch die unabhängige
Wiederholung in zahlreichen Einzelfällen zu einem generellen wird,
und namentlich dann, wenn ihm in der Bevölkerung selbst schon
allgemeine Anlagen förderlich sind. Die Träger dieser Anlagen sind
aber vornehmlich die Angehörigen der neuen Generation mit ihren
bildsameren Organen und ihrer höheren Rezeptivität für neue Ein-
drücke^).
1) Auch Rousselot (a. a. O., p. 350, 352) betont diese generelle Natur der
sprachlichen Veränderungen. Wenn freilich seine Vergleichung des Vorgangs
mit der Ausbreitung einer Epidemie zu der äußerst problematischen Hypothese
Sprachmischungen und Mischsprachen. 409
Bei allen jenen Lautänderungen, die im Gefolge der Spracli-
Tind Dialektmischung eintreten, sind übrigens sichtlich zwei phy-
siologische Momente wirksam: ein akustisches und ein motorisches.
Beide sind infolge der unmittelbaren Verbindung der Sprachlaute
und Artikulationsempfindungen fest assoziiert. Das fremde Wort
wird zunächst als Lautbild geläufigen Lauten der eigenen Sprache
angeglichen, wobei die Veränderung, die es erfährt, mit dem Abstand
der abweichenden Artikulationsgewohnheiten zunimmt. Dieser Um-
bildung des akustischen Eindrucks entsprechend werden dann bei
der Übertragung des gehörten Lautes in eigene Sprachbewegungen
diese noch einmal im Sinne der eingeübten Bewegungsformen ver-
schoben. Darum pflegt beim Nachsprechen eines Fremdworts dem
Radebrechenden selbst die Abweichung seiner Aussprache nicht ganz
zu entgehen; aber er hält doch seine Aussprache da schon für richtig,
wo sie dies in Wahrheit noch lange nicht ist. Worte, die ein Mensch
nicht korrekt aussprechen kann, vermag er wegen der mangelhaften
Wirkung der Artikulationsempfindung innerhalb der Wortkompli-
kation auch nicht richtig zu hören ^). Er überträgt sie daher in die
nach Laut und Bewegungsempfindung nächsten aus dem ihm geläu-
figen Vorrat, wobei jedoch immerhin der gehörte Laut eine gewisse
Wirkung im Sinne seiner ursprünglichen Artikulationsweise ausübt.
WT'as die Art unterscheidet, in der der Gebildete und der Mann aus
dem Volk ein ihm neues Fremdwort nachspricht, das ist darum vor
allem die durch die mannigfaltigere Übung gesteigerte Fähigkeit
des ersteren, jener von dem gehörten Laut ausgeübten Wirkung nach-
zugeben und auf diese Weise akustisch wie motorisch Sprachlaute
zu reproduzieren, die ursprünglich außerhalb des Umfangs der ihm
gewohnten Artikulationen lagen. Ebenso ist dann wieder vermöge
einer mehr oder weniger plötzlich eintretenden Blutänderung führt, die das
pneumogastrische Nervensystem affiziere, für die er die geringe Wider-
standskraft des Kindesalters gegen das Neue geltend macht, so ist er,
wie ich glaube, hier an den näherliegenden psychophysischen Bedingungen vorüber-
gegangen.
^) Vgl. die Parallelerscheinungen aus der Kindersprache, Kap. III,
:S. 315 ff.
410 Der Lautwandel.
der oben erörterten Bedingungen durchweg bei der jüngeren Gene-
ration die Anpassungsfähigkeit größer als bei der älteren. Wo wirk-
licbe Sprachmiscliungen eintreten, wie in den Grenzgebieten ver-
schiedener Nationen, teilt sich dann diese Erweiterung des Laut- und
Artikulationsumfangs größeren Kreisen der Bevölkerung mit. Die
Macht der ursprünglich eingeübten Bewegungsformen ist aber auch
in solchen Fällen noch daran zu erkennen, daß der Lautcharakter
der aufgenommenen fremden Sprache dann am wenigsten gefälscht
wird, wenn sie ausschließlich zur Anwendung kommt. Hier greift
dann die für den Wortschatz geltende Regel, daß die aufgenommene
Fremdsprache unverändert bleibt, mit einer gewissen Annäherung,
wenngleich nicht im selben Maß, auch für die Sprachlaute Platz,
Dies trifft aber für die ursprüngliche Muttersprache nicht mehr zu,
sondern während diese durch aufgenommene Fremdwörter verun-
staltet wird, gleichen sich die letzteren zugleich dem Lautcharakter
der Muttersprache an. So kann man beobachten, daß die Elsässer
und die gleich ihnen in manchen Kantonen stark von der franzö-
sischen Sprache beeinflußten Schweizer das Französische auf zwei
verschiedene Arten aussprechen, die namentlich bei Ungebildeteren
sehr beträchtlich abweichen können: als ein erträglich reines Fran-
zösisch, wenn sie sich französisch unterhalten, und als ein sehr stark
durch das Alemannische lautlich verderbtes Französisch in den ein-
zelnen französischen Wörtern und Phrasen, die sie in ihre deutsche
Unterhaltung einstreuen. Ahnlich verhält es sich mit den Deutsch-
amerikanern, wo sie in größeren Mengen zusammen wohnen. Neben
einem verhältnismäßig reinen Englisch herrscht bei ihnen ein Deutsch,
das durch zahlreiche englische Wörter verunstaltet ist; diese eng-
lischen Wörter sind aber dialektisch gänzlich verderbt.
Zum Teil erklärt sich diese Erscheinung wohl daraus, daß ver-
schiedene Sprachen abweichende Konfigurationen der Sprachwerk-
zeuge erfordern, die in dem Fluß der Rede nicht plötzlich gegeneinander
ausgewechselt werden können. Im weiteren Verlauf wirkt aber wohl
noch mit, daß eine solche Mischsprache ein Idiom für sich ist, das nicht
bloß als Ganzes, sondern in allen seinen Bestandteilen von der an-
geeigneten fremden Sprache unterschieden wird. Das scheinbar
gleiche und nur lautlich abweichende Wort in beiden Sprachen ist
Grundformen des generellen Lautwandels. 411
daher in Wahrheit dennoch nicht völlig das gleiche Wort. Wesent-
liche Bedingung für den Eintritt aller dieser Erscheinungen bleibt
es aber stets, daß der eindringenden fremden Sprache eine einiger-
maßen geschlossene Gemeinschaft oder mindestens eine größere Zahl
von Individuen, die durch Verkehr und gemeinsame Sprache zu-
sammengehalten werden, gegenübersteht^).
Auch diese Tatsachen lehren, daß der allgemeine Lautcharakter
einer Sprache eine verhältnismäßig stabile, viel weniger individuell
bestimmte Eigenschaft ist als ihr begrifflicher Wortvorrat. Mag der
Einzelne unter günstigen Umständen durch Worte und selbst Satz-
wendungen die Sprache dauernd beeinflussen, dem überlieferten Laut-
bestand gegenüber ist das Individuum in der Regel machtlos. Im
engsten Kreise kann es wohl durch seine Sprechweise auf andere ein-
wirken. Solche Einflüsse äußern aber nur dann dauernde Wirkungen,
wenn sie in einer großen Zahl weiterer Individuen der gleichen Ab-
änderungsrichtung begegnen, wenn sich also das Individuelle durch
vielfache Wiederholung der gleichen Bedingungen von selbst zum
Generellen erweitert.
5. Grundformen des generellen Lautwandels.
Von zwei verschiedenen Gesichtspunkten kann man bei dem Ver-
such einer Klassifikation der Erscheinungen des Lautwandels aus-
gehen: von einem ,, logischen" und einem „psychophysischen". Vom
1) Als Beispiel der obenerwähnten Wü-kung auf die assimilierten fremden
Elemente mögen die folgenden Sätze aus dem ,,Pennsylvania-Dutch" dienen,
die ich einer von M. Grünbaum (Mischsprachen und Sprachmischungen, Vir-
chows und Holtzendorffs Vorträge, 1886, S. 42) mitgeteilten Geschäftsreklame
einer pennsylvanischen Zeitung entnehme. Die zugrunde liegende Muttersprache
ist der Pfälzer Dialekt, der in seinem Lautcharakter vollständig erhalten geblieben
ist und diesen den aufgenommenen englischen Wörtern mitgeteilt hat. ,,Sagt
der Pit (Peter): wann sei Lebtag Leut mich geplihst (to please) han, so warens
de zweh Deutsche . . . Do hab ich mir von denne a Suht (suite) kaft, un nau
(now) fihl ich mich so stolz wie e General . . . Well, loß der Stiem raus (let the
steam out), do muß ich anne . . . wir sind determt (determined) Bissness (business)
zu tun."
412 Der Lautwandel,
logischen Standpunkt aus ist es lediglich der Geltungsbereich der
die einzelnen Erscheinungen beherrschenden Lautgesetze, ohne jede
Rücksicht auf den eigentümlichen Inhalt derselben, der für die Gruppie-
rung der Tatsachen in Betracht kommt. Neben diesem Umfang der
Gültigkeit kann außerdem noch die Eigenschaft bestimmter Gleich-
förmigkeiten des Geschehens, daß sie stets miteinander verbunden
vorkommen, als ein formales Merkmal angesehen werden, so daß also
z. B., wenn innerhalb eines Sprachgebiets der Übergang der Aspirata
in die Media und derjenige der Media in die Tenuis sich begleitende
Veränderungen sind, diese letzteren als der Inhalt eines allgemeineren
Lautgesetzes gelten. Nun kann es, wie oben bemerkt wurde (S. 373),
,, ausnahmslose Lautgesetze" höchstens dann geben, wenn die Kon-
kurrenz mit andern Gesetzen nicht verändernd einwirkt. Es liegt
aber in der Natur der Sache, daß es sich dabei in der Regel um ge-
wisse Grenzfälle handeln wird, bei denen zu irgendwelchen Ursachen
bestimmter Lautänderungen spezielle Bedingungen hinzutreten,
welche die Wirksamkeit konkurrierender Ursachen ausschließen.
So kommt es, daß diejenigen Lautgesetze, die eine solche Ausnahms-
losigkeit für sich in Anspruch nehmen können, meist nicht allgemeinster,
sondern umgekehrt speziellster Art sind, und daß sie, wenn man ihnen
eine allgemeine Formulierung zu geben sucht, nicht selten den Charakter
von Regeln mit Ausnahmen oder sogar von Ausnahmen zu allgemeineren
Regeln annehmen^). Wohl aber gibt es Lautgesetze, die gegenüber
andern in doppelter Beziehung eine ausgezeichnete Stellung einnehmen :
erstens insofern die einzelnen Tatsachen, die unter sie gehören, an
Zahl besonders groß sind, und zweitens insofern, als sie eine unge-
wöhnlich große Menge regelmäßig koexistierender Vorgänge um-
fassen. Wir wollen den durch diese beiden Eigenschaften formal aus-
gezeichneten Lautwandel der regulären, und die für ihn geltenden
1) Dahin gehören z. B. die von Delbrück (Grundfragen der Sprachforschung,
8. 102) angeführten Fälle „ausnahmsloser Lautgesetze'*, daß im Griechischen
am Ende des Wortes t und d abfallen und m in n übergeht (z. B. fiiki aus *(X6Xit,
vgl. Gen. fisXiT-og, &kXo6 aus *aAAo = lat. aliud, "rniov lat. equum), Beispiele,
wo eben die ausschließlich für das Ende des Wortes geltende Erscheinung
das sogenannte Gesetz sofort als eine Ausnahme zu der sonst bestehenden Kon-
stanz jener Laute kennzeichnet.
Grundformen des generellen Lautwandels. 413
empirischen Gesetze die „regulären Lautgesetze" nennen. Alle die-
jenigen Veränderungen, die nur einzelne Tatsachen der Lautgeschichte
oder beschränkte Gruppen solcher umfassen, und bei denen die regel-
mäßig begleitenden Veränderungen fehlen oder ebenfalls von be-
schränktem Umfange sind, wird man dann als singulären Laut-
wandel bezeichnen können.
Nach dem zweiten, dem psychophysischen Gesichtspunkte
zerfallen die Erscheinungen des Lautwandels gemäß den Bedingungen
ihrer individuellen Entstehung in Formen stetiger und in solche
sprungweiser Änderungen. Hierbei sind aber diese zeitlichen Ver-
schiedenheiten nur äußere Symptome innerer Unterschiede. Phy-
siologisch können nämlich die stetigen Lautänderungen nur zwischen
Lauten von verwandter Artikulationsform vor sich gehen, die sich
nach den früher (S. 389) erwähnten vier Richtungen des Artikulations-
raumes, der Lautdauer, der Tonhöhe und der Lautstärke verändern.
Der sprunghafte Lautwechsel dagegen vollzieht sich zwischen allen
möglichen an sich völlig unverwandten Lauten, und es ist bei ihm
nur die allgemeine Veränderung der Artikulationsform von Bedeutung.
Psychophysisch beruht demnach der stetige Lautwandel im all-
gemeinen auf stetig vor sich gehenden Veränderungen der psycho-
physischen Organisation, da nur dann die Veränderungen selbst mehr
oder weniger stetig erfolgen können. Außerdem kann aber bei ihnen,
wie wir voraussetzen dürfen, die Komplikation der Bedingungen
eine größere sein, da stetige Änderungen überall leichter und darum
unter mannigfaltigeren Einflüssen eintreten können als plötzliche.
Darum kann auch leicht über ihre wirklichen Ursachen größere Un-
sicherheit herrschen. Dem gegenüber werden sich die springenden
Lautänderungen zwar ebenfalls nur allmählich über eine redende Ge-
meinschaft ausbreiten. Da sie aber von dem individuellen Sprach-
organ jedesmal plötzlich vollzogen werden müssen, so ist hier der Um-
fang der stattfindenden Abweichung größer und augenfälliger, während
zugleich ihre Bedingungen zumeist die Veränderungen enger begrenzen.
Diese Bedingungen bestehen in der Tat durchweg in einzelnen asso-
ziativen Einwirkungen verschiedener Lautgebilde aufeinander. Dem-
nach fällt im ganzen die psychophysische Einteilung mit der logischen
in dem Sinne zusammen, daß der reguläre Lautwandel einerseits
414 Der Lautwandel.
ein stetiger und anderseits ein allgemeiner ist, wobei sich freilich
sowohl die Geschwindigkeit der Veränderungen wie der Umfang des
Sprachgebiets, das sie ergreifen, zwischen weiten Grenzen bewegen
kann, während der singulare in den besonderen Wirkungen
der Lautbestandteile einer Sprache aufeinander seine
konkreten psychophysischen Ursachen hat.
Weiterhin lassen sich nun aber die Formen des singulären
Lautwandels aus dem Verhältnis ableiten, in dem die soziolo-
gischen zu den individuellen psychologischen Bedingungen stehen.
Bezeichnen nämlich die verschiedenen Klassen der unter normalen
wie abnormen Verhältnissen als individuelle Abweichungen vor-
kommenden Laut- und Wortvermengungen die überhaupt möglichen
Richtungen, nach denen Lautänderungen stattfinden, so sind es an-
derseits soziologische Bedingungen, die gewisse Abweichungen
in bestimmte Grenzen einschränken und andern einen Vorrang ver-
schaffen. In erster Linie steht hier das Prinzip der Ausschaltung
allzu großer Abweichungen. Es ist ein allgemein für das Verhält-
nis der individuellen zu den ihnen entsprechenden generellen Verände-
rungen gültiges Gesetz, das wir kurz als das der soziologischen
Auslese bezeichnen können. Durch diese Auslese bleiben nament-
lich die beiden ersten Arten allgemeiner Sprachfehler, die Einschal-
tungen und Auslassungen von Lauten, in ihrer generellen Ver-
breitung durchaus in jene Grenzen eingeschränkt, wo sie zugleich
eine physiologische Erleichterung der Artikulation bewirken. Da die
Motive, die zu einer solchen drängen, wiederum nahe mit allgemeinen
Veränderungen zusammenhängen, so sind erleichternde ,, Dissimila-
tionen" sowie die der beschleunigten Artikulation sich fügenden Laut-
abschwächungen, die allmählich in eine völlige Elimination einzelner
Laute übergehen können, sehr allgemeine Begleiterscheinungen des
regulären Lautwandels. Eine noch größere Bedeutung besitzen so-
dann die Vorausnahmen und die Nachwirkungen der Laute.
Für beide gilt die in dem Prinzip der soziologischen Auslese begründete
Einschränkung, daß, im Unterschiede von den weit umfangreicheren
individuellen Sprachfehlern analoger Art, bei dem generellen Laut-
wechsel nur benachbarte Laute solche Einflüsse äußern. Wir
können daher diese Erscheinungen, die gewöhnlich ,, regressive und
Grundformen des generellen Lautwandels. 415
progressive Assimilationen" genannt werden, als assoziative Kon-
taktwirkungen der Laute bezeiclinen. Das Attribut „assoziativ"
weist darauf hin, daß, wie bereits die Betrachtung der entsprechenden
individuellen Artikulationsfehler gezeigt hat, trotz mithelfender phy-
siologischer Momente das hauptsächlich wirksame Motiv in Laut-
assoziationen besteht. Solche sind endlich noch bei der letzten Gruppe
von Lautänderungen anzutreffen, die den „Wortvermengungen"
parallel gehen. Wir wollen sie, da in diesem Falle die Assoziationen
von mehr oder minder fern liegenden Lautgebilden ausgehen, die
assoziativen Fernewirkungen der Laute nennen. Bei ihnen
wird, im Vergleich mit den außerordentlich mannigfaltigen indivi-
duellen Sprachfehlern von gleichem psychologischem Charakter,
wiederum in hohem Grade die soziologische Auslese wirksam,
da hier nur gewisse oft wiederkehrende Verbindungen, die durch
grammatische und begriffliche Beziehungen nahegelegt werden, einen
dauernden Einfluß auf die Sprache gewinnen. Die große Mehr-
zahl zufälliger individueller Entgleisungen dagegen geht spurlos an
ihr vorüber.
Während die bisher unterschiedenen Lautänderungen Vorgänge
sind, die sich in einer geschlossenen Sprachgemeinschaft lediglich
durch die in der Sprache selbst und in den allgemeinen Kulturein-
flüssen gelegenen Bedingungen vollziehen können, tritt diesen end-
lich eine letzte Gruppe von Erscheinungen gegenüber, an denen sich
die Einflüsse fremder Sprachgemeinschaften oder einzelner ihnen
entlehnter Wortgebilde verraten. Hier müssen freilich für uns die
möglicherweise sehr umfangreichen Sprachmischungen ganz außer
Betracht bleiben, die, einer vorhistorischen Zeit angehörend, vielleicht
für den Lautbestand der uns überlieferten ,, Ursprachen" bestimmend
gewesen sind. Diese Fragen mögen noch einmal Aufgaben der prä-
historischen Sprachforschung werden, der psychologischen Unter-
suchung bieten sie keinerlei Angriffspunkte. Wohl aber hat diese
diejenigen Sprachmischungen, die als Wirkungen des Völkerverkehrs
fortwährend in die Entwicklung der Sprache eingreifen, in die bei
ihnen wirksamen psychischen Vorgänge zu zerlegen. Hierher gehören
die Lautveränderungen bei der Wortentlehnung. Gegenüber den die
ganze Sprache umgestaltenden Sprachmischungen bilden übrigens
416 Der Lautwandel.
die Wortentlehnungen einen verhältnismäßig zurücktretenden Be-
standteil der Sprachentwicklung.
Indem die hier aufgezählten Formen des Lautwandels, abge-
sehen von noch spezielleren Ursachen, die sich unserer Nachweisung
entziehen, sowie von den später zu erörternden Wechselwirkungen
von Laut- und Bedeutungswandel, fortwährend nebeneinander auf
die Sprache einwirken, ist diese von einer Fülle sich durchkreuzen-
der Gesetze beherrscht, deren jedes naturgemäß nur gelten kann,
wenn es nicht durch andere, im gegebenen Fall zwingendere Gesetze
aufgehoben wird. Unter diesen treten zunächst die des regulären
Lautwandels den mannigfachen einzelnen Kontakt- und Assoziations-
wirkungen gegenüber, die wir auf singulare Lautgesetze zurückführen
können. Da jene im ganzen die konstanteren, diese die variableren
sind, so erklärt sich daraus hinreichend die verbreitete Vorstellung,
daß der reguläre Lautwandel die eigentlichen, im engeren Sinne so
zu nennenden ,, Lautgesetze" in sich schließe, deren Geltung nun in
einzelnen Fällen durch spezielle Bedingungen aufgehoben oder modi-
fiziert werde. Da ferner der reguläre Lautwandel, wie das seine größere
Regelmäßigkeit schon mit sich bringt, im allgemeinen bei sehr wech-
selnden Verbindungen der Laute vorkommen kann, so pflegt man ihn
auch den ,, selbständigen" zu nennen und ihn als solchen speziell dem
aus Kontaktwirkungen hervorgehenden als dem ,, abhängigen" oder
,, kombinatorischen" gegenüberzustellen. Nun ist aber klar, daß in
dem verbreiteteren Vorkommen an und für sich noch keinerlei Be-
weisgrund für die Annahme liegen kann, hier sei es der einzelne Laut
als solcher, der eine von äußeren Bedingungen völlig unabhängige
Veränderung erfahren habe, wie dies der Ausdruck ,, selbständig"
andeutet. Vielmehr kann es sehr wohl sein, daß solche äußere Be-
dingungen dabei nur in einer viel größeren Zahl von Fällen und unter
sonst mannigfach variierenden Umständen auf den Laut eingewirkt
haben. In der Tat ist ja ein im strengen Sinne ,, selbständiger" Laut-
wandel schon deshalb ein Ding der Unmöglichkeit, weil der einzelne
Sprachlaut kein isoliertes Gebilde, sondern ein aus dem Wortzu-
sammenhang durch Abstraktion gewonnenes Element ist. Wenn aber
der einzelne Laut durchweg in Verbindung mit andern Lauten steht,
so kann er unmöglich von diesen Verbindungen unabhängige Ver-
Grundformen des generellen Lautwandels. 417
änderungen erfahren. In Wirkliclikeit bestätigen das auch, wie wir
unten sehen werden, die Erscheinungen, indem sie zeigen, daß die
sogenannten ,, Lautgesetze" selbst wiederum nur Abstraktionen aus
gewissen durchschnittlichen Lautänderungen sind, die in den einzelnen
Fällen durch den Zusammenhang mit andern Lauten mannigfach
bedingt sind. Demnach wollen wir den Ausdruck ,, selbständiger"
Lautwandel um so mehr vermeiden, weil er zwischen den beiden Klassen
mehr oder minder regulärer und relativ singulärer Lautänderungen
eine Kluft errichtet, die tatsächlich nirgends existiert. Indem er dazu
verführt, das alte Schema der grammatischen Regel und ihrer Aus-
nahmen auf die Lautgesetze zu übertragen, erweckt er überdies von
vornherein die Vorstellung, die eigentlichen Lautgesetze beruhten
auf spezifischen, von Kontakt- und Assoziationseinflüssen gänzlich
verschiedenen Kräften. Da diese auf die einzelnen Laute selbständig
wirken sollen, so liegt es dann außerdem nahe, sie wiederum auf eine
einzige allgemeine Ursache zurückzuführen, über die man sich nun
in mancherlei vagen Vermutungen ergeht. Natürlich sind aber alle
diese Voraussetzungen von vornherein ebenso unwahrscheinlich, wie
es die Annahme eines selbständigen Lautwandels überhaupt ist. Denn
unter je mannigfaltigeren Bedingungen der reguläre Wechsel vor-
kommt, um so wahrscheinlicher ist es, daß er sich nicht durch die Ein-
fachheit, sondern umgekehrt durch die Komplikation der Ursachen
unterscheidet; und bei den singulären Lautänderungen wird die Zu-
rückführung auf bestimmte einzelne Bedingungen eben deshalb leichter
möglich, weil hier diese von einfacherer Natur sind. Das für die nähere
Untersuchung maßgebende Merkmal ist daher nicht dies, daß die
regulären Lautänderungen strengeren Gesetzen folgen als die singu-
lären; mindestens muß dies vorläufig ganz dahingestellt bleiben.
Noch weniger ist es zulässig, von vornherein anzunehmen, beidemal
seien die Erscheinungen auf wesentlich verschiedene Ursachen zurück-
zuführen. Vielmehr bleibt der einzige Unterschied, den wir ohne vor-
zugreifen machen dürfen, der, daß singulare Veränderungen durch-
weg auf bestimmte einzelne Bedingungen zurückführbar sind, die
wir entweder direkt nachweisen oder mit verhältnismäßiger Sicher-
heit aus den näheren Umständen erschließen können, während sich
die Ursachen des regulären Lautwandels zunächst unserem Nach-
W n n d t , Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. 27
418 Der Lautwandel.
weis entzielien. Damit wird aber für die Untersuchung beider Gruppen
eine Maxime maßgebend, die zu der gewöbnlich befolgten den vollen
Gegensatz bildet. Während diese unter der immer noch herrschenden
Vorstellung steht, der reguläre Lautwandel sei eine Art allgemein-
verbindlicher Norm, der die singulären Erscheinungen infolge irgend-
welcher Ausnahmebedingungen widerstreiten, haben wir hier ledig-
lich der Maxime zu folgen, daß man bei einer Klasse zusammengehöriger
und überall einander durchkreuzender Erscheinungen nicht vom Un-
bekannteren und darum voraussichtlich Verwickelteren zum Bekann-
teren und Einfacheren, sondern umgekehrt von diesem 'zu jenem über-
zugehen hat. Zunächst werden daher die Fälle verhältnismäßig leicht
zu durchschauender Lautänderungen zu durchforschen und damit
gewisse unzweifelhaft vorhandene Ursachen des Lautwandels fest-
zustellen sein, um dann erst zur Untersuchung derjenigen Erschei-
nungen fortzuschreiten, bei denen dies bis dahin nicht in gleicher
Weise gelungen ist. Demnach gehen wir aus von den assoziativen
Kontaktwirkungen der Laute. Von ihnen führt dann die Be-
trachtung naturgemäß zu solchen Veränderungen, die wir als die
assoziativen Fernewirkungen der Laute zusammenfassen
können. An diese schließen sich, mehr als eine besondere Gruppe denn
als eine spezifische Art solcher Fernewirkungen, die vorzugsweise bei
Wortentlehnungen stattfindenden Laut- und Begriffsassoziationen
an. Nachdem wir durch die Betrachtung aller dieser Fälle singulären
Lautwandels mit den Bedingungen vertraut geworden sind, unter
denen in einzelnen, durch die Gunst der Umstände zugänglicheren
Fällen Lautänderungen bedingt werden, wollen wir uns schließlich
den Erscheinungen des regulären Lautwandels zuwenden, bei
denen dies im allgemeinen nicht mehr zutrifft, die aber wegen ihrer
weitgreifenden geschichtlichen Zusammenhänge ein besonderes Inter-
esse in Anspruch nehmen.
Regressive und progressive Lautinduktion. 419
IIL Assoziative Kontaktwirkungen der Laute.
1. Regressive und progressive Lautinduktion.
Als Kontaktwirkungen sollen hier alle diejenigen Lautände-
rungen bezeichnet werden, die sich unmittelbar als Folgen der Ein-
wirkung eines Lautes auf einen andern, der sich in seiner Nähe, also
in der Regel in unmittelbarer Wortverbindung mit ihm befindet,
darstellen. Für die Kontaktwirkungen ist es demnach kennzeichnend,
daß nicht bloß der Lautwandel selbst, sondern auch der ihn herbei-
führende äußere Anlaß direkt unserer Beobachtung gegeben ist.
Übrigens sind auch bei den Kontaktwirkungen nur die äußeren Be-
dingungen der Vorgänge in gewissen die Veränderung bewirkenden
Lauten der direkten Beobachtung zugänglich; auf die Gründe, aus
denen ein einzelner Laut tatsächlich auf einen andern einwirkt, läßt
sich erst aus der Vergleichung einer größeren Anzahl analoger Er-
scheinungen und aus Beobachtungen über die bei dem Kontakt der
Laute obwaltenden physischen und psychischen Bedingungen zurück-
schließen.
Bezeichnen wir, nach dem Vorbilde der für gewisse physikalische
und physiologische Ferne- und Nahewirkungen eingeführten Namen,
denjenigen Laut, von dem eine verändernde Wirkung ausgeht, als
den ,, induzierenden", den, der die Veränderung erleidet, als den ,, in-
duzierten", so können nun sowohl bei unmittelbarer Berührung beider,
wie bei mittelbarer, wo sich zwischen sie noch andere Lautelemente
einschieben, Kontakterscheinungen stattfinden. Immer jedoch be-
steht die Bedingung, daß beide Laute einander nahe genug seien,
um sowohl physisch wie psychisch eine direkte Einwirkung möglich
zu machen, — physisch, insofern die beiden Artikulationsbewegungen
einander schnell genug folgen; psychisch, insofern vorausgesetzt
werden darf, daß sich beide Laute während einer gewissen Zeit zu-
sammen im Bewußtsein befinden. Ferner kann die Kontaktwirkung
eine einseitige sein, so daß von den zwei in Beziehung tretenden Lauten
der eine der induzierende, der andere der induzierte ist; oder es kann
eine Wechselwirkung vorliegen, wo dann jeder Laut induzierend und
27*
420 I^er Lautwandel.
induziert zugleich ist. Von diesen beiden mögliclien Fällen ist der
erstere jedenfalls der weitaus häufigere: die Kontaktwirkungen der
Laute sind in der Regel einseitiger Art.
Unter den in dem obigen Sinne zu definierenden Kontakterschei-
nungen nehmen nun diejenigen die erste Stelle ein, bei denen sich die
Wirkung auf die Erzeugung eines qualitativen Lautwechsels beschränkt,
ohne daß Lautverlust und Einschaltung von Lauten stattfindet:
die sogenannten ,, kombinatorischen Lautänderungen". Sie lassen
sich in verschiedene Unterformen scheiden. Die Lautinduktion kann
nämlich hier sowohl in qualitativ wie in zeitlich entgegengesetzten
Richtungen stattfinden. Die qualitativen Gegensätze bestehen
darin, daß der induzierende Laut entweder den induzierten sich ähn-
lich, oder aber daß er ihn sich unähnlich macht, — daß er also im
ersten Fall eine qualitativ attrahierende, im zweiten eine abstoßende
Wirkung ausübt. Dort pflegt man die Erscheinung als ,, Assimilation",
hier als „Dissimilation" zu bezeichnen. In jedem dieser Fälle kann
aber außerdem die zeitliche Richtung der Wirkung eine entgegen-
gesetzte sein, indem ein Laut entweder auf einen ihm vorausgehenden
oder auf einen ihm nachfolgenden induzierend einwirkt: im ersten
Fall nennt man die Wirkung eine ,, regressive", im zweiten eine „pro-
gressive". Demnach zerfallen die Erscheinungen der eigentlichen
Lautinduktion in vier Formen: in eine regressive und progressive
Assimilation, und in eine regressive und progressive Dissi-
milation. Unter ihnen überwiegen weitaus die Assimilationen und
ebenso wiederum, wenigstens in den uns näher stehenden Kultur-
sprachen, die regressiven Wirkungen. Die häufigste unter den ge-
nannten Erscheinungen ist daher überhaupt die ,, regressive Assimi-
lation" oder diejenige Kontaktwirkung, bei der ein bestimmter Laut
einen ihm in der Rede vorausgehenden in solcher Weise induziert,
daß dieser ihm angeglichen wird.
Auf die abweichenden Bedingungen der regressiven und der
progressiven Assimilation weist nun schon die Tatsache hin,
daß jede in der Regel auf Laute von verschiedenem Klangcharakter
ihre Wirkungen ausübt. Bei der gewöhnlichen „regressiven Assi-
milation" gehören die aufeinander einwirkenden Laute am häufigsten
der Klasse der konsonantischen Geräuschlaute an; der ,, progressiven.
Regressive und progressive Lautinduktion. 421
Assimilation" unterliegen öfter die Vokale und die Halbvokale. Wo
die Vokale überhaupt eine assimilierende Wirkung äußern, sei es eine
regressive oder progressive, da geschieht dies außerdem niemals in
unmittelbarer Berührung, wie zumeist bei den Konsonanten, sondern
über zwischenliegende Konsonanten hinweg. So gehören zu den ge-
wöhnlichsten regressiven Assimilationen Übergänge wie adsimilare
in assimilare, adferre in afferre, adgredi in aggredi, adtrahere in attra-
here, conligere in colligere usw., ferner von agnus in angnus, supmus
in summus, sedla in sella, oder im Italienischen fiotto aus lat. fluctus,
fatto aus f actus, im Deutschen hatte aus habte, empfangen, empfinden
aus entfangen, entfinden, griech. e/ußdllco aus evßdlXco, elleino) aus
evlelmo usw. Die Kontaktwirkung besteht hier teils in einer völligen,
teils in einer bloß partiellen Angleichung, in einer Annäherung der
Artikulation des vorangehenden an den nachfolgenden induzieren-
den Laut: erster es z. B. in supmus — summus, adsimilare — assimilare,
habte — hatte, letzteres in agnus — angnus, entfangen — empfangen,
h'ßalloj — ifißdllco. Viel seltener ist die progressive Assimilation
konsonantischer Laute, wie in klimmen aus Mimben, lat. forfex aus
forpex, Vulva aus vulba u. a., Fälle, die zugleich an Erscheinungen
der Dissimilation, der Elision und der Umstellung der Laute, mit
denen sie im Erfolg zusammentreffen, nahe angrenzen^). Umgekehrt
ist die vokalische Assimilation in regressiver Richtung eine verhält-
nismäßig seltene Erscheinung. Doch gehören hierher wahrscheinlich
Fälle wie im lat. similis (simul), facilis (facultas), wo die adjektivische
Endung auf den Stammvokal zurückgewirkt zu haben scheint, femer
der Umlaut im Deutschen, wie der Übergang von ahd. gasti in gesti,
mhd. geste ,, Gäste", fallit in fellit ,, fällt", handi in hendi „Hände",
brüt in plur. bruiti ,, Bräute" usw., in welchen Fällen wieder in der
Regel eine bloße Annäherung des vorausgehenden an den nachfolgen-
1) Eine systematische Übersicht über alle diese, hier nicht näher zu er-
örternden, aber in den wesentlichen Motiven mit den Formen der Assimilation
und Dissimilation übereinstimmenden Erscheinungen für das indogermanische
Gebiet gibt Brugmann, Kurze vergl. Grammatik, S. 225 ff., für die romanischen
Sprachen Meyer-Lübke, Gramm, der romanischen Sprachen, Bd. 1, S. 315 ff.
Vgl. auch E. Wechssler, Gibt es Lautgesetze ? S. 140 ff.
422 Der Lautwandel.
den Vokal, keine völlige Angleichung zu beobacliten ist. Um so häu-
figer ist progressive Assimilation der Vokale. So lat. fulguris aus
^fuLgoris (vgl. temporis), aM. hohona aus Jiöhana „von oben". Vor
allem aber geboren hierher die Erscheinungen der sogenannten ,, Vo-
kalharmonie" in den ural-altaischen, den malaiischen und polyne-
sischen Sprachen. In den beiden letzteren Sprachgruppen hängt
dieselbe mit den hier außerordentlich verbreiteten Verdoppelungs-
erscheinungen zusammen, die es bewirkt haben, daß viele Wörter
dieser Sprachen überhaupt nur noch als Verdoppelungsformen vor-
kommen. Da man in solchen Fällen meist annehmen darf, daß die
einfache Form die ursprüngliche sei, so kann diese dann zugleich als
der induzierende Laut betrachtet werden; und da die Betonung auf
dem inlautenden Vokal liegt, so sind hier wahrscheinlich ähnliche assi-
milierende Bedingungen wie bei der eigentlichen Assimilation wenigstens
von mitbestimmender Wirkung. In der Tat zeigen diese Sprachen
auch da, wo keine eigentliche Wiederholung vorliegt, eine große Neigung
zur Bildung zweisilbiger Wörter mit gleichen, durch einen konso-
nantischen Laut getrennten Vokalen. Noch charakteristischer äußert
sich die progressive Vokalassimilation in den uralischen und altaischen
Wortbildungen, wo dasselbe Suffix in seinen übrigen Bestandteilen
konstant zu bleiben, in seinen vokalischen Elementen aber derart
zu variieren pflegt, daß diese jedesmal dem vokalischen Inlaut
des vorangehenden Wortstamms angeglichen sind. So heißt im
Jakutischen aga-lar Väter, äsä-lär Bären, ogo-lor Kinder, ebenso
aga-ttan vom Vater, äsä-ttän vom Bären, ogo-tton vom Kinde.
Ähnlich im Türkischen sev-mek lieben, hak-mah erblicken, mä-niäk
kennen usw.
Gegenüber diesen mannigfaltig variierenden Vorgängen der Assi-
milation ist die Dissimilation die weit seltenere Erscheinung. Aus-
schließlich von konsonantischen Lauten als induzierenden Elementen
ausgehend, erstrecken sich ihre Wirkungen in der Regel ebenfalls auf
solche; doch können auch Vokale, die zwischen Konsonanten ein-
geschaltet werden, als Erzeugnisse der Dissimilation vorkommen.
Die regressive Richtung der Wirkung ist wieder die vorwaltende,
ohne daß die progressive ganz fehlt. In beiden Formen scheint die
Dissimilation auf den älteren Entwicklungsstufen der indogermanischen
Regressive und progressive Lautinduktien. 423
Sprachen allgemeiner gewesen zu sein, was zumeist wohl mit dem
häufigeren Vorkommen der eine solche besonders leicht veranlassen-
den echten Aspiraten zusammenhängt. Denn im Sanskrit und Grie-
chischen werden die verbreitetsten dieser Erscheinungen durch das
von Graßmann aufgestellte „Gesetz der Hauchdissimilation" beherrscht:
,,Wenn in zwei Konsonantengruppen eines Wortes, die durch einen
Vokal getrennt sind, Aspiraten vorkommen, so wird eine derselben,
in der Kegel die erste, ihrer Hauchung beraubt''^). So hat sich durch
regressive Dissimilation ein idg. "^dhidheti in skr. dadhäti, gr. rld-i^Gi,
"^O^Qecpco in rgecpiu, ^O^Qixog (^(>*^) in tqixoq umgewandelt. Der
Effekt bleibt derselbe, wenn bei der Wiederholung gleicher Laute
der vorangehende in eine andere, verwandte Lautgruppe überspringt,
wie beim Übergang von gr. d^rjQr]Tr]Q in ^i^lrjTJ^o, vagva^ in Xdgva'^,
lat. peregrinus in ital. pellegrino, venenum in veleno, arhor in albero
u. a.^). Progressive Dissimilationen kommen vereinzelt im Lateinischen
sowie in modernen Sprachen, in den letzteren namentlich bei der
Aufnahme von Fremdwörtern vor. So schwankt die Endung des
lateinischen Adjektivs zwischen -alis und -aris: die im einzelnen Falle
übliche Form ist aber in der Regel von der dissimilierenden Wirkung
des vorausgehenden Stammkonsonanten abhängig. Demnach stehen
sich einerseits pluralis, ruralis, muralis, anderseits singularis, solaris,
cappillaris u. a. gegenüber^). Progressive Dissimilationen bei der
Aufnahme von Fremdwörtern sind engl, turtle aus turtur, engl, purple
aus purpura, marble aus marmor u. a.
Mit der Assimilation und Dissimilation stehen endlich noch ge-
wisse andere Veränderungen der Lautgestalt der Wörter, nämlich
die Weglassung und Zufügung, die Umstellung und Zusammenziehung
von Lauten, in naher Beziehung. Unter ihnen sind Weglassung, Um-
stellung imd Zusammenziehung offenbar der Assimilation, und zwar
speziell der regressiven, verwandt. Denn der nämliche Zusammen-
1) Graßmann, Kuhns Zeitschr. für vergl. Sprachw. XII, 1863, S. 110 f.
2) Brugmann, Kurze vergl. Grammatik der indogerm. Sprachen, 1902,
S. 39 ff. M. Grammont, La dissimilation consonnantique (Thöse de Paris), 1895.
3) Pott, Etymologische Forschungen, 2 II, S. 96.
424 Der Lautwandel.
hang der Rede, der auf einen gegebenen Laut einen nachfolgenden
einwirken läßt, wird natürlich auch die Ausstoßung der zwischen
beiden vorhandenen Lautelemente bewirken können, wobei es dann,
da das einzelne Wort nicht für sich allein steht, gleichgültig ist, ob
die ausgestoßenen Teile dem Inlaut oder dem An- oder Auslaut an-
gehören (Elision, Aphäresis und Apokope der Grammatiker). So
ist lat. ne-unquam, in nunquam, ante-ea in antea, griech. yevsQog in
yeveog, xaglerat in xagLeoi, im Deutschen tadelen in tadeln, weralt
in werlt, Welt, oder lat. gnotus in notus, historia in ital. storia, griech.
ytQOVT (Vokativ) in yegov , deutsch herriro in herro, herre, Herr, und
ime, ire in ihm, ihr übergegangen usw. Ähnlich beruht die Umstellung
(Metathesis) auf der Antizipation eines folgenden Lautes, die der bei
der regressiven Assimilation beobachteten analog ist imd sich nur
durch ihre in den sonst abweichenden Bedingungen begründete Form
der Wirkung unterscheidet: so in den Doppelformen y-aQTSQog und
y.QareQog, deutsch Born und Bronn ,, Brunnen", ital. formento aus
lat. frumentum, roman. por, pour aus lat. pro. Als eine Assimilation
und Elision zugleich läßt sich schließlich die Zusammenziehung be-
trachten, wie rovvofxa. aus ib ovof.ia, nörunt für noverunt usw. Da-
gegen ist die Zufügung von Lauten nur eine modifizierte Dissimi-
lation: so der Übergang von griech. 'ÄaKXr]7Ti6g in lat. Aesculapius,
femer die Bildung der Formen promptus, sumptus für promtus, sumtus
usw. Endlich kann auch die Elision gleichzeitig die Bedeutung einer
Dissimilation besitzen : so beim Übergang von gr. cpQarQia in (pargia,
von afu(pig)0Q6vg in ai^icpoQEvg, wo eben durch den Wegfall der Laut-
wiederholung die dissimila torische Wirkung erzielt wird.
2. Theorie der Kontaktwirkungen.
a. Ästhetische, teleologische und psychologische
Deutungen.
So klar bei allen diesen Erscheinungen, bei der Assimilation,
der Dissimilation und den ihnen verwandten Vorgängen der Aus-
schaltung, Umstellung, Kontraktion und Einfügung von Lauten die
Theorie der Kontaktwirkungen. 425
äußeren Bedingungen der Lautänderungen in Gestalt bestimmter,
unmittelbar sich berührender oder benachbarter Laute vor Augen
liegen, so wenig hat man sich bis dahin über die inneren, physiolo-
gischen oder psychologischen Ursachen dieser Erscheinungen einigen
können. Die alten Grammatiker sahen den Wohllaut für den treiben-
den Grund an, und noch heute ist diese Meinung nicht ganz verschwun-
den, indem man euphonischen oder allgemeiner ausgedrückt ästhe-
tischen Motiven wenigstens eine mitwirkende Bedeutung zugesteht^).
Diese Annahme ist aber nach allem, was oben über die Bedingungen
des Lautwandels überhaupt bemerkt wurde, unzulässig (S. 376 ff.).
Sie ist dies nicht deshalb, weil nicht in der Tat Sprachlaute mehr
oder minder wohlgefällige Klang Verbindungen bilden können, son-
dern weil dies eine von Bedingungen objektiver wie subjektiver Art
abhängige Nebenwirkung, kaum jemals die Ursache des Lautwechsels
selbst ist.
Noch länger als die ästhetische hat sich die teleologische Auf-
fassung in der Form der ,, Bequemlichkeitstheorie" erhalten 2). Was
oben im allgemeinen von ihrer Anwendung' auf die Erscheinungen
des Lautwandels gesagt wurde, gilt auch hier (S. 377 ff.). Daß die
meisten Assimilationen und Dissimilationen eine gewisse ,, Erleichte-
rung der Artikulation" mit sich führen, ist unbestreitbar. Der Fehler
liegt nur darin, daß man diesen Erfolg wieder zur Ursache macht,
was er unmöglich sein kann, da der ,, Bequemlichkeitstrieb" kein
psychisches Motiv ist, das wir als solches bei den sprachlichen Vor-
gängen eine Rolle spielen sehen. Entscheidend sind hier vor allem
die diesen generellen analogen individuellen Kontaktwirkungen,
die uns bei den Erscheinungen des sogenannten ,, Versprechens" ent-
gegentreten, und die, vollkommen unwillkürlich sich einstellend,
von dem Sprechenden entweder erst nachträglich oder überhaupt
nicht bemerkt werden (S. 390 ff.). Sind diese Erscheinungen Wir-
kungen eines psychophysischen Mechanismus, bei dem von zweck-
tätigem Handeln nicht die Rede sein kann, so muß das aber auch
1) Vgl. z. B. W. Scherer, Zur Geschichte der deutschen Sprache, ^ S. 36.
2) Vgl. z. B. G. V. d. Gabelentz, Die Sprachwissenschaft, 1891, S. 203 ff.
426 Der Lautwandel.
von dem „kombinatorischen Lautwandel" der Sprache gelten, der,
abgesehen davon, daß er ein genereller ist, offenbar in seinen Ent-
stehungsbedingungen mit jenen individuellen Erscheinungen zu-
sammenfällt. Zudem weist unter den Tatsachen der sprachlichen
Kontaktwirkungen selbst schon das auffallende Übergewicht der
regressiven Assimilation oder Dissimilation in den uns bekannten
Kultursprachen auf solche absichtslos und unbewußt wirkende Be-
dingungen hin. Denn hier liegt es überaus nahe, sich der Tatsache
zu erinnern, daß der Fluß unserer Gedanken meist dem Fluß unserer
Worte vorauseilt. Es leuchtet aber ein, daß infolgedessen eine Artiku-
lationsbewegung bereits ausgeführt oder wenigstens vorbereitet wer-
den kann, ehe sie eigentlich an der Reihe ist-^).
Da nun das gleiche Prinzip auf die progressive Assimilation und
Dissimilation offenbar keine Anwendung finden kann, so griff Stein-
thal diesen scheinbaren Gegensatz der Erscheinungen auf, indem er
ihn unmittelbar auf einen Gegensatz der Bedingungen selbst bezog.
War es ihm auf der einen Seite unzweifelhaft, daß die regressiven
Kontaktwirkungen auf dem der Lautbewegung vorauseilenden Fluß
der Vorstellungen, also auf einer psychischen Ursache beruhten, so
glaubte er umgekehrt schließen zu dürfen, bei allen progressiven sei
eine bloß physische Abhängigkeit anzunehmen. Demnach unterschied
er zwischen psychisch und physisch bedingten Vorgängen der
Lautattraktion. Jenen wies er die regressiven, diesen die progressiven
Wirkungen zu. Indirekt machte er für die letzteren freilich ebenfalls
psychische Motive insofern verantwortlich, als er, der hergebrachten
„Bequemlichkeitstheorie" sich anschließend, ,,Eile, Nachlässigkeit
und Schlaffheit" als ihre wesentlichsten Ursachen betrachtete^).
^) Der erste, der in diesem Sinne die regressive Assimilation aufgefaßt
hat, scheint, nach einer Bemerkung W. Scherers, Th. Jacobi gewesen zu sein
(Scherer, Zur Geschichte der deutschen Sprache,^ S. 35). Wie sehr er sich aber
dabei den Vorgang als einen rein psychischen, nicht als einen psycho -physischen
denkt, erhellt daraus, daß er ihn als eine „Antizipation des Ableitungs- oder
Endvokals in der Vorstellung" bezeichnet.
2) Steinthal, Zeitschr. für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft,
I, 1860, S. 93 ff. Vgl. bes. S. 125 f.
Theorie der Kontakt Wirkungen. 427
Übrigens scheinen diese Annahmen noch gegenwärtig weit verbreitet
zu sein^).
Gleichwohl läßt sich eine solche Gegenüberstellung psychisch
und physisch bedingter Lautänderungen nicht aufrechterhalten.
Gerade hier sind die normalen und pathologischen ,,Lautvermen-
gungen", bei denen wir uns in der günstigen Lage befinden, analoge
Erscheinungen in ihrer individuellen Entstehung verfolgen zu können,
entscheidende Belege für eine andere Auffassung (vgl. oben S. 393 ff.).
Nach den dort gewonnenen Ergebnissen bildet nämlich nicht nur der
dem gesprochenen Wort vorauseilende Verlauf der Vorstellungen
ein wesentliches Moment bei der Antizipation von Lauten, sondern
auch dem umgekehrten Vorgang, der Einwirkung vorausgehender
auf nachfolgende Laute, liegt nicht minder ein psychisches Moment,
eine Nachwirkung des vorangegangenen Klanges im Bewußtsein,
zugrunde. Ganz besonders die auffallenden Steigerungen dieser Nach-
wirkung, wie sie in pathologischen Fällen vorkommen, bilden hierfür
überzeugende Belege. Freilich ist im normalen Bewußtsein der Kul-
turvölker der vorwärts gerichtete Drang der Vorstellungen über-
wiegend, und die Nachwirkungen verschwinden hier, wenigstens
beim erwachsenen Menschen, verhältnismäßig rasch. Beim Kinde
aber dauern sie weit länger an, wie das starke Übergewicht progressiver
Lautangleichungen in der Kindersprache zeigt (S. 318). Nicht bloß
bei den beiden Formen der Assimilation, sondern auch bei der Dissi-
milation, sowie bei den übrigen hierher gehörigen Vorgängen der Ein-
schaltung, Ausstoßung und Zusammenziehung der Laute sind nun
assoziative Einflüsse als notwendige Bedingungen vorauszusetzen.
Bei der Ausstoßung und Zusammenziehung ergibt sich das schon
aus ihrer engen Beziehung zur regressiven Assimilation. Da sie eigent-
lich nichts anderes sind als sehr intensive Wirkungen der nachfolgen-
1) Vgl. z. B. Misteli (Lautgesetz und Analogie, Zeitschr. f. Völkerpsycho-
logie usw., XI, 1880, S. 388 ff.), der die Möglichkeit einer merklichen psychischen
Tätigkeit bei der progressiven Assimilation dadurch für widerlegt hält, daß
dieselbe entweder einen rückwärts gekehrten Ablauf der Lautbilder oder
ein langsameres Denken als Sprechen voraussetzen würde, was beides
unmöglich sei.
428 Der Lautwandel.
den Laute auf die vorangehenden (S. 395 ff.), so ist natürlich auch
derselbe Einfluß der vorauseilenden Vorstellungsbewegung nur in
höherem Grade anzunehmen. Ebenso setzt die Dissimilation analoge
psychische Bedingungen voraus. Die Wirkung ist hier bloß insofern
verschieden, als sie nicht in angleichendem, sondern in differenzieren-
dem Sinn erfolgt. Darum ist es kein wesentlich anderer Vorgang,
der supmits in summus, agnus in angnus, und der umgekehrt sumtus
in sumptus überführt, oder der in pluralis und singularis die gleiche
Adjektivendung jedesmal in abweichender Richtung gestaltet. Man
muß sich bei allen diesen Erscheinungen gegenwärtig halten, daß
der einzelne Laut nie für sich allein, sondern immer nur in dem Zu-
sammenhang einer bestimmten Lautfolge im Bewußtsein existiert.
Wie der rasche Übergang der labialen Tennis in den entsprechenden
Resonanzlaut die erstere verschwinden läßt {supmus in summus),
so schiebt sich umgekehrt bei dem Übergang des labialen Resonanz-
lauts in die dentale Tennis von selbst, und um so leichter, je rascher
der Übergang erfolgt, zwischen beide die labiale Tennis ein (sumtus
in sumptus). Ähnliche Wirkungen können dann aber auch über
zwischenliegende Laute hinausreichen: so in singularis, pluralis, mxirhle
für marmor u. dgl., wo überall der Wechsel zwischen verwandten und
leicht ineinander übergehenden Lauten im Vergleich mit der Wieder-
holung der gleichen Konsonanten als eine bei rascher Artikulation
unwillkürlich sich einstellende Anpassung an den Fluß der Rede auf-
tritt; daher denn auch schon bei den Erscheinungen des ,, Versprechens"
und ebenso in der Kindersprache solche Dissimilationen vermischt
mit Assimilationen, Lautausstoßungen und -kontraktionen vorkommen
(S. 314 ff.).
Der Irrtum Steinthals, der in diesen Fällen, sobald die Wirkung
regressiv erfolgt, einen psychischen Vorgang sieht, aber in progressiver
Richtung diesen für unmöglich hält, wurzelt schließlich in einer all-
gemeineren psychologischen Voraussetzung, die nach allem, was wir
aus experimentellen Ermittelungen über den Verlauf der Bewußt-
seinsvorgänge wissen, falsch ist: in der Voraussetzung nämlich, daß
in einem gegebenen Augenblick immer nur eine einzige Vorstellung
im Bewußtsein anwesend sei^). Daraus würde sich natürlich eben-
^) Steinthal, Einleitung in die Psychol. und Sprachw., 1871, S. 134.
Theorie der Kontaktwirkungen. 429
sogut die Unmöglichkeit einer regressiven wie die einer progressiven
Wirkung folgern lassen. Denn wäre jeweils nur eine Vorstellung
möglicli, so würde das notwendig der im Augenblick ausgesprochene
Laut sein, neben dem weder ein später kommender noch ein früher
dagewesener Platz fände. Steinthal hatte dieser Folgerung durch seine
Hypothese der „schwingenden Vorstellungen" zu entgehen versucht.
Jeder Satz verläuft, wie er meint, ,, punktuell" durch unser Bewußt-
sein; aber das eben gesprochene Wort kommt nicht sofort mit seinem
Verschwinden im Unbewußten zur Ruhe, sondern es befindet sich
noch während einer gewissen Zeit im erregten Zustand. Ebenso seien
die kommenden Worte bereits in einer gewissen Bewegung im un-
bewußten Hintergrund der Seele, ehe sie ins Bewußtsein eintreten,
so daß dadurch auch das momentan gesprochene Wort mit dem voraus-
gehenden und nachfolgenden in Verbindung treten könne ^). Dies
würde freilich an und für sich wieder ebensogut eine vorwärts wie
eine rückwärts gerichtete Wirkung erzeugen. Aber es soll dann noch
das weitere Moment hinzukommen, daß der psychische Mechanismus
der Sprachorgane bis zu einem gewissen Grade selbständig abläuft,
wie eine aufgezogene Uhr, ohne daß er in jedem Augenblick mit der
Vorstellungsbewegung gleichen Schritt halten müßte. Da nun die
Gedanken rascher fließen als die Worte, so soll im allgemeinen der
Vorstellungsverlauf, für dessen Glieder jener Satz von der punktuellen
Ausdehnung des Bewußtseins allein gilt, dem Verlauf der Worte
meist um eine gewisse Strecke voraus sein. Dadurch werde dann un-
mittelbar die regressive Wirkung als eine psychisch bedingte begreif-
lich, wogegen es naheliege, die progressive aus eben jener Trägheit
der Artikulationsorgane abzuleiten, die das Vorauseilen des Gedanken-
laufs möglich mache ^).
Diese ganze Betrachtungsweise steht und fällt, wie man sieht,
mit der Annahme der punktuellen Enge des Bewußtseins. Schon
in der Hilfshypothese der ,, schwingenden Vorstellungen" liegt aber
eigentlich das Eingeständnis der Unhaltbarkeit dieser Annahme.
1) Ebenda S. 237 ff. Zeitschr. für Völkerpsych. I, S. 111.
2) Zeitschr. f. Völkerpsychol. I, S. 126 f.
430 Der Lautwandel.
Denn die Tatsachen, denen zuliebe sie gemacht ist, beweisen un-
befangen betrachtet, daß es eine solche punktuelle Enge nicht gibt.
Wie ließe es sich auch sonst begreifen, daß in jedem Augenblick einer
zusammenhängenden Rede die Prägung des Gedankens offenbar
nicht bloß durch die momentan ausgedrückte Vorstellung, sondern
gleichzeitig durch die vorangehenden und die nachfolgenden bestimmt
wird ? Die Lehre von den „schwingenden Vorstellungen" ist hier nur
ein Notbehelf, um diese Tatsache mit der Hypothese, der sie in Wahr-
heit widerspricht, zu vereinigen. Denn das Wesen dieser ,, schwingen-
den Vorstellungen" besteht eigentlich darin, daß den unbewußten
Vorstellungen die bekannten Wirkungen der bewußten zugeschrieben
werden. Woher wissen wir aber, daß sie nicht im Bewußtsein sind?
Offenbar bloß daraus, daß wir sie nicht ohne weiteres bemerken können.
Das würde aber immer nur rechtfertigen, sie als unbemerkte zu
bezeichnen, das heißt anzunehmen, neben den klarer bewußten, über
die wir uns deutliche Rechenschaft geben, seien auch noch andere,
dunklere vorhanden. Daß dies im Fluß der gesprochenen Rede in
der Regel teils diejenigen Wort- und Begriffsvorstellungen sein wer-
den, die den unmittelbar deutlich aufgefaßten vorausgehen, teils
diejenigen, die ihnen nachfolgen, liegt auf der Hand. Auch steht dies
mit den Beobachtungen, die wir unter den zur Entscheidung dieser
Frage geeignetsten experimentellen Bedingungen machen können,
im Einklang. Bei momentaner Einwirkung einer größeren Anzahl
von Gesichtseindrücken unterscheiden wir neben dem sehr beschränkten
Umfang deutlich apperzipierter Reize andere, die dunkler aufgefaßt
werden, und noch andere, bei denen wir nur noch ein unbestimmtes
Dasein im Bewußtsein konstatieren können. Lassen wir Taktschläge
in regelmäßigen Zeitintervallen einwirken, so läßt sich die Grenze
feststellen, wo plötzlich eine Zusammenfassung der vorhergegangenen
mit den gegenwärtigen nicht mehr möglich ist, weil jene, dunkler
imd dunkler werdend, schließlich den Umfang des Bewußtseins über-
schreiten ^). Aber nicht bloß diese auf ganz anderem Wege gewonnenen
^) Grundriß der Psychologie/* S. 254 ff. Vgl. auch unten Kap. V,
Nr. n.
Theorie der Kontaktwirkungen. 431
Beobachtungen beweisen die Undurchführbarkeit der Hypothese
von der „punktuellen Enge des Bewußtseins", auch die Erscheinungen
selbst, die der Fluß der Rede darbietet, sind unterstützende Zeugnisse
gegen jene offenbar nicht aus Beobachtungen, sondern aus der meta-
physischen Hypothese einer punktuellen Unteilbarkeit der Seele
herstammende Voraussetzung. In dem Augenblick, in dem ich einen
Satz auszusprechen beginne, steht das Ganze des Gedankens schon
in allgemeinen Umrissen, mit etwas deutlicherer Ausprägung einzelner
Hauptvorstellungen, vor mir; und in dem Augenblick, in dem ich den
Satz vollendet habe, überblicke ich meist noch einmal dieses Ganze,
während sich oft gleichzeitig schon der folgende Gedanke unbestimmt
ankündet ^). Dabei ist von einem Hin- und Herschwingen abwechselnd
über die Schwelle des Bewußtseins tretender und wieder unter sie
sinkender Vorstellungen absolut nichts zu bemerken, sondern der
ganze Vorgang spielt sich in der Regel vollkommen stetig und ruhig
ab, und als besonders charakteristisches Symptom der dunkler be-
wußten Inhalte tritt überall nur ihr Einfluß auf die Gefühlslage
hervor.
b. Psychophysische Theorie der Lautinduktion.
Nach allen oben erörterten Tatsachen kann es nicht zweifelhaft
sein, daß ein im Fluß der Rede auftretender Sprachlaut einem dop-
pelten psychischen Einfluß ausgesetzt ist: einerseits der Wir-
kung, welche die nachfolgenden, teilweise selbst schon in sprachlicher
Form im Bewußtsein anklingenden Vorstellungen auf ihn ausüben,
anderseits aber auch der Nachwirkung, die von dem gesprochenen
Wort im Bewußtsein zurückgeblieben ist. Welcher dieser beiden Ein-
flüsse überwiegt, oder ob beide in gewissem Grade sich mischen, das
hängt natürlich von besonderen Bedingungen individueller oder ge-
nereller Art ab. In diesem Sinn ist daher die Erscheinung, daß in
bestimmten Sprachen die regressive und in andern ebenso ausgeprägt
die progressive Richtung der Veränderungen vorwaltet, zu beurteilen.
1) Weiteres hierüber in Kap. V, Nr. III, 5, und in Kap. VII.
432 I^er Lautwandel.
Eigentlich ist dieser Unterschied selbst schon ein Zeugnis dafür, daß
auch bei der progressiven Form psychische Bedingungen nicht fehlen
können. Denn ein solcher fast zum Gegensatze sich zuspitzender
Unterschied läßt sich doch kaum anders als aus einer verschiedenen
psychischen Anlage begreifen. Wo die regressive Assimilation vor-
herrscht, wie bei den Indogermanen, da wird man annehmen müssen,
daß die Gedankenbewegung vorzugsweise vorwärts, den kommenden
Vorstellungen zugewandt sei. Jene Tendenz nach wachsender Ge-
schwindigkeit des Kedeflusses, wie sie sich als Produkt der intellek-
tuellen Kultur eingestellt hat, mußte zugleich die vorwärts eilende
Richtung erzeugen, die in der Rückwirkung der kommenden Laute
auf die vorangegangenen ihren Ausdruck findet. In dieser Hinsicht
ist es bedeutsam, daß sich in den älteren Formen der indogermanischen
Sprachen noch am häufigsten Erscheinungen der entgegengesetzten,
progressiven Wirkung vorfinden (S. 422 f.), und daß diese noch heute
in der Sprache des Kindes fast die alleinherrschende ist (S. 318).
Nicht minder ist es charakteristisch, daß sie als bleibende Erscheinimg
ganz besonders in Sprachgebieten vorkommt, in denen überhaupt
eine Neigung zu Lautwiederholungen besteht (S. 422). Die progressive
Wirkung selbst wird man daher im allgemeinen als die ursprüng-
lichere ansehen dürfen. Die ,, Vokalharmonie'* ist eben nur ein spe-
zieller Fall von Lautwiederholung. Nun kann man die letztere in ihren
sonstigen, bereits in das Gebiet der Wortbildungsprozesse herein-
reichenden Formen unmöglich für einen bloß „leiblich-mechanischen"
Vorgang halten. Schon durch diesen Zusammenhang wird also eigent-
lich die Annahme eines rein physischen Ursprungs der vorwärts ge-
richteten Lautwirkungen widerlegt^).
1) Eine im obigen Sinne psychologische, in einigen Punkten der hier ge-
gebenen ähnliche Erklärung hat, wie ich einer Notiz von Sievers (Grundzüge
der Phonetik,« S. 252) entnehme, bereits Böthlingk (Jen. Lit.-Ztg. 1874, S. 767)
von der verschiedenen Richtung der Lautwirkungen bei dem „kombinatorischen
Lautwandel" gegeben: „Ein indogermanisches Wort", sagt er, „ist in dem Maß
eine wirkliche Einheit, daß der Sprechende schon beim Hervorbringen der ersten
Silbe das ganze Wort sozusagen im Geist ausgesprochen hat. Nur auf diese Weise
ist es zu erklären, daß zur Erleichterung der Aussprache einer nachfolgenden
Silbe schon die vorangehende modifiziert wird. Ein Individuum der ural-al-
Theorie der Kontaktwirkungen. 433
Verfolgt man die Assoziationswirkungen in ihren einzelnen For-
men bei den verschiedenen Kontakterscheinungen der Sprache, so
zeigen sich nun aber schließlich doch besonders in den elementaren
Prozessen, welche die komplexen Assoziationen zusammensetzen,
taischen Völkergruppe stößt, unbekümmert um das Schicksal des Wortes, die
erste Silbe desselben, den Träger des Haupt begriff s, ohne weiteres heraus; an
diese reiht er dann die weniger bedeutsamen Silben in etwas roher Weise an,
indem er gleichsam erst in dem Augenblick an Abhilfe denkt, wenn er nicht mehr
weiter kann." Zu dem ersten Teil dieser Erklärung bemerkt Sievers mit Recht,
daß man ihr im allgemeinen zustimmen könne, jedoch mit der Einschränkung,
daß von einem „Bestreben nach Erleichterung" nicht geredet werden sollte,
da wirklich und bewußt die Assimilationen nicht seien. Auch beschränkt sich,
wie aus den oben angeführten Beobachtungen hervorgeht, das Vorauseilen der
Vorstellungen keineswegs auf die Teile des nämlichen Wortes. Weiterhin bedarf
aber diese Schilderung des Bewußtseinszustandes bei der progressiven Assimi-
lation insofern der Richtigstellung, als eine „Abhilfe" im Augenblick der Aus-
sprache nicht vorliegt, da man unter dieser doch wiederum nur ein willkürliches
zwecktätiges Handeln verstehen kann. Bei der „Vokalharmonie" stellt sich
vielmehr ein dem vorangegangenen gleicher Klang lediglich deshalb ein, weil
er unmittelbarer dem Bewußtsein gegenwärtig ist als der in einem andern Laut-
gebilde von sonst gleicher Bedeutung gebrauchte. In sev-mek wird also z. B.
der vokalische Inlaut des Suffixes unmittelbar von dem vorangegangenen Stamm-
vokal attrahiert, und nur die konsonantischen Bestandteile folgen der ganzen
Gruppe übereinstimmender Suffixe von gemeinsamer Lautform, wie lak-maJc,
mä-mäk usw. Es würde aber unberechtigt sein, dies auf eine besondere Träg-
heit des Redenden zurückzuführen. Sie beruht darauf jedenfalls ebensowenig
wie die verwandte Eischeinimg der Wortwiederholung, die im Gegenteil, wie
wir sehen werden, meist aus einem Trieb nach energischer Betonung der Vor-
stellungen hervorgeht. Eher wird man sagen können, die progressive Assimi-
lation sei die natürliche und darum ursprüngliche Form der Lautwirkung, so-
lange nicht durch die zunehmende Schnelligkeit der Gedankenbewegung eine
relativ stärkere Wirkung der kommenden Laute auf die vorangehenden ein-
getreten ist. Dafür spricht vor allem auch ihr Übergewicht in der frühesten
Kindersprache. In diesem Sinne würde sie also in ihrer einseitigen Ausbildung
als ein Zeichen primitiverer geistiger Kultur zu deuten sein, wobei freilich be-
achtet werden muß, daß von einem gewissen Punkt an die Sprache stabiler wird,
so daß daher der Zustand einer Sprache nicht den Zustand der heutigen Kultur
eines Volkes, sondern denjenigen spiegelt, in dem jene letzte Stabilisierung der
Wortformen eingetreten ist. Auch ist nicht zu vergessen, daß die Ursachen der
progressiven wie der regressiven Attraktionserscheinungen fortan in jedem Sprach-
bewußtsein nebeneinander wirksam bleiben, daher denn beide nebeneinander
bestehen können, wobei nur eine verschieden starke Neigung in der einen oder
andern Richtung nachzuweisen ist. Ein Zeugnis hierfür ist das Rumänische,
Wandt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. 28
434 Der Lautwandel.
charakteristische Unterschiede bei den Assimilationen und Dissimi-
lationen einerseits, bei den regressiven und progressiven Lautinduk-
tionen anderseits. Bei den Assimilationen ist unter allen Umständen
die Assoziationswirkung eine direkte: der induzierende Laut ist
in dem Augenblick, wo er auf den induzierten einwirkt, im Bewußt-
sein derart aktuell, daß er sich entweder ganz an die Stelle des ur-
sprünglich vorhandenen Lautes drängt oder diesen in seinem Laut-
charakter sich angleicht. Die assoziativen Elementarwirkungen sind
also hier wesentlich Gleichheitsassoziationen, und wo eine völlige
Angleichung nicht zustande kommt, da ist dies nur darauf zurück-
zuführen, daß der ursprüngliche Laut noch eine partielle Nebenwirkung
geltend macht, — zugleich ein Fall, der besonders deutlich die Ent-
stehung einer solchen ,,Ahnlichkeitsassoziation" aus einer Mischung
gleicher und verschiedener Elementarwirkungen verdeutlicht. Dem-
nach sind die Lautassimilationen psychologisch betrachtet simul-
tane Assoziationen. Der induzierende Laut verdrängt den indu-
zierten ganz oder teilweise, ohne daß in dem Moment, wo sich die Asso-
ziation vollzieht, etwas anderes als die vollendete Wirkung derselben
im Bewußtsein ist: der Vorgang ist so auch im psychologischen Sinn
eine „Assimilation", da wir mit dem letzteren Namen eben eine
solche simultane Assoziation von Elementen eines und desselben
Sinnesgebiets verstehen^). Nicht ganz so einfach liegen die Verhält-
nisse bei den Dissimilationen. Dies hat aber offenbar darin seinen
Grund, daß man unter diesem Namen überhaupt ziemlich verschieden-
artige Erscheinungen zusammenfaßt. Vor allem lassen sich hier
wohl drei Gruppen solcher Erscheinungen unterscheiden, je nach-
dem gleichzeitig Lautverlust oder aber Lautwechsel ohne Laut-
verlust oder endlich Lautvermehrung mit oder ohne Lautwechsel
stattfindet.
in welchem die Vokaiharmonie in beiden Formen ziemlich häufig ist (Ad. Storch,
Vokalharmonie im Rumänischen, Diss. Leipzig 1899), während sie in andern
romanischen Sprachen selten und nur in regressiver Richtung vorzukommen
scheint (Meyer-Lübke, I, S. 286 f.). Daß übrigens bei den Rumänen die Nach-
barschaft der Türken und Magyaren mit ihrer progressiven Vokalassimilation
eingewirkt hat, ist wohl nicht zu bezweifeln.
1) Grundriß der Psychologie, i^ g. 274 ff.
Theorie der Kontakt Wirkungen. 435
Der erste dieser Fälle, die dissimilatorische Elision, nähert
sich in seinen Bedingungen am meisten der Assimilation. Wie bei
der letzteren ein vorangehender und ein folgender Laut miteinander
zu einem einheitlichen Lautgebilde verschmelzen, so verdrängt bei
jener der eine den andern ganz aus dem Bewußtsein, indem sich unter
der Wirkung des vorandrängenden Vorstellungsverlaufs die Artiku-
lationsorgane auf einen folgenden Lautkomplex einstellen, ehe noch
der momentan erzeugte vollständig hervorgebracht ist. Von den
sonstigen im raschen Redefluß entstehenden Elisionen unterscheidet
sich die dissimilatorische nur dadurch, daß bei ihr der Ausfall durch
die folgende Wiederholung des gleichen Lautes unterstützt wird,
wie in (pargla für cpqaTQiay ai.iq)OQBVQ für a}-icpicpoQEvg, semestris für
semimestris, gratulari für gratitulari usw. Alle diese Fälle reichen in
das Gebiet der Wortbildung durch Wortzusammensetzung hinüber.
Indem bei dieser die Beschleunigung des Redeflusses eine wesent-
liche Rolle spielt, erklärt es sich zugleich, daß hier die Veränderung
durchweg in regressiver Form erfolgt. So finden sich denn zahlreiche
Analoga nicht nur in den Erscheinungen des Versprechens, sondern
auch in denen des Verschreibens, wo das wiederholte Vorkommen
desselben Buchstabens eine besonders häufige Ursache von Elisionen
ist.
Der zweite Fall ist die eigentliche Dissimilation, eine Laut-
induktion, bei der von zwei gleichen in kurzem Abstand sich wieder-
holenden Lauten der eine nach einer abweichenden, aber verwandten
Lautgruppe hin verändert wird, wie z. B. "^d^qacpto in TQscpco, d^r]Qr]Ti]Q
in S^f]lrjT7]Q, venenum in veleno, turtur in turtle usw. Auch hier setzt
die Erscheinung, ebenso wie die Lautassimilation, eine assoziative
Wechselwirkung der aufeinander folgenden Lautgebilde voraus: ohne
diese würde ein momentan noch nicht ausgesprochener Laut ebenso-
wenig dissimilativ wie assimilativ wirken können. Während er aber
bei der Assimilation die Artikulationsbewegung unmittelbar nach
sich zieht, modifiziert er diese bei den dissimila torischen Lautänderungen
im Sinn eines erleichterten Übergangs auf einen andern dominierend
gewordenen und deshalb der Veränderung widerstehenden Laut. Bei
der eigentlichen Dissimilation gewinnt dann die relative Asso-
ziationskraft der in Wechselwirkung tretenden Laute den ent-
28»
436 Der Lautwandel.
scheidenden Einfluß: der durcli Assoziationshilfen widerstandskräf-
tigere Laut bleibt bestehen, der schwächere verändert sich. Hieraus
ergibt sich meist sofort die Kichtung der dissimilierenden Wirkung.
So entsteht einerseits singularis durch Assoziation mit singuli, an-
derseits aber pluralis durch Assoziation mit plures. Natürlich wird
übrigens dieser Unterschied der assoziativen Hebung auch bei den
dissimilatorischen Elisionen in der Regel eine mitwirkende Rolle
spielen. So wird z. B. in einem Wort wie aixq)icpoQBvg der zweite
Bestandteil durch die gleichzeitige Assoziation von Laut und Be-
deutung mit g)OQ€vg, cpoga usw. gehoben. Sobald daher das zusammen-
gesetzte Wort zu einer neuen Worteinheit verschmolzen ist, kann das
Ganze leicht zu cc/iKpoQevg, unmöglich aber etwa zu ^df^q)iQSvg ver-
stümmelt werden. Man wird demnach den Unterschied der Wirkungen
zwischen Assimilation und Dissimilation auch darauf zurückführen
können, daß bei der Assimilation der Einzellaut als solcher, bei der
Dissimilation der ganze Lautkomplex, in dem jener das herrschende
Element bildet, assoziativ wirksam wird. Damit stimmt überein,
daß namentlich die konsonantischen Assimilationen häufiger im un-
mittelbaren Kontakt der Laute, die entsprechenden Dissimilationen
aber erst auf größere Entfernungen hin zu wirken pflegen ; und hiermit
hängt offenbar wieder zusammen, daß eigentlich nur die Assimila-
tionen reine Kontakterscheinungen sind, während bei den Dissimila-
tionen bereits Fernewirkungen, nämlich Assoziationen mit andern
Wortgebilden, mitspielen^).
1) An assoziative Ferne Wirkungen hat wohl auch Brugmann gedacht,
wenn er die Dissimilation darauf zurückführt, daß ein Sprachgebilde „durch
andere mit ihm assoziierte nicht in allen Teilen die genügende »etymologische' "
Belichtung habe. (Kurze vergleichende Grammatik S. 40, vgl. auch Ber. der
Sachs. Ges. d. Wiss., Phil.-hist. Kl. 1900, S. 394 ff., und Grundriß, I, S. 850 ff.).
Analog Grammont (a. a. 0.), wenn er die Dissimilation „la loi du plus fort" nennt.
Vgl. Wechssler, Gibt es Lautgesetze ? S. 155 ff. Psychologisch scheint es mir
auch hier geboten, den mögHcherweise der Mißdeutung ausgesetzten Begriff
des Etymologischen ganz aus dem Spiel zu lassen, überdies aber die Bedingungen
der stärkeren Wirkung positiv auszudrücken: dann bestehen diese eben darin,
daß die eine ,, Lautung" gegenüber der andern durch Hilfsassoziationen gehoben
und darum zur dominierenden geworden ist. Dasselbe gilt natürlich für die spär-
lichen Fälle rein vokalischer Dissimilationen: so wenn z. B. societas nicht in aso-
Theorie der Kontaktwirkungen. 437
Der dritte Fall, die dissimilatorische Einschaltung, kommt
teils im unmittelbaren Kontakt der Laute in der Form einer dem
natürlichen Mechanismus der Bewegungen folgenden konsonantischen
Übergangsartikulation vor, wie in sumptus für sumtus, teils in der
Form vokalischer Zwischenlaute zwischen zwei Konsonanten, wie
in lat. Aesculapius für gr. ÄGyi},r]7ri6g, poljoies. igolide für engl, gold,
franz. canif für niederl. knijf (Messer), lansequenet für deutsch lands-
knecht u. a. ^). Wie diese Beispiele lehren, finden sich solche Laut-
einschaltungen, ebenso wie die ihnen entgegengesetzten Elisionen und
Lautverstümmelungen, besonders häufig bei der Aufnahme von
Fremdwörtern, wo dann neben der Anpassung an die gewohnte Ar-
tikulationslage der Sprachorgane wohl auch noch Assoziationen mit
geläufigen Wortvorstellungen der eigenen Sprache einwirken können,
etwa bei Aesculapius solche mit Wörtern wie aes, aesculus usw. Auch
die Kindersprache ist reich an Einschaltungen, die durch die Ver-
hältnisse ^ ihres Vorkommens sowie durch ihre häufige Verbindung
mit der Elision schon darauf hinweisen, daß bei ihnen die rein me-
chanische Seite der Artikulation die Hauptrolle spielt, indes die ge-
legentlich mitwirkende assoziative Angleichung an andere Wörter
auch hier die Erscheinung den assoziativen Fernewirkungen
nähert.
Während so die Assimilation und Dissimilation der Laute nur
äußerlich als Gegensätze erscheinen, innerlich aber, nach den sie be-
stimmenden psychophysischen Bedingungen, einander nahe verwandt
sind, ist dies wesentlich anders bei den über jene beiden sich verteilen-
den Gruppen regressiver und progressiver Kontaktwirkungen.
ciitas (vgl. novitas) übergegangen ist, wo die Assoziation mit socius erhaltend
auf das erste i eingewirkt haben wird. Übrigens kommt, wie dieses Beispiel zeigt,
die vokalische Dissimilation, im Gegensatze zur konsonantischen, vorzugsweise
im unmittelbaren Kontakt der Laute vor, wogegen umgekehrt die vokalische
Assimilation (die sogenannte Vokalharmonie) in die Entfernung, die konsonan-
tische Assimilation im unmittelbaren Kontakt der Laute wirkt, ein doppelter
Gegensatz, der aus den Bedingungen der Lautartikulation in beiden Fällen leicht
erklärlich ist.
^) Weitere Beispiele aus romanischem Sprachgebiet s. bei Wechssler, Gibt
es Lautgesetze ? S. 153 f.
438 Der Lautwandel.
Indem bei den ersteren der Laut noch nicht als akustischer Eindruck
vorhanden ist, wohl aber sich die ihm entsprechende Artikulations-
bewegung bereits stark zum Bewußtsein drängt, ist bei ihnen die Ar-
tikulationsempfindung der in der Lautkomplikation dominierende
Bestandteil, neben dem zwar der akustische, vermöge seiner innigen
Assoziation mit jener Empfindung, nicht fehlt, aber doch verhält-
nismäßig zurücktritt. Umgekehrt verhält es sich bei den progressiven
Erscheinungen. Hier wirkt mehr als die vorangegangene Artikula-
tionsempfindung des induzierenden Lautes dieser selbst als unmittel-
barer akustischer Eindruck nach. Daraus erklärt es sich, daß die re-
gressive Wirkung bei den Assimilationen vorzugsweise die für die
Bewegungsempfindung deutlichsten Lautelemente, die Konsonanten,
die progressive die akustisch wirksamsten, die Vokale, trifft. Wie
aber auf diese Weise die psychische Wirkung eines Lautes stets
eine zweiseitige ist, ebenso hat jeder eine rückwärts und eine vorwärts
gerichtete physische Wirkung, die von der Einübung bestimmter
Lautverbindungen abhängt. Auch physiologisch ist ja der ein-
zelne Sprachlaut nichts für sich allein Bestehendes, sondern, wie er
nur in konkreten Wortverbindungen vorkommt, so wird er in diesen
Verbindungen je nach ihrer relativen Häufigkeit mehr oder minder
fest eingeübt. Ganz abgesehen von dem Vorauseilen der Vorstellungen
stellen sich also schon infolge dieser mechanischen Einübung oft ver-
bundener Bewegungen die Sprachorgane bereits auf einen kommen-
den Laut ein, während der gegenwärtige eben erst ausgesprochen
wird. Damit tritt dann von selbst je nach Umscänden eine Angleichung
des gesprochenen Lautes an einen folgenden, oder die völlige Elimi-
nation eines solchen, oder endlich, wenn der Übergang der Artiku-
lationen einen Wechsel der Lautbewegungen begünstigt, eine Dissimi-
lation ein. Alle Kontaktwirkungen finden auf diese Weise in dem
Prinzip der mechanischen Einübung oft verbundener
Bewegungen ihre physiologische Erklärung. Eine solche Übung
wird aber wieder um so merklicher sein, je redegeübter im allgemeinen
ein Volk, und je mehr es zu rascher Verkettung der Laute beanlagt
ist. So begreift sich auch von dieser Seite aus die Bevorzugung der
regressiven Veränderungen, besonders der Assimilationen in den-
Theorie der Kontaktwirkungen. 439
jenigen Sprachen, deren Entwicklungsgeschiclite auf eine früli er-
rungene Kultur hinweist. Dieses physische und das oben erwähnte
psychische Moment werden sich nun voraussichtlich bei allen regressiven
Kontaktwirkungen als parallel laufende Erscheinungen verbinden,
was nicht ausschließt, daß im einzelnen Fall bald mehr das eine, bald
mehr das andere in den Vordergrund tritt. Dies ist darum möglich,
weil die mechanische Einübung dazu führt, daß Artikulationen zu-
sammen eingeübt und infolgedessen automatisch verbunden werden,
ohne daß die Lautvorstellung stets gleichen Schritt damit hält. Nament-
lich werden wir daher voraussetzen dürfen, daß bei den Kontakt-
wirkungen unmittelbar aufeinander folgender Laute dies mechanische
Moment zur Hervorbringung des Lautwechsels genügt, ohne daß
dasselbe in merklichem Grade von einer Vorausnahme der Laut-
vorstellungen begleitet zu sem braucht. Wo dagegen eine regressive
Assimilation oder Dissimilation über zwischenliegende Laute hinaus
stattfindet, da wird im allgemeinen die Wirkung stets als eine psy-
cho physische in dem Sinn aufzufassen sein, daß die bloße mecha-
nische Einübung immer nur direkt aneinander grenzende Bewegungen
zu völliger oder teilweiser Verschmelzung bringen kann, während
eine rückläufige Wirkung, die weitere Strecken umspannt, nicht ohne
eine gleichzeitige Vorausnahme der Vorstellungen möglich ist. Dazu
können dann endlich noch Assoziationen mit außerhalb stehenden,
aber laut- oder bedeutungsverwandten Wortgebilden, also assoziative
Fernewirkungen, treten. Sie erweisen sich besonders bei den dissimi-
la torischen Lautänderungen wirksam, indem sie hier durch die Fixierung
eines dominierenden Lautgebildes für die Richtung der Dissimilation
bestimmend werden.
Wie bei den regressiven, so sind nun aber auch bei den progressiven
Kontaktwirkungen physische Bedingungen wohl überall von mit-
wirkender Bedeutung. Ist es dort die Einübung oft verbundener
Artikulationen, so kann es hier die Einstellung auf eine soeben aus-
geführte Bewegung sein, die den Einfluß ausübt. So schwierig eine
Lautbewegung an sich sein mag, einmal ausgeführt kommt sie wesent-
lich leichter zustande. Das Symptom unvollkommener Übung in
irgendeiner Klasse mechanischer Leistungen pflegt sich daher stets
440 I^er Lautwandel.
in der Neigung zur Wiederholung der zuletzt ausgeführten Bewegungen
zu äußern. Bis zu einem gewissen Grade bleibt natürlich diese Neigung
auch bei fortgeschrittener Übung erhalten. Demnach übt fortwährend
auch physisch ein vorangegangener Laut eine Art Attraktionswirkung
auf einen nachfolgenden aus. Dies zeigt zugleich, daß die progressiven
Assimilationen auch vom Gesichtspunkte der physischen Einübung
aus die primitiveren, einer ursprünglicheren Stufe sprachlicher Übung
entsprechenden Formen sind. Die allgemeinen Anlagen zu ihnen
bleiben aber fortan bestehen, so daß sie nicht sowohl direkt als in-
direkt, durch den wachsenden Einfluß der Einübung zusammen-
gesetzter Artikulationsverbindungen, in den Hintergrund gedrängt
werden.
Hiernach läßt sich das Ergebnis dieser Analyse dahin zusammen-
fassen, daß bei jeder Art dieser Erscheinungen psychische und phy-
sische Ursachen zusammenwirken. Dabei gehören die psychischen
Ursachen zu jenen elementaren Assoziationswirkungen, ver-
möge deren jeder psychische Vorgang nach zwei Richtungen hin
in assoziativen Beziehungen stehen kann und in der Regel auch wirk-
lich steht, wenngleich die eine Richtung durch das Übergewicht der
andern kompensiert zu werden pflegt. Die physischen Ursachen
fallen dagegen in das Gebiet der Übungsvorgänge, mid zwar
sind die regressiven Erscheinungen als Folgen der Mit Übung
bestimmter Artikulationsbewegungen mit andern, mit denen sie
oft verbunden waren, die progressiven als Folgen jener un-
mittelbaren Übung aufzufassen, die eine Wiederholung der Be-
wegung erleichtert.
Allgemeine Formen assoziativer Fernewirkung. 441
IV. Assoziative Fernewirkungen der Laute.
1. Allgemeine Formen assoziativer Ferne Wirkung.
Von „Fernewirkungen der Laute" werden wir, wenn wir diesen
Begriff im Verhältnis zu den Nahe- oder Kontaktwirkungen be-
stimmen, überall da reden können, wo gewisse Lautelemente eines
Wortes nicht durch andere, im selben oder in einem angrenzenden
Wort vorkommende Laute beeinflußt werden, sondern wo sich irgend-
ein im Augenblick nicht unmittelbar gegebenes Wort oder eine ent-
sprechende Wortsippe als der Grund der Lautänderung herausstellt.
Auch auf die Fernewirkungen können wir daher, um die Richtung
derselben anzugeben, die oben gebrauchte Unterscheidung indu-
zierender und induzierter Laute anwenden. Dabei ist aber, wenn
eine solche Fernewirkung zwischen zwei Wörtern oder Wortgruppen
annehmbar sein soll, stets erforderlich, daß dieselben in irgendeinem
Verhältnis stehen, das eine Assoziation zwischen ihnen ermöglicht.
Denn daß eine Lautinduktion zwischen Wörtern, die durch den un-
mittelbaren Zusammenhang der Rede gar nicht verbunden sind, an-
ders als durch Vermittelung bestimmter psychischer Assoziationen
zustande komme, erschein u hier von vornherein ausgeschlossen. Auch
unter dieser Voraussetzung kann übrigens die Frage, ob eine bestimmte
assoziative Beziehung wirklich stattgefunden habe, im einzelnen Falle
zweifelhaft bleiben, weil eben hier immer nur der Effekt einer In-
duktionswirkung gegeben ist, während die induzierenden Momente
selbst bloß erschlossen werden können. Dieser Schluß kann nun
namentlich deshalb unsicher sein, weil teils mehrere induzierende
Momente, teils andere verändernde Bedingungen möglicherweise im
gleichen Sinne wirken. Schon über die tatsächlichen Beziehungen
der Erscheinungen, die einer psychologischen Interpretation zugrunde
zu legen sind, bleiben darum hier nur mehr oder minder wahrschein-
liche Aufstellungen möglich. Diese werden sich jedoch um so mehr
der Grenze der Gewißheit nähern, je zahlreichere einander ähnliche
Fälle für eine bestimmte Form der Beziehung aufgefunden werden
können, und je größer die psychologische Wahrscheinlichkeit ist, daß
442 Der Lautwandel.
gewisse Wörter, zwisclien denen eine Femewirkung angenommen
wird, wirklicli miteinander assoziiert werden.
Die Sprachwissenscliaft hat sämtliche Erscheinungen solcher
assoziativer Fernewirkungen der Laute ,, Analogiebildungen" genannt,
ein Ausdruck, der den äußeren Erfolg der Wirkung, freilich aber auch
nur diesen, vollkommen treffend bezeichnet. Bei jeder Analogie-
bildung wirkt irgendein Wort so auf ein anderes ein, daß dieses ihm
in seinem Lautcharakter analog wird. Besser noch als ,, Analogie-
bildung'' deutet daher auch der ebenfalls oft gebrauchte Ausdruck
„Angleichung" die äußere Beschaffenheit des Vorgangs an. Zugleich
weist er aber darauf hin, daß den Analogiebildungen unter den Kon-
taktwirkungen die ,, Assimilationen" am nächsten stehen. Wie diese
als Angleichungen benachbarter Laute, so können jene als ,,Angleichun-
gen durch fernewirkende Assoziation" definiert werden. Der Arten
solcher Angleichung können wir dann im allgemeinen zwei unter-
scheiden: die eine wollen wir als ,, Angleichung grammatischer Formen"
oder kürzer als ,, grammatische Angleichung", die andere als „An-
gleichung nach logischen Beziehungen der Begriffe" oder als ,, be-
griff liehe Angleichung" bezeichnen. Jede dieser Arten läßt sich wieder
in zwei Unterarten zerlegen: die grammatische Angleichung in die
„Angleichung verschiedener grammatischer Formen desselben Wortes",
wir wollen sie kurz die „innere grammatische Angleichung" nennen,
und in die ,, Angleichung übereinstimmender grammatischer Formen
verschiedener Wörter", sie sei die „äußere grammatische Angleichung"
genannt. Die zweite Hauptform, die ,, begriff liehe Angleichung",
zerfällt ebenfalls in zwei Gruppen von Erscheinungen: die eine wird
durch ,, Angleichung an Wörter von verwandter Bedeutung", die an-
dere durch „Angleichung an Wörter von gegensätzlicher Bedeutung"
gebildet; jene mögen abkürzend „Angleichungen durch Ähnlichkeit",
diese ,, Angleichungen durch Kontrast" genannt werden^).
1) Von den genannten Klassen der ,, Analogiebildung" hat ursprünglich
die erste vorzugsweise die Aufmerksamkeit der Sprachforscher auf sich gelenkt.
Hier hat zuerst H. Paul die oben erwähnten beiden Unterarten scharf geschieden.
Die Angleichung verschiedener grammatischer Formen desselben Wortes an-
Grammatische Angleichungen, 443
2. Grammatische Angleichungen.
a. Innere grammatische Angleichungen.
Unter diesen verschiedenen Formen von Angleichungsvorgängen
stehen die inneren grammatischen Angleichungen offenbar
den im unmittelbaren Kontakt der Laute erzeugten Lautassimila-
tionen am nächsten. Zwar treffen die induzierend aufeinander wirken-
einander nennt er „Analogiebildung durch stoffliche Ausgleichung'', die An-
gleichung übereinstimmender grammatischer Formen verschiedener Wörter
„Analogiebildung durch formale Ausgleichung", weil dort der Wortkörper selbst
eine Ausgleichung ursprünglicher Lautunterschiede zeige, während hier bloß
zwischen formal zusammengehörigen Wörtern verschiedenen Stoffes die aus-
gleichende Wirkung stattfinde. (Paul, in den Beiträgen zur Geschichte der
deutschen Sprache und Literatur, herausgegeben von Paul und Braune, VI,
1879, S. 7 ff.) Wesentlich auf der Grundlage dieser Panischen Unterscheidung
haben dann H. Osthoff, Das physiologische und psychologische Moment in der
sprachlichen Formenbildung, 1879, S. 22 ff., und Wheeler, Analogy and the
scope of its application in language (Cornell University, Studies in classical Phi-
lology), 1887, p. 8 ff., die Analogiebildungen behandelt. Ich habe es vorgezogen,
um den Unterschied von der zweiten Klasse dieser Erscheinungen kenntlich zu
machen, beide Gruppen unter der Benennung der „grammatischen Angleichungen"
zusammenzufassen. Übrigens sei schon hier bemerkt, daß diese Unterscheidung
nur eine vorläufige ist, da, wie wir unten sehen werden, in den einzelnen Fällen
die „inneren" und die „äußeren" Assoziationsmomente stets zusammenwirken,
und es sich also höchstens um ein Übergewicht der einen oder der andern Rich-
tung handeln kann. Die „begrifflichen Angleichungen" sind in ihrer Bedeutung
für die Lautentwicklung besonders von K. Brugmann hervorgehoben und in
die beiden Formen der ,,Angleichung gegensätzlicher Begriffe" und der „An-
gleichung infolge von Begriffs Verwandtschaft" unterschieden worden (Brug-
mann, Grundriß der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen,
1886 bis 1893, vgl. den Sachindex unter ,,Angleichung" und die dabei angeführten
einzelnen Stellen des Textes). Unter den gleichen Gesichtspunkten behandelt
M. Bloomfield eine Reihe von ihm so genannter ,, Assimilationen und Adapta-
tionen" (American Journal of Philology, XII, 1891, p. 14 ff., XVI, 1895, p. 420 ff.).
Ebenso W. Meyer-Lübke speziell für das Gebiet der romanischen Sprachen,
Gramm, der rom. Spr., I, 1890, II, 1894: siehe die Sachregister unter „Anbildung"
und ,,Angleichung". Vom experimentell-psychologischen Standpunkte aus be-
handeln diese Erscheinungen A. Thumb und K. Marbe, Experimentelle Unter-
suchungen über die psychologischen Grundlagen der sprachlichen Analogie-
bildungen, 1901, und A. Thumb, Psychologische Studien über die sprachlichen
444 Der Lautwandel.
den Laute niclit im selben Worte zusammen, aber sie geboren Wörtern
an, die als Ableitungen aus einem und demselben Wortstamm einander
so nahe stehen, daß die Gelegenheit zur Assoziation dieser Wortformen
fortwährend geboten ist, daher denn auch hier verhältnismäßig am
wenigsten ein Zweifel über die Existenz und Richtung wirklicher
Assoziationen obwalten kann. Wenn z. B. der Plural des Präteritums
von sterben aus dem noch im älteren Neuhochdeutsch vorkommen-
den stürben in starben übergegangen ist, so hat sichtlich der Singular
starb hier eine angleichende Wirkung ausgeübt. Umgekehrt, wenn
im Präteritum zu werden die ältere Singularform ward gegenwärtig
zwar nicht ganz verschwimden, aber doch durch die neue Form wurde
zurückgedrängt ist, so hat hier der Plural wurden induzierend gewirkt.
Ähnliche Umwandlungen sind ich hörte, aus dem mittelhochd. ich
horte durch Angleichung an das Präsens ich höre entstanden, du fliegst^
er fliegt, du kriechst, er hriecht aus du fleugst, er fleugt, du kreuchst, er
kreucht durch Angleichung an ich fliege, ich krieche. Oder das Adjek-
tivum rauh statt des älteren rauch durch Angleichung an den Kom-
parativ rauher usw. In manchen dieser Fälle sind die ursprünglichen
Formen nicht vollständig durch die neuen, durch Angleichung gebil-
deten verdrängt worden, sondern sie bestehen für gewisse Nuancen
des Begriffs, wie ward neben wurde, oder in der poetischen Redeweise,
wie fleugt neben fliegt, noch fort. Nicht selten begegnen wir ferner
solchen Wortformen, die in der Art ihres Gebrauchs derart zwie-
spältig sind, daß sich bei ihnen die induzierende Wirkung und das
Beharrungsvermögen der ursprünglichen Form die Wage zu halten
scheinen, wie in gesendet neben gesandt, gewendet neben gewandt usw.
Auf früheren Stufen der Sprachentwicklung scheinen die inneren
grammatischen Angleichungen namentlich auch bei jener allmäh-
lichen Reduktion der Kasusformen der Nomina, der Genera, Tem-
Analogiebildungen, Indogermanische Forschungen, Bd. 22, 1907, S. 1 ff. Der
psychologische Standpunkt dieser Arbeiten weicht von dem im folgenden zur
Geltung gebrachten hauptsächlich in der Auffassung des Assoziationsbegriffs
ab, den die genannten Autoren im wesentlichen in seiner hergebrachten, wie
ich glaube absolut unhaltbar gewordenen Form festhalten. Vgl. hierzu Physiol.
Psychol. III,» S. 502 ff. und Kleine Schriften, Bd. 2, S. 182 ff.
Grammatische Angleichungen. 445
pora und Modi des Verbums beteiligt zu sein, die z. B. in den indo-
germanischen Sprachen einen durchgehenden Zug bildet^). Zuweilen
ist hier wohl die Angleichung der Laute verschiedener, ursprünglich
nach Begriff wie Laut abweichender Formen das Primäre gewesen.
Nachdem sich erst der Lautunterschied verwischt hatte, wurde dann
auch der begriffliche Unterschied allmählich verdunkelt, was freilich
nur geschehen konnte, indem an die Stelle des ursprünglich durch
die Flexionsform ausgedrückten konkreten Begriffsverhältnisses ein
allgemeineres trat. So hat mutmaßlich diese zunächst den äußeren
Lautkörper der Worte treffende Assoziationswirkung in ihren Folgen
eine indirekte Wirkung auch auf die Entwicklung der Begriffe
ausgeübt.
b. Äußere grammatische Angleichungen.
Wesentlich anders verhält es sich nach Bedingungen wie Wir-
kungen mit den äußeren grammatischen Angleichungen.
Indem bei ihnen nicht verschiedene Abwandlungsformen eines und
desselben Wortes, sondern umgekehrt analoge grammatische Formen
verschiedener Wörter zueinander in Beziehung treten, ist die indu-
zierende Wirkung an und für sich eine entferntere, kann aber dadurch
verstärkt werden, daß sie von einer größeren Zahl von Wörtern aus-
geht. So hat sich im Neuhochdeutschen die Genitivendung -es vom
Gebiet der Nominalstämme mit ursprünglich vokalischem Auslaut
zum Teil auf das der konsonantischen Stämme ausgedehnt. Nach
Analogie der Formen des Tages, des Wolfes usw. sagen wir statt des
älteren des Vater, des Bruder jetzt des Vaters, des Bruders; ebenso
haben die alten Genitive des Hahnen, des Schwanen den neuen des
Hahnes, des Schwanes Platz gemacht. Anderseits freilich fehlt es auch
nicht an der umgekehrten Induktionswirkung, wenn sie gleich die
seltenere ist: statt, wie im älteren Neuhochdeutschen, des Hirtes,
des Rabens heißt es jetzt des Hirten, des Raben. Vielleicht ist hier zu-
nächst die Angleichung an andere einen Stand oder einen Beruf aus-
1) Vgl. Kap. VI, Nr. II und III.
446 Der Lautwandel.
drückende Wörter der schwachen Deklination, wie des Grafen, des
Boten, wirksam gewesen. In nicht wenigen Fällen schwankt übrigens
auch dann wieder die Form zwischen verschiedenen Wirkungen, wie
in des Nachbars und des Nachbarn, des Bauers und des Bauern, des
Bares imd des Bären. Eine weitere Angleichung dieser Art besteht
darin, daß der in gewissen Fällen regelmäßig bestehende Umlaut des
Plurals auf den Plural anderer Nomina, dem er ursprünglich nicht
zukommt, eingewirkt hat. So hatte gast ursprünglich den Plur. gasti,
was durch regressive Assimilation in nhd. Gäste überging, und danach
sind dann Plurale wie Wölfe, Vögel, Acker gebildet worden. Nicht
minder zahlreich sind ähnliche Angleichungsvorgänge im Gebiet
verbaler Formen. Im ganzen ist auch hier der Übergang der sogenannten
starken in die schwachen Formen überwiegend. So sind er buk, rnuhl,
glomm, boll in er backte, mahlte, glimmte, bellte übergegangen. Doch
stehen dem auch Angleichungen umgekehrter Richtungen gegenüber
wie prieSf statt preiste, frug statt fragte. Des öfteren finden sich solche
Übergänge und Mischformen auch in Dialekten, wie gelitten statt ge-
läutet, gewunken statt gewinkt. In den meisten dieser Fälle ist es augen-
fällig, daß ein bestimmtes Wort, das auf ein anderes mutmaßlich ein-
gewirkt haben könnte, nicht anzugeben ist: er buk kann in er backte
unter der Einwirkung von machte, brachte ebenso wie von lebte, legte
usw., er preiste in er pries unter der von ließ wie von gab, ging, stand
usw. übergegangen sein. Höchstens wird man vermuten dürfen, daß
den im Klang ähnlicheren Wörtern eine intensivere Wirkung zukam,
daß also ließ mehr auf pries eingewirkt haben mag als gab oder stand,
machte mehr auf backte als lebte oder lobte. Im ganzen aber wird in
jedem einzelnen Falle solch äußerer Angleichung eine von unbestimmt
vielen Wörtern ausgehende Attraktion anzunehmen sein, wobei natür-
lich die Wirkung bald in gleichem, bald in entgegengesetztem Sinne
stattfinden konnte. Im letzteren Fall kann sie dann leicht zur Bildung
von Doppelformen führen, die entweder als rein lautliche Schwan-
kungen bestehen bleiben oder sich mit einer Differenzierung dei Be-
griffe verbinden. Da solche verschieden gerichtete Attraktionen bei
den äußeren grammatischen Angleichungen natürlich ungleich häufiger
vorkommen als bei den inneren, während diese leichter zur Reduktion
Grammatische Angleichungen. 447
grammatischer Formen und dadurch zum Zusammenfließen gewisser
Begriffsverhältnisse führen, so hat die äußere Angleichung wohl häufiger
den Erfolg einer Neubildung, namentlich in den älteren Stadien
der Sprachentwicklung, in denen solche Prozesse einen weiteren Spiel-
raum einnehmen^).
Erscheinen nach dieser Richtung der Assoziationen innere und
äußere grammatische Angleichung, so verwandt sie nach der Natur
der psychischen Vorgänge sind, gewissermaßen als Gegensätze, so
werden sie nun aber dadurch wieder einander näher gerückt, daß
jeder Vorgang der einen Art, z. B. jede zwischen den Abwandlungen
eines und desselben Wortes sich bewegende Assoziation, auch Vor-
gänge der andern Art, Assoziationen mit den analogen Abwandlungs-
formen anderer Wörter, nahelegt, und ebenso umgekehrt. Hat sich
also auch der Plural stürben zunächst durch Angleichung an den Sin-
gular starb in starben umgewandelt, so können immerhin andere im
Inlaut übereinstimmende Singular- und Pluralformen wie gab — gaben,
machte — machten, legte — legten usw. als äußere Hilfskräfte mitgewirkt
haben. Und wenn auf der andern Seite bei der äußeren Angleichung
auf die Umwandlung von Bildungen wie buJc, muhl, glomm in backte,
mahlte, glimmte in erster Linie die analogen Abwandlungsformen anderer
Wortstämme, wie machte, brachte, dachte usw. eingewirkt haben werden,
so läßt sich doch die Annahme nicht abweisen, daß nebenbei auch eine
Art innerer Angleichung stattgefunden habe, indem die Präsensformen
backe, mahle, glimme auf jene Formen des Präteritums herüberwirkten
und zu ihrem allmählichen Verschwinden beitrugen. Denn psycho-
logisch betrachtet steht jede Wortform, sobald es sich überhaupt
um assoziative Fernewirkungen handelt, unter dem Einfluß unab-
sehbar vieler Attraktionskräfte, die von den zu ihr in Beziehung stehen-
den Vorstellungsresiduen ausgehen. Daß solche assoziative Beziehungen
innere wie äußere sein können, das lehrt gerade die Existenz der beiden
^) Zahlreiche Beispiele für die Reduktion wie Neubildung grammatischer
Formen infolge solcher Assoziationen vgl. bei Brugmann, Grundriß, unter „Ana-
logiebildung'* und für das Englische bei Wheeler, Analogy, p. 12, 21 ff., für diei^
romanischen Sprachen bei Meyer-Lübke, II, S. 403 ff., 426 ff.
448 Der Lautwandel.
Hauptformen sogenannter „Analogiebildungen". Da aber im all-
gemeinen bei jeder äußeren Angleicbung immer zugleich irgendwelche
Motive einer inneren und ebenso bei jeder inneren solche einer äußeren
tatsächlich obwalten, so sind wir gezwungen anzunehmen, daß beide
assoziative Fernewirkungen immer ineinander eingreifen, und
daß sich im einzelnen Fall aller Wahrscheinlichkeit nach nur ihre
relative Stärke unterscheidet, während bei der inneren An-
gleichung die äußere und bei der äußeren die innere als
Hilfswirkung hinzukommt.
3. Begriffliche Angleichungen.
a. Angleichung durch Begriffsverwandtschaft,
Von den zumeist vorzugsweise unter dem Begriff der ,, Analogie-
bildungen'' zusammengefaßten Wirkungen und Wechselwirkungen
der grammatischen Abwandlungsformen, die sich deutlich bis in das
gegenwärtige Leben der Sprache herab verfolgen lassen, unterscheiden
sich die begrifflichen Angleichungen schon äußerlich dadurch,
daß ihre Wirksamkeit wohl durchweg entweder in eine frühere Zeit
der Sprachentwicklung oder, sofern sie einer späteren Periode an-
gehören, in Zeiten rascher Umbildung durch Einwirkung von Volks-
dialekten, Sprachmischungen u. dgl. fällt. Dies begreift sich leicht,
da es sich hier um Lautumwandlungen handelt, die zumeist in die
Vorgänge der Wortbildung selbst eingreifen, und bei denen daher
das Wort als solches gewissermaßen noch im Flusse der Entwicklung
begriffen ist. So treten uns namentlich Bezeichnungen für korrelative
Begriffe schon in früher Zeit oft in lautlich verwandten Formen ent-
gegen, die wegen dieses Parallelismus von Laut und Begriff mit großer
Wahrscheinlichkeit auf eine ursprüngliche Angleichung durch
Ähnlichkeit der Bedeutung zurückgeführt werden können. Als
sicher erwiesen kann aber freilich der Angleichungsvorgang nur dann
gelten, wenn das eine Glied eines solchen Wortpaars auf einer älteren
Stufe nachgewiesen werden kann, wo es jene Lautähnlichkeit noch
nicht besaß, und namentlich läßt sich auch nur in diesem Fall die
Begriffliche Angleichungen. 449
Richtung bestimmen, in der die induzierende Wirkung stattfand.
So haben sich wahrscheinlich schon in urindogermanischer Vorzeit
die Endungen der Namen für Schwester und Bruder, *su€sdr und
*hhraiör, sowie für Vater und Mutter, pater und tnater, in Angleichung
aneinander gebildet. Ähnlich scheinen vielfach die Lautformen der
verschiedenen Personalpronomina, des Ich, Du, Er, einander angeglichen
zu sein. So lassen die drei Personen in den ural-altaischen Sprachen,
wie im Lappischen mon — ton — son, im Magyarischen en — te — ö, deut-
lich eine Angleichung des Vokalklangs erkennen, wobei jedoch die
auf den konsonantischen Lauten ruhende Verwandtschaft der ver-
schiedenen Sprachen älter ist als die im allgemeinen auf eine engere
Sprachgruppe beschränkte Analogie der Vokalklänge. In den indo-
germanischen Sprachen sind bei der allmählichen Reduktion der
Kasusformen des Nomens neben grammatischen Lautangleichungen
jedenfalls auch Assoziationen nach begrifflicher Verwandtschaft wirk-
sam gewesen^). Besonders ausgeprägt, namentlich in bezug auf die
Richtung der stattgehabten Angleichung, erscheinen die Wirkungen
dieser Vorgänge bei gewissen Verbal- und Nominalformen von ähn-
licher Bedeutung, aber abweichender Abstammung, wenn das eine
der begriffsverwandten Wörter in einer Lautmodifikation vorkommt,
die auf die angleichende Wirkung des andern zurückgeführt werden
kann. So hat gr. agvco ,, schöpfe" die Nebenform agvoatj, die unter
der Wirkung von aq)voGCü ,, schöpfe" entstanden zu sein scheint. So
ist ferner (pdqvy^ für ein ursprüngliches (fccQv^ „Schlund" eingetreten,
offenbar durch Angleichung an ^ctQvy^ ,, Kehlkopf". So hat sich ferner
ital. furneccio ,, Diebstahl" wahrscheinlich nach ladroneccio, franz.
rougeole ,, Röteln" nach veröle ,, Pocken" gebildet usw.
b. Angleichung durch Kontrast der Begriffe.
Noch häufiger scheint die zweite Form begrifflicher Angleichung
zu sein, die nach Kontrast der Begriffe. Sie findet, wie das die
Natur des logischen Gegensatzes mit sich bringt, regelmäßig zwischen
Gliedern eines Begriffspaars statt, was bei der vorigen Form zwar
1) Vgl. Kap. VI, Nr. IL
W HD dt, Völkerpsychologie. 1. 4. Aufl. ^*^
450 I^er Lautwandel.
ebenfalls vorkommen kann, aber doch nicht überall zutrifft. Übrigens
bildet der Kontrast auch hier gelegentlich nur einen Grenzfall der
Verwandtschaft, insofern eine Angleichung durch Gegensatz bloß
stattfinden kann, wenn sich die gegensätzlichen Begriffe als die End-
glieder eines und desselben Begriffskontinuums betrachten lassen,
wie groß und klein, gut und schlecht, schwer und leicht usw. So ver-
mutet man, daß in den Präpositionen evg, eig ,,in", ,, hinein" das g
zu der einfacheren lokalen Präposition ev ,,in" nach Analogie von €§
„aus" hinzugefügt worden sei, so daß nun die begrifflichen Gegen-
sätze des ,, herein" und ,, heraus" durch den gleichen Endlaut zu-
sammengehalten werden. Ähnlich ist OTtioS-e ,, hinten" für das ältere
OTtid^e wahrscheinlich durch Angleichung an TtQoode ,,vorn" ge-
bildet. Im Lat. entstand, wie man annimmt, aus einem ursprüng-
lichen Neutrum minius ,,die Minderheit" das Adjektivum minor, mi-
nor is durch Angleichung an 7najor, majoris. Das altlat. ningulus statt
nullus ,, keiner" scheint eine Angleichung an singulus ,,ein einziger"
zu sein. So wird ferner senecta ,,das Greisenalter" nach Analogie von
juventa ,,die Jugend", aber wohl auch umgekehrt Juventus nach Ana-
logie von senectus, senectutis gebildet; meridionalis ist an die Stelle
des regulär gebildeten meridialis „mittäglich" getreten, nach dem
Vorbilde von septentrionalis ,, mitternächtlich". Im ital. greve aus
lat. grave ,, schwer" ist der lautgesetzlich nicht begründete Übergang
des a in e mutmaßlich in Anlehnung an leve ,, leicht" aus lat. levis er-
folgt. Aus lat. reddere ,, wiedergeben' hat sich, wohl durch Einwirkung
von frendere ,, nehmen", ital. rendere, franz. rendre gebildet. Im
Deutschen sind Sommer und Winter, ahd. sumar, wintar, ein Begriffs-
paar, bei dem das zweite nach dem ersten Worte gebildet zu sein scheint.
Der irreguläre Genitiv Nachts ist wahrscheinlich durch Angleichung
an Tags, das dialektisch vorkommende heute Morgend nach Analogie
von heute Abend entstanden usw. ^).
^) Vgl. über diese Erscheinungen außer Brugmann a. a. O. noch Wheeler,
Analogy, p. 19 ff. und Meyer-Lübke, I, II im Register unter „Angleichung".
Begriffliche Angleichungen. 451
c. Komplikationen der Angleicliungsvorgänge.
Die verschiedenen Formen sogenannter „Analogiebildung", die
grammatische und begriffliche Angleichung infolge von Verwandt-
schaft und Gegensatz, sind nun keineswegs überall getrennt von-
einander vorkommende Erscheinungen, sondern sie können in der
mannigfaltigsten Weise ineinander eingreifen, sich unterstützen oder
entgegenwirken und sich in einzelnen Fällen wohl auch mit den oben
behandelten Nahewirkungen der Laute, den Assimilationen und Dissi-
milationen, verbinden. So fügen z. B. unsere zahlreichen deutschen
Komposita mit genitivischer Bildung des ersten Wortbestandteils
bekanntlich an dieses nicht selten das Genitivsuffix -s auch dann
an, wenn das Wort für sich allein diese Genitivendung nicht hat:
wir sagen nicht bloß Kriegsgeschrei, Ratsversammlung, Berufswahl,
sondern auch Regierungsrat, Gründungsfest usw. Aber diesen stehen
andere Beispiele gegenüber, wo die gleiche Endung nicht in das Kom-
po itum eingedrungen ist, obgleich das Simplex sie hat, wie in Hof-
rat, Vaterhaus, Jubeljahr u. a. Hier werden wir demnach annehmen
dürfen, daß die echten Genitivbildungen von Wörtern wie Ratsver-
Sammlung, Berufswahl usw. auf die andern Komposita angleichend
eingewirkt haben, daß dies aber hauptsächlich in solchen Fällen ge-
schehen sei, wo der Lautübergang von dem ersten zum zweiten Teile
des Kompositums dies begünstigte. Wir können also wohl diese Er-
scheinung als ein Mischprodukt aus Angleichung an verwandte gram-
matische Formen und aus dissimilierender Kontaktwirkung der Laute
betrachten. Häufiger noch kommen Komplikationen der verschie-
denen Arten begrifflicher Angleichung untereinander sowie mit den
grammatischen Angleichungen vor. So hatte f,iala „sehr" ursprüng-
lich wohl zwei Komparativformen: (iiähov {/.idhaTo) und "^fxilXov.
Der Übergang dieses "^f-UXlov in /.lällov kann dann einerseits aus
der grammatischen Angleichung an f.tdla, ^dhara, anderseits aus
der begrifflichen Angleichung an Bildungen, die irgendwelche andere
Größenbestimmungen ausdrücken, wie t«/«, d-daoov (raxt-ov), r«/f(rra,
eläaaov, eldxiOTa, abgeleitet werden. Bei den mannigfaltigen asso-
ziativen Beziehungen, in denen das einzelne Wort zu andern Wörtern
29*
452 Der Lautwandel.
steht, ist in diesen und allen ähnlichen Fällen in der Tat die Kompli-
kation der Motive wahrscheinlicher als die isolierte Wirksamkeit
eines einzelnen. Im allgemeinen werden wir daher auch hier nach
dem Prinzip der „Komplikation der Bedingungen'' den Lautcharakter,
den das einzelne Wort im Laufe seiner Entwicklung annimmt, als
das Erzeugnis einer Vielheit mannigfach interferierender Ursachen
ansehen müssen, die sich teils unterstützen, teils auch einander ent-
gegenwirken können, so daß sich in bestimmten Wörtern gewisse
Lautmetamorphosen nicht vollziehen, die in andern, sonst ihnen pa-
rallel gehenden eingetreten sind. So ist im Präsens des Verbum subst.
eifiL ,,ich bin" die erste Person Plur. aus elfAtv in ea/uEv übergegangen,
augenscheinlich durch eine von den Mehrheitsformen der zweiten
Person lotbvj iore ausgeübte Attraktion, die gleichzeitig als eine
grammatische und als eine begriffliche, letztere vermittelt durch die
in beiden Fällen vorhandene Mehrheitsvorstellung, betrachtet werden
kann. Es handelt sich also hier um eine Interferenz gleich gerichteter
Einflüsse. Dagegen ist im Imperf. des gleichen Verbums die analoge
Angleichung nicht erfolgt: neben rjoroVy rjaze ist hier i^f.iev stehen
geblieben, nicht in rjoinev übergegangen. Den Grund hierzu kann
man aber in den zahlreichen andern Verbalformen mit der gleichen
Pluralendung finden, wie sYrjfASv, eßrjf^eVf eößr}f,iev, eine Wirkung,
die selbst wieder als die Verbindung einer äußeren grammatischen
Angleichung mit einer durch die Mehrheitsvorstellung vermittelten
Begriffsassoziation betrachtet werden kann, durch welche die an-
gleichende Wirkung der Formen ^atov, fjore paralysiert wurde, —
also in diesem Fall eine Interferenz entgegengesetzt gerichteter Ein-
flüsse, wobei der eine, offenbar derjenige der sich aus den meisten
Einzelkräften zusammensetzt, obsiegte^).
^) Vgl. Brugmann, Berichte der kgl. sächs. Ges. d. Wiss., Phil. -bist. KL
1897, S. 185 ffi
Psychologische Theorie der assoziativen Fernewirkungen. 453
4. Psychologische Theorie der assoziativen Fernewirkungen.
a. Entstellung der Fernewirkungen aus elementaren Asso-
ziationen.
Greifen auf diese Weise die vier oben unterschiedenen Grund-
formen psychischer Angleichungsvorgänge in so mannigfacher Weise
ineinander ein, daß der einzelne Fall wohl zumeist aus einem Zu-
sammen- und Gegenwirken verschiedener Bedingungen hervorgegangen
ist, so deutet nun schon das Wort ,,Angleichung", das einen für alle
Fälle gemeinsamen Begriff bezeichnet, auf einen im ganzen überein-
stimmenden Charakter aller dieser assoziativen Femewirkungen und
zugleich auf Beziehungen zu den oben erörterten Kontaktwirkungen
hin. Dies bewährt sich auch darin, daß beide, die Ferne- wie die Nahe-
wirkungen der Laute, in den Formen, in denen sie uns in der Sprache
begegnen, an individuelle Abweichungen erinnern, die auf den
nämlichen physischen und psychischen Bedingungen beruhen. Wie
die Lautveränderungen infolge von Kontaktwirkungen in den ver-
schiedenen Lautvermengungen (Paralalien) ihre Vorbilder haben,
so finden sich solche zu den mannigfaltigsten ,, Analogiebildungen"
vor allem in jenen Erscheinungen der Wortvermengung (Onomato-
mixie), die zusammen mit Paralalien bei dem ,, Versprechen" des
Zerstreuten, bei dem Gebrauch einer nicht geläufigen Sprache oder
einzelner Wörter einer solchen oder endlich bei dem Kind in der Pe-
riode der Aneignung der Sprache vorkommen (S. 314 ff.). Hierbei
besteht der Unterschied zwischen den Erscheinungen des Versprechens
der Redegeübten und den Sprachfehlern der Sprechenlernenden im
wesentlichen nur darin, daß bei jenen irgendeine ganz zufällige Wort-
assoziation die Abweichung herbeiführt, die dann bei klarer Besinnung
leicht als Fehler erkannt wird, während bei diesen die Abweichung
von dem Sprachgesetz ebensowenig wie die Übereinstimmung mit
demselben direkt zum Bewußtsein kommt. Hier zeigen aber jene
Wortvermengungen des gewöhnlichen Versprechens deutlich, daß
die Ursachen zu solchen Abweichungen in jedem Bewußtsein vor-
handen sind. Zugleich wird es begreiflich, daß diese die bestimmte,
454 Der Lautwandel.
vorzugsweise den Abwandlungsformen der Wörter zugekehrte Richtung
nur da annehmen, wo die eigentümlichen Bedingungen hinzutreten,
die bei der Aneignung einer Sprache obwalten. Nun bleiben diese
Bedingungen in einem gewissen Grad immer bestehen. Eine jüngere
Generation eignet sich die überlieferte Sprache von neuem an, und
in geringerem Umfange bleibt auch der Sprachgeübte den Wirkungen,
die verwandte Wortbildungen auf die Aussprache des einzelnen Wortes
ausüben, fortan ausgesetzt. Auf einer je früheren Stufe der Kultur
sich die Sprachgemeinschaft befindet, je weniger namentlich die Sprache
durch die Literatur fixiert ist, einen um so größeren Spielraum müssen
natürlich solche individuelle Einflüsse gewinnen. So führt auch hier,
gerade so wie bei den Kontaktwirkungen der Laute, diese Betrachtung
zu dem Ergebnis, daß jede in der Sprache zur Herrschaft gelangte
Abweichung von den Laut- und Formgesetzen infolge grammatischer
oder begrifflicher Angleichungen ursprünglich ein individueller Vor-
gang war, der, während eine Menge ähnlicher individueller Abwei-
chungen spurlos verschwand, durch begünstigende Bedingungen sich
verbreitete, bis seine Wirkung schließlich allgemein wurde. Damit
ist nicht gesagt, daß eine solche Abweichung nur in einem ein-
zigen Individuum ihren Ursprung genommen habe. Vielmehr, je
günstigere Bedingungen der Verbreitung sie vorfand, um so mehr
wird auch schon ihre Entstehung erleichtert gewesen sein, so daß
viele Einzelne unabhängig voneinander den gleichen Wirkungen
unterlagen.
Mit diesem individuellen Ursprung der generellen Erscheinungen
ist für die Natur der Prozesse vor allem dies sichergestellt, daß auch hier
von einer teleologischen, Willkür und Absicht zu Hilfe rufenden
Interpretation unmöglich die Rede sein kann. Denn alle jene indivi-
duellen Erscheinungen treten ganz von selbst, ungewollt und zunächst
ohne jedes Bewußtsein der wirklich stattfindenden Abweichung ein.
Wie die individuelle, so kann also auch die generelle Erscheinung nur
in einem psychischen oder physischen Mechanismus oder, da die
Sprache eine doppelseitige Funktion ist, in einem psychophysischen
begründet sein. Hier weisen aber in psychologischer Hinsicht alle diese
Erscheinungen so zwingend auf Vorgänge der Assoziation hin,
daß die Ausdrücke ,, Analogiebildungen'' und ,, sprachliche Asso-
Psychologische Theorie der assoziativen Fernewirkungen. 455
ziationen" vielfach schon als gleichbedeutend gebraucht worden sind^).
Doch ist auch hier mit diesem allgemeinen Ausdruck wenig getan,
solange man sich nicht nähere Rechenschaft darüber gibt, wie die
Assoziationen beschaffen sind. Das Wort ,, Assoziation'' selbst sagt
nicht mehr, als daß infolge irgendwelcher Beziehungen zwischen psy-
chischen Inhalten lediglich vermöge der Eigenschaften, die diese selbst
besitzen, also ohne Zutun unseres Willens oder vermittelnder intellek-
tueller Vorgänge, eine Verbindung zwischen jenen Inhalten eingetreten
sei. Und man redet von einem ,, Mechanismus der Assoziationen",
um anzudeuten, daß keine außerhalb der assoziierten Vorstellungen
liegenden psychologisch nachweisbaren Ursachen, wie z. B. Willens-
handlungen oder logische Überlegungen, die Verbindung erzeugt haben.
Aber mit diesem in seiner Allgemeinheit höchst unbestimmten Begriff
ist für die beschreibende Analyse des Tatbestandes selber so gut wie
nichts gewonnen, und die ohne Rücksicht auf überlieferte psycho-
logische Begriffe gebrauchten Ausdrücke ,, Analogiebildungen" und
,,Angleichungen" sind insofern sogar zutreffender, als sie wenigstens
das jedesmalige Endergebnis des sprachlichen Vorgangs deutlich be-
zeichnen. Ja, nimmt man den Begriff der „Assoziation" in dem-
jenigen Sinn, in dem ihn die sogenannte ,, Assoziationspsychologie"
des 18. Jahrhunderts ausgebildet hat, und in dem er von vielen Psy-
chologen noch gegenwärtig festgehalten imd speziell auch auf diese
sprachlichen Vorgänge angewandt wird, so muß man noch einen Schritt
weiter gehen, — dann ist jener Ausdruck nicht nur zu unbestimmt,
sondern in dieser Anwendung geradezu falsch: Assoziationen in
dem hergebrachten Sinne sind die sogenannten Analogie-
bildungen und Angleichungen überhaupt nicht. Jenem
Begriff gemäß soll nämlich die Assoziation ein Vorgang sein, der im
allgemeinen auf zwei Vorstellungen Ä und B sich erstreckt, von denen
die eine die andere in das Bewußtsein hebe, weil sie irgendwie ähn-
lich, oder weil sie gewohnheitsmäßig oft mit ihr verbunden gewesen
sei. Man unterscheidet danach die Ähnlichkeits- und die Berührungs-
assoziation, die manche Psychologen auch auf eine Form zu redu-
zieren suchen, indem sie entweder die Berührung auf Ähnlichkeit
1) Vgl. oben S. 380 f.
456 I^er Lautwandel.
oder — und dies wohl häufiger — die Ähnlichkeit auf Berührung zu-
rückführen^). Auch bei diesem Streite wird jedoch daran festgehalten,
daß die Assoziation in jedem einzelnen Fall auf einer irgendwie ent-
standenen Affinität zwischen je zwei Vorstellungen beruhe, die bei
der Anziehung, die sie aufeinander ausüben, im wesentlichen unver-
ändert bleiben. Wenn A von einem direkten Eindrucke herstammt
und B ein dem A assoziiertes Erinnerungsbild ist, so soll dieses B zwar
manchmal, gerade so gut wie der Eindruck A selbst, unvollständig
oder undeutlich wahrgenommen werden. Aber dies soll nicht hindern,
daß in einem gegebenen Assoziationsakt jeweils nur ein bestimmtes A
mit einem bestimmten B verbunden werden kann. Kommt irgend-
eine dritte Vorstellung C mit ins Spiel, so soll das eben nur in einem
neuen Assoziationsakt geschehen können. Dieser Voraussetzung
eines von Vorstellung zu Vorstellung reichenden Bandes entspricht
es denn auch ganz, daß man jede Assoziation als einen sukzessiven
Vorgang auffaßt, weil zuerst das eine Glied A der Verbindung und
dann das andere B im Bewußtsein auftrete. Das Schema, nach dem
man die gewöhnlichen Erinnerungsvorgänge — nicht beobachtet,
aber mit einem gewissen Schein von Wahrscheinlichkeit logisch ge-
gliedert hatte, wurde hier zum Schema der Assoziation und Repro-
duktion überhaupt. Wenn irgendein Eindruck an ein früheres Er-
lebnis erinnere, dann sei, so reflektierte man, zuerst der Eindruck
da und hierauf das Gedächtnisbild; ähnlich schlinge daher überall
die Assoziation ihre Bande zwischen unsern Vorstellungen. Wie der
Eindruck das Erinnerungsbild, so könne dieses ein anderes Erinnerungs-
bild emporheben. Auf solche Weise sollen Assoziationsreihen von mehr
oder minder großer Ausdehnung entstehen, in denen die folgenden
Vorstellungen immer an die früheren anknüpfen, mögen sie nun mit
den unmittelbar vorangegangenen Gliedern der Reihe oder mit weiter
zurückliegenden verbunden sein.
Mißt man die grammatischen und begrifflichen Angleichungen
der Sprache an diesem überlieferten Schema der Assoziation, so kann
es keinem Zweifel unterliegen, daß beide Begriffe nicht im geringsten
1) Grundriß der Psychologie, lo S. 271 ff. Kleine Schriften, Bd. 2»
S. 182 ff.
Psychologische Theorie der assoziativen Ferne Wirkungen. 457
sich decken. Erstens ist es in den meisten Fällen nicht ein einzelnes
Wort, dem ein anderes angeglichen wird, sondern eine Vielheit, nicht
selten eine mibestimmte Vielheit von Wörtern. Zweitens wirkt, wo
je einmal die vorwiegende Assoziation eines bestimmten Wortes nach-
weisbar ist, dieses nicht als ganzes, sondern in irgendeinem einzelnen
Lautbestandteil, während seine andern Elemente völlig wirkungslos
bleiben. Drittens kann ein und dasselbe Wort verschiedenen, von ganz
abweichenden Wörtern ausgehenden Wirkungen unterworfen sein,
— Interferenzphänomene, die bald Verstärkung, bald Komplikation
der Wirkungen, bald aber auch Kombinationen verschiedener neben-
einander stattfindender Lautinduktionen erzeugen können. Viertens
endlich ist von einer Sukzession d-er Vorstellungen in keinem einzigen
Beispiel dieser Angleichungsvorgänge, mögen sie auf eine Mehrheit
nebeneinander hergehender Wirkungen oder nur auf eine einzige
liin weisen, irgend etwas wahrzunehmen. Daß das induzierende und
das induzierte Wort im unmittelbaren Zusammenhang der Kede sich
berühren, ist nur ein seltener Ausnahmefall, der bereits auf der Über-
gangsstufe zur Kontaktwirkimg steht. Freilich ist aber auch bei dieser,
wie wir sahen, das eigentliche Motiv der Wirkung nicht eine dem üb-
lichen Schema entsprechende „Reproduktion und Assoziation", son-
dern es besteht in der Vorausnahme und Nachwirkung bestimmter
Laute und Lautbewegungen, die sich unwillkürlich und bei den Assi-
milationen vollkommen simultan mit dem gesprochenen Laute ver-
binden (S. 431 ff.).
In der Tat lassen sich daher die sämtlichen Formen der An-
gleichung, der grammatischen wie der begrifflichen, nur als simul-
tane Assoziationen oder, wie wir diese nennen, wenn es sich um Ver-
l^indungen innerhalb eines und desselben Sinnesgebiets handelt, als
psychische Assimilationen verstehen, an denen aber nicht, wie
die alte Assoziationstheorie voraussetzt, fest begrenzte fertige Vor-
stellungen, sondern Vorstellungselemente beteiligt sind. Das
Produkt dieser elementaren Verbindungen steht als eine einheitliche
Vorstellung im Bewußtsein, und erst durch die psychologische Ana-
lyse der unmittelbaren Bedingungen und der entfernteren Vorbe-
dingungen, unter denen es entstand, kann es einigermaßen in seine
Bestandteile zerlegt werden. Solche Assimilationen begegnen uns
458 Der Lautwandel.
schon im Gebiet der normalen Sinneswahrnehmung überall. Der
Vorstellungsinhalt irgendeiner Wahrnehmung erklärt sich im all-
gemeinen niemals zureichend aus der Zusammensetzung des Eindrucks,
sondern er besteht immer zugleich aus Assoziationen mit den Elementen
vorangegangener Vorstellungen, mit denen sich die Elemente de»
wirklichen Eindrucks wechselseitig assimiliert haben. Daium nimmt,
auch abgesehen von der verschiedenen Beschaffenheit der Sinnes-
organe und dem verschiedenen Standpunkt der Betrachtung, vermut-
lich kein Mensch einen Gegenstand genau ebenso wie ein anderer wahr»
Jeder bringt zu dem Eindruck wieder andere Bedingungen hinzu,
andere Vorstellungselemente, die zu dem gegebenen Objekt in irgend-
welche Beziehungen treten können, «ei es daß sie sich angleichen und
dadurch den Eindruck verstärken, sei es daß ihnen aus vorangegangenen
Verbindungen Elemente anhaften, die dem unmittelbaren Eindruck
fehlen. Alle diese Bedingungen treten uns am deutlichsten bei jenen
künstlichen Steigerungen und willkürlichen Variationen der Assi-
milationswirkungen entgegen, wie sie sich bei den experimentell er-
zeugten Sinnestäuschungen beobachten lassen^). Auf diese simul-
tanen Assoziationen den von Leibniz in wesentlich anderem Sinne
geschaffenen Begriff der ,, Apperzeption" zu übertragen, ist schon
deshalb unzulässig, weil dadurch jene simultanen Vorgänge von der
Gesamtheit der übrigen Assoziationen, mit denen sie auf das engste
zusammenhängen, und zu denen sie die mannigfachsten Übergänge
darbieten, getrennt werden, so daß die falsche Vorstellung einer spe-
zifischen Verschiedenheit der Vorgänge selbst erweckt wird^).
^) Grundriß der Psychologie, i* S. 278 ff. Grundzüge der physiol. Psyehol.,^ II,,
S. 575 ff., III, S. 502 ff. Phil. Stud. XIV, S. 32 ff. Kleine Schriften III, S. 312 ff.
2) Es ist bezeichnend, daß dieser von Her hart eingeführte, nach unserer
heutigen Kenntnis der Assoziationen unbrauchbar gewordene Begriff der „Apper-
zeption" auch heute noch hauptsächlich von Philosophen angewandt wird, die
in bezug auf die Assoziationen selbst an dem unzulänglichen Schematismus
der Assoziationspsychologie festhalten. So stützen sich hier zwei unhaltbare
Begriffe wechselseitig. Daß man bei dieser irreführenden Anwendung des Apper-
zeptionsprinzips zugleich einer passenden Bezeichnung für die elementaren Funk-
tionen des Willens und der Aufmerksamkeit verlustig geht, wird sich, abgesehen
von den hierher gehörigen Tatsachen der Individualpsychologie, auch bei den
sprachlichen Vorgängen der Wortbildung und Satzfügung deutlich ergeben.
(Vgl. Kap. V und VII.)
Psychologische Theorie der assoziativen Feme Wirkungen. 459
Wie die Erscheinungen der normalen Illusionen bei der Sinne^-
wahrnelimung, so bilden nun die Analogiebildungen und Angleichungen
innerhalb der Sprache ein Gebiet, auf welchem sich die völlig passive,
ohne jede Beteiligung unseres Wollens und Denkens erfolgende und
dabei doch überaus fruchtbare und schöpferische Wirksamkeit der
Assimilationen auf das klarste entfaltet. Zugleich bilden diese Er-
scheinungen ein für das Studium der psychischen Prozesse höchst
wertvolles Beobachtungsmaterial, einerseits weil uns hier die Vor-
gänge selbst unter wesentlich andern und vorwickelteren Bedingungen
entgegentreten als bei den Sinneswahrnehmungen, imd anderseits
weil die Zeugnisse der Sprachgeschichte in der Regel bestimmtere
Hinweise auf die Ursachen der Vorgänge und das Verhältnis der in
assimilative Wechselwirkung tretenden Elemente enthalten. Dies
zeigt sich auch daran, daß in diesem Fall die Erscheinungen schon
für die äußere Beobachtung in mehrere, scharf zu unterscheidende
Gruppen auseinander treten, deren Eigentümlichkeiten jedesmal
auf Unterschiede der psychischen Bedingungen selbst hinweisen.
Hierdurch bilden diese Assimilationsvorgänge auf dem Gebiete der
Sprache ganz besonders schlagende Belege für das sich bei allen asso-
ziativen Prozessen bewährende Prinzip, daß eine Assoziation
überhaupt nicht zwischen Vorstellungen, sondern immer
nur zwischen Vorstellungselementen stattfindet, indem
gleiche Elemente mit gleichen, berührende mit berühren-
den früherer Vorstellungen sich zu verbinden streben.
Da nun aber solche Elemente niemals in isoliertem Zustande, sondern
sowohl vor wie nach eingetretener Assimilation immer nur in ihrer
Verbindung mit andern Bestandteilen als vorstellbare psychische In-
halte vorkommen, so können sie überhaupt nur als Dispositionen
unserer Seele gedacht werden, denen zugleich irgendwelche physische
Dispositionen in den Sinneszentren entsprechen werden. Sie gehen
erst in dem Moment in vorstellbare psychische Inhalte über, wo sie
sich mit weiteren Elementen verbinden, mögen nun letztere durch
unmittelbare Sinneseindrücke erweckt werden oder selbst zu den
wieder aktuell gewordenen Dispositionen gehören. Die in einem ge-
gebenen Augenblick im Bewußtsein auftauchende, aus Elementen
zahlreicher und zum Teil weit abweichender früherer Eindrücke auf-
460 Der Lautwandel.
gebaute Vorstellung wird daher als Ganzes wie in allen ihren Teilen
stets nur in dem Augenblick zu einer wirklichen Vorstellung, wo sich
die assimilative Verbindung vollzieht. Vorher sind die Elemente bloß
als latente psychische Kräfte vorhanden gewesen, die sich erso in ihrer
nachherigen Beteiligung an einer gegebenen Vorstellungswirkung zu
erkennen geben. Den Dispositionen, insofern sie in dieser Weise zu-
gleich latente psychische Kräfte sind, lassen sich nun bildlich, wenn
wir die Verhältnisse der physischen Kräfte auf sie übertragen denken,
immer attraktive und repulsive Wirkungen zuschreiben: attraktive,
die gleiche und berührende Elemente iu das Bewußtsein zu heben streben ;
repulsive, durch die sonstige Elemente, die ihnen widerstreiten, unter
der Schwelle des Bewußtseins gehalten werden. Gerade für dieses
Wechselspiel der Attraktion und Repulsion der Vorstellungselemente,
das wir gelegentlich schon bei den Wahrnehmungsvorgängen beobach-
ten, bieten die analogen Erscheinungen auf dem Gebiet der Sprache
die deutlichsten Belege, besonders in jenen Fällen, wo zwei Angleichungs-
prozesse miteinander in Wettstreit geraten und der Enderfolg dann
eine Verbindimg mehrerer partieller Angleichungen aufweist. Wenn
z. B. */««UAov nicht in */«^AAoj', wie die Angleichung an verwandte
Komparativformen vermuten ließe, sondern durch eine nebenher
gehende Angleichung an juala^ die wahrscheinlich noch durch eine
von analogen Steigerungsbegriffen, wie ^äaGov, släaoov ausgehende
Attraktion unterstützt wurde, in ixälXov übergegangen ist, so hat
hier die von dem a-Laut ausgeübte angleichende Wirkung zugleich
eine Repulsion auf den e-Laut ausgeübt, die stärker war als die sonst
diesem zur Seite stehenden attrahierenden Kräfte.
Um die Wirkungen, aus denen solche den sprachlichen Analogie-
bildungen zugrunde liegende psychische Assimilationen hervor-
gehen, richtig zu würdigen, muß man bedenken, daß alle jene Er-
scheinungen nur einzelne Fälle sind, in denen vermöge besonderer,
irgendeine Abweichung vom normalen Verhalten herbeiführender
Bedingungen die Attraktionen und Repulsionen psychischer Elemente
deutlicher hervortreten. In Wahrheit besteht aber alles Sprechen
in fortwährenden Analogiebildungen und Angleichungen, und wir
würden niemals zur Beherrschung einer Sprache gelangen, wenn nicht
fort und fort Dispositionen zur Assoziation der Vorstellungselemente
Psychologische Theorie der assoziativen Femewirkungen. 461
entstünden und sich verstärkten. Oline Zaudern bilden wir in einer
uns geläufigen Spraclie die Kasusformen des Substantivs, die Ab-
wandlungen des Verbums oder selbst Wortzusammensetzimgen, ohne
sie uns im einzelnen Fall direkt angeeignet zu haben. Wir tragen ge-
wissermaßen paradigmatische Vorstellungsreihen als latente Kräfte
in uns, deren Latenz aber eben darin besteht, daß sie uns nicht, wie
die Paradigmen der wirklichen Grammatik, in Gestalt bestimmter
einzelner Vorstellungen gegeben sind, sondern daß sie nur in der Form
elementarer funktioneller Anlagen in uns liegen, von denen jeweils
diejenigen aktuell werden, die durch die gegebene Bewußtseinslage
begünstigt sind. Wenn wir eine einzelne grammatische Form bilden,
so werden wir uns daher nur sehr selten und unter Ausnahmebedingimgen
irgendeiner anderen Wortvorstellung bewußt, der sie analog ist. Viel-
mehr wirken die zugehörigen und im Augenblick disponibeln Elemente
wie eine Totalkraft, die uns bloß in ihrem Effekt, nicht in den zahl-
losen einzelnen Komponenten gegeben ist, aus denen sie sich zusammen-
setzt. Ein überraschendes und freilich auch nur partiell erhellendes
Licht fällt auf diese Vorgänge erst da, wo sie etwa einmal in ungewöhn-
licher Form verlaufen, wo also statt der erwarteten andere Attrak-
tionswirkungen, sogenannte ,, falsche Analogien", zustande kommen.
Sie spielen in der Tat im Gebiet der Sprache etwa dieselbe Rolle wie
in dem der Sinneswahrnehmung die „normalen Sinnestäuschungen."
In Wirklichkeit sind diese ebensowenig Urteilsfehler, als die man sie
früher häufig betrachtet hat, wie die sogenannten falschen Analogien
Sprachfehler sind. Wie vielmehr jene aus den schon bei der normalen
Sinneswahrnehmung wirksamen Gesetzen, so sind auch diese aus den
Assoziationsgesetzen hervorgegangen, die sich überall in der Sprache
betätigen. Nur der Umstand, daß die Assoziationen der Elemente
infolge bestimmter Bedingungen ungewöhnlicher Art sind, gibt ihnen
ihre eigenartige Stellung und zugleich ihren großen heuristischen
Wert. Beide Fälle gehören zu jenen, wo die Natur für uns experimen-
tiert, indem sie eine Veränderung der Bedingungen herbeiführt, die
einer willkürlichen Variation derselben gleichkommt.
462 Der Lautwandel.
b. Psychologische Analyse der vier Hauptformen der
Lautangleichung.
Betrachtet man die vier oben unterschiedenen Gruppen der An-
gleichung sprachlicher Formen nach den durch diese Zurückführung
auf elementare psychische Assimilationen geforderten Gesichtspunkten,
so zeigt sich kein wesentlicher Unterschied der Elementarprozesse
selbst. Wohl aber führen die Erscheinungen zur Annahme einer ver-
schiedenen und für jede Gruppe höchst charakteristischen Verteilungs-
weise der Elementarwirkungen. Hierbei ist, wie bei allen sprach-
lichen Erscheinungen, jede Vorstellung als Komplikation eines begriff-
lichen Inhalts und einer zugehörigen Lautvorstellung aufzufassen.
Wegen der Festigkeit dieser Komplikation wird im allgemeinen eine
Assoziation der begrifflichen immer auch eine solche der lautlichen
Elemente herbeiführen; es wird aber auch umgekehrt die Lautattrak-
tion eine Assoziation der Begriffe veranlassen können. Zugleich' bringt
es die Verkettung der sprachlicnen Komplikationen mit sich, daß
keine der erwähnten Attraktionswirkungen jemals für sich allein vor-
kommt, sondern daß es sich überall nur um vorwiegende Kichtungen
handeln kann.
In einer Hinsicht stimmen nun trotz sonstiger Verschieden-
heit der Bedingungen die vier Gruppen der Angleichungsprozesse
überein. Das ist die allgemeine Richtung, in der die lautändernden
Kräfte wirken. Unterscheiden wir die Lautelemente eines Wortes
in solche, die dem in dem Worte ruhenden, relativ konstant bleiben-
den Grundbegriff angehören, und in andere, die den verschiedenen
Modifikationen entsprechen, in denen jener Grundbegriff infolge seiner
Beziehung zu andern Begriffen vorkommt, so können wir die Elemente
der ersten Art als die Grundelemente, die der zweiten als die Be-
ziehungselemente des Wortes bezeichnen^). Die Unterscheidung
dieser Elemente berührt sich zwar mit der grammatischen Unter-
scheidung des Wortstamms und der Flexionsbestandteile, aber sie
ist von allgemeinerer Bedeutung. Indem wir uns nämlich dabei das
^) Näheres über die Bedeutung dieser Elemente für die Wortbildung vgl.
unten Kap, V, Nr. III.
Psychologische Theorie der assoziativen Femewirkungen. 463
Wort nicht in einen einzigen konstanten Grundbestandteil und in
einen oder einige Beziehungsbestandteile zerlegt denken, sondern
in seine Lautelemente, die je nach ihrer Bedeutung Grundelemente
oder Beziehungselemente sein können, entspricht es dem fließenden
Charakter der in der Sprache ausgedrückten Begriffe und Begriffs-
beziehungen, daß auch dieses Verhältnis zwischen Grmidelementen
und Beziehungselementen ein fließendes ist. Gewisse Elemente, die
sich in zahlreichen Umwandlungsformen als Grundelemente bewähren,
können in andern in die Reihe der Beziehungselemente übertreten,
während bei der Stabilisierung gewisser Flexionsformen und bei der
Wortkomposition umgekehrt Beziehungselemente zuweilen zu Grund-
elementen werden oder auch zu selbständigen Beziehungswörtern
sich verbinden. Angesichts des nie rastenden Wirkens der sprach-
bildenden Vorgänge beanspruchen daher jene Bezeichnungen an und
für sich nur eine relative Bedeutung: Grundelemente sind überall
nur diejenigen Lautelemente, die innerhalb einer Reihe zusammen-
gehöriger Laut- und Begriffsänderungen konstant bleiben und eben
darum für den Redenden die Träger des Grundbegriffs sind; Be-
ziehungselemente diejenigen, die durch ihr Gebundensein an die Be-
ziehungen und Verbindungen, in die der Begriff tritt, von selbst die
Bedeutmig variabler Begriffsmodifikationen annehmen.
Fassen wir in diesem relativen, aber in jedem einzelnen Fall der
Anwendung doch eindeutigen Sinne jenen durch die natürliche Stellung
des Wortes in der Rede gegebenen Gegensatz auf, so bilden nun die
sämtlichen oben betrachteten Angleichungen, wenn wir für sie wieder
den Begriff der ,, Lautinduktion'' benutzen, ein Gebiet von Vorgängen,
wo die induzierten Lautbestandteile durchaus nur den jeweiligen
Beziehungselementen des Wortes angehören. Dagegen zerfallen
sie nach der Stellung der induzierenden Bestandteile von vorn-
herein in zwei Klassen: in der einen sind diese induzierenden Bestand-
teile ebenfalls Beziehungselemente, — dies bildet den Fall der ,, gram-
matischen Angleichungen"; in der andern sind sie Grundelemente,
— dies ist der Fall der „begrifflichen Angleichungen''. Dabei treten
nun aber neben diesen dem Vorgang den entscheidenden Charakter
aufprägenden Assoziationen stets noch andere als Hilfskräfte auf,
so daß ebensowohl bei den grammatischen Angleichungen Attrak-
464 Der Lautwandel.
tionen von Grundelementen wie bei den begrifflichen Angleichungen
solche von Beziehungselementen mitwirken. Diejenige Wirkung,
die wir in einem gegebenen Fall speziell als die ,, induzierende*' heraus-
greifen, bezeichnet daher stets nur die zunächst der Beobachtung
sich aufdrängende Seite der Erscheinung, niemals den ganzen Kom-
plex mannigfach gerichteter attraktiver und repulsiver Kräfte, die
an dieser beteiligt sind. Hiernach lassen sich im ganzen vier typische
Formen assoziativer Verbindungen unterscheiden, die den vier oben
betrachteten symptomatischen Gruppen entsprechen. Um sie mittels
kurzer symbolischer Ausdrücke zu erläutern, sollen beliebige Grund-
elemente eines Begriffs durch Buchstaben der ersten, Beziehungs-
elemente durch solche der zweiten Hälfte des Alphabets angedeutet
werden, so daß also Ä B M N und E F S T zwei Wörter nebst den
an sie gebundenen Begriffen andeuten, die in allen ihren Elementen
abweichen, A B M N und A B S T solche, die in ihren Grundelementen
übereinstimmen, A B M N und E F M N andere, bei denen das
gleiche für die Beziehungselemente gilt, endlich A B M T und A C S T,
A B M S und C D M T usw. solche, die verschiedene Arten partieller
Übereinstimmung darbieten. Nun sind an sich nur zwischen überein-
stimmenden Elementen assimilierende Wirkungen möglich. Durch
diese können dann aber nach dem Prinzip der Kontiguität weitere,
bloß in äußerer Verbindung stehende in das Bewußtsein gehoben
oder aber vorhandene, die in der neu gebildeten Verbindung keine
Stelle finden, aus ihm verdrängt werden. Derartige Wirkungen können
nach mannigfachen Erfahrungen, die sich uns im Gebiet der Sprache
bieten, nicht bloß zwischen den Elementen verschiedener, sondern
auch zwischen denen der gleichen Vorstellungen, insbesondere also
zwischen den Laut- und Begriffselementen eines Wortes stattfinden.
Wollen wir eine schematische Übersicht über die verschiedenen ty-
pischen Formen der oben behandelten Angleichungs Vorgänge ge-
winnen, so erscheint es daher zweckmäßig, für die Begriffselemente
symbolische Zeichen zu wählen, die je nach Bedürfnis die isolierte
oder die vereinigte Wirkung der einzelnen Bestandteile einer Kompli-
kation andeuten. Wir bezeichnen daher eine Komplikation aus Laut-
und Begriffselementen, wie oben, mit großen Buchstaben und wählen
diese Symbole überall da, wo eine gleichzeitige assoziative Wirkung
Psychologische Theorie der assoziativen Femewirkungen.
465
der vereinigten Laut- und Begriffselemente anzunehmen ist. Da-
gegen sollen Lautelemente, wo sie für sich allein wirksam sind, durch
die kleinen Buchstaben des lateinischen Alphabets a, h, c . . . oder
m, n, o . . ., und Begriffselemente, sofern sie ohne die zugehörigen
Lautelemente wirken, durch die griechischen Buchstaben or, /?,/.. .
angedeutet werden. Dabei werden im letzteren Fall diese Symbole
nur für die Grundelemente des Wortbegriffs angewandt, da, wie die
Erscheinungen begrifflicher Angleichung, bei denen eine solche selb-
ständige Wirksamkeit der Begriffselemente allein in Frage kommt,
zeigen, Attraktionswirkungen, die vom Lautwert der Worte unab-
hängig sind, überhaupt nur den Grundelementen zukommen. Weiter-
hin soll die Hauptrichtung der Assoziationen durch ausgezogene, die
Neben- und Hilfswirkungen sollen durch unterbrochene Linien an-
gedeutet werden. Solche Elemente endlich, die durch die begleitenden
repulsiven Wirkungen verschwinden, sind in eckige Klammern ein-
geschlossen, und die Hauptrichtung der Induktion wird durch einen
Pfeil angedeutet. Jeder symbolischen Wortformel ist zur Verdeut-
lichung ein Wortbeispiel beigefügt.
Typus I. (Innere grammatische Angleichung.)
AB S {z. B. starb) (gab tat machte
j I I gaben taten machten)
A B[M]T (stürben) h d S e f S g h S
A B S T (starben)
h ä S T e f S T g h S T usw.
~r ~r~ "T"
Typus IL (Äußere grammatische Angleichung.)
AB S {z. B. backe)
A ß[M] (bück)
A B S T (backte) e d S T e f S T g h S T
(mache
lache
krache)
(machte
lachte
krachte)
c d S
e / S
9 h S
-^
Wniidt, Völkerpsychologie.
4. Aufl.
30
466 I^er Lautwandel.
Typus III. (Allgleichung durch Begriffsverwandtschaft.)
CC ß S t[v] (Z. B. (X(pV(JGM\
I I I I j {(/QVG(T(jü vvaao) mvaGO))
a c s (aQVcn)) / («« = schöpfe)
llll I efstghstikst usw.
a C S t (CCQVGGÜ)) ß III
Typus IV. (Angleichung durch Begriffsgegensatz.)
a ß b s t {z. B. it. leve) \
llll I Cf /? = leicht (brevis)
a y d [v] (lat. gravis) ^
a y d s t (it. greve)
Ja y = schwer c e s t
Aus diesem Schema erhellt zunächst, daß die beiden Formen
grammatischer Angleichung (Typus I und II), solange man von dem
Verhältnis der Hauptrichtung und der Nebenrichtungen der Assi-
milation abstrahiert, im wesentlichen übereinstimmen. Der Unter-
schied beider liegt besonders darin, daß, was bei der einen Form Haupt-
wirkung ist, bei der andern zur Nebenwirkung wird, und umgekehrt.
Damit hängt der weitere in dem Schema ausgedrückte Unterschied
zusammen, daß bei dem ersten Typus die assoziative Verbindung
der Grundelemente eine größere Rolle spielt, wodurch diese Form
den begrifflichen Angleichungsvorgängen des Typus III und IV näher
steht. Diese beiden Typen selbst sind dann wieder von im ganzen
übereinstimmendem Charakter, indem bei beiden sogar die Richtung
der Hauptwirkung die nämliche ist und nur die Beimischung eines
Kontrastfaktors (ß und y) zu den gleichen Begriffselementen a einen
Unterschied begründet. Damit steht in Verbindung, daß die An-
gleichung durch Kontrast einen Grenzfall bildet, wo äußere Hilfs-
wirkungen verhältnismäßig zurücktreten und oft wohl ganz ver-
schwinden können. Dies ist durch die Natur des Kontrastes bedingt,
nach der ein gegebener Begriff in einem bestimmten Gedankenzu-
sammenhang jeweils einen bestimmten Gegenbegriff fordert. Übri-
gens ist es für beide begriffliche Angleichungsformen charakteristisch,
Physiologische Einflüsse bei den Lautangleichungen. 467
daß, wie bei ilinen die Hauptkräfte von Begriffselementen ausgehen,
die unabhängig von ihren Lautkomplikationen wirken, so als äußere
Hilfskräfte umgekehrt reine Lautwirkungen, die von den begriff-
lichen Bedeutungen der Wörter unabhängig sind, unterstützend ein-
greifen.
5. Physiologische Einflüsse bei den Lautangleichungen.
Erscheint nach der in dem obigen Schema gegebenen Zerglie-
derung der Angleichungs Vorgänge der Ausdruck, diese seien ,, psy-
chisch bedingte Formen des Lautwandels*', gerechtfertigt, insofern
ja eben diese Zergliederung überall auf Verbindungen elementarer
Assoziationen zurückführt, so schließt das nun aber keineswegs aus,
daß nicht auch hier den Assoziationen gewisse physiologische Be-
dingungen zur Seite stehen. In der Tat wird diese Annahme schon
durch die allgemeine Erwägung nahegelegt, daß alle Assoziationen
ihrem wesentlichen Charakter nach mit den Übungsvorgängen eng
zusammenhängen, daß aber diese stets entweder rein physische oder
aber psychophysische Funktionsänderungen sind: das erstere bei
der Funktionsübung der niederen Nervenzentren oder der peripheren
Organe, wie der Muskeln und Drüsen, das letztere bei den mit Ver-
änderungen in den höheren Zentralgebieten vor sich gehenden Pro-
zessen. So begreiflich es demnach ist, daß wir solche Vorgänge der
Übung und Mitübung auf die psychische Seite stellen, solange sie sich
uns vorwiegend in psychischen Symptomen zu erkennen geben, so
kann dies doch an jener prinzipiellen Auffassung nichts ändern, daß
sie, als psychophysische Vorgänge, nur die verwickeltsten und höchsten
Erscheinungsformen der alle Lebensprozesse beherrschenden Gesetze
der Veränderung der Funktion durch die wiederholte Ausübung der
Funktion selbst sind. Diese prinzipielle Auffassung findet aber im
vorliegenden Fall ihre besondere Rechtfertigung noch darin, daß die
Sprache mehr als irgendeine andere psychische Leistung die Kenn-
zeichen einer psychophysischen Funktion an sich trägt, die von den
äußeren motorischen und akustischen Hilfsmitteln der Lauterzeugung
an bis zu den Verbindungen der akustischen Zentren verschiedener
Ordnung auf physischer Grundlage ruht. Diese Bedeutung der phy-
30*
468 Ber Lautwandel,
siologischen Übung tritt nun auch in einzelnen die assimilativen Ferne-
wirkungen begleitenden Erscheinungen selbständig zutage. Besonders
gehören hierher zwei Tatsachen. Die erste besteht in der überwiegen-
den Wirkung solcher Lautverhältnisse, die von vornherein schon durch
ihre größere Häufigkeit bevorzugt sind. So verdrängen bei den gram-
matischen Angleichungen, wo nicht besondere Erhaltungsbedingungen
mit eingreifen, die häufigeren Flexionsformen allmählich die selteneren.
So sind ferner unter den begrifflichen Angleichungen die durch Kontrast
den durch Ähnlichkeit vermittelten überlegen, wahrscheinlich des-
halb, weil im selben Maß, als der Kontrast das wirksame Begriffs-
verhältnis auf Korrelatbegriffe einschränkt, er wegen der großen
Häufigkeit der Verbindung dieser Begriffe ein Übergewicht in ihrer
gemeinsamen funktionellen Einübung behauptet. Die zweite Tatsache
besteht in dem von Anfang an unwillkürlichen Eintritt der Verände-
rungen. Diese Art der Entstehung erweckt unmittelbar den Eindruck
eines psychischen Mechanismus, der zugleich ein physischer sein muß,
da die Lautbildung als solche dem Gebiet physischer Vorgänge an-
gehört. Gerade bei den Sprachorganen läßt aber, wie auch sonst die
Erfahrung vielfach zeigt, die Wiederholung einer bestimmten Be-
wegung diese leicht auch da entstehen, wo eigentlich eine andere ge-
wollt wurde, lediglich deshalb, weil die Organe nun einmal auf eine
bestimmte Aufeinanderfolge der Artikulationsbewegungen eingeübt
sind. Mag es z. B. noch so wahrscheinlich sein, daß aQvoj, als es sich
in agioocü umwandelte, zunächst der assoziativen Wirkung des be-
griff sverwandten ctq)vootü gefolgt ist: ohne die entsprechende Ein-
übung der der Endung -vooco eigenen Lautbewegungen, die wieder
halb als assoziatives, halb als rein mechanisches Moment infolge der
in dieser Abfolge eingeübten Bewegungen die Veränderung erleich-
terte, würde der Wandel der Laute nicht erfolgt sein. So darf durch-
weg auch für diese der Wirksamkeit der psychischen Assoziations-
gesetze besonders günstigen Erscheinungen assoziativer Fernewir-
kungen der Satz als gültig angesehen werden, daß jeder Lautwandel
ein psychophysischer Vorgang ist.
Hauptformen der Wortentlehnung. 469
V. Laut- und Begriffsassoziationen bei Wort-
entlehnungen,
1. Hauptformen der Wortentlehnung.
Mit den soeben betrachteten assoziativen Fernewirkungen der
Laute berühren sich sehr nahe diejenigen Erscheinungen, die infolge
der Einführung eines nach Laut wie Bedeutung fremden
Wortes in eine Sprache eintreten. Auch hier entstehen naturgemäß
Assoziationen mit andern, bereits geläufigen Wörtern von ähnlichem
Klangcharakter, die teils als bloße Lautgebilde, teils auch durch ihren
Begriffswert auf das neuaufgenommene Wort herüberwirken. Die
Wortentlehnung ist demnach ein Produkt der Sprachmischung.
Dabei ist aber der Begriff der letzteren hier im weitesten Sinne zu
nehmen. Denn die Erscheinungen der Wortentlehnung stellen sich
überall da ein, wo überhaupt ein unverstandenes Wort in einer Sprache
Eingang findet, mag es nun einer fremden Sprache oder einem andern
Dialekt oder vielleicht auch nur einer älteren Periode der gleichen
Sprache angehören. Diese geschichtlichen Bedingungen ihrer Ent-
stehung bewirken zugleich psychologische Eigentümlichkeiten, durch
die sich der Prozeß der Wortentlehnung von den gewöhnlichen ,, Ana-
logiebildungen*' wesentlich unterscheidet.
Geht man nämlich von den vier oben unterschiedenen Formen
assoziativer Fernewirkungen aus, so umfassen diese nur jene näher
zusammengehörigen Vorgänge, bei denen diejenigen Lautbestand-
teile eines Wortes, die als die Träger seiner Grrundbedeutung betrachtet
werden können, während des Lautwechsels unverändert geblieben
sind, bei denen also nur seine Beziehungselemente, nicht aber die Grund-
elemente einer von andern Wörtern ausgehenden assimilierenden
Wirkung unterlagen. (Vgl. das Schema auf S. 465 f.) Nun ist es
unvermeidlich, daß die Assoziations Wirkungen, denen alle Bestand-
teile der Sprache ausgesetzt sind, da und dort über diese Grenze hinaus-
streben. In Anbetracht der festen Verbindung von Begriff und Wort
sind aber die Grundelemente des letzteren unter normalen Bedingungen
weit stabiler als die Beziehungselemente, die leicht, ohne daß damit
der begriffliche Wert des Wortes selbst oder auch nur seiner Ab-
470 Der Lautwandel.
Wandlungsformen alteriert wird, die mannigfachsten Veränderungen
erfahren können. Diese Verhältnisse werden jedoch wesentlich ab-
weichende, sobald ein der Sprache bisher fremdes Wort in sie eingeführt
wird. Ihm gegenüber existiert jenes der Verbindung von Laut und
Bedeutung anhaftende sichere Gefühl des Unterschieds zwischen
Grund- und Beziehungselementen nicht mehr. Jetzt ist daher das
ganze Wort in allen seinen Bestandteilen gleichmäßig den verändern-
den Wirkungen der von außen einwirkenden Assoziationskräfte aus-
gesetzt. Den beiden Hauptklassen der grammatischen und der be-
grifflichen Angleichungen schließen sich demnach alle Umwand-
lungen, die infolge dieser weiter um sich greifenden Wechselwirkungen
entstehen können, als eine dritte Klasse an, bei der weder Beziehungs-
auf Beziehungselemente, wie bei der ersten, noch Grundelemente auf
Beziehungselemente, wie bei der zweiten Klasse, sondern Grund-
elemente auf Grundelemente assimilierend einwirken.
Auch diese Klasse zerfällt dann aber wieder in zwei Gruppen
von Erscheinungen. Bei der ersten wirkt ein Wort oder eine
Anzahl von Wörtern auf den gesamten Lautkörper eines gegebenen
Wortes ein, um ihn eventuell bis zur Unkenntlichkeit zu ver-
ändern, ohne daß dabei der Begriffswert desselben wesentlich alte-
riert wird: dies ist der Fall der Wortentlehnung mit reiner
Lautassoziation oder der gewöhnlich so genannten ,, Wortassi-
milation". Bei der zweiten Gruppe wirkt ein einzelnes Wort,
seltener eine bestimmte Gruppe von Wörtern vermöge der Laut-
assoziationen, in denen sie zu einem gegebenen Worte stehen,
auf dieses ein, indem sie es sich wiederum in erster Linie lautlich,
dann aber auch in gewissem Grade begrifflich assimilieren, so daß
der ursprüngliche Begriff des Wortes dadurch zwar nicht ver-
drängt wird, aber eine eigentümliche Färbung gewinnt, die ihm
vor dieser Einwirkung nicht zukam: dies ist der Fall der Wort-
entlehnung mit Begriffsassoziationen oder der sogenannten
„Volksetymologie". Wir können demnach unter Benutzung der
gleichen Symbole beide Gruppen als einen Typus V und VI den obigen
vier hinzufügen.
Wortentlehnungen mit reiner Lautassoziation. 471
Typus V. (Wortentlehnung mit reiner Lautassoziation.)
a ß a l m n (z. B. fenestrum) (Lager ahd. legar Maser ahd. masar)^)
a ß a c m t (Fenster ahd. venstar) c e s p c d s t usw.
Typus VL ( Worten tlehming mit Begriffsassoziationen.)
(Arm) (Brust)
aß a l ni n (z.-B. arcuballista) y a m — d c t
a ß y d a c m t (Armbrust)
<-'K
2. Wortentlehnungen mit reiner Lautassoziation.
Die ,, Wortassimilation" ist die einfachere dieser Erscheinungen.
Sie ist diejenige, bei der die bloßen Lautassoziationen und sie be-
gleitend die physischen Bedingungen der Lauterzeugung vorwalten.
Zugleich verhält sie sich aber, wie die früher (S. 404 ff.) erwähnten
Beobachtungen bei Sprachmischungen begreiflich machen, wesent-
lich abweichend nach der Stufe der Kultur, auf der sie stattfindet.
In seiner ursprünglichen, Grund- wie Beziehungselemente des Wortes
gleichmäßig ergreifenden Gestalt vollzieht sich der Vorgang nur,
wenn die Aufnahme durch die mündliche Rede geschieht, und beson-
ders wenn sie der Ausbildung einer Schriftsprache vorausgeht, also
in einer frühen Kulturepoche des assimilierenden Volksgeistes. Je
mehr sich dagegen die eigene Sprache gefestigt und die Aufmerksam-
keit auf die Eigentümlichkeit des Fremdworts geschärft hat, um so
^) Natürlich sollen diese Beispiele wieder, ähnlich wie die oben (Typus
I — IV) bei den äußeren Wirkungen der Assoziation angeführten, nicht sagen,
daß speziell von den Lautelementen der hier angeführten Wörter eine nachweis-
bare Attraktion ausgegangen sei, sondern sie sollen nur andeuten, daß zur Zeit
der Assimilation überhaupt lautverwandte Wörter existierten, die attrahierend
wirken konnten.
472 Der Lautwandel.
mehr zieht sich der Assimilationsprozeß auf die Beziehungselemente
zurück und läßt den eigentlichen Wortkörper selbst unangetastet.
Deutlich erhellt dieser Unterschied in solchen Fällen, wo eine Sprache
auf verschiedenen Stufen ihrer Entwicklung aus einer und derselben
fremden Sprache das gleiche Wort assimiliert hat, wie bei manchen
dem Lateinischen und Romanischen entnommenen deutschen Lehn-
wörtern. So ist schon in sehr früher Zeit Vogt (ahd. ßgat) aus lat.
vocatus, dann viel später im mhd. und nhd. Advokat aus dem gleich-
bedeutenden advocatus gebildet worden; ferner Speise (ahd. spisa),
das aus dem neulat. spesa = spensa eigentlich ,, Auf wand'' entlehnt
wurde, während aus dem gleichen Wort in viel späterer Zeit (17. Jahrh.)
das der ursprünglichen Bedeutung näher liegende Spese (,, Geschäfts-
spesen) in den kaufmännischen Verkehr Aufnahme fand. Ähnlich
sind zu verschiedenen Zeiten Segen und Signal aus Signum, Kreuz
und Kruzifix aus crux, crucifixum entstanden usw. ^).
Wenn man diese Unterschiede der Aneignung fremden Sprach-
guts in früherer und in späterer Zeit in der Regel darauf zurückführt,
daß sich die Sprache dort noch in einem ,, bildsameren" Zustande
befunden habe als hier, so ist das natürlich eine nichtssagende Rede-
weise. Der eigentliche Grund kann allein darin liegen, daß die phy-
sischen und psychischen Bedingungen, die überhaupt bei der Wort-
assimilation eine Rolle spielen, auf einer Stufe primitiverer Kultur
intensiver wirken, während sie doch ihrem allgemeinen Charakter
nach, wie sich aus der Übereinstimmung der Erscheinungen schließen
läßt, hier wie dort die nämlichen sind. Die physiologischen Be-
dingungen für die Umwandlung eines gehörten Lautes bei seiner Re-
produktion durch die eigenen Sprachorgane sind aber doppelter Art:
sie sind sensorische, insofern der akustische Eindruck innerhalb
einer gewissen Breite schwankt; und sie sind motorische, insofern
jedes Sprachorgan dem Lautsystem der eigenen Sprache adaptiert ist
und daher vermöge der von ihm erworbenen mechanischen Übung
fremde Laute bei der Reproduktion im Sinne der gewohnten um-
wandelt. Infolge jener doppelseitigen Natur der Sprachfunktionen,
^) Vgl. F. Kluges Verzeichnis lateinischer Lehnwörter in den altgermanischen
Sprachen, in Pauls Grundriß der german. Philologie,^ I, S. 333 ff.
Wortentlehnungen mit reiner Lautassoziation. 473
nach der jedes Denken von Worten zum leisen Sprechen zu werden
strebt, und nach der sich jedes Hören von Worten mit dem Impuls
zur Nachbildung der Sprachlaute verbindet, greifen nun diese akusti-
schen und motorischen Umbildungen fortwährend ineinander ein:
der Laut wird anders gehört, weil er anders gesprochen wird; und er
wird anders gesprochen, weil er anders gehört wird. Schon innerhalb
der verschiedenen Dialekte einer und derselben Sprache ist diese
AVechselwirkung deutlich zu bemerken: Lautunterschiede, die den
Genossen des einen Dialekts im Sprechen wie Hören geläufig sind,
werden von denen des andern, solange sich jene Unterschiede inner-
halb enger Grenzen bewegen, auch akustisch nicht unterschieden.
Hier macht sich eben, wie schon bei den individuellen Wortassimila-
tionen der kindlichen Sprache (S. 314 ff.), die Tatsache geltend, daß
jeder Sprachlaut eine Komplikation ist, in welche die eigene Artiku-
lationsempfindung mit eingeht, so daß, wenn diese unverändert bleibt,
auch die Änderungen der begleitenden Gehörsempfindung schwerer
bemerkt werden. Zu diesen psychologischen Momenten kommt dann
noch als eine weitere wichtige psychophysische Bedingung, daß in
der Sprachgemeinschaft, die ein Fremdwort aufnimmt, Vorstellungs-
residuen besonderer Art zu assimilativer Wechselwirkung mit neuen
Eindrücken bereit liegen. In eine in völlig fremder Sprache gehörte
Kede ist der Hörende fortwährend geneigt, die ihm vertrauten Laute
und Worte hineinzuhören, ähnlich wie wir auch in beliebige unartiku-
lierte Geräusche oder Naturlaute, in das Klappern der Mühlräder, das
Ticken des Uhrpendels, die Stimmlaute der Tiere, bekannte Sprach-
laute hineinhören können. Auf diese Weise ist jede durch einen aku-
stischen Eindruck geweckte Lautvorstellung ein Assimilationsprodukt,
in welchem die reproduktiven Elemente, die dem Schatz geläufiger
Wortvorstellungen entstammen, um so leichter den überwiegenden
Bestandteil bilden, je fremdartiger die gehörten Laute selbst sind.
Alle diese psychophysischen Momente zusammengenommen verleihen
der Wortassimilation ihren eigenartigen Charakter und unterscheiden
sie von den auf die formalen Wortbestandteile beschränkt bleibenden
Angleichungs Vorgängen .
474 Der Lautwandel.
3. Wortentlehnungen mit Begriffsassoziationen.
Die sogenannten ,, Volksetymologien" sind Erscheinungen, die
sich in allen ihren Eigenschaften den ursprünglichen Wortassimi-
lationen anschließen. Doch unterscheiden sie sich dadurch, daß die
bei der gewöhnlichen Wortassimilation ganz im Hintergrund bleiben-
den begrifflichen Elemente der früheren Wortvorstellungen in dop-
pelter Weise entscheidend an dem Vorgang teilnehmen. Erstens sind
sie es, die die Auffassung des Wortes und dessen Keproduktion be-
stimmen. Zweitens verleihen sie dem durch das assimilierte Wort
ausgedrückten Begriff selbst eine eigentümliche Färbung, die ihn
den assimilierenden Begriffselementen nähert. Diese Verhältnisse
finden in dem auf S. 471 dargestellten Schema (Typus VI) darin ihren
Ausdruck, daß das neu gebildete Wort nach seinem begrifflichen Auf-
bau aus direkten, ursprünglichen Elementen (a, ß), die in der Regel
das Übergewicht behalten, und aus reproduktiven, die durch die Laut-
assoziation geweckt werden (/, d), gemischt ist. Hiermit verbindet
sich dann von selbst die diese Klasse von Angleichungen unterscheidende
Eigenschaft, daß sich bei ihren ausgeprägten Formen überhaupt nicht
mehr Haupt- und Nebenwirkungen unterscheiden lassen, sondern
daß an jedem Vorgang zwei Hauptwirkungen beteiligt sind (bei
Typus VI durch die zwei Pfeile angedeutet), die eben durch ihre Ver-
bindung das Eigenartige der Erscheinung ausmachen. Genauer läßt
sich demnach die ,, Volksetymologie" als eine ,, Wortassimilation mit
begrifflicher Umbildung des Wortes durch die assimilierenden Ele-
mente" oder, wenn man diese Definition in einen kurzen Ausdruck
zusammenfassen will, als eine ,, lautlich-begriffliche Wortassimilation"
bezeichnen, im Unterschiede von der ,,rein lautlichen" des Typus V.
Wie bei dieser, so stellt sich aber auch bei jener, und zwar wegen des
Übergreifens der Assoziation auf die begrifflichen Elemente in noch
höherem Grade, der Enderfolg des Prozesses als ein Produkt der
Wechselwirkung direkter und reproduktiver Elemente dar, an
dem bald die einen bald die andern überwiegend, bald auch
beide ziemlich gleichmäßig beteiligt sein können. Übrigens ist die
„Volksetymologie" insofern eine spezielle Form der Wortassimilation,
Wortentlehnmigen mit Begriffsassoziationen. 475
als sie gleichfalls das Wort als Ganzes ergreift. Nur hierdurch ist es
möglich, daß sie den Begriffsinhalt des Wortes in mehr oder minder
weitgehendem Maße verändert, da der Begriffsinhalt im allgemeinen
an das Wortganze gebunden ist. Daß diese Vorgänge durch den Aus-
druck ,, Volksetymologie" psychologisch in ein falsches Licht gerückt
werden, ist hiernach einleuchtend. Mit der reflektierenden Wort-
erklärung des Etymologen sind sie in Wahrheit absolut unvergleich-
bar. Sie unterscheiden sich von ihr ebenso nach ihren äußeren wie
nach ihren inneren Merkmalen. Die wirkliche Etymologie sucht das
Wort auf ein verloren gegangenes oder wenigstens aus dem Bewußt-
sein verschwundenes Stammwort von irgendwie verwandter Bedeu-
tung zurückzuführen; die ,, Volksetymologie" substituiert umgekehrt
ein Wort mit bekannter Bedeutung einem andern, wodurch dieses
zugleich mehr oder weniger in seiner Bedeutung verändert wird. Vor
allem aber ist die sogenannte Volksetymologie, wie die Wortassimi-
lation überhaupt, ein rein assoziativer, dem psychophysischen Mecha-
nismus der Sprachfunktionen zugehöriger Vorgang, von der rein laut-
lichen Wortassimilation eben nur dadurch verschieden, daß mit den
Lauten zugleich begriffliche Elemente assoziativ gehoben werden
und infolgedessen ihrerseits wieder auf die Lautassoziation zurück-
wirken können.
Mit Rücksicht auf ihr Verhältnis zu den lautlichen Wortassi-
milationen lassen sich nun die lautlich-begrifflichen oder die ,, Volks-
etymologien" wieder in zwei Gruppen sondern, deren eine jenen noch
näher steht, während bei der zweiten das begriffliche Moment der
Assoziation überwiegt. Die erste können wir als ,, Wortassimilationen
mit begrifflichen Nebenwirkungen", die zweite als ,, Wortassimila-
tionen mit Begriffsumwandlungen" bezeichnen^).
^) Eine reiche Sammlung hierher gehöriger Erscheinungen aus dem Gebiet
der deutschen Sprachgeschichte bietet neben zwei Aufsätzen von W. Förstemann,
der zuerst den Namen „Volksetymologie" eingeführt hat (in Kuhns Zeitschrift
für vergl. Sprachforschung, I, 1852, S. 1 ff., XXIII, 1877, S. 375 ff.), das Buch
von K. G. Andresen, Über deutsche Volksetymologie,^ 1889. Vieles, aber nicht
immer Zuverlässiges aus dem Gebiet der Sprichwörter und sprichwortähnlichen
Redensarten enthält unter anderm auch H. Schrader, Der Bilderschmuck der
deutschen Sprache (o. J.). Eine Übersicht der Hauptliteratur über den Gegen-
476 Der Lautwandel.
a. Wortassimilationen mit begrifflichen Neben-
wirkungen.
Bei dieser Gruppe unterscheidet sich die lautliche Seite des Vor-
gangs nicht von einer gewöhnlichen rein lautlichen Wortassimilation.
Nur entsteht als Nebenwirkung infolge der partiellen oder totalen
Übereinstimmung des assimilierten Produkts mit einem bekannten
Wort eine nebenhergehende Assoziation mit dem an dieses Wort ge-
bundenen Begriff. Doch wirkt diese Assoziation nicht in erheblicher
Weise auf das Lautgebilde selbst ein. Die begriffliche Färbung, die
das assimilierte Wort annimmt, erscheint daher als ein zufälliges
psychologisches Nebenprodukt der Wortassimilation: diese würde
eine rein lautliche geblieben sein, hätte sich nicht der Gleichklang
mit einem geläufigen Wort eingestellt. Dabei kann natürlich dieser
assoziierte Begriffsinhalt von dem wirklichen des Wortes sehr weit
abliegen, und es pflegt darum bei dieser ersten Gruppe die Neben-
vorstellung selbst nur in der Form einer unbestimmten Komplikation
mit dem Hauptbegriff vorzukommen, die je nach besonderen Be-
dingungen auch ganz verschwinden kann, wodurch der Vorgang in
eine rein lautliche Wortassimilation übergeht.
Beispiele, die dieser Gruppe vorwiegend lautlicher Assimila-
tionen angehören, finden sich weit verbreitet in der Sprache. So in
Wörtern wie Damhirsch aus lat. dama „Hirsch", Leinwand aus mhd.
linivdt durch Assoziation mit dem etymologisch unverwandten Ge-
wand, Kammertuch urspr. Tuch von Camhray, deutsch Kamerich,
Maulesel von lat. mulus usw. In allen diesen Fällen fehlt zwar nur
dann die durch die Lautangleichung des Wortes erweckte Neben-
vorstellung, wenn ein bestimmtes Wort durch häufigen Gebrauch
so geläufig geworden ist, daß es sich in ein einfaches Begriffszeichen
ohne alle Nebenvorstellungen umgewandelt hat. Aber auch wo dies
nicht zutrifft, ist die Nebenvorstellung nur lose mit der Hauptvor-
stellung verknüpft. Bei dem ,,Mauleser' denkt man etwa an das Maul
stand und zugleich eine kurze Darstellung der Entwicklung der theoretischen
Anschauungen über denselben gibt J. Kjederqvist, in Sievers' Beiträgen zur
Geschichte der deutschen Sprache, Bd. 27, 1902, S. 409 ff .
Wortentlehnungen mit Begiiffsassoziationen. 477
des Esels, bei dem ,,Kammertucli" an die Kammer, in der es auf-
bewahrt oder in der es gemacht wird, oder man empfindet vielleicht
auch das Wort, analog wie in ,, Kammerherr'' u. dgl., als eine Art
Wertprädikat. Für die psychologische Entstehung solcher Asso-
ziationen bleibt es jedoch bezeichnend, daß eine, wenn auch noch so
unbestimmte Verbindung der Vorstellungen immerhin möglich sein
muß, wenn diese den Inhalt des Begriffs ergreifende Angleichung
überhaupt eintreten soll. Wo das nicht der Fall ist, da kann sich eine
vollkommene lautliche Übereinstimmung zweier Wörter herstellen,
mag sie nun auf dem Wege sonstiger lautgesetzlicher Änderungen
oder auf dem einer rein lautlichen Wortassimilation entstehen, ohne
daß an irgendeinen begrifflichen Zusammenhang gedacht wird. So
empfinden wir zwischen bedauern, eigen tl. belauern (wie noch Lessing
schreibt) von mhd. türen, und dauern == ,, beharren" von lat. durare,
oder zwischen befehlen y empfehlen von mhd. hevelen, empfelen und
fehlen = mhd. vaelen lat. f allere nicht den geringsten Zusammen-
hang, gerade so wenig wie zwischen Ton = Lehm und Ton = tonus
(musikalischer Ton), zwischen Tau = Strick (Schiffstau) und Tau
= engl, dew (feuchter Niederschlag), Lehre und Leere und vielen an-
dern lautlich entweder ganz oder nahe zusammenfallenden, aber be-
grifflich auseinanderliegenden Wörtern. Es muß also stets eine ge-
wisse Assoziationsmöglichkeit hinzukommen, wenn sich mit der laut-
lichen auch noch eine begriffliche Assoziation verbinden soll, während
es zugleich als ein begünstigendes Moment wirkt, wenn das die Asso-
ziation anregende Wort von seltenerem, das der assoziierten Neben-
vorstellung entsprechende von häufigerem Gebrauch ist. So werden
ja Wörter wie Damm, Kammer, Maul usw. viel mehr verwendet,
als Damhirsch, Kammertuch, Maulesel. Dieser Einfluß der relativen
Häufigkeit entspricht aber durchaus den allgemeinen Assoziations-
bedingungen. Je eingeübter ein Wort ist, um so mehr ist es geneigt,
bei jedem Anlaß mit seinen lautlichen wie begrifflichen Elementen
deutlich bewußt zu werden. Ein seltenes Wort dagegen wirkt zu-
nächst nur als Lautgebilde, und es bedarf einer gewissen Zeit, bis der
begleitende begriffliche Bestandteil apperzipiert wird. Mittlerweile
ist, wenn das an sich seltene Wort einen beweglicheren Bestandteil
hat, dieser als selbständiger Begriff bereits aktuell geworden, und der
478 D^i' Lautwandel.
Gesamtbegriff, der sich nun allmählich ebenfalls aufarbeitet, findet
jenen bereits vor, mit dem er sich daher alsbald assoziiert. Dies kann
aber natürlich nicht geschehen, wenn die begrifflichen Elemente beider
Wörter gleich geläufig, und wenn sie überdies zureichend voneinander
verschieden sind. Dann wird vielmehr der in dem gehörten Worte
liegende Begriff sofort herrschend und läßt den durch den Gleich-
klang etwa assoziierbaren gar nicht neben sich aufkommen. Letz-
teres geschieht in der Tat in Wörtern wie befehlen, empfehlen, bedauern,
die uns ungefähr ebenso geläufig wie fehlen oder dauern geworden
sind, und wo trotz der Lautangleichung an diese keine Spur einer be-
grifflichen Assoziation zu bemerken ist.
Hiermit hängt eng zusammen, daß die Bedingungen für laut-
lich-begriffliche Wortassimilationen am günstigsten dann sind, wenn
das gehörte Wort an sich der begrifflichen Beziehungen für den Hören-
den entbehrt, wenn es also z. B. einer fremden Sprache oder einer zur
Fremdsprache gewordenen älteren Sprachstufe angehört. Hier kommen
dann auch am ehesten Assoziationen mit völlig heterogenen, ledig-
lich durch den Wortklang erweckten Vorstellungen vor, die nun auf
den Lautcharakter des Wortes stark angleichend zurückwirken können.
Dahin gehört z. B. die populäre Umgestaltung des unguentum Neapo-
litanum in umgewendeten Napoleon, des Emplastrum diachylon in
Diakonuspflaster, der Species lignorum in spitze Lenore, des Unguen-
tum in Umwand, der Morsellen (von Morsum Bissen) in Mamsellen
usw. ^). Ebenso gewisse aus fremden Sprachen aufgenommene sprich-
wörtliche Redensarten wie ,,sein Glück in die Schanze schlagen",
wo die Chance des Spiels in eine Schanze (Festungsschanze) verwandelt
worden ist, oder dialektische Übertragungen von Redensarten, wie
blutjung für bluttjung, blutt dial. == bloß, also ungefähr so viel wie ,,jung
wie ein Vogel, der noch nicht flügge ist", pudelnaß wahrscheinlich
für pfudelnaß, pfudel = Pfütze, also eigentlich ,,naß wie eine Pfütze".
In allen diesen Fällen besitzen natürlich die Neben vor Stellungen, die
hier das Wort selbst umgeprägt haben, eine verschiedene Stärke.
^) Eine ziemlich reiche Zusammenstellung derartiger volkstümlicher Namen
für Arzneimittel gibt C. Müller (Dresden) in der Zeitschrift des deutschen Sprach-
vereins, 11. Jahrg. Nr. 4, 1896.
Wortentlehnungen mit Begriffsassoziationen. 479
Sie sind am schwäclisten bei dem ,, umgewendeten Napoleon" und ähn-
lichen anscheinend durch reine Lautassoziation entstehenden Ge-
bilden, bei denen nur an Stelle einer ursprünglich schon willkürlichen
Benennung eine ebensolche andere getreten ist^). Tiefer greift dieser
Einfluß in den andern Fällen, wo eine dem Gegenstand inadäquate,
aber doch irgendwie mit ihm vereinbarte Vorstellung erweckt wird.
Hier bleibt der Gedanke in einem dem ursprünglich angenäherten
Sinn überhaupt nur dadurch erhalten, daß die so verdrängte Vor-
stellung selbst eine bloße Nebenvorstellung war, und daß daher bei
dem ganzen Prozeß die Hauptvorstellung nach Laut wie Begriff un-
verändert blieb. Statt „naß wie eine Pfütze" denkt der Redende
nun ,,naß wie ein in Wasser gebadeter Pudel"; statt an den „blutten",
noch nicht flügge gewordenen Vogel denkt er etwa an die roten Wangen
eines gesunden Kindes; statt an die ,, Chance" des Spieles an die glück-
liche Belagerung einer ,, Schanze", falls er sich überhaupt, nachdem
die Redensarten hinreichend eingeübt sind, noch an die Bedeutung
des Wortes erinnert. Denn allerdings wird hier die inadäquate Be-
schaffenheit der Vorstellungen schon darin bemerkbar, daß sich die
syntaktische Verbindung durchaus nicht der neuen Nebenvorstellung
angepaßt hat. Dies ist aber zugleich ein Symptom dafür, daß
diese neue Nebenvorstellung überhaupt nur dunkler im Bewußt-
sein ist.
b. Wortassimilationen mit Begriffsumwandlungen.
Durch die eingreifenden Rückwirkungen, die in Fällen wie den
zuletzt erwähnten die durch die Lautassimilation erweckten, eigent-
^) Daß übrigens auch in diesen Fällen gelegentlich eine Begriff sassoziation
mitspielen kann, bemerkt Kjederqvist. Ein Landapotheker meinte, wie er mit-
teilt, die Bauern dächten bei dem „umgewendeten Napoleon" an die Hemden
und Kleidungsstücke, die sie zuerst umwenden müßten, ehe sie dieselben mit der
Salbe bestrichen (a. a. O. S. 443). Daß die Apotheken die reichsten Fundstätten
solcher Umbildungen sind, hat natürlich seinen guten Grund in der Fülle un-
bekannter Namen, die hier dem Kunden aus dem Volke entgegentreten. Doch
mag auch noch eine leise Erinnerung an den zum Teil sehr seltsamen Drogen-
schatz der vormaligen Apotheken mitwirken, zu denen z. B. Eselspfoten, Krebs -
äugen, die Asche alter Schuhe (cineres calceorum vetustorum) und ^äeles ähnliche
gehörten.
480 D<?i' Lautwandel.
lieh dem Gegenstand heterogenen Vorstellungen auf den begrifflichen
Inhalt eines Wortes ausüben, nähern sich diese Beispiele schon bedeu-
tend der zweiten Gruppe dieser Erscheinungen, den Wortassimila-
tionen mit Begriffsumwandlungen. Was jene Fälle immer noch
von dieser Gruppe scheidet, ist die inadäquate Beschaffenheit der
erweckten Neben Vorstellungen, die es dort zu einer festen Assoziation
mit dem ursprünglichen Begriff nicht kommen läßt. Doch finden
sich in dieser Beziehung offenbar wieder die verschiedensten Ab-
stufungen und Übergänge: ein Wort wie ,, pudelnaß*' z. B. steht einer
neu gebildeten Vorstellung mit fester Assoziation ihrer Bestandteile
schon viel näher als ,, blutjung" oder gar als die ,, Schanze", in die
das Glück geschlagen wird. Dies ist nun aber das Wesentliche bei
den wirklichen Begriffsumwandlungen, daß der lautliche und der
begriffliche Bestandteil des Wortes zugleich und zum Teil jeder durch
den andern geändert wird, so daß sich am Ende des Prozesses das
durch die doppelte Assimilation veränderte Wort ebenso als ein ein-
heitliches Laut- und Begriffsgebilde darstellt wie vorher. So ist der
Friedhof in unserer heutigen Sprache ein unmittelbar die Vorstellung
des Friedens in sich schließender Begriff geworden, verschieden von
dem Freithof mhd. vrithof, dem ,, eingefriedigten Hof", der er einst
war. Ebenso wird die Sündflut heute als ein echtes Kompositum zum
Begriff Sünde verstanden, obgleich sie erst durch eine teils lautliche
teils begriffliche Angleichung aus der sin-vluot, der ,, allgemeinen Flut"
(von ahd. mhd. sin ,, überall, immer") entstanden ist. Ahnliche Bei-
spiele sind Liebstöckel als Verdeutschung von Levisticwn, Pfeffermünze
als Umwandlung von Pfefferminze, Beifuß für das ältere hihöz, von
hozen stoßen, also wörtlich ,,das dazu gestoßene" (Kraut), Fälle, in
denen überall Assoziationen mit dem Stengel oder den Blättern oder
der Wurzel der Pflanze mitgewirkt haben werden. Weitere Assimi-
lationen dieser Art sind Trampeltier für Dromedar (von ögofiag Läufer),
Maulwurf für moltwurfe, von mhd. molte ,, Staub", also ,, Staub werf er",
Murmeltier für mus montanus (Bergmaus), Umwandlungen, bei deren
erster die Vorstellung, daß der Maulwurf die Erde mit dem Mund
aufwerfe, wirksam war, während die zweite auf die murmelnde Stimme
des Tieres bezogen wird, von der hier dahingestellt bleiben mag, ob
sie nicht ebenfalls bloß in der Vorstellung existiert. Ähnliche Bei-
Beziehungen d. Wortentlehnungen zu d. andern assoziativen Feme Wirkungen. 481
spiele, deren Entstehungsweise hiernach keiner Interpretation be-
darf, sind Höhenrauch für älteres Heirauch von hei ,,heiß, trocken" ,
Armbrust aus arcuhallista von arcus „Bogen" und hallista ,, Wurf-
maschine", Hängematte, das zunächst von dem holländischen hangmat
herstammt, zu dem seinerseits wieder du Ponceau und Pott das Ur-
wort in dem in verschiedenen amerikanischen Sprachen vorkommen-
den Wort für ,,Bett" (haynac, amaca) vermuten^). Ganz in dieselbe
Klasse gehören manche neuere Umbildungen, wie im Schwedischen
die von Stipendium in stöpeng nach stö' = stöd (südschwedisch) ,, Unter-
stützung" und peng ,, Pfennig", oder niederd. die von Odontine (einem
aus England eingeführten Zahnmittel) in in de tene ,,in die Zähne" 2),
und andere dem Beobachtungsgebiet der Landapotheke entnommene
Verdeutschungen, wie Tinctura amara in Martertropfen, Tinctura
asae foetidae in Aastropfen und ähnliche. Auch sprichwörtliche Redens-
arten gehören hierher, z. B. das wütende Heer für Wotans {Wuotans)
Heer, ,, einem den Rang ablaufen'^'' für rank ablaufen, rank = ,, Neben-
weg'', in analoger Bedeutung wie im nhd. Ranke usw. In allen diesen
Fällen läßt sich annehmen, daß lautliche und begriffliche Assimi-
lationen einander vollkommen parallel gegangen sind, so daß, wenn
auch die Lautumwandlung zunächst der frühere Prozeß gewesen sein
wird, doch die durch sie hervorgerufene Begriffsumwandlung alsbald
wieder auf die Lautgestalt des Wortes zurückwirken mußte.
4. Beziehungen der Wortentlehnungen zu den andern
assoziativen Ferne Wirkungen.
Während die vorangegangenen, ausschließlich die Beziehungs-
elemente der Wörter ergreifenden Wortentlehnungen allgemeine,
von früh an in allen Sprachen vorkommende Erscheinungen sind,
gehören die lautlich-begrifflichen Assoziationen mehr den späteren
Stadien der Sprachgeschichte an. Auch scheinen sie ebenso häufig
1) Pott, Doppelung, 1862, S. 81 ff., wo noch einige weitere Beispiele er-
läutert sind.
2) Kjederqvist, a. a. 0. S. 432 ff.
Wundt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. ^'-
482 I^r Lautwandel.
Produkte der Dialektmischung wie der eigentlichen Sprachmischung
zu sein. Auf diese mit eigentümlichen Bedingungen der Kulturent-
wicklung zusammenhängenden Momente ist es wohl zurückzuführen,
daß unter den neueren Sprachen die deutsche reicher als andere an
„Volksetymologien*' zu sein scheint. Bei dem ursprünglichen Mangel
an Benennungen für die Gegenstände, mit denen der Fortschritt der
Kultur bekannt machte, war die deutsche Sprache darauf angewiesen,
teils aus dem Lateinischen und aus den romanischen Sprachen Fremd-
wörter aufzunehmen, teils sich aus eigenem Vorrat durch Dialekt-
übertragungen zu ergänzen. Immerhin finden sich auch auf andern
Sprachgebieten zahlreiche hierher gehörige Erscheinungen^). Unter
den älteren Sprachen ist besonders das Griechische ziemlich reich
an lautlich-begrifflichen Assimilationen, wie schon die bekannten
Umdeutungen alter mythologischer Namen lehren, so die des Hirten-
gottes ndv in einen ,, Allgott" (vrav ,, alles"), des Kgovog in ein mytho-
logisches Symbol der ,,Zeit" (XQOt'og), des ^AitoXkuiv Xvaelogy des
„leuchtenden" (luceo leuchte), in einen „Wolfstöter" kvycoxTovog, des
ägyptischen Horpe chrat (,,Horus das Kind") in einen ^AgTioAgdtr^g
,, Herrn der Sichel" (von ccqjtt] Sichel), wobei im letzteren Fall auch
noch die Auffassung der dem Gott auf den Bildwerken beigegebenen
Geißel als einer Sichel mitwirkte. Diese und ähnliche Beispiele sprechen
genugsam für die Neigung auch des griechischen Volksgeistes, das
Unverständliche oder unverständlich Gewordene durch Angleichung
an geläufige Begriffe und Wörter zu assimilieren.
Nach allem dem dürfen wir wohl die lautlich-begrifflichen An-
gleichungen als ebenso allgemeingültige Erscheinungen wie die übrigen
Angleichungsvorgänge ansehen. Sie bilden aber zugleich insofern
^) Vgl. für das Lateinische und Griechische Otto Keller, Lateinische Volks-
etymologie und Verwandtes, 1891 (Anhang: Griechische Volksetymol. ) ; für das
Lidogermanische überhaupt, besonders das Griechische Brugmann, Grundriß
der vergl. Grammatik, an den im Index unter „Volksetymologie'* angeführten
Stellen; für die romanischen Sprachen Diez, Etymologisches Wörterbuch,^ 1887,
und Meyer-Lübke, Gramm, der roman. Sprachen, I, 1890, im Sachregister unter
„Volksetymologie". Auch Andresen hat in der Einleitung zu seiner „Deutschen
Volksetymologie* einiges aus andern Sprachgebieten zusammengetragen, a. a. 0.
S. 26 ff.
Beziehungen d. Wortentlehnungen ^u d* andern assoziativen Femewirkungen. 483
die letzte Stufe aller assoziativen Fernewirkungen, als bei ihnen die
Vorgänge selbst ebenso wie die Bedingungen, unter denen sie ent-
stehen, am verwickeltsten sind. In dieser Beziehung bilden alle diese
Prozesse, von den einfachen assoziativen Wechselwirkungen zwischen
den lautlichen Beziehungselementen der Abwandlungen eines und
desselben Wortes an bis zu den eventuell alle Laut- und Begriffs-
elemente umfassenden Umgestaltungen der Wörter oder, wie sie die
populäre Reflexionspsychologie nennt, den ,, Volksetymologien", eine
Stufenreihe von Vorgängen, in der jede Form assimilativer Beziehung,
die aus allgemeinen psychologischen Gründen überhaupt möglich
ist, auch wirklich vorkommt. Dabei ist aber diese Stufenreihe doch
insofern in gewissem Sinn eine stetige, als jene Assoziation, die einer
Form ihr eigentümliches Gepräge verleiht, immer nur diejenige Er-
scheinung ist, die am stärksten an den Endprodukten des Prozesses
hervortritt, während insbesondere bei den einfacheren dieser Vor-
gänge stets Nebenwirkungen vorkommen, die den Übergang zu der
nächsten Stufe vorbereiten. So verbindet sich jede innere mit äußeren,
freilich aber auch jede äußere mit inneren grammatischen Angleichungen,
Begriffliche und grammatische Angleichungen greifen mannigfach
ineinander ein, und in den begrifflichen Angleichungen der Beziehungs-
elemente bereiten sich, da dabei die Grundelemente des Wortes bereits
als assimilierende Kräfte auftreten, die lautlichen und lautlich-begriff-
lichen Wortassimilationen vor. Das seelische Leben ist eben auch
hier ein Zusammenhang ineinander eingreifender und vielfach in-
einander fließender Vorgänge, die leicht über die Grenzen hinaus-
reichen, die wir ihnen durch die Unterordnung unter gewisse Be-
griffe ziehen.
31*
484 Der Lautwandel.
VI. Regulärer Lautwandel.
1. Allgemeine Bedingungen des regulären Lautwandels.
Die Frage, warum ein Volk den Lautbestand eines Wortes im
Laufe der Jahrhunderte scWießlicli bis zur Unkenntlichkeit ver-
ändern kann, läßt sich in allgemeingültiger Weise unmöglich beant-
worten. Wir müßten, um dies zu leisten, über Art und Umfang aller
der Wandlungen Rechenschaft geben, die durch innere Kultur und
äußere Einflüsse in dem ganzen geistigen und körperlichen Wesen
der redenden Gemeinschaft eingetreten sind. Wir können nur fest-
stellen, daß sich solche Wandlungen unaufhaltsam vollziehen, und
daß sie schon in Zeiträumen eintreten, in denen man ihnen in der
Regel nur wenig Beachtung schenkt. Wie die deutsche Sprache noch
zu Leibniz' Zeit für den Ausdruck von Stimmungen wie Begriffen
im Vergleich mit der italienischen, französischen, englischen ein un*
gefüges Werkzeug war, so erscheint sie uns in ihrem Lautcharakter,
soweit wir auf diesen aus den Literaturdenkmalen jener Zeit zurück-
schließen können, roher, schwerfälliger. Leider ist der Phonoauto-
graph erst eine moderne Erfindung. In der Zukunft mag es möglich
sein, Aussprache, Betonung, Schnelligkeit imd Rhythmus der Rede,
wie sie innerhalb einer bestimmten Epoche gewesen sind, künftigen
Generationen aufzubewahren. Uns entgeht dieses Hilfsmittel, das
für die Aufnahme fremder Idiome, namentlich solcher der Natur-
völker, bereits vielversprechende Dienste leistet. Wir können uns
keine Vorstellung davon machen, wie Friedrich der Große wirklich
gesprochen hat, oder wie zu seiner Zeit im allgemeinen gesprochen
worden ist. Geschwindigkeit, Rhythmus und Tonbewegung lassen
sich durch keine schriftliche Aufzeichnung mit vollkommener Sicher-
heit festhalten, und selbst die Laute einer Sprache lassen sich in den
uns geläufigen Zeichen, auch wenn sie noch so sehr mit Hilfe von be-
sonderen Transkriptionszeichen vermehrt werden, nur in sehr ent-
fernter Annäherung wiedergeben. Vor allem gilt das natürlich für
Sprachen oder für Zustände noch heute lebender Sprachen, die der
geschichtlichen Vergangenheit angehören. Wo mehrere Generationen
nebeneinander leben, da vernehmen wir aber zuweilen noch letzte
Allgemeine Bedingungen des regulären Lautwandels. 485
Andeutungen solcher Wandlungen in der Sprechweise der Alten und
Jungen.
Welches sind nun die Ursachen dieser wahrscheinlich bald schneller
bald langsamer sich vollziehenden Veränderungen ? Ganz im all-
gemeinen pflegt man wohl drei solcher Ursachen anzunehmen: erstens
den Einfluß der äußeren Naturumgebung, zweitens die Ver-
mischung von Völkern und Rassen verschiedener Abstammung,
und drittens den Einfluß der Kultur, wenn wir unter diesem Be-
griff alles zusammenfassen, was innerhalb einer Sprachgemeinschaft
unabhängig von jenen beiden Bedingungen eine Veränderung in dem
physischen wie in dem geistigen Charakter der einzelnen herbei-
führen kann. Bei der Würdigung dieser Einflüsse wie der Faktoren,
in die sie sich zerlegen lassen, sind dann vor allem zwei Gesichts-
punkte zu beachten, die bei den analogen Entwicklungsproblemen
der Naturwissenschaft bereits ihre Fruchtbarkeit bewährt haben.
Der erste besteht darin, daß aus der allmählichen Anhäufung kleiner
Wirkungen große Veränderungen entstehen können. Der zweite läßt
sich in die schon bei den Beziehungen zwischen Laut und Bedeutung
erwähnte Regel fassen, daß komplexe Erscheinungen auch aus kom-
plexen Bedingungen hervorzugehen pflegen. Dabei wird der erste
dieser Sätze zugleich in dem Sinne durch den zweiten modifiziert,
daß neu hinzutretende Einflüsse auf Tendenzen, die bis dahin mehr
oder weniger latent geblieben waren, als auslösende Kräfte wirken
können, indem sie Verhältnismäßig rasch Veränderungen erzeugen,
die durch andere, stetig wirkende Kräfte bereits vorbereitet waren,
aber eines von außen kommenden Anstoßes bedürfen, um ins Leben
zu treten. Solche Auslösungen lange vorbereiteter Wirkungen sind
es, die, wie wir Vermuten dürfen, bei den organischen Arten jene plötz-
lich auftretenden Mutationen zustande bringen, aus denen mit über-
raschender Schnelligkeit neue Varietäten entspringen können^). Bei
der Sprache ist ein solches Zusammenwirken plötzlich eintretender
neuer Bedingungen mit langsam und stetig sich vollziehenden Ver-
änderungen der funktionellen Anlagen von vornherein um so wahr-
1) Hugo de Vries, Die Mutationstheorie, Bd. I, I90L
486 Dpi' Lautwandel.
scheinliclier, als sie vermöge ihrer Gebundenheit an die Gemeinschaft
ein Beharrungsvermögen besitzt, wie es den rein individuellen Lebens-
äußerungen nicht eigen zu sein pflegt. Denn wo diese sich unbeschränkt
entfalten können, wird dort durch den Einfluß der Umgebung die
individuelle Abweichung unterdrückt, — ein Vorgang der Elimi-
nation des Individuellen und relativ Zufälligen, der in allen sozialen
Entwicklungen wiederkehrt. Die Wirklichkeit steht auch hier im vollen
Gegensatze zu jenem Schema, nach welchem sich die individualistische
Reflexion völkerpsychologische Vorgänge zurechtlegt. Die rein in-
di^dduellen Einflüsse verschwinden, von wenigen Grenzfällen ab-
gesehen, infolge der Ungeheuern Macht der überkommenen Lebens-
und Denkformen wirkungslos. Die generellen aber können entweder
stetig und allmählich mehr oder weniger weitgehende Veränderungen
hervorbringen; oder sie können zunächst latent bleiben, bis andere
in gleicher Richtung wirkende Bedingungen oder aber irgendwelche
überhaupt den vorhandenen Beharrungszustand unterbrechende Wir-
kungen hinzutreten, die nun auf jene latenten Anlagen als auslösende
Kräfte wirken. Dann kann der reguläre Lautwandel selbst bald als
ein stetiger, bald als ein annähernd plötzlicher erscheinen. Für
das Vorwalten des ersteren spricht namentlich der Umstand, daß die
Lautänderungen, die er erzeugt, auf die individuelle Artikulation über-
tragen in der Regel den Charakter eines stetigen Wandels, nicht den
eines springenden Wechsels der Laute besitzen. Immerhin ist diese
individuelle Bedingung nicht entscheidend, da sie einen generellen
stetigen Wandel allerdings allein möglich macht, dabei aber einen
mehr oder weniger plötzlichen nicht ganz ausschließt. So kann z. B.
a in e oder d in t durch alle möglichen unendlich kleinen Zwischen-
stufen der Artikulation übergehen; dieser Wechsel kann aber auch
verhältnismäßig plötzlich, d. h. ohne daß die Zwischenstufen in der
uns zugänglichen Sprachüberlieferung deutlich fixiert sind, erfolgen.
Zugleich rückt die Tatsache, daß manche dieser Formen des Laut-
wechsels in nahezu übereinstimmender Weise in Sprachen vorkommen
können, die weder genetisch noch historisch irgendwie zusammen-
hängen, diese Erscheinungen in die unmittelbare Nähe der ebenfalls
über die verschiedensten Sprachgebiete verbreiteten Kontaktwir-
kungen der Laute. Nur daß wir hier die Bedingungen der Lautände-
Allgemeine Bedingungen des regulären Lautwandels. 487
rungen selir viel leichter nachweisen können als dort. Dies spricht
abermals dafür, daß es zu einem wesentlichen Teil die äußere Kompli-
kation der Bedingungen ist, die den regulären Lautwandel auszeichnet.
Dadurch werden wir aber zugleich von vornherein darauf hingewiesen,
daß wir diese Bedingungen nicht auf einem völlig andern, den Formen
des singulären Lautwandels fremden Boden zu suchen haben, sondern
daß hier die nächste Aufgabe darin besteht, zu erforschen, ob nicht
hier wie dort die nämlichen psychophysischen Ursachen wirksam,
nur daß diese infolge der Häufung und der Durchkreuzung der Be-
dingungen schwieriger oder in manchen Fällen vielleicht überhaupt
nicht mehr aufzufinden sind.
Die Komplikation der Bedingungen, die auf solche "Weise bei
den meisten Lautänderungen vorauszusetzen ist, fällt nun vor allem
bei dem regulären Lautwandel ins Gewicht. Ist sie auch bei den ein-
zelnen Kontakt- und Fernewirkungen sicherlich nicht minder vor-
handen, so hat sich hier doch schon in den Erscheinungen selbst ge-
wissermaßen eine Auslese wenigstens der zunächst eingreifenden
äußeren Ursachen vollzogen. Da sich nämlich bei den Kontaktwir-
kungen bestimmte angrenzende Laute, bei den Fernewirkungen nahe-
liegende Vorstellungsassoziationen als solche nächste Ursachen er-
weisen, so geben diese hier zugleich die leitenden Gesichtspunkte an
die Hand, nach denen sich auch die entfernteren physischen und psy-
chischen Bedingungen wenigstens mit Wahrscheinlichkeit ermitteln
lassen. Das ist anders bei dem regulären Lautwandel. Er dokumen-
tiert sich eben durch die relative Unabhängigkeit von solchen un-
mittelbar nachweisbaren Kontakt- und Assoziationswirkungen wie
nicht minder durch seine Ausdehnung über eine ganze Sprache oder
Sprachgruppe als ein Vorgang, dessen entscheidende Bedingungen
weiter zurückliegen.
488 I^^r I^utwandel.
2. Einfluß der Naturumgebung.
Unter den obengenannten drei Kategorien mögliclier Ursachen
hat man dem Einflüsse der äußeren Naturbedingungen eine
besonders wichtige Bedeutung beigemessen^). Zu dieser Annahme
führte mit einer gewissen Folgerichtigkeit die Voraussetzung, daß
der reguläre Lautwandel physisch bedingt sei, im Gegensatze zu
den psychisch bedingten assoziativen Lautänderungen. Aber zunächst
ist diese Voraussetzung selbst, wie schon oben bemerkt wurde, eigent-
lich eine petitio principii. Ob bei dem regulären Lautwandel das Phy-
sische oder das Psychische das Primäre sei, wissen wir nicht; jeden-
falls ist das erstere nicht ohne weiteres vorauszusetzen. Gibt es doch
eine Menge von Erscheinungen, namentlich alle die, bei denen die
willkürliche Einübung bestimmter physischer Leistungen eine Rolle
spielt, wo die Ausgangspunkte der physischen Vorgänge auf psychischer
Seite liegen. Gerade die Sprache bietet hierfür ein deutliches Bei-
spiel in den Rückwirkungen, welche die Sprachfunktionen auf die
physische Bildung der Sprachorgane und dadurch indirekt auf den
mimischen und physiognomischen Ausdruck ausüben. Es gibt wenige
Sprachen, die trotz ihrer genealogischen Verwandtschaft doch so
auffallende Verschiedenheiten ihres Lautsystems zeigen und darum
eine so abweichende Konfiguration der Sprachorgane erfordern wie
das Hochdeutsche und das Englische; und die auf den ersten Blick
erkennbaren physischen Rassenunterschiede beider Völker bestehen
zu einem großen Teil in den mit der Sprache zusammenhängenden
physiognomischen Unterschieden. Man kann aber oft beobachten,
daß in England geborene Kinder deutscher Eltern die nämlichen
physiognomischen Züge annehmen. Die frühe Einübung der Sprach-
organe gewinnt also hier das Übergewicht über die angeborenen Rassen-
merkmale. Auch bei dem erwachsenen Deutschen, der nach England
auswandert, sind manchmal Spuren dieser Umwandlung zu bemerken.
Sie sind aber hier geringer, offenbar weil die große Bildsamkeit der
kindlichen Organe bei ihm nicht mehr vorhanden ist. In andern Fällen
1) H. Osthoff, Das physiologische und psychologische Moment der sprach-
lichen Formenbildung, S. 19 ff.
Einfluß der Naturumgebung. 489
haben zwar die klimatischen und die sonstigen Unterschiede der
Naturumgebung einen deutlichen Einfluß auf den gesamten physischen
Habitus ausgeübt. Doch die nebenhergehenden Einflüsse der Kultur
und der Rassenmischung sind so groß, daß es völlig unsicher bleibt,
inwieweit eingetretene Lautmodifikationen auf solche Natureinflüsse
zurückzuführen sind. So hat besonders der angelsächsische Typus
in Amerika wie in Australien charakteristische Umwandlungen er-
fahren. Auch ist es bemerkenswert, daß der echte Yankeetypus in
Amerika vor allem dann sich ausprägt, wenn Rassenmischungen an-
scheinend nicht erfolgt sind. Aber da, wie wir sehen werden, Rassen-
berührungen nicht weniger als Rassenmischungen die Sprache
beeinflussen können, und da gewisse Besonderheiten des amerika-
nischen Englisch, wie die Unterdrückung und Schwächung gewisser
Laute, wohl eher zu der Eigenart der amerikanischen Kultur, zu der
Hast des Lebens und der sorgloseren Behandlung des überkommenen
Sprachguts, in Beziehung gebracht werden können, so bleibt es hier
sehr zweifelhaft, ob oder inwieweit die Natur als solche zu den ver-
ändernden Bedingungen zu zählen sei.
Von größerer Bedeutung scheinen auf den ersten Blick zwei
andere Zeugnisse zu sein, die man denn auch vorzugsweise für einen
direkten klimatischen Einfluß auf den Lautbestand der Sprache an-
geführt hat. Das eine besteht in der Tatsache, daß die Sprachen von
Gebirgs Völkern, welcher Abstammung sie auch seien, ob sie die deutschen
Alpen oder den Kaukasus oder die hohen Kordilleren bewohnen, auf-
fallend reich an Gutturallauten sind; die andere in der Beobachtung,
daß stammesfremde Sprachen nicht selten in ihrem Lautbestand
tibereinstimmen, wenn sie in Gebieten von gleichen geographischen
Bedingungen gesprochen werden. Die Allgemeingültigkeit der ersten
dieser Beobachtungen mag hier dahingestellt bleiben — für die Ge-
birgsvölker Hochasiens z. B. scheint sie nicht zuzutreffen — , sicher
ist aber, daß die semitische Rasse, deren Sprachen sich durch einen
besonderen Reichtum an Kehllauten auszeichnen, in vielen ihrer Ab-
zweigungen seit unvordenklichen Zeiten keine Berggegenden be-
wohnt hat. Auf der andern Seite ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen,
daß nicht das Gebirgsklima als solches, etwa sein Einfluß auf Lungen
und Kehlkopf, sondern die mit dem Gebirgsleben verbundene Lebens-
490 Der Lautwandel.
und Sprechweise, wie z. B. die Gewohnheit an lautes, von Berg zu
Berg erschallendes Rufen, zu dem das Leben der Hirten auf einsamer
Alm herausfordert, die eigentliche Ursache dieser Anlage der Sprach-
organe sei. Noch weniger entscheidend ist das zweite Zeugnis, der
übereinstimmende Lautvorrat sonst abweichender Sprachen unter
gleichen klimatischen Bedingungen. Gerade da, wo die Behauptung
zutrifft, bei den Sprachen des Kaukasus, sind die auf dieser Völker-
straße seit uralten Zeiten eingetretenen Mischungen und Berührungen
der Rassen ein näherliegender und wahrscheinlicherer Grund für die
Ausgleichung der Lautsysteme. Dies gilt um so mehr, als in solchen
Fällen, wo die geographischen Verhältnisse diese Einflüsse verhin-
dern oder nur in spärlichen Zuzügen möglich machen, trotz über-
einstimmenden Klimas und bei sonst großer Verwandtschaft der
Sprachen die Lautsysteme wesentlich abweichen können. So finden
sich starke Lautunterschiede zwischen den malaiischen und poly-
nesischen und wiederum zwischen diesen und den mikronesischen
Dialekten, ebenso zwischen den verschiedenen Sprachen der nord-
amerikanischen Ureinwohner, darunter solchen, die in benachbarten,
klimatisch wenig verschiedenen Gebieten ihre Wohnsitze haben.
Im ersten dieser Fälle ist das Meer, im zweiten das Leben in abge-
schlossenen Horden dem Verkehr hinderlich gewesen. Nach allem
dem wird man schließen können, daß ein direkter Einfluß des Klimas
oder sonstiger äußerer Naturbedingungen auf das Lautsystem wohl
an sich nicht unmöglich ist, insofern an den Unterschieden des all-
gemeinen physischen Habitus, der jedenfalls in einem gewissen Grad
einem solchen Einfluß unterworfen ist, auch die Sprachorgane teil-
nehmen. Immerhin sind in den Fällen, wo sich hieran denken ließe,
regelmäßig auch noch andere Momente, namentlich Sprachmischungen
und Kulturbedingungen, wirksam; und vieles spricht dafür, daß diese
von überwiegender Bedeutung sind.
3. Einflüsse der Kultur.
Da der Begriff der Kultur zunächst eine Erhebung über den Zu-
stand der bloßen Natur bezeichnet, so ent-steht bei jeder Anwendung
dieses Begriffs vor allem die Frage nach dem Grade der Kultur, das
Einflüsse der Kultur. 491
heißt nach dem Maß jener Erhebung, sowie die nach der auf- oder
absteigenden Richtung der Kulturbewegung. Insofern nun der Natur-
zustand, als die der tierischen Existenz sich nähernde untere Grenze,
durch körperliche wie geistige Merkmale charakterisiert ist, bezieht
sich auch der Begriff der Kultur gleichzeitig auf das körperliche und
auf das geistige Sein des Menschen. Da aber allerdings als die Grund-
bedingung der Erhebung über den Naturzustand die Entwicklung
der geistigen Fähigkeiten gelten muß, so fällt das Schwergewicht des
allgemeinen Kulturbegriffs auf die psychische Seite. In diesem
Sinn ist die Kultur in ihrem eigensten Wesen Kulturent Wicklung
und als solche die hauptsächlichste Äußerung der in einer bestimmten
Kulturgesellschaft vorhandenen geistigen Entwicklung. Vermöge
des engen Zusammenhangs physischer und psychischer Funktionen
ist sie jedoch stets zugleich von äußeren Lebensbedingungen ab-
hängig und wirkt ihrerseits wieder zurück auf die körperliche Organi-
sation. So wird denn auch im einzelnen Fall oft kaum mehr zu er-
mitteln sein, welcher unter diesen sich wechselseitig steigernden Fak-
toren der ursprünglichere gewesen sei.
Indem nun die Veränderungen der Kultur nach ihrer geistigen
Seite wesentlich auch in der Entstehung neuer Begriffe und in der
Umbildung vorhandener ihren Ausdruck finden, ist es in erster Linie
der Wortvorrat der Sprache, der von ihr berührt wird. Wo neue
Kulturbestandteile von außen zufließen, da wird mit der Sache meist
auch das Wort aufgenommen: darum sind in allen Sprachen Lehn-
wörter das nächste Symptom äußerer Kultur ein Wirkungen. Wo
anderseits selbständig aus gegebenen Kulturelementen neue ent-
stehen, da helfen Wortzusammensetzung und Bedeutungswandel
vorhandener Wörter den neu erwachten Bedürfnissen ab. Alles
das kann sich ereignen, ohne daß irgendeine Änderung an dem
Lautmaterial der Sprache vor sich gehen müßte. Wir dürfen
daher wohl schließen, daß die Kultur im allgemeinen weniger
direkt als indirekt die Sprachlaute beeinflußt, sei es, daß Ge-
wohnheiten imd Sitten auf die Formen der Rede und damit auch
auf die Laute der Sprache verändernd einwirken, sei es daß in dem
Verlauf der psychischen Vorgänge Änderungen eintreten, die fürTonfall^
Rhythmus und Schnelligkeit der Artikulationen bestimmend sind.
492 Der Lautwandel.
Das erste der hier angedeuteten Momente, die Sitte, scheint
vor allem in den Sprachen mancher primitiver Kulturvölker Ände-
rungen des Lautsystems erzeugt zu haben. So ist es eine Eigentüm-
lichkeit einiger Sprachen nord- und mittelamerikanischer Indianer-
stämme, daß in ihnen die Lippenlaute nicht oder nur spurweise vor-
kommen. Im Irokesischen fehlen die Laute f^ ph, b, bh, m, w, um vor-
zugsweise durch Lingual- und Dentallaute ersetzt zu werden. Im
Tscherokesischen finden sich zwar die tönenden Lippenlaute w und m,
aber die labialen Explosivlaute mangeln. Die Sprache der Koloschen
besitzt den Resonanzlaut m, sonst fehlen auch hier die Labial-
laute^). Nun wird man nicht daran denken können, daß diese Laute,
die zu den frühesten Lailauten der Kinder gehören, an sich irgendeinem
Sprachorgan ursprünglich physische Schwierigkeiten bereitet hätten.
Aber es ist so sehr die Sitte dieser Stämme, bei offenem Munde zu
artikulieren, daß es der Irokese z. B. für unanständig hält, das Gegen-
teil zu tun. Wie diese Sitte entstanden ist, wissen wir nicht — mög-
licherweise hängt sie mit dem Streben zusammen, die Lautgebärden
der Zunge bei gewissen ausdrucksvollen Lauten sichtbar zu machen.
Wahrscheinlich ist dieser Ursprung selbst dem Gedächtnis entschwun-
den; aber die so erzeugten Lautänderungen mit ihren Rückwirkungen
auf die Sprachorgane sind erhalten geblieben^). Auf einer eigentüm-
lichen Bevorzugung gewisser Laute, die wohl erst im Laufe der Zeit
entstanden sein kann, scheint ferner der auffallend klangvolle Cha-
rakter der polynesischen Sprachen zu beruhen. Die Konsonanten
dieser Sprachen werden nachlässig gesprochen und oft miteinander
verwechselt. Die Vokale, die nur in den fünf einfachen Formen a, e,
1) Vgl. die Lauttabellen bei Fr. Müller, II, 1, S. 206, 223, 239.
2) Nicht direkt hierher zu zählen sind solche Lautmängel, die nicht, wie
die obigen infolge gewisser Artikulationsgewohnheiten bei sonst normaler Be-
schaffenheit der Sprachorgane vorkommen, sondern durch die Verstümmelung
oder Deformation der Teile rein mechanisch bedingt sind: so die mangelnde
Aussprache der Dentallaute infolge des Ausbrechens oder Ausfeilens der Schneide-
zähne bei manchen australischen und südafrikanischen .Stämmen und die ver-
schiedenen Lautdefekte infolge der bei südamerikanischen und afrikanischen
Völkern bestehenden Sitten des Lippenpflocks, der Durchbohrung der Lippen
oder der Nasenscheidewand.
Einflüsse der Kultur. 493
i, 0, u, nicht in diphthongischen Verbindungen vorkommen, sind
daher die Hauptträger des Wortes, auf deren Klangqualität und Quan-
tität streng gehalten wird. Ahnlich scheinen die eigentümlichen
Tonabstufungen der indochinesischen Sprachen, die hier zumeist
dem Ausdruck bestimmter Begriffsänderungen dienen, zu den gleich-
zeitig eingetretenen Abschleifungen der Laute in Beziehung zu
stehen^). Natürlich ist dabei an eine willkürliche Unterdrückung
oder Bevorzugung nicht zu denken. Vielmehr lassen sich diese Ver-
änderungen wiederum nur als solche betrachten, die mit innerer
Notwendigkeit und zum Teil zugleich in Wechselwirkung mitein-
ander erfolgten.
Bei dieser Korrelation der Erscheinungen spielt nun das Ineinan-
dergreifen äußerer und innerer Kultureinflüsse sichtlich eine wichtige
Rolle. Daß sich aber irgendwelche konstant und gleichförmig wirkende
Ursachen feststellen lassen, die auch nur für ein Volk während einer
längeren Zeit ausschließlich maßgebend wären, ist ausgeschlossen.
Auch ist es von vornherein höchst unwahrscheinlich, daß bestimmte
Bedingungen überall wieder genau die gleichen Wirkungen hervor-
bringen, da ja die einzelne Ursache voraussichtlich jedesmal mit ab-
weichenden Einflüssen sich kompliziert. Wenn z. B. der phonetische
Charakter der aus dem Vulgärlateinischen stammenden Wörter in
den einzelnen romanischen Sprachen ein vielfach abweichender ge-
worden ist, obgleich in den meisten augenscheinlich die Kürzung
und wechselseitige Assimilation der Laute vorherrschen, so ist das
bei der Ungeheuern Mannigfaltigkeit der sonstigen Bedingungen nicht
zu verwundern. Eine Sprache, die eine so ausgeprägte Tonmodu-
lation besitzt wie das Französische, und eine andere, die umgekehrt
eine stark dynamische Akzentuierung erworben hat wie das Italienische,
sie müssen um schon dieses einen Unterschieds willen dem in ihnen
beiden lebenden Trieb nach Verkürzung der Lautform, aus welcher
Ursache dieser auch immer in ihnen entstanden sein mag, in sehr
verschiedener Weise Folge leisten. Angesichts der Abweichungen,
^) Misteli (Steinthal), Charakteristik der hauptsächlichsten Typen des
Sprachbaues, 1893, S. 203 ff . Conrady, Eine indochinesische Kausativ-Deno-
minativ-Bildung, 1896.
494 Der Lautwandel.
welche zuerst Sprachmiscliimg und Entlehnung und dann in einem
weiteren Stadium die Ausgleichung benachbarter Dialektformen
ausüben, wird man sich in der Tat das Ineinandergreifen der ver-
schiedenen Faktoren, die zusammenwirken mußten, um eine unserer
heutigen Literatursprachen zustande zu bringen, nicht kompliziert
genug vorstellen können, und man wird hier im allgemeinen nur
daran festhalten dürfen, daß die entscheidenden unter diesen
Einflüssen genereller Natur waren. Sollen jedoch unter diesen
generellen Kultureinflüssen die allgemeinsten hervorgehoben werden,
so dürften, abgesehen von den Bedingungen der Sprachmischung,
hauptsächlich drei in Betracht kommen: die Veränderungen im
Tempo der Rede, der Wechsel der Betonung, insbesondere das Ver-
hältnis zwischen Tonmodulation und dynamischem Akzent, und
endlich die resultierenden Wirkungen, die aus dem Zusammen-
treffen von Kontakt- und Fernewirkungen der Laute hervor-
gehen.
4. Sprachmischungen.
An Völkerwanderimgen hat es wohl keiner Zeit gefehlt, mögen
sie nun als große Massenbewegungen oder als allmähliche Zuzüge
einzelner oder endlich, was wahrscheinlich bei den großen historischen
und vorhistorischen Völkerwanderungen die Regel war, als Einwande-
rungen kriegerischer Stämme erfolgt sein, denen die Herrschaft über
eine numerisch stärkere Urbevölkerung zufiel. Besonders bei dieser
mutmaßlich häufigsten Form mußten aber tief eingreifende Sprach-
mischungen eintreten, die voraussichtlich nicht zum wenigsten das
Lautsystem der Sprachen ergriffen haben. Da die meisten und die
für die Ausbildung unserer Kultursprachen wichtigsten dieser Wande-
rungen in einer der Sprachgeschichte unzugänglichen Zeit erfolgten,
so sind wir freilich hinsichtlich dieser Quelle lautlicher Umgestaltungen
vielfach ganz auf Vermutungen angewiesen. Im allgemeinen darf
man aber als wahrscheinlich voraussetzen, daß die Tatsachen, die bei
der heutigen Entstehung der Mischsprachen beobachtet werden, auch
für jene vorgeschichtlichen Sprachmischungen gelten (vgl. oben
S. 404 ff.). Danach wird es in der Regel die Rasse der höheren Kultur
Sprachmischungen. 495
gewesen sein, die der niedrigeren ihren Wortvorrat und, wo einiger-
maßen das Verhältnis einem numerischen Gleichgewichte nahe kam,
auch das grammatische System ihrer Sprache mitteilte, wogegen
das Lautsystem, gleich den Merkmalen der physischen Organisation,
umgekehrt der Mehrheit ihren vorwiegenden Einfluß sicherte. Dem
Verhältnis höherer und niederer Kultur wird bei den ursprünglichen
Völkerwanderungen wohl das der physisch stärkeren oder durch
kriegerische Organisation überwiegenden zur schwächeren Horde
entsprochen haben. Mag demnach der an Zahl zurücktretende, aber
herrschende Teil einer Mischbevölkerung mit den sozialen Formen
des Lebens und den meisten sittlichen und religiösen Anschauungen
auch die sprachliche Form, in die der Mensch seine Vorstellungen
und Gefühle kleidet, der Gesamtheit mitteilen, — in dem Laut-
charakter der Sprache wird, wie in der Haarfarbe, der Körper-
größe und den allgemeinen Gemüts- und Charakteranlagen, schließ-
lich die unterdrückte Rasse sich geltend machen. Das ist in der
Tat in allgemeinen Zügen wohl der Gang der Entwicklung der
modernen romanischen Sprachen aus dem Lateinischen oder der
des modernen Englisch gewesen, hier nur mit der besonderen Modi-
fikation, daß zwei erobernde Stämme, der germanische und der
romanische, der Sprache ihre hauptsächlichsten Eigenschaften gaben:
der erste den grammatischen Bau und die ursprünglichen Be-
standteile des Wortschatzes, der zweite den größten Teil der Be-
griffe und Wörter die einer fortgeschrittenen Kultur angehören.
In dem eigentümlichen Lautsystem dieser Sprache haben aber allem
Anscheine nach die keltischen und sonstigen älteren Bewohner
Britanniens, von denen im übrigen Form und Inhalt der Sprache
fast unberührt geblieben sind, ihre Spuren zurückgelassen. Ähn-
lich hat in einem davon weit entfernten Sprachgebiet die in Süd-
afrika eingesessene Buschmannsrasse im wesentlichen die Sprache
der, wie man annimmt, aus dem Norden eingewanderten Hottentotten
angenommen; aber die merkwürdigen Schnalzlaute der Hottentotten
entstammen wahrscheinlich der ursprünglichen Buschmannssprache.
Von diesen Gesichtspunkten aus werden die gewaltigen Differen-
zierungen, die in den Lautbildungen sonst genealogisch zusammen-
hängender Sprachen eingetreten sind, wohl verständlich, wenn sich
496 Der Lautwandel.
auch bei unserer Unkenntnis der vorhistorischen und selbst vieler
der in geschichtlicher Zeit erfolgten Völkermischungen Art und Um-
fang dieses Einflusses zumeist der Schätzung entziehen.
Mit den Mischungen gehen die Berührungen der Völker und
der einzelnen Stammesgruppen, wie sie durch den Grenzverkehr und
die Einwanderung bedingt sind, Hand in Hand. Natürlich lassen
sich die Wirkungen der Mischung und der Berührung im allgemeinen
hier ebensowenig wie diese Vorgänge selbst auseinanderhalten. Immer-
hin weisen viele Erscheinungen darauf hin, daß schon der bloße Ver-
kehr weitgreifende Einflüsse mit sich führen kann, ohne gleichzeitig
mit erheblichen Rassen- oder Stammesmischmigen verbunden zu sein.
So besitzen z. B. die konsonantischen Lautvertretungen in denjenigen
Zweigen der ural-altaischen Sprachen, deren Träger früh schon in
einen Verkehr mit germanischen Stämmen getreten sind, wie beson-
ders im Finnischen und Magyarischen, gegenüber den isolierter ge-
bliebenen Sprachen der gleichen Völkerfamilie häufig einen der unten
zu erwähnenden germanischen Lautverschiebung verwandten Cha-
rakter^). Da diese Verschiebungen aber immerhin nicht in gleicher
Weise reguläre Erscheinungen sind wie die verwandten Vorgänge auf
germanischem Sprachgebiet, so unterstützt dies die Vermutung, daß
hier nicht ein originärer Lautwandel, sondern der Einfluß benach-
barter germanischer Stämme vorliegt. Der Umstand, daß solche
Lautvertretungen durchaus das den finnischen Idiomen ursprünglich
eigene Sprachgut ergriffen haben, macht es überdies wahrscheinlich,
daß es sich hier mehr um Berührungswirkungen als um Sprachmischun-
gen handelt. Einen noch prägnanteren Fall ähnlicher Art bildet eine
Erscheinung, die allerdings an sich nicht dem regulären Lautwandel,
sondern der Lautassimilation angehört, die aber durch die eigentüm-
lichen Verhältnisse ihres Vorkommens auf die Wirkungen der Sprach-
berührungen hinweist. Das Rumänische bietet eine große Zahl von
Vokalumwandlungen, die nach dem Prinzip der Vokalharmonie er-
folgt sind, indem sie in der Angleichung zweier Vokale in zwei auf-
1) Vgl. die Beispiele konsonantischer Vertretungen bei Fi'. Müller, Grund-
riß, Bd. 2, II, S. 192 ff.
Tempo und Betonung der Rede. 497
einander folgenden Silben bestellt, wie z. B. rumuneh für lat. roma-
nescus u. a. Die Erscheinung ist den übrigen romanischen Sprachen,
ebenso wie dem Lateinischen, Deutschen und Slawischen, fremd;
sie ist jedoch den ural-altaischen Sprachen und so auch dem an das
rumänische Sprachgebiet grenzenden Türkischen und Magyarischen
eigen. Vermutlich hat also das Rumänische aus diesen die Neigung
zur Vokalharmonie entnommen. Daß aber auch hier wieder die Er-
scheinung nicht oder zum geringsten Teil auf Sprachmischung beruht,
wird dadurch wahrscheinlich, daß die aus dem Lateinischen und Sla-
wischen stammenden Wörter sie vorzugsweise darbieten. Auch hat
sie sich darin gewissermaßen dem sonst abweichenden Charakter
der Sprache angepaßt, daß sie in progressiver wie regressiver Rich-
tung vorkommt, d. h. ebenso als Wirkung des vorangehenden auf den
nachfolgenden wie des nachfolgenden auf den vorangehenden Vokal,
während sie in ihrer eigentlichen Heimat nur in der ersteren, pro-
gressiven Form existiert^).
5. Tempo und Betonung der Rede.
a. Allgemeine Wirkungen der Artikulations-
geschwindigkeit.
Unter allen Bedingungen des Lautwandels ist das Tempo der
Rede wohl eine der eingreifendsten, obgleich sie bis jetzt von selten
der Sprachforscher nur wenig beachtet wurde. Daß mit einem rascheren
Wechsel der psychischen Erregungen, wie ihn neben anderem die
wachsende Kultur in der Regel hervorbringen wird, auch die Geschwin-
digkeit der Rede einigermaßen gleichen Schritt hält, ist ja von vorn-
herein nicht unwahrscheinlich. Natürlich brauchen diese Wirkungen
weder bei allen Nationen in gleicher Weise, noch brauchen sie gleich-
förmig zu erfolgen. Vielmehr wird auch hier gelten, daß solche Ver-
änderungen nach dem früher (S. 485) erwähnten Mutationsprinzip
zwar stetig sich vorbereiten, daß sie selbst aber infolge irgendeines
^) Ad. Storch, Vokalharmonie im Rumänischen. Diss. Leipzig 1899.
Wundt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. 32
4r98 Der Ijautwandel,
auslösenden Impulses plötzlich zum Durchbruch gelangen können
und nun in rapider Entwicklung, von der jüngeren Generation an-
fangend, bis zu einem neuen Punkt relativen Stillstandes an wachsen.
Mehr als in dem Tempo der Eede selbst, für das uns unmittelbare
Nachweise kaum zu Gebote stehen, besitzen wir in dieser Beziehung
ein charakteristisches Zeugnis aus einer noch der Gegenwart nahe-
liegenden Zeit in einem andern, in mancher Beziehung unmittel-
baren Ausdrucksmittel der Gefühle und Affekte, in der Musik. Be-
kanntlich hören wir selbst Beethovens Symphonien heute in der Regel
in einem schnelleren Tempo vorgetragen, als in dem sie ursprünglich
komponiert waren ; und noch größer ist dieser Unterschied bei Meistern
wie Haydn oder Mozart, Händel oder Bach, wenn nicht in diesen
Fällen der Charakter der Kompositionen auch noch heute zu einem
bedächtigeren Tempo zwingt. Die merklich gewordene Erhöhung
der Orchesterstimmung der Instrumente ist wahrscheinlich ein hier-
mit zusammenhängendes Phänomen, denn der schnellere Schritt der
Töne fordert im allgemeinen auch eine höhere Tonlage. Nun ist frei-
lich die Stimmung unserer Instrumente konventionell. Aber diese
Konvention ist doch aus dem musikalischen Bedürfnis hervorgegangen ;
und wir können kaum zweifeln, daß, analog wie sich das musikalische
Tempo in den Jahrhunderten geändert hat, so auch das durchschnitt-
liche Tempo der Rede ein anderes geworden ist. Obgleich uns dieses
Tempo selbst nicht erhalten blieb, so spiegelt sich doch in dem Stil,
in der umständlicheren Form der grammatischen Konstruktion deut-
lich genug die Veränderung, die bereits seit Gottscheds Zeiten in der
gewöhnlichen Form der deutschen Rede vor sich gegangen sein mag.
Dabei ist es wiederum für die Wechselbeziehung zwischen Denken
und Sprechen bezeichnend, daß zur selben Zeit, da sich der deutsche
Stil noch in schwerfällig gravitätischen oder in der vulgären Unter-
haltung in plumpen und ungelenken Schritten bewegte, das Fran-
zösische schon eine sehr viel größere Geschmeidigkeit und darum
sicherlich auch eine größere Geschwindigkeit der Diktion erlangt hatte.
Darum kann man sich in solchen Fällen die geistige Organisation
der Menschen, die damals in zwei Sprachen zu denken und zu sprechen
pflegten, kaum anders denn als eine auch hinsichtlich des Tempos
zwiespältige vorstellen. Ein Leibniz und ein Friedrich der Große
Tempo und Betonung der Rede. 499
haben wahrscheinlich französisch schneller gedacht und gesprochen,
als wenn sie sich der deutschen Sprache bedienten. Nun wissen wir
freilich nicht, wie unsere althochdeutschen Vorfahren oder wie die
Goten oder gar die Urgermanen gesprochen haben, abgesehen von
den indirekten Zeugnissen, die wir den grammatischen Formen ent-
nehmen können. Gerade diese Formen lassen aber auf ein langsameres,
sozusagen majestätisch einherschreitendes Tempo der Rede schließen;
ja in dieser Beziehung finden sich selbst zwischen dem Gotischen
und dem Althochdeutschen und zwischen diesem wieder und dem
Mittelhochdeutschen Unterschiede, die überall mit dem volleren Klang
auch den langsameren Gang der auf einer früheren Lautstufe stehen
gebliebenen Sprachform annehmen lassen. Mit feiner poetischer In-
tuition hat das Gustav Freytag in seinen ,, Ahnen" zum Gehör ge-
bracht, indem er seine althochdeutschen Helden Ingo und Ingraban
in einem Stil reden läßt, der freilich so, wie ihn der Dichter erfindet,
sicherlich nirgendwo und nirgendwann vorgekommen ist, der aber doch
durch die Art der grammatischen Konstruktion und namentlich durch
die Einfügung gewisser regelmäßig wiederkehrender Redeformen,
die an den homerischen Stil erinnern, den Eindruck gediegener und
schwerfälliger Langsamkeit hervorbringt.
Doch wir besitzen, abgesehen von diesem immerhin etwas un-
bestimmten allgemeinen Eindruck von Sprache und Stil, noch ein
anderes Zeugnis im Gebiet der Lautformen selbst in jenen Kontakt-
wirkungen der Laute, die, wie wir sahen, mit zwingender Gewalt
auf den Einfluß einer beschleimigten Rede hinweisen: so vor allem
die Erscheinungen der sogenannten ,, regressiven'' und ein nicht un-
beträchtlicher Teil auch der ,, progressiven Lautassimilationen".
(Vgl. oben S. 431 ff.) Dieses Zeugnis ist um so wertvoller, weil es sich
geradezu auf alle uns bekannteren Kultursprachen und auf die ver-
schiedensten Perioden der Sprach- und Kulturentwicklung erstreckt.
Wenn lat. supmus in summus, sedla in sella, factus in ital. fatto, fluctus
in fiotto, deutsch hahte in hatte, entfinden in empfinden, oder auch (pro-
gressiv) vulba in vidva, Mimben in klimmen überging usw., so liegt
der Beweis für den Zusammenhang dieser Veränderungen mit einer
Beschleunigung der Artikulationsbewegimgen schon darin, daß sich
alle diese Wörter sehr leicht Von selbst aus der ersten in die zweite
32*
500 Der Lautwandel.
Lautform umwandeln, sobald wir rascli artikulieren. Allerdings ge-
schieht das nicht überall gleich vollständig: entfinden geht z. B. leichter
in empfinden über als fluctus in fiotto. Aber hier ist eben auch die Ver-
änderung noch durch eine dissimilatorische Vokalbildung kompli-
ziert, und sie hat daher mutmaßlich eine längere Zeit gebraucht, um
sich vollständig durchzusetzen. Bei allem dem stimmen diese durch
den Kontakt der Laute eingetretenen Umwandlungen darin überein,
daß sie auf eine irgend einmal eingetretene Beschleunigung in dem
Tempo der Rede hinweisen, was natürlich dazwischen liegende Sta-
dien des Stillstandes oder einer retrograden Bewegung und neben-
hergehende andere Einflüsse, wie Sprach- und Völker mischungen,
nicht ausschließt. Darum würde es verkehrt sein, solche Verände-
tungen etwa zu einem Maß der Redegeschwindigkeit oder gar der
fortgeschritteneren Kultur zu nehmen. Vielmehr liegt darin immer
nur ein Zeugnis dafür, daß alle jene Einflüsse auf die jüngere Sprach-
form länger und eben darum schließlich stärker eingewirkt haben
als auf die ältere, gerade so wie ja auch die jüngere Kultur keines-
wegs immer die höhere zu sein braucht. Wohl aber wird aus jenen
Veränderungen, die der Kontakt der Laute herbeigeführt hat, zu
schließen sein, daß die Beschleunigung der Tempos ein Faktor ist,
der zu Zeiten auf jede der Kultur sprachen gewirkt hat; und schwer-
lich wird dieser Faktor auf die direkt nachweisbaren Kontaktwir-
kungen beschränkt geblieben sein, sondern er wird aller Wahrschein-
lichkeit nach schließlich den Lautbestand der Sprache als solchen
mehr oder minder eingreifend verändert haben.
b. Vokalkontraktionen und Lautschwächungen.
In der Tat bietet die Sprache eine große Zahl Von Erscheinungen
dar, die hierfür eintreten. Vor allem gehört dahin das zum Teil noch
in das Gebiet der Lautassimilationen hinüberreichende Phänomen
der Vokalkontraktion. Sie vollzieht sich bald in der Form der
Verschmelzung zweier aufeinander folgender Vokale in einen einzigen,
der einem von ihnen oder beiden ähnlich ist, oder zu einem artikula-
torisch zwischen ihnen liegenden Laut, bald in der Auswerfung des
Tempo und Betonung der Rede. 501
einen Vokals, bald endlich auch in einer durch Elision eines zwischen-
liegenden Konsonanten vermittelten Verbindung. Zusammenziehungen
wie griech. rjQog aus eaQog, cpiXelTS aus (piMexe, q)iXovfi€v aus
cpikio/iiev, {.uod-io aus (.nod-oio, eo^ev aus urgriech. eöijAEv u. a.
sind hier naheliegende Beispiele^). Eine zweite, ebenfalls weitver-
breitete Erscheinung besteht in den in der mannigfaltigsten Weise
sich äußernden Lautschwächungen am Ende der Wörter. Man
nehme qualitative Übergänge wie im Lateinischen prodtt aus *pro-
dat (zu dö däre), artifex aus '^artifax (zu facio), vivunt aus vivont, oder
Kürzungen der Endvokale bei gleich bleibender Qualität wie lego
aus "^leyö (gr. leyo)), auctor aus altlat. auctör (auctoris), oder endlich
den völligen Silbenschwund im Auslaut, wie in mors aus "^mortis, ager
aus "^agros, acer aus agris^). Ahnlich im Deutschen leiten zu ahd.
lidan, Bahre zu hdra, Wunder zu wuntar, zeigön zu zeigen, leben zu
leben usw. Hier ist überall schon im Mittelhochdeutschen die Schwächung
eingetreten. Aber sie ist in diesem, wie manche Erscheinungen schließen
lassen, noch nicht so weit wie in der heutigen Sprache fortgeschritten
gewesen. So sind Formen wie Tags für Tages, dem Mann für dem
Manne erst in verhältnismäßig neuer Zeit allgemein geworden; und
diese Kürzimgen sind zum Teil auch da eingedrungen, wo in der Schrift
der Vokal noch bewahrt blieb: wir sprechen nicht Tages, sondern
Tag^s, und ähnlich inmitten des Wortes, z. B. der andere, nicht der
andere, indem der stumme Vokal nur noch als ein fast verschwinden-
der Übergangslaut erscheint.
Zu dieser Schwächung und Abwerfung der Vokale bieten nun
auch die Änderungen der konsonantischen Laute am Ende des Wortes
parallele Erscheinungen. So ist im Lateinischen namentlich der
Schwund des Schluß-m, obgleich dasselbe noch geschrieben wird,
im poetischen Metrum deutlich zu bemerken; auch in die romanischen
^) Brugmann, Griech. Grammatik,^ S. 58 ff. Auch die romanischen Sprachen
sind reich an hierher gehörigen Erscheinungen, die sich nur bei ihnen vielfach
zugleich mit dissimilatorischen Elisionen und selbständigen Änderungen des
Vokalklangs verbinden. Vgl. Meyer-Lübke, Grammatik der romanischen Sprachen,
Bd. 1, S. 98 ff.
^) Vgl. Ferd. Sommer, Handbuch der lateinischen Laut- und Formenlehre,
1902, S. 155 ff.
502 Der Lautwandel.
Sprachen hat sich dies fortgesetzt. Doppelkonsonanten sind ferner
durchweg zu einfachen zusammengezogen worden, wie lac aus ^lact
{lactis), cor aus '^cord (cordis) usw. ^). Im Deutschen besteht die be-
merkenswerteste Erscheinung dieser Art darin, daß im Wortschluß
die tönende Media in einen kurzen tonlosen Verschlußlaut, eine stimm-
lose Tennis, überzugehen pflegt. So schreiben wir zwar aus Rück-
sicht auf den grammatischen Zusammenhang Tag, Tages und Land,
Länder, wir sprechen aber in Wirklichkeit Tak, Tages, Lant, Länder'^).
Zugleich bemerkt man übrigens hierbei, daß diese Unterschiede nicht
unbeträchtlich variieren können, und daß darauf namentlich die Länge
des vorangehenden Vokals von Einfluß ist. Sprechen wir das Wort
Tag kurz und scharf, so tritt der harte Schlußlaut sehr deutlich her-
vor; sprechen wir es gedehnt, so ermäßigt er sich und geht in eine
tonlose Media oder Spirans über. Die Aussprache variiert also zwischen
tak, tag und tax, wenn wir mit g den stimmhaften, mit x den stimm-
losen Konsonanten bezeichnen. Entsprechende Unterschiede sind
denn auch dialektisch vorhanden, indem der Schlußkonsonant bald
mehr nach der stimmlosen Media, bald mehr nach der Spirans hin
abweicht, und sie sind zum Teil wenigstens mit entsprechenden Unter-
schieden in der Länge des Vokallauts kombiniert.
c. Lautänderungen der Verschlußlaute.
Aus diesen Beobachtungen erhellt zunächst, daß die Scheidung
der Formen des sogenannten selbständigen und des kombinatorischen
Lautwandels in keiner Weise durchgeführt werden kann. Da in der
Sprache kein einziger Laut für sich allein existiert, so ist jede Laut-
^) Nur das »Schluß-.s bildet im Lateinischen eine Ausnahme, indem es zu
einer gewissen Zeit ausfiel, wenn ein Wort mit anfangendem Konsonanten folgte,
wie in oninibu{s) priuceps. Dieser Fall reicht aber wieder in die Kontaktwirkungen
der Laute hinein, und er ist wohl als eine in der Volkssprache eingerissene dissi-
milatorische Elision aufzufassen, die dann später von der Schriftsprache unter
dem Einflüsse des vor Vokalen stets erhalten gebliebenen Schlußlauts wieder
getilgt wurde. Vgl. Sommer a. a. O. S. 302 ff. und über Dissimilationen oben
S. 423 ff.
2) Vgl. Sievers, Phonetik,* S. 265 f.
Tempo und Betonung der Rede. 503
änderung in einem gewissen Grade durch die Verbindung mit andern
Lauten beeinflußt. Es ergibt sich aber auch weiterhin, daß bei dieser
nie fehlenden Verbindung der Laute die Schnelligkeit ihrer Aufeinander-
folge eine entscheidende Rolle spielt. Besonders deutlich lassen sich
diese Schwankungen bei der willkürlichen experimentellen Variation
der Bedingungen nachweisen. Als Beispiele seien hier die Lippen-
explosivlaute p, b in ihren Wandlungen verfolgt, da sie bei der ober-
flächlichen Lage der Verschlußstelle der Beobachtung am leichtesten
zugänglich sind. Als kombinatorisch verwendeten Vokal wollen wir
der Gleichförmigkeit wegen überall das a wählen. Es seien ferner
bezeichnet mit p'*, b^ die stark, mit p\ b' die schwach aspirierten Laute,
mit p und B die geschärften tonlosen Verschlußlaute (Affricatae),
mit b die gewöhnliche tönende Media, und endlich mit p und 6 die
tonlosen Lippenlaute. Es treten dann bei wechselnder Stellung und
Kombination mit langen und kurzen Vokalen die folgenden Ver-
änderungen der beiden Verschlußlaute von selbst ein:
p'% p%y apäj dpa, ap
Va, bä, abä ba, äh, ap.
Der Sinn dieser beiden Reihen ergibt sich ohne weiteres aus der obigen
Interpretation der Bezeichnungen. Zunächst hat der Unterschied
der beiden Anfangsglieder {p^'Ci und b'ä) die Bedeutung, daß die Stärke
der Aspiration bei dem weicheren Explosivlaut immer schwächer als
bei dem harten, und daß sie dort überhaupt nur bei starker Betonung
des kommenden Vokals vorhanden ist, sonst aber ganz schwindet
(6'a und bä)» Tritt der Verschlußlaut in die Mitte zweier Vokale, so
verschwindet die Aspiration, und es bleibt nur die Neigung zu einer
Verschärfung des Lautes. Am Schluß des Wortes weicht endlich,
wenn ein langer Vokal vorangeht, die tönende der tonlosen Media,
und diese bei verkürztem Vokal dem tonlosen harten Verschlußlaut
(ab und o/?).
Die Ursachen dieses durch die Position bewirkten Lautwandels
sind nun offenbar wieder keine rein physiologischen, sondern im
eigentlichen Sinne des Wortes psychophysische. Dies gilt vor allem
von den Lautänderungen am Ende des Wortes, den Schwächungen
•'* 'T-'-r
504 Der Lautwandel.
und Elisionen der Vokale und dem Übergang der tönenden in kurze
und tonlose Verschlußlaute, sowie von den im Gegensatz zu ihnen
stehenden Modifikationen der gleichen Laute am Wortanfang. Jedes
einigermaßen selbständig zu denkende Wort ist bis zu einem gewissen
Grad ein Ganzes für sich. Demnach bildet es einen momentanen Halte-
punkt der Rede, so daß sich die Kraft der Artikulation vor allem auf
den Wortanfang konzentriert. Umgekehrt verhält sich der Schluß des
Wortes. Ist der Anfang intoniert, so ist namentlich bei einem kürzeren
Worte für den Redenden der psychische Prozeß der Wortbildimg
Vollendet: nur der physische Vorgang der Artikulation folgt noch
mechanisch dem zuvor gegebenen Impuls. Darum ist das Ende des
Wortes vorzugsweise der Lautschwächung und Lautkürzung aus-
gesetzt. Ist der Schlußlaut ein Vokal, so wird dieser kürzer oder seine
Klangfarbe dumpfer; bei den Geräuschlauten weicht der leichtere,
tönende einem härteren, tonlosen Verschlußlaut. In diese Bedingungen
greifen dann noch Akzentuierung und Dauer der inlautenden Vokale
wesentlich modifizierend ein, während zugleich physiologische Be-
dingungen die hieraus entspringenden begleitenden Veränderungen
der Verschlußlaute bestimmen. So ist die Aspiration der harten Ex-
plosivlaute am Anfang des Wortes um so mehr eine mechanische
Notwendigkeit, je dauernder der folgende Vokal ist {p'a und p^ä)-
Die weiteren Veränderungen ergeben sich aus den für An- und Aus-
laut geltenden psychophysischen Momenten einerseits und den aus
Betonung und Dauer der Laute hervorgehenden mechanischen Vor-
und Rückwirkungen anderseits, wie aus den obigen Reihen für den
Wandel des p- und &-Lautes hervorgeht.
Unverkennbar haben nun aber diese mit der Aneinanderreihung
der Laute zusammenhängenden Lautvariationen noch eine weitere
über diesen nächsten Bereich ihrer Wirkungen hinausgehende Be-
deutung. Die Veränderungen, die sich innerhalb eines zusammen-
hängenden Lautkomplexes als die Folgen der Beschleunigung oder
Hemmung der Bewegung einstellen, werden nämlich in einem gewissen
Umfang auch als allgemeine Veränderungen mehr oder weniger
in jedem Lautzusammenhang wiederkehren, teils weil sich die Ein-
stellung auf die neue Artikulationslage überhaupt fester eingeübt
hat, teils weil die an bestimmten Punkten durch den Lautzusammen-
Tempo und Betonung der Rede. 505
hang erzeugten Veränderungen assoziativ auf andere Fälle, ganz
wie bei den sogenannten ,, Analogiebildungen", herüberwirken. So
sind es Kontakt- und Fernewirkungen der Laute, die überall in das
Gebiet des sogenannten „selbständigen" Lautwandels eingreifen.
Natürlich lassen sich die im letzteren Fall sich ergebenden Wirkungen
des häufigen Gebrauchs nicht mehr ohne weiteres mittels einer ex-
perimentellen Variation der Bedingungen feststellen. Wohl aber gibt
ims hier die geschichtlich eingetretene Veränderung gewisse Hin-
weise, falls wir uns nur die experimentell konstatierten Einflüsse
der Geschwindigkeit und Betonung über eine längere Zeit ausgedehnt
oder durch hinzutretende Bedingungen verstärkt denken. Dieses
Prinzip läßt sich namentlich auf gewisse Veränderungen der harten
Explosivlaute anwenden. Bei der Betrachtung der obigen beiden
Keihen für die Variationen der Lippenlaute f und h fällt ja ohne weiteres
auf, daß die Breite der experimentell herzustellenden Schwankungen
des weichen Verschlußlauts sehr viel größer als die des harten ist.
Jener kann zwischen tönender und tonloser, zwischen aspirierter und
unaspirierter Form wechseln, und er kann unter bestimmten Be-
dingungen in den tonlosen harten Explosivlaut f übergehen, während
der letztere immer nur die Verschiedenen Stufen aspirierter Aussprache
mit dem kurzen Verschluß ohne Aspiration als Grenzfall durchwandert.
Dennoch gibt es auch hier einen eingreifenden Wechsel, der, wie die
Geschichte zeigt, in Verschiedenen Sprachen als Folge eines länger
dauernden Gebrauchs eingetreten ist, und der auch sporadisch in der
individuellen Beobachtung vorkommt; letzteres freilich nur bei will-
kürlichen Experimenten oder aber beim Sprechenlernen des Kindes.
Da beobachtet man nämlich, daß ein Lautgebilde wie f^nt mit mehr
oder weniger starker Aspiration des harten Anfangslauts gelegent-
lich durch dissimilatorische Erleichterung zunächst in ffunt und dann,
bei noch weiter beschleunigter Rede, in funt übergeht. Der letztere
Übergang läßt sich leicht mechanisch erzwingen, wenn man das Wort
mehrmals nacheinander oder in Kombinationen wie fünf pfunt fünf
pfunt fünf pfunt . . spricht. Diese verwandeln sich fast unvermeidlich
in fünf funt fünf funt fünf funt ... Es besteht also auch für die harten
Explosivlaute wenigstens innerhalb einer länger dauernden Reihe
von Veränderungen die Möglichkeit einer weiteren Umwandlung,
506 Der Lautwandel.
die auf der im Anlaut stets vorhandenen Verbindung dieser Laute
mit einer Aspiration beruht. Denn aus dieser geht nun, unter Ein-
schaltung eines dissimilatorischen Zwischenstadiums, das auch dauernd
erhalten bleiben kann, eine Spirans hervor, die je nach der Verbin-
dung mit andern Lauten bald tonlos (/, w), bald tönend ist {w, v). So
spi;echen wir in der Tat das Wort Pfund im Hochdeutschen pfunt;
wir finden aber daneben als dialektische Abweichungen sowohl die
Form p'unt wie fünf. Auch von diesen Veränderungen können nun
wahrscheinlich Assoziationswirkungen ausgehen. Die Umwandlung
in die Spirans wirkt auf andere, minder zwingende Fälle hinüber.
Dabei kommt dann namentlich in Betracht, daß in einem früheren
Stadium der Sprache aspirierte Formen infolge einer langsamen Rede-
weise leichter auch im Inlaut der Wörter vorkommen konnten, wo sie
jetzt verschwunden sind. So war die ursprüngliche Wortform für den
Apfel wahrscheinlich "^aphil, woraus schon im Althochdeutschen
nebeneinander die Formen apful und afful (affoUra Apfelbaum),
im Neuhochdeutschen Apfel und daneben niederd. Appel hervor-
gegangen sind.
Wie hier die geschichtliche Entwicklung der Laute dieselben
Änderungen erzeugt hat, die sich unter Umständen unwillkürlich
in dem Mechanismus unseres gewöhnlichen Sprechens ereignen, so
lassen nun anderseits die in der Sprache anscheinend fixierten Laute
deutliche Nuancen der Klangfärbung und Tonhöhe erkennen, so daß
ein und dasselbe Lautzeichen, mag man noch so sehr den üblichen
ßuchstabenbezeichnungen durch weitere phonetische Symbole zu
Hilfe kommen, eigentlich immer eine Fülle individueller Laute unter
sich begreift. Diese Lautschwankungen erweisen sich aber durchweg
als Kontaktwirkungen, bei denen die Vokale ebenso von den um-
gebenden Konsonanten wie diese hinwiederum von den zwischen
ihnen liegenden imd besonders von den vorausgehenden Vokalen
abhängen. Nehmen wir z. B. eine Reihe von Wörtern wie Dach, Sache,
poche, suche, Zeche, Sichel usw., so ist die Spirans ch in keinem dieser
Wörter der gleiche Laut, sondern die Verengerungsstelle, die dem
Reibungsgeräusch seinen Klangcharakter gibt, richtet sich in erster
Linie nach dem vorangehenden Vokalklang, auf den die Artikulations-
organe noch eingestellt sind, wenn der Geräuschlaut beginnt; sie
Tempo und Betonung der Rede. 507
richtet sich aber auch etwas nach dem folgenden Laut und ist t, B.
eine andere, wenn das Wort mit der Spirans schließt, als wenn dieser
wieder ein Vokal nachfolgt. So liegt in Bach die verengerte Stelle
weiter zurück als in Sache, und sie rückt dann mit der Erhöhung des
vorausgehenden Vokals immer weiter nach vorn. Die gewöhnliche
phonetische Unterscheidung dieser palatalen Spirans in eine Vordere
yi^^ (ich), und in eine hintere ^^^ (Dach) greift daher nur Grenzfälle heraus,
zwischen denen alle möglichen Übergänge stattfinden können. Dabei
sind diese Variationen in erster Linie von dem vorausgehenden, in
geringerem Grade von dem nachfolgenden Vokal bestimmt. So ziehen
die hohen Vokale e, i und ihre Verbindungen, wie eu, ei, ä, ü, die vor-
dere Spirans /j^, die tieferen Vokale a, o, u die hintere ^^ ii9,ch sich.
Aber indem hierbei jedesmal die Vokaleinstellung auf den folgenden
und bis zu einem gewissen Grad auch auf den vorangehenden pala-
talen Verschluß herüberwirkt, hat in jedem einzelnen dieser Fälle
die Spirans wieder einen etwas abweichenden Charakter. Selbst auf
die Stimmbänder wirkt diese Adaptation an den Vokal zurück, indem
der Laut 7^ im allgemeinen tonlos, /g ^^^^ ^^^ langsamen tönenden
Schwingungen begleitet ist, die zunächst wahrscheinlich in der Mund-
höhle, namentlich am Gaumensegel entstehen, dann aber durch Re-
sonanz auch dem Kehlkopf sich mitteilen. Wie der Konsonant dem
Vokal, so adaptiert sich jedoch umgekehrt dieser jenem. So ist der
a-Laut schon ein anderer in Dach als in Sache. Dort ist seine Klang-
farbe heller als hier, wo die Einstellung auf das e der folgenden Silbe
bereits trübend zurückwirkt. Ähnlich variiert das englische th in laut-
lich einander so nahestehenden Wörtern wie ether (Äther) und either
(jeder): dort ist es interdental und tonlos, hier postdental und tönend
usw.^).
^) Herr Prof. Felix Krüger hatte die Güte, auf meine Bitte die akustischen
Eigenschaften solcher Wortgruppen wie der oben erwähnten mit Hilfe eines für
die Registrierung der Stimmtonschwingungen konstruierten „Kehltonschreibers"
zu untersuchen. Gleichzeitig wurde der Exspirationsdruck durch die direkte
Einwirkung des Luftstroms auf eine Mareysche Hebelvorrichtung ermittelt.
Dabei lassen sich die oben erwähnten Erscheinungen überaus deutlich objektiv
feststellen.
508 Der Lautwandel.
Auf diese Weise ist jeder Sprachlaut eigentlich ein unendlich
variables Gebilde. Seine jedesmalige Färbung ist aber abgesehen
von andern Bedingungen, die auf ihn wirken mögen, zunächst ein
Produkt der Kontaktwirkungen, die durch seine Verbindung
mit andern Lauten entstehen, und diese sind, wie die Kontaktwir-
kungen überhaupt, stets zugleich von der Geschwindigkeit der Artiku-
lation abhängig. Die Kontaktwirkungen an sich reichen demnach
weit über jenes engere Gebiet der progressiven und regressiven Assi-
milationen und Dissimilationen hinaus, und sie umfassen eine Fülle
feinerer Abänderungen der Laute, die von einer Lautverbindimg
zur andern wechseln können. Mögen dies nun auch in den unserer
unmittelbaren Beobachtung zugänglichen Grenzen nur relativ un-
bedeutende Schwankungen sein, so können solche doch zu großen
Umwandlungen führen, falls ihnen nur die Gelegenheit gegeben ist
allmählich anzuwachsen, indem sich ihre Ursachen häufen. Außer-
dem können sich aber, sobald sich durch solche Kontakte eine Laut-
änderung in bestimmter Richtung in hinreichend vielen Fällen voll-
zogen hat, hieran assoziative Fernewirkungen anschließen, so daß
sich nun der gleiche Laut auch in solchen Verbindungen ändert, in
denen die entsprechende Kontaktwirkung nicht stattfindet. So ist
es eine charakteristische, in hamitischen und Bantusprachen vor-
kommende assimilative Kontaktwirkung, daß durch einen voran-
gehenden Vokal eine Tenuis zur tönenden Media wird {t zu d, k zu g).
Diese Änderung hat aber dann besonders im Somali die gleichen Ver-
schlußlaute auch da ergriffen, wo ein solcher Kontakteinfluß nicht
vorhanden ist^). Offenbar sind daher, gegenüber diesen notwendig
von früh an in der Sprache wirksamen Kontakten, jene unmittel-
bar auf diese zurückführenden Erscheinungen der Assimilation, Dissi-
milation usw. nur relativ junge und durch die Möglichkeit der Ver-
gleichung eines vor und nach eingetretener Lautänderung bestehen-
den Zustandes besonders augenfällige Beispiele eines Prozesses, der
sich in den mannigfaltigsten Verzweigungen von den Urzeiten der
Sprache an bis in die Gegenwart erstreckt.
1) C. Meinhof, Archiv f. Anthropol. Bd. 9, 1910, S. 184.
n
Tempo und Betonung der Rede. 509
Mit den zuletzt betrachteten Vorgängen stehen nun sichtlich
die Lautumwandlungen, die man besonders in den germanischen
Sprachen in dem Gesetz der Lautverschiebungen zusammen-
faßt, zu denen sich aber auch in andern, zum Teil weit entfernten
Sprachgebieten analoge Erscheinungen vorfinden, in nahem Zu-
sammenhang. Jener Von Jakob Grimm entdeckte regelmäßige Laut-
wandel besteht übrigens aus zwei zeitlich weit voneinander abliegen-
den Vorgängen. Die erste oder gemeingermanische Laut-
verschiebung liegt in der vorhistorischen Zeit. Da sie alle ger-
manischen Sprachen erfaßt hat, so läßt sich annehmen, daß zur Zeit,
da sie erfolgte, die Germanen noch ein einziges Volk von nicht allzu
großer Verbreitung waren. Wesentlich abweichend Verhält sich die
zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung, die in histo-(;i,.yrW)
rischer Zeit, etwa in der Periode der Merowinger, entstand, dabei
jedoch auf einen Teil der deutschen Stämme, nämlich auf die ober-
deutschen und einige benachbarte der Franken und Sachsen, beschränkt
blieb. Demnach zeigen, abgesehen von dem Gotischen, das ausgestorben
ist, und von dem Nordgermanischen, das sich früher als die andern
von dem ürgermanischen geschieden hat, noch heute das Englische,
Niederländische und Niederdeutsche im ganzen einen Zustand, der
der ersten Lautverschiebung entspricht, während das Althochdeutsche
mit seinen Weiterentwicklungen in das Mittel- und Neuhochdeutsche
durch die zweite Lautverschiebung beeinflußt ist. Auch bei dieser
hat aber der Prozeß nicht stillgehalten, sondern mit den übrigen Lauten
sind die Verschlußlaute noch weiteren Veränderungen unterworfen
gewesen. So sind denn überhaupt jene beiden Perioden des Laut-
wechsels nicht als Zeiten alleinstehender Umwälzungen anzusehen,
zwischen denen der Lautbestand unverändert geblieben wäre, sondern
sie bezeichnen nur Kulminationspunkte eines Prozesses, wo durch
besondere Bedingungen ein ungewöhnlich rascher Wandel eintrat.
Wie wenig hier von einem Stillstande die Bede sein kann, das bezeugt
besonders die Tatsache, daß in der Zeit zwischen der ersten und der
zweiten Lautverschiebung die Spaltung des Urgermanischen in seine
Töchtersprachen zum großen Teil eingetreten ist. So sind denn auch
die einzelnen Lautumwandlungen, aus denen sich diese Verschiebungen
zusammensetzen, keineswegs alle gleichzeitig vor sich gegangen, son-
510 * Der Lautwandel.
dem sie haben teils eine Lautgruppe nach der andern, teils einen und
denselben Laut je nach seinem Vorkommen in verschiedenen Wörtern
nicht auf einmal ergriffen. Am gleichförmigsten verhalten sich schon
innerhalb der ersten Lautverschiebung die harten Verschlußlaute^).
Was im Indogermanischen als Tenuis vorausgesetzt werden darf
und im Sanskrit, Griechischen und Lateinischen durchweg diesen Laut
bewahrt hat, das ist im allgemeinen in den germanischen Sprachen
ursprünglich in die Spirans übergegangen: p in f, t in dz (engl, th),
k in ch oder in h, z. B. lat. fallidus, engl, falloiv ,,fahl", lat. tuli, to-
lerare, got. dzulan ,, dulden", lat. capto, got. hafjan ,, heben". Was im
Indogermanischen eine Media war (6, d^ g) und ebenfalls in den klas-
sischen Sprachen Media blieb, ist dagegen im Germanischen zu einer
Tenuis geworden, z. B. das b in lat. luhricus ,, schlüpfrig", got. sliupan
,, schlüpfen", das d in lat. duo, engl, two ,,zweL", g in gr. yovv, got.
hniu ,,Knie". Etwas verwickelter verhielten sich die aspirierten
Laute, welche nicht bloß im Germanischen, sondern auch im Grie-
chischen und Lateinischen, die in den vorigen Fällen den vorauszu-
setzenden Urzustand des Indogermanischen relativ unverändert
bewahrt haben, Lautverschiebungen erfuhren. Das Indogermanische
enthielt, wie man annehmen muß, zwei Reihen aspirierter Verschluß-
laute, die Tenues aspiratae, p^\ t^', h'\ und Mediae aspiratae,
y\ d}\ g'', von denen die ersteren in kleinerer, die letzteren in größerer
Zahl vertreten waren. Im Griechischen haben sich diese aspirier-
ten Laute wohl am längsten gehalten, die Tenues aspiratae
unverändert, die Mediae aspiratae, nachdem sie in Tenues aspiratae
umgewandelt waren. Später sind aber alle diese aspirierten Verschluß-
laute durch Lockerung der Verschlußteile in Spiranten übergegangen.
Im Lateinischen ist diese Erweichung der ursprünglichen Aspiratae
von früh an vorhanden, ai^ch hat sie sich zuweilen mit einer Verschie-
bung der Artikulationsstelle, z. B. mit dem Übergang von labialem
^) Vgl. über die Verschiedenheiten der drei Klassen von Verschlußlauten,
auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, Sievers, Grundzüge der Phone-
tik,* S. 127 ff., und hinsichtlich der näheren sprachgeschichtlichen Verhältnisse
für die erste Lautverschiebung W. Streitberg, Urgermanische Grammatik, 1896,
S. 97 ff., und F. Kluge, in Pauls Grundriß, I,« S. 365 ff., für die zweite 0. Behaghel,
ebenda S. 722 ff.
Tempo und Betonung der Rede. 511
in Velaren Verschluß, verbunden. So ist griech. ocpallto urspr.
sf' hallo, dann sfallo gesprochen worden, dem altind. dhumas ent-
spricht griech. d^ufiog, wo ^ ebenfalls zuerst als aspirierte Tenuis,
später, ähnlich dem engl, th, als Spirans gesprochen wurde; ebenso
wurde ein indogerm. *ö''' ortos im Griech. zu x^Q^^g, im Lat. zu
hortus usw. Diesem Verhalten der beiden klassischen Spra^chen
entspricht nun das Germanische durchaus bei der Tenuis aspirata:
p^', y\ t^' werden in der Regel zu pf oder /, dz (engl, th), h er-
mäßigt, z. B, griech. acpallto, lat. fallo, ahd. fallan „fallen",
idg. '^^khahhemi, lat. habeo, ahd. haben ,, haben". Dagegen sind
die Mediae aspiratae h'\ d^', g^' wechselnderen Schicksalen unter-
worfen gewesen, wobei insbesondere auch die Stellung zu be-
nachbarten Lauten eine wichtige Rolle spielte. Im allgemeinen
sind sie sämtlich durch ein Zwischenstadium von Media aspirata
oder tönender Spirans in die reine tönende Media b, d, g über-
gegangen, während der Einfluß der Stellung hauptsächlich in
der Verschiedenheit der Laute im An-, In- oder Auslaut des Wortes
und in der Abhängigkeit von dem etwa vorausgehenden Vokal
hervortritt. Man vergleiche z. B. die Aussprache des g in Gabe
imd legen oder in Tag (= (aJc) und Tages, in lagen, legen, liegen,
lügen usw. Die gleiche Schreibung, die sich der gewöhnlichen
Buchstabenzeichen bedient, birgt hier erhebliche Unterschiede,
die bald als verschiedene Stufen, bald auch als verschiedene
Differenzierungen des eingetretenen Lautwandels angesehen werden
können.
Die zweite, hochdeutsche Lautverschiebung läßt sich
nun in einem gewissen Sinn als eine auf bestimmte Dialekte beschränkte
Weiterentwicklung der ersten betrachten. Charakteristisch ist in
dieser Beziehung, daß die durch diese entstandenen Spiranten an der
zweiten keinen Anteil nehmen, so daß sich dieselbe im wesentlichen
auf die Verschlußlaute p, t, k und b, d, g beschränkt. Von ihnen gehen
die Tenues durchweg in Spiranten über: so entsprechen sich got.
sUupan und ahd. sliofan ,, schlüpfen", engl, two und hochd. zwei, got.
hniu und ahd. chniu ,,Knie". Die ersteren Formen repräsentieren
den durch die erste, die letzteren den durch die zweite Verschiebung
hergestellten Zustand. Irregulärer ist wiederum die Veränderung
512
Der Lautwandel.
Temas
AspirxUcL
der Media e. Docli ist hier bei d und g der Übergang in die Tennis
vorberrscliend, z. B. got. dags, engl, day, abd. iac ,,Tag", niederl.
liggen, abd. liehen (neben ligen) „liegen". Bei der labialen Media ist
dieser Übergang nur vorübergebend in einzelnen Fällen eingetreten,
und aucb bei den übrigen ist nicbt selten eine Rückwärtsbewegung
vorgekommen {ticken in liegen).
Jakob Grimm bat die Vorgänge der germanischen Lautver-
schiebungen insgesamt mit einem Rade verglichen, das sich in einer
und derselben Richtung um seine Achse drehe. Die drei Lautformen
der Media, der Tennis, der Aspirata und Spirans betrachtete er ge-
wissermaßen als die drei
Speichen dieses Rades (Fig.
35), und in der Media, als
dem zwischen den Gegen-
sätzen der andern mitteninne
liegenden Laute, glaubte er
den Ausgangspunkt der gan-
zen Bewegung sehen zu
können. Das Gesetz lautete
dann einfach: ,, Media geht
über in Tennis, Tennis in
Aspirata und Aspirata wieder
in Media" 1). Bei der An-
wendung dieses Bildes ist
aber nicht bloß keine Rück-
sicht darauf genommen, daß die Lautverschiebung kein alle Phasen
eines Umlaufs mit einem Mal umfassender Vorgang ist; sondern es
sind auch Lautgruppen in eine einzige vereinigt, die in phonetischer
Hinsicht ebenso wie nach ihrer Stellung im Prozeß der Lautverschie-
bungen eine abweichende Bedeutung haben: so besonders die Tenues
Meciicu
Fig. 35. Schema der germanischen Laut-
verschiebungen nach Grimm.
1) Jakob Grimm, Geschichte der deutschen Sprache,^ I, S. 276. Bei Grimm
lautet das Bild allerdings etwas anders. Nach dem Vorgang von R. v. Raumer
(Über die Aspiration und die Lautverschiebung, 1837) vergleicht er die Laut-
verschiebung mit „drei Wagen, die in einem Kreis umlaufen". In der Sache ist
natürlich kein Unterschied, aber das seither meist gebrauchte Bild des dreispei-
chigen Rades ist einfacher und deutlicher.
Tempo und Betonung der Rede. 513
aspiratae, Mediae aspiratae und Spirantes. Auch ist nicht zu über-
sehen, daß das Schema nur die Hauptstationen veranschaulicht und
dabei nicht nur von den Zwischenstufen überhaupt, sondern auch
davon abstrahiert, daß gerade diese Zwischenstufen wieder in ver-
schiedenen Fällen variieren können. Endlich und hauptsächlich
bleibt bei jeder solchen abstrakten Formulierung des Verschiebungs-
gesetzes der große Einfluß, den benachbarte Laute und die Stellung
des Lautes im Wort ausüben, ganz außer Betracht. Dieser modifi-
ziert aber das Ergebnis so bedeutend, daß jede einzelne Laut-
verschiebung, sobald diese Bedingungen irgendwie wechseln, wieder
etwas abweicht.
Überblickt man nun zunächst die allgemeine Richtung der
Lautänderungen sowie die Abweichungen, die sie im einzelnen
darbieten, so springt in die Augen, daß diese Erscheinungen in
beiden Beziehungen im wesentlichen den Modifikationen ent-
sprechen, welche die drei Klassen der Verschlußlaute infolge der
experimentellen Variationen der Artikulationsbedingungen erfahren.
In den Veränderungen, die sich in der auf S. 502 ff. dargestellten
Reihenfolge an den labialen Verschlußlauten hervorbringen lassen,
wiederholen sich, wenn wir noch die unter bestimmten länger
einwirkenden Ursachen oder bei den Sprechversuchen des Kindes
zu beobachtenden Übergänge in die Spirans hinzunehmen, bei-
nahe Schritt für Schritt einzelne dieser Erscheinungen. Sie ent-
sprechen ihnen sowohl in ihrer allgemeinen Richtung wie in der
größeren Zahl von Stufen, welche die Media gegenüber der Tenuis
durchlaufen kann, ferner in dem Einfluß, den die Stellung im
An-, In- oder Auslaut ausübt, endlich in der Wirkung der Qualität,
Dauer und Betonung der umgebenden Vokale. So haben sich
im Anlaut bei unmittelbar folgendem Vokal noch heute die aspi-
rierten Tenues erhalten, während sie im Inlaut in Affricatae oder
weiterhin in Spiranten, und endlich im Auslaut in stumme Explosiv-
laute übergegangen sind. Die Media aspirata dagegen ist sehr frühe
schon im Anlaut zur tönenden Media geworden, während sie im In-
laut Affricata blieb oder durch diese in eine tönende Spirans überging,
im Auslaut aber dem stimmlosen Explosivlaut zustrebte: Verände-
rungen, die im wesentlichen mit den auf S. 503 verzeichneten Reihen
Wundt, Yölkerpsychologie. 1. 4. Aufl. 33
514 Der Lautwandel.
übereinstimmen^). Aus diesem Parallelismus darf man wohl den
Schluß ziehen, daß die im Germanischen in besonders weitem Um-
fang, in den andern indogermanischen Sprachen in engeren Grenzen,
aber im ganzen in übereinstimmendem Sinn eingetretenen Laut-
verschiebungen der Konsonanten Prozesse sind, die, ganz wie die
vielfach gleichzeitig mit ihnen erfolgten Vokalkontraktionen, Eli-
sionen und Lautschwächungen am Ende des Wortes, sowie in Über-
einstimmung mit den Kontaktänderungen der Laute, zum größten
Teil als Wirkungen der beschleunigten Artikulation zu deuten sind.
Außerdem sind aber alle diese Wandlungen nicht überall die näm-
lichen für einen gegebenen Laut oder Lautkomplex, sondern sie
sind von seiner Stellung im Wort, von der Betonung, Dauer und
Klangfarbe der Nachbarlaute abhängig. In diesem Sinne fällt
daher jeder reguläre Lautwandel zugleich in das Gebiet der Kon-
taktwirkungen. Außerdem werden wir, gemäß den Einflüssen der
Laut- wie Begriffsassoziationen, die uns früher in zahlreichen Er-
scheinungen begegnet sind, unbedingt voraussetzen dürfen, daß
auch bei der Ausbreitung bestimmter Lautänderungen assoziative
Fernewirkungen stattfanden, durch die sich eine zuerst im engeren
Umkreis begonnene Veränderung auf das weitere Vorkommen der
gleichen Laute übertragen konnte. Anderseits können freilich
auch durch Fernewirkungen, die von abweichenden Kontakt-
erscheinungen ausgehen, die regulären Lautgesetze gelegentlich
kompensiert werden (siehe oben S. 486 f.). Solche bald den
regulären Lautwandel unterstützende, bald ihm entgegenwirkende
1) Delbrück hat gegen die Darstellung der Lautverschiebungen in der
ersten Auflage des vorliegenden Werkes eingewandt, die hier erwähnten Über-
gänge seien von mir übersehen worden; auch führt er dieselben als entscheidende
Instanz gegen den Zusammenhang der Verschiebungen mit der Artikulations-
gesch windigkeit an (Grundfragen der Sprachforschung, S. 103). Offenbar hat
Delbrück dabei nur das in Fig. 35 symbolisierte Schema vor Augen gehabt und
nicht beachtet, daß ebensowohl auf diese Zwischenstufen wie auf ihre Abhängig-
keit von der Stellung im An-, In- oder Auslaut im Text mehrfach hingewiesen
ist (vgl. 1. Aufl., S. 408, 415). Prüft man nun aber diese Zwischenstufen näher
hinsichtlich ihres Vorkommens und ihrer Artikulationsbedingungen, so sind sie,
wie aus der obigen Darlegung zu ersehen ist, nicht Zeugnisse gegen, sondern
solche für die vorgetragene Theorie.
Tempo und Betonung der Rede. 515
Einflüsse scheinen namentlich die benachbarten Vokale sowie
die exspira torische Betonung auszuüben. Darum gelten die so-
genannten Gesetze der Lautverschiebungen so wenig wie andere
Lautgesetze ausnahmslos, sondern nur in dem Sinne gesetzmäßig,
daß jeder einzelne Lautwandel auf bestimmte Ursachen zurückzu-
führen ist. Wohl aber weist der Lautwandel, wo er mit einer
relativ großen Gleichförmigkeit erfolgt ist, wie besonders bei der
ersten germanischen Lautverschiebung, auf das Übergewicht einer
Ursache über andere, mehr sporadisch wirkende hin. Daß diese
überwiegende Ursache in der im Laufe der Sprachentwicklung
zumeist zunehmenden Geschwindigkeit der Artikulation besteht,
wird übrigens schon durch deren Einfluß auf die große Mehrzahl
der unmittelbaren Kontaktwirkungen der Laute wahrscheinlich
(S. 499)1).
Natürlich lassen nun aber diese allgemeinen Bedingungen hier
ebensowenig, wie bei den Assimilations- und Dissimilationswirkungen,
irgendeinen Schluß auf die besonderen historischen Anlässe zu,
die etwa zu einer solchen Lautänderung geführt haben. Niemand
kann den Übergang des Wortes supmus in summus oder brumhen in
brummen auf ein bestimmtes geschichtliches Ereignis zurückführen.
Mit den einzelnen Akten der germanischen oder irgendeiner andern
Lautverschiebung verhält es sich nicht anders. Hier läßt sich immer
nur einerseits auf die relativ allmähliche, weder alle Laute auf ein-
mal, noch sofort den einzelnen ausnahmslos ergreifende Art des Vor-
gangs, anderseits auf jenes Prinzip der Mutation hinweisen, nach
dem sich überall im organischen Leben bestimmte Änderungen lang-
sam vorbereiten, um dann unter der Wirkung auslösender Kräfte
mehr oder minder plötzlich um sich zu greifen, während sich diese
Kräfte selbst unserer Nach Weisung leicht entziehen können. Doch
dürften die Berührungen verschiedener Sprachen, wie sie im Gefolge
^) Deutlich scheinen besonders in den Bantusprachen, in denen zahlreiche
dem Grimmschen Gesetz entsprechende Lautverschiebungen vorkommen, als
kompensierende Einflüsse teils Vokalassimilationen teils Betonungsverhältnisse
wirksam zu sein. (Vgl. Meinhof, Die moderne Sprachforschung in Afrika, 1910,
S. 59 ff.)
.33*
516 I^i" Lautwandel.
des Verkehrs und der Wanderungen der Völker eintreten, vor allem
als solche auslösende Kräfte wirken. Auch können sich deren Ein-
flüsse weit über die in Wortentlehnungen sich verratenden Mischungs-
erscheinungen erstrecken. Insbesondere gewinnt hier wahrscheinlich
die Verdrängung der ursprünglichen Tonmodulation durch eine aus
fremdem Sprachgebiet herüberwirkende dynamische Betonung eine
entscheidende Bedeutmig. Belehrende Beispiele bieten hier nament-
lich wieder die afrikanischen Sprachen, wo sich die Sudansprachen
mit ihrer fast völlig rein erhaltenen Tonmodulation und die hami-
tischen Idiome mit ihrem ausgeprägt dynamischen Akzent gegen-
überstehen, und wo nun das aus Elementen beider gemischte
Suaheli sich auch darin als eine echte Verkehrssprache dokumen-
tiert, daß in ihm die dynamische Betonung völlig die Herr-
schaft gewonnen hat, während das Bantu eine Art Zwischenstufe
einnimmt^).
Um so wichtiger ist nun aber die Tatsache, daß die Lautver-
schiebungen offenbar ebenso wie die Vokalkontraktionen, die Laut-
schwächungen und Kontaktwirkungen Erscheinungen sind, die in
den verschiedensten Sprachen nicht beliebig variieren können, son-
dern daß auch hier eine allgemeinere Gesetzmäßigkeit herrscht. Ob-
gleich die in unabhängigen Sprachgebieten vorkommenden Erschei-
nimgen in diesem Falle wiederum niemals völlig identisch sind, so
verlaufen sie doch in übereinstimmender Eichtung. Daß hier nur von
einer solchen die Rede sein kann, ist ja schon deshalb selbstverständ-
lich, weil die Ausgangspunkte der Veränderungen jedesmal abweichende
sind, außerdem aber die weiter hinzutretenden Einflüsse in der mannig-
faltigsten Weise wechseln. Gegenüber dieser imgeheuern Variabilität
der Bedingungen ist die trotzdem zu beobachtende Übereinstimmung,
überraschend groß. Dies gilt nicht bloß von den Vokalkon traktionen^
Elisionen und Lautschwächungen, sondern sogar von dem Wandel
der Verschlußlaute. Ein merkwürdiges Beispiel bilden hier nach den
Ermittelungen C. Meinhofs die Bantusprachen Südafrikas. So finden
1) Meinhof, Ergebnisse der afrikanischen SprachforschiHig, Archiv für
AnthropoL, N. F., Bd. 9, S. 187 ff.
Tempo und Betonung der Rede. 517
sich z. B. in dem Peli für die aus den gegenwärtig bestehenden Dialekten
zu erschließenden Konsonanten des ,,ür-Bantu" folgende Vertretungen:
X für h, f für f, h für ng, nt für rd, mp für mb, nih für nt^). Das sind
Vertretungen, die hinsichtlich des Übergangs der Tenuis in die Spirans
und in gewissem Umfang auch der Media in die Tenuis, der aspirierten
in unaspirierte Laute einigen im Germanischen eingetretenen Ver-
schiebungen durchaus entsprechen^). Andere Wandlungen weichen
ab, zeigen dafür aber um so charakteristischer den Einfluß der Be-
tonung und Dauer der umgebenden Laute. So wird die Tenuis h in
betonter Stammsilbe meist zur Aspirata hh. Besonders bemerkens-
wert ist endlich noch, daß bei den dem Ackerbau lebenden Stämmen,
die, in der Kultur höher stehend, durch einen regeren Verkehr sich
auszeichnen, der Lautwandel stärker um sich gegriffen hat als bei
den nomadisierenden Völkern.
d. Lautänderungen unter dem Einfluß des Akzent-
wechsels.
Zu den auf allgemeinen Kultureinflüssen beruhenden Änderungen
der Sprechweise gehören neben dem Tempo der Rede auch die Ver-
änderungen der Betonung, deren schon oben mehrfach gedacht wer-
den mußte, weil sie oft als komplizierende Nebenbedingungen hin-
zutreten. Solcher Veränderungen lassen sich im allgemeinen zwei
unterscheiden. Die eine besteht in der früher (S. 272 ff.) erwähnten
Verdrängung der Tonmodulation der Sprache durch den dynamischen
Akzent, die andere durch den bei dem letzteren vorkommenden Orts-
^) C. Meinhof, Grundriß einer Lautlehre der Bantu- Sprachen,^ 1910, S. 25 ff.
und die Tabellen S. 194 ff.
2) Auf diese Analogien hat schon H. Meyer aufmerksam gemacht, Zeitschr.
f. deutsches Altertum u. deutsche Literatur, Bd. 54, 1901, S. 108. Gleichzeitig
erhebt aber Meyer gegen den Einfluß des Redetempos auf die Lautverschiebungen
den Einwand, daß sich zu keiner Zeit im germanischen Altertum ein Anlaß zu
einer plötzlichen Beschleunigung nachweisen lasse. Dieses auch noch anderwärts
geäußerte Bedenken dürfte durch die oben (S. 483 ff.) hervorgehobenen Einflüsse,
die wir hier dem Völkerverkehr und der Sprachmischung t«ils direkt, teils insofern
zuschreiben dürfen, als sie auf die bereits vorhandenen Tendenzen als auslösende
Kräfte wirken, gehoben werden.
518 Der Lautwandel.
Wechsel der Betonung. Unter diesen Übergängen sind die der ersten
Art oben schon als Momente erwähnt worden, die offenbar in hohem
Grade durch Vokaländerungen und Elisionen sowie indirekt auch
durch Wandlungen der Verschlußlaute auf den Lautcharakter der
Sprache einwirken, die aber wegen unserer Unkenntnis der Ausgangs-
punkte und des Verlaufs solcher Änderungen zumeist noch der näheren
Analyse unzugänglich sind.
Viel deutlicher lassen sich im allgemeinen diejenigen Wirkungen
nachweisen, die mit den Verschiebungen der Betonung zusammen-
hängen. Sie treten zunächst an den Änderungen hervor, die der Vokal-
klang erfährt, je nachdem er einer betonten oder unbetonten Silbe
angehört. Dabei durchkreuzt sich aber diese Wirkung wiederum mit
einer andern, die von der Qualität der umgebenden Verschlußlaute
abhängt. Indem diese die Mundhöhle in verschiedener Weise ver-
engern, wirken sie zugleich auf die Klangfarbe der umgebenden Vo-
kale ein, und diese Wirkung muß, wie schon W. Scherer hervor-
gehoben hat, um so stärker sein, je größer die Geschwindigkeit der
Rede ist. Auch wird naturgemäß derjenige Vokal, der zu seiner reinen
Intonation die volle Öffnung des Mundraums erfordert, das offene a,
von solchen Trübungen am meisten getroffen. Kommt dazu noch,
Avie z. B. im modernen Englisch, eine Artikulationsbasis, die an und
für sich das volle Ausströmen des Stimmklangs hindert, so verliert
die Sprache gänzlich den reinen a-Laut, und auch die übrigen Vokale
können an dieser je nach der Einstellung auf die nachfolgenden Ver-
schlußlaute wieder variierenden Trübung teilnehmen^). Außerdem
ist die dynamische Betonung von einer doppelten Wirkung begleitet:
sie erhöht den Vokalklang der betonten, und sie dämpft die Klang-
farbe des Vokals der folgenden unbetonten Silbe. Beide Wirkungen
geben sich deutlich an den Verschiebungen zu erkennen, die sie beim
Ortswechsel des Akzents erfahren. Man nehme z. B. zusammen-
gehörige Wortpaare wie griech. iraTegeg und anäuoQogt q)Qiv€g und
liqiQOveg, ipevöaq und ipevdog, wo der Kontrast der helleren Klang-
^) Scherer, Zur Geschichte der deutschen Sprache,^ S. 56 ff. Victor, Ele-
mente der Phonetik,^ S. 279.
Tempo und Betonung der Rede. 519
färbe des e und der dumpferen des o regelmäßig den Ortswechsel des
dynamischen Akzents bezeichnet^). Daß es sich hier um Erschei-
nungen handelt, die zwar durch die Komplikation mit andern Ur-
sachen mehr oder minder verdeckt werden können, an sich aber auf
allgemeingültigen psychophysischen Bedingungen der Lautgebung
beruhen, erhellt wieder daraus, daß sich analoge Wirkungen von selbst
einstellen, wenn man experimentell in beliebige Lautgruppen durch
willkürlichen Wechsel der Betonung die gleichen Bedingungen ein-
führt. Wählt man auch hier Lautgruppen mit überall gleichem Vokal,
wie apa, apäy aba^ aha und ähnliche, und registriert man die Schwin-
gimgen der tönenden Laute, so ist, obgleich in diesem Falle der Vokal-
klang für das Ohr kaum merklich geändert erscheint, doch regelmäßig
der betonte Vokal der höhere, was namentlich dann deutlich hervor-
tritt, wenn er zugleich gedehnt ist (apa, aha). Augenscheinlich setzt
sich diese Wirkung aus einer physischen und einer psychischen Kom-
ponente zusammen. Rein physikalisch bedingt nämlich schon die
stärkere Bewegung der Stimmbänder nicht bloß durch Beimischung
höherer Obertöne eine schärfere Klangfarbe, sondern sie erhöht auch
den Grundton. Sodann aber ist jeder Betonungswechsel mit einer
psychischen Kontrastwirkung verbunden, die, wie jeder Kontrast,
das Moment der Selbstverstärkung in sich trägt: der Kontrast der
dynamischen Betonung assoziiert sich also mit einem entsprechen-
den Kontrast in der Empfindung der Tonhöhe, worauf die letztere
unmittelbar den Stimmton selbst verändert 2). Diese Beobachtungen
zeigen, daß dynamischer Akzent und Tonmodulation nicht bloß neben-
einander vorkommen, sondern daß sie sich auch beeinflussen können.
^) W. Örtel, Lectures on the Study of Language, 1901, p. 271. Über ent-
sprechende Erscheinungen im Altindischen vgl. J. Wackemagel, Altindische
Grammatik, I, S. 64 f f .
*^) Auch hier verdanke ich Herrn Prof. F. Krüger mehrere Stimmton-
kurven der obigen Lautgruppen, die, mittels der Registrierung der Schildknorpel-
schwingungen gewonnen, deutlich die Tonerhöhung der akzentuierten Silbe und
die Zunahme dieser Tonerhöhung mit der relativen Stärke der Betonung zeigen.
So ist z. B. die Erhöhung des zweiten Vokals in dpa merklich größer als in äbd.
Diese Tonerhöhung beträgt in äba durchschnittlich etwas mehr als eine Sekunde,
in äpä kann sie ungefähr eine Terz erreichen.
520 Der Lautwandel.
Wenn man der einen Sprache, wie dem Englisclien, dynamische Ak-
zente, einer andern, z. B. dem Französischen, Tonakzente zuschreibt,
so handelt es sich in der Tat immer nur um ein Mehr oder Minder.
Auch ein Wechsel zwischen beiden, wie er in der Geschichte mancher
Sprachen eingetreten ist, wird daher niemals in einem sprungweisen
Übergang, sondern lediglich darin bestehen, daß von den bei jeder
Betonung verbundenen beiden Faktoren der bisher mehr zurücktretende
überwiegend wird. Dies kann natürlich so allmählich und stetig ge-
schehen, daß ein bestimmter Zeitpunkt des Wechsels nicht anzugeben
ist. Abgesehen von den Berührungen mit andern Sprachen können
hier allmähliche Änderungen in dem psychischen Charakter des Volkes
einen stetig wirkenden Einfluß äußern, da Akzent und Sprechmelodie,
wie wir bei der Erörterung der Satzbetonung noch sehen werden, in
hohem Grade von dem Affekt abhängen^).
Nun ist der Vokalismus der Sprache solchen durch Tonmodu-
lation und dynamische Betonung erzeugten Lautänderungen zunächst
ausgesetzt. Denn die Vokale sind es, die ebensowohl die Tonhöhe des
Lautes wie die exspira torische Betonung zum Ausdruck bringen.
Aber indirekt können diese Momente doch auch auf die angrenzenden
Verschlußlaute zurückwirken, ebenso wie umgekehrt die Vokale von
den zwischen sie tretenden und namentlich von den ihnen folgenden
Konsonanten die Klangfärbung empfangen, die der entsprechenden
Mundstellung zukommt. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß schon
bei der urgermanischen Lautverschiebung solche Veränderungen
der Betonung mindestens mitgewirkt haben. Denn, wie Vermutlich
in allen Sprachen ursprünglich die Tonmodulation vorherrschte, um
erst später durch den exspiratorischen Akzent allmählich zurück-
gedrängt zu werden (s. oben S. 273 f.), so dürfen wir wohl
auch dem Indogermanischen eine relativ akzentlose Tonmodu-
lation zuschreiben, wie sie etwa heute noch das Chinesische und
Japanische oder die Sudansprachen besitzen. Sobald nun die
exspiratorische Bhythmisierung der Rede zur Vorherrschaft gelangte,
mußte aber die hauchlose Tennis in die exspirierte übergehen (p, t.
1) Vgl. Tl. II, Kap. VII, Nr. VIL
Tempo und Betonung der Rede. 521
h in p^', t^', W'), woran sich dann die weiteren Änderungen infolge
der BescMeunigung des Tempos der Rede anschlössen^).
Unter die Erscheinungen, die auf ein solches Zusammenwirken
verschiedener Faktoren hinweisen, gehören wohl auch die unter dem
Namen des sogenannten Vern ersehen Gesetzes zusammengefaßten^).
Nach diesem Gesetze sind nämlich die eingetretenen Lautverschiebungen
in dem Sinne von der Betonung abhängig, daß die endgültige Ver-
schiebung eine andere ist, wenn in der Zeit, da die Differenzierung
der Laute erfolgte, die dem Verschlußlaut vorangehende, eine andere,
wenn die ihm nachfolgende Silbe betont war. In manchen Fällen
konnten dann diese Differenzierungen auch solche der Bedeutung
vermitteln. So gehen unsere beiden Wörter zeigen und zeihen (ver-
zeihen) wahrscheinlich auf ein und dasselbe indogermanische Wort
zurück, von dem auch lat. äico, griech. ö^Uwi^a herstammen. Im
Urgermanischen war der k-Laut, gemäß der zwischen Griechisch-
Lateinisch und Germanisch geltenden Lautvertretung, in eine Spirans
übergegangen. Im Althochdeutschen findet sich dagegen eine Spaltung
der Betonungen, der nun auch eine Spaltung der Verschlußlaute pa-
rallel geht. Der dem betonten Vokal folgende Konsonant ist tonlose
Spirans: dhan (zeihen), der dem betonten Vokal vorausgehende da-
gegen ist tönende Media: seigön (zeigen). Zahlreiche Beispiele dieser
konsonantischen Lautdifferenzierung infolge der Betonung finden
sich auch im Gotischen^). Ihre Entstehung fällt in eine Zeit, wo noch
^) Das Eintreten des exspiratorischen Akzents hat schon H. Hirt (Die
Indogermanen, 1905, Bd. 2, S. 616 Anm.) als das primitive Motiv der urgerma-
nisohen Lautverschiebung angenommen. Für die sich nunmehr anschließenden
weiteren Verschiebungen wird man aber gleichwohl, wie ich glaube, zum Tempo-
wechsel der Rede zurückgreifen müssen, während der von Hirt vermutete Einfluß
von Sprachmischimgen vorläufig jedenfalls noch in der Luft schwebt. Dieser
Einfluß als solcher wird aber offenbar in dem Maße zweifelhafter, als auf weit
abliegenden Sprachgebieten, wie z. B. in den afrikanischen Bantusprachen, Laut-
wandelvorgänge von gleicher Richtung wie im Germanischen nachzuweisen sind.
2) Vemer, Kuhns Zeitschr. f. vergl. Sprachwiss. XXIII, 1887, S. 97 ff.
Vgl. a. H. Paul, in Paul und Braune, Beiträge zur Geschichte der deutscheu
Sprache, VI, 1879, S. 538 ff.
3) Vgl. Kluge, Pauls Grundriß,^ I, S. 506 ff.
522 I^^r Lautwandel.
nicht, wie in den späteren germanischen Dialekten, der Akzent auf
der Stammsilbe des Wortes fixiert, sondern von wechselnder Lage
war. Durchweg induziert dabei der sinkende Ton eine Lockerung des
vorangegangenen Verschlusses, also stimmlose Spirans, umgekehrt
die steigende Betonung den tönenden Verschlußlaut, der durch den
festeren Verschluß die folgende stärkere Exspiration und gleichzeitig
durch die bereits in Schwingung versetzten Stimmbänder die nach-
folgende lautere Vokalisation vorbereitet. Demnach erscheint es un-
zulässig, den Vern ersehen Satz als ein Ausnahmegesetz anzusehen,
das die regulären Lautgesetze durchbreche. Könnte man doch ebenso-
gut die Tatsache, daß wir die harten Verschlußlaute im Anlaut ziem-
lich stark aspiriert sprechen, oder daß in den Umwandlungen der
tönenden Media mannigfache, von den umgebenden Lauten und der
Stellung im Wort abhängige Schwankungen vorkommen, als Aus-
nahmen bezeichnen. Jeder Lautwandel erfolgt unter den Bedingungen,
unter denen er steht, ausnahmslos. Diese Bedingungen sind aber
für keinen Laut völlig identisch, weil sich mit den relativ gleichför-
migeren Wirkungen der Geschwindigkeit der Rede, der äußeren Ein-
wirkungen und der Assoziationen verwandter Laute immer noch
mannigfach wechselnde Wirkungen des Kontakts und der Betonung
verbinden können. Darum bewegt sich jeder reguläre Lautwandel
innerhalb eines von der Komplikation der Bedingungen abhängigen,
mehr oder minder großen Spielraums, der sich, wie gerade das Ver-
nersche Gesetz zeigt, zu einer Divergenz der Laut- und Bedeutungs-
änderungen erweitern kann.
6. Zur Theorie des regulären Lautwandels.
a. Physische, psychophysische und psychische Hypothesen.
Die Versuche, den regulären Lautwandel zu erklären, bewegen
sich zwischen drei Möglichkeiten. Die erste .Hypothese führt ihn
auf allmählich eingetretene Änderungen der physischen Organisation
zurück, die entweder aus den eigenen Entwicklungsbedingungen
Zur Theorie des regulären Lautwandels. 523
des Organismus oder aus äußeren Natureinflüssen hervorgegangen
sein sollen. Die zweite stellt die psychophysischen Wirkungen der
Sprach- und Völkermischung in den Vordergrund. Eine dritte Gruppe
bringt ausschließlich psychische Ursachen, und zwar in der Regel
ästhetische und teleologische Motive, zur Geltung. Über die erste
physische Hypothese können wir hier kurz hinweggehen. Abgesehen
von ihrer Unbestimmtheit und von dem Umstand, daß es kaum mög-
lich erscheint, Tatsachen, die auf so abweichenden physischen Be-
dingungen beruhen, wie die Vokalkontraktionen und die Lautver-
schiebungen der Konsonanten, aus irgendeiner übereinstimmenden
physischen Ursache unmittelbar abzuleiten, weisen die Änderungen
der körperlichen Organisation, namentlich soweit sie die Artikula-
tionsorgane betreffen, überall zugleich auf psychophysische oder
psychische Ursachen zurück. Allem Anscheine nach macht sich dem-
nach diese Hypothese in den wesentlichsten Punkten einer Umkehrung
der Kausalität schuldig: die Sprachorgane haben sich zunächst der
Sprache angepaßt, also mutmaßlich auch die Änderungen der ersteren
denen der letzteren, und erst infolge der bei allen solchen Erscheinungen
stattfindenden Wechselwirkungen sind dann hinwiederum die Organe
für die erzeugten Laute bestimmend geworden. Die Hypothese der
Sprach- und Völkermischungen dagegen greift zweifellos ein wichtiges
Moment aller Sprachentwicklung heraus. Aber sie vermag es nicht
im geringsten wahrscheinlich zu machen, daß dieses Moment das
ausschließliche, oder daß es auch nur das hauptsächlich maßgebende
sei. Vielmehr gehen die wichtigsten und regelmäßigsten Erscheinungen,
wie der Wandel der Verschlußlaute, die Kontraktionen und Elisionen
am Ende des Wortes, wenigstens in sehr vielen Fällen unabhängig
von irgendwie nachweisbaren Mischungseinflüssen vor sich, und die
Hypothesen dieser Art operieren daher überall, wo ein direkter Einfluß
des Lautsystems einer Sprache auf das einer andern nicht nachzuweisen
ist, mit unerweisbaren Vermutungen. So gewinnt es denn durchaus den
Anschein, daß eben diese Einflüsse, wo nicht ausgeprägte Fälle der Ent-
stehung von Mischsprachen vorliegen, vornehmlich teils als auslösende
Ursachen, teils als begünstigende Bedingungen wirken : das erstere, indem
sie zu lange vorbereiteten Änderungen den Anstoß geben, das letztere,
indem sie die Ausbreitung bereits eingetreten er Änderungen unterstützen.
524 I^J* Lautwandel.
Wesentlicli anders verhält es sich mit den ästhetischen und
teleologischen Hypothesen. Sie gehen, ohne Rücksicht auf
irgendwelche äußere Bedingungen, auf die Erscheinungen des
Lautwandels selbst zurück und suchen der Vergleichung der ge-
wandelten Laute mit den ursprünglichen die treibenden Motive der
Vorgänge zu entnehmen.
Unter ihnen greift die ästhetische die nächstliegenden subjek-
tiven Motive bei der Beurteilung menschlicher Handlungen heraus.
AVenn jemand statt einer Sache eine andere bevorzugt, so sind wir
geneigt zu urteilen, diese habe ihm besser gefallen als jene. Eine solche
Bevorzugung braucht natürlich nicht als eine willkürliche betrachtet
zu werden; man kann sie ebensogut, im Hinblick auf die Allgemein-
heit der Vorgänge, als ein instinktives Handeln des ,, Volksgeistes''
auffassen. In diesem Sinne hat in der Tat Jakob Grimm das von ihm
entdeckte Gesetz der germanischen Lautverschiebung gedeutet. An
sich erscheint ihm — darin klingen romantische Einflüsse an — die
Lautverschiebung als eine ,, Barbarei und Verwilderung'', durch die
sich die Sprache von ihrer ursprünglichen ,, organischen Lautstufe"
losgesagt habe. Aber auf der andern Seite liegt ihm doch in dieser
Tat des ,, Sprachgeistes", deren sich „andere, ruhigere Völker ent-
hielten", ein bewundernswerter Zug, ,,der mit dem gewaltigen das
Mittelalter eröffnenden Vorschritt und dem Freiheitsdrang der Deutschen
zusammenhänge"^). Ganz im Geiste dieser Auffassung sah noch
G. Curtius in der Richtung jener Lautverschiebung von der Aspirata
hinweg zu der Media und Tenuis den Ausdruck der ,, Tatkraft" und
der ,, jugendlichen Rüstigkeit" der Germanen^). Doch dieser Versuch
scheitert schon an den Tatsachen: jenem vermeintlich mit größerer
Energie gepaarten Übergang in die Tenuis steht nicht nur die Um-
wandlung der letzteren in die Spirans, sondern auch die der Aspirata
^) J. Grimm, Geschichte der deutschen Sprache,* I, S. 292.
2) Curtius in Kuhns Zeitschrift für vergl. Sprachforschung, II, 1853, S. 33L
Fast genau mit dieser älteren Curtiusschen Ansicht kommt die neuerdings von
James Byrne (General Principles of the Structure of Language,^ II, 1892, p. 187 f.)
entwickelte überein; auch sucht dieser Autor die Umwandlung der Aspirata in
die Media dem gleichen Gesichtspunkt unt^rzuoixlnen.
/
Zur Theorie des regulären Lautwandels. 525
in die Media gegenüber. Hier ist aber im ersten Fall die Ermäßigung
des Verschlusses jedenfalls bestimmter ausgeprägt, als die sie etwa
begleitende Verstärkung des Atemstroms; vollends im zweiten Fall
bestellt die Veränderung in einer Abnahme statt in einer Zunahme
der Energie. So hat sich denn auch Curtius selbst später der teleo-
logischen Auffassung zugewandt. Ein anderer Versuch ästhetischer
Erklärung wurde von W. Scher er, allerdings unter wesentlicher Zu-
hilfenahme teleologischer Motive, gemacht. Indem er das Verlassen
des bis dahin geltenden Systems der Verschlußlaute als eine lässige
Funktionsweise der Sprachorgane deutet, bezieht er diese ,, Lässig-
keit" auf eine Abziehung der Aufmerksamkeit nach einer andern
Richtung. Eine solche Attraktion habe aber der Vokalklang aus-
geübt: „ihn verlangte man, daran ergötzte man sich, das andere war
gleichgültig". Diese Poesie der reinen Vokale besitze vor allem das
Althochdeutsche. Insbesondere die zweite Lautverschiebung glaubt
daher Scherer auf den „musikalischen Sinn" der Oberdeutschen zurück-
führen zu sollen ^). Doch der volltönende Klang ist den älteren Formen
der Sprache überhaupt eigen, dem Altindischen so gut wie dem Alt-
griechischen, und ob das Gotische, das die zweite Lautverschiebung
nicht mitgemacht hat, ihn weniger besitze als das Althochdeutsche,
darf man wohl bezweifeln. Der gesetzmäßige Lautwandel überhaupt
hat in seiner allgemeinen Entwicklung sicherlich nicht dazu geführt,
die Sprachen indogermanischer Abkunft musikalischer zu machen
— wie sich das vielleicht von den polynesischen Sprachen behaupten
läßt — , sondern eher zum Gegenteil dieses Erfolgs. Die Lautverschie-
bungen selbst scheinen aber im allgemeinen außerhalb dieser Ver-
änderungen zu stehen, die weit mehr durch die allmähliche Abschlei-
fung und Verkürzung der Wortformen, also durch Elimination von
Lauten, als durch die Wandlungen der Verschlußlaute herbeigeführt
werden.
Hiervon geht nun die teleologische Hypothese aus. Sie führt
auf die beiden oben bereits erwähnten angeblichen Triebe bequemer
Lautartikulation und Erhaltung bedeutsamer Unterschiede zurück
^) W. Scherer, Zur Geschichte der deutschen Sprache,* 1878, S. 151 ff.
526 Der Lautwandel.
(S. 376 ff.). Bei der besonderen Anwendung auf die regelmäßigen
Lautverschiebungen sind beide wieder von verschiedenem Erklärungs-
wert. Der erste, der Trieb nach Bequemlichkeit, ließe sich mit einem
gewissen Rechte verteidigen. Wenn nicht bei allen, so trifft es wenig-
stens bei mehreren der lautgesetzlichen Veränderungen zu, daß die
neuen Artikulationen leichter sind als die vorangegangenen. Aber
alle diese Erleichterungen haben doch in doppeltem Sinn eine bloß
relative Bedeutung: erstens kommt es überall auf die benachbarten
Laute an, in deren unmittelbarer Nähe sich der dem Wandel unter-
worfene befindet; und zweitens sind Betonung, Quantität, Rhythmus
und Geschwindigkeit der Aufeinanderfolge auf die größere oder ge-
ringere Leichtigkeit einer einzelnen Lautbewegung von entscheiden-
dem Einfluß. Wörter wie Tal, Pest, Kind sprechen wir aspiriert, T''al,
P^'est, KHnd, und es wird uns sehr schwer, sie unaspiriert zu sprechen ;
bei Wörtern wie Sfaß, Traube, Acker gelingt es kaum, die drei Laute
f, t, k deutlich zu aspirieren. Nach langem Vokal entsteht leichter
die Media, z. B. rab, täd, lag, dem kurz herausgestoßenen folgt die
Tenuis : rap, tat, Iah. So gibt es denn auch Laut Verbindungen, in denen
offenbar infolge derartiger Verhältnisse Laute unverändert blieben,
die sonst verschoben worden sind, wie z. B. die drei Verschlußlaute
in sf, st, sie — man vergleiche got. standan ahd. stdn ,, stehen", engl.
to spare ahd. spar ,, sparen" u. a. Auf diese Weise ist der Eintritt oder
Nichteintritt einer Lautverschiebung überall mitbestimmt durch die
Kontaktwirkungen der Laute. Insofern aber diese ihrerseits wieder
mitbestimmt sind durch die von ihnen bewirkte Erleichterung der
Artikulation, wird in der Tat die Annahme nahegelegt, daß diese
bei der Lautverschiebung eine wichtige Rolle spielt. Eine andere
Frage ist es jedoch, ob diese Erleichterung als Wirkung eines ,, Triebes
nach Bequemlichkeit" bezeichnet werden darf. Macht doch der Laut-
wandel gerade da, wo er unzweifelhaft die Artikulation erleichtert,
den Eindruck eines mit mechanischer Notwendigkeit und nicht unter
der Wirkung irgendeines bewußten oder selbst unbewußten ,,Strebens"
sich vollziehenden Vorgangs. Dieser Ausdruck schließt eben unver-
meidlich irgendein Willensmoment ein, von dem hier nirgends die
Rede sein kann. Vollends ist die zur Ergänzung jenes angeblichen
Triebes herbeigezogene Hypothese des ,,Strebens nach Erhaltung
Zur Theorie des regulären Lautwandels. 527
^ö
bedeutsamer Unterschiede" unhaltbar. Denn hier ist schon der Aus-
gangspunkt unzutreffend, nach welchem ein bestimmter Verschiebungs-
vorgang, und zwar derjenige, der dem ursprünglichen Motiv der Be-
quemlichkeit am meisten unterworfen war, überall der primäre ge-
wesen sei, worauf dann die' weiteren Verschiebungen deshalb eintreten
sollen, weil sonst eine allzu große Anhäufung von Lauten einer Klasse
entstünde. So meinte Grimm, das erste sei gewesen, daß sich die tö-
nende Media zur tonlosen Tennis ,, verdünnt'', worauf sich durch die
weiteren Verschiebungen erst wieder das ,, richtige Verhältnis der
Laute" habe herstellen müssen. Curtius verlegte jenen ersten Schritt
in die Abschwächung der aspirierten Verschlußlaute, um dann die
übrigen Verschiebungen dem Gesichtspunkt der zweckmäßigen Laut-
verteilung unterzuordnen. Max Müller behauptete, bei den ger-
manischen Stämmen sei, als sie in den Verschiebungsprozeß ein-
traten, noch eine Erinnerung an die dreifachen Verschlußlaute
ihrer arischen Vorfahren erhalten geblieben, und sie seien daher
bemüht gewesen, ,,so gut wie möglich diesem dreifachen Anspruch
zu genügen"^). Hier wird also gar das Differenzierungsbedürfnis
damit motiviert, daß den Urgermanen die Fähigkeit der Ver-
gleichung mit dem vor Beginn der Verschiebung vorhandenen Laut-
system zugeschrieben wird.
Nun ist jede einzelne Lautverschiebung insofern notwendig ein
unabhängiger Vorgang, als es keine geben kann, die erst durch die
absichtliche Vergleichung mit andern Veränderungen veranlaßt wäre.
Der gesetzmäßige Zusammenhang aller dieser einzelnen Verschiebun^s-
akte spricht aber zugleich dafür, daß es wesentlich übereinstimmeade
Ursachen Avaren, unter denen sie erfolgten. Doch die eintretende
Wirkung ist überall von den begleitenden Bedingungen abhängig.
Abweichende Bedingungen ergaben sich nun bei einem und dem-
selben Laut je nach seinen Verbindungen mit andern Lauten. So
erklärt sich die Reihe der durch den Kontakt der Laute begründeten
Variationen. Eine übereinstimmende Natur der Ursachen wird daher
^) „Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache"^ (1866, lt. S. 194),
neueste Auflage (1893, IT, S. 224).
528 Der Lautwandel.
trotz solcher Verschiedenheit offenbar dann vorauszusetzen sein,
wenn diese Wirkungen gleichwohl übereinstimmende Richtungen
erkennen lassen; und den Grund solcher übereinstimmender Rich-
tungen wird man wieder am wahrscheinlichsten in Bedingungen suchen
dürfen, die uns heute noch fortwährend in gewissen allmählich er-
folgenden Lautänderungen entgegentreten. Hier spielen aber, wie
ims sowohl die Erscheinungen des Versprechens wie die unserer Beobach-
tung erreichbaren singulären Lautänderungen der Sprache gelehrt
, haben, ästhetische oder teleologische Motive nirgends eine nennens-
werte Rolle, sondern die Erscheinungen sind überall notwendige Folgen
psychophysischer Bedingungen, die im allgemeinen gänzlich außerhalb
der Sphäre willkürlicher Beurteilung und Beeinflussung liegen.
b. Der reguläre Lautwandel als resultierende Wirkung
singulärer Lautänderungen.
Sucht man sich über die Gründe Rechenschaft zu geben, aus
denen die ästhetische und teleologische Theorie der regulären Laut-
änderungen, jede für sich allein und beide in ihrer Verbindung, ge-
scheitert sind und notwendig scheitern mußten, so liegen diese nicht
bloß in der mangelhaften Reflexionspsychologie, mit der sie operier-
ten, sondern noch in einem allgemeineren erkenntnistheoretischen
Fehler, der freilich selbst mit jener Reflexionspsychologie eng ver-
bunden ist. Er besteht kurz gesagt darin, daß man generelle Erschei-
nungen aus zufälligen individuellen Motiven abzuleiten sucht; und er
hängt zugleich mit der oben (S. 408) schon charakterisierten Hypo-
these zusammen, nach der jede generelle Erscheinung zuerst einmal
in irgendeinem Individuum entstanden sei und sich dann auf dem
Wege der Nachahmung weiter verbreitet habe. Demgegenüber liegt
jenen Hypothesen, die diese Vorgänge aus Veränderungen der Natur-
bedingungen oder aus Völkerwanderungen und Sprachmischungen
ableiten wollen, immerhin der richtige Gedanke zugrunde, daß all-
gemeine Wirkungen insgemein auch allgemeiiie Ursachen voraus-
setzen. Aber obgleich es wahrscheinlich ist, daß die genannten Mo-
Zur Theorie des regulären Lautwandels. 529
mente nicht selten von mitwirkendem Einfluß sind, so erweisen sie
sich doch der Kegelmäßigkeit und allgemeinen Übereinstimmung
der Erscheinungen gegenüber als unzulänglich. Dazu kommt, daß
man auch hier für die Gesamtheit dieser Phänomene eine einzige Ur-
sache oder mindestens eine fest bestimmte Kategorie von Ursachen
voraussetzt. Dieses Streben nach einem einzigen, allgemeingültigen
Erklärungsgrund hat seine Quelle in einem Vorurteil, das in der häufig
gebrauchten Bezeichnung ,, selbständiger Lautwandel" seinen Aus-
druck findet. Indem man diesen zu dem ,, abhängigen" oder ,, kom-
binatorischen" in einen Gegensatz bringt, verbindet sich damit die
Vorstellung einer totalen Verschiedenheit beider Formen, derart, daß
von den Ursachen, die den kombinatorischen Wandel bestimmen,
bei dem selbständigen nicht die Rede sein könne. Vollends gilt bei
diesem die Mitwirkung assoziativer Einflüsse, wie sie in den Fertie-
wirkungen hervortreten, um so mehr als ausgeschlossen, weil solche
nicht selten die Wirkungen des regelmäßigen Lautwandels aufheben
können. So gilt denn dieser als die eigentliche Norm. Der Ausdruck
„Lautgesetze" wird nur auf ihn, auf sonstige Lautänderungen höchstens
widerstrebend angewandt, um den fatalen Begriff der ,, Ausnahme"
zu vermeiden. Jener „selbständige" Lautwandel soll aber, wie das
Wort andeutet, den einzelnen Laut als solchen, ganz unabhängig
von den Laut Verbindungen, in denen er steht, und natürlich auch von
allen assoziativen Einflüssen ergreifen.
Nun kommen Einzellaute, wie sie hier als Objekte einer selb-
ständigen Änderung vorausgesetzt werden, in der wirklichen Sprache
natürlich nicht vor. Sie sind im Grunde genommen nur Abstrak-
tionen des Grammatikers oder Phonetikers. Da jeder Laut nur in
mancherlei Verbindungen mit andern Lauten existiert, so kann er
auch nur in diesen Verbindungen Wandlungen erfahren. Damit wird
es von vornherein höchst unwahrscheinlich, daß ein solcher Wandel,
von allen begleitenden Lauten unabhängig, nur in dem isoliert ge-
dachten Einzellaut selbst sein Objekt haben sollte. In der Tat zeigt
auch die Beobachtung, daß dies niemals der Fall ist, und daß man
nur dadurch zu dem Begriff eines „unabhängigen" Lautwandels ge-
langen konnte, weil man von mehr oder minder erheblichen Unter-
schieden der Laute, die nachweislich von ihrem Zusammenhang mit
Wo n dt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. 34
530 Der Lautwandel.
andern herrühren, abstrahierte. Die Belege hierzu sind uns oben überall
begegnet. Nicht anders steht es mit den Vokalen, die wieder teils
von den vorangehenden, teils aber und namentlich von den nachfolgen-
den Konsonanten, endlich von der Betonung in ihrer Klangfarbe
und Tonhöhe bestimmt sind, wobei die letzteren Verhältnisse ebenso
mit den Motiven der Affekterregung wie mit denen assoziativer Ein-
übung zusammenhängen. Diese Momente in ihrer Vereinigung be-
dingen es dann, daß Akzent und Tonfall zu einer gegebenen Zeit,
neben fortwährenden leiseren, von der momentanen Gefühlslage und
dem spezifischen Inhalt des Gesprochenen abhängigen Schwankungen,
eine gewisse Kegelmäßigkeit zeigen, daß sie sich aber innerhalb län-
gerer Zeiten oder unter dem Einfluß sonstiger starker Veränderungen
der Sprache fortwährend wandeln. Hier erhebt sich eben überall
auf der Basis des durch assoziative Gewöhnung stabil gewordenen
Besitzes ein Strom beweglicher Einflüsse, die dem Ausdruck seine
dem singulären Fall entsprechende Färbung geben.
Nach allem dem ist der reguläre Lautwandel kein Vorgang, der
eine fest bestimmte frühere Lautform mit einer ebenso bestimmt
zu fixierenden späteren stetig verbindet. Seinen Anfang wie sein
Ende bildet, wenn er noch so regulär verläuft, kein einzelner Laut,
sondern ein Spielraum von Lautbildungen, wobei die im einzelnen
Fall wirklich vorhandene jeweils von den besonderen Bedingungen
der Lautumgebung und der Betonung abhängt. Und wie Anfang
und Ende, so sind alle zwischenliegenden Stationen durch Lautformen
bezeichnet, die sich innerhalb eines mehr oder weniger breiten Inter-
valls feinerer Lautwandlungen bewegen. Nun ist jede Variation, die
ein Laut innerhalb eines solchen Spielraums erfährt, nachweislich
von den singulären Bedingungen abhängig, denen er hierbei begegnet,
also vom Kontakt mit andern Lauten, von assoziativen Fernewir-
kungen, durch die verwandte oder ähnliche Wort- und Lautformen
angleichend aufeinander einwirken, und endlich von den Verhält-
nissen der Betonung. Jener Spielraum selbst ist also im einzelnen
Fall eine Funktion der Einflüsse, die der singulare Lautwandel mit
sich führt; der Laut ist in dieser ihm eigenen Variabilität selbst nichts
anderes als ein Produkt der Wirkungen, welche die Ursachen des
singulären Lautwandels auf ihn ausüben. Mit dieser Abhängigkeit
Zur Theorie des regulären Lautwandels. 531
der Schwankungen des regulären Lautwandels vom singulären hängt
noch eine weitere, durch die Erfahrung bestätigte Beziehung beider
zusammen. Es ist selbstverständlich, daß alle die psychophysischen
Einflüsse, die auf die Erscheinungen des singulären Lautwandels ein-
wirken, auch den regulären nicht unberührt lassen können. Nun sind
jene Einflüsse bei den beiden Hauptformen des ersteren, den Kon-
takt- und den Fernewirkungen, wieder von wesentlich abweichender,
wenn auch in gewissen Grundmotiven psychophysischer Entwicklung
übereinstimmender Art. Bei den Kontaktwirkungen, vor allem bei
den innerhalb der bekannteren Kultursprachen eine so große Rolle
spielenden regressiven Assimilationen, wirkt als nächstes, seinerseits
wieder vornehmlich von psychischen Bedingungen abhängiges Moment
die Beschleunigung des Redeflusses. Diese Ursache ist hier deshalb
so zwingend, weil wir den ganzen Vorgang in der Regel ohne weiteres
experimentell nachahmen können: die meisten Kontaktwirkungen
treten sofort ein, wenn wir, von einem ihnen vorausgehenden Laut-
stadium ausgehend, die Artikulation beschleunigen. Dazu kommen
noch die Wirkungen der Betonung, die sich mit denen der Beschleu-
nigung komplizieren. Nun muß natürlich jeder Einfluß, der die Kon-
taktwirkungen verändert, auch den Spielraum der Artikulationen,
innerhalb deren sich der reguläre Lautwandel bewegt, verändern,
und zwar nicht bloß in seinem Umfang, sondern vor allem darin, daß
er die Lage des Intervalls verschiebt, in welchem sich die um einen
bestimmten mittleren Normallaut gruppierten Variationen bewegen.
Der reguläre Lautwandel selbst ist also nicht bloß in den von beson-
deren Bedingungen abhängigen Schwankungen, sondern in seiner
eigenen Bewegung von den gleichen Ursachen abhängig, die den sin-
gulären bestimmen. Nur kommen bei ihm noch die aus dem Verkehr
und den Wanderungen der Völker entspringenden äußeren Bedingungen
hinzu, die auf den Eintritt der bereits vorbereiteten Wandlungen
teils als auslösende Kräfte wirken, teils aber auch in der Aufnahme
fremden Sprachguts und in dem durch den Sprachenkontakt ver-
mittelten Wechsel der Betonung die andern Wirkungen verstärken,
modifizieren oder unter Umständen wohl auch kompensieren können.
Wie der Kontakt der Laute, so kann die assoziative Fernewirkung
derselben, sobald sie in zahlreichen singulären Fällen übereinstimmende
34*
532 Der Lautwandel.
Lautänderungen herbeiführt, auf den regulären Lautwandel nicht
ohne Einfluß bleiben. Doch ist dieser Einfluß, wie in seinen Ausgangs-
punkten, so in seinen Erfolgen ein wesentlich anderer. Während bei
den Kontaktwirkungen der Mechanismus der Artikulation das nächste,
der psychische Mechanismus des Vorstellungs- und Affektverlaufs
nur das entferntere Moment abgibt, geht die assoziative Fernewirkung
direkt auf diesen Verlauf zurück. Darum nehmen die Assoziations-
einflüsse mit wachsender geistiger Beweglichkeit ebenso zu wie die
Kontaktwirkungen. Aber sie gehen nach einer andern Richtung.
Wirken die Lautkontakte differenzierend, indem sie jeweils die
einzelne Lautqualität den spezifischen, durch die Umgebung bestimm-
ten Artikulationsbedingungen anpassen, so wirken umgekehrt die
Lautassoziationen uniformierend, indem sie solchen Lautgruppen
und Einzellauten, die durch häufigen Gebrauch in höherem Maß ein-
geübt sind, mehr und mehr das Übergewicht verschaffen über andere,
seltenere. Direkt nachweisen läßt sich diese Wirkung da, wo solche
Lautangleichungen in die Wortbildung eingreifen und entweder ein-
zehie Abweichungen oder, wenn diese sich häufen, schließlich neue
Bildungsformen verursachen, wie uns das bei den früher erörterten
Beispielen assoziativer Fernewirkungen entgegentrat (S. 453 ff.).
Übrigens werden naturgemäß solche Assoziationen und daraus ent-
springende Lautangleichungen auch da stattfinden, wo sie sich nicht
ohne weiteres in der Umwandlung früher bestandener Flexionsformen
oder in der offenkundigen Anlehnung eines bestimmten Wortes an
ein anderes zu erkennen geben. Insbesondere können diese Ferne-
w^rkungen im Zusammenhange mit den Einflüssen der Lautkontakte
in doppeltem Sinne wirksam sein. Erstens muß eine durch Laut-
kontakt bewirkte Änderung der Artikulation um so mehr, je häufiger
sie sich wiederholt, den gesamten Zustand der Sprachorgane und da-
mit die Artikulationsbasis, die jede Lautgebung bestimmt, beeinflussen.
Zweitens übt jeder häufig wiederholte Laut eine assoziative Wirkung
aus, die zu seiner Wiederholung disponiert, so daß ein anderer, bis
dahin verschiedener ihm angeglichen wird. Nimmt man nun diese
uniformierende mit jener differenzierenden Wirkung der Lautkontakte
und wechselnden Betonungsverhältnisse zusammen, so bietet sich
für die Entstehung irgendwelcher mehr oder minder regulärer Laut-
Zur Theorie des regulären Lautwandels. 533
änderungen das folgende Bild. Unter den Kontaktwirkungen der
Laute wirken solche, die sich in einer großen Zahl von Fällen wieder-
holen, auf den Artikulationsmechanismus in ihrem Sinn umbildend
zurück, und sie wirken außerdem assoziativ auf verwandte Laute,
zunächst wenn sich diese in ähnlichen, dann aber auch, wenn sie sich
in etwas abweichenden Verbindungen befinden. Auf diese Weise bildet
sich allmählich aus einer Reihe von Fällen singulärer Lautänderungen
ein regulärer Lautwandel, der in dem Spielraum, den er den Einflüssen
von Kontakt und Betonung im einzelnen Falle läßt, immer noch die
Spuren seines Ursprungs an sich trägt. Die Richtungen, in denen sich
der so entstandene Lautwandel bewegt, sind aber wieder unter sich
um so übereinstimmender, je mehr die Ausgangspunkte dieser Ver-
änderungen, die einzelnen Kontaktwirkungen, aus einer überein-
stimmenden Ursache entspringen. Eine solche ist nun vor allem in
der mit wachsender Kultur zunehmenden Sprachübung und in der
hiermit zusammenhängenden Beschleunigung der Artikulation gegeben.
Für die Art wie, und insbesondere für die Zeitpunkte, wo solche
Änderungen hervortreten, ist jedoch stets zugleich eine Fülle äußerer
Bedingungen von bestimmendem Einfluß. Hier scheinen teils plötz-
liche Völkerbewegungen, teils Berührungen mit andern Dialekten
oder Sprachen als auslösende Kräfte zu wirken. Dabei ist es stets
die junge, durch festgefügte Assoziationen weniger gebundene Gene-
ration, die sich den neuen Einflüssen zugänglicher zeigt.
So stellt sich der Lautwandel überhaupt schließlich als ein in
allen seinen Erscheinungen zusammenhängender psycho-
physischer Vorgang dar. Wohl steht dieser Vorgang unter einer
Fülle mannigfach ineinander greifender Bedingungen, die die Schnellig-
keit der Veränderungen, ihre Intermissionen und dann wieder ihre oft
plötzlichen Fortschritte veranlassen mögen. Aber die durchgreifenden
Ursachen selbst sind nicht für die eine Gruppe von Erscheinungen
diese, für eine andere jene, sondern, wie die Sprache selbst ein organisches
Ganzes ist, so ist sie auch in allen ihren Teilen, in ihren begrenzteren
wie in ihren umfassendsten Wandlungen von dem gleichen Strom der
Entwicklung beherrscht, der sie als die nächste Ausdrucksform des
geistigen Lebens der Gemeinschaft in ihrem ganzen Sein, nach Laut
wie Begriffsinhalt, ergreift. Die entscheidenden Einflüsse sind dabei
534 Der Lautwandel.
die Kultur einflüsse, wie sie sich nicht zum geringsten Teil in der Be-
weglichkeit der Vorstellungen und Gefühle und in dem Reichtum und
der zunehmenden Erleichterung der Gedankenverbindungen äußern.
Diese psychischen Wandlungen wirken naturnotwendig zurück auf
das ursprünglichste Organ des psychischen Lebens, auf die Sprache;
und sie wirken zunächst auf einzelne, der Veränderung durch geringere
Widerstandskraft leichter zugängliche Punkte. Solche Punkte sind
jene Verkettungen der Artikulationsbewegungen, die dem über sie
weggleitenden Redestrom, sobald sich dieser beschleunigt, besondere
Schwierigkeiten bieten, indes zugleich der Lauf der Vorstellungen
der Trägheit der Bewegung vorauseilt: hierdurch entstehen als die
mutmaßlichen Ausgangspunkte aller Veränderungen die Kontakt-
wirkungen der Laute. Sie bilden dann die Herde, von denen aus sich
die einmal eingeleiteten Wandlungen durch die allezeit rege assoziative
Verkettung der Worte und Laute und durch die langsamer folgende
Umbildung der Artikulationsorgane weiter ausbreiten. Daneben
greifen dann in diese Vorgänge noch die spezielleren, von Ort zu Ort
und Von Zeit zu Zeit veränderlichen Bedingungen ein, unter denen
der Wechsel der Betonung, insbesondere die Verdrängung der ur-
sprünglich vorwiegenden Tonmodulation durch die dynamische Be-
tonung die Hauptrolle spielt. Dieser letztere Vorgang scheint aber
auf zwei Einflüsse zurückzugehen: auf einen spontanen, seinerseits
vielleicht wieder aus den ursprünglichen Kontakteinflüssen und den
Veränderungen des Tempos der Rede hervorgehenden Übergang zu
dynamischer Akzentuierung, und auf die Berührung verschiedener
Sprachgebiete, bei der durchgängig die dynamische Betonung obsiegt.
Indem ein solcher Wechsel der Betonung abermals verändernd auf
die Laute einwirkt, kann er neue Lautinduktionen hervorbringen,
die infolge der an sie sich anschließenden assoziativen Fernewirkungen
eine mehr oder minder weite Ausbreitung gewinnen. So bildet hier,
wie überall, nicht das Reguläre, sondern das Singulare den Anfang.
Dieses Singulare ist aber kein individueller, an einem Individuum zu-
fällig einmal sich ereignender Vorgang, sondern es ist eine einzelne,
durch einen bestimmten Lautkontakt oder durch eine spezielle Asso-
ziation ausgelöste Veränderung, die, weil die Bedingungen überall
zu ihr bereit liegen, in unzähligen Fällen unabhängig sich wieder-
Zur Theorie des regulären Lautwandels. 535
holen kann. Noch weniger ist es eine Ausnahme, die eine über allen
einzelnen Erscheinungen schwebende universelle Gesetzmäßigkeit
störend unterbricht. Vielmehr ist das Reguläre selbst nichts anderes
als eine Reihe übereinstimmender Vorgänge, die aus einer Fülle sin-
gulärer Bedingungen als Resultante hervorgeht.
Diese Auffassung bestätigt sich denn auch darin, daß uns die
Erscheinungen des regulären Lautwandels in ihrer ausgeprägtesten
Gestalt in den Sprachen der Kulturvölker entgegentreten. Bei ihnen
haben offenbar die aus den allgemeinen Kultureinflüssen hervor-
gehenden psychophysischen Ursachen, abgesehen von den in solchen
Entwicklungen überall vorkommenden Intermissionen, am dauernd-
sten eingewirkt; und zugleich haben hier die fortwährend dazwischen-
tretenden neuen singulären Wirkungen an dem Zusammenhalt der
Sprachgemeinschaft eine gewisse Schranke gefunden. Je tiefer die
Kulturstufe, um so mehr überwuchern dagegen die singulären über
die regulären Lautänderungen, so daß schließlich bei den zersprengt
lebenden wilden Stämmen, wie den brasilianischen Waldindianern,
fast jede Horde ihre besonderen Lautabweichungen zeigt.
Ist diese Auffassung die richtige, so hat nun freilich diejenige
Betrachtungsweise, mit der man zuerst den Erscheinungen des Laut-
wandels gegenübertrat, ihre völlige Umkehrung erfahren. Dennoch,
so merkwürdig sich diese Umkehrung auf den ersten Blick ausnehmen
mag, so leicht verständlich, ja selbstverständlich ist sie. Abgesehen
von vereinzelten Fällen assimilativer Kontaktwirkungen relativ späten
Ursprungs, die der Aufmerksamkeit nicht leicht entgehen konnten,
mußten sich naturgemäß die regulären Erscheinungen des Laut-
wandels am frühesten der Beachtung aufdrängen. Sie wurden daher
als eine alles beherrschende Gesetzmäßigkeit betrachtet; und wo
sich nun Fälle darboten, die sich solcher Gesetzmäßigkeit entzogen >
da erschienen sie als Ausnahmen, die jedesmal aus besonderen Ur-
sachen abzuleiten seien. So entstand der Begriff der ,, falschen" Ana-
logien, nach dem alle diese Fälle gewissermaßen als Entgleisungen
erschienen, die aus bösem Beispiel hervorgehen sollten. Nun war es
freilich von Anfang an merkwürdig, daß man zwar diese singulären
Ausnahmen meist mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf be-
stimmte psychophysische Ursachen zurückführen konnte, daß dagegen
536 ^^^ Lautwandel.
der Ursprung der regulären Veränderungen völlig im Dunkeln blieb.
Wo man sich je einmal in hypothetischer Weise über diesen Ursprung
Rechenschaft gab, da waltete dann begreiflicherweise das Streben,
sie eben wegen ihrer Regelmäßigkeit auf eine einzige Ursache zurück-
zuführen, indes für die singulären Veränderungen bereitwillig eine
Komplikation mannigfacher Einflüsse zugestanden wurde. Die nähere
Untersuchung hat uns gezeigt, daß gerade das Gegenteil richtig ist.
Die Kontakterscheinungen und die assoziativen Fernewirkungen
sind nur deshalb der Nachweisung ihrer Ursachen zugänglicher, weil
sie unter verhältnismäßig einfacheren Bedingungen stehen. Bei dem
regulären Lautwandel ist es dagegen die Komplikation der Bedingungen,
die durch die Interferenz zahlreicher bald in gleichem, bald in ab-
weichendem Sinne wirkender Ursachen Resultanten erzeugt, die in
vielen Fällen trotz einzelner entgegenstehender Sonderwirkungen
von im ganzen übereinstimmendem Charakter bleiben. So kommt es,
daß die fundamentalen Ursachen des Lautwandels zunächst nicht
aus den regulären Erscheinungen, bei denen die Komplikation der
Bedingungen viel zu groß ist, sondern mit annähernder Vollständig-
keit nur aus den singulären ermittelt werden können.
Allgemeiner Rückblick auf die Vorgänge des Lautwandels. 537
VII. Allgemeiner Rückblick auf die Vorgänge
devS Lautwandels.
Als die neuere Sprachwissenschaft zuerst es unternahm, die Vor-
gänge des Lautwandels bestimmten Gesetzen unterzuordnen, da
suchte sie, geleitet durch die verbreiteten Vorstellungen von der All-
gemeingültigkeit der Naturgesetze und von der Zufälligkeit alles psy-
chischen Geschehens, jene Gesetze vor allen Dingen als physische
nachzuweisen. So entstanden zwei Voraussetzungen, die für die Inter-
pretation der Tatsachen bestimmend wurden. Die erste bestand darin,
daß physische und psychische Bedingungen des Lautwandels streng
zu sondernden Gebieten angehörten, und daß daher das physisch
Bedingte ebensowenig eine psychologische wie umgekehrt das psy-
chisch Bedingte eine physiologische Deutung zulasse. Die zweite
Voraussetzung war, daß nur auf physischem Gebiet eine strenge und,
soweit nicht eben psychische Einflüsse dazwischen kämen, eine aus-
nahmslose Gesetzmäßigkeit herrsche, während auf psychischer Seite
eine solche nicht zu finden, hier vielmehr alles von Laune und Zufall
abhängig sei.
Die zweite dieser Voraussetzungen ist, wie wir sahen, innerhalb
der Sprachwissenschaft selbst schon allmählich wankend geworden.
In dem Maß, als gerade die psychisch bedingten Lautänderungen
die Aufmerksamkeit fesselten, begann die Erkenntnis durchzudringen,
daß auch sie auf gewisse Gesetze zurückzuführen seien. Dagegen
bleib die erste Annahme im ganzen bestehen, und unter ihrer Herrschaft
mußte sich ein Wertunterschied der Vorgänge behaupten. Wie die
psychologischen Assoziationsgesetze an bindender Kraft hinter den
Naturgesetzen zurückstehen, so meinte man und meint man vielfach
noch heute den rein physiologischen Lautänderungen einen gewissen
Vorzug einräumen zu müssen.
Dieser ganzen Betrachtungsweise wird nun schon dadurch der
Boden entzogen, daß die psychologische Analyse der einzelnen Formen
des Lautwandels den Begriff eines rein physisch bedingten, also
unter Ausschluß aller und jeder psychischen Momente eintretenden
Wechsels überhaupt als einen innerlich unmöglichen zurückweisen
538 D^r Lautwandel.
muß. Der Mensch ist so wenig ein reines Naturobjekt, wie er ein rein
geistiges Wesen ist, sondern er ist beides zugleich, ein psychophysischer
Organismus; und im Umkreis seiner Funktionen ist es wieder be-
sonders die Sprache, die in allen ihren Eigenschaften den Charakter
einer doppelseitigen Funktion an sich trägt. Anzunehmen, daß es
irgendeinen allgemeineren sprachlichen Vorgang gebe, der aus rein
physischen, oder einen andern, der ebenso aus rein psychischen Be-
dingungen erfolgt sei, das ist daher eine Vorstellung, die von vorn-
herein unter dem Verdacht einer willkürlichen Abstraktion steht.
Gewiß kann eine solche unter Umständen nützlich oder für gewisse
Zwecke vorübergehend notwendig sein. Nur darf man nicht den aus-
nahmsweise zulässigen Standpunkt für die vollständige Auffassung
der Sache halten und ihn auch da noch anwenden, wo es sich um eine
erschöpfende Ermittelung der Bedingungen handelt. In diesem Fall
ist vielmehr daran festzuhalten, daß die Sprache im ganzen wie in
allen ihren Bestandteilen eine psychophysische Funktion ist, und daß
es daher streng genommen keine einzelne Erscheinung, viel weniger
ein ganzes Erscheinungsgebiet in ihr geben kann, das nur physisch
oder nur psychisch zu erklären wäre. Hierbei ist es natürlich nicht
ausgeschlossen, daß unserer Beobachtung bald die eine Seite der Vor-
gänge, bald die andere zugänglicher ist, oder daß wir hier wie dort
nicht selten auf mehr oder minder wahrscheinliche Vermutungen
angewiesen bleiben.
Ist der Lautwandel im allgemeinen psychophysisch bedingt, so
ist aber damit nicht gesagt, daß auch das Verhältnis der physischen
zu den psychischen Ursachen bei ihm überall das nämliche sei. Viel-
mehr sind es gerade die in dieser Beziehung nachweisbaren Unter-
schiede, mit denen die wesentlichen Eigentümlichkeiten der einzelnen
Formen des Lautwandels zusammenhängen. Dabei wird jedoch, dem
streng empirischen Standpunkt entsprechend, den diesen Problemen
gegenüber die sprachgeschichtliche wie die psychologische Betrachtung
einzunehmen hat, niemals auf irgendwelche hypothetisch anzunehmende
Parallel Vorgänge zurückzugehen sein, sondern wir können hier die
Begriffe des Physischen und des Psychischen durchaus nur in dem
Sinn anwenden, in dem jeder dieser beiden Beständteile der Erfahrung
entweder direkt in der Beobachtung gegeben oder aus empirisch ge-
Allgemeiner Rückblick auf die Vorgänge des Lautwandels. 539
gebenen Tatsachen zu erschließen ist. So betrachtet scheinen sich
nun der reguläre stetige Lautwandel oder das Gebiet der gewöhnlich
so genannten „Lautgesetze" und jene „assoziativen Fernewirkungen",
bei denen sich teils die Laut- teils die Begriffselemente der Wörter
beeinflussen, am ehesten als Gegensätze gegenüberzustehen. Bei
dem regulären Lautwandel tritt die physische Seite des Prozesses
in den Vordergrund, die psychischen Bedingungen bleiben im Dunkeln.
Bei den mannigfachen Vorgängen der ,,Angleichung" dagegen er-
scheint diese selbst unmittelbar als ein Resultat psychischer Asso-
ziationen. Beide Momente durchdringen sich endlich in einer Ver-
kettung anscheinend simultaner Wechselwirkungen bei den Kon-
taktwirkungen der Laute, die einerseits durch die Regelmäßig-
keit, mit der unter ähnlichen Bedingungen der Lautkombination
ähnliche Wirkungen eintreten, anderseits durch die sichtliche Be-
teiligung von Lautassoziationen eine Art Mittelglied zwischen den
andern Formen des Lautwandels bilden. Bei allem dem bleibt aber
zu beachten, daß die Bedingungen, die sich für unsere Analyse in eine
Sukzession bestimmter Akte auflösen, in der Wirklichkeit wegen der
Zusammensetzung der Erscheinungen aus einer Menge elementarer
Wirkungen einen einzigen, in jedem Augenblick aus verschieden-
artigen Gliedern gebildeten psychophysischen Vorgang bilden. Das
zeigt sich schon bei den anscheinend am meisten auf die physische
Seite fallenden Wortassimilationen, wo das entstehende Produkt
freilich in hohem Maße von den disponiblen Vorstellungselementen,
gleichzeitig aber doch auch von der einem bestimmten Lautsystem
und bestimmten Wortgebilden angepaßten Artikulationsübung ab-
hängig ist. Das zeigt sich dann in anderer Weise vor allem beim re-
gulären Lautwandel, in den überall Kontaktwirkungen und Laut-
assoziationen modifizierend eingreifen, und der schließlich auch in
seinen nicht direkt auf solche zurückzuführenden Erscheinungen
mit den nämlichen Bedingungen wie diese, nämlich in erster Linie
mit dem Tempo der Rede und den Verhältnissen der Betonung zu-
sammenhängt. Damit erweist sich schließlich der reguläre Laut-
wandel selbst nicht als ein spezifischer Vorgang, sondern als eine Reihe
von Erscheinungen, in denen sich eine Gesamtheit singulärer Be-
dingungen zu resultierenden Wirkungen verbindet.
540 Der Lautwandel.
Demnach bilden die verschiedenen Vorgänge des Lautwandels
ein einheitliches psycho-physisches Geschehen, das nur je nach der
Ordnung und Verknüpfung seiner einzelnen Momente, und je nach-
dem diese einer entfernteren Vergangenheit oder einer uns in ihren
psychischen Motiven noch zugänglicheren Stufe der Sprachentwick-
lung angehören, verschiedene Formen annimmt.
Fünftes Kapitel
Die Wortbildung.
I, Psychophysische Bedingungen der Wortbildung.
1. Zentrale Störungen der Wortbildung.
Die Frage nach der Beteiligung physischer und psychischer Fak-
toren an den Funktionen der Sprache, die bei der Betrachtung der
Formen des Lautwandels eine so wichtige Rolle gespielt hat, ist auch
für das Problem der Wortbildung von hervorragender Bedeutung.
Und mehr noch als dort sind hier im Laufe der Zeit Wandlungen der
Anschauungen eingetreten, die in diesem Fall um so bemerkenswerter
sind, weil sie nicht von irgendwelchen philosophischen Richtungen
oder sprachwissenschaftlichen Hypothesen, sondern von Tatsachen
der Beobachtung ausgingen. Diese Tatsachen sind zunächst auf dem
Gebiete der Pathologie der Sprachstörungen gewonnen worden.
Waren dereinst Sprachwissenschaft und Psychologie dahin über-
eingekommen, dem Sprachlaut, als einer ursprünglich unter der
Wirkung irgendwelcher Gefühle oder Affekte entstehenden Ausdrucks-
bewegung, eine halb physische halb psychische Bedeutung zuzu-
schreiben, so verhielt sich dies wesentlich anders mit dem Wort.
Dieses, als Ausdruck eines Begriffs, fiel, so schien es, so gut wie der
Begriff selber, ganz auf die psychologische Seite. Das Wort bedürfe
zwar, so dachte man sich, der physischen Hilfsmittel der Lauterzeugung ;
aber das Wort als solches sei doch nicht minder ein geistiges Erzeug-
nis, wie Begehren und Wollen psychische, nicht physische Vorgänge
sind. Diese Vorstellung, die in reinlicher Sonderung die Sprachfunk-
tionen zwischen Körper und Seele verteilte, erhielt einen schweren
Stoß, als Broca sein berühmtes ,, Sprachzentrum" auffand^). Wenn
es sich in den von ihm und andern beobachteten Fällen zeigte, daß
^) Broca, Sur le siege de la faculte du langage, 1861.
542
Die Wortbildung.
der Besitz der artikulierten Sprache an die Integrität einer bestimmten,
wohlumgrenzten Stelle der dritten Frontalwindung (M Fig. 36) der
linken — in seltenen Fällen und, wie es scheint, vorzugsweise bei
linkshändigen Menschen, der rechten — Hirnhälfte gebunden ist,
so mußte ein solches Zentrum offenbar als ein physiologisches Organ
der Wortbildung im eigentlichen Sinne angesehen werden, um so
mehr, da die Erzeugung der artikulierten Laute als solcher dabei
erhalten sein kann, also nur die Zusammenfügung der Laute zu Worten
aufgehoben ist. Aus diesem Grunde pflegt man denn auch die durch
Verletzungen des genannten
Zentrums entstehenden
Sprachstörungen nicht als
motorische , sondern als
ataktische Aphasie zu
bezeichnen. Bald zeigte
sich jedoch, daß nicht
in allen Fällen zentraler
Sprachstörungen , die zu
dem allgemeinen Sympto-
menbild der ,, Aphasie''
gerechnet werden können,
eine Affektion der Broca-
schen Windung nachzu-
weisen ist. Da war es ein wichtiger Fortschritt auf der einmal be-
tretenen Bahn, als neben jenem ersten Zentrum ein zweites, senso-
risches aufgefunden wurde, dessen Zerstörung nicht die Fähigkeit
der Wortartikulation sondern das ,, Wortgedächtnis" aufhebt, so
daß zwar ein unmittelbar vorgesprochenes Wort meist nachgesprochen
wird, zu einem sinnlich wahrgenommenen oder erinnerten Gegen-
stand aber das zugehörige Wort mangelt. Das so entstehende Sym-
ptomenbild bezeichnet man als das der amnestischen Aphasie.
Als das bei ihr in der Regel affizierte Zentralgebiet erwies sich in einer
großen Zahl von Beobachtungen die der Brocaschen Windung gegen-
überliegende Region der ersten linken Temporalwindung (S Fig. 36)^).
^) C. Wernicke, Der aphasische Symptomenkomplex, 1874. Das Sym-
ptomenbild der „amnestischen Aphasie** hatte übrigens schon bald nach Brocas
Fig. 36. Lage der Sprachzentren im
Frontal- und Temporalhirn.
Zentrale Störungen der Wortbildung.
543
0
X
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M
72
■^
'3
X
-m
S(AJ
Hiernach lag es nahe, diese Region S ebenso als das zu einer senso-
rischen Leitung gehörige Zentrum anzusehen, wie das Brocasche M
als Ausgangspunkt einer motorischen Leitung, wobei die letztere,
zentrifugale zu den untergeordneten direkten Zentren der Lautartiku-
lation gerichtet sei, die erstere, zentripetale aber zunächst von dem
allgemeinen Hörzentrum herkomme. Übrigens zeigten die Beobach-
tungen, daß bei der ,, ataktischen Aphasie" immer zugleich die Artiku-
lationsempfindungen gestört sind, so daß hier, ähnlich wie in den
andern motorischen Gebieten der Hirnrinde, die Zentra für die Be-
wegungsempfindungen
mit denen für die Inner-
vationserregungen der
Muskeln entweder sich
decken oder nahe zu- ' ^ //,
sammenf allen ; daher
man in den von M aus-
gehenden Bahnen zen-
trifugale und zentripetale
Leitungen vereinigt den-
ken kann, wie dies die
Pfeile in der Schema -
tischen Fig. 37 andeu-
ten. Zwischen dem
Gebiet S und dem direk-
ten Hörzentrum, das
man in den weiter rückwärts liegenden Teilen des Schläfelappens
vermutet, konnte dann ein analoges Verhältnis vorausgesetzt werden
wie zwischen der Brocaschen Region M und den direkten moto-
rischen Zentren. Wie in M die Verbindung der einzelnen moto-
rischen Impulse zu den regelmäßigen Artikulationsbewegungen,
so mochte in S die Kombination der Lauteindrücke zu Wort-
vorstellungen erfolgen.
Fig. 37. Lokalisat ionsschema der Sprach -
funktionen nach Lichtheim.
Entdeckung W. Ogle (1867) beschrieben, der auch zuerst auf den Zusammen-
hang der zuweilen vorkommenden rechtsseitigen Lage der Sprachzentren mit der
Linkshändigkeit aufmerksam machte. (Philos. Transactions, vol. XLV, p. 279.)
544 Die Wortbildung.
Die so gewonnene Sonderung schien sich der Mannigfaltigkeit
der wirklich vorkommenden Störungen gegenüber schon dadurch
nützlich zu erweisen, daß sie nicht bloß solche Formen der Aphasie
annehmen ließ, die in je einem der beiden Zentren M oder ß allein,
sondern je nach Umständen auch solche, die in beiden zusammen
oder in der zwischen ihnen liegenden Leitungsbahn, die im Hinter-
grund der Syl vischen Spalte {F S) das Gebiet der sogenannten ,, Insel"
durchsetzt, ihren Sitz haben mochten. Dies veranschaulicht das in
Fig. 37 durch die ausgezogenen Linien dargestellte Schema, wo 1,
2, 3, 4 und 5 die möglichen Orte der Funktionsstörung andeuten.
War einmal der Begriff des ,, Sprachzentrums" dergestalt erweitert
und gegliedert, so ließ sich nun -aber auf diesem Wege leicht fort-
schreiten, um den mittlerweile sich m.ehrenden Beobachtungen über
weitere Sprachstörungen gerecht zu werden, für welche die bloße
Unterscheidung eines ,, motorischen" und eines ,, sensorischen" Zentrums
nicht zuzureichen schien. Dahin gehörten namentlich die Fälle der
„Worttaubheit", der ,, Wortblindheit" (Alexie) und der Unfähigkeit
zu schreiben (Agraphie), von denen sich zwar die beiden ersteren als
eigentümliche Unterformen der amnestischen, die letztere als eine
solche der ataktischen Aphasie betrachten ließen, wobei aber doch
jede ihre besondere zentrale Lokalisation zu fordern schien. Denn
die Worttaubheit, d. h. die Unfähigkeit Worte zu verstehen bei voll-
kommener Fähigkeit Laute zu hören, kann, wie die Beobachtung
zeigt, sehr wohl ohne Wortblindheit vorkommen; und ebenso kann
diese oder die Unfähigkeit, trotz sonstiger Erhaltung des Sehver-
mögens, die Schriftzeichen zu erkennen, ohne gleichzeitige Wort-
taubheit bestehen. Diesen Verhältnissen suchte man gerecht
zu werden, indem man das Schema der zwei Sprachzentren
in der durch die unterbrochenen Linien der Fig. 37 angedeu-
teten Weise ergänzte. Das sensorische Zentrum S betrachtete
man nun speziell als akustisches Wortzentrum S {A). Ihm
trat als sekundäres sensorisches Sprachzentrum das optische 0,
und ebenso dem motorischen M das Schreibzentrum E zur Seite
(Fig. 37). Für beide ließen sich freilich bestimmte Gebiete in
der Hirnrinde nicht mit Sicherheit nachweisen. Höchstens kann
man noch nach verschiedenen Beobachtungen annehmen, daß
Zentrale Störungen der Wortbildung. 545
das Zentrum 0 wohl dem in der Rinde des Okzipitalhirns liegenden
allgemeinen Sehzentrum benachbart sei, ähnlich wie das akustische
Wortzentrum 8 {Ä) dem allgemeinen Hörzentrum. Daneben lag es
dann aber natürlich nahe zu vermuten, daß auch noch andere, nament-
lich sensorische Zentren in ähnlichen Verbindungen mit den beiden
Hauptzentren M und S stehen möchten. In Fig. 37 sind diese
weiteren Zentren, denen man zuweilen mit Kußmaul ein allgemeines
,, Begriffszentrum'* substituierte, durch den kleinen Kreis C
angedeutet^).
Mit Hilfe des so gewonnenen anatomischen Schemas sah man
sich in den Stand gesetzt, alle irgend möglichen Sprachstörungen zen-
tralen Ursprungs zu klassifizieren und gewissermaßen a priori voraus-
zusagen. Bezeichnen wir die in den Zentren selbst sowie in den Lei-
tungsbahnen möglicherweise vorkommenden Unterbrechungen der
Funktionen durch die in Fig. 37 mit den Zahlen 1, 2, 3 . . versehenen
kleinen Striche, so würden z. B. nach diesem Schema nicht weniger
als 13 einzelne Störungen möglich sein, die dann natürlich noch in
der verschiedensten Weise kombiniert und abgestuft Vorkommen
könnten. Durch die den einzelnen Zentren beigelegte Bedeutung
würde aber die Beschaffenheit einer jeden Funktionsstörung von selbst
gegeben sein. So müßte z. B. einer Leitungsunterbrechung bei 3 eine
Aufhebung der Lautsprache folgen, während das Schreibvermög^i,
da die Leitungen M E und 0 E noch bestehen, erhalten bliebe. Auf-
hebung der Funktion des Zentrums M bei 1 würde Vollständige Auf-
hebung des Sprachvermögens herbeiführen, während, falls der sen-
sorische Teil der Zentren und Leitungsbahnen unversehrt bliebe, ge-
hörte und geschriebene Worte noch Verstanden werden. Eine Unter-
brechung bei 6 würde die Fähigkeit spontan zu sprechen beseitigen,
da von dem „Begriffszentrum" C aus die Zuleitung einer motorischen
Wortinnervation nicht mehr möglich wäre. Dagegen würden, wenn
die Leitungen S M und 0 E erhalten sind, gehörte Worte nachgesprochen
und geschriebene oder gedruckte gelesen werden. Wäre endlich bei
2 die Funktion von S aufgehoben, so könnten gehörte Worte weder
verstanden noch nachgesprochen werden, während bei Inte-
1) Kußmaul, Die Störungen der Sprache, 1877, S. 182.
Wnndt, YölterpFychologi«. I. 4. Aufl. 35
546 Die Wortbildung.
grität der Leitung CM noch spontanes Sprechen möglich sein
müßte, usw. 1).
2. Hypothesen über die physischen Substrate der Wortbildung.
Mit den durch das obige Schema ausgedrückten Anschauungen
hat die Pathologie der Sprachstörungen noch einige weitere verbun-
den, die zuweilen wohl nur als vorläufige Hilfshypothesen betrachtet
wurden, denen man aber doch nicht selten einen realen Wert zuschrieb.
In der Tat ist zuzugestehen, daß sich diese Hypothesen wenigstens
teilweise bei der Verfolgung des in der vorausgesetzten Lokalisation
der Sprachzentren eingeschlagenen Weges mit innerer Folgerichtig-
keit ergeben. Allerdings mögen dabei außerdem die Traditionen der
alten Phrenologie etwas mitgewirkt haben, mit denen man durch
jene Annahme besonderer ,, Zentren" für so komplexe psychophysische
Tätigkeiten, wie Sprechen, Wortverständnis und Schreiben, wieder
in nahe Berührung gekommen war. Ähnlich wie dereinst die Galische
Phrenologie die Oberfläche des menschlichen Gehirns in eine Anzahl
„innerer Sinne" eingeteilt hatte, deren jedem sie eine den äußeren
Sinnen analoge, nur gewissermaßen potenzierte Funktion zuschrieb,
so begann man nach der Entdeckung des Brocaschen Sprachzentrums
in diesem nicht, was zunächst gefordert schien, ein motorisches oder,
mit Rücksicht auf die gleichzeitigen Störungen der Artikulations-
empfindungen, ein motorisch-sensorisches Zentrum zu sehen, son-
1) Das in Fig. 37 dargestellte Schema entspricht ini wesentlichen zwei
von Lichtheim gegebenen Konstruktionen (On Aphasia, Brain, VII, 1885,
p. 437, 443), mit denen übrigens auch das etwas ältere Schema Kußmauls
in den Hauptzügen übereinstimmt (Die Störungen der Sprache, S. 183).
Beide Autoren lassen die Frage der wirklichen anatomischen Lage der
Zentren grundsätzlich beiseite. Einzelne Beobachtungen über die verschie-
denen der Aphasie zugezählten Funktionsstörungen finden sich in reicher
Menge in neuropathologischen Zeitschriften: so im Brain I, p. 304, II, p. 303,
323 ff. (Hughlings Jackson), XII, p. 82 ff. (Starr), XXI, p. 343 ff. (Bram-
well), und in vielen Bänden des Archivs für Psychiatrie. Gute Darstel-
lungen des ganzen Gebiets finden sich bei Charltpn Bastian, Über Aphasie
und andere Sprachstörungen, deutsch von Urstein, 1902, und, mit Berück-
sichtigung der psychologischen Verhältnisse, bei Gust. Störring, Vorlesungen
über Psychopathologie, 1900, S. 127 ff.
Hypothesen über die physischen Substrate der Wortbildung. 547
dern man erklärte es für ein ausscWießlicli sensorisches, also für
eine Art von „innerem Sinn*'; und daran änderte aucli die Entdeckung
des außerdem für die amnestische Aphasie in Anspruch genommenen
Zentrums nichts. Vielmehr fühlte man sich dadurch eher in der all-
gemeinen Voraussetzung bestärkt, daß jedes diese'* Gebiete eine be-
stimmte Kategorie von Vorstellungen in sich berge. Bei dem gewöhn-
lich so genannten motorischen Zentrum (M Fig. 36) sollten dies die
Vorstellungen der Sprachbewegungen, bei dem sensorischen Zentrum
(*S) die Lautvorstellungen der Wörter sein; und ähnlich wurden den
später aufgestellten Zentren 0 und E (Fig. 37) bestimmte Arten von
Erinnerungsbildern, jenem die optischen Wortbilder, diesem die Vor-
stellungen der Schreibbewegungen, zugeteilt, worauf es nun nahe lag,
auch noch die unabhängig von Wort und Schriftbild angenommenen
Begriffe in einem besonderen ,,ideagenen Zentrum" nach dem Vor-
schlage Kußmauls zu lokalisieren.
Diese Vorstellungen fanden einen lebhaften Widerhall in den
Deutungen, die Th. Meynert den Ergebnissen seiner um die gleiche
Zeit entstandenen bahnbrechenden Arbeiten über den feineren Bau
des Gehirns gab^). Waren auch diese Deutungen selbst schon von
der neu gewonnenen Lokalisation der Sprachfunktionen wesentlich
beeinflußt, so wirkten sie doch ihrerseits wieder auf die Auffassung
der Sprachzentren zurück. Als drittes Glied in dieser Vereinigung
erschien endlich noch die experimentelle Gehirnphysiologie, in der
namentlich H. Munk die nämlichen Anschauungen der Deutung seiner
Ergebnisse zugrunde legte ^).
So bildete sich immer zuversichtlicher die Ansicht aus, die Rinde
des großen Gehirns berge in jeder ihrer Zellen irgendeine Vorstellung,
und solche Depots von Vorstellungen seien in gesonderten Gebieten
massenhaft über die Oberfläche des Gehirns verteilt. In einem be-
^) Vgl. besonders die Bemerkungen zur Physiologie des Gehirns in seiner
Psychiatrie, I, 1884, S. 126 ff.
2) H. Munk, Über die Funktionen der Großhirnrinde, gesammelte Abhand-
lungen, 1891. Vgl. besonders die Einleitung zu diesem Werk und dazu meine
Abhandlung „Zur Frage der Lokalisation der Großhimfunktionen'% Philos.
Stud. VI, 1891, S. 1 ff., sowie Physiol. Psychol. » I, S. 341 ff., über die Sprach-
«entren ebenda S. 364 ff.
35*
548 Die Wortbildung.
stimmten Bezirk sollten direkte Lauteindrücke aufgenommen, in einem
andern ältere Wortvorstellungen abgelagert werden, ein dritter sei
durch Gesichtsreize erregbar, ein vierter berge die Gesichtsbilder
früherer Eindrücke usw. Dabei sollten die Depots der verschiedenen
Arten von Erinnerungsbildern teils durch Vorhandene Vorstellungen
bereits ,, besetzt" sein, teils aber auch noch im leeren Zustand ihrer
künftigen Insassen warten. Zerstörung einer ein solches Vorstellungs-
zentrum einschließenden Rindenregion Vernichte daher die in ihr
abgelagerten Vorstellungen; aber diese könnten durch neue ersetzt
werden, die in den noch vakanten Zellen Platz fänden. Auf solche
Weise glaubte man sich auch die oft zu beobachtende allmähliche
Wiederherstellung der Funktionen erklären zu können. Der nämliche
Vorgang, der bei der normalen Entwicklung das Gehirn mit den Er-
innerungsbildern früherer Eindrücke gefüllt hatte, konnte sich ja
wiederholen, solange nur überhaupt unbesetzte Vorstellungszellen
vorhanden waren. Wie wenig diese Spekulationen im ganzen als bloß
vorläufige Hilfsannahmen gemeint waren, ging deutlich genug daraus
hervor, daß man ernstlich die Frage erwog, ob die in der Hirnrinde
zu zählenden Pyramidalzellen wirklich für die Bedürfnisse der mensch-
lichen Intelligenz ausreichten.
Nun erhellt freilich für jeden, dem die Begriffe Vorstellung, Er-
innerungsbild, Eindruck nicht bloße Wörter für unbekannte Begriffe
sind, daß die Annahme, ein Erinnerungsbild werde in einer Hirnzelle
,, deponiert", bei dem Problem der erinnerten Vorstellungen genau
jener Stufe naiver Interpretation entspricht, auf dem sich der äußeren
Sinneswahrnehmung gegenüber dereinst die Physiologie der Alten
befand. In den in den Hirnzellen abgelagerten Erinnerungsbildern
lassen sich in der Tat unschwer die direkten Abkömmlinge
jener Bildchen erkennen, die ein Empedokles und Demokrit
von den Gegenständen sich ablösen und in Auge und Ohr
eindringen ließen. Daß das Retinabild und die Klangwirkung
im äußeren Ohr nicht Gegenstände sind, die von außen ein-
wandern, sondern Vergängliche und veränderliche Funktionen,
das weiß die Physiologie nachgerade. Das Gehirn ist ihr
immer noch unbekannt genug, um sich nach wie vor die ab-
gelösten Bildchen in den Hirnzellen eingewandert und abgelagert zu
Unzulänglichkeit der Lokalisatiqnshypothesen. 549
denken. Daß die Erinnerungsvorstellungen so wenig Objekte sind wie
die äußeren Wahrnehmungen, und daß sie sich von diesen höch-
stens durch ihre noch größere Veränderlichkeit unterscheiden, da
zwei Erinnerungsbilder eines und desselben Gegenstandes kaum je
übereinstimmen, — alles das bleibt hier außer Frage.
3. Unzulänglichkeit der Lokalisationshypothesen.
Was der physiologischen Funktionsanalyse wahrscheinlich
schwerer gelungen wäre, das hat sich nun aber allmählich als eine
dringende Forderung bei der Untersuchung eben jener Sprachstörungen
herausgestellt, von denen die ganze über Anatomie, Physiologie und
beinahe auch über die Psychologie sich ausbreitende moderne Lo-
kalisationslehre ausgegangen war. Der Schematismus der Sprach-
zentren mit ihren leitenden Zwischenbahnen erwies sich um so unzu-
länglicher, je mehr man ihn im einzelnen durchzuführen suchte. Mochte
man sich auch häufig noch mit der Annahme bloß „funktioneller"
Störungen helfen, die unabhängig von lokalen Defekten oder ver-
mischt mit solchen vorkommen könnten, bei unbefangener Betrach-
tung der Befunde läßt sich nicht mehr verkennen, daß neben der
Sonderung gewisser Bestandteile der Sprachfunktion immer deut-
licher zugleich bestimmte Zusammenhänge verschiedener Funktions-
gebiete hervortreten. Die Erkenntnis dringt durch, daß sich jeder
noch so einfach erscheinende sprachliche Vorgang aus einer Fülle
elementarer psychophysischer Funktionen verschiedener Art zu-
sammensetzt und regelmäßig zugleich bestimmte Hilfsfunktionen
in Anspruch nimmt, so daß es völlig unmöglich erscheint, ihn an ein
eng begrenztes Hirngebiet oder gar an eine einzelne Hirnzelle binden
zu wollen. Damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß sich die in
der Beobachtung gegebenen Sonderungen der Funktionen in irgend-
einem Schema festhalten lassen. Aber bei der Konstruktion eines
solchen muß man sich immer gegenwärtig halten, daß es nicht bloß
den zur Beobachtung kommenden Ausfallserscheinungen, sondern
auch den Verbindungen der Funktionen, durch die sie sich imterstützen
oder für ausgefallene Ersatz schaffen, Ausdruck gebe. Das leistet
550 I>ie Wortbildung.
offenbar das in Fig. 37 dargestellte Schema nicht, denn es gerät
überall in Widerstreit mit den Tatsachen. Es lassen sich aus ihm
Störungen der Wortbildung ableiten, die gar nicht vorkommen.
Noch mehr aber bietet die Wirklichkeit eine Menge von Störungen
isoliert wie in Verbindung mit andern, die aus dem Schema nicht
herauszulesen sind, weil sie außerhalb der Voraussetzungen liegen,
auf denen es beruht.
So ist es eine der augenfälligsten und durch keine Hilfs-
annahme zu vermeidende Folgerung, die sich schon auf Grund
der bloßen Unterscheidung eines motorischen und eines senso-
rischen Sprachzentrums ergibt, daß eine Aufhebung der Lei-
tung zwischen diesen beiden Zentren (in 3 Fig. 37) die Fähig-
keit gehörte Worte nachzusprechen aufheben müßte, während
die Fähigkeit spontan zu reden erhalten bliebe. Ein solcher
Zustand kommt aber nicht vor. Statt dessen hat man Fälle so-
genannter ,, Paraphasie" hierher bezogen (s. unten 5). Da jedoch
bei dieser eine gewisse Fähigkeit des Nachsprechens immer besteht,
während nur gelegentlich falsche Worte für die richtigen eingesetzt
werden, und da femer dieses Symptomenbild bei den verschiedensten
sonstigen zentralen Störungen beobachtet wird, so ist das sichtlich
nur ein Notbehelf: eine Störung, die genau der Leitungsunterbrechung
bei 3 entspricht, gibt es nicht ^). Dies ist um so auffallender, als das
zwischen den Zentren M und S (Fig. 36) gelegene Gebiet der ,, Insel"
gar nicht so selten für sich allein, ohne daß die Stellen M und S selbst
betroffen sind, Läsionen darbietet. Überhaupt müßten nach dem
Schema viel häufiger gesonderte motorische oder sensorische Ano-
malien beobachtet werden, als es der Fall ist, und es müßte ungefähr
ebenso leicht eine sensorische Störung bei intakter motorischer Wort-
bildung, wie umgekehrt eine motorische bei erhalten gebliebenem
Wortgedächtnis vorkommen können. Das trifft aber wieder nicht
zu: Störungen rein motorischer Art sind sehr häufig; mit amne-
stischen Zuständen pflegen dagegen nicht selten auch mehr oder
minder beträchtliche Störungen der Wortartikulation verbunden
zu sein.
^) 8. Freund, Zur Auffassung der Aphasien, 1891, S. 11.
Phj'siologische und pathologische Amnesie. 551
liäßt so die Annahme einer strengen Lokalisation der Wort-
bildungsfunktionen Symptomenbilder erschließen, die tatsächlich
nicht vorkommen, so gibt sie aber auf der andern Seite über eine große
Menge von Störungen, und namentlich von Verbindungen, Begleit-
erscheinungen und nachträglichen Kompensationen derselben gar
keinen Aufschluß. So besteht die Schriftblindheit häufig zusammen
mit gewöhnlicher motorischer Aphasie, eine funktionelle Beziehung,
für die nur die Annahme einer zufällig gleichzeitigen Affektion der
Zentren M und O übrigbliebe. Ferner ist es eine bei den verschie-
densten Störungen vorkommende Erscheinung, daß das Nachsprechen
erhalten bleibt, während die spontane Wortbildung, das Erkennen
von Wörtern und das Lesen von solchen unmöglich ist. Von allen
unter den unbestimmten und für viele Fälle ungenauen Begriff der
,, Aphasie" zusammengefaßten Erscheinungen sind es endlich ganz
besonders diejenigen, die man den spezielleren Symptomengruppen
der „Amnesie'' und der ,, Paraphasie" zuzählt, die durch ihren Ver-
lauf, durch ihr Ineinandergreifen und durch die eigentümlichen kom-
pensatorischen Vorgänge, die bei ihnen beobachtet werden, dem Ver-
such sie in eines der üblichen Lokalisationsschemata einzuordnen
widerstreben, während gerade sie psychologisch von besonderem
Interesse sind. Aus diesem Grunde bedürfen sie hier einer eingehen-
deren Betrachtung.
4. Physiologische und pathologische Amnesie.
Unter der „amnestischen Aphasie" pflegt man, um dem in dem
Wort Aphasie liegenden Begriff einigermaßen treu zu bleiben, solche
Sprachstörungen zu verstehen, bei denen das Wortgedächtnis ent-
weder ganz oder bis auf geringe Reste aufgehoben ist. Da nun von
diesen schwersten Formen der Störung an bis zu den leichteren einer
noch tief in das normale Leben hereinreichenden Schwäche des Wort-
gedächtnisses alle möglichen Übergangsstufen vorkommen, so sieht
man sich genötigt, jenem Begriff den allgemeineren der „Amnesie"
gegenüberzustellen. Er ist um so unentbehrlicher, als in diesem Fall
ebensosehr die leichteren Symptome durch die schwereren, wie nicht
552 Die Wortbildung.
selten diese durch jene erläutert werden. Die „Amnesie*' in diesem
Sinne ist eine lediglich negative Störung: sie besteht in einem Ver-
sagen der Assoziationen zwischen Begriff und Wort. Während die
Vorstellungen und Begriffe, sofern nicht gleichzeitig anderweitige
Störungen vorhanden sind, in normaler Weise gebildet werden können,
unterbleibt die Assoziation, die von dem Begriff zu dem ihn bezeich-
nenden "Worte führt, entweder völlig, oder sie spricht schwieriger an,
so daß das Wort nur mit Mühe und meist unter Mitwirkung von Asso-
ziationshilfen gefunden werden kann.
Die Wirksamkeit solcher Assoziationshilfen sogar bei Gedächt-
nismängeln infolge grober Gehirnläsionen zeigt schlagend ein zuerst
Von Grashey beobachteter Fall hochgradiger pathologischer Amnesie^).
Der Patient hatte infolge einer Kopfverletzung sein Wortgedächtnis
fast völlig verloren; er besann sich a^er auf den Namen eines Objekts,
indem er ihn „schreibend fand", d. h. indem er das Schriftbild des
Wortes durch Fingerbewegungen oder, wenn er daran gehindert war,
durch Bewegungen einer Zehe, im Notfalle selbst der Zunge hervor-
brachte. Darauf stellte sich dann auch die Lautvorstellung ein^).
Offenbar war also in diesem Falle das Gedächtnis für optische W^ort-
bilder sowie das für Schreibbewegungen erhalten, aber das für akustische
Wortvorstellungen aufgehoben: so weit würde die Erscheinung als
eine Läsion des Zentrums S (A) bei intakter Beschaffenheit von 0
und E (Fig. 37) zu deuten sein. Doch was sich dadurch nicht erklären
läßt, ist die Tatsache, daß die Funktion von E auch das insuffizient
gewordene Zentrum S (A) wieder zur Funktion anregt, daß also die
1) Grashey, Archiv für Psychiatrie, XVI, 1885, S. 654 ff. Vgl. auch die
weiteren eingehenden Untersuchungen des gleichen Patienten von R. Sommer,
Zeitschr. für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, II, 1891, S. 143 ff.,
und Gustav Wolff, ebenda XV, 1897, S. 1 ff.
2) ÄhnUche Hilfswirkungen von Seiten der Schreibbewegungen sind auch in
Fällen von Amnesie, die mit „Agraphie'* verbunden waren, beobachtet worden.
So konnte ein von Hans Gudden untersuchter amnestischer Patient bekannte
Wörter nicht schreiben, weder wenn man sie ihm diktierte, noch wenn man ihm
die von ihm selbst geschriebenen zum Abschreiben vorlegte. Er schrieb sie aber
sofort nach, wenn man sie ihm vor seinen Augen vorschrieb. (Neurologisches
Zentralblatt, 1900, Nr. 1, S. 13.)
Physiologische und pathologische Amnesie. 553
Unterbrechung dieser Funktion keine absolute ist, sondern sich teils
bei unmittelbarer Einwirkung des Wortes — der Patient vermochte
unmittelbar gehörte Worte nachzusprechen — teils durch das will-
kürlich erzeugte Schriftbild desselben, das der amnestischen Störung
nicht unterlag, momentan wiederherstellen kann. Diese Mithilfe
begleitender Vorstellungen zeigte sich bei dem gleichen Patienten
auch noch in manchen andern Erscheinungen. Auf die Frage: ,, welche
Farbe hat das Blut?" vermochte er z. B. keine Antwort zu finden,
obgleich er, wie seine Handlungen verrieten, den Sinn der
Worte verstand. Er vermochte es selbst dann nicht, als man
ihm irgendein anderes rotes Objekt Vorzeigte. Aber das Wort
kam ihm sofort, als er, um es zu finden, absichtlich eine
kleine Pustel an seiner Hand öffnete und den Blutstropfen her-
vorquellen sah. Dieses Beispiel zeigt zugleich, wie der Patient mit
Überlegung und nicht ohne Aufwand eines gewissen Scharfsinns
bemüht war, dem Defekt seines Wortgedächtnisses abzuhelfen
und ihn gelegentlich zu verbergen wußte. Wollte man allen diesen
Verhältnissen in einem Lokalisa tionsschema Ausdruck geben,
so müßte daher in diesem nicht bloß den besonderen Assoziations-
bedingungen der Verschiedenen Zentren untereinander, sondern auch
den Einflüssen Rechnung getragen sein, die bei solcher Aushilfe der
Funktionen von höheren Zentralgebieten, in denen wir uns die Ele-
mente der Apperzeptions- und Aufmerksamkeitsvorgänge lokalisiert
denken können, ausgehen. Und zu dem allem müßte man, um der
notwendig anzunehmenden Verbindung einfacher Funktionen zu
komplexen Resultanten zu genügen, die in der üblichen Schemati-
sierung der Sprachzentren festgehaltene Voraussetzung aufgeben,
Laut und Wort seien bei der Bildung und Erkennung der Worte ge-
trennt existierende Vorstellungen. Demnach wird man an ,, Wort-
zentren" höchstens in dem Sinne denken können, daß die in den Wort-
vorstellungen durch gemeinsame Funktionsübung Verbundenen Ge-
hörsempfindungen weiteren, dem direkten Hör- und Sehzentrum bei-
gegebenen Zentralgebieten zugeleitet werden, deren Leistungen aber
durchaus an die gleichzeitige Funktion jener unmittelbaren Sinnes-
zentren gebunden sind. Damit verschwindet dann von selbst die un-
mögliche Annahme irgendeiner „Ablagerung von Wörtern" im Ge-
554 Die Wortbildung.
hirn. Denn in jener Forderung eines funktionellen Zusammen-
hangs von Zentren verschiedener Ordnung ist schon die Vor-
aussetzung enthalten, daß jede Wortvorstellung auch nach
ihrer physiologischen Seite ein komplexer Vorgang ist, der
das Zusammenwirken zahlloser zentraler Elemente umfaßt und
daher von Fall zu Fall in unendlich mannigfaltiger Weise variieren
kann.
Selbst nach dieser wesentlichen Modifikation der Lokalisations-
vorstellungen bleibt aber noch eine Menge einzelner Verhältnisse
übrig, die Von besonderem Wert für die funktionelle Charakteristik
der Sprachstörungen sind, und die sich gleichwohl jedem Versuch
einer Lokalisation der verwickeiteren Funktionen in besonderen räum-
lich zu trennenden Gebieten entziehen. Dahin gehört namentlich die
bei allen Erscheinungen der Amnesie beobachtete Tatsache, daß
die einzelnen Wörter je nach der Kategorie der Vor-
stellungen und Begriffe ein außerordentlich verschie-
denes Beharrungsvermögen besitzen. Schon bei den noch
dem normalen Vergessen angehörenden Erscheinungen bemerken
wir regelmäßig, daß nicht, wie man denken könnte, die abstraktesten.
Redeteile, Bejahung, Verneinung, Präpositionen, Konjunktionen und
abstrakte Adverbien, am schnellsten vergessen werden, sondern um-
gekehrt diejenigen Wörter, die am unmittelbarsten konkrete sinn-
liche Gegenstände bezeichnen: die Eigennamen bestimmter Personen,
dann die konkreten Substantiva. An sie schließen sich die Adjektiva,
und unter ihnen gehen wieder solche voran, die von sinnlich anschau-
licher Bedeutung sind. Fester haften die abstrakten Adjektiva und
die Verba, und am festesten endlich neben den Interjektionen die
abstrakten Partikeln. Diese Reihenfolge wiederholt sich allerdings
in den pathologischen Fällen nicht immer in gleich deutlicher Weise.
Sie wird hier bald von einer teilweisen Wiederherstellung der Funk-
tionen, bald von andern Störungen durchkreuzt, die auf bestimmter
lokalisierte Unterbrechungen der Leitung zurückzuführen sind. Den-
noch sind die Spuren jener Regelmäßigkeit häufig selbst bei der mo-
torischen Aphasie anzutreffen. Daß aber die Erscheinung aus irgend-
einer Lokalisation der Erinnerungsbilder nicht erklärt werden kann,
ist einleuchtend. Müßte man doch nicht bloß voraussetzen, die Wörter
Erscheinungen der Paraphasie. 555
seien nach grammatischen Kategorien in den Hirnzellen abgelagert,
sondern auch die Zerstörung der Erinnerungszentren gehe immer
in der entsprechenden Reihenfolge vor sich.
5. Erscheinungen der Paraphasie.
Gegenüber der Amnesie als einer Gruppe reiner Ausfallserschei-
nungen bezeichnet die „Paraphasie" ein positives Symptomenbild.
Wir verstehen nämlich unter diesem Ausdruck diejenigen Störungen,
bei denen die Wortbildung als solche beeinträchtigt ist, indem ent-
weder verschiedene Wörter miteinander verwechselt oder ganz neue
Wörter gebildet und den der Sprache geläufigen substituiert werden.
Diese Wortfehler sind wohl zu unterscheiden von den früher (S. 393 ff.)
besprochenen Lautvermengungen oder „Paralalien", mit denen sie
häufig zusammengeworfen werden. Bei der ,,Paralalie" wird das
richtige Wort gewählt, aber es wird infolge abnormer Assimilationen,
Dissimilationen, Auslassungen von Lauten usw. unrichtig aus-
gesprochen. Bei der „Paraphasie" wird von vornherein ein unrich-
tiges Wort gewählt, während namentlich bei den geringeren, bloß
in einzelnen Wortverwechslungen bestehenden Graden dieser Störung
jedes einzelne Wort richtig gesprochen wird. In der Mitte zwischen
den Paralalien und den Paraphasien steht die „Wortvermengung"
(Onomatomixie S. 398), in die daher auch die Symptome der Para-
phasie ohne scharfe Grenze übergehen können. Im allgemeinen rechnen
wir aber eine Erscheinung zur ,, Onomatomixie", solange es sich bloß
um eine lautliche Veränderung handelt, die ein bestimmtes Wort durch
die assoziative Einwirkung eines andern erfährt, indes das ursprüng-
liche Wort immer noch deutlich erkennbar bleibt. Wir reden dagegen
von „Paraphasie", wenn das Wort in seinen wesentlichen Bestand-
teilen durch assoziative Einwirkungen völlig unkenntlich, oder wenn
es durch ein ganz anderes Wort oder wortähnliches Gebilde ersetzt
wird. Aus diesen Gründen schließt sich trotz der Verwandtschaft
beider Erscheinungen die Onomatomixie noch den Lautstörungen
der Sprache an, während die Paraphasie zu den Störungen der Wort-
bildung gerechnet werden muß. Damit hängt zusammen, daß die
556 Die Wortbildung.
Paraphasie im allgemeinen ein schwereres Symptom ist, und daß
sie daher bei dem gewöhnlichen „Versprechen" nur selten, um so
häufiger dagegen als pathologische Erscheinung vorkommt. Als solche
ist sie wohl stets mit einer Rindenaffektion des Gehirns verbunden.
Doch läßt sie sich weder in einem hypothetischen Lokalisationsschema
unterbringen noch tatsächlich auf eine fest bestimmte örtliche Störung
zurückführen. Gleichwohl kann sie sich mit den verschiedensten
andern Sprachstörungen verbinden sowie als Vorläuferin tieferer
Defekte auftreten.
Vor allem finden sich die Erscheinungen der Wortverwechslung
und der Einschaltung von Wörtern, die außerhalb des Zusammen-
hangs der Rede liegen, als Begleiterinnen der pathologischen Amnesie.
Aber auch bei höheren Graden seniler Gedächtnisschwäche beobachtet
man namentlich die Wortverwechslungen nicht selten. Dieser Zu-
sammenhang erklärt sich ohne weiteres daraus, daß gerade in den
Momenten, wo die richtige Assoziation zwischen Vorstellung und
Wort versagt, der Zufluß solcher Vorstellungen, die durch irgend-
welche andere Assoziationsbedingungen gehoben werden, relativ
erleichtert ist. Anderseits zeigt jedoch das Vorkommen parapha tischer
Erscheinungen bei ganz intaktem Wortgedächtnis, sowohl bei der
Gedankenflucht der Irren wie bei geistig gesunden Menschen infolge
hochgradiger Zerstreutheit, daß es sich hier um direkte assoziative
Ursachen handelt, zu denen die Amnesie nur als begünstigendes Moment
hinzutreten kann.
Die stärksten, freilich auch irregulärsten Beispiele der Para-
phasie bietet in vielen Fällen die Sprache der Geisteskranken: irregu-
lär deshalb, weil es hier meist zufällig eingeübte Wortvorstellungen,
manchmal auch ganz willkürliche Wortgebilde oder mindestens will-
kürliche Wortzusammensetzungen sind, die den Redestrom unter-
brechen, ohne Rücksicht darauf, ob sie an der betreffenden Stelle
ein anderes ausfallendes Wort vertreten oder die Rolle sinnloser Klang-
bilder spielen, denen aber der Kranke nicht selten eine besondere Be-
deutung beilegt ^). Viel regelmäßiger gestalten sich die Wortvertretungen
^) Liebmaiin und Edel, Die Sprache der Geisteskranken, 1903. Kraepelin,
Psychiatrie, I, » 1909, S. 415 ff.
Erscheinungen der Paraphasie. 557
bei den höheren Graden der Amnesie. Besonders beobachtet man
das bei jenen Erscheinungen des Gedächtnisschwundes, wo im all-
gemeinen konkretere Wortklassen fehlen, aber abstraktere noch ver-
fügbar sind (S. 554). Hier pflegt bald ein nahe verwandtes abstraktes
Wort substituiert, bald auch gerade das fehlende definierend um-
schrieben zu werden: z. B., wenn die konkreten Substantiva Versagen,
die entsprechenden Verba aber noch geläufig sind, die ,, Schere" als
,,das womit man schneidet", das ,, Fenster" als ,,das wodurch man
sieht" u. dgl. 1). Kommen die Wortverwechslungen bei irregulärer
Amnesie vor, so treten sie meist in der Form auf, daß die Wörter in
der gleichen Kategorie bleiben, so daß also Wörter wie Tisch und
Stuhl, stehen und hängen, gehen und fahren miteinander verwechselt
werden.
Auch in sonst normalen Zuständen können ähnliche Wortver-
tauschungen als gelegentliche Begleiterscheinungen oder Steigerungen
der Laut- und Wortvermengungen vorkommen. Von den eigent-
lich pathologischen Fällen unterscheiden sich diese noch dem nor-
malen Leben angehörigen Erscheinungen dadurch, daß sich die Asso-
ziationen innerhalb eines engeren Gebiets verwandter oder sich be-
rührender Vorstellungen bewegen^). Manchmal wechseln dabei auch
nur bestimmte Begriffe ihre Stellen, oder es wird aus einer begrifflich
verwandten Redeweise ein Wort oder eine Wortgruppe herübergenommen,
Fälle, die sich als assoziative Substitution, Permutation und Konta-
mination unterscheiden lassen. So in den Beispielen: ,, Maximilian I.
hatte die Hopnung, den Thron auf seinem Haupte zu sehen" (Sub-
stitution von ,, Thron" für „Krone"), „In Neapel geht man des Abends
auf dem Hause seines Daches spazieren" (Permutation), ,,Er setzt
sich auf den Hinterkopf" (kontaminiert aus ,,er setzt es sich in den
^) Kußmaul, Störungen der Sprache, S. 163.
2) Zahlreiche Beispiele dieser Art finden sich in der Sammlung „Gallet-
tiana" (Berlin ^ 1876). Sie enthält Aussprüche eines 1750 — 1828 in Gotha lebenden,
an hochgradiger Zerstreutheit leidenden Schulmonarchen. Dieselben gehören,
abgesehen von wenigen Beispielen von Onomatomixie, sämtlich in das Gebiet
der „Paraphasie*', während kein einziger Fall einer „Paralalie" darunter vorkommt
— ein Beweis für die oben (S. 555) hervorgehobene Wesensverschiedenheit dieser
Erscheinungen.
558 Die Wortbildung.
Kopf" und „er stellt sich auf die Hinterbeine"). Dagegen nähert es
tsicli schon der Grenze des Pathologischen, wenn ein Wort durch Asso-
ziation ein anderes wachruft, das aus dem Gedankenzusammenhang
herausfällt, eine assoziative Einschaltung, die sich am nächsten an
die Substitution anschließt und manchmal mit ihr verbimden sein
kann. So in dem Beispiel: ,, Elisabeth erschien nach der Hinrichtung
der Maria Stuart im Parlament in der einen Hand das Schnupftuch,
in der andern eine Träne" (Gallettiana), wo durch Assoziation mit
der ,, einen Hand" die ,, andere" interponiert und zugleich dem „Auge"
substituiert ist.
6. Psychophysisches Prinzip der Funktionsübung.
Da die zentralen Störungen der Sprache, wie ihr Zusammenhang
mit Verletzungen und krankhaften Veränderungen bestimmter Hirn-
gebiete beweist, physisch bedingte, an sich selbst aber psychische
Symptome sind, so fordern sie eine doppelte Funktionsanalyse
heraus: eine physiologische und eine psychologische. Dabei wird die
letztere der ersteren immer als Führerin dienen müssen, nicht nur
weil die psychische Seite der Sprachstörungen unserer Beobachtung
zugänglicher, sondern weil auch bei den mannigfachen Erscheinungen
ihrer Korrelation und Kompensation die psychologische Deutung
die näherliegende ist. Bei dem gegenwärtigen Zustande der Gehirn-
physiologie ist jedoch überhaupt eine tiefer eindringende physio-
logische Funktionsanalyse völlig ausgeschlossen; und es ist nicht
wahrscheinlich, daß sich dieser Zustand in absehbarer Zeit wesentlich
ändern werde. Was die physiologische hier der psychologischen Be-
trachtungsweise zu bieten vermag, beschränkt sich vorläufig auf einen
allgemeinen Gesichtspunkt, der, weil er sich in gleicher Weise für die
physische wie für die psychische Seite der Erscheinungen bewährt,
zugleich eine allgemeinere psychophysische Bedeutung besitzt. Er
besteht in dem Prinzip der Funktionsübung. Dieses Prinzip
sagt aus, daß jede Funktion, mag sie nun eine physische oder eine
psychische oder beides zugleich sein, durch ihre Ausübung ge-
steigert, durch ihre Unterlassung verniindert und schließ-
lich aufgehoben wird.
Der Begriff der Übung ist an und für sich ein gemischter, der
Psychophysisches Prinzip der Funktionsübung. 559
ebenso physiologische wie psychologische Erscheinungen umfaßt.
Auch wo uns ein Übergangsvorgang unmittelbar nur als psychischer
Tatbestand gegeben ist, da weist aber dieser regelmäßig auf gleich-
zeitige physische Übungsvorgänge hin. Diese gemischte Anwendung
des Begriffs zeigt schon, daß er ein symptomatischer ist, der an sich
einen nur provisorischen Wert besitzt. Sobald man ihm einen be-
stimmten Inhalt zu geben sucht, so wandelt er sich von selbst in eine
psychologische oder in eine physiologische Gesetzmäßigkeit um. So
hat der Begriff der psychologischen Übung seine Unterlage in der
Befestigung der Assoziationen durch Wiederholung, die zugleich die
beiden Hauptfälle der unmittelbaren Übung und der Mitübung
einschließt. Die erstere besteht in der durch oft wiederholte Asso-
ziation zunehmenden Bereitschaft eines vorangegangenen Bewußt-
seinsinhaltes zu seiner Erneuerung; die letztere in der Übertragung
einer solchen Bereitschaft von einem gegebenen Bewußtseinsinhalt
auf einen andern, der mit jenem häufig verbunden war. Dem stehen
die mannigfaltigsten Vorgänge rein physiologischer Art gegenüber,
die wir ebenfalls nach dem allgemeinen Charakter ihrer Wirkungen
der Übung und Mitübung unterordnen. So wird eine Muskelgruppe
geübt, wenn ihre Leistungsfähigkeit durch wiederholte Arbeit zu-
nimmt; und eine andere wird mitgeübt, wenn sie, ohne direkt an jener
Leistung beteiligt zu sein, infolge der mechanischen oder der nervösen
Verbindungen des Muskelsystems in Mitbewegungen gerät. Bei der
Übung peripherer Organe können wir über die Bedingungen dieser
Veränderungen einigermaßen Rechenschaft geben, indem wir sie
auf die durch die Arbeitsleistung gesteigerte Ernährung und die so
bewirkte Zunahme latenter Energie zurückführen. Dunkler ist der
Vorgang bei den für die psychophysischen Funktionen maßgebenden
Übungs Vorgängen im Nervensystem. Hier ist es, abgesehen von den
in gleicher Weise anzunehmenden Ernährungseinflüssen, hauptsäch-
lich eine Tatsache, die auf den eigentümlichen Charakter der Übungs-
vorgänge Licht wirft: das ist die schon bei den einfachsten Reizver-
suchen an motorischen oder sensibeln Nerven zu beobachtende Zu-
nahme der Reizbarkeit durch die Reizung^). Sie macht es
1) Vgl. oben Kap. I, S. 88.
560 Die Wortbildung.
begreif Hell, daß jede Bahn, die irgendwo im Nervensystem häufiger
von einem Erregungsvorgange durchflössen wird, für künftige Reize
zugänglicher wird. Daraus ergibt sich in der Anwendung auf die un-
endlich vielgestaltigen Leitungs- wie Erregungsbedingungen der Nerven-
zentren die Folgerung, daß die Wege, die ein Erregungsvorgang ein-
schlägt, in letzter Instanz zwar von den überhaupt vorhandenen und
in der vererbten Organisation gegebenen zentralen Elementen und
Nervenleitungen abhängen, daß aber zugleich die Bedingungen der
Erregbarkeit und der Leitung fortwährend durch die wirklich statt-
findenden Erregungen, gemäß jenem Prinzip der Zunahme der Reiz-
barkeit durch die Reizung, verändert werden. Die Leitungsbahnen
in einem individuellen Gehirn sind also zu einem sehr wesentlichen
Teile selbst schon Produkte dessen, was wir ,,Ubergangsvorgänge"
nennen. Die Substrate der Nerven erregungen sind nichts Beharren-
des, sondern in ihrer physiologischen Anlage zum Teil Erzeugnisse
ihrer Funktionen. Hiermit ist eigentlich eine feste Lokalisation dieser
Funktionen bereits ausgeschlossen. Bedenken wir aber vollends,
auf welch verwickeltem Zusammenwirken elementarer physischer
Vorgänge die Entstehung einer einfachen Sinneswahrnehmung, z. B.
eines zusammengesetzten Klanges oder einer ausgedehnten Fläche,
schon innerhalb der peripheren Anhangsapparate des Nerven-
systems beruht, so werden wir die Annahme, daß die Er-
regungszustände einer abgegrenzten Rindenstelle als physische
Substrate einer bestimmten Klasse von Vorstellungen, z. B. von
Laut- oder von optischen Bildern der Worte, anzusehen seien,
als unmöglich zurückweisen. Leider fehlen uns jedoch, abgesehen
von jenen allgemeinen Gesetzen der Erregung und Erregungsleitung,
auf physiologischer Seite alle Hilfsmittel einer exakteren Funktions-
analyse.
Dagegen bewährt es sich gerade bei der Sprache, daß die zu-
fälligen Störungen im Zusammenhang der Gehirnteile ein außer-
ordentlich wertvolles Hilfsmittel für die psychologische Analyse selbst
sind. Zerlegen sich uns doch bei solchen Störungen Vorgänge, die
im normalen Bewußtsein fast nur in ihrem ungeteilten Zusammen-
hang vorkommen, deutlich in ihre psychischen Komponenten; und
durch die Art der Ausgleichung der Störungen gewähren sie einen oft
Psychologische Deutung der zentralen Sprachstörungen. 561
überraschenden Einblick in die Wechselbeziehungen der psychischen
Funktionen. Abgesehen von dieser Hilfe, die sie der Psychologie
leisten, ergibt sich aber aus der Beziehung der Störungen zu bestimmten
Gehirnläsionen nur das allgemeine Resultat, daß wie schon der Sprach-
laut so das Wort im eigentlichsten Sinn ein psychophysisches
Gebilde ist, — ein psychophysisches auch in der Bedeutung, daß wir
die gesamten physiologischen Begleiterscheinungen der Sprachfunk-
tion weder als Ursachen noch als Wirkungen, sondern nur als Parallel-
vorgänge der psychischen Prozesse ansehen können. Denn die voraus-
zusetzenden physischen Anlagen lassen sich gerade so gut nur aus den
physischen Eigenschaften der Nervensubstanz ableiten, wie um-
gekehrt die psychischen Vorgänge der Wortbildung nur aus den
Assoziations- und Apperzeptionsprozessen zu begreifen sind. Als
psychisches Erzeugnis steht das Wort inmitten der gesamten
seelischen Entwicklungen, aus denen die Sprache hervorgeht; als
physisches ist es ein integrierender Bestandteil der auf ererbten und
erworbenen Anlagen beruhenden Funktionen des Nervensystems
und seiner Hilfsorgane.
7. Psychologische Deutung der zentralen Sprachstörungen.
Vermag uns die Physiologie, abgesehen von dem allgemeinen
psychophysischen Prinzip der Funktionsübung und seiner letzten
Zurückführung auf gewisse elementare Eigenschaften der Nerven-
erregung, über den Zusammenhang der zentralen Sprachstörungen,
über ihre Korrelationen und Kompensationen nicht die allergeringste
Auskunft zu geben, so verhält sich das wesentlich anders mit der
psychologischen Deutung der Erscheinungen. Hier bieten diese, wie
oben bemerkt, ein überaus wichtiges, durch kein anderes ersetzbares
Hilfsmittel für die psychologische Analyse der Wortbildungsvorgänge.
Die Natur hat in diesem Falle selbst für uns an einem Objekt, dem
menschlichen Gehirn, experimentiert, das sonst mehr als irgendein
anderes willkürlichen Eingriffen entzogen bleibt. Die Sprachstörimgen
können aber natürlich diese Hilfe nur deshalb leisten, weil sie selbst
einer nahezu vollständigen psychologischen Deutung zugänglich
sind.
Wundt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. 36
562 Die Wortbildung.
Die üblichen Lokalisationshypothesen pflegen, wie oben (S. 550)
erwähnt, schon an der Tatsache zu scheitern, daß mit tieferen Stö-
rungen des Wortgedächtnisses beinahe regelmäßig Störungen der
Artikulationsfähigkeit verbunden sind. Psychologisch betrachtet
ist diese Wechselbeziehung nicht bloß begreiflich, sondern nahezu
selbstverständlich. Ist doch das akustische oder optische Wortbild
so eng mit den Sprachbewegungen assoziiert, daß bei dem Natur-
menschen, bei dem nicht willkürliche Hemmungen diese Assoziation
teilweise gelöst haben, das gedachte oder gelesene Wort unvermeid-
lich in das gesprochene übergeht. Das Denken in Worten ist zugleich
leises Sprechen, und auch wenn die sichtbaren Bewegungen der Sprach-
organe unterdrückt werden, bleibt es dies in dem Sinne, daß schwache
Impulse zu denselben samt den sie begleitenden leisen Empfindungen
zurückbleiben. Werden nun durch irgendeine zentrale Störung die
Artikulationsbewegungen vmmöglich, so Versagt damit die Asso-
ziationshilfe, die sie den akustischen Wortvorstellungen gewähren.
Aber da die normale Wortassoziation Von den akustischen oder op-
tischen Wortvorstellungen zu den Artikulationsbewegungen geht,
nicht umgekehrt, so werden Störungen in der Bildung jener Vor-
stellungen immer auch mehr oder weniger die motorische Seite der
Sprachfunktion beeinträchtigen, während direkte Störungen der
Sprachbewegungen selbst nicht notwenig auf die akustischen oder
optischen Bestandteile der Wortkomplikationen übergreifen müssen.
Übrigens widerlegt diese vorwiegende Richtung der Assoziation auch
die auf die alte Lehre von den ,, inneren Sinnen" gegründete
Annahme, das motorische Sprachzentrum sei an sich nur ein
Zentrum der ,, Bewegungsvorstellungen" (S. 547). Denn jene Rich-
tung läßt sich offenbar am einfachsten erklären, wenn man
annimmt, die akustische oder optische Wortvorstellung löse
ursprünglich zunächst durch die Übertragung auf das mo-
torische Zentrum eine Artikulationsbewegung aus, und dann
erst entstehe konsekutiv die Artikulationsempfindung, nicht
aber umgekehrt aus den Bewegungsvorstellungen die wirkliche Be-
wegung.
Ähnlich erklärt sich psychologisch aus jener Richtung der Asso-
ziation von den sensorischen zu den motorischen Gebieten der Sprach-
Psychologische Deutung der zentralen Sprachstörungen. 563
funktion die nicht seltene Kombination der Schriftblindheit mit Be-
wegungsstörungen, während auch hier wieder sehr wohl die letzteren
ohne eine Spur von Alexie vorkommen können. Bei einem an das
Lesen gewöhnten Menschen bilden natürlich die optischen Wortbilder
wichtige assoziative Anregungen für die Wortartikulation, so daß
ihr Wegfall leicht an dieser bemerklich wird. Auch die oft vorkommen-
den Erscheinungen, daß Worte nachgesprochen, aber nicht für eine
längere Zeit festgehalten, oder daß falsche Worte substituiert oder
die Wortbestandteile falsch kombiniert werden, sind psychologisch
ohne weiteres aus den Abweichungen zu erklären, die man allgemein
bei einer Lockerung eingeübter Assoziationen beobachtet. Ehe eine
Assoziation ganz versagt, gestattet sie immer noch eine Erneuerung
für sehr kurze Zeit; und wenn eine bestimmte einzelne Assoziation
unsicher geworden ist, so pflegt zunächst noch ihre allgemeine Assö-
ziationsrichtung fortzuwirken. Das erstere erklärt die ,, Echosprache'*,
das letztere viele Erscheinungen der ,, Paraphasie". Für dieses Fort-
wirken bestimmter Assoziationsrichtungen ist es insbesondere kenn-
zeichnend, daß die Wortverwechslungen immer innerhalb der gleichen
Wortkategorie, und daß sie in den meisten Fällen sogar innerhalb
einer Gruppe irgendwie begrifflich verwandter Wörter bleiben. Nie
wird etwa ein Substantiv mit einem Verbum verwechselt; aber sehr
häufig vertauscht der Parapha tische Wörter wie ,, stehen"
und ,, hängen", ,, gehen" und ,, fahren", ,, Tisch" und ,, Stuhl"
u. dgl. Diese Vertauschungen erklären sich unmittelbar aus
Assoziationen, die durch jene übereinstimmenden Begriffs-
gefühle zustande kommen, durch die Wörter gleicher Gattung
Verbunden sind, und die ihrerseits mit gewissen übereinstimmen-
den Begriffselementen zusammenhängen. So kann man sich
z. B. die Verwechslung zwischen „gehen" und ,, fahren" durch
ein an das identische Element der Fortbewegung gebundenes
Gefühl Vermittelt denken. In andern Fällen partieller amnestischer
Aphasie sieht man nicht minder die Assoziationen der Berührungs-
elemente eine große Rolle spielen. So ereignet es sich häufig, daß ein
Gegenstand für sich allein nicht genannt werden kann, daß aber sein
Name sofort aufsteigt, wenn ein anderes Wort gesprochen wird, mit
dem er häufig verbunden vorkommt. Ein Patient hatte seinen eigenen
36*
564 Die Wortbildung.
Namen total vergessen. Nannte man seinen Vornamen, so geriet er
in heftige Aufregmig, ohne daß jedoch sein verzweifeltes Suchen Er>
folg hatte: die gewohnte Berührung der Namen erweckte offenbar
ein gewisses Bekanntheitsgefühl, vermochte aber noch nicht das Wort
selbst ins Bewußtsein zu heben. Dies geschah erst in dem Augen-
blick, wo auch der Anfangsbuchstabe des Zunamens genannt wurde ^).
Analoge Erscheinungen begegnen uns sehr oft bei den noch in die
Breite des normalen Lebens fallenden Gedächtnisdefekten.
Ganz und gar in der Richtung überall wiederkehrender Assozia-
tionserscheinungen bewegt sich ferner der in vielen Beobachtungen
amnestischer Aphasie zutage tretende Einfluß der Komplika-
tionen der Vorstellungen. Eine Vergessene Wortvorstellung
kann wiedererweckt werden, wenn irgendeine ihr assoziierte eines
andern Sinnesgebiets in das Bewußtsein tritt. Eine besonders wich-
tige Rolle spielen dabei die Komplikationen der akustischen, und der
optischen Wortvorstellungen sowie beider mit den Artikulations-
empfindungen des Sprechens und Schreibens. So konnte, wie oben
bemerkt, der Kranke Grasheys (S. 552) die Worte „schreibend finden":
die Assoziation des Wortes mit dem Schriftbild sowie die des letzteren
mit den Schreibbewegungen und den Von ihnen ausgelösten Emp-
findungen war also erhalten geblieben, und mittelst dieser Empfin-
dungen konnte sich dann auch für einen Augenblick die Assoziation
mit dem Worte wiederherstellen. Zu seinen Schreibbewegungen ver-
hielt sich hierbei der Kranke ebenso wie zu den unmittelbar gehörten
Worten, die er nachzusprechen vermochte. Infolge besonderer Kompli-
kationsbedingungen konnte aber statt des dominierenden Gesichts-
sinnes auch ein anderes Sinnesgebiet die Assoziationshilfe leisten:
so konnte er zwar die Uhr benennen, wenn er sie sah, aber eine glatte
Fläche oder die Spitze einer Nadel wurde von ihm nur als ,, glatt"
oder ,, spitz" bezeichnet, wenn er sie nicht bloß sah, sondern auch
betastete^). Bei der Aufstellung dieser Eigenschaften ist eben der
Tasteindruck so sehr der vorherrschende, daß er sich auch noch bei
1) H. Gudden, Neurologisches Zentralblatt, 1900, Nr. 1, S. 11.
^) G. Wolff, Zeitschr. für Psycho!, und Physiol. der Sinnesorg., Bd. 15,
S. 29.
Psychologische Deutung der zentralen Sprachstörungen. 565
dem Kranken als die mächtigere Assoziationshilfe erwies. Zugleich
spielt hier wohl der Umstand eine Kolle, daß das Eigenschafts-
wort überhaupt zu seiner deutlichen Vergegenwärtigung die
Assoziation mit einer bestimmten Gegenstandsvorstellung nötig
hat, und daß es daher stärkere Assoziationshilfen durch gleich-
zeitiges Sehen und Tasten fordert. Diese Anlehnung an den
Gegenstand wird besonders auch durch jene weitere Beobach-
tung belegt, daß dieser Kranke die Frage ,, welche Farbe hat
das Blut?" erst beim Anblick eines Blutstropfens beant-
worten konnte. Die Assoziation zwischen dem Wort ,,Blut"
und dem Wort ,,rot" war ihm verloren gegangen; ebenso war
die zwischen dem Wort ,,Blut" und dem Erinnerungsbild des
Blutes so schwach geworden, daß er sich zwar der allgemeinen
Bedeutung des Wortes wahrscheinlich infolge weiterer Assozia-
tionen mit bluthaltigen Organen u. dgl. erinnerte, daß aber das
sinnliche Erinnerungsbild des Blutes selbst nicht mit zu-
reichender Deutlichkeit erweckt wurde. Auch der Anblick
anderer roter Gegenstände genügte nicht: hier fehlte wieder die
Assoziation dieser Gegenstände mit der Vorstellung des Blutes;
erst diese Vorstellung selbst, wenn sie in der unmittelbaren
Wahrnehmung gegeben war, vermochte das Wort wachzurufen.
Indem hier der ganze normalerweise vorhandene Komplex von
Assoziationen mit einer einzigen zerstört ist, erweist sich deutlich
eben diese zurückbleibende Assoziation der sinnlichen Eigenschaft
mit dem anschaulich gegebenen Träger derselben als die stärkste
von allen. Zugleich ist in diesem Falle, ebenso wie in vielen andern
mit relativ stabil bleibenden oder allmählich sich ausgleichenden
Störungen, die intellektuelle Arbeit bemerkenswert, durch die sich
der Kranke Hilfsassoziationen zu Verschaffen suchte. Ähnlich beobach-
tet man wohl auch, daß Kranke mit Erfolg bemüht sind, das Verlorene
durch neue Einprägung wiederzugewinnen. Das sind immer solche
Fälle, in denen sich die Störung auf die Lösung gewisser mechanisch
eingeübter Assoziationen beschränkt, während die intellektuellen
Funktionen relativ ungestört bleiben. Sollten also auch, wie wir an-
gesichts des Einflusses der Erfahrungseindrücke auf die Willens-
entwicklung annehmen müssen, die ursprünglichen Willensrichtungen
566 Die Wortbildung.
selbst unter der Wirkung der Assoziationen entstanden sein, so muß
doch auf Grund jener Ausgleichung der Assoziationsstörungen durcli
willkürliche Anstrengung angenommen werden, daß, nachdem einmal
bestimmte Willensrichtungen vorhanden sind, diese unabhängig von
ihrer Assoziationsgrundlage fortdauern und regulierend und wieder-
herstellend in die Assoziationsvorgänge eingreifen können. So ent-
hüllt sich hier ein Kreislauf der Vorgänge, der im normalen Seelen-
leben wegen des gleichförmigen Fortschritts aller Entwicklimgen
verborgener bleibt. Die höheren intellektuellen Prozesse sind gleich-
zeitig Wirkungen und Ursachen der niederen, assoziativen. Einer-
seits entstehen sie aus den Verflechtungen und Verdichtungen, die
diese in der Seele eingehen und zurücklassen; anderseits aber regu-
lieren sie, einmal entstanden, den Strom der Assoziationen und
können demzufolge auch unter günstigen Umständen verloren
gegangene von neuem erzeugen oder durch andere stellvertretende
ersetzen.
Besonders naheliegend erscheint eine psychologische Deutung
endlich bei jenen Erscheinungen, die eine regelmäßige Beziehung
der Abnahme des Wortgedächtnisses zu der grammatischen Stellung
der Wörter erkennen lassen. Was den entscheidenden Einfluß aus-
übt, kann hier natürlich nicht die grammatische Kategorie als solche,
sondern nur der psychologische Charakter des Wortes sein, der wiederum
in dem Bewußtsein selbst direkt nur durch das begleitende Begriffs-
gefühl sich verrät und hierdurch erst indirekt mit dem für den gram-
matischen Wert des Wortes entscheidenden Vorstellungsinhalt des
Begriffs zusammenhängt. Wenn die Reihenfolge, in der die Wörter
vergessen werden, im allgemeinen von solchen mit konkreter sinnlicher
Bedeutung zu denen mit abstrakterer fortschreitet, so erklärt sich
aber dies aus der Wirksamkeit der Komplikationen. Je fester ein Wort
mit einer bestimmten sinnlichen Vorstellung assoziiert ist, um so
leichter kann es aus dem Bewußtsein verschwinden, da es nun ganz
und gar durch diese Vorstellung ersetzt werden kann. So vergessen
wir Eigennamen uns persönlich bekannter Personen am leichtesten,
weil uns, wenn wir an solche Personen denken, zunächst das Bild des
Menschen selbst im Bewußtsein steht. Den Eigennamen am nächsten
kommen die konkreten Substantiva: auch der Tisch, der Stuhl, der
Psychologische Deutung der zentralen Sprachstörungen. 567
Baum sind mir sofort in ihrer gegenständlichen Beschaffenheit gegen-
wärtig, und ich kann mir daher diese Gegenstände vorstellen, ohne
mich ihrer Namen zu erinnern. Etwas weiter in der Richtung der
Abstrakta entfernen sich schon die konkreteren Adjektiva, und noch
mehr die konkreten Verba. Eigenschaften wie rot, blau, groß, klein
usw. können an sehr vielen Objekten und darum in außerordentlich
mannigfachen einzelnen Nuancen vorkommen, sie bedürfen also schon
in höherem Maße des Wortes, um sie in ihrer allgemeinen Natur fest-
zuhalten. Vollends die konkreten Verbalbegriffe können zu den ver-
schiedensten sinnlichen Wahrnehmungsbildern gehören. Man über-
zeugt sich Von ihrer abstrakteren Natur am leichtesten, wenn man
sie mit entsprechenden Substantiven vergleicht: da ist ,, schneiden"
abstrakter als „Schere", „schlagen" als „Hammer" usw. Hier kann
daher schon viel weniger das Wort durch die Vorstellung selbst ver-
drängt werden. Das steigert sich endlich noch bei den eigentlich ab-
strakten Begriffen, welcher Wortkategorie sie angehören mögen, und
besonders bei den Partikeln, bei denen meist das Wort allein den Be-
griff vertritt, und wo daher dieser gar nicht gedacht werden kann,
ohne daß das Wort sich einstellt. Dazu kommt bei den Inter-
jektionen der Gefühlswert der Worte, und bei vielen Partikeln,
wie bei den meisten Präpositionen und Konjunktionen, neben dem
Einfluß des bei ihnen stark ausgeprägten ,, Begriffsgefühls", die
Häufigkeit des Gebrauchs, die ihnen, den selbständigeren Bestand-
teilen der Rede gegenüber, den Vorteil der größeren Einübung
verschafft^).
Wie der Einfluß der Einübung bei diesen häufig gebrauchten
Redeteilen neben andern mit der Bildmig der Wortkomplikationen
^) Auf den psychologischen Zusammenhang der bei der amnestischen
Aphasie, ebenso wie bei dem gewöhnlichen Vergessen, beobachteten Bevorzugung
bestimmter Wortklassen mit der Stellvertretung der Wörter durch assoziierte
Vorstellungen habe ich schon vor langer Zeit verschiedentlich hingewiesen („Gehirn
und Seele", Deutsche Rundschau, XXV, 1880, S. 6 ff., wieder abgedruckt Essays,
1885, S. 112 ff. Grundzüge der Physiol. Psychol.^ I, S. 223, 1880, I«, S. 372).
Ohne diese Arbeiten zu kennen, hat auch B. Delbrück (Jenaische Zeitschr. für
Naturwiss., XX, 1886) eine ähnhche Erklärung gegeben. Über die Natur des
,, Begriffsgefühls'* und des mit ihm verwandten „Bekanntheitsgefühls" vgl.
Physiol. Psychol. III«, S. 336, 546 f.
568 Die Wortbildung.
zusammenliängenden Motiven sicli geltend macht, so spielt er übrigens
noch sonst bei den Erscheinungen der Amnesie eine wichtige Rolle.
So ist, wenn das zu einem Gregenstand gehörige Wort vergessen ist,
damit keineswegs immer auch die umgekehrte Assoziation aufgehoben,
sondern bei etwas geringeren Graden der Störung wird zu dem gehörten
Wort in der Regel Vollkommen sicher der Begriff reproduziert. Dies
hat nach den Assoziationsgesetzen seinen guten Grund darin, daß
wir zu einem Wort, sobald uns überhaupt seine Bedeutung bekannt
ist, immer die zugehörige Vorstellung, daß wir aber keineswegs immer
zu einer Vorstellung das sie bezeichnende Wort assoziieren. Jene Asso-
ziationsrichtung ist also die eingeübtere: sie ist gegenüber der ent-
gegengesetzten ähnlich bevorzugt wie etwa die Assoziation der
Buchstaben in der von a bis z gerichteten Reihenfolge vor der
umgekehrten.
IL Psychologie der Wortvorstellungen.
1. Psychische Struktur der Wortvorstellungen.
Der psychologischen Untersuchung der Wortvorstellungen tritt
als nächstes Problem die Frage nach der Zusammensetzung dieser
besonderen Gattung von Vorstellungen gegenüber, an welche Frage
sich unmittelbar die andere nach der Verbindungsweise ihrer Bestand-
teile anschließt. Da es Vorzugsweise die zentralen Störungen der Wort-
bildung sind, in denen sich die Sprachfunktion deutlich in ihre Ver-
schiedenen Bestandteile zerlegt und zugleich die funktionellen Wechsel-
beziehungen derselben erkennen läßt, so bilden jene auch für die Unter-
suchung der psychischen Struktur der Wortvorstellungen die sicherste
Grundlage.
Was sich nun bei den pathologischen Sprachstörungen im all-
gemeinen sofort der psychologischen Betrachtung aufdrängt, das
ist die Tatsache, daß das Wort ein sehr zusammengesetztes psy-
chisches Gebilde ist, das zugleich durch diese seine komplexe Be-
schaffenheit in hohem Grade befähigt wird, nach den verschiedensten
Richtungen Assoziationsbeziehungen zu vermitteln, sowie sich selbst
Psychische Struktur der Wortvorstellungen. 569
durch die Verbindungen seiner Teile gegen störende Einwirkungen
zu erhalten. So bilden neben den Sprachlauten vor allem die Artiku-
lationsempfindungen einen wobl niemals ganz fehlenden, namentlich
aber bei der Hemmung anderer Elemente sehr lebhaft hervortreten-
den Bestandteil. Daneben können dann noch die gewohnheitsmäßig
gebrauchten Schriftzeichen des Wortbildes in die Verbindung ein-
geben, und an diese optischen Elemente endlich die Artikulations-
empfindungen der Tastorgane geknüpft sein, welche die Schreib-
bewegungen begleiten. Sind gleich diese optischen und graphischen
Bestandteile in der besonderen Ausprägung, in der wir sie in unserem
Bewußtsein vorfinden, selbstverständlich ein spezifisches Produkt
der Kultur, das schon bei den des Lesens wenig gewohnten Mitgliedern
der gleichen Kulturgesellschaft zurücktritt, so haben wir doch allen
Grund anzunehmen, daß es selbst in dem Bewußtsein des Wilden
an Äquivalenten derselben nicht fehlt. Denn je geringer die Fähig-
keit wird, das Wort in Lautzeichen graphisch zu fixieren, um so leb-
hafter pflegt statt dessen die Rede von Gebärden begleitet zu sein,
in deren pantomimischen Bestandteilen die Assoziationen unserer
Schriftsymbole in entgegengesetzter Richtung wiederkehren — , ent-
gegengesetzt deshalb, weil bei ihnen die Bewegungsempfindung das
Primäre, das Gesichtsbild der Bewegung aber das Sekundäre ist, ganz
wie bei der eigenen Hervorbringung der Sprachlaute, wo sich eben-
falls erst beim Nachsprechen gehörter Laute die Ordnung umkehrt.
In dieser erweiterten Bedeutung wird man demnach in jenen panto-
mimischen Bestandteilen wieder annähernd regelmäßige, in ihrer be-
sonderen Gestaltung und in ihrer Intensität freilich weit Veränder-
lichere Elemente der Wortkomplikationen sehen dürfen. Nennen wir
diese wechselnderen Elemente den graphischen, die beiden kon-
stanteren dagegen den Laut- und den Begriffsbestandteil des
Wortes, und deuten wir diese drei Glieder durch die Symbole Z, L
und B an, so sind hiernach zunächst L und Z aus zwei Untergliedern
zusammengesetzt, L aus dem akustischen a der Lautvorstellung und
dem motorischen m der Artikulationsempfindung, Z aus dem optischen
o des Wortzeichens und dem motorischen m' der zeichnenden Bewegungs-
empfindung. Nach den allgemeinen Eigenschaften der Begriffsvor-
stellungen ist aber B ebenfalls aus zwei Bestandteilen gebildet: aus
570 I^ie Wortbildung.
der objektiven Vorstellung v und dem diese begleitenden Gefühls-
ton g. Die vollständige Wortvorstellung erscheint so als eine drei-
teilige Komplikation mit je binärer Zusammensetzung ihrer Glieder:
a m o m v g.
Innerhalb dieser Komplikation müssen wir uns nun im allgemeinen
jedes Glied mit jedem andern verbimden denken, so daß es teils direkt
teils indirekt als Assoziationshilfe wirksam werden kann. Ferner
kann jeder Bestandteil entweder aller seiner Verbindungen oder bloß
einzelner verlustig gehen; und endlich kann eine Verbindung total
aufgehoben oder bloß gestört werden, in welchem letzteren, sehr
häufigen Falle sich eben der Ausfall durch Assoziationshilfen, die
durch Einübung allmählich wirksamer werden, ausgleichen kamu
< — «»
m
rn' ^ „ ^',
Fig, 38. Schema der sprachlichen Assoziationen.
Dabei lehren aber schon die gewöhnlichen Erfahrungen und zeigen
noch vollständiger die Sprachstörungen, daß die Festigkeit dieser
einzelneli Assoziationen eine erheblich verschiedene ist, indem sie
teils von der normalen Übung, teils, bei vorhandenem Ausfall, von
der kompensatorischen Energie der Hilfsassoziationen abhängt. Ab-
gesehen von der hierdurch verursachten Veränderlichkeit der Ver-
bindungen dürfte das folgende Schema die regelmäßigeren Erschei-
nungen mit einiger Vollständigkeit erläutern (Fig. 38). In. ihm sind
die zwischen den einzelnen Gliedern der Wortvorstellung bestehenden
Assoziationen durch verbindende Linien dargestellt. Die Dicke der-
selben versinnlicht die Festigkeit der Assoziation, die daneben an-
gebrachten Pfeile geben deren Richtungen an. Die rechts stehenden
Psychische Struktur der Wortvorstellungeii. 571
Symbole v g bedeuten irgendeine andere Begriffsvorstellung, die
eventuell mit v g assoziiert ist: sie soll die gelegentlich vorkommen-
den Einwirkungen äußerer Assoziationen, namentlich auch solcher
mit Erinnerungsbildern, veranschaulichen, wobei zu beachten ist,
daß ein Erinnerungsbild nach allgemeiner psychologischer Erfahrung
gegenüber dem Eindruck, auf den es zurückbezogen wird, ebenfalls
eine intensiv wie qualitativ abweichende Vorstellmig ist.
Als die festesten Verbindungen treten uns in diesem Schema,
wenn wir durch die Stellung der Buchstaben die Richtung der Ver-
bindungen andeuten, am, m a, ga und mm entgegen; die zu der
letzteren entgegengesetzte Assoziationsrichtung m m' ist dagegen
sehr schwach: wir können nicht leicht graphische Wortsymbole her-
vorbringen, ohne sie sofort mit Bewegungen der Sprachorgane zu
assoziieren, während wir leicht Worte artikulieren, ohne sie mit gra-
phischen oder Gebärdezeichen zu verbinden. Sehr innig sind auch
die Verbindungen a g und g a : das eine Vorstellung begleitende Be-
griff sgefühl macht sich deutlich auch dann noch geltend, wenn der
Vorstellungsbestandteil wirkungslos geworden ist, und ebenso er-
weckt der Laut ein Begriffsgefühl, wenn er die zu ihm gehörige Vor-
stellung nicht mehr zu erregen Vermag. Etwas schwächer sind die
Verbindungen a v und o v, und gegenüber ihnen stehen die umgekehrten
Richtungen v a und v o, sowie diejenigen zwischen o und den beiden
Formen der Bewegungsempfindungen m' und m endlich 7n m' (im
Gegensatz zu der sehr festen Assoziation m' m) noch weiter zurück;
zugleich ist die Verbindung o m in der Regel eine einseitige : wir asso-
ziieren zu Schriftbildern Artikulationsbewegungen, nicht oder doch
nur unter besonders günstigen Bedingungen der Übung umgekehrt
jene zu diesen, während die graphischen Empfindungen {tn) ebenso-
wohl durch Wortbilder erweckt werden wie selbst solche anregen
können (o m' und m' o). Einen durch die Vielheit der Verknüpfungen
begünstigten Fall bildet schließlich die Assoziation o a (optisches
Wortbild und Laut) : ist aucli die direkte Verbindung o a relativ
schwach, so wird sie doch durch die Zwischenglieder o m und m a
wesentlich unterstützt; daher denn auch das Schriftzeichen kaum
anders als unter gleichzeitigen Artikulationsbewegungen die Laut-
bildung anregt.
572 Die Wortbildung.
Hinsichtlich der einzelnen Formen der Sprachstörungen ergibt
sich aus diesem Assoziationsschema folgendes: 1) Aufhebung der Ver-
bindung a m ist die Grundlage der gewöhnlichen „ataktischen Aphasie" :
diese Störung kann erfahrungsgemäß bestehen, ohne daß die andern
Assoziationen wesentlich beeinträchtigt sind. 2) Aufhebung der Asso-
ziation V a bewirkt die Symptome der gewöhnlichen „amnestischen
Aphasie". Da die Verbindungen v a und a m beim Sprechen fort-
während zu koordinierter Funktion eingeübt werden, so leidet mit
V a in der Regel auch a m : mit amnestischer ist ataktische
Aphasie in irgendeinem Grade verbunden. 3) Auf analogen,
aber von den vorigen relativ unabhängigen Assoziationsunter-
brechungen 0 m oder v o und o m beruhen die Symptome der
,,Agraphie" sowie der ,,Alexie", bei welcher letzteren ebenfalls
Agraphie als Folgestörung zu bestehen pflegt. 4) Motorische
Aphasie kann ohne Schriftblindheit existieren, diese aber pflegt
umgekehrt mit jener verbunden zu sein; dies wird durch die ein-
seitige Verbindung o m ausgedrückt, die der eingeübten Assoziation
von Sehen und Artikulieren beim Lesen entspricht. Auf der Ein-
übung dieser Verbindung sowie der an sich schwächeren o m beruht
auch die pädagogisch wichtige Tatsache, daß Schreibbewegungen
die Worte exakter wiedergeben, wenn Laut und Schriftbild gleich-
zeitig, als wenn bloß eines von beiden einwirkt; im letzteren Fall sind
eben bloß Assoziationen a m\ m m oder o m, im ersteren sind beide
gleichzeitig wirksam i). 5) Erhaltung der Assoziation am beim Hin-
wegfallen aller andern Verbindungen begründet das Phänomen der
„Echosprache". Die nur durch besondere pathologische Ursachen
zu störende Festigkeit dieser Assoziation entspricht dem hohen Grade
der Einübung in dieser Richtung. 6) Eine unter beschränkteren Übungs-
bedingungen stehende, dann aber nicht minder feste Verbindung
ist m m. Ihre Erhaltung sowie die ihrer Ergänzungen v o, om und
ihrer Fortsetzung m a kann beim Ausfall der gewöhnlichen Verbin-
dung V a als Assoziationshilfe funktionieren : in diesem Fall erweckt
1) Vgl. W. A. Lay, Führer durch den Rechtschreibunterricht, 1897, S. 170.
H. Schiller, Studien und Versuche zur Erlernung der Orthographie, S. 54 ff.
Abhandl. zur pädagog. Psychol. von Schiller und Ziehen, II, 1898.
Psychische Struktur der Wortvorstellungen. 573
die grapMsclie Bewegung zuerst die Mitbewegung der Artikulations-
organe, und diese die akustische Wortvorstellung (Fall Grashey).
7) Die an sich schwächere umgekehrte Assoziation m m kann sich,
wenn Unterbrechungen derselben eintreten, in analogen Störungen
der Funktion des Schreibens bemerklich machen: ataktische Aphasie
ist daher zuweilen mit völliger Agraphie oder, wenn die Assoziationen
o m und a m kompensierend eingreifen, mindestens mit Schreib-
störungen verbunden; ebenso werden bei Stotternden nicht selten
die Artikulationsstörungen auf die graphischen Bewegungen über-
tragen. 8) Für die Assoziationen x) a und v o können Assoziationen
mit ähnlichen Vorstellungen, v g a und v g o, zu welchen letzteren
auch die bloßen Erinnerungsbilder der direkt durch äußere Eindrücke
erweckten Vorstellung v gezählt werden müssen, nur mangelhaft
Ersatz leisten, da diese Assoziationen im allgemeinen die geringste
Wirkungsfähigkeit besitzen. Umgekehrt kann aber das durch eine
erinnerte Vorstellung nicht ausgelöste Wort durch die Assoziation
mit einem direkten Sinneseindruck reproduziert werden. 9) Die Asso-
ziation in der Richtung a v ist erheblich fester als die umgekehrte
va, entsprechend der konstanteren Übung: ein bekanntes Wort kann
nicht gehört oder gesprochen werden, ohne die Vorstellung des Gegen-
standes zu erwecken, während diese im Bewußtsein eventuell für sich
allein vorkommen kann. Gegenüber der verhältnismäßig schwachen
Assoziation v a ist jedoch die von der Gefühlskomponente der Vor-
stellung ausgehende Assoziation g a relativ stark. Dies erklärt einer-
seits die bei paraphatischen Zuständen Vorkommenden Entgleisungen
innerhalb der gleichen, durch das Begriffsgefühl zusammenhängen-
den Wortkategorie, anderseits. Verbunden mit den allgemeinen Ge-
setzen der Übung und Mitübung, die Erscheinungen des progressiven
Schwundes der Wortkategorien bei fortschreitender Amnesie, indem
dabei im allgemeinen die Gefühlskomponente um so mehr hervor-
tritt, je unbestimmter die Vorstellungskomponente ist, bis endlich
die letztere durch das Wort selbst ersetzt wird: daher die Interjektionen
einerseits und die abstrakten Partikeln anderseits am längsten be-
harren.
Lassen sich hiernach die wesentlichen Störungen der Sprache
ohne Schwierigkeit aus den allgemeinen Assoziationsbedingungen
574 Die Wortbildung.
ableiten, so ersieht man docli ohne weiteres, daß es unmöglich sein
würde, etwa das oben gegebene Assoziationsschema in ein Schema
von Zentren und Leitungsbahnen umgewandelt zu denken. Einem
solchen Versuch steht schon die Tatsache im Wege, daß die hier dar-
gestellten Verhältnisse durchweg als Produkte einer assoziativen
Übung zu deuten sind, die individuell erheblich variieren kann.
Außerdem weisen aber die mannigfaltigen Gradabstufungen der
Störungen sowie nicht minder die Erscheinungen der Korrelation
und der funktionellen Aushilfe überall auf verwickelte Ver-
bindungen elementarer Funktionen hin, die noch dazu fortwähren-
den Veränderungen durch die Ausübung der Funktionen unter-
worfen sind.
Diese Abhängigkeit der Wortkomplikation von der Funktion
selbst sowie von den Assoziationshilfen, die durch den Ausfall be-
stimmter Funktionsrichtungen entstehen und durch Einübung be-
festigt werden, bringt es nun natürlich mit sich, daß die einzelnen
Verbindungen, aus denen sich eine vollständige Wortvorstellung zu-
sammensetzt, von Fall zu Fall wechselnde Verhältnisse darbieten.
Auch wird man infolgedessen die in dem obigen Schema ausgedrückten
Eigenschaften der vollständigen Wortkomplikation nur mit der Ein-
schränkung auf das normale Bewußtsein übertragen dürfen, daß solche
Assoziationen, zu deren besonderer Einübung in den individuellen
Lebensverhältnissen kein Anlaß vorliegt, latent bleiben oder nur
unter speziellen, sie begünstigenden Bedingungen gelegentlich aktuell
werden.
Außerdem steht das Wort, wie jede andere Vorstellung, infolge
der Assoziationsbeziehungen zu früheren Erlebnissen in jedem indi-
viduellen Bewußtsein in bestimmten, wiederum nach Zeitbedingungen
wechselnden Verbindungen, die, sobald sie wirksam werden, einen
verändernden Einfluß auf die Wortvorstellung ausüben können. Dieser
Einfluß macht sich bei der Wortbildung, ebenso wie bei der Ent-
stehung anderer Vorstellungen, besonders deutlich dann geltend,
wenn von außen einwirkende Sinnesreize die Vorstellung er-
wecken. Denn bei der Einwirkung eines Sinneseindrucks sind wir
im allgemeinen leicht in den Stand gesetzt, diejenigen Bestandteile
der Vorstellung, die unmittelbar durch den Eindruck erregt werden
Tachistoskopische Methode. 575
von solchen zu scheiden, die nicht auf jenen zurückzuführen sind,
die sich aber aus reproduktiven Elementen ableiten lassen. Hier
fordern daher zahlreiche auffallende Beispiele einer Inkongruenz von
Vorstellung und Eindruck von selbst zu Beobachtungen heraus, die
darauf gerichtet sind, diese bei jeder Vorstellungsbildung wirksamen
Assoziationen zu analysieren.
2. Tachistoskopische Methode.
Da die vollständige Wortvorstellung eine Komplikation aus
jenen drei bzw. sechs Gliedern ist, die wir oben symbolisch mit a m o
m V g bezeichnet haben, so steht es frei, welchen der beiden auf äußere
Eindrücke zurückgehenden Bestandteile a und o dieser Komplikation
man zur willkürlichen Erregung einer Wortvorstellung bevorzugt.
Doch ist hier natürlich derjenige Eindruck der geeignetste, der am
leichtesten die sämtlichen andern Bestandteile wachruft: dies ist
aber vermöge der oben entwickelten Assoziationsbedingungen bei
solchen Menschen, denen die akustischen und optischen Elemente
der Wortvorstellungen gleich geläufig sind, das Schriftbild, nicht
der Schalleindruck. Allerdings steht in einer Beziehung der Gesichts-
sinn hinter dem Gehörssinn zurück. Bei diesem gibt es keine Gebiete,
die Von viel geringerer Unterscheidungsschärfe sind, wie beim Auge
die peripheren im Verhältnis zu den zentralen Teilen des Sehfeldes.
Doch kommt dieser Nachteil im vorliegenden Falle nicht in Betracht.
Denn derjenige Teil der Netzhaut, mit dem wir wegen der dichteren
Anhäufung der Zapfenelemente deutlich genug sehen, um Wörter
vollkommen simultan zu lesen, ist groß genug, um bei geeigneter
Versuchseinrichtung den Umfang der Objekte, die wir gleichzeitig
mit der Aufmerksamkeit erfassen können, noch erheblich zu über-
treffen. Während nämlich genau in der Mitte der Netzhaut zwei
Punkte unter einem Gesichtswinkel von 60 — 90 Winkelsekunden
oder, in Objektgrößen ausgedrückt, bei 1 Millimeter Abstand von-
einander in 2% — 3^2 Meter Entfernung vom Sehenden noch deut-
lich bei normaler Sehschärfe unterschieden werden, ist diese Raum-
scTiwelle zwar 2% Grade von der Netzhautmitte schon auf etwa
3 Winkelminuten, also auf das Zwei- bis Dreifache jenes Schwellen-
576
Die Wortbildung.
Werts im Zentrum, gestiegen. Diese Größe ist aber immer nocli klein
genug, um z. B. das Lesen einer größeren Drucksclirift in angemessener
Nälie möglicli zu machen. Erst jenseits dieser Grenze sinkt die
Unterscheidungsscliärfe selir rasch, wie dies die Fig. 39 ver-
anschaulicht. In ihr bedeutet die gerade Linie n n einen durch
das Sehzentrum c ge-
legten,^ horizontal auf-
gerollt gedachten Netz-
hautdurchschnitt. Die
senkrechten Ordina-
ten versinnlichen den
Grad der Sehschärfe
an jedem Punkt. Die
Kurve, die diese Ordi-
naten verbindet, fällt
demnach im ganzen
sehr rasch von ihrem
der Netzhautmitte
entsprechenden Maxi-
mum, so jedoch, daß
in einem etwa 4 — ^5^
umfassenden zentra-
len Gebiet a h die
Sehschärfe zureichend
groß für die Unter-
scheidung kleinerer
Objekte von der Größe
unserer Schriftsymbo-
le bleibt. Diese ganze
Region a h bezeichnet
man daher gewöhnlich
als die des zentralen oder direkten, die übrige Netzhaut von
a bis n und von h bis n als die des peripheren oder indirekten
Sehens. In die letztere fällt, als ein Gebiet von etwa 6^ im Durch-
messer auf der Nasenseite der Netzhaut der blinde Fleck, d. h.
diejenige Stelle, die, dem Eintritt des Sehnerven entsprechend, wegen
Scliläfenseite
Ifasenseitc
-Tl'
1 . 1 1 \ 1 I — I — -i-
60 50 W 30 20 10 " C^ 70 20 30 W SO 60
Fig. 39. Graphische Darstellung der Sehschärfe
im direkten und indirekten Sehen.
Tachistoskopische Methode. 577
ihres Mangels an Stäbchen- und Zapfenelementen ganz unempfindlich
ist: sie ist in Fig. 39 durch den plötzlichen steilen Abfall der Ordinaten
auf Null angedeutet^). Hiernach ist die Region des zentralen Sehens
groß genug, daß auf ihr leicht 6 — 8 Wörter von mäßiger Länge, die
man über- und nebeneinander auf einem in richtiger Sehweite befind-
lichen Blatt anbringt, sämtlich gelesen werden können, wenn man
eine bestimmte auf dem Blatt angebrachte Marke fixiert. Dabei ist
es natürlich nur möglich, die einzelnen Wörter sukzessiv zu lesen,
nidem die Aufmerksamkeit von einem Worte zum andern wandert.
Zugleich beobachtet man, daß, während ein Wort gelesen wird, die
übrigen Wörter undeutlicher gegenwärtig sind. Es treten aus ihnen
zuweilen einige Buchstaben hervor, aber die nicht apperzipierten
Wortvorstellungen selbst bleiben dunkel: sie werden perzipiert,
nicht apperzipiert. Übrigens lassen auch sie in ihrer Deutlichkeit
Grade erkennen, die dadurch bedingt zu sein scheinen, daß es im Zu-
stande der Perzeption noch Abstufungen der Klarheit gibt. Diese
Abstufungen sind aber keineswegs bloß durch die Lage des Bildes
auf den mehr oder minder zentralen Sehregionen, sondern sie sind
bei diesen Beobachtungen, wo überhaupt nur ein beschränkter zentraler
Teil des Sehfeldes verwendet wird, fast ausschließlich von dem will-
kürlichen Wechsel der Apperzeption abhängig. Wenn man z. B. die
Mitte der Tafel fixierend ein seitlich gelegenes Wort liest, so hat man
von dem zentral gesehenen nur eine dunkle Vorstellung. Bei un-
gezwungener Aufnahme der Wortbilder pflegen wir jedoch infolge
der fest eingeübten Beziehung zwischen Apperzeption und Fixation
der Objekte regelmäßig das gelesene Wort auch in das Zentrum
der Netzhaut zu bringen.
Aus diesen psychophysischen Bedingungen und aus den sonstigen
durch physiologische Untersuchungen bekannten Eigentümlich-
keiten der Netzhauterregung ergeben sich nun die für die experimen-
telle Untersuchung der Entstehung von Wortvorstellungen geeigneten
Methoden ohne Schwierigkeit. Um den im Augenblick der Einwirkung
der Wortbilder eintretenden Apperzeptionsvorgang von den in der
1) Vgl. A. E. Fick, Archiv für Ophthalmologie, Bd. 44, 1898, S. 349. N.
Poschoga, Psychol. Stud., Bd. 6, 1910, S. 384 fi
Wundt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. '''
578
Die Wortbildung.
Zeit nachfolgenden, durcli Wanderungen der Aufmerksamkeit und
Augenbewegungen vermittelten Auffassungen zu sondern, bedient
man sich am besten
einer Vorrichtung, die
es gestattet, das aufzu-
nehmende Wortbild ge-
rade so lange, aber auch
nicht länger einwirken
zu lassen, als zu einer
einmaligen Apperzep-
tion erforderlich ist.
Die Zeit der Einwir-
kung darf daher weder
unter der Grenze der
hierzu überhaupt not-
wendigen Zeit liegen,
noch darf sie über die
Grenze gehen, wo eine
Wanderung der Auf-
merksamkeit eintreten
könnte. Ferner muß
das ganze Wortbild
oder die Reihe der
Wortbilder, die man
einwirken läßt, dem
Bewußtsein simultan,
nicht in einer merk-
baren Aufeinanderfolge
gegeben werden. Diese
Anforderungen erfüllt
das in Fig. 40 abgebil-
dete Fall-Tachistoskop.
Es besteht im wesent-
lichen aus einem auf
einem Fußbrett senk-
^. ,^ T. ,1 rt. , . . , recht stehenden starken
Flg. 40. Fall-Tachistoskop.
Tachistoskopische Methode. 579
Messingrahmen von 1 Meter Höhe, zwischen dessen vertikalen Säulen
sich in zwei Rinnen möglichst reibungslos ein Schlitten S von
geschwärztem Eisenblech bewegt. In diesem als Fallschirm dienen-
den Blech befindet sich eine rechteckige, der Exposition des
Objekts bestimmte Öffnung, deren Höhe durch einen Schieber von
annähernd 10 cm Querdurchmesser beliebig von Null an auf etwa
50 cm verstellt werden kann. Vor Beginn jedes einzelnen Versuchs
ist der Fallschirm in die Höhe geschoben, so daß der oben an ihm be-
findliche eiserne Anker A von den zwei kleinen Elektromagneten E
festgehalten wird. Das Sehobjekt, welches in der Figur aus einem auf
einem Karton gedruckten Wort (Empfindung) besteht, und welches
zwischen zwei dicht hinter den Schirmvorrichtungen befindlichen
Federn festgehalten wird, ist in jener Ausgangslage durch ein eben-
falls geschwärztes Schutzblech B verdeckt, das in seiner Mitte, genau
der Mitte des Sehobjekts entsprechend, eine kleine weiße Fixiermarke
hat, und das ebenfalls durch Federn, aber nur lose, festgehalten wird.
Im Augenblick, wo der Schirm S beim Herabfallen auf den oberen
Rand von B trifft, wird dieses daher in ein unten befindliches
Fangschild F geschoben, das sich dicht Vor den zur Aufnahme
des Schirmes S bestimmten Fangfedern C befindet. In Fig. 40
ist der Augenblick dargestellt, wo der Schirm S so weit gefallen
ist, daß seine Öffnung 0 gerade vor dem Sehobjekt steht und
das Schutzblech B im Herabgleiten begriffen ist. Weiterhin ist
noch, um die Geschwindigkeit der Fallbewegung früher oder
später, namentlich aber gegen Ende der Fallzeit vermindern zu
können, mit dem Schirm S eine Atwoodsche Einrichtung ver-
bunden. Der an S befestigte Faden / ist nämlich über ein mög-
lichst reibungslos zwischen Spitzen laufendes Rad R geschlungen,
um auf der andern Seite in einem kleinen Gewichte p zu endigen.
Dieses hebt, sobald es den an einer Skala verschiebbaren und fest-
zuschraubenden Ring t passiert, ein auf diesem befindliches zweites
Gewicht q in die Höhe. Durch geeignete Variation der Öffnung 0
und der Gewichte f und q läßt sich nun leicht die Zeit der Exposition
des Sehobjekts zwischen 0,005 und 0,050 Sek. variieren. Zur Beobach-
tung dient ein schwach oder gar nicht vergrößerndes astronomisches
Femrohr mit Fadenkreuz, welches letztere man bei Beginn des Ver-
37*
580 Die Wortbildung.
suchs auf den Fixierpunkt des Scliirmes B einstellt. Wegen der durch
das Femrohr erzeugten Umkehrung der Bilder müssen auch die Seh-
objekte, wie die Figur zeigt, in umgekehrter Stellung eingesetzt wer-
den. Die Geschwindigkeit der Bewegung wählt man am zweck-
mäßigsten so, daß die Sehobjekte etwa während einer Zeit von
0,01 Sek. sichtbar sind. Bei dieser Geschwindigkeit kann man
sicher sein, daß ebenso jede Bewegung des Auges wie jedes Wan-
dern der Aufmerksamkeit unmöglich ist^). Wählt man die Zeit
des Eindrucks wesentlich kürzer, so ist das Bild zu flüchtig, um
überhaupt ein Erkennen irgendwelcher Teile des Gegenstandes zu
ermöglichen. Wählt man sie länger, so erhält man nicht mehr
einen annähernd momentanen, sondern einen länger dauernden
Eindruck, und die Bedingungen gehen daher in die des gewöhnlichen
Lesens über 2).
3. Erscheinungen bei kurz dauernder Einwirkung
von Wortbildern.
Bietet man in der angegebenen Weise im Tachistoskop die op-
tischen Wortbilder der Sprache und ihre Bestandteile, die Buch-
staben, in den durch unsere Lesegewohnheiten bevorzugten Formen
dem Auge, so beobachtet man die folgenden, zuerst von Cattell be-
schriebenen Erscheinungen. Bei den ersten Versuchen, die ein Beobach-
ter ausführt, vermag er in der Regel nur Fragmente eines Wortes auf-
zufassen. Ist aber die geeignete Versuchsübung eingetreten, so apper-
zipiert er ein kürzeres Wort nicht selten ohne Schwierigkeit mit einem
Mal entweder schon bei der ersten Darbietung oder bei mehrmaliger
^) Diese Zeitbestimmung gilt für normale Sehschärfe. Ist diese vermindert,
so ist es notwendig, mit der Expositionszeit auf 0,015 — 0,020" zu steigen.
*) Wahrscheinlich ist dieser Grenzfall bereits erreicht in den von B. Erd-
mann und R. Dodge ausgeführten tachistoskopischen Versuchen (Psychologische
Untersuchungen über das Lesen, 1889, S. 94 ff.). Die Verff. bedienten sich näm-
lich erstens künstlicher Lichtquellen, nicht des wegen seiner günstigen Adaptions-
verhältnisse und der relativ kürzesten Dauer der Nachbilder unbedingt zu bevor-
zugenden Tageslichts; und sie wählten durchgängig die sehr lange Einwirkungs-
zeit von 0,1'*. Es ist daher begreif hch, daß ihnen die meisten der unten zu er-
wähnenden Assimilationserscheinungen entgangen sind.
Erscheinungen bei kurz dauernder Einwirkung von Wortbildem. 581
Wiederholung des Eindrucks. Dabei spielt jedoch der Umstand, ob
das Wort mehr oder minder geläufig ist, eine sehr große Rolle. Während
ein geläufiges Wort leicht beim ersten Male gelesen wird, bedarf ein
vmgewohntes oder unbekanntes stets einer öfteren Wiederholung.
Noch mehr gilt dies von sinnlosen Buchstabenkombinationen. Richtet
man endlich den Versuch so ein, daß man bei einem gegebenen Objekt
die Einwirkungszeit so lange von Null an zunehmen läßt, bis dasselbe
erkannt wird, so ergibt sich, daß die kürzeste Zeit, die nötig ist, für
einen Buchstaben geläufiger Druckschrift mindestens ebenso lange
dauert wie für ein bekanntes kürzeres Wort, ja daß das letztere in
der Regel leichter und fehlerloser gelesen wird als der erste. Substi-
tuiert man ferner in einem Wort einzelne falsche den richtigen Buch-
staben, so wird der Fehler nicht nur sehr häufig nicht bemerkt, son-
dern man hat sogar den Eindruck, die nicht existierenden, durch an-
dere ersetzten Buchstaben ebenso deutlich zu sehen wie die wirklich
vorhandenen^).
Diese allgemeinen Ergebnisse gewinnen nun weiterhin in den
im Verlaufe der Versuche zu machenden Beobachtungen über die Art,
wie das zuerst imvoUkommen gesehene Bild allmählich in ein deut-
liches übergeht, eine wichtige Ergänzung^). Wird ein zwischen den
geläufigsten und den ganz ungewohnten Wortbildern imgefähr in der
Mitte stehendes Wort dargeboten, so bemerkt in der Regel auch der
geübte Beobachter beim ersten Versuch nur vereinzelte Teile des
Bildes, etwa 3—4 Buchstaben, deutlich; von den übrigen hat er den
Eindruck, daß irgendwelche Buchstaben vorhanden seien, er vermag
sie aber nicht zu erkennen. Von einem Worte wie z. B. Aprikose er-
hält man, wenn wir die undeutlich perzipierten Teile des Bildes durch
Punktierung andeuten, etwa ein Bild wie Äp . . ä; . ., Ap , ik . . .,
Ap , , k . , e u. dgl., wobei sich zumeist die durch besondere Merkmale
ausgezeichneten Buchstaben, z. B. die großen Anfangsbuchstaben,
1) J. M. Cattell, Philos. Stud., Bd. 3, 1886, S. 95 ff. Vgl. bes. S. 111 f.,
123 f.
2) Das Folgende hau^sächlich nach den Versuchen von Jul. Zeitler, Tachi-
stoskopische Untersuchungen über das Lesen, Phil. Studien, Bd. 16, 1900, S. 380 ff.
Physiol PsychoL, III«, S. 573 ff.
582 Die Wortbildung.
die ober- und un terzeiligen Typen, vorzugsweise zur Apperzeption
drängen. Wiederholt man dann den Versucli, so treten ein zweites
Mal nocli weitere Elemente hinzu, oder es wird auch sofort
das ganze Wort, wie beim gewöhnlichen Lesen, als ein simultan
gegebenes Ganzes wahrgenommen. Jedenfalls tritt dies aber
bei einer der folgenden Darbietungen ein. Wählt man dagegen
oft gebrauchte "Wörter, so kann es sich, namentlich bei kürzeren
Wortbildungen, leicht ereignen, daß sofort bei der ersten Ein-
wirkung das ganze Wort vollkommen klar gesehen wird. Das
nämliche kann sogar bei längeren Wörtern eintreten, falls sie
nur sehr geläufig sind, etwa mit dem gewohnten Vorstellungs-
kreis des Beobachters oder den Gegenständen der unmittelbaren
Beschäftigung in naher Beziehung stehen, wie z. B. ,, Aufmerk-
samkeit", ,, Bewußtseinszustand'* u. dgl. Wendet man umgekehrt
ganz unbekannte oder sinnlose Buchstabenverbindungen an, so
ist die Grenze des überhaupt erreichbaren Apperzeptionsumfangs
weit enger gesteckt, und es kommen überaus leicht Verlesungen vor,
namentlich in der Weise, daß irgendein bekannteres Wort, das einige
Buchstaben mit dem unbekannten gemein hat, diesem substituiert
wird. Dabei steht nicht nur bei kürzeren Wörtern das falsch gelesene
genau ebenso deutlich vor dem Bewußtsein und also scheinbar vor
dem äußeren Auge wie das richtig gelesene, sondern dies gilt bei
größeren Wortbildern auch von solchen Teilen des Wortes, die jen-
seits der Region des direkten Sehens liegen: hier erweitert sich also
das Gebiet der scheinbar deutlichen Wahrnehmung über die durch
die Struktur der Netzhaut gesetzten Grenzen des Sehens hinaus.
Besonders leicht werden aber Verlesungen hervorgerufen, wenn man
nur einzelne willkürliche Abweichungen von einem geläufigen Wort-
ganzen einführt: dann ist die Substitution richtiger für falsche Sym-
bole die Regel, falls man nicht gerade solche Buchstaben vertauscht,
die eine hervortretende Rolle als Merkmale des Wortes spielen. Eine
beachtenswerte, namentlich bei bekannteren Wörtern zuweilen auf-
tretende Erscheinung ist endlich noch die, daß man bei der
ersten Einwirkung nur einzelne Zeichen deutlich sieht, die
übrigen dunkel, hierauf aber einen Moment nachher, wenn das
Sehobjekt selbst schon verdeckt ist, plötzlich das Wort vor dem
Erscheinungen bei kurz dauernder Einwirkung von Wortbiidem. 583
Bewußtsein steht. Auch in diesem Fall erscheint es jedoch nicht
wie ein bloßes Erinnerungsbild, sondern deutlich wie ein wirklicher
Eindruck.
Diese Beobachtungen zeigen, daß es bei irgendwie zusammen-
gesetzteren Sehobjekten niemals der äußere Eindruck allein ist,
den wir apperzipieren, sondern daß dieser stets mit reproduk-
tiven Elementen zusammenwirkt, die sich mit ihm zu einer
einheitlichen, in ihren direkten und reproduktiven Teilen gar
nicht zu unterscheidenden Wort vor Stellung verbinden. Was dem
Eindruck entnommen wird, das sind zunächst gewisse domi-
nierende Elemente, die ihre Bevorzugung meist äußeren Eigen-
schaften, zuweilen aber auch subjektiven Bedingungen, sei es
ihrer größeren Geläufigkeit, sei es der zufälligen Richtung der
Aufmerksamkeit, verdanken. Diese dominierenden Elemente wer-
den deutlich apperzipiert, alle übrigen Teile des Gegenstandes
werden nur dunkel perzipiert. Augenscheinlich gewährt jedoch
diesen letzteren die Gruppe der dominierenden Elemente eine
wirksame Assoziationshilfe: sie verbinden sich daher nun mit
reproduktiven, die durch jene dominierenden Teile in das Be-
wußtsein gehoben werden. So ist die endlich zustande kommende
Wortvorstellung das Produkt einer Assimilation der dar-
gebotenen Eindrücke durch die disponibeln Reproduk-
tionselemente, wobei aber, wie besonders die Erscheinungen des
Verlesens zeigen, ebenso die direkten auf die reproduktiven Elemente
wie diese auf jene einwirken: die direkten erwecken die reproduktiven,
und diese verdrängen die ihnen ungleichen Bestandteile des Emp-
findungseindrucks, deren Stellen sie einnehmen. Jede Wortapper-
zeption erfolgt also immer erst auf Grund einer assoziativen Wechsel-
wirkung direkter und reproduktiver Elemente, und je nach den be-
sonderen Bedingungen können bald jene, bald diese in dem entstehen-
den Endprodukt überwiegen. Dieser Vorgang der Assimilation und
Apperzeption erfolgt ferner im allgemeinen simultan, d. h. in
einer für uns un wahrnehmbaren Zeitfolge. Doch kann in besonderen
Fällen, wo die Assimilationsprozesse ungewöhnliche Hemmungen
erfahren, für einzelne Teile des Vorgangs eine Zeitfolge bemerkbar
werden.
584 Die Wortbildung.
4. Das Wort als simultane Vorstellung.
Abgesehen von diesen durch besondere Verhältnisse herbei-
geführten Hemmungen ergibt sich aus den obigen Beobachtungen,
daß ein bekanntes Wort in der Regel unmittelbar als ein einheit-
liches Ganzes simultan apperzipiert, nicht erst aus seinen
Bestandteilen, den Buchstaben oder Lauten, in unserer Vorstellung
zusammengefügt wird. Vielmehr fassen wir diese Bestandteile zumeist
überhaupt nicht als Teile, sondern als Merkmale des Ganzen auf.
Nur wenn das Wort ein größeres, selbst wieder aus mehreren Wörtern
zusammengesetztes Gebilde ist, das die Grenzen des Umfangs der
Apperzeption überschreitet, wird es Gegenstand einer sukzessiven
Apperzeption. Immer ist aber dabei das einzeln Apperzipierte ein
bis zu einem gewissen Grade selbständiges Wortgebilde, das für sich
schon Assoziationen einzugehen vermag. Ein ähnliches Verhältnis,
%vie der einzelne Laut oder sein optisches Zeichen zum Wort, zeigt
dann wiederum das Wort zum Satze. Auch der Satz kann, falls er
nicht durch seinen Umfang die Grenzen der simultanen Apperzeption
überschreitet, als ein Ganzes aufgefaßt werden. Aber dieses um-
fassendere Ganze hat einen loseren Zusammenhang als das einzeln
aufgefaßte Wort, und der Umfang, um den die Verbindung der Wörter
zum Satze das Gebiet der simultanen Apperzeption erweitert, ist
daher ein relativ kleiner.
Es könnte scheinen, als wenn mit diesen Ergebnissen der Ver-
suche über momentane Apperzeption zwei bekannte Tatsachen im
Widerspruch stünden: erstens, daß der Lauteindruck eines Wortes
in der Regel, namentlich bei allen mehrsilbigen Wörtern, kein simul-
taner, sondern ein sukzessiver ist; und zweitens, daß wir zur Hervor-
bringung optischer Wortbilder, nicht bloß bei den Formen der Laut-
schrift, sondern auch bei der primitiveren Bilderschrift, einer Suk-
zession Von Bewegungen bedürfen, da ja das Bild, ebenso wie die ihm
verwandte zeichnende Gebärde, nur allmählich entstehen kann. Auf
diesen beiden Tatsachen beruht denn wohl auch die verbreitete
Meinung, Sprechen wie Hören, Schreiben wie Lesen seien für
unsere psychische Tätigkeit in ganz derselben Weise sukzes-
sive Vorgänge, wie die äußeren Artikulations- und Schreibe-
Das Wort als simultane Vorstellung. 585
bewegungen solclie sind. Nichtsdestoweniger ist dies, wenn man
von gewissen Fällen des verständnislosen Nachsprechens und
des absichtlichen oder angelernten lautierenden und buchstabieren-
den Lesens absieht, ein Irrtum. Bei der Auffassung eines Wortes
gelangen zwar die Laute in einer bestimmten Aufeinanderfolge
zu unserem Ohr; doch das Wort als solches, in seiner unmittel-
baren Assoziation mit einer bestimmten Begriffsvorstellung, apper-
zipieren wir in einem einzigen simultanen Akt. Bereitet die
Auffassung Schwierigkeiten, z. B. bei einer fremden Sprache oder
einem ungewohnten Worte, so kann dieser zwar dem sukzessiven
Hören aller Wortbestandteile nachfolgen, bei der Auffassung eines
wohlbekannten Wortes ist er aber entweder mit dem letzten ge-
hörten Laut gleichzeitig oder er tritt, bei längeren Wörtern, schon
etwas früher ein. Letzteres geschieht besonders dann, wenn die
Verbindung der EinzelVorstellung des Wortes mit der im Satze
ruhenden Gesamtvorstellung auf den Begriff hinweist, der im
Wort ausgedrückt ist. Ebenso ist beim Sprechen die Wort-
vorstellung als solche ein simultaner Akt, nur daß dieser nicht,
wie beim Hören, nachfolgt, sondern den Artikulationsbewegungen
vorangeht. Dabei finden sich dann freilich hier wie dort die
einzelnen Bestandteile der Wortkomplikation nicht in gleicher
Weise simultan im Bewußtsein, sondern der eigentliche Akt
der momentanen Apperzeption trifft vor allem die Bedeutungs-
komponente, den an das Wort gebundenen Begriff. Mit dieser
zugleich wird aber einer der Lautbestandteile, im allgemeinen
derjenige, der im Moment jener Begriffsapperzeption gerade aus-
gesprochen oder gehört wird, apperzipiert. Die übrigen befinden
sich in einem etwas verdunkelten, wenn auch immer noch hin-
reichend deutlichen Zustande, daß das ganze Wort selbst nach
seinem Lautgehalt als simultan aufgefaßt erscheint. Genau wie der
Sprechende Verhält sich endlich der Schreibende, sobald ihm das
Schreiben eine eingeübte, auf festen Assoziationen beruhende Tätig-
keit geworden ist: die Wortvorstellung geht der schreibenden Re-
produktion des Wortbildes voraus. Da sie aber dieser im allgemeinen
als Lautvorstellung vorausgeht und die Lautartikulationen weit
schneller ablaufen als die Schreibbewegungen, so halten beide meist
586 Die Wortbildung.
nicht gleichen Schritt. Der Schreibende muß seine vorauseilenden
Wortvorstellungen gewaltsam hemmen, oder es widerfährt ihm, daß
im Schriftbilde später kommende Wortbestandteile oder selbst ganze
Worte antizipiert werden. Das begegnet begreiflicherweise am leich-
testen teils solchen Personen, denen das Schreiben eine wenig ge-
wohnte Tätigkeit ist, teils aber auch solchen, die in hohem Grad an
die freie Rede gewöhnt sind. Nächst den des Schreibens wenig Kun-
digen und den Imbezillen sind daher die Redner die schlechtesten
Abschreiber. In jeder Beziehimg am günstigsten verhält sich hin-
sichtlich der möglichst vollkommenen Gleichzeitigkeit aller bei der
Wortapperzeption beteiligten Funktionen das geübte Lesen. Hier
ist der Gesichtssinn dem Gehör wie den Lautartikulationen dadurch
überlegen, daß er eine Anzahl simultan im Raum gegebener Vor-
stellungsobjekte auch simultan zur Empfindung bringt. Bei ihm kann
daher mit der entscheidenden Begriffsapperzeption jedesmal die Auf-
fassung des zugehörigen optischen Wortbildes zusammenfallen. Von
dem Lesen gilt deshalb, wenn diese Bedingung Vollkommener Übung
erfüllt ist, mehr als von irgendeiner andern Art der Sprachfunktion,
daß bei ihm die Apperzeption von Wort und Begriff einen einzigen
Akt bildet^). Deshalb bietet er auch am häufigsten diejenige Erschei-
nung dar, welche die simultane, aus direkten und reproduktiven Ele-
menten gemischte Bildung der Wortvorstellungen deutlich zur An-
schauung bringt: die falsche Assimilation und Apperzeption der
Worte. Diese besteht aber, wie die tachistoskopischen Versuche lehren,
keineswegs etwa darin, daß ein Teil des gelesenen Wortes ungenau
wahrgenommen und, wie man unter Anwendung der bekannten vul-
gärpsychologischen Interpretation gemeint hat, durch eine „Ver-
mutung" ergänzt wird, sondern der falsch gelesene Bestandteil wird
^) Die hiermit eng zusammenhängende Tatsache, daß zu Wörtern ver-
bundene Schriftzeilen in so viel größerer Zahl als unverbundene simultan apper-
zipiert werden können, hat man aus der bekannten Erfahrung zu erklären gesucht,
das wir Wörter leichter im Gedächtnis bewahren als sinnlose Buchstabenver-
bindungen. Nun können die letzteren natürlich auch schneller vergessen werden.
Aber vor allen Dingen werden sie unvollkommener oder gar nicht apperzipiert,
weil, wie die oben erörterten tachistoskopischen Versuche zeigen, die ihre Assi-
milation vermittelnden reproduktiven Elemente unwirksam bleiben.
Das Wort als simultane Vorstellung. 587
wirklich anders gesehen. Bei der Substitution von Worte für
Warte, von Fliege für Folge z. B. sieht man dort das o, hier
das i, Buchstaben, die im wirklichen Eindruck gar nicht vor-
kommen, ganz so unmittelbar wie die übrigen, und wenn man
über den Fehler aufgeklärt wird, so erinnert man sich nicht
selten gerade dieser falsch gelesenen Buchstaben besonders deut-
lich. Ähnlich verhält es sich, wenn das nicht existierende Symbol
in die Region des indirekten Sehens oder in eine völlig leere Stelle
des Sehfeldes projiziert wird. Daß übrigens eine ähnliche Sub-
stitution bei der akustischen Auffassung der Worte dieselbe
Rolle spielt, lehren die häufigen Erfahrungen über das ,, Verhören",
das dem Verlesen offenbar in allen diesen Beziehungen analog ist,
nur daß sich diese Ergänzungen meist nicht in ebenso greifbarer
Form nachweisen lassen.
Noch bei andern Erscheinungen im Gebiete der optischen Wort-
bilder, die man ohne jede künstliche Versuchsvorrichtung beobachten
kann, tritt endlich die simultane Natur des Vorgangs der Wortapper-
zeption oft überraschend hervor. Die moderne Typographie bringt
es gelegentlich zustande, namentlich auf Büchertiteln die Wörter
durch die Unregelmäßigkeit der Linienführung und durch umgebende
Arabesken gleichsam künstlich dem Auge zu verheimlichen. Dabei
kann man nun wahrnehmen, daß das Wort, nachdem es zuerst un-
erkannt geblieben, plötzlich und fast blitzartig vor dem Auge auf-
leuchtet. Diese Beobachtung entspricht ganz den Erscheinungen
der bekannten Vexierbilder, bei denen die Umrißzeichnung eines
Gegenstandes, z. B. einer Katze, in irgendeinem Bild, etwa in dem
Baumschlag einer Landschaft, angebracht ist. Auch solche Vexier-
bilder leuchten in dem Augenblick, wo sie erkannt werden, plötzlich
auf. Dabei sind aber, da es sich um eine Betrachtung dauernder Ob-
jekte handelt, Augenbewegungen, die bei den tachistoskopischen Ver-
suchen wegen der sehr kurzen Dauer der Einwirkung ausgeschlossen
sind, von Einfluß; imd man kann zuweilen beobachten, daß die zu-
fällige Bewegung entlang einer Umrißlinie des Vexierbildes dieses
sofort erscheinen läßt. Bei den Beobachtungen mit einer Vexierschrift
kann man ferner nicht selten auch den Einfluß wahrnehmen, den die
besondere, unter Umständen willkürlich herbeizuführende Disposi-
588 Die Wortbildung.
tion des Bewußtseins auf die Erscheinung ausübt. So habe ich mich
jahrelang an einem jetzt leider durch ein anderes ersetzten Firmen-
schild erfreut, auf welchem ein Name mit so dicken Goldbuchstaben
auf schwarzem Grunde geschrieben stand, daß man sich leicht ein-
bilden konnte, man habe ein mit schwarzen Buchstaben auf Gold-
grund geschriebenes Wort vor sich. Machte man sich nun willkürlich
diese Vorstellung, so verschwand das Wort spurlos aus der Apper-
zeption, die Schrift wurde zum sinnlosen Ornament, um sofort wieder
deutlich aufzutauchen, wenn man zur umgekehrten Vorstellung, daß
der Grund schwarz und die Schrift golden sei, überging. Auch hier
schien der Vorstellungswechsel durch Augenbewegungen, die den
wirklichen oder vermeintlichen Buchstaben entlang liefen, eingeleitet
zu werden.
Indem nun die Tatsache, daß das Wort im allgemeinen simul-
tan apperzipiert wird, ohne weiteres die Verschiedenheiten in der
Auffassung isolierter und zu Worten verbundener Schriftzeichen
erklärt, beweist sie zugleich, daß die Schriftzeichen oder Laute eines
Wortes Merkmale dieses einheitlichen Ganzen sind. Sie sind aber
Merkmale im psychologischen, nicht im logischen Sinne: sie sind
nicht Eigenschaften, nach denen das Objekt begrifflich in eine Klasse
bekannter Gegenstände eingeordnet wird, sondern sie sind Gruppen
von Empfindungselementen, die durch Assoziation mit reproduktiven
Elementen das immittelbare Wahrnehmungsbild des Objekts hervor-
rufen. Für unsere Auffassung ist demnach ein Wort ebenso eine ein-
zelne Vorstellung wie der einzelne Buchstabe. Von beiden Arten der
Vorstellung können deshalb auch annähernd gleich viele gleichzeitig
apperzipiert werden. Wenn hier meist ein kurzes Wort noch ein wenig
schneller aufgefaßt wird, so beruht dies vermutlich darauf, daß die
einzelnen Teile desselben als wechselseitige Assoziations- imd Assi-
milationshilfen wirksam sind. Dem entspricht denn auch die weitere,
bei zeitmessenden Versuchen gefundene Tatsache, daß die Zeit, in
der auf die Erkennung eines einzelnen Buchstabens durch eine verab-
redete Bewegimg reagiert wird, durchschnittlich ebenso groß oder eher
etwas größer ist als die Zeit, in welcher die Reaktion auf die Erkennung
eines einfacheren, wohlbekannten Wortes erfolgt; und soweit ein Unter-
schied besteht, beruht er nicht auf der verschiedenen Zahl, sondern
Psychologische Analyse der Wortassimilationen. 589
auf der verschiedenen Verwicklung der verglichenen Vorstellungen,
d. h. auf der größeren oder geringeren Mannigfaltigkeit ihrer Merk-
male^). Natürlich ändern sich aber diese Bedingungen, wenn Worte
und Buch stabensym hole beide noch relativ unbekannte Objekte sind.
So bedarf das Kind beim Lesenlernen vor allem der Kenntnis der ein-
zelnen Buchstaben, um die ganzen Worte lesen zu können, daher
denn auch die Pädagogik, obgleich sie der Buchstabiermethode ent-
sagt hat, doch wohlweislich daran festhält, mit einzeln deutlich wahr-
zunehmenden Buchstaben das Lesen beginnen zu lassen und dann
erst allmählich zu den kleineren Schriftformen überzugehen. Für das
lesenlernende Kind ist ein einzelner Buchstabe zunächst noch nicht
Merkmal, sondern Teil des Wortbildes. Bei wachsender Übung ver-
ändert sich dann die Sukzession der Apperzeptionen nur wenig in
ihrer Geschwindigkeit, um so mehr aber in bezug auf den Umfang
der Einzel Vorstellungen, die in einem einzelnen Akt verbunden wer-
den. Dies kann allein dadurch geschehen, daß immer und immer
wieder die nämlichen Wortbilder einwirken, und daß so ganz allmäh-
lich das, was ursprünglich selbständiger Bestandteil einer zusammen-
gesetzteren Vorstellung war, in ein Merkmal derselben übergeht.
Hierin ist dann von selbst die Aufforderung gelegen, auch die Größe
der zusammengesetzten Objekte zu vermindern, damit sie leichter
simultan aufgefaßt werden können, um so mehr, da, sobald nur eine
zureichende Anzahl von Merkmalen gegeben ist, die in der Wahr-
nehmung ausfallenden derart ergänzt werden, daß sie sich von den
direkt empfundenen nicht unterscheiden.
5. Psychologische Analyse der Wortassimilationen.
Für die psychologische Analyse der Wortvorstellungen sind vor
allem die Erscheinungen der Ergänzung der gesehenen oder gehörten
Eindrücke und die damit untrennbar verbundenen der Verdrängung
direkter durch reproduktive Elemente von wegweisender Bedeutung.
1) E. B. Titchener, Philos. Stud., Bd. 8, 1893, S. 138 ff. Phyeiol. Psycho!.,
III,« S. 430.
590 Die Wortbildung.
Nun kann man unmöglicli annehmen, daß solclie Reproduktions-
wirkungen auf die ergänzten Elemente, bei denen sie zur unmittel-
baren Anscbauung kommen, beschränkt seien. Vielmehr nur deshalb,
weil auch die andern Teile der Wortvorstellung an ihnen teilnehmen,
sind jene Substitutionen überhaupt möglich. Damit ist zugleich die
Frage nach dem Übergang der Teile eines komplexen Vorstellungs-
ganzen in Merkmale einer einheitlich aufgefaßten Einzelvorstellung,
wie er z. B. beim Lesenlernen stattfindet, beantwortet. Je häufiger
€in Wortbild einwirkt, eine um so stärkere Disposition zu seiner Wieder-
erneuerimg bleibt zurück. In dem Augenblick, wo durch direkte Sinnes-
eindrücke ein Komplex von Empfindungen entsteht, der diesen Dispo-
sitionen oder auch nur einem größeren Teile derselben gleich ist, wer-
den daher die Dispositionen selbst zu aktuellen Empfindungen, die
mit den durch den äußeren Eindruck erweckten in eine einheitliche
Vorstellung zusammenfließen. Nun stehen aber die als Dispositionen
von früheren Eindrücken her zurückgebliebenen Elemente ebenso
in mannigfachen Verbindungen wie die direkten Empfindungen, und
sie werden in denjenigen Verbindungen am leichtesten reproduziert,
in denen sie am häufigsten vorkamen. Darum reproduziert jedes
Wortbild durch direkte Assoziation die entsprechenden Elemente
früherer Wortbilder und durch indirekte, nämlich infolge der zwischen
den reproduktiven Elementen selbst bestehenden Assoziationen,
die mit ihnen in früheren Vorstellimgen häufig verbunden ge-
wesen. Ist die letztere Assoziation der im neuen Eindruck ge-
botenen analog, so wird sie verstärkt, und es wird durch die so
in immer gleicher Weise sich wiederholende Verbindung die Aus-
sonderung des Wortgebildes von andern zufällig begleitenden
mehr und mehr gesichert. Mengen sich dagegen infolge der sekun-
dären Assoziationen reproduktive Elemente ein, die nicht dem
direkten Eindruck angehören, so entstehen nun Substitutionen,
die zu Sinnestäuschungen, sogenannten ,, Illusionen", im Vorliegen-
den Fall zu den Erscheinungen des Verhörens und Verlesens
führen.
Besitzen demnach die einzelnen Wort Vorstellungen durchaus
den Charakter jener Assimilationsgebilde, wie sie uns bereits in den
mannigfachen Formen reproduktiver Lautwirkungen im vorigen
Psychologische Analyse der Wortassimilationen. 591
Kapitel begegnet sind, so sind nun aber gerade diese die Bildung der
Wortvorstellungen begleitenden Assimilationen wegen der zu Gebote
stellenden experimentellen Beeinflussung der Bedingungen besonders
günstige Objekte für die psycbologisclie Analyse der Assimilations-
vorgänge überhaupt^). Wir betrachten es als einen überall für diese
Analyse maßgebenden Grundsatz, daß nur Bewußtseinsvorgänge
als wirklicbe psycbisclie Vorgänge gelten können. Der Begriff der
„Disposition" ist daher lediglich ein Hilfsbegriff, der irgendeine uns
nur in ihren Wirkungen auf die tatsächlich beobachteten Vorgänge
gegebene, abgesehen Von dieser Wirkung aber völlig unbekannte Be-
dingung zur Entstehung gewisser psychischer Erlebnisse oder zur
Abänderung anderer bezeichnet. Hiernach kann eine Assimilation,
insofern dieser Ausdruck eine Wirkung andeutet, die zwischen direkt
erregten Empfindungen und Dispositionen aus früheren Eindrücken
stattfindet, natürlich selbst kein in der Form der Disposition oder
kein im ,, Unbewußten" sich ereignender Vorgang sein; wie denn über-
haupt der Ausdruck „unbewußte Vorgänge" einen inneren Wider-
spruch in sich schließt, da der Begriff des Unbewußten psychologisch
notwendig eben mit jenem Begriff der „Disposition" zusammenfällt,
die Disposition aber ihre empirisch berechtigte Bedeutung nur darin
hat, daß sie selbst kein wirklicher psychischer Vorgang, sondern bloß
die Anlage zu einem solchen ist. Demnach können auch die Assimi-
lationen nur als Verbindungsprozesse betrachtet werden zwischen
Empfindungen, die direkt durch äußere Eindrücke erregt werden,
und solchen, die unter dem Einfluß jener Dispositionen entstehen.
Da die Disposition nicht selbst ein psychischer Vorgang, sondern
eine Bedingung zu dessen Entstehung ist, so vollzieht sich aber natür-
lich auch eine Assimilation zwischen der reproduktiven und der direkt
erregten Empfindung immer erst in dem Moment, wo die Dis-
position zur aktuellen Empfindung wird, gerade so wie
^) Es stehen ihnen in dieser Beziehung, was die allgemeine psychologische
Verwertung angeht, nur noch die schon früher (S. 458) in diesem Sinn erwähnten
„umkehrbaren geometrisch-optischen Täuschungen" zur Seite, deren Studium
auch hier wieder als ein einem ganz andern Gebiet entnommenes, aber eben darum
für die allgemeine Natur der Vorgänge lehrreiches Beispiel empfohlen werden
kann.
592 Die Wortbildung.
der äußere Eindruck niclit als physischer Reiz, sondern ebenfalls erst
als Empfindung assoziationsfällig wird. Wir nennen diese Assoziation
eine „Assimilation", weil ihr in doppeltem Sinne der allgemeine Cha-
rakter der ,,Verähnlichung" zugeschrieben werden kann: erstens,
insofern die direkt erregten Empfindungen ihnen ähnliche oder oft
mit ihnen verbunden gewesene wieder erwecken, und zweitens, weil
diese aus Dispositionen hervorgegangenen reproduktiven Elemente
selbst verähnlichend auf die direkten Empfindungen zurückwirken.
Die Assimilation als Assoziationsvorgang ist also stets eine wechsel-
seitige: die direkten Empfindungen wirken assimilativ auf die re-
produktiven, und diese wirken ebenso auf die direkten. Indem dabei
weiterhin auch noch, wie oben erwähnt, sekundäre Assoziationen der
reproduktiven Elemente mit andern eintreten, die mit ihnen häufig
verbunden waren, während sie zu den direkten ursprünglich außer
Beziehung standen, ist im allgemeinen jede einzelne Wortvor-
stellung eine Resultante aus unabsehbar vielen Ele-
menten.
Der nächste und entscheidende Charakter der Assimilation be-
steht hiernach darin, daß sie eine simultane Assoziation ist. Sie
ist simultan, weil die als ihr Produkt entstehende Einzel Vorstellung
in allen ihren Teilen gleichzeitig aufgefaßt wird, wodurch von selbst
die Teile zu psychologischen Merkmalen in dem oben bezeichneten
Sinne werden. Sie ist ferner eine Assoziation, da bei ihr keine Ver-
bindungen anderer Art stattfinden, als sie bei irgendwelchen sonstigen
Assoziationen vorkommen. Das Charakteristische des Vorgangs be-
steht bei ihnen, wie bei allen Assoziationen, darin, daß sie Elemen-
tarvorgänge, nicht Massen Vorgänge sind. Wenn Herbart und die
an ihn sich anschließenden Sprachpsychologen solche Assimilationen
als Wirkungen von ,, Apperzeptionsmassen" bezeichnen, so ist daher
dieser Ausdruck in doppelter Weise irreführend: erstens, weil er diese
Erscheinungen überhaupt von den Assoziationen trennt, denen sie
ihrem ganzen Wesen nach zugehören; und zweitens, weil der ganze
Vorgang das gerade Gegenteil einer ,, Massenwirkung" ist. Wollen
wir ihn uns irgendwie aus seinen deutlich gegebenen Komponenten
verständlich machen, so müssen wir vielmehr notwendig annehmen,
daß zu einer geläufigen Wortvorstellung eine- unbestimmte Zahl
Apperzeption des Wortes als Einzelvorstellung. 593
elementarer Dispositionen sowohl in den gleichen wie in andern, irgend-
wie ähnlichen Verbindungen vorhanden ist, und daß von diesen Dispo-
sitionen eine größere Anzahl teils direkt, durch übereinstimmende
Empfindungselemente des Eindrucks, teils indirekt, durch ihre äußere
Verbindung mit solchen, erweckt wird. Zwischen den so in Wirksam-
keit tretenden Elementen entsteht dann aber eine Wechselwirkung,
infolge deren sich die übereinstimmenden Elemente assimilieren und
die widerstreitenden vollständig eliminiert werden. Auf diese Weise
besteht jede Assimilation auch im Gebiet der Wortvorstellungen aus
einer unabsehbaren Menge elementarer Grleichheits- und
Berührungsassoziationen.
6. Apperzeption des Wortes als Einzelvorstellung.
Nachdem so die Bildung der Wortvorstellung in allen ihren wesent-
lichen Eigenschaften durch den Assimilationsprozeß eingeleitet ist,
wird sie mm aber erst abgeschlossen durch einen daran sich anschließen-
den weiteren Vorgang; durch die Heraushebung der durch jene
assoziativen Prozesse gebildeten Einzelvorstellung aus dem gesamten
Vorstellungsverlauf. Diesen letzten entscheidenden Akt nennen wir
die Apperzeption des Wortes. Die Wortapperzeption, wie sie
sich im Laufe der natürlichen Gedankenbildung vollzieht, besteht
demnach nicht in jenen assimilativen Assoziationen selbst, denen die
psychische Konstitution des Wortes ihren Ursprung verdankt; son-
dern durch diese Assoziationen wird immer nur das Objekt gegeben,
welches apperzipiert werden kann, nicht der Akt der Apperzeption.
Dieser vollzieht sich einerseits als ein Unterscheidungsakt, der
unter der Wirkung mannigfaltiger und zum Teil weit zurückreichen-
der Vorerlebnisse des Bewußtseins entsteht. Anderseits ist er von
eigenartigen subjektiven wie objektiven Symptomen begleitet. Sub-
jektiv wird das durch assimilative Assoziationen entstandene Pro-
dukt unter den für die Willensvorgänge charakteristischen Spannungs-
und Erregungsgefühlen Objekt der Aufmerksamkeit. Dabei be-
zeichnet dieser Ausdruck ,, Aufmerksamkeit" subjektiv wiederum
nichts anderes als eben den Komplex der Gefühle selber, während
Wundt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. «'ö
594 Die Wortbildung.
er objektiv auf die größere Klarheit und Deutlichkeit der Einzel-
vorstellung hinweist, die Inhalt der Apperzeption ist. Beide objek-
tive Eigenschaften ergänzen sich insofern, als die „Klarheit" die Her-
vorhebung der einzelnen Vorstellung nach ihrem spezifischen Inhalt,
die ,, Deutlichkeit" die Sonderung von andern Bewußtseinsinhalten
andeutet. Beide Eigenschaften werden gewöhnlich als ,, Wirkungen"
der Aufmerksamkeit betrachtet, obgleich sie nur die objektiven Merk-
male der Aufmerksamkeit sind, ebenso wie die Spannungs- und Er-
regungsgefühle deren subjektive Symptome.
Hat auf diese Weise die Apperzeption des Wortes die assoziativ
vorbereitete Bildung der Worteinheit vollendet, so wirkt sie nun ihrer-
seits wieder auf die Assimilationsprozesse zurück, indem auch sie
Dispositionen hinterläßt, welche die Wiedererneuerung einer bestimm-
ten Worteinheit in künftigen Fällen unterstützen und diese zu be-
stimmten Gesamtrichtungen des Bewußtseins in Beziehung setzen.
So greifen hier, wie überall im geistigen Leben, die einzelnen Vor-
gänge auf das mannigfaltigste und in hin- und rückläufigen Bewegungen
wechselseitig fördernd ineinander ein. Die höheren Stufen dieser
Vorgänge, die apperzeptiven, sind aber durch die vorangehenden,
die assoziativen, so vollständig Vorbereitet, daß sie ganz und gar als
„psychische Resultanten" derselben erscheinen^).
/
III. Stellung des ^A/'o^tes in der Sprache.
1. Grund- und Beziehungselemente des Wortes.
In dem Verlauf der Rede ist das Wort eine natürliche Einheit,
die zwar mit andern ähnlichen Einheiten in Beziehungen und Ver-
bindungen steht, dabei aber doch, wie das Glied einer Kette, ein Ganzes
für sich bildet, das allein schon einen bestimmten Begriff zum Aus-
druck bringen kann. Bei dieser Aussonderung der Wortvorstellungen
aus dem Zusammenhang der Rede gewinnt nun der schon bei dem
Lautwandel hervorgetretene funktionelle Unterschied der Grund-
elemente und der Beziehungselemente eine entscheidende
Bedeutung (Kap. IV, S. 462).
1) Vgl. oben Kap. II, S. 256.
Grund- und Beziehungselemente des Wortes. 595
Grundelemente nennen wir hier wieder diejenigen LautBestan-
teile, die für den innerhalb einer bestimmten Wortgruppe konstant
bleibenden Begriff charakteristisch sind, während die Beziehungs-
elemente solche Bestandteile umfassen, durch die jener Begriff irgend-
wie modifiziert und dadurch zugleich zu andern in die Rede eingehen-
den Worten in Beziehung gebracht wird. Da diese Beziehungselemente
mit ähnlich sinnmodifizierender Wirkung in den Abwandlungsformen
anderer Wörter ebenfalls vorkommen, so besitzen auch sie eine relativ
konstante Bedeutung. Nur besteht diese hier nicht in einem selbstän-
dig zu denkenden Begriff, sondern in einer begrifflichen Beziehung,
die zu ihrer realen Vergegenwärtigung im Bewußtsein immer der Ver-
bindung mit Grundelementen bedarf. Zugleich erweist sich aber,
wie schon früher bemerkt, nicht selten die Grenze zwischen Grund-
und Beziehungselementen als eine fließende, indem an dem Prozeß
der sinnmodifizierenden Änderungen auch solche Elemente teilnehmen,
die nach ihrer ursprünglichen Bedeutung zu den Grundelementen
gehören. So scheiden sich in einer zusammengehörigen Reihe von
Wörtern, wie stehe, stehst, steht, stand, gestanden usw., ohne weiteres
die angefügten Suffixe sowie das Präfix des Perfektums als reine Be-
ziehungsbestandteile; dem steht der konsonantische Anlaut st des
Verbalstamms als ein bei allen Abwandlungen unberührt bleibender
Grundbestandteil gegenüber, während der Stammvokal innerhalb
beschränkterer Gruppen die Bedeutung eines Grundelements hat,
das aber für andere Wortgruppen zu den Beziehungselementen hin-
übergezogen wird. An diesen fließenden Elementen offenbart es
sich aber deutlich, daß für das sprachbildende Bewußtsein selbst
das Wort eine Einheit bleibt, die sich durch die im Zusammenhang
der Rede liegenden natürlichen Bedingungen in stabilere und va-
riablere Elemente zerlegt, ohne daß sich zunächst der Redende
dessen bewußt, und ohne daß daher eine absolute Trennung beider
möglich ist.
Da das Verhältnis der Grund- und Beziehungselemente eines
Wortes ein wechselndes sein kann, so ergeben sich hieraus zugleich
für die Konstitution der Wortvorstellung zwei Grenzfälle, deren Vor-
kommen und Verbreitung mit charakteristischen Eigentümlich-
keiten des Baues der Einzelsprachen zusammenhängen, und auf die
b8*
596 Die Wortbildung
darum hier nur im allgemeinen hingewiesen werden kann. Der eine
dieser Grenzfälle wird durch Wortgebilde repräsentiert, die nur aus
Grundelementen, der andere aus solchen, die nur aus Beziehungs-
elementen bestehen. Im ersten Fall enthält das Wort bloß einen
selbständigen, für sich vorstellbaren Begriff; im zweiten Fall,
der bei unsern abstrakten Partikeln verwirklicht ist, enthält es nur
eine unbestimmte Beziehung, die isoliert nicht vorgestellt werden
kann. Hier wird das Wort im allgemeinen bloß als Wort vorgestellt,
als geläufiger Lautkomplex, der sich aber vermöge der gewohnten
begrifflichen Anwendung mit einem Gefühl verbindet, das wahr-
scheinlich von andern, häufig mit ihm verbundenen Wortvorstellungen
ausgeht, die sich assoziativ zum Bewußtsein drängen. Wegen der
großen Zahl solcher Assoziationen kommt in der Regel keine einzige
mit ihrem objektiven Inhalt zur Geltung. Bei der Einwirkung iso-
lierter Wörter ist daher der Bewußtseinszustand, wie er sich nament-
lich an den Assoziations- und Gefühlskomponenten zu erkennen gibt,
ein wesentlich abweichender, je nachdem es sich um ein selbständiges
Begriffswort oder um ein reines Beziehungswort handelt. Jenes er-
weckt, falls seine Bedeutung bekannt ist, neben der Lautvorstellung
immer auch eine mit den Grundelementen assoziierte inhaltlich be-
stimmte Begriffs Vor Stellung, die um so anschaulicher ist, eine je kon-
kretere Bedeutung das Wort hat. Das reine Beziehungswort dagegen
erweckt zunächst nur eine Lautvorstellung, an die irgendein Gefühls-
eindruck geknüpft ist, der gelegentlich durch wechselnde äußere Wort-
assoziationen abgelöst werden kann.
2. Wurzeln der Sprache.
Die Tatsache, daß im allgemeinen jedes Wort nach Laut wie
Bedeutung mit einer größeren oder kleineren Anzahl anderer Wörter
zusammenhängt, hat auf die Betrachtung der Sprache frühe schon
einen wichtigen Einfluß ausgeübt. Jenen Lautbestandteil, in dem
die Bedeutungsgemeinschaft der Glieder einer Wortsippe ihren Aus-
druck findet, betrachteten bereits die alten" Sanskritgrammatiker
als das ursprünglich ,, Gesetzte" dhätu (^ejna), das nicht weiter Ab-
zuleitende oder das ,, Element" der Wortbildung. Dem Vorbild der
Wurzeln der Sprache. 597
griechischen Naturphilosophie folgend, welche die Prinzipien oder
Elemente der Dinge bildlich deren Wurzeln (SiCtoj-iaTa) nannte, be-
zeichneten dann die römischen Philologen diese Grundbestandteile
als die ,, Wurzeln der Sprache''. An diesen Ausdruck, der seitdem
stehen geblieben ist, hat sich endlich jenes System botanischer Bilder
angeschlossen, das die in dem Begriff der Wurzel angedeutete Vor-
stellung der Sprache als eines lebendigen Organismus weiterführte.
Aus der Wurzel ließ man durch den Hinzutritt anderer Elemente
den ,, Wortstamm" entspringen, aus dem durch gewisse näher deter-
minierende Bestandteile die wirklichen Wörter als dessen Verzwei-
gungen hervorgehen sollten. Die geschichtliche Betrachtung übertrug
diese Bilder auch noch auf das Verhältnis verschiedener Sprachen
zueinander. Die Einzelsprache wurde als der Zweig eines allgemeineren
Sprachstam_mes bezeichnet, der schließlich abermals eine ihm voraus-
gehende hypothetische Ursprache als seine ,, Wurzel" forderte. Dieses
dem organischen Leben entnommene Begriffssystem wurde freilich
bei der Schilderung der weiteren Schicksale der Wörter meist wieder
verlassen, indem man jetzt einen Prozeß der ,, Verwitterung" ein-
treten ließ, so daß das Gefüge der Sprache nun eigentlich unter dem
Bild einer Gesteinsmasse gedacht wurde ^).
Bei dieser Vorstellung, daß jedes Wort eine seinen Grundbegriff
ausdrückende Wurzel und weitere, zu ihr hinzutretende formale Ele-
mente enthalte, konnte man nun aber nicht wohl stehen bleiben, da
die formalen Elemente doch mutmaßlich ebenfalls auf irgendwelche
,, Wurzeln" zurückführen mußten. So gelangte man zur Unterschei-
dung zweier Klassen von Wurzeln, der Stoff- und Formwurzeln
oder der prädikativen und demonstrativen (Nenn- und Deute-
wurzeln), wie sie wohl treffender G. Curtius nannte. An der Stoff-
oder prädikativen Wurzel sollte der einer Wortsippe gemeinsame
^) Curtius, Griech. Etymologie,^ S. 23. Wenn Bopp und Jakob Grimm
statt dessen solche Ausdrücke wie „Entartung", „Verwilderung'' der Sprache
gebrauchen, so bleiben sie zwar mehr im Bilde, der Widerspruch, daß eine normale
und von frühe an in die Entwicklung eingreifende Reihe von Erscheinungen als
etwas Pathologisches angesehen wird, ist aber um so auffälliger. Max Müller
spricht in gleichem Sinne sogar von der ,,Pest der lautlichen Korruption''. (Die
Wissenschaft der Sprache. Neue Bearbeitung, 1892, I, S. 49.)
598 Die Wortbildung.
Grundbegriff haften, auf die Formwurzeln sollten die Formelemente
zurückführen, die dem Wort seine bestimmte grammatische Stellung
anweisen: „demonstrativ" wurden sie genannt, weil man annahm,
in ihnen sei stets ein Hinweis auf eine Person, einen Ort oder eine
Richtung im Raum enthalten^).
3. Unterscheidung von Sprachtypen auf Grund
der Wurzeltheorie.
War auf diese Weise erst der gesamte Bestand eines Wortes auf
eine Verbindung ursprünglich bedeutsamer, nicht weiter zerlegbarer
Lautgebilde von bestimmtem begrifflichem Werte zurückgeführt, so
lag es nun nahe genug, der hierbei wahrzunehmenden oder zu er-
schließenden abweichenden Bildungsweise der Wörter die Gesichts-
punkte für die Beurteilung der Verschiedenheiten des Sprachbaues
überhaupt zu entnehmen. So gelangte man zu einem weiteren, ur-
sprünglich dem biologischen Gebiet entlehnten Begriff: zu dem des
„Sprachtypus". Wie eine gewisse Anordnung und Entwicklungs-
weise der eine Pflanze zusammensetzenden Elementargebilde, der
Zellen, einen Pflanzentypus ausmacht, dem eine größere oder kleinere
Zahl einzelner Pflanzenarten zugeteilt werden kann, so soll eine be-
stimmte Art der Verbindung und der Entwicklung der Sprachwurzeln
den ,, Sprachtypus" konstituieren, der natürlich, da es sich in diesem
Falle bloß um die Art der Ordnung und der Veränderung der Ele-
mente, nicht um ihre Lautbeschaffenheit handelt, auch für Sprachen,
die ihrem gesamten Wortschatze nach voneinander abweichen, doch
ein übereinstimmender sein kann. So entstanden die Begriffe des
„isolierenden" oder des ,, reinen Wurzeltypus", der im Chinesischen
annähernd verwirklicht sein sollte, des „agglutinativen", wie ihn
^) G. Curtius, Zur Chronologie der indogermanischen Sprachforschung,^
1873, S. 21. W. von Humboldt (Über die Verschiedenheiten des menschlichen
Sprachbaues, Werke, VI, S. 116) hatte beide als „objektive" und „subjektive"
Wurzeln unterschieden, weil die letzteren, die formgebenden Bestandteile des
Wortes, nicht von dem zu benennenden Objekt, sondern von dem subjektiven
Standpunkt des Redenden bestimmt seien.
Unterscheidung von Sprachtypen auf Grund der Wurzeltheorie. 599
z. B. die ural-altaisclien Spraclien darbieten, des „polysynthetisclien*'
oder „einverleibenden", den man dem Baskiscben und den ameri-
kaniscben Sprachen zuschrieb, und bald als eine Unterart der agglu-
tinativen, bald als eine selbständige Form ansah, endlich des ,, flek-
tierenden" Typus, der wieder in einen solchen der einsilbigen Wur-
zeln (das Indogermanische) und in einen der vorwiegend zweisilbigen
(das Semitische) gegliedert wurde ^). Diese ,, Typen" bilden, abgesehen
von manchen außerhalb des Schemas stehenden Unterschieden, eine
Entwicklungsreihe, in der die reine Wurzelsprache als der Urzustand
erscheint. Aus ihr soll als eine nächste Weiterbildung der aggluti-
nierende Typus entstanden sein, der dann durch eine innigere orga-
nische Verbindung der Stoff- und Formwurzeln in den flektierenden
überging. Der letztere soll endlich durch den alsbald sich anschließen-
den Prozeß der ,, Verwitterung" wieder einer Rückbildung Platz
machen, bei der die Wörter abermals dem reinen Wurzelzustand nahe-
kommen: so in vielen modernen Sprachen, am meisten im Englischen,
das nur noch einen kleinen Rest seiner Flexionselemente bewahrt
hat 2).
Durch diese Anwendung der Wurzelzerlegung der Wörter glaubte
man die Voraussetzung bestätigt zu sehen, daß die Wurzeln nicht
bloß Produkte der Analyse des Wortes, sondern daß sie ursprüng-
lich selbständige Bestandteile seien, aus denen sich das Wort
durch eine zuerst losere Aggregation und dann durch eine immer
^) Übrigens werden für das Semitische meist ebenfalls ursprünglich ein-
silbige, sei es zwei-, sei es dreikonsonantige Wurzeln, wie qat, har oder qafl, hrak
postuliert, aus denen sich erst die zweisilbigen Wortstämme, wie qatal, haraJc,
entwickelt hätten (Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprach-
baues, Werke, VI, S. 403 ff. ). Besonders die unverkennbaren Beziehungen der
semitischen zu den auf einsilbige Wurzeln zurückzuführenden hamitischen
Sprachen (Ägyptisch, Koptisch, GaUa, Somali usw. ) legten diese Annahme nahe.
2) Stein thal, Die Klassifikation der Sprachen, 1850, S. 7. Der erste, der
diese weitverbreitete Einteilung aufgestellt hat, ist nach Steinthals Angabe Pott
(in den Jahrbüchern der freien deutschen Akademie, 1. Heft, 1848). Wesentlich
vorgebildet ist sie aber schon bei Humboldt, der namentlich auch den an sich
sehr fruchtbaren Begriff der „Agglutination" einführte und im Zusammenhang
damit die Ansicht entwickelte, daß ein monosyllabischer Zustand den Ausgangs-
punkt aller Sprachentwicklung gebildet habe. (Über die Verschiedenheit des
menschl. Sprachbaues, § 25, Werke, VI, S. 382 ff.)
600 Die Wortbildung.
fester werdende Verbindung gebildet habe. Dem Begriff des
,, Typus" sind jedoch in dieser Anwendung auf die Genealogie
der Sprachen die Schicksale nicht erspart geblieben, die ihm auf
andern Gebieten widerfuhren^). So wenig es für die wirklichen
Entstehungsbedingungen einer chemischen Verbindung einen er-
klärenden Wert hat, wenn man diese auf den Typus des Sumpf-
gases (CH4) zurückführt, gerade so wenig gibt natürlich der Be-
griff des ,, Sprach typus" wirklichen Aufschluß über die Wort-
bildung in einer Sprache. Ein übereinstimmender Typus kann
möglicherweise auf übereinstimmende Gesetze der Wortbildung
hinweisen; diese Gesetze zu finden ist aber in jedem einzelnen
Fall eine besondere Aufgabe. Ob eine Sprache in der Stufenleiter
der Wortbildungsprozesse dem Anfang oder einem späteren Stadium
angehört, das ist daher immer nur aus der umfassenden Kennt-
nis ihrer Vorgeschichte mit Sicherheit zu erschließen. Sonst könnte
z. B. das Englische beinahe ebensogut wie das Chinesische dem Typus
einer Wurzelsprache zugezählt werden. In der Tat gilt bei den Kennern
der chinesischen Sprachgeschichte das Dogma von der primitiven
Wurzelsprache gegenwärtig als unhaltbar, da diese Sprache ebenso-
wohl die Spuren ursprünglicher und wieder verloren gegangener For-
menbildung wie in der Umgangssprache die Neigung zu zusammen-
gesetzten Wortbildungen zeigt ^). Der Gedanke, daß eine einzelne
Sprache Jahrtausende hindurch auf einer primitiven Entwicklungs-
stufe stehen geblieben sei, hatte ohnehin von vornherein nur geringe
psychologische Wahrscheinlichkeit, am wenigsten für eine Sprache
von so hoher begrifflicher Ausbildung wie das Chinesische. Nicht minder
begegnet aber die Typentheorie in ihrer Anwendung auf die sogenann-
ten agglutinativen Sprachen berechtigten Bedenken. Deren Ab-
grenzung von den Flexionssprachen erweist sich als willkürlich, da
sich entscheidende Merkmale nicht auffinden lassen: der wesentliche
1) Vgl. meine Logik,^ II, S. 55 ff.
2) W. Grube, Die sprachgeschichtliche Stellung des Chinesischen, 1881,
S. 18. Dasselbe gilt für die andern in ihrer Struktur dem Chinesischen verwandten
monosyllabischen Sprachen Ostasiens. Vgl. Conrady, Eine indochinesische
Kausativ-Denominativbildung, 1896, Einl.
Unterscheidung von Sprachtypen auf Grund der Wurzeltheorie. 601
Unterscliied beider scheint schließlicli darin zu bestehen, daß die ag-
glutinierenden Sprachen reichere und zusammengesetztere Flexions-
formen besitzen, weil sie die einzelnen Begriffe konkreter, ausgestattet
mit einer Menge einzelner Nebenbestimmungen denken^).
Noch undurchführbarer erweist sich ein anderer Gesichtspunkt,
der, an die Unterscheidung von Stoff- und Formelementen anknüpfend,
in der klaren Sonderung dieser Elemente einen Maßstab sieht, an dem
die Entwicklung einer Sprache gemessen werden könne. Wo eine
solche Sonderung überhaupt nicht zu bestehen scheint, wo also die
Sprache den gleichen Bestandteilen bald einen selbständigen Begriffs-
inhalt gibt, bald sie bloß zum Ausdruck von Begriffsbeziehungen
gebraucht, da gelten die Sprachen als ,, völlig formlos". Ihnen werden
dann die zu einer durchgängigen Scheidung jener Elemente hindurch-
gedrungenen eigentlichen Flexionssprachen, das Indogermanische
imd Semitische, als die ,, reinen Formsprachen" gegenübergestellt.
Zwischen diesen beiden Extremen sollen sich die andern Sprachen,
z. B. die ,,agglutinativen", als solche bewegen, die der Formlosigkeit
noch nicht entsagt haben, in denen aber doch ein gewisses Streben
nach Formbildung erkennbar sei. Neben diesem formalen Gesichts-
punkt wird übrigens auch ein innerer, begrifflicher zur Geltung ge-
bracht, indem man ,, formlos" eine Sprache nennt, wenn in ihr die
konkrete sinnliche Anschauung vorwaltet und abstrakte Begriffs-
verhältnisse nicht zum Ausdruck kommen. Diese beiden Merkmale
werden endlich dadurch zueinander in Beziehung gesetzt, daß
man die begrifflichen Eigenschaften der ,, inneren", die formalen
der ,, äußeren Sprachform" zuweist, wobei sich äußere und innere
Sprachform ungefähr wie Leib und Seele zueinander Verhalten
sollen.
Den ersten Anstoß zur Entwicklung dieser eigentümlichen Ideen
hat W. von Humboldt durch seine Unterscheidung von ,, Stoff-" und
,, Formelementen" der Sprache gegeben, Ihre Anwendung auf die
^) Vgl. O. Böthlingk, Über die Sprache der Jakuten. (Middendorfs Reise
in den äußersten Norden und Osten Sibiriens, III.) 1851, Einleitung, Für die
amerikanischen Sprachen weist aus ähnlichen Gründen Fr. Lieber die Ausdrücke
„agglutinativ" und „polysynthetisch'' zurück (American Languages, in School-
craft, Ethnological Researches, 1851, II, p. 346 ff.).
602 Die Wortbildung.
Untersclieidung der Spraclitypen ist hauptsächlich das Werk Stein-
thals ^). Daß dadurch das Verständnis der genetischen Verhältnisse
der Sprachen gefördert worden sei, läßt sich kaum behaupten. Wohl
aber ist der schablonenhafte Gegensatz von Form und Formlosig-
keit schon bei Steinthal selbst und mehr noch bei seinen Nachfolgern
zu einer leeren Formel geworden, mit der man über die wirklichen
psychologischen Unterschiede der Erscheinungen hinwegging. Die
ganze Auffassung erregt schon dadurch Bedenken, daß dabei der
Begriff der „Form" in zwei ganz verschiedenen Bedeutungen auf-
tritt, die durchaus willkürlich in Beziehung gesetzt sind. Einmal soll
die Formlosigkeit gewisser Sprachen darin bestehen, daß sich in ihnen
Form und Stoff nicht geschieden haben; sodann aber darin, daß sie
nicht zu einer deutlichen Ausbildung der grammatischen Begriffs-
verhältnisse gelangt sind. Nun entsprechen die Stoff bestandteile
des Wortes nach ihrer begrifflichen Bedeutung dem, was wir oben
„Grundelemente", die grammatische Form entspricht dem, was wir
„Beziehungselemente" genannt haben. Dabei hat sich jedoch gezeigt,
daß, sobald man von der durchaus hypothetischen realen Existenz
von ,, Wurzeln" Verschiedener Gattung absieht und lediglich die tat-
sächlich gegebenen Wortgebilde ins Auge faßt, die Scheidung zwischen
jenen Grund- und Beziehungselementen auch in den sogenannten
Formsprachen eine fließende ist (S. 595). Auf der andern Seite gibt
es überhaupt keine Sprache, wo dies Verhältnis nicht in den vor-
handenen Wortbildungen zum Ausdruck käme. Vollends der Grad
der begrifflichen Ausbildung einer Sprache steht im allgemeinen zu
der Zahl der in ihr verwendeten formalen Elemente insofern in einem
gegensätzlichen Verhältnis, als eine konkretere Form des Denkens
natürlich mannigfaltigere Beziehungsformen der Begriffe verlangt
als eine abstraktere, in der sie auf wenige Grundverhältnisse redu-
ziert sind. Für diese allgemeineren Grund Verhältnisse pflegen dann
hinwiederum in der konkreteren Sprachform keine besonderen Aus-
drucksmittel vorhanden zu sein. So kommt es, daß man nach diesen
1) Vgl. besonders Klassifikation der Sprachen, • S. 72 ff., Charakteristik
der hauptsächlichsten Typen des menschlichen Sprachbaues, 1860, S. 312 ff.,
und an vielen andern Orten.
Reale Bedeutung der Sprachwurzeln. 603
Kennzeichen der ,, inneren Sprachform" eine Sprache bald deshalb
„formlos" nennt, weil sie an Formen reicher, bald aber auch deshalb,
weil sie an Formen ärmer ist als eine sogenannte Formsprache. In
Wahrheit gibt es eben eine formlose Sprache überhaupt nicht, und der
Begriff einer solchen steht psychologisch auf gleicher Linie wie der
einer Sprache, die bloß aus Wörtern, nicht aus Sätzen bestehe, —
eine Annahme, die nicht einmal für die Gebärdensprache zutrifft^).
Die charakteristischen Unterschiede der verschiedenen Sprachformen
stehen aber in so unmittelbarem Zusammenhang mit dem Aufbau
des Satzes, daß die Formen der Wortbildung immer nur er-
gänzende Kriterien abgeben können; noch weniger lassen sich
solche aus der Unterscheidung der ohnehin hypothetischen Wurzeln
entnehmen.
4. Reale Bedeutung der Sprachwurzeln.
Wie sich die Anwendung der Wurzeltheorie zur Erklärung der
Verschiedenheiten des Sprachbaues als undurchführbar erweist, so
begegnet nun auch innerhalb der einzelnen Sprachgebiete die An-
nahme, daß die Wurzeln die ursprünglichen, noch unverbundenen
oder unentwickelten Wortgebilde selbst seien, unüberwindlichen
Schwierigkeiten. Zunächst gibt es ja nicht bloß Wurzeln, die bis zu
der einer ganzen Sprachfamilie gemeinsamen hypothetischen Grund-
sprache zurückgehen, sondern auch andere, die jedem der aus ihr
hervorgegangenen Sprachzweige für sich eigen sind, also z. B. neben
den indogermanischen indische, griechische, lateinische, germanische.
Wollte man diesen Sonderwurzeln ebenfalls eine einstmalige reale
Existenz zugestehen, so müßte man entweder voraussetzen, die so-
genannte „Wurzelperiode" sei bei der Trennung in Einzelsprachen
noch nicht vorüber gewesen, was mit der Tatsache, daß nicht bloß
Wurzeln, sondern auch Wortformen aus der gemeinsamen Grund-
sprache in ihre Töchtersprachen übergingen, unvereinbar ist; oder
man müßte annehmen, der Trieb neue Wurzeln zu bilden habe auch
1) Vgl. oben Kap. II, S. 216 ff.
604 Die Wortbildung.
nach der ursprünglichen Wurzelperiode partiell noch eine längere Zeit
fortgedauert^). Nun ist klar, daß eine solche inmitten bereits bestehen-
der Wortbildungen eingetretene Neuschöpfung unmöglich in der
Produktion isolierter Wurzeln bestehen könnte, sondern daß sie nur
in derselben Form denkbar wäre, in der noch gegenwärtig in der
Sprache Neuschöpfungen vorkommen: also in der Form neuer Wörter,
wobei die Wurzel von Anfang an bloß als Bestandteil eines wirk-
lichen Wortes existierte. Dann ist aber wieder nicht einzusehen, warum
nicht in ähnlicher Weise in der Ursprache die Wurzeln entstanden
sein sollten. So hat denn auch die Mehrzahl der Sprachforscher jene
Annahme einer Identität der Wurzeln mit dem Wort auf die Ursprache,
also z. B. die indogermanische Grundsprache, eingeschränkt, womit
freilich, da es nun einmal Wörter gibt, die auf Sonderwurzeln zurück-
führen, die Schwierigkeit entsteht, daß man eigentlich zweierlei Wur-
zeln annehmen müßte, solche von realer Bedeutung, und andere,
die bloß als Resultate grammatischer Analyse anzusehen sind. Eine
letzte, psychologisch betrachtet nicht die kleinste Schwierigkeit be-
reitet endlich die logische Stellung der durch die Wurzelanalyse
gefundenen Begriffe. Diese Analyse ergibt nämlich fast durchgängig
für die Wurzeln solche Begriffe, die eine Tätigkeit, einen Vorgang
oder Zustand ausdrücken, also Verbalbegriffe. Als bloßes Ergebnis
logisch-grammatischer Analyse betrachtet ist dies Resultat begreif-
lich. Denn es ist selbstverständlich, daß die einer Wurzel zukommende
begriffliche Bedeutung allgemeiner sein muß als die aller der Wörter,
in die sie eingeht. Zustands- und Eigenschaftsbegriffe sind aber stets
allgemeiner als Gegenstandsbegriffe, und zugleich stehen die beiden
ersteren wieder in dem Verhältnis zueinander, daß die Eigenschafts-
immer leicht in Zustandsbegriffe übergeführt werden können, während
das Umgekehrte nicht zutrifft. So kann man den Eigenschaften ,,grün",
„groß", „gut" usw. Begriffe wie „grün sein", ,,groß sein", „gut sein"
usw. substituieren; bei ,, gehen", ,, laufen", ,, liegen" u. dgl. ist aber
der umgekehrte Ersatz nicht möglich. Stellt man daher die Frage,
welcher Begriff der einer bestimmten Wortsippe gemeinsame sei,
so muß sich mit innerer Notwendigkeit in der Mehrzahl der Fälle ein
^) Vgl. G. Curtius, Griechische Etymologie,^ S. 45 ff.
Reale Bedeutung der Sprachwurzeln. 605
Verbalbegriff ergeben. Sind die Wurzeln ursprüngliche Wörter, nicht
bloß Produkte der Analyse und Abstraktion, so muß aber dieses lo-
gische Ergebnis ebenfalls eine reale Bedeutung haben. Eine solche
ist jedoch im vorliegenden Falle kaum begreiflich. Denn man kann
sich unmöglich denken, der Mensch habe irgendeinmal bloß in Verbal-
begriffen gedacht. Das Umgekehrte, daß er bloß in gegenständlichen
Vorstellungen gedacht habe, könnte man nach den psychologischen
Eigenschaften dieser eher verstehen; und in der Tat finden sich deut-
liche Spuren eines solchen Zustandes nicht nur in der Sprechweise
des Kindes, sondern auch in zahlreichen Volkssprachen, die einen
ursprünglicheren Zustand begrifflicher Entwicklung bewahrt haben ^).
Nichtsdestoweniger haben schon die alten Sanskritgrammatiker den
Schritt getan, von jenem Ergebnis der Wortanalyse auf die verbale
Natur der Urwörter zu schließen; und die neuere Sprachwissenschaft
ist ihnen in der Mehrzahl ihrer Vertreter gefolgt, wenngleich dieser
Bestandteil der Wurzeltheorie eine weniger allgemeine Aufnahme
fand, da vielfach neben den Verbal- auch reine Nominalwurzeln an-
erkannt werden. Immerhin bleibt das Ergebnis bestehen, daß auch
dann, wie die Durchsicht eines jeden auf Wurzeln zurückgehenden
etymologischen Wörterbuchs zeigt, die Verbalwurzeln eine enorme
Majorität bilden.
Da man sich allen diesen Bedenken wohl nicht ganz verschließen
kann, so ist in der Sprachwissenschaft allmählich ein zwiespältiger
Zustand eingetreten. Man bedient sich der Wurzeln, um den gemein-
samen Ursprung einer Wortsippe aufzuzeigen oder auf den gemein-
samen Wortschatz der zu einer Sprachfamilie vorauszusetzenden
Grundsprache zurückzuschließen. Aber die Frage ihrer realen Existenz
bleibt in der Regel unberührt; 2).
1) Vgl. unten Kap. VI und VII, und bes. Kap. VII, Nr. VIII.
2) Dem skeptischen Standpunkt der heutigen Sprachwissenschaft hin-
sichtlich der Wurzeln geben die Betrachtungen, mit denen Brugmann die Ein-
leitung seines Grundrisses schließt, einen bezeichnenden Ausdruck (Grundriß
der vergl. Grammatik der indogerm. Sprachen, I, S. 17 f.). Noch charakteristischer
ist "es wohl, daß in H. Pauls „Prinzipien der Sprachgeschichte" das Wort „Wurzel"
überhaupt kaum vorkommt. Nicht unerwähnt darf übrigens bleiben, daß schon
606 Die Wortbildung.
Gleichwolil steht diese Frage im engsten Zusammenhang mit
einer weiteren, die psychologisch von hoher Bedeutung ist: mit der
nach dem Verhältnis des Wortes zum Satze. Ist das Wort
früher als der Satz, ist dieser, ebenso wie wir ihn in der gegenwärtigen
Sprache aus Wörtern zusammensetzen, von Anfang an eine Verbin-
dimg von Wörtern, so wird der Annahme kaum zu entgehen sein,
daß ,, Wurzeln" irgendwelcher Art, seien es diejenigen, die heute die
Wortanalyse nachweist, seien es andere, die ihnen Vorausgingen, die
Urwörter gewesen seien. Denn dies kann auf Grund der Wortanalyse
nicht bezweifelt werden, daß im allgemeinen das Wort ein zusammen-
gesetztes Gebilde ist. Ist also das Wort ursprünglich ein isoliertes
Gebilde, das sich erst nachher mit andern Wörtern zum Aufbau von
Sätzen Verbindet, so ist der Schluß kaum zu umgehen, daß auch die
Bestandteile des Wortes ursprünglich isoliert existiert haben. Ist
dagegen der Satz früher als das Wort, ist demnach dieses erst aus
der Zerlegung des Satzes in seine Bestandteile hervorgegangen, dann
sind auch die Elemente des Wortes keine ursprünglich isolierten Ge-
bilde, und es lassen sich mannigfache Wege denken, auf denen sich
durch Wechselwirkung verschiedener Satzteile und durch den Ein-
fluß verschiedener Sätze aufeinander das Wort als relativ selbständig
gewordener Teil der Rede ausgeschieden hat. (Vgl. unten 5.)
Für den Standpunkt der Wortanalyse reduziert sich aber der
Begriff der Wurzel, wenn wir von allen an ihn geknüpften geschicht-
lich unerweisbaren und psychologisch unwalj.rscheinlichen Hypo-
thesen absehen, auf die Tatsache, daß es Lautkomplexe gibt,
die unverändert durch eine Eeihe von Wörtern verfolgt
werden können. Dieser reine Konstitutionsbegriff ist natürlich
sehr wohl mit der Voraussetzung vereinbar, daß isolierte Wurzeln
überhaupt niemals in der Sprache Vorhanden waren, da Wortreihen,
die einen übereinstimmenden Lautkomplex enthalten, immer dann
entstehen werden, wenn ein übereinstimmender Grundbegriff die
vor langer Zeit A. F. Pott die Auffassung vertreten hat, die Wurzeln seien bloße
grammatische Abstraktionen, ohne dabei freilich der' Annahme einer realen Be-
deutung der Wurzeln ganz zu entsagen (Pott, Etymologische Forschungen,^ II,
1, 1861, S. 193 ff.).
Reale Bedeutung der Sprachwurzeln. 607
Reilie verbindet, ähnlicli wie wir das noch heute bei neuen Wort-
schöpfungen und bei der Entstehung von Lautanalogien beobachten.
Dabei mag es geschehen, daß ein einzelnes Wort früher ist als andere,
die durch gleichzeitige Begriffs- und Lautassoziation nach ihm sich
bildeten; es kann aber auch sein, daß Wörter von übereinstimmen-
dem Lautcharakter unabhängig Voneinander aus den nämlichen ur-
sprünglichen Beziehungen zwischen Laut und Bedeutung heraus ent-
standen. Überall, wo es sich um ursprüngliche Wortschöpfungen
handelt, sind selbstverständlich nur Vermutungen darüber möglich,
ob das eine oder andere wirklich stattgefunden habe. Bei der Un-
geheuern Bedeutung, die, wie die Erscheinungen des Lautwandels
gezeigt haben, den Lautassoziationen von frühe an in der Sprache
zukommt, und bei der großen Übereinstimmung der als Wur-
zeln betrachteten Lautkomplexe wird man aber als die Regel
annehmen dürfen, daß die Bildung einer Gruppe verwandter
Wörter zunächst von einem einzelnen Wort ausging; worauf
dann, nachdem erst eine geringe Anzahl weiterer Wortbildungen
entstanden war, jedes der so gebildeten neuen Wörter selbst
wieder zum Mittelpunkt von Assoziationen werden konnte, durch
die sich der Geltungsbereich einer und derselben Wurzel er-
weiterte^).
^) Gegenüber den hier geäußerten Einwänden gegen die Annahme einer
Wurzelperiode der Sprache ist neuerdings von Delbrück (Grundfragen der Sprach-
forschung, S. 113 f.), Sütterlin (Das Wesen der sprachlichen Gebilde, S. 56 ff.)
und P. W. Schmidt (Mitteilungen der Anthropol. Ges. in Wien, Bd. 33, 1903,
S. 373) der Versuch gemacht worden, sie als eine berechtigte nachzuweisen. Zu-
nächst beruhen aber die Gründe dieser Forscher auf dem bekanntlich nicht ein-
wandfreien methodologischen Grundsatz: eine Annahme, deren Unrichtigkeit
nicht mit absoluter Sicherheit nachzuweisen sei, könne als erlaubt zugelassen
werden. Nun läßt sich über vorhistorische Zustände der Sprache natürlich über-
haupt nichts mit absoluter Sicherheit aussagen. Von diesem Standpunkt aus
würde sich also jede beliebige Hypothese rechtfertigen lassen. An die Stelle jenes
Grundsatzes sollte vielmehr, wie ich meine, der andere treten: zulässig ist eine
Annahme, wenn sie sowohl geschichtlich wie psychologisch wahrscheinlich ist.
Nun kann man möglicherweise über die geschichtliche WahrscheinUchkeit
einer Wurzelperiode streiten. Nur steht freilich selbst geschichtlich diese Hypothese
deshalb in der Luft, weil man zugeben muß, daß die heute nachzuweisenden
Wurzeln möglicherweise gar nicht die ursprünglichen sind, sondern, wie Brugmann
608 Die Wortbildung
Nacli allem dem ist klar, daß der Begriff des ,, Elements" eigent-
lich dasjenige ist, was das Wort ,, Wurzel" mit einem irreführenden
Bilde bezeichnet. Die Wurzeln sind Wortelemente, letzte Bestand-
teile, zu denen die Wortanalyse führt, die aber unmittelbar nur in
den aus solchen Elementen zusammengesetzten Wortgebilden nach-
weisbar sind. Sie sind, im Unterschiede von den Lautelementen,
diejenigen Lautbestandteile, welche den in einer Reihe bedeutungs-
verwandter Wörter vorkommenden Begriffselementen entsprechen.
Da es nun eine doppelte Art der Bedeutungsverwandtschaft gibt,
die zwei Wörter verbinden kann, eine solche, die auf den
eigentlichen Begriffsinhalt geht, und eine andere, welche die
Beziehungen zu den sonst in der Rede vorkommenden Begriffen
hervorhebt, so sind zwei Arten Von Wortelementen möglich:
Grundelemente und Beziehungselemente. Die so definierten
Wortelemente sind aber selbstverständlich nur Elemente der ge-
gebenen Wortvorstellungen; die Frage, wie das Wort ent-
standen sei, bleibt davon unberührt. Die Annahme einer ,, Wurzel-
periode" ist daher eine Fiktion, die weder in den Erscheinungen
andeutet, vielleicht samt und sonders sogleich in Wortzusammensetzungen ent-
standen, die sich nach Analogie vor ihnen dagewesener Zusammensetzungen
bildeten (Brugmann, Grundriß,^ I, S. 32 f.). Damit ist natürlich der Einwand
der einzelsprachlichen Wurzeln aus der Welt geschafft. Aber es ist auch jeder
historische Grund hinfällig geworden, der überhaupt noch für eine Wurzel-
periode der Sprache eintreten könnte. Doch ist die Frage zugleich vom histo-
rischen auf das psychologische Gebiet verwiesen. Denn wenn die angeblichen
realen Urwurzeln historisch nicht mehr nachweisbar sind, so ist der Beweis für
eine ursprüngliche Wurzelperiode nur noch dadurch zu führen, daß man sie als
psychologisch wahrscheinlich nachweist. Davon trifft aber, wie oben gezeigt
wurde, das Gegenteil zu. Auch geben sich die Sprachforscher, die für die primitive
Wurzelperiode eintreten, nicht einmal die Mühe, eine solche Wahrscheinlichkeit
zu begründen, sondern sie begnügen sich in der Regel mit der Versicherung, daß
diese Annahme eine ,, bequeme" oder mindestens eine „unschädliche" sei. (Del-
brück a. a. 0. S. 120.) Doch abgesehen davon, daß wissenschaftliche Hypothesen
nicht an dem Maßstabe der Bequemlichkeit, sondern an dem der Wahrscheinlich-
keit gemessen werden sollten, scheint es mir mindestens unschädlicher, wenn man
den Wurzeln auch in der Geschichte der Sprache keine andere Bedeutung beimißt
als diejenige, die sie, soweit sie sich überhaupt verfolgen lassen, immer besessen
haben, nämlich den von bedeutsamen Wortbestandteilen.
Wort und Satz. 609
der wirklichen Sprache eine Stütze findet, noch mit dem, was
uns sonst die psychologische Entwicklung lehrt, in Einklang zu
bringen ist.
5. Wort und Satz.
Die alte Vorstellung, der Satz werde aus ursprünglich selbständig
existierenden Wörtern zusammengesetzt, kann heute wohl in der
wissenschaftlichen Grammatik als beseitigt gelten. Sie ist hier der ihr
verwandten Ansicht der alten Stoiker, das Wort selbst sei eine Ver-
bindung von Silben und Buchstaben, allmählich nachgefolgt. In
der lebendigen Sprache existieren, wie H. Paul mit Recht hervor-
hebt, noch jetzt vielfach die Grenzen nicht, welche die Schrift-
sprache zwischen den einzelnen Wörtern festsetzt^). Vollends wo
die literarische Fixierung mangelt, da beruht die Scheidung Von
Wort und Satz vielfach erst auf der Willkür des Sprachforschers.
Bei den Sprachen, die dem sogenannten ,,agglutinativen'' Typus
angehören, scheitert nicht selten eine solche Scheidung tatsächlich
daran, daß ein Ganzes nach dem Zusammenhang seiner Teile als
ein einziges Wort aufgefaßt werden kann, während es doch nach
seinem Gedankeninhalt auf den vollen Wert eines Satzes An-
spruch machen darf. So drückt das türkische Verbum nicht
bloß Aktivum, Passivum und Zeitbestimmungen der Handlung,
sondern auch reflexive, kausative, iterative Beziehungen durch cha-
rakteristische Lautelemente aus, die mit dem Verbalstamm ver-
bunden werden. Wenn z. B. der Gedanke ,,ich veranlasse euch,
euch gegenseitig zu lieben" durch eine einzige Verbalform wieder-
gegeben werden kann, so sehen wir hier die Grenzen der Worteinheit
mindestens viel weiter gezogen, als es in unseren europäischen Kultur-
sprachen möglich ist. Oder wenn ein Delaware-Indianer den Satz
„er kommt mit dem Kahn und holt uns über den Fluß" in einer Wort-
verbindung ausdrückt, die mit dem Verbalstamm beginnt und mit
dem zugehörigen Personalpronomen endet, so dokumentiert sich da-
durch wiederum ein solches Gebilde als ein einziges Wort. Dennoch
^) H. Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte,^ S. 121 ff.
Wundt, Völkerpsychologie. I. 4. Anfl. ^"
610 Die Wortbildung.
enthält es den in einem Satz auszudrückenden Gedanken mit allen
seinen Nebenbestimmimgen. Worteinheit und Satzeinheit fallen also
hier vollständig zusammen. In einem allerdings sehr viel geringeren
Grade besteht ein analoger Unterschied, wie wir ihn zwischen solchen
,,agglutinativen'' Sprachformen und unseren Flexionssprachen beob-
achten, auch noch zwischen den älteren und jüngeren Formen
der letzteren. Naijientlich das Sanskrit, bis zu einem gewissen Grad
aber auch das Griechische, Lateinische, Gotische vermögen mannig-
fache Beziehungen der Begriffe durch Suffixe des Nomens und Ver-
bums auszudrücken, für die wir besonderer Wörter, der Präpo-
sitionen, Personalpronomina und Hilfszeitwörter, bedürfen. Dadurch
e*rscheint der Satz beim Übergang von den älteren zu den jüngeren
Sprachformen weit mehr in Einzelwörter gegliedert, und die dem
Verbum dereinst innewohnende Fähigkeit, Ausdruck eines einzigen
Gedankens, also Wort und Satz zugleich zu sein, ist allmählich
Verloren gegangen. Das lateinische amavi ist Wort und Satz zu-
gleich. Der Romane löst diesen Gedanken in die drei Wörter auf:
ego habeo amatum, fai aime. Wenn wir demnach einerseits Sprachen
von einer sichtlich primitiveren Entwicklungsform mit ausgebil-
deteren Sprachen, und wenn wir anderseits die früheren Stufen einer
und derselben Sprache mit ihren späteren vergleichen, so erweist
sich überall die Scheidung der Redeteile als derjenige Vor-
gang, der das Wort aus dem Ganzen, zu dem es gehört, dem
Satz, allmählich loslöst, ihm eine relativ größere Selbständigkeit ver-
leiht und mit seiner selbständigen Bedeutung zugleich seine gram-
matische Form fixiert.
Diesem Verhältnis des Wortes zum Satz entspricht nun durch-
aus die Stellung, die beide nach der unmittelbaren psychologischen
Beobachtung in dem Verlauf unserer Vorstellungen einnehmen. Wenn
uns oben die Versuche über Wort- und Satzapperzeption gelehrt
haben, daß zunächst das einzelne Wort als ein Ganzes aufgefaßt wird,
so ist nicht zu vergessen, daß sich solche Experimente immer nur auf
Individuen beziehen, die an ein das Ganze des Satzes in seine Be-
standteile gliederndes Denken und an isolierte Wortvorstellungen
gewöhnt sind. Die Art, wie sich hier das Wort als Einzel Vorstellung
aus dem Satze abhebt, ist daher von diesen durch Tradition und früh
Wort und Satz. 611
erworbene Übung längst gewonnenen Scheidungen bestimmt. Anders
bei dem Naturmenschen, in dessen Denken das Wort überhaupt kein
fest sich abgrenzendes Gebilde ist, sondern nur der Satz durch den
sicher ausgeprägten Abschluß des Gedankeninhalts als eine bestimmte
Einheit erscheint. Bei ihm dominiert dieses Ganze. Von den Einzel-
vorstellungen, die in dasselbe eingehen, mögen einzelne, namentlich
solche, die sich auf in der Wahrnehmung gegebene Gegenstände be-
ziehen, bereits fester umgrenzt sein, andere, besonders Raum- und
Zeitbestimmungen, die Arten der Tätigkeit und des Verhaltens der
Gegenstände, bleiben eng mit den sie tragenden Hauptvorstellungen
verbunden. Aber auch bei jenen relativ isolierbareren gegenständ-
lichen Inhalten bleibt die Beziehung zu dem Ganzen, dem sie an-
gehören, eine so unmittelbare, daß jeweils das Einzelne nur in seiner
konkreten Verbindung mit dem Ganzen dem Bewußtsein gegenwärtig
ist. Auf solche Weise ist der Satz gegenüber dem Wort insofern die
ursprünglichere Vorstellungseinheit, als der in dem Satz ausgedrückte
Inhalt auf jeder Stufe des Denkens gegenüber andern ähnlichen In-
halten ein relativ abgeschlossenes Ganzes ist. Bezeichnen wir den
dem Satz entsprechenden Bewußtseinsinhalt als eine Gesamtvor-
stellung, so bildet demnach jedes Wort des Satzes eine Einzel-
vorstellung, der in jener eine bestimmte Stellung zukommt, in-
dem sie mit den übrigen in die gleiche Gesamtvorstellung ein-
gehenden Einzelvorstellungen in Beziehungen und Verbindungen
gesetzt ist. Dieses Verhältnis an sich ist ein der Sprache auf
allen Stufen und in allen Formen ihrer Entwicklung imausbleiblich
zukommendes. Nur die Festigkeit der Verbindungen ist eine außer-
ordentlich abweichende, so daß dadurch bald Wort- und Satz-
einheit fast ununterscheidbar zusammenfließen, bald scharf ge-
gliedert einander gegenüberstehen. Aber selbst diese Unter-
schiede der Sprachformen ermäßigen sich in der lebendigen
Rede, indem hier die Verbindung zu einem Ganzen, die dem natür-
lichen Primat des Satzes entspricht, immer wieder zur Vorherrschaft
gelangt.
Leicht kann man sich übrigens von diesem Verhältnis der die
Satzinhalte bildenden Gesamtvorstellungen zu den durch die Worte
repräsentierten Einzelvorstellungen bei aufmerksamer Selbstbeobach-
39*
612 Die Wortbildung.
tung während der Rede überzeugen. In dem Moment, wo ich einen
Satz beginne, steht das Ganze bereits als eine Gesamtvorstellung in
meinem Bewußtsein. Dabei pflegt diese aber nur in ihren Haupt-
umrissen einigermaßen fester geformt zu sein; alle ihre Bestandteile
sind zunächst noch dunkel und heben sich erst in dem Maße, als sie
sich zu klaren Vorstellungen verdichten, als Einzelworte ab. Der
Vorgang gleicht ungefähr dem bei der plötzlichen Erleuchtung eines
zusammengesetzten Bildes, wo man zuerst nur einen ungefähren Ein-
druck vom Ganzen hat, dann aber sukzessiv die einzelnen Teile, immer
in ihrer Beziehung zum Ganzen, ins Auge faßt. Übrigens ist die all-
tägliche Erfahrung, daß der Redende einen zusammengesetzten Satz
richtig von Anfang bis zu Ende durchführen kann, ohne vorher über
ihn irgendwie reflektiert zu haben, offenbar nur aus diesem Verhält-
nis erklärlich. Diese Tatsache würde absolut unverständlich sein,
wenn wir mosaikartig aus einzelnen zuerst isolierten Wortgebilden
den Satz zusammenfügen müßten.
6. Ursachen der Wortsonderung.
Wenn wir das Wort als eine ,, Einzel Vorstellung" bezeichnen
und diese dem Satz als einer sie enthaltenden Gesamtvorstellung
gegenüberstellen, so gewinnt dieses Verhältnis seine Bedeutung für
die Entwicklung des sprechenden Denkens wesentlich dadurch, daß
hierbei notwendig das beschränktere und abhängige aus dem um-
fassenderen und bestimmenden Gebilde hervorgehen mußte. Noch
erhebt sich jedoch die Frage nach dem Wie dieses Geschehens, nach
den Bedingungen, die dem einzelnen Wort allmählich eine größere
Selbständigkeit und für sich allein schon einen Begriffswert sichern.
Nur einer dieser Bedingungen wurde bereits gedacht: nämlich der
Assoziationen, in die ein einzelnes Wort mit dem gleichen, in irgend-
einem andern Satzganzen vorkommenden treten muß, sobald die ent-
sprechenden Gesamtvorstellungen infolge der Er inn er ungs Vorgänge
in hinreichende Berührung kommen um aufeinander einwirken zu
können (S. 590 f.). Hiermit ist aber doch nur die vorbereitende Be-
dingung zur Isolierung des Wortes gegeben; die tiefer liegenden Ur-
Ursachen der Wortsondernng. 613
Sachen des Vorgangs sind dadurch noch nicht aufgedeckt. Denn es
ist allerdings selbstverständlich, daß sich irgendeine Vorstellung nur
dann von andern isolieren kann, wenn sie in wechselnden Verbin-
dungen mit diesen vorkommt, gerade so wie ein Gegenstand im Raum
erst durch seine Bewegung als ein von seiner Umgebung trennbarer
erscheint. Diese allgemeine Assoziationsursache kann jedoch ihre
Wirkungen nur zustande bringen, weil der einzelnen Wortvorstellimg
von vornherein gewisse Eigenschaften anhaften, vermöge deren sie
überhaupt isolierbar ist. Dies aber beruht auf Bedingungen, die mit
der Konstitution der Gesamtvorstellungen sowohl wie der Einzel-
vorstellungen zusammenhängen müssen. Nun ist das Denken und
seine Äußerung in der Sprache keine bloße assoziative Aneinander-
reihung. Solches würde allenfalls denkbar sein, vC^enn der Satz eine
bloße Verbindung von Wörtern wäre und nicht vielmehr das Wort
selbst aus dem Satze seinen Ursprung nähme. Da aber das Ganze
des Gedankens das Primäre ist, so kann auch das primum movens
für die Isolierung der einzelnen Wortvorstellungen nur in den
psychischen Kräften liegen, die eine Zerlegung jener Gesamt-
vorstellung in ihre Teile herbeiführen. Diese Kräfte müssen mit
denen der Konstitution der Gesamtvorstellung selbst zusammen-
hängen; sie können ihr nicht durch äußere zufällige Einwirkungen,
z. B. durch die Assoziation ihrer einzelnen Wortbestandteile
mit denen anderer ähnlicher Gebilde, zufließen. Vielmehr wird
letzteres immer nur eine äußere Bedingung bleiben, durch welche
die in der Natur der Gesamtvorstellung als eines einheitlichen,
aber zusammengesetzten Gedankens liegenden inneren Bedingungen
zur Wirkung kommen. Gerade diese Einheit einer Gesamt-
vorstellung ist es nun, die sich auf keine Weise als eine bloße
Summe von Assoziationen begreifen läßt. Sicherlich haben diese
erst das Material bereit stellen müssen, das zur Entstehung auch
der einfachsten, in einem Satz auszusprechenden Gesamtvor-
stellung erforderlich ist. Gleichwohl ist die Verbindung der in der
Sinneswahrnehmung nur äußerlich assoziierten Objekte zu einem
Ganzen, dessen einzelne Teile in bestimmte Beziehungen wechsel-
seitiger Zugehörigkeit oder Abhängigkeit gesetzt werden, ebenso-
wenig ein bloßer Assoziationsakt, wie die willkürliche Richtung der
614 Die Wortbildung.
Aufmerksamkeit auf irgendwelche Gegenstände der Wahrnelimung,
unter absichtlicher Vernachlässigung anderer, oder die willkürliche,
aus einem bestimmten bevorzugten Motiv entspringende äußere Hand-
lung eine bloße Assoziation ist. Alle diese Vorgänge würden ohne
die mannigfachsten Assoziationen nicht möglich sein. Sie setzen aber
außerdem resultierende psychische Wirkungen voraus, welche die
gesamte psychische Anlage und Vergangenheit des Subjekts zu ihrer
Grundlage haben. Infolgedessen erfolgt jede Apperzeption einer
Gesamtvorstellung sowohl wie der aus dieser sich ablösenden Einzel-
vorstellungen auf Grund bestimmter Willensmotive, die aus der
Wechselwirkung der zunächst sich bietenden Assoziationen mit jener
psychischen Anlage hervorgehen.
Dieses Verhältnis bringt für die Analyse der Vorgänge des
Denkens und Sprechens die doppelte Aufgabe mit sich: einerseits
die Assoziationsbedingungen nachzuweisen, die einem gegebenen
Gedankenzusammenhang zugrunde liegen; anderseits die Apper-
zeptionsmotive aufzufinden, die in Verbindung mit den Assozia-
tionen die wirkliche Konstitution der Denkakte erklären.
Diese doppelte Aufgabe erledigt sich nun bei dem vorliegenden
Problem wegen des engen Zusammenhangs, in dem hier die Asso-
ziations- und die Apperzeptionsbedingungen stehen, in der denkbar
einfachsten Weise. Assoziativ wird die Isolierung des einzelnen Wortes
dadurch vermittelt, daß das gleiche Wort auch in andern Gesamt-
vorstellungen in veränderten Umgebungen vorkommt. Daß dies
der Fall ist, hat aber wieder seinen Grund in den apperzeptiven Be-
ziehungen, in die in jedem einzelnen Fall die Teile des Gedankens
zueinander treten, Beziehungen, die, assoziativ vorbereitet, erst in
hinzutretenden Akten willkürlicher Verknüpfung endgültig voll-
zogen werden. Hiernach läßt sich der ganze Vorgang der Wortiso-
lierung auf eine Reihenfolge von vier Prozessen zurückführen. Voran
steht eine Assoziation von direkten Empfindungs- und von Erinne-
rungselementen: das ursprüngliche Vorstellungssubstrat des
Gedankens. Aus ihm entsteht auf zweiter Stufe durch einen Apper-
zeptionsakt, der gewisse Wahrnehmungsmotive vor andern bevor-
zugt und das Ganze gegen , andere Bewußtseinsinhalte abschließt,
die Bildung der Gesamtvorstellung. Darauf folgt in dritter Linie
Volkstümliche Neubildungen. 615
eine Reihe sekundärer Assoziationen übereinstimmender
Bestandteile verschiedener Gesamtvorstellungen, infolge deren
sich solche übereinstimmende Teile deutlicher von andern abheben,
mit denen sie wechselnder verbunden sind. Hierzu kommt endlich
als letzter Apperzeptionsakt die willkürliche Isolierung dieser durch
Gleichheitsassoziationen gehobenen Elemente zu selbständigen Einzel-
vorstellungen.
Von diesen vier Prozessen gehört der erste, die Assoziation der
Wahrnehmungs- und Erinnerimgselemente, einer der Sprache vor-
ausgehenden Bewußtseinsentwicklung an. Der zweite, die Apper-
zeption der Gesamtvorstellung, kann zwar auch als ein Akt sprach-
losen Denkens vorkommen, und es geschieht dies tatsächlich fort-
während in den Vorgängen sogenannter Phantasietätigkeit. Überall
aber, wo der Trieb nach Mitteilung des selbsttätig Erfaßten an Andere
hinzutritt, da entsteht notwendig irgendeine äußere Reaktion, welche
diese Apperzeption als natürliche Ausdrucksbewegung begleitet.
Eine solche Reaktion besteht, sobald die Gesamtvorstellung verwickelter
wird, in einer Folge von Bewegungen, also, falls die Bedingungen
zur Entstehung der Lautsprache gegeben sind, in einer Folge von Laut-
artikulationen. Hiermit wird die Gesamtvorstellung selbst, und in
weiterer Folge jede aus ihr durch die anschließenden Assoziations-
und Apperzeptionsprozesse sich loslösende Einzelvorstellung zu einer
mehrfachen Komplikation. Zunächst verbindet sich der kon-
krete Anschauungsinhalt mit der akustischen sowie mit der moto-
rischen Wortvorstellung, wobei die erstere beim Hören des Gesproche-
nen, die letztere beim eigenen Sprechen überwiegt; und dazu kommen
dann als inkonstantere und qualitativ wechselndere die optischen
und graphischen Bestandteile der Komplikation. (Vgl. oben S. 568 ff.)
IV. Neubildung von Wörtern.
1. Volkstümliche Neubildungen.
Wenn die psychischen Kräfte, die in irgendeiner entlegenen Ur-
periode der Sprache artikulierte Laute zu Wörtern vereinigt haben,
keine andern sind als diejenigen, die heute noch das Leben der Sprache
616 Die Wortbildung.
behierrsclien, so erscheint es als eine naheliegende Folgerung, daß
auch die Urschöpfung der Wörter kein seit langer Zeit zum Stillstand
gekommener, sondern daß er ein sich fortwährend in der lebenden
Sprache wiederholender Prozeß sei, gerade so wie sich in den Fort-
pflanzungsvorgängen der Organismen immer wieder unter unsern
Augen deren Schöpfung erneuert. Immerhin muß ebendiese Ana-
logie zur Vorsicht vor einer etwaigen Unter Schätzung der jedenfalls
abweichenden Bedingungen ursprünglicher Neuschöpfung mahnen.
Ist auch die Kraft fortwährender Wiedererneuerung und zweckmäßiger
Umwandlung in der organischen Natur unzerstörbar, solange das
Leben selbst besteht, so sind doch allem Anscheine nach die Be-
dingungen einer ersten Erzeugung organischer Wesen auf unserer
Erde entweder für immer dahin oder in Grenzen eingeschränkt,
die bis jetzt ihre sichere Nachweisung unmöglich gemacht haben.
Gerade so wird man erwarten dürfen, daß die Neuschöpfung
von Wörtern in späteren Perioden der Sprache nicht dasselbe
Phänomen mehr ist wie die ursprüngliche, da auf jene alles,
was bis dahin in der Sprache schon feste Gestalt gewonnen hat,
bestimmend einwirkt. Darum ist nun aber auch die Analogie
mit der organischen Natur in diesem Falle höchstens für den
End erfolg, nicht für dessen nähere Ursachen zutreffend. In der
organischen Welt sind, soviel wir vermuten dürfen, die äußeren
Bedingungen einer „generatio spontanea" wesentlich andere ge-
worden. Bei der Sprache haben sich die inneren Bedingungen
verändert, die dem nie erlöschenden Trieb der Wortbildung seine
Richtung geben. Namentlich hat hier die Ausbildung der vor-
handenen Sprache die wortbildenden Prozesse für alle Folgezeit auf
ein verhältnismäßig enges Gebiet von Ergänzungen des Wortschatzes
eingeschränkt — naturgemäß auf ein um so engeres, je vollständiger
die überlieferte Sprache allen Bedürfnissen bereits entgegenkommt.
Darum ist hier allerdings zu erwarten, daß mit fortschreitender Ent-
wicklung die Quellen der Neubildung mehr versiegen, nipht weil es
an den Kräften fehlte, die sie aus dem Mutterboden der Sprache
hervorlocken könnten, wohl aber, weil die Anlässe, die zur Äuße-
rung dieser Kräfte treiben, seltener werden. Gleichwohl ist es
für das Problem der Wortbildung von Interesse, jenen verein-
Volkstümliche Neubildungen. 617
zelten Fällen einer wirklichen Neuschöpfung, die sich noch in der
heutigen Sprache ereignen, nachzugehen. So beschränkt sie sein
mögen, so bieten sie doch den einzigen Fall, wo der Vorgang der
Wortschöpfung der unmittelbaren Beobachtung einigermaßen zu-
gänglich ist.
Viele Neubildungen gehen von frühe an in den allgemeinen Sprach-
schatz, wenn auch zunächst nur in den eines beschränkten Bevölke-
rungskreises, über. Sie mögen individuellen Ursprungs sein; aber
ihr Urheber verbirgt sich unserer Nachforschung^ denn rasch, wie
sie entstanden, werden sie von der Gemeinschaft aufgenommen und
weiter getragen. Solche ,, volkstümliche Neubildungen" kommen
in jeder Sprache vor, wenn sie auch in den Kultursprachen hinter
den ,, gelehrten Neubildungen" und den aus dem gleichen Trieb nach
Erweiterung des Wortschatzes hervorgehenden Entlehnungen stark
zurücktreten^). Schon um dieser Beschränkung willen wird man
von vornherein nicht erwarten dürfen, daß diese Erscheinungen für
das Problem der Wortbildung überhaupt von entscheidender Bedeu-
tung seien. Nichtsdestoweniger sind sie geeignet, auf gewisse Seiten
dieses Problems, namentlich auf die Abhängigkeit neu sich bildender
Wörter voneinander und von dem schon vorhandenen Wortschatz
einiges Licht zu werfen.
Wir können Wohl am ehesten die volkstümliche Neubildung
zu ihrer Quelle verfolgen, wenn wir der Art und Weise nachgehen,
wie sich jene Arten von „Slang" oder ,, Jargon" 2) bilden, die überall
da entstehen, wo eine Anzahl von Menschen im täglichen Beisammen-
sein besonderen Lieblingsinteressen oder fortwährend geübten Be-
^) Charakteristisch hierfür ist es, daß z. B. in dem Werke von A. Darme-
steter. De la cr6ation de mots nouveaux de la langue fran^aise, 1877, volkstüm-
liche Neubildungen eine ganz verschwindende Rolle spielen, gegenüber den ge-
lehrten Neubildungen und den zur Neubildimg in dem hier gemeinten Sinne
gar nicht zu rechnenden Entlehnungen, Ableitimgen und Bedeutungsübertragun-
gen, die in jenem weitesten Umfang, in dem Darmesteter den Begriff faßt, sämt-
lich als „mots nouveaux** bezeichnet werden.
2) Pie deutsche Sprache hat dafür keinen bezeichnenden Ausdruck, ab-
gesehen von dem ausschheßUch für die Gaunersprache gebrauchten Kompositum
„Rotwelsch^* und dem analogen, jede unverständliche Sprechweise bezeichnenden
„Kauderwelsch".
&
618 Die Wortbildung.
schäftigungen nachgeht. Diese Bedingung führt von selbst die Neigung
mit sich, die Objekte der besonderen Interessensphäre auch dadurch
nach außen abzuschließen, daß für sie neue, von den sonst gebrauchten
abweichende Wörter geschaffen werden. Tritt das Streben hinzu,
die Gegenstände der Unterhaltung vor andern zu verhüllen, so kann
dadurch die Ausbildung einer solchen Sondersprache noch mehr ge-
fördert werden; immerhin ist das ein sekundäres Motiv, das in sehr
vielen Fällen gar nicht in Betracht kommt. Mögen nun auch solche
Sondersprachen vielfach mit der Neuentstehung irgendwelcher ge-
selliger Kreise aufkommen und mit ihnen wieder verschwinden, so
haben sie es doch in einzelnen Fällen, wo die Bedingungen ihrer Be-
festigung und Verbreitung günstig waren, zu größerer räumlicher
und zeitlicher Ausdehnung gebracht: so in der Gaunersprache, der
Soldatensprache, der Studentensprache, der Handwerksburschen -
spräche. Daran schließen sich als beschränktere Erscheinungen die
Jargons gewisser anderer Berufskreise, wie der Kutscher, der Küfer,
der Kellner usw., oder bestimmter Geselligkeitskreise, wie der Spieler,
der Kegler und in neuester Zeit besonders der Kadler. Manche dieser
Sondersprachen entlehnen voneinander, und viele ihrer Ausdrücke
sind verstümmelte Lehnwörter. So hat die Gaunersprache vieles
dem Hebräischen, die Studentensprache manches dem Lateinischen
entnommen oder diesem und den ihm entlehnten Fremdwörtern an-
geglichen. Einzelne Ausdrücke endlich sind aus dem einen dieser
Idiome in das andere übergegangen: namentlich das verbreitetste
und älteste derselben, die Gaunersprache, hat so die Kellner-, Sol-
daten- und Studentensprache mit Wörtern versorgt. In allen diesen
Sondersprachen kommen übrigens auch zahlreiche Bestandteile vor,
die nicht wirkliche Neubildungen, sondern bloße Bedeutungsüber-
tragungen sind. Stark wirkt in solchen Fällen außerdem die absicht-
liche Erfindung mit, so daß dadurch die Erscheinungen für die vor-
liegende Frage im allgemeinen belanglos werden^).
^) Über die Gaunersprache vgl. Ave-Lallemant, Das deutsche Gaunertum,
III, 1862, über die Studentensprache F. Kluge, Deutsche Studentensprache,
1895, Seemannssprache, 1901. Über die Gesamtheit dieser Sondersprachen
bandelt F. Kluge, Rotwelsch- Quellen und Wortschatz der Gaunersprache und
Volkstümliche Neubildungen. 619
Wie aus diesen Sondersprachen einzelne Wörter in die Volks-
sprache übergehen können, so sind nun ohne Zweifel überall Neu-
bildungen ursprünglich in irgendeinem beschränkten Kreise ent-
standen, um dann zuerst in den nächsten Dialekt und endlich aus
diesem durch mündliche Mitteilung oder durch die Literatur in weitere
Kreise zu dringen. In der Eegel ist aber die Existenz einer Neubil-
dung erst festzustellen, nachdem diese Ausbreitung bereits eingetreten
ist. So zeigt die deutsche Schriftsprache in jeder ihrer Perioden zahl-
reiche Neubildungen. In der älteren Zeit sind sie von dialektischen
Übertragungen und assimilierten Fremdwörtern nicht immer zu
scheiden. In der neuhochdeutschen Periode besitzen wir aber ein
ziemlich sicheres Kennzeichen ihres Ursprungs in ihrem lautlichen
Zusammenhang mit andern, altüberkommenen oder mindestens vor-
her eingebürgerten Wortbildungen. Darin liegt zugleich ein Beweis
dafür, daß solche Neubildungen nicht außer allem Zusammenhang
mit dem sonstigen Wortschatz entstehen, sondern daß sie sich an
diesen und dabei fast immer an ganz bestimmte laut- und bedeutungs-
verwandte Wörter anlehnen. Ferner sind die neugebildeten Wörter,
wenigstens soweit sie jüngeren Ursprungs sind, in ihrer Mehrzahl
Verba. Dies hängt mit der andern Eigenschaft zusammen, daß sie
meist den Charakter der ,, Lautgebärden" und ,, Lautmetaphern"
besitzen. Als solche sind diese Neubildungen bereits an einer früheren
Stelle als Zeugnisse unmittelbarer Beziehungen zwischen Laut und
Bedeutung besprochen worden^). Die gleiche Beziehung ist es nun
natürlich auch, die für den nämlichen Vorgang, wenn man ihn unter
dem Gesichtspunkt eines Wortbildungsprozesses betrachtet, in vor-
derster Linie steht. Gerade die ,, Grundelemente" des Wortes
sind es, die auf solche Weise durch eine unmittelbare Assoziation
der Verteilung mit der Lautbewegung zustande kommen, und
die dem Wort um so mehr den Charakter der Neubildung ver-
der verwandten Geheimsprachen, 1901. Gauner- und Studentensprache können
als Vertreterinnen verschiedener Typen gelten, insofern die erstere den Charakter
einer Geheimsprache, die letztere zum großen Teil den einer scherzhaften Ver-
welschung der gewöhnlichen Sprache hat.
1) Vgl. Kap. III, S. 329 ff.
620 I>ie Wortbildung.
leihen, je weniger jene Assoziation mit schon vorhandenen, die
nämlichen oder verwandte Begriffe ausdrückenden Lautgebilden
mitwirkt.
Hier kommen nun aber zu der Beziehung zwischen Laut
und Vorstellung zwei weitere Momente hinzu, die eigentlich erst
den Prozeß in den Bereich der Wortbildung erheben. Das erste
ist die Assoziation der Grundelemente des Wortes mit denen
anderer Wörter, die jenem nach Laut wie Bedeutung verwandt
sind; das zweite die Assoziation der Beziehungselemente mit den
in andern Wortgebilden von übereinstimmender Stellung ent-
haltenen und die assoziative Angleichung an diese. Vermöge der
ersten Assoziation läßt sich beinahe jede Neubildung in eine
Keihe verwandter Wortbildungen eingliedern, unter denen ein-
zelne meist nachweislich älteren Ursprungs sind als andere,
so daß mit größter Wahrscheinlichkeit eine Art Attraktion der
älteren Form auf die jüngere, zugleich aber eine durch die neben-
hergehende onomatopoetische Assoziation bedingte Variation des
Lautes, die den Unterschied von jenem attrahierenden Wort-
gebilde herbeiführte, zustande kam. In vielen Fällen mögen es aber
auch mehrere Wörter von verwandtem Lautinhalt gewesen sein, welche
die attrahierende Wirkung ausübten. Solche Wortreihen durchweg
neueren Ursprungs, jedoch meist von etwas verschiedenem Alter der
einzelnen Glieder, sind z. B. haumein, bammeln, bimmeln, bummeln,
bambeln, famfein, bangein, ferner: flattern, flittern (häufiger als Sub-
stantiv Flitter), flirren, flintern, flisfern, flunkern, flüstern; sodann:
knarren, knurren, hnirren, knirschen, knattern, knittern usw. Wie man
sieht, sind die Verwandtschaften bald enger bald weiter, und es läßt
sich daher kaum die Grenze bestimmen, wo zwischen Wörtern einer
solchen Eeihe noch mit Sicherheit eine Assoziation angenommen
werden darf, und wo nicht mehr. So ist es wohl sicher, daß z. B. bau-
meln, bammeln, bimmeln, bummeln zusammenhängen, während man
es zweifelhaft lassen muß, ab bangein und andere ähnliche noch zur
selben Gruppe gehören. Wo aber ein Zusammenhang anzunehmen
ist, da fällt auch jedesmal die doppelseitige Wirkung einerseits des
vorhandenen Wortes, anderseits der neuen Vorstellung, die auf jenes
modifizierend einwirkt, in die Augen. So ist nach den literarischen
Volkstümliche Neubildungen. 621
Befunden unter den Wörtern der ersten der obigen Reihen baumeln
das älteste. Es läßt sich als eine Lautgebärde für eine hin- und her-
schwingende Bewegung deuten, auf deren Gestaltung außerdem wohl
die Assoziation mit dem Worte Baum eingewirkt hat: ein an einem
Baum aufgehängter Gegenstand „baumelt"^). Auf die schwingende
Bewegung der Glocke übertragen trat sodann die Vorstellung des
Baumes zurück, während zugleich der Besonderheit des Glocken tons
der Doppelvokal widerstrebte: so entstand durch onomatopoetische
Lautvariation das Wort hammein, und dieses modifizierte sich wieder
auf den Klang eines kleinen Glöckchens übertragen, zu himmeln.
Als ein letztes Gebilde dieser Wortreihe ist endlich, sei es direkt aus
baumeln oder aus bammeln, in der Studentensprache das Wort bum-
meln entstanden, als onomatopoetisches Wort für ,, Spazierengehen",
und in weiterer Übertragung für ,, müßiggehen".
Hiernach sind derartige Neubildungen im allgemeinen die Er-
zeugnisse einer dreifachen Assoziation. Erstens wirkt meist ein be-
reits vorhandenes Wort, mag es nun selbst schon onomatopoetisch
sein oder nicht, assimilierend auf das neu entstehende. Zweitens wird
dieses durch eine Assoziation zwischen der Vorstellung, die es bedeutet,
und einer dieser entsprechenden Lautgebärde onomatopoetisch be-
einflußt. Drittens reiht es sich durch eine von verwandten Wort-
formen ausgehende Massenassoziation, eine ,, äußere grammatische
Angleichung" (S. 445), einer bestimmten, seiner Stellung im Satz
entsprechenden Wortklasse an. Von diesen drei Assoziationen, die
sich sämtlich im allgemeinen simultan, also wieder in der Form der
Assimilation vollziehen, kann die erste möglicherweise ganz fehlen:
dann liegt eine Urschöpfung im engeren Sinne vor, eine solche, bei
der die Grundelemente des Wortes nur durch die direkte Wirkung
des Gegenstandes auf die Lautgebärde entstehen. Durch die dritte
der genannten Assoziationen, aus der die Bildung der Beziehungs-
elemente hervorgeht, wird aber ein solches, losgelöst von allen bereits
vorhandenen Wortstämmen entstandenes Wort dem allgemeinen
^) Vgl. die in dieser (übrigens hypothetischen) Ableitung von Baum über-
einstimmenden Bemerkungen von Grimm, Kluge und Paul in ihren Wörter-
büchern.
622 I>ie Wortbildung.
Organismus der Sprache eingegliedert und dadurch fähig, seiner-
seits neue Bildungen teils durch Ableitungen, teils durch die oben
erörterten Variationen der onomatopoetischen Wirkung hervorzu-
rufen. Durch solche Variationen stehen zugleich diese Neubildungen
in unmittelbarer Beziehung zu Erscheinungen, die in die Urzeiten
der Wortbildung zurückreichen, und deren wir früher bei der soge-
nannten „Wurzel Variation" als ältester geschichtlicher Zeugnisse
der Sprache für eine innere Beziehung zwischen Laut imd Bedeutung
gedacht haben ^).
2. Gelehrte Neubildungen.
Von den volkstümlichen unterscheiden sich die gelehrten Neu-
bildungen schon nach ihrem äußeren Eindruck dadurch, daß sie den
Charakter willkürlicher Erfindungen an sich tragen imd daher viel
bestimmter auf einen individuellen Ursprung hinweisen. In der Tat
ist hier der Schöpfer eines neuen Wortes in sehr vielen Fällen in einer
bestimmten literarischen Persönlichkeit direkt aufzufinden. Jenes
Merkmal der willkürlichen Erfindung entsteht aber hauptsächlich
deshalb, weil die gelehrte Neubildung ohne gelehrte Beschäftigung,
speziell ohne die Kenntnis einer fremden Literatur und Sprache ganz
undenkbar ist. Hieraus entspringt ein wesentlicher Unterschied gegen-
über der volkstümlichen Neubildung. Diese schöpft nur aus der eigenen
Muttersprache, jene betätigt sich in der Übertragung fremden Sprach-
guts in die Muttersprache. Eine solche Übertragung kann nun aber
auf zwei Wegen geschehen: durch die in anderem Zusammenhang
schon besprochene Assimilation der Fremdwörter 2), und durch wört-
liche Übersetzung. Die Assimilation der Fremdwörter kann so-
wohl auf dem volkstümlichen wie auf dem gelehrten Wege statt-
finden. Das erstere pflegt in den älteren, das letztere in den jüngeren
Perioden der Sprache zu geschehen. Zur Vermehrung des Wort-
schatzes trägt sie natürlich sehr vieles, und im allgemeinen wohl mehr
1) Vgl oben Kap. III, S. 359 ff.
2) Vgl. Kap. IV, S. 469 ff. '
Gelehrte Neubildungen. 623
bei als die Übersetzung. Doch eine eigentliche Neubildung ist sie
nicht. Ihrem psychologischen Charakter nach fällt sie vielmehr durch-
aus mit der Dialektübertragung oder mit der Aufnahme eines einem
beschränkten Berufskreis entstammenden Wortes in den allgemeinen
Sprachschatz zusammen.
Jedes Kulturvolk, das seine Wissenschaft imd Kunst nicht zum
wesentlichsten Teil, namentlich soweit eine Vermittlung durch lite-
rarische Denkmäler in Frage kommt, aus sich selbst erzeugte, son-
dern gewisse Grundlagen von andern in der Kultur vorangegangenen
Völkern überkam, hat nun aber durch die willkürliche sprachbildende
Tätigkeit einzelner Schriftsteller den für das wissenschaftliche Denken
imd seine einzelnen Gebiete erforderlichen Wort Vorrat bereichert.
Diese Tätigkeit ist im wesentlichen überall von übereinstimmender
Art. Die römischen Autoren, die in Anlehnung an die Griechen eine
philosophische Terminologie aus rein lateinischen Wörtern herstellten,
sind dabei nicht anders verfahren als die Deutschen, als sie von den
Zeiten des Notker Labeo und des sprachgewaltigen Meisters Eck-
hardt an bis herab auf Leibniz und Christian Wolff den lateinischen
Sprachschatz zu neuen deutschen Wortbildungen verwerteten. Unter
ihnen nimmt Leibniz eine führende Stellung ein. Hatten die Früheren
von Fall zu Fall dem Bedürfnis, das fremde Wort in einem ihren Volks-
genossen verständlichen Ausdruck wiederzugeben, zu genügen ge-
sucht, so war es Leibniz, der in seinen ,,Un vorgreif liehen Gedanken
betreffend die Ausübung und Verbesserung der teutschen Sprache"
(1697) zum ersten Male mit klarer Besonnenheit über die Grund-
sätze, nach denen solche Neubildungen auszuführen seien, Rechen-
schaft gab^). Das Verdienst der Durchführung des von ihm aufge-
stellten Programms gebührt Wolff und seiner Schule: hier, auf dem
Boden der willkürlich planmäßigen Erfindung und Bereicherung
der Sprache, lag das Feld, auf dem das Zeitalter der Verstandesauf-
klärung zum Teil sein Bestes geleistet hat^). Der Philosophie sind
*) Leibniz' Deutsche Schriften, herausg. von G. E. Guhrauer, I, 1838,
S. 440 ff.
2) Vgl. hierzu H. Rückert, Geschichte der neuhochdeutschen Schriftsprache,
1875, II, S. 308 ff.
624 Die Wortbildung.
die andern Wissenschaften langsamer gefolgt, — mit zwei
Ausnahmen: der Jurisprudenz und der Medizin. In der Medizin
fehlten hinreichend präzise Ausdrücke für die neueingeführten
Begriffe in dem heimischen Sprachschatze gänzlich. Eher kann
man sich wundern, daß die Rechtswissenschaft die reiche alt-
deutsche Rechtssprache der Vergessenheit überantwortete, um,
von verschwindenden Ausnahmen abgesehen, ihr gesamtes Be-
griffssystem aus Fremdwörtern aufzubauen. Die deutsche Juris-
prudenz bildet dadurch einen merkwürdigen Gegensatz zur deut-
schen Philosophie. Diese hat zunächst zu ihrem eigenen, dann
aber mehr und mehr zum allgemeinen Gebrauch der deutschen
Sprache eine Fülle neuer Wörter für Begriffe zugeführt, für die es ur-
sprünglich ganz an geeigneten Ausdrücken fehlte. Die Rechtswissen-
schaft hat umgekehrt die deutsche Sprache einer Fülle eigenartiger
Wortbildungen beraubt, um ihr dafür ein fremdes, großenteils der
Hasse des Volkes unverständlich bleibendes Sprachgut mitzuteilen.
An sich war das keine notwendige Folge der Aufnahme des fremden
Rechtes. War doch umgekehrt in der Philosophie gerade durch die
Aufnahme fremder Ideen das Bedürfnis erwacht, den Schatz der
eigenen Muttersprache durch Neubildungen zu vermehren. Es mußten
besondere Bedingungen hinzukommen, der erbitterte Kampf gegen
das alte Recht, die geflissentliche Abschließmig des gelehrten Juristen-
standes, um diesen Erfolg herbeizuführen. Im Gegensatze hierzu
waren Leibniz und die Aufklärungsphilosophen, denen wir die letzte
große Bereicherung unserer Sprache durch gelehrte Neubildungen
verdanken, vielmehr eifrig bemüht, die Errungenschaften der in der
wissenschaftlichen Kultur fortgeschritteneren Nationen dem eigenen
Volke nutzbar zu machen. Diese Verhältnisse zeigen zugleich deut-
lich, daß zu der nie erlöschenden Regsamkeit des sprachschöpferischen
Triebes doch noch besondere Ursachen hinzutreten müssen, um der
gelehrten Sprachschöpfung ein so reiches und fruchtbares Feld zu
eröffnen, wie es in der Zeit von der Mitte des 17. bis zu der des 18. Jahr-
hunderts geschah. Solche Ursachen lagen eben hier in der Aufnahme
zahlreicher neuer Begriffe in eine für die Zwecke der Wissenschaft
noch wenig ausgebildete Sprache, verbunden mit dem Streben, jene
Begriffe allgemein zugänglich zu machen. Daß dieses Streben von
Gelehrte Neubildungen. 625
der Philosophie als der allgemeinsten Wissenschaft ausging, war von
besonderer Bedeutung. Denn die von ihr geprägten Begriffe stellten
sich gerade um ihrer Allgemeinheit willen sofort auch dem gewöhn-
lichen Sprachgebrauch zur Verfügung. So gingen Wörter wie Ge-
wissen, Bewußtsein, Vorstellung, Entwicklung, Folgerung, Mitleid,
Selbstgefühl, Selbstsucht und viele andere mit oft wunderbarer
Schnelligkeit aus der wissenschaftlichen in die allgemeine Sprache
über.
Der Vorgang dieser gelehrten Neubildung besteht nun überall
in dem nämlichen Prozeß einer bald vollkommen wortgetreuen, bald
etwas freieren, dem Geist der eigenen Sprache und eingeübter Sprach-
gewohnheiten Kechnung tragenden Übersetzung. In dieser Be-
ziehung ist es bezeichnend, daß durchweg die Neubildungen um so
treuere Übersetzimgen sind, einer je älteren Zeit sie angehören. Die
noch wenig ausgebildete Sprache läßt sich leichter einem von außen
auf sie geübten Zwang unterwerfen, und fremdartige Neubildungen
üben sich leichter ein, Weil sie geringere aus dem vorhandenen Wort-
bestand ihnen erwachsende Widerstände zu überwinden haben. Man
nehme z. B. einige der Übertragungen Notkers wie Gewissen für
conscientia, unendlich für infinitus, hegreifen (umbegreifen = um-
greifen) für comprehendere, sinnig für sensibilis. Unteres für Subjec-
tum u. a., gegenüber den freien Übertragungen Wolffs, wie
conscientia in Bewußtsein, idea in Vorstellung, proportio in Ver-
hältnis, propositio major und minor (im Schluß) in Obersatz und
Untersatz u. a.
Gelehrte Neubildungen dieser Art erfolgen, wie schon diese Bei-
spiele zeigen, fast allgemein auf dem Wege der Wortzusammensetzung.
Wo das nicht der Fall ist, wo etwa irgendein einfaches Wort der eigenen
Sprache auf einen neuen Begriff angewandt wird, wie Grund für ratio,
Kraft für vis. Recht für jus usw., da handelt es sich nicht mehr um
wahre Neubildungen, sondern um spezielle Fälle des Bedeutungs-
wandels, die aber allerdings gerade hier, wo sie auf willkürlichen und
sehr weitgehenden Begriffsänderungen beruhen, in ihrem Erfolg oft
nahe an eine Neubildung angrenzen können^). Die eigentliche, auf
1) Vgl. Kap. VIII, Nr. V (Singulärer Bedeutungswandel).
W n n d t, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. ^^
626 I>ie Wortbildung.
der Zusammensetzung des neuen Wortes aus bereits vorhandenen
Wortbestandteilen beruhende Neubildung erscheint nun um so mehr
als eine gebundene Tätigkeit, je mehr sie sich bemüht, eine vollkommen
treue Übersetzung zu sein. Schöpferisch ist diese Tätigkeit nur in
dem Sinne, daß sie überhaupt die bisher in der eigenen Sprache selb-
ständig existierenden Wörter zu einem Ganzen zusammensetzt. Als
Cicero, der in der römischen Literatur durch seine Bemühungen um
die philosophische Terminologie ungefähr eine ähnliche Stellung ein-
nimmt wie in der unseren Leibniz und Wolff, das in der stoischen
Philosophie entstandene Wort övveidrjoig in conscientia übertrug,
substituierte er Silbe für Silbe dem griechischen das entsprechende
lateinische Wort; und als Notker wiederum conscientia in das deutsche
Gewissen (gewizeda) übersetzte, verfuhr er genau ebenso: denn zu
seiner Zeit wurde das Präfix ge- noch ganz im Sinne des Zusammen-
seins, Gewissen also = Mitwissen, empfunden. Als dann aber Wolff
später nach einem Ausdruck suchte, der den allgemeineren Begriff
der conscientia frei von der moralischen Nebenbedeutung wieder-
gebe, da erfand er die freiere Übersetzung Bewußtsein, auf die wohl
die Assoziation mit dem Präfix des verwandten "Wortes Begriff von
Einfluß war, und diese Scheidung wirkte nun derart auf die ursprüng-
liche Übertragung zurück, daß das Wort Gewissen ausschließlich die
moralische, Bewußtsein ebenso ausschließlich die allgemeinere psy-
chologische Bedeutung annahm. So hatte hier die zweimalige Über-
tragung der entlehnenden Sprache einen Vorzug vor ihrem Vorbild
und vor den aus ihr schöpfenden Töchtersprachen gegeben, in denen
eine solche Differenzierung noch heute nicht eingetreten ist^).
Der allgemeine Charakter der gelehrten Neubildung, als einer
willkürlich und planmäßig und dabei doch an ein fremdes Vorbild
gebundenen Tätigkeit, bringt es mit sich, daß sie uns über die Vor-
gänge der natürlichen Wortbildung keine näheren Aufschlüsse zu
geben vermag. Was sie mit dieser verbindet, das ist nur der Vorgang
^) Viele Einzelheiten zur Geschichte dieser Neubildungen bietet R. Eucken
in seiner verdienstlichen Geschichte der philosophischen Terminologie im Umriß,
1879, manche Ergänzungen dazu für das deutsche Sprachgebiet das Grimmsche
Wörterbuch.
Allgemeine Formen der Lautverdoppelung. 627
der Wortzusammensetzung, bei dem sie aber wieder nur den allge-
meinen Gesetzen folgt, die auch für die außerhalb ihres Gebiets statt-
findenden analogen Verbindungsprozesse gelten. Diese Analogie
wird, abgesehen von den sonst geläufigen Zusammensetzungen, äußer-
lich schon dadurch bedingt, daß die Vorlage, nach der die Neubildung
erfolgt, selbst ein zusammengesetztes Wortgebilde zu sein pflegt.
Dabei ist diese Vorlage entweder eine gelehrte Neubildung gleicher
Art, wie in dem obigen Beispiel das zwischen der owelörjoig und dem
Gewissen in der Mitte liegende conscientia; oder sie stimmt mit den
allgemeinen Wortzusammensetzungen der Sprache überein, sei es
daß sie als solche in der Volkssprache sich gebildet hat, oder daß sie
wiederum eine gelehrte Neubildung ist, die jedoch im Geiste der all-
gemeinen Verbindungsgesetze erfolgte und sich darum enger als bei
den Übertragungen auf ein fremdes Sprachgebiet an die sonstigen
Erscheinungen der Wortkomposition anlehnt. So ist das Wort Gvvel-
ÖTjoig selbst zwar wahrcheinlich die Erfindung eines einzelnen Philo-
sophen; aber es steht mit andern ähnlichen, der allgemeinen Sprache
geläufigen Zusammensetzungen, speziell mit ovvoidcc (conscius sum
mitwissen), in enger Verbindung. So fließen hier an ihrem Ursprung
die gelehrten Neubildungen und die allgemeinen Vorgänge der Wort-
bildung durch Zusammensetzung gegebener Wörter ganz und gar
ineinander. Darum sind aber die Neubildungen zugleich sprechende
Zeugnisse für den Einfluß, den fortwährend die individuelle Sprach-
schöpfung auf die Gemeinschaft ausübt, einen Einfluß, der sonst
leicht der Beobachtung entgeht, hier jedoch durch seinen Zusammen-
hang mit Bedürfnissen, die ursprünglich auf dem engeren Gebiet der
wissenschaftlichen Sprache erwachsen sind, in bestimmten Literatur-
denkmälern erhalten blieb.
V. Wortbildung durch Lautverdoppelung.
1. Allgemeine Formen der Laut Verdoppelung.
Der einfachste Fall einer Verbindung artikulierter Laute zu
einem Ganzen, das durch diese Verbindung eine ihm eigene, den
Teilen selbst noch nicht oder mindestens nicht in dieser Begriffs-
40*
628 Die Wortbildung.
färbung zukommende Bedeutung gewinnt, ist die Lautwieder-
holung. Sie läßt sich einerseits als die primitivste Form der
Wortbildung überhaupt auffassen, als eine Form, die eben erst
an der Grenze liegt, wo der artikulierte Laut in das Wort über-
geht, und die mit den einfachsten Mitteln zustande kommt.
Anderseits gehört aber doch auch dieser Vorgang schon den Er-
scheinungen der Wortbildimg durch Zusammensetzung an, und
er geht in eine wirkliche Wortzusammensetzung über, wenn die
Laut- zur Wortwiederholung wird. Nun treten im allgemeinen
solche Wortwiederholungen auf einer späteren Stufe sprachlicher
Entwicklung für die nämlichen Begriffsmodifikationen ein, die
imter andern Bedingungen auch durch die bloße Lautwieder-
holung ausgedrückt werden können, so daß sich also beide als
gleichartige Vorgänge zu erkennen geben. Nur gehört die Laut-
wiederholung den ersten Anfängen der Wortbildimg an, während
die Wortwiederholung eine bereits vollendete Wortbildung voraus-
setzt. Ähnlich ist das Verhältnis zwischen zwei andern Formen der
gleichen Erscheinung: zwischen der vollen Wiederholung oder „Ge-
mination" und der bloß partiellen oder ,, Reduplikation"^). Die
erstere ist hier wieder die ursprünglichere Form, die direkt in die ab-
gekürzte der Reduplikation unter dem Einfluß der Beschleimigimg
des Redeflusses und infolge der durch diese sich einstellenden Assimi-
lationen und Dissimilationen der Laute übergehen kann. Außerdem
ist es aber auch möglich, daß, nachdem erst einmal überhaupt redu-
plizierte Formen entstanden sind, solche nun durch gleichgerichtete
Laut- und Bedeutungsassimilationen auf andere Wörter übertragen
werden. Durch diese Einflüsse kann die Reduplikation schließlich
bis zur Unkenntlichkeit verwischt werden. So findet sich im Lat.
in Wörtern wie pupitgi, spopondi, momordi, murmurare noch die volle
Wiederholung, in andern wie reppuli (für *repepuli), repperi (für *re-
peperi) ist sie fast völlig verloren gegangen ; in der Mitte stehen die im
Indogermanischen weitverbreiteten Reduplikationsformen wie dldtofÄi,
^) Weitere Einteilungen dieser Formen, namentlich der Reduplikation, gibt
A. F. Pott, Doppelung (Reduplikation, Gemination), 1862, S. 16 ff.
Allgemeine Formen der Lautverdoppelung. 629
dedi, cecidi, credtdi usw.^). Für die psychologisclie Betrachtung der
Verdoppelungserscheinungen haben diese laufcgeschichtlichen Modi-
fikationen im allgemeinen keine Bedeutung. Dagegen ist die Frage,
ob es sich in einem gegebenen Fall um eine Laut- oder um eine Wort-
wiederholung handelt, insofern von erheblichem Interesse, als nur
diejenige Wiederholung eines Lautes, die diesem überhaupt erst
einen Begriffsinhalt verleiht, ein Wortbildungsprozeß im eigent-
lichen Sinne zu nennen ist, während die volle Wortwiederholung
immer nur einen schon vorhandenen Begriff in seiner Bedeutung
modifizieren kann.
Daß nun die Lautwiederholung als ein Vorgang ursprünglicher
Wortbildung möglich ist, das bezeugt schon die Sprache des Kindes.
Sowohl die aus Naturlauten gebildeten Wörter wie Papa und Mama,
wie zumeist auch die gewöhnlichen Onomatopoetica, wauwau, hop-
hop u. a., haben nur als Wiederholungsformen die Bedeutimg voll-
ständiger Wörter. Pa und Ma oder wau und hop empfinden wir nicht
als die ursprünglicheren Wörter, aus denen jene gebildet sind, son-
dern höchstens als abgekürzte Formen, als welche sie von größer ge-
wordenen Kindern oder von Erwachsenen gelegentlich gebraucht
werden. Schwierig läßt sich bei den ausgebildeten Formen der Laut-
sprache entscheiden, ob eine Verdoppelimgserscheinung eine ur-
sprüngliche, wortbildende Lautwiederholung, oder ob sie eine Wort-
wiederholung ist. Denn wenngleich Sprachen, die, wie die ozeanischen
und das Japanische, besonders reich an Verdoppelungen sind, unter
diesen immer auch solche darbieten, bei denen das einfache Laut-
gebilde selbst, aus dessen Wiederholung ein Wort von bestimmter
Bedeutung entsteht, nicht als Wort vorkommt, so ist natürlich die
Möglichkeit, daß es dereinst einmal als solches existiert habe und
^) Die Lautassimilation kann übrigens auch, wie gerade das Lateinische
lehrt, durch Angleichung der Vokallaute (regressive Assimilation) eine abge-
schwächte Reduplikation der vollen Wiederholung näher bringen: dahin gehören
unter den obigen Beispielen pupugi, spopondi, momordi, denen im Altlateinischen
pepugi, spepondi, memordi gegenüberstehen. Hier scheint also, wenn wir die volle
Wiederholung aus allgemeinen Gründen als das Primäre ansehen, eine Art rück-
läufiger Bewegung unter dem Einfluß der Klangassoziation eingetreten zu sein.
Vgl. Lindsay, Die lateinische Sprache, 1897, S. 570, 578.
k
630 Die Wortbildung.
erst unter dem Einflüsse jener Neigung zur Reduplikation verloren
gegangen sei, niemals mit Sicherheit auszuschließen. Immerhin wird
man da, wo der onomatopoetische Charakter eines Wortes seine Be-
deutung eng mit der Lautwiederholung verbindet, in dieser eine ur-
sprüngliche Form vermuten dürfen. In der Sprachwissenschaft ist
man allerdings geneigt, auch solche mutmaßlich ursprüngliche Ver-
doppelungsformen als ,, Wurzel Wiederholungen'* aufzufassen, also die
Grundbedeutung in die nicht wiederholte Form zu verlegen^). Doch
gründet sich diese Annahme bloß auf die allgemeine Hypothese einer
realen Präexistenz der Wurzeln sowie auf die Tatsache, daß in an-
dern Fällen die Wiederholung Lautgebilde trifft, die selbst schon eine
bestimmte Wortbedeutung besitzen. Hieraus läßt sich aber kein Schluß
auf alle andern Fälle ziehen, und da in jenen Sprachen ohnehin zwei-
silbige Wortstämme, die nicht weiter zerlegbar sind, nicht selten auf-
treten, so ist es durchaus nicht unmöglich, daß sich unter den letz-
teren auch Reduplikationsformen vorfinden. Dies ist namentlich
bei den der Kindersprache analogen Erscheinungen wahrscheinlich,
wie bei der Bezeichnung von Vater und Mutter oder bei onomato-
poetischen Bildungen. Ebenso spricht hierfür die Tatsache, daß in
diesen Fällen, wie besonders für das Japanische feststeht, zwischen
der Kindersprache und der allgemeinen Sprache eine ziemUch um-
fangreiche Gemeinschaft des Wortschatzes vorhanden ist. Im Hin-
blick auf diese Verhältnisse hat man wohl auch die Verdoppelungs-
formen überhaupt als ursprüngliche Entlehnungen aus der Kinder-
sprache angesehen. Die Verfolgung dieser Erscheinungen in solchen
Sprachgebieten, in denen sie eine weitere Verbreitung besitzen, macht
aber diese Annahme unhaltbar. Hier sind die psychologischen Mo-
tive, die zur Bildung der Verdoppelungsformen führen, offenbar von
allgemeingültiger Art. Wortbildungen wie lat. volvo, griech. 7Tl[.i7TXrjf.ii,
hebr. galal u. a. für ein ursprüngliches Eigentum der Kindersprache
zu halten, dazu liegt offenbar kein Grund vor. Nur in solchen Fällen,
wo in der allgemeinen Sprache nur spärliche Reste von Verdoppe-
^) Vgl. H. C. von der Gabelentz, Die melanesischen Sprachen, I, S. 19, II,
S. 15. (Abh. der kgl. säche. Ges. der Wiss., Phil.-hist. Kl. III, 1861, und VII,
1879.)
Allgemeine Formen der Lautverdoppelung. 631
lungen existieren, wie z. B. im Deutschen, gehören solche wohl vor-
zugsweise der Kinder spräche an^). Wie man nun aber auch im ein-
zelnen Fall die Erscheinungen deuten möge, ob als Übergang aus der
Sprache des Kindes in die seiner Umgebung oder als eine ursprüng-
liche Eigenschaft der Volkssprache, die mit ihrem Reichtum an ono-
matopoetischen Wörtern zusammenhängt, — jedenfalls ist die
weitere Analogie nicht abzuweisen, daß die Verdoppelungsform
in vielen Fällen nicht das abgeleitete, sondern das ursprüngliche
Wort ist2).
Wo nun die Lautwiederholung als eine relativ ursprüngliche
Wortbildung erscheint, da können die aus ihr hervorgehenden Wörter
den verschiedensten Begriffsgebieten angehören, wie sich das nament-
lich in den an Reduplikationsformen reicheren Sprachen zeigt. Eine
gewisse Bevorzugung scheint aber allerdings auch hier, wie in der
Kindersprache, teils den Gegenständen der häufigsten und vertrau-
testen Umgebung, teils allen den Vorstellungen zuteil zu werden,
die durch ihre Beschaffenheit zu einer Wiederholung des Lautes heraus-
fordern. In ersterer Beziehung ist bemerkenswert, daß in den Sprachen
der Naturvölker nicht bloß Vater und Mutter, sondern sehr häufig
auch die Teile des eigenen Leibes, wie Hand, Fuß, Auge, durch Doppel-
wörter ausgedrückt werden, wobei freilich wohl der Umstand mit-
gewirkt hat, daß diese Organe doppelt vorhanden sind. Dies ist aber
1) Vgl. Ed. Wölfflin, Zeitschr. f. deutsche Wortforschung, Bd. 1, 1901,
S. 263 ff.
2) Zu den nur in Wiederholungsformen vorkommenden Wörtern gehören,
neben den in Kap. II, S. 310 Anm. angeführten Beispielen aus dem Japanischen,
die zumeist der Kindersprache und der allgemeinen Sprache gemeinsam sind,
aus melanesischen Dialekten Wörter wie rere fürchten, caca hassen, rairai sehen
u. a. (v. d. Gabelentz a.a. 0. 1, S. 17 ff., Fidschisprache). In andern Fällen kommen
freiUch in diesen Sprachen auch einfache Formen vor, aus deren Wiederholmig
wohl erst die reduplizierten entstanden sind, z. B. Tonga wä Bein, Maori wätvä,
oder Tahiti toio Blut wahrscheinHch redupl. von to dem Namen eines saftreichen
Baumes von Banksisland (P. W. Schmidt, Mitteil, der Anthropol. Ges. in Wien,
Bd. 33, 1903, S. 371 f.). Doch hat in vielen dieser Sprachen, zunächst wohl durch
einzelne onomatopoetische Bildungen und durch die affektvolle Rede begünstigt,
die Lautwiederholung so überhandgenommen, daß sich die ursprünglich ein-
fachen Formen meist überhaupt nicht mehr nachweisen lassen.
632 Die Wortbildung.
ein Motiv, das bereits in den Umkreis der auch bei der Wortwieder-
holung und Reduplikation wirksamen Bedingimgen fällt. Hier näm-
lich kann als der allgemeine, alle späteren und jedenfalls auch einen
großen Teil der ursprünglichen Verdoppelungserscheinungen erzeu-
gende Antrieb die Wiederholung oder Verstärkung des Ein-
drucks angesehen werden, die entweder direkt aus den Eigenschaften
des Wahrnehmungsinhalts entspringt oder diesem durch das sub-
jektive gehobene Gefühl des Sprechenden beigelegt wird. Beide Mo-
tive fließen insofern zusammen, als der objektive Eindruck die in
seiner Benennung sich ausdrückende Reaktion immer erst durch das
Medium irgendeiner Gefühlserregung auslöst. Aber diese wird doch
im allgemeinen da eine geringere Rolle spielen, wo der Eindruck schon
durch seine eigene Beschaffenheit zur Lautwiederholung heraus-
fordert. In der Tat haben sich daher auch nur für solche objektiv
motivierte Begriffsmodifikationen die Verdoppelungen als allgemeine
und imter analogen Bedingungen oft wiederkehrende Erscheinungen
der Sprache durchgesetzt, während die bloß durch das subjektive
Gefühl erregten unregelmäßiger vorkommen^).
2. Bedeutungsarten der Lautverdoppelung.
a. Verdoppelung zum Ausdruck sich wiederholender
Vorgänge.
Das nächste, durcih den Eindruck selbst am unmittelbarsten
sich aufdrängende Motiv zur Lautwiederholung ist offenbar da ge-
geben, wo das Wort Schalleindrücke wiedergibt, die sich
selbst wiederholen. Diese direkte onomatopoetische Verwendung
^) Daß Laut- und Wortwiederholungen irgendeine Art von Verstärkung
des Eindrucks hervorbringen, ist schon den alten Grammatikern und Rhetorikern
begreiflicherweise nicht entgangen. Ebenso hat Pott dieses Moment als das ent-
scheidende hervorgehoben (a. a. O. S. 22); und unter dem gleichen Gesichtspunkt
wurden von Fr. Müller die Verdoppelungserscheinungen in den polynesischen und
malaiischen Sprachen in gewisse Gruppen geordnet (Reise der Fregatte Novara,
Linguist. Teil, 1867, S. 300, 325 ff., und Grundriß der Sprachwissenschaft, II, 2,
S. 12, 101 ff.). Doch ist von diesen Autoren weder auf die psychologische Inter-
pretation noch auf die Frage der genetischen Beziehungen der einzelnen Fälle
näher eingegangen worden.
Bedeutungsarten der Lautverdoppelung. 633
der Verdoppelung ist zugleich diejenige, die mit dem geringsten Maß
subjektiver Gefühlssteigerung möglicli ist, weil es einer solchen gar
nicht bedarf, um in der Wiederholung eine unmittelbare Wiedergabe
des Eindrucks zu erkennen. Die direkte onomatopoetische Verdoppe-
lung ist daher gleichzeitig eine der frühesten und der spätesten unter
diesen Erscheinungen, so daß die hierher zu zählenden Wörter zum
Teil in die Anfänge der Wortbildung zurückreichen, ebenso aber auch
zu dem jüngsten Sprachgut gehören, das unter seinen durchweg ono-
matopoetischen Bildungen, wo immer sich die Gelegenheit bietet,
Lautverdoppelungen enthält. Darum ist diese Form selbst in den
Kultursprachen verhältnismäßig noch am reichlichsten vertreten
geblieben. Hierher gehört zunächst die Bezeichnung gewisser Tiere
nach ihrer Stimme, die jedoch, abgesehen von der Kindersprache,
wo sie in weiterem Umfange vorkommt, in der Regel auf Vogelnamen
beschränkt ist: so in Wörtern wie turtur Turteltaube, ulula Eule,
cucuUus Kuckuck, sanskr. kiki Holzhäher, pers. hülhül Nachtigall
usw. Daran schließen sich als eine zweite, noch verbreiteteie Klasse
von Wörtern solche für Geräusche, die sich wiederholen, wie mur-
murare murmeln, aXaXaCeiv laut schreien, laXayfj Geschwätz, XaXelv
lallen usw.^).
Von der direkten onomatopoetischen Verdoppelung führt nur
ein kleiner Schritt zu solchen Lautwiederholungen, die irgendeinen
andern, nicht vom Gehör, sondern meist vom Gesichtssinn wahr-
genommenen, sich wiederholenden Vorgang ausdrücken. Da-
hin gehört eine große Zahl jener in anderm Zusammenhang ebenfalls
schon betrachteten Fälle indirekter Onomatopöie, die sich daraus
erklären, daß die letztere in Wahrheit niemals Lautnachahmung,
sondern eine durch den wahrgenommenen Vorgang oder Gegenstand
erregte Lautgebärde ist. Man denke an Wörter wie volvo wälze,
7ii^7iXr](.u fülle, f.iL(iio(.iai ahme nach u. a., denen sich eine Fülle ana-
loger Bildungen in den Sprachen anderer Kulturvölker und besonders
der Naturvölker anschließt. In den zweisilbigen Verbalstämmen der
semitischen Sprachen erscheint diese Reduplikationsform als Wieder-
1) Vgl. oben Kap. III, S. 298 ff.
634 Die Wortbildung.
holung des zweiten Stammkonsonanten, eine Laut Variation, die meist
den ursprüngliclien Verbalbegriff so verändert, daß dadurch die Vor-
stellung einer Wiederholung der in jenem ausgedrückten Tätigkei
entsteht. So im Hebräischen in Wortpaaren wie den folgenden:
gasah schneiden und gasas scheren, galah wegziehen und galal wälzen,
gar ah ziehen und garar sägen, salah sich beugen und salal schwanken,
lakah ergreifen und lahah lecken^). Analoge Beispiele finden sich in
andern Sprachen, namentlich in denen der Naturvölker, häufig als
vollständige Laut- oder Wort Wiederholungen, z. B. im Mpongwe
(westafrik.) tyotyo hüpfen, sazasaza hin und her überlegen, im Fid-
schi Tcacikaci öfter rufen, ridorido hüpfen, Icerekere betteln (Verdoppe-
lung von kere bitten), im Japanischen pozupozu es regnet, hatabata
er läuft usw. Eine charakteristische Modifikation kann diese im wei-
teren Sinn onomatopoetische Reduplikation erfahren, wenn der sich
wiederholende Vorgang einen Wechsel darbietet, der nun in einer
analogen Lautvariation seinen Ausdruck findet. Dahin zählen viele
sprachliche Neubildungen, die sich in der Regel an irgendwelche be-
kannte Wörter anlehnen, z. B. im Deutschen Zickzack, Wirrwarr
(franz. pele-mele), Schnickschnack, Krimskrams, Wischiwaschi, Kling-
klang, Mischmasch, Schurrmurr, Holterpolter, Larifari, Hokuspokus
(letzteres in Anlehnung an die Formel des Meßopfers hoc est corpus
wahrscheinlich zuerst als Mönchswitz entstanden). Dem reihen sich
an aus fremden Sprachgebieten: Mandschu debadaha durcheinander,
schorschar Geräusch des Windes, pektepakta im Gehen wanken, ja-
panisch kamhagamba Unsinn schwatzen u. ä. Eine besondere Form
solcher Reduplikation mit Lautänderung findet sich in den ozeanischen
Sprachen, darin bestehend, daß ein Wort unverändert, aber mit stär-
kerer Betonung wiederholt wird, z. B. im Dajak tendä-tendä zuweilen
anhalten. Daneben kommen dann aber in analogem Sinn auch quali-
tative Lautvariationen vor, z. B. in der gleichen Sprache bilang-ba-
lang überallhin zerstreut sein, galang-gilang sich hin- und herdrehen.
Besonders bezeichnend sind diese mit Akzent- oder Lautänderung er-
folgenden Wiederholungen da, wo neben ihnen die unveränderte Wie-
derholung vorkommt, und wo nun beide meist gegensätzliche Varia-
1) Vgl. Kap. III, S. 361 ff.
Bedeutungsarten der Lautverdoppelung. 635
tionen der Bedeutung ausdrücken. So im Dajak neben tendä-tendä
zuweilen anhalten tendä-tendä oft anhalten. Auch in den oben-
erwähnten volkstümlichen Neubildungen unserer Kultursprachen
findet sich zu solchen Variationen von Laut und Bedeutung man-
ches Analoge. Aber während sie hier nur sporadisch in die all-
gemeine Sprache eindringen, gehören sie in den Sprachen vieler
Völker zu den regelmäßigen Ausdrucksmitteln ^).
b. Verdoppelung bei Kollektiv- und Mehrheits-
begri f f en.
An die Verwendimg der Verdoppelung zum Ausdruck eines sich
wiederholenden Vorgangs schließen sich verschiedene andere Bedeu-
tungen der gleichen Bildung an, deren psychologische Verwandt-
schaft mit jenem natürlichen onomatopoetischen Ausgangspunkt
im allgemeinen unschwer zu erkennen ist. Den nächsten Übergang
bietet hier die Bezeichnimg einer Mehrheit von Gegenständen.
Besonders verbreitet ist diese kollektive Bedeutung der Reduplika-
tion in den malaiischen, polynesischen und den ostasiatischen, aber
auch in den amerikanischen Sprachen. So bedeutet im Malaiischen
poehon Baum, poehon-poehon Wald, im Dakota runa Mann, runa-
runa Volk. Im Chinesischen werden die unbestimmten Kollektiva,
im Japanischen außerdem auch die Plurale des Personenbegriffs durch
ebensolche Wiederholungen ausgedrückt: so chines. zu Tag, zit-zit
täglich, si-si allezeit, gin-gin jeder Mensch, jen-jen viele Schwalben,
Japan, ono einer, ono-ono mehrere. Analoge kollektive wechseln mit
exklusiven Begiffsänderungen in den ozeanischen Sprachen bei der
Wiederholung der Zahlwörter: so im Fidschi aus tolu drei tolu-tolu
alle drei, dagegen aus dua eins dua-dua der einzige, einer allein. An
die erstere Form schließt sich unmittelbar die Wiederholung als all-
gemeiner Ausdruck des Plurals. Sie findet sich teils als volle Wieder-
^) Die obigen wie die folgenden Beispiele sind großenteils dem erwähnten
Werke .von Pott über Doppelung (vgl. bes. S. 131 ff.), sowie den Ar-
beiten von Fr. Müller, H. C. von der Gabelentz und Humboldts Kawi-Werk
entnommen.
636 Die Wortbildung.
holung teils als bloße Reduplikation zuweilen in den ural-altaischen,
in einigen ozeanischen und amerikanischen Sprachen, jedoch im ganzen
selten, da meist, wo sich spezifische Pluralsuffixe nicht ausgebildet
haben, die Mehrzahl entweder ganz unbezeichnet bleibt oder durch
den Zusatz eines besonderen Wortes von der Bedeutung „viel" oder
,, Menge" ausgedrückt wird. Viel spärlicher ist die Wiederholung in
dieser Anwendung auf Gegenstandsbegriffe in den indogermanischen
und semitischen Sprachen, und wo sie vorkommt, da scheint sie eine
sekundäre, durch Lautassimilation oder durch verbale Ableitung
entstandene Erscheinung zu sein. So ist lat. mamma (franz. mamelle)
aus ^madmä, zusammengesetzt aus dem Stamm mad~ (zu madeo feucht
sein) und dem Suffix -mä, entstanden. Deutsch Zitze, ahd. tutta, xnhd.
tüttel, franz. (aus dem German. entlehnt) tette, sind wahrscheinlich
ebenfalls verbale Ableitungen.
Von dem Substantivum geht die Verdoppelung in der gleichen
Bedeutung auf das Adjektivum um so leichter über, je weniger beide
Formen des Nomens auf primitiveren Sprachstufen sicher geschieden
werden. Diesem Stadium des Ineinanderf Heßens der Begriffe ent-
spricht eine in den polynesischen Sprachen vorkommende Verdoppe-
lungsform der Adjektiva, die sich unmittelbar an den Gebrauch zur
Bezeichnung eines Kollektivbegriffs oder einer Mehrheit anschließt:
sie besteht darin, daß das einem Substantiv beigefügte Adjektiv eine
reduplizierte Form annimmt, um dem Substantiv selbst eine plurale
Bedeutung zu geben, z. B. im Tahit. e taata maitai ein guter Mann,
e taata maitatai einige gute Männer. Indem hier der Gegenstand
und seine Eigenschaft in enger Verbindung gedacht sind, kann die
Reduplikation zunächst als Ausdruck der Mehrheit für das Ad-
jektiv selbst angesehen werden. Es ist die mehrmals wahr-
genommene Eigenschaft, die vor allem apperzipiert, und mit der
dann unmittelbar auch die Vorstellung einer Mehrheit von Gegen-
ständen assoziiert wird.
Bedeutungsarten der Laut Verdoppelung. 637
c. Verdoppelung zur Steigerung von Eigen schafts-
begriffen.
In der Anwendung auf den Eigenschaftsbegriff liegt nun zugleich
das Motiv für eine weitere Variation der Bedeutung: die Verdoppe-
lung gibt den verstärkten Eindruck wieder, den die Wahrnehmung
der Eigenschaft auf den Redenden macht, und damit wird sie zum
Ausdruck einer auch objektiv größeren Intensität der Eigenschaft
selbst. Was bei dem Mehrheitsausdruck als sinnliches Bild eines ex-
tensiven Wachstums gilt, das wandelt sich also nun in ein solches
für eine intensive Steigerung um. Dabei spielt aber offenbar
der Gefühlsfaktor eine größere Rolle. Denn während die Unterschei-
dung von Einheit und Mehrheit, Einzelbegriff und Kollektivum wesent-
lich Sache der objektiven Anschauung ist, beruht die Wert abstuf ung
der Eigenschaften nicht bloß auf dem Gegenstand selbst, sondern
mehr noch auf dem subjektiven Eindruck, den er hervorbringt. Dies
spricht sich auch darin aus, daß solche komparative und Superlative
Verwendungen der Verdoppelung am allermeisten bei Eigenschaften
vorkommen, die mit irgendeiner subjektiven Gefühlserregung ver-
bimden sind. Neben ,,groß" und ,, klein" sind es daher hauptsächlich
die moralischen und ästhetischen Qualitäten „gut", ,, schlecht",
,, schön" u. dgl., für die sich diese Art der Steigerung teils von frühe
an findet, teils aber auch in den Kultur sprachen erhalten bleibt. So
gebraucht noch heute die naive Erzählung, wie sie etwa das Märchen
anwendet, mit Vorliebe die sinnlich lebendigere Steigerung durch die
Wiederholung des Eigenschaftsworts: ,,ein reicher reicher Mann'*
u. dgl. Sodann ist diese Form der natürliche Ausdruck verstärkter
Affektbetonung, und bei Völkern von lebhaftem Temperament ist
sie daher häufig zu finden: so im Italienischen in Ausdrücken wie
alto altOj tutti tutti, hello hellissimo^). In den Sprachen mancher Natur-
völker haben sich aber die Verdoppelungsformen über alle möglichen
^) Überhaupt sind die romanischen Sprachen reich an Verdoppelungen, die
wohl teils von Eigenschaftsbegriffen ausgegangen, teils aber auch aus der Kinder-
sprache aufgenommen sind, wie franz. honbon (von bon), joujou Spielzeug (von
jouer), cocotte (von coq, also eigentl. „Hühnchen**), und viele Kosewörter.
638 Die Wortbildung.
Eigenschaftsbegriffe ausgedehnt. So sind sie besonders im Poly-
nesiscben, unterstützt durch die allgemeine Neigung zur Lautwieder-
holung, in den Ausdruck zahlreicher Eigenschaften übergegangen.
Immerhin bleiben auch hier solche bevorzugt, die sich in bestimmten
Gegensätzen entwickelt haben: z. B. im Hawaii ele-ele schwarz, Jceo-
heo weiß, Wörter, die überhaupt nur als Lautwiederholungen vor-
kommen. Wo die Verdoppelung in einen Gegensatz zu dem einfachen
Worte tritt, da kann sie dann bald eine Steigerung, bald irgendeine
durch stärkere Gefühlswirkung ausgezeichnete qualitative Modifi-
kation der Eigenschaft ausdrücken. So bedeutet ebenfalls im Ha-
waii ula rot, ula-ula purpurrot. Endlich können aber auch neben-
einander verschiedene derartige Modifikationen einer Eigenschaft
durch wechselnde Betonung des einen Wiederholungswortes bezeichnet
werden, nach Analogie der onomatopoetischen Bildungen mit Laut-
variationen. So bedeutet für den Dajaken gila-güa (mit ausschließ-
licher Betonung des zweiten Wortes) ein wenig dumm, gila-güa (mit
doppelter Betonung) sehr dumm, ganz mit den in der gleichen Sprache
vorhandenen Variationen des iterativen Verbalbegriffs überein-
stimmend (s. oben S. 635).
d. Verdoppelung als Steigerungsform der Verbal-
begriffe.
Ähnliche Anwendungen der Verdoppelung, wie sie im Gebiet der
Nominalbegriffe unter dem Einflüsse der Grad- und Wertabstufung
vorkommen, finden sich schließlich beim Verbum, von dessen ono-#
matopoetischen Reduplikationen wir oben als den einfachsten Bei-
spielen dieser ganzen Erscheinung ausgegangen sind. Der stärkeren
Betonung der Eigenschaft liegt hier am nächsten der Ausdruck der
gesteigerten Tätigkeit durch vollständige oder verkürzte Ver-
doppelung des Verbalstamms. Auch er findet sich als einfache Wort-
wiederholung in der Erzählung, im imperativen Zuruf, wie ,,eile eile",
,,komm komm", wo er sich zugleich an die iterative Verwendung
der gleichen Redeform anlehnt und nicht selten wohl ein Intensivum
und Iterativum zugleich ist. Im Indogermanischen sind in den älteren,
formenreicheren Sprachen gerade bei den am häufigsten gebrauchten
Tätigkeitsbegriffen reduplizierte Formen allgemeingültig geworden:
Bedeutungsarten der Lautverdoppelung. 639
so im Griecli. Tid^rjfXL stelle, ölöcojlu gebe, Wortbildungen, die wohl
als ursprüngliche Intensiva aufzufassen sind, welche durch den häu-
figen Gebrauch allmählich den ihnen anhaftenden gesteigerten Ge-
fühlston eingebüßt haben. Weitverbreitet und zum Teil als noch-
malige verstärkende Verdoppelungen schon vorhandener Wieder-
holungsformen finden sich aber solche Intensiva in den malaio-poly-
nesischen und andern durch ihre Neigung zur Lautverdoppelung aus-
gezeichneten Sprachen. So bedeutet im Samoa taha sprechen, taha-
taba schreien, Maori Jcai essen, kalcai fressen. Malaiisch tanis weinen,
tanis menänis heftig weinen, her-rtjäla brennen, ber-njala-njäla stark
brennen. Dabei treten zugleich an die Stelle der intensiven Bedeu-
tung, wahrscheinlich unter Anwendung von Betonungsdifferenzen,
andere Modifikationen des Begriffs, die durchaus den im gleichen
Sprachgebiet vorkommenden Variationen bei der Verdoppelung des
Nomens analog sind, wie z. B. im Dajak mamukul schlagen, mamuhu-
muJcul heftig schlagei^ Eine eigentümliche, für das Ineinanderfließen
der Nominal- und Verbalbegriffe charakteristische Anwendung
zeigen endlich die polynesischen Sprachen, indem an die Stelle
der intensiven eine simultane Bedeutung tritt, die Verdoppe-
lung also eine von mehreren gemeinschaftlich vollführte Hand-
lung bezeichnet: so Samoa moe schlafen, momoe mit jemand zu-
sammenschlafen, Tong. horo rennen, hohoro mit jemand um die
Wette rennen.
In einer gewissen Beziehung zu den intensiven Steigerungen
des Verbalbegriffs durch Reduplikation stehen vielleicht auch die
in manchen Sprachen vorkommenden intensiven Lautsteigerungen,
in denen die energischere Tätigkeit, manchmal mit noch andern, be-
sonders kausativen Begriffsmodifikationen, durch eine Lautver-
stärkung ausgedrückt wird. Hierher gehören Formen wie im Deutschen
schmücken aus schmiegen, bücken aus biegen, stecken aus stechen u. a.
Man pflegt diese Formen als Produkte einer Lautassimilation des
n- Suffixes an den Wurzelauslaut anzusehen, wodurch Stämme auf
pp, kk, tt entstanden seien ^). Aber diese Lautassimilation schließt
^) Wilmanns, Deutsche Grammatik, II, 1899, S. 86 f. Dazu Brugmann,
Grundriß, I,^ S. 817 f., und II, S. 978.
640 Die WortbilduDg.
offenbar niclit aus, daß auf ihre Richtung zugleich die Bedeutungs-
änderung des Grundbegriffs von Einfluß gewesen sei. In der Tat
spricht hierfür nicht bloß der Umstand, daß hier Laut- und Begriffs-
verstärkung überall einander parallel gegangen sind, sondern beson-
ders auch die Tatsache, daß sich dieser Vorgang dann auf andere
Stämme übertragen hat, bei denen jene Lautassimilation nicht mit-
wirkte, und wo nun wiederum Intensiva und Iterativa aus solcher
Lautverstärkung hervorgegangen sind. So ist zu dem aus einem
Fremdwort, dem lat. flaga ,, Schlag" = Plage, übernommenen Verbum
plagen erst in neuhochdeutscher Zeit das Intensivum placken ent-
standen, bei dem doch wohl der Gefühlston des gesteigerten Explosiv-
lauts wirksamer gewesen sein wird als die etwaigen entfernten Laut-
assoziationen zu hucken, stecken u. dgl. Wenn aber die Lautverstär-
kung in jenem Falle für sich allein schon diesen Effekt hat, so ist
nicht einzusehen, warum sie ihn nicht auch da äußern sollte, wo
ihr außerdem noch eine assimilative Kontaktwirkung der Laute zu
Hilfe kommt.
Dem Ausdruck der intensiven Steigerung durch reduplizierte
Verbalformen geht endlich noch eine analoge extensive Bedeutung
der gleichen Formen parallel. Diese können nämlich in gewissen Sprach-
gebieten auch einen kontinuativen oder durativen Sinn an-
nehmen. Hierher gehören Verba wie gigno erzeuge, sisto mache stehen,
rafxcpaivco leuchte, oder auf semitischem Gebiet kalal umgeben zu
kalah ein Ende machen, schließen, damam stumm sein zu da-
mah schweigen u. a., Formen, die den Begriff einer dauernden
Handlung oder eines bleibenden Zustandes mehr oder minder
deutlich enthalten. Es ist bemerkenswert, daß diese kontinuative
Bedeutung, so nahe sie auch begrifflich der überall verbreiteten
iterativen zu liegen scheint, doch in ihrer Ausbreitung beschränkt
ist, da sie außerhalb der indogermanischen und der semitischen
Sprachen kaum vorkommt. Von diesen beiden Gebieten ist es
wieder besonders das semitische, welches neben den iterativen kon-
tinuative Verbalstämme mit Wiederholungen der Endkonsonanten
ausgebildet hat. Im Indogermanischen aber hat sich wahr-
scheinlich an diese intensiven und kontinuativen Formen eine
Ausdehnimg der Verdoppelungserscheinungen angeschlossen, die,
Bedeutungsarten der Lautverdoppelung. 641
abgesehen von ihrer weit engeren Begrenzung, mit dem verschwen-
derischen Gebrauch solcher Bildungen innerhalb der malaio-poly-
nesischen Sprachen eine gewisse Ähnlichkeit hat, indem in einer
größeren Anzahl von Verbalstämmen Lautverdoppelungen vorkommen,
die nach ihrer Bedeutung zu keinem der bisher erörterten Anwen-
dungsgebiete gehören^). Hier mögen teils Lautassoziationen (Ana-
logiebildungen) wirksam gewesen sein, teils mögen auch gelegent-
liche Motive subjektiver Gefühlsbetonung einen Einfluß ausgeübt
haben. Von allen diesen in einer früheren Periode der Sprachent-
wicklung sichtlich reicheren Wiederholungsformen hat sich im Lado-
germanischen eine noch erhalten, die wiederum vollständig dem psycho-
logischen Zusammenhang dieser Bildungen sich einfügt. Dies ist die
Reduplikation als Ausdruck der vollendeten Handlung. So in
den Perfektformen ykyova^ li%qoL(f(Xy XeXoi(pa, cecidi, credidi, me-
mini, dedi, got. haihait zu haitan heißen, lailaik zu laikan springen
u. a. Gewiß ist diese den indogermanischen Sprachen eigentümliche
Verwendung der Reduplikation nicht als eine besondere, innerhalb
dieser Sprachen entstandene ,, Erfindung" zu deuten. Ebensowenig
wird man sie aber wegen der Spuren früher vorhandener, dem Ver-
balstamm als solchen eigener Reduplikationen bloß als einen zu-
fälligen Rest einer dereinst allgemeineren Ausdrucksform ansehen
dürfen. Vielmehr ist es unverkennbar, daß diese besondere Bedeu-
tung der Verdoppelung durchaus der allgemeinen Richtung angehört,
in der sich überhaupt Laut- und Wortwiederholungen in der Sprache
entwickelt haben. Liegt auch diese letzte Modifikation dem ursprüng-
lichen, ohne weiteres verständlichen sinnlichen Ausgangspunkt ferner,
so ist doch bei der Würdigung dieses Umstandes nicht zu vergessen,
daß die Verbalform, für die hier schließlich die Verdoppelung kenn-
zeichnend wurde, selbst allmählich ihre Bedeutung verändert hat.
Wie die Verbalformen überhaupt ursprünglich mehr die objektiven
zeitlichen Eigenschaften der Vorgänge und Zustände als das sub-
jektive Verhältnis des Redenden zu ihnen ausdrücken, so liegt ins-
^) VgL die Übersicht solcher reduplizierter Formen auf indogermanischem
Sprachgebiet bei Brugmann, Grundriß, II, S. 845 ff.
Wandt, Völkerpsychologie. I. 4. Anfl. 41
642 Die Wortbildung.
besondere aucli die Bedeutung des Perfektums darin, daß es den aus
einer vorangegangenen Handlung folgenden dauernden Zustand be-
zeichnet^). Dadurch erscheint es aber von der Vorstellung der ste-
tigen Dauer nur noch durch eine schmale Linie geschieden. Nach-
dem nun durch eine weitere Begriffs Verschiebung in dem Perfektum
selbst jene ursprünglich nur als Neben Vorstellung enthaltene Be-
ziehung auf die Vergangenheit zum Hauptbegriff geworden, ist aller-
dings gerade diese Anwendung der Lautwiederholung von ihren
sonstigen Formen am weitesten entfernt und eben deshalb wieder
von beschränkter Verbreitung.
3. Psychologisches Schema der Verdoppelungsformen.
Blicken wir hiernach auf die ganze Reihe der Verdoppelungs-
formen zurück, so scheiden sich zunächst solche Anwendungen, die
allen Stufen und Richtungen des Denkens gemeinsam angehören,
von andern, die Produkte einer spezifisch gearteten, nicht allgemein
gewordenen Denkweise sind. Zu den ersteren gehören zwei Erschei-
nungen, die sich wohl in allen Sprachen der Erde, und die sich von
den ältesten Formen bis zu den jüngsten Neuschöpfungen vorfinden.
Die eine ist der Ausdruck sich wiederholender Schalleindrücke
und anderer äußerer Vorgänge durch sich wiederholende Laute: sie
fällt augenscheinlich mehr der Vorstellungsseite der Wortverbin-
dung zu. Die andere ist die stärkere Betonung einer Eigenschaft
oder einer Handlung durch Laut- und Wortwiederholung: in ihr
kommt offenbar mehr die Gefühlsseite des Bewußtseins zum Aus-
druck. Von diesen ursprünglich gemeinsamen und fortan gemein-
sam bleibenden Ausgangspunkten aus sondern sich nun die weiteren
Anwendungen nach verschiedenen Richtungen. Auf der einen Seite
tritt uns in einer großen Anzahl von Sprachen die Neigung entgegen,
die Lautwiederholung zur Bezeichnung von Gegenständen anzu-
wenden, die sich in der Wahrnehmung wiederholen, also zur Bildung
von Kollektiv- und Mehrheitsbegriffen. Von diesen ist wieder
der Ausdruck von Kollektivbegriffen der verbreitetere und wahr-
1) Vgl. Kap. VI, Nr. V.
Psychologische Theorie der Verdoppelungserscheinungen. 643
scheinlicli auch der ursprünglichere. Auf der andern Seite überträgt
sich das Ausdrucksmittel der Wiederholung von der Vorstellung eines
sich wiederholenden auf die eines dauernden Vorgangs, und von
diesem endlich innerhalb eines engeren Sprachgebiets auf die einer
abgeschlossenen Handlimg. In der ersten dieser beiden Keihen
bewegt sich demnach die Anwendung der Verdoppelungsformen im
Gebiet der Nominal-, in der zweiten in dem der Verbalbegriffe. Die
erste Reihe umfaßt die ungeheure Mehrzahl der allerverschiedensten
Sprachen, die zweite scheint sich auf das semitische und indoger-
manische Sprachgebiet zu beschränken. Dabei ist aber im Semi-
tischen die Lautwiederholung nur bis zum Ausdruck des dauernden
Vorgangs gelangt. Den Schritt von da zur vollendeten Handlung,
für welche das Semitische andere, seinem allgemeinen Charakter
konforme Ausdrucksmittel besitzt, haben nur die indogermanischen
Sprachen zurückgelegt. Die ganze Entwicklung läßt sich demnach
in dem folgenden Schema übersehen. Die mittlere Reihe desselben
enthält die allgemeingültigen Anwendungsformen. Links und rechts
befinden sich die beiden Sonderentwicklungen, die sich übrigens nach
dem früher Bemerkten nicht völlig ausschließend zueinander ver-
halten, da sich namentlich die Anwendung der Reduplikation auf
Kollektivbegriffe in vereinzelten Spuren auch auf indogermanischem
und semitischem Gebiet vorfindet.
Sich wiederholende Vorgänge
(Wiederholung als objektive Ausdrucksform)
Steigerung der Eigenschaften und Tätigkeiten
(Wiederholung als Ausdruck der subjektiven Gefühlserregung)
Kollektive Mehrheit Dauernder Vorgang
Plurale Mehrheit Vollendeter Vorgang
4. Psychologische Theorie der Verdoppelungserscheinungen.
Das zuletzt entworfene Schema gibt zunächst nur über die größere
oder geringere Allgemeingültigkeit der einzelnen Verdoppelungs-
erschein^ngen sowie über ihre abweichende Ausbreitung Rechen chaft.
Gleichwohl legt es unmittelbar die Frage nahe, inwieweit die in ihm
41*
644 Die Wortbildung.
angedeutete nähere Beziehung einzelner Formen von beschränkterer
zu andern von weiterer Verbreitung auf eine genetische Beziehung
zurückzuführen sei. Ist etwa die Lautwiederholung als Ausdruck
des sich wiederholenden Vorgangs, wie sie extensiv die allgemeinste
ist, die neben allen andern Formen immer wiederkehrt, zugleich deren
gemeinsame Wurzel? Oder, wenn sich dies nicht bestätigen sollte,
lassen sich wenigstens zwischen einzelnen Gliedern der durch das
Schema veranschaulichten drei Entwicklimgsreihen irgendwelche Ver-
bindungen auffinden ?
Auf geschichtlichem Wege ist diese Frage nicht zu beantworten.
Zwar sind in einzelnen Fällen gewisse Reduplikationserscheinungen
in der Sprache im Laufe ihrer Entwicklung geschwunden, und an-
dere, namentlich solche, die dem Gebiet der Wortwiederholung an-
gehören, sind neu entstanden. Aber so weit wir auch in einer bestimm-
ten Sprache mittels der historischen Zeugnisse zurückgehen mögen,
die ihr eigentümlichen Verdoppelungsarten scheinen von Anfang
an vorhanden zu sein, darunter selbst diejenigen vom beschränk-
testen Vorkommen, wie z. B. die Anwendung für die Bezeichnung
des Plurals in den polynesischen und manchen amerikanischen, und
die andere für den Ausdruck der vergangenen Zeit in den indoger-
manischen Sprachen. Unsere Vermutungen über etwaige genetische
Zusammenhänge sind darum hier ganz auf den Weg der psycholo-
gischen Untersuchung hingewiesen. Eine bestimmte Anwendungs-
form wird immer dann als eine später entstandene und aus einer an-
dern hervorgegangene anzusehen sein, wenn sie diese als die Vor-
bedingung der ihr eigentümli*chen Bedeutungsentwicklung voraus-
setzt.
Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet erscheinen zimächst
die beiden, durch ihre Ausbreitung über alle möglichen Sprachgebiete
ausgezeichneten, die Mittelreihe obigen Schemas einnehmenden
Formen als zwei genetisch voneinander unabhängige Erscheinungen,
die auf gleich ursprüngliche Eigenschaften des menschlichen Be-
wußtseins zurückweisen, und von denen es sich deshalb kaum mit
Sicherheit bestimmen läßt, ob die eine vor der andern gewesen sei.
Um so deutlicher tritt in den psychologischen Bedingungen ein be-
stimmter Gegensatz hervor. Die Lautwiederholung als Ausdruck
Psychologische Theorie der Verdoppelungserscheinungen. 645
sich wiederholender Vorgänge ist eine so unmittelbar in den Beziehungen
des objektiven Eindrucks zu der ihn nachbildenden Lautgebärde
begründete Erscheinung, daß diese onomatopoetische Verdoppelung
begreiflicherweise nicht nur die größte Verbreitung hat, sondern daß
sie Auch allem Anscheine nach die ursprünglichste Form der soge-
nannten Lautnachahmung selbst ist. Sie ist aber als Lautgebärde zu-
nächst objektiv bedingt: der Beschaffenheit des Eindrucks folgt
immittelbar die ihn nachbildende Lautbewegung, ohne daß dazu eine
andere Gefühlserregung, als wie sie bei jeder Sprachäußerung statt-
findet, vorauszusetzen wäre. Für ihre Ursprünglichkeit spricht auch
der Umstand, daß gerade diese Anwendungsform am häufigsten als
reine Lautwiederholung vorkommt, demnach als ein Vorgang,
der selbst erst ein Wortgebilde hervorbringt. Bezeichnen wir den
einzelnen Laut mit n, den Einzelvorgang, aus dessen Wiederholung
sich eine irgendwie rhythmische Reihe zusammensetzt, mit v, so wer-
den die Vorgänge v und die ihnen folgenden Lautgebärden n zunächst
derart sich assoziieren, daß sie eine Komplikation nnnn . . {vvv..)
von imbestimmter Begrenzung bilden. Zu diesem rein assoziativen
Prozeß tritt dann als entscheidendes, den Übergang in die eigent-
liche Sprachgebärde bezeichnendes Moment die jene verschiedenen
Bewegungsakte zusammenfassende Apperzeption, die wesentlich da-
durch ermöglicht wird, daß die Reihe v als eine Folge von Zustands-
änderungen eines und desselben Gegenstandes o sich abspielt, daher
auch diese zusammenfassende Apperzeption an die Vorstellung o
gebunden bleibt. Die Apperzeption von o als dominierender Vor-
stellung wirkt nun aber derartig hemmend auf die Reihe der Laut-
assoziationen nnnn . ., daß die einfache Wiederholung n n, die sich
dann eventuell noch zu verkürzten Formen verdichten kann, als ein-
ziger Lautinhalt der Wortkomplikation zurückbleibt. Diese gewinnt
so die endgültige Form:
nno (vvv . .).
Anders verhält es sich mit der zweiten allgemeinen Anwendung
der Verdoppelung, mit dem Ausdruck intensiv gesteigerter
Eigenschaften oder Tätigkeiten. Hier ist in dem objektiven
646 Die Wortbildung.
Eindruck als solchem niclits enthalten, was unmittelbar zu einer
zeitlichen Wiederholung des Lautes herausfordern könnte. Dieser
Mangel einer direkten objektiven Beziehung spricht sich auch
darin aus, daß diese Form der Eeduplikation ebensowohl durch
bleibende Eigenschaften der Dinge wie durch Vorgänge oder
Handlungen ausgelöst wird. Es ist daher augenfäüig, daß hier
nur das subjektive Gefühl das Mittelglied bilden kann, das
die Intensitätssteigerung in diese extensive Form überträgt.
Wiederum gehört nun schon innerhalb der bloßen Affektäußerungen
die Wiederholung der Bewegung zu den geläufigsten Ausdrucks-
mitteln der gesteigerten Gefühlserregung. Sie wird zu dem natür-
lichsten Ausdrucksmittel insbesondere dann, wenn sich, wie das
beim Übergang in die Sprachäußerung regelmäßig geschieht, die
Ausdrucksbewegungen ermäßigen, so daß die direkteste Aus-
drucksform des erhöhten Gefühls, die durch einfache Steigerung
der Bewegungsintensität, hinwegfällt. Immerhin bleibt es für
diese indirektere Beziehimg der Wiederholungsform zum Gefühls-
ausdruck bezeichnend, daß, im Unterschiede von der vorigen objek-
tiven Entstehungsform, noch andere Arten der verstärkten Betonung
des Lautes für die Gefühlssteigerung eintreten können: so namentlich
die in manchen Sprachen entstandenen Intensivbildungen. Bezeichnen
wir demnach irgendeinen Eindruck, der in der Vorstellung ebenso-
wohl an einen äußeren Vorgang wie an eine wahrgenommene Eigen-
schaft gebunden sein kann, mit e, so wird, wenn mit diesem relativ
gefühlsfreien Eindruck e eine Lautbezeichnung n zu einer Wortkompli-
kation n e verbunden war, der gefühlsstarke Eindruck g e nun eine
reagierende Lautgebärde herausfordern, die in irgendeiner Steige-
rung des Lautes n besteht. Von den hierbei möglichen und zum Teil
wirklich vorkommenden Formen der Lautverstärkung gewinnt dann
unter dem Einfluß der die sprachlichen Vorgänge begleitenden Affekt-
ermäßigung die Verdoppelung vor den andern, wie Lautverstärkung,
Tonerhöhung oder Ton Verlängerung, das Übergewicht. Dazu mag
die bereits geläufige Anwendung in sonstigen, durch den objektiven
Eindruck selbst geforderten Bedeutungen, wie Wiederholung von
Vorgängen, Mehrheit von Gegenständen, durch assoziative Über-
tragung mitwirken. Dies läßt sich um so mehr mit Wahrscheinlich-
Psychologische Theorie der Verdoppelungserscheinungen. 647
keit annehmen, als bei dem Ausdruck der Steigerung der Laut n,
schon ehe er verdoppelt wird, im allgemeinen eine bestimmte Wort-
bedeutung besitzen muß. Der sich wiederholende Vorgang kann ja
eventuell primär als ein solcher gegeben sein; die gesteigerte Eigen-
schaft ist aber nicht wohl möglich, ohne daß die einfache Eigenschaft
schon zuvor unterschieden wurde. Dem entspricht es, daß in der Tat
diese auf die subjektive Gefühlsbetonimg zurückgehenden Verdoppe-
lungserscheinungen in der Regel als Wortverdoppelungen, nicht,
wie die vorige Klasse, als bloße Lautwiederholungen vorkommen.
In diesem Sinne wird man daher immerhin diese Anwendungsform
als die relativ spätere und in bedingter Weise, nämlich eben mit Rück-
sicht auf den assoziativen Einfluß der schon vorhandenen Wieder-
holungsformen, auch als eine abhängige Erscheinung betrachten dürfen.
Diese Abhängigkeit erstreckt sich aber nicht auf die Grundbedingungen
des Vorgangs, die vielmehr hier ebenso selbständig und eigenartig
sind, wie bei der frequentativen Bedeutung der Verdoppelung. Be-
zeichnen wir, wie oben, mit n e die ursprüngliche Wortkomplikation,
so wird daher, sobald der intensive Gefühlston g hinzutritt, zunächst
wiederum mit Rücksicht auf das einheitliche Objekt o, auf das der
Eindruck wie die von ihm ausgehende Gefühlserregung zurückbezogen
wird, das Produkt g e mit diesem Objekt durch die Apperzeption zu-
sammengefaßt, während das hinzugetretene Element g zur Wieder-
holung von n antreibt, so daß die ganze Wortkomplikation die Form
annimmt :
nno (g e).
Die beiden durch die linke und rechte Seite des Schemas (S. 643)
dargestellten Sonderentwicklungen schließen sich nun an diese^ all-
gemeingültigen Grundformen an, jede aber wieder in wesentlich ver-
schiedener Weise. So sind die fast durchweg den Sprachen primi-
tiver Kulturvölker angehörenden nominalen Verdoppelungs-
formen dem ersten, objektiven Typus verwandt. Dennoch kann auch
hier aus dieser Verwandtschaft noch nicht geschlossen werden, daß
sie aus ihm hervorgegangen seien, sondern man wird nur annehmen
können, daß die Motive der Entstehmig teilweise übereinstimmen.
Diese Übereinstimmung liegt eben darin, daß es sich in beiden Fällen
648 Die Wortbildung.
um eine objektive Wiederholung handelt: dort um eine Wie-
derholung eines Vorgangs, hier um die Wiederholung mehrerer
Objekte der Apperzeption von übereinstimmender Be-
schaffenheit. Darin ist aber auch bereits der Unterschied beider
Fälle ausgesprochen: dort beruht die Wiederholung auf dem objek-
tiven Vorgang selbst, hier auf der subjektiven Aufeinander-
folge mehrerer Apperzeptionen des gleichen Gegenstandes. Die
nächstliegende und verbreitetste Art einer solchen Zusammen-
fassung ist die einer Zweiheit regelmäßig verbundener Objekte,
wie sie vor allem der menschliche Körper selbst bietet: der Augen,
Hände, Brüste usw. Es ist diejenige Form der innerhalb dieser
objektiv gerichteten Keihe entstandenen Ausdrucksweisen eines
Kollektivbegriffs, die allein, wie es scheint, auch auf die der
rechten Seite unseres Schemas angehörigen Sprachen in gewissem
Grad übergegriffen hat. Der duale Kollektivbegriff wird hier
einfach durch die in ihrem Laut- wie Begriffsbestandteil zwei-
gliedrige Komplikation nn {oo) ausgedrückt. In diesem von
vornherein die einfache Reduplikation herausfordernden Ausgangs-
punkt liegt, neben dem Übergang vom Objekt auf die subjektive
Wiederholung der Apperzeption, zugleich der wesentliche Unter-
schied von der allgemeinen onomatopoetischen Wiederholungsform;
und da diese Anwendung auf Objekte gerade in den durch reich-
liche Anwendung von Laut- und Wortwiederholungen ausgezeich-
neten Sprachen vorkommt, so mag diesem Umstände wohl ein mit-
wirkender Einfluß auf die Bildung zweigliedriger Formen in andern
Fällen zukommen. Außerdem konnte aber auch der so gebildete zwei-
gliedrige Kollektivausdruck durch eine Ausdehnung des objektiven
Gliedes der Komplikation auf mehrgliedrige Begriffe übergehen,
Wobei sich dann freilich, um die Vorstellung der Einheit zu bewahren,
noch eine weitere Veränderung vollziehen mußte, die jedenfalls bei
den dualen Begriffen schon vorgebildet ist, jedoch wegen der leichten
Vereinigung der Zweiheit zu einer Einheit zurücktritt. Dieser Vor-
gang besteht darin, daß, je mehr Glieder das Kollektivum umfaßt,
um so mehr ein einzelnes dieser Glieder als repräsentative Vor-
stellung über die andern dominiert, während diese in dem unbe-
stimmten Eindruck der Vielheit nur dunkler vorgestellt werden:
Psychologische Theorie der Verdoppelungserscheinungen. 649
SO z. B. wenn der Begriff „Baum" durch Verdoppelung in das un-
bestimmte Kollektivum „Wald" umgewandelt wird. Wir können uns
demnach die Konstitution der einem solchen Allgemeinbegriff ent-
sprechenden Wortkomplikation symbolisch veranschaulichen durch
die Form:
nno (o 0 0 0 . . .),
wo die fest assoziierten, aber dunkler vorgestellten Objekte o in der
Klammer enthalten sind, während das deutlich apperzipierte repräsen-
tative Objekt direkt mit dem Lautbilde n n verbunden ist. Das psy-
chologische Verhältnis dieser pluralen zu den dualen Kollektivbegriffen
macht es zugleich in hohem Maße wahrscheinlich, daß hier die ver-
wickeitere aus der einfacheren Form wirklich hervorgegangen ist,
d. h. daß sich die Anwendung der Reduplikation auf umfassendere
KoUektiva in den betreffenden Sprachgebieten erst unter dem asso-
ziativen Einflüsse der dualen Formen entwickelt hat. Analog scheint
sich dann der in seltenen Fällen zur Ausbildung gelangte Ausdruck
des reinen Plurals durch Wortverdoppelung an die so entstandenen
umfassenderen KoUektiva angelehnt zu haben. Der Übergang konnte
hier leicht erfolgen, sobald sich die bei dem Kollektivum vorherrschende
repräsentative Vorstellung verdunkelte. Dies würde eine Art Rück-
bildimg der vollständigeren Wortkomplikation nno {ooo , ,) zu
nn(ooo . .) bedeuten. Doch bleibt auch die Möglichkeit, daß sich
die duale Form nn{po) direkt durch Vermehrung der objektiven
Assoziationsglieder zur pluralen erweitert habe, oder daß an verschie-
denen Orten beide Vorgänge, die Rückbildung des zusammengesetzten
KoUektivums zum Plural imd die Erweitermig des dualen zum Plural,
stattfanden.
Eine ähnliche Beziehung, wie nach der Seite der Gegenstands-
begriffe zwischen dem sich objektiv wiederholenden Vorgang und
der subjektiven Wiederholung der Apperzeption von Objekten,
findet sich nun auf der Seite der Verbalbegriffe zwischen jenem
imd dem dauernden Vorgang. Auch hier haben wir keinen
Anlaß anzunehmen, die zweite sei aus der ersten, verbreiteteren
Form hervorgegangen, oder diese habe auf jene anders als durch
die Macht der assoziativen Formübertragimg eingewirkt, vermöge
650 Die Wortbildung.
deren eine häufig gebrauchte Form durch ihre Einübung über-
haupt vor andern möglichen Ausdrucksweisen der gleichen Vor-
stellung begünstigt ist. Dies schließt aber natürlich nicht aus,
daß die vom Vorstellungsinhalt ausgehenden Motive hier so gut
wie bei der Entwicklung der Reduplikation zu einer rein inten-
siven Ausdrucksform vollkommen selbständige gewesen sind. In
der Tat fordert der dauernde Zustand, ganz abgesehen von einer
möglichen Anlehnung an rhythmisch sich wiederholende Vorgänge,
schon durch die Eigenschaft der Dauer, gegenüber der rasch
vorübergehenden Bewegung, zu einer Verstärkung des Ausdrucks
heraus, die in der Lautwiederholung ihren einfachsten sprach-
lichen Ausdruck findet. Ein objektives imd ein subjektives Moment
können sodann zusammenwirken, um dies zu unterstützen. Objektiv
ist es, wie bei den Mehrheitsbegriffen, die Wiederholung der Apper-
zeption des gleichen Geschehens, welche der sich fortsetzende Vor-
gang veranlaßt. Subjektiv erzeugt der dauernde Vorgang im all-
gemeinen eine stärkere Gefühlserregung. Fassen wir demnach alle
diese Momente in der symbolischen Formel
nng (dv)
zusammen, in der n und v wieder im gleichen Sinne wie oben an-
gewandt sind, d aber die Eigenschaft der Dauer und g die durch d v
bewirkte Gefühlsbetonung bedeutet, so ist die Beziehung dieser Kom-
plikation zu den intensiven und kollektiven Verdoppelungsformen
augenfällig. Zugleich erkennt man jedoch die Eigenart derselben,
die es durchaus verbietet, sie etwa mittels einer hier so verführerisch
winkenden logischen Interpretation aus der iterativen Form ableiten
zu wollen. Letzteres ist schon deshalb unmöglich, weil von Verglei-
chungen, Verallgemeinerungen und ähnlichen intellektuellen Prozessen
selbstverständlich nicht die Rede sein kann. Vielmehr ist die Ent-
wicklung einer Form aus einer andern immer nur insoweit möglich,
als sie durch einfache und vollkommen unwillkürlich wirkende asso-
ziative und apperzeptive Bedingungen herbeigeführt wird.
Anders verhält es sich mit der letzten in diese Reihe gehörigen
Anwendung der Reduplikation: mit dem den indogermanischen
Psychologische Theorie der Verdoppelungserscheinungen. 651
Sprachen eigenen Ausdruck der vergangenen Zeit. Hier ließe sich
kaum einsehen, in welcher Weise eine solche Beziehung durch ur-
sprüngliche Apperzeptions- oder Gefühlsmotive entstanden sein könnte.
Dagegen wird diese Form ohne weiteres verständlich, wenn wir von
der durativen Bedeutung der Verdoppelung ausgehen. In der die
letztere bezeichnenden Verbindung nn g (dv) wird sich zunächst,
wie überall, wo nicht besondere Motive zu seiner Erhaltung gegeben
sind, das Gefühlselement g durch häufigen Gebrauch abschwächen.
Dafür kann sich aber in der Vorstellungsverbindung (c^ v) als ein neuer
Bestandteil die in d nur dunkel vorgestellte Beziehung auf den An-
fang des wahrgenommenen objektiven Vorgangs aussondern. Dies
wird um so eher geschehen, je mehr sich überhaupt die Zeitvorstellungen
ausbilden und infolgedessen die verschiedenen zeitlich vorgestellten
Ereignisse nach den Zeitstufen Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
orientiert werden. Heftet sich so an die dauernde Handlung die in
ihr bereits vorgebildete Nebenvorstellung eines teilweise in der Ver-
gangenheit liegenden Vorgangs, so kann nun die weitere Entwick-
lung in der gewöhnlichen Form assoziativer Verschiebungen erfolgen,
indem diese Nebenvorstellung immer mehr in den Blickpunkt des
Bewußtseins tritt, indes die anfängliche Hauptvorstellung dunkler
wird und schließlich ganz verschwindet. Deuten wir das Element
der Vergangenheit durch p an, so vollzieht sich also die Reihe
der Wandlungen von nng (dv) durch nn{dpv), nn (pdv)
in nn (p v).
Hiernach sind die in dem obigen Schema (S. 643) auseinander-
gehenden Entwicklungsreihen in ihren beiden Ausgangspunkten,
in dem Ausdruck einer Zweiheit verbundener Vorstellungen einer-
seits und eines dauernden Vorgangs anderseits, aller psychologischen
Wahrscheinlichkeit nach selbständige, jedesmal durch eigenartige
psychische Motive entstandene Formen, wenn auch in beiden Fällen
der bereits geläufige Gebrauch der Reduplikation in den allgemein-
gültigen Erscheinungen der mittleren Reihe begünstigend eingewirkt
haben mag. Dagegen ist nicht minder wahrscheinlich die plurale Ver-
doppelung aus der dualen, die perfektive aus der durativen hervor-
gegangen. Wenn dann weiterhin diese beiden Reihen durchgängig
sich ausschließen, so daß bei den Völkern, bei denen die durative und
652 Die Wortbildung.
die perfektive Bedeutung zur Entwicklung gelangte, die duale bis
auf spärliche Keste und die plurale ganz fehlt, während umgekehrt
da, wo die letzteren eine hervorragende Kolle spielen, jene ersteren
nicht vorkommen, so ist dieser Unterschied sichtlich auf verschiedene
Richtungen des Denkens zurückzuführen. Wo die Verdoppelungs-
erscheinungen hauptsächlich auf Nominalformen übergreifen, da
herrscht eine gegenständliche Form des Denkens. Bewegen sich
dagegen jene vorwiegend innerhalb der Verbalbildungen, so tritt eine
zuständliche Form desselben hervor. Wir werden in den folgenden
Kapiteln sehen, daß der tiefgreifende Unterschied dieser Richtungen
noch in zahlreichen andern Erscheinungen bei der Bildung der Wort-
formen sowie in der Satzbildung zutage tritt ^).
VI. Wortbildung durch Zusammensetzung.
1. Begriff und Hauptformen der Wortzusammensetzung.
Kann auch die Wortwiederholung ihrer allgemeinen Natur nach
als der besondere Fall von Wortzusammensetzung betrachtet wer-
den, wo sich ein Wort mit sich selber verbindet, so pflegt man doch
unter einem ,, Kompositum" in der Kegel nur eine Wortverbindung
aus ungleichen Bestandteilen zu verstehen. Diese Scheidung
ist insofern gerechtfertigt, als durch die Lautwiederholung selbst erst
ein einfaches Wort entsteht und die volle Wortwiederholung nur
die stärkere Hervorhebung eines schon vorhandenen Wortes ist, also
keine neue Wortbildung darstellt. Überdies umfaßt die Verbindung
ungleicher Bestandteile nicht nur ein viel weiteres Gebiet von Er-
scheinungen, sondern sie besitzt auch eine ungleich tiefer in das ge-
samte Leben der Sprache eingreifende Bedeutung.
Jede Wortzusammensetzung entspringt aus Motiven, die der
Zusammenhang der Rede mit sich führt. Aus der äußeren Berührung
der Wörter im Satze kann jedoch eine engere Verbindimg nur dann
hervorgehen, wenn zugleich eine innere Affinität die Wörter zusam-
1) Vgl Kap. VI und VII.
Begriff und Hauptformen der Wortzusammensetzung. 653
menführt. Demnach durchkreuzen sich bei der Bildung eines Kom-
positums ein analytischer imd ein synthetischer Vorgang. Analy-
tisch entsteht ein zusammengesetztes Wort, indem es als syntak-
tisches Gefüge aus dem Ganzen eines Satzes sich aussondert. Syn-
thetisch bildet es sich, indem seine Bestandteile eine festere Ver-
bindimg miteinander eingehen und dadurch von den übrigen Wörtern
des Satzes als ein neues Wortganzes sich scheiden. Diese Verhält-
nisse machen es begreiflich, daß man bald das analytische, bald das
synthetische Moment in den Vordergrund stellte, je nachdem ent-
weder der Satz oder das Wort als das ursprünglichere sprachliche
Gebilde betrachtet wurde. Da die Sprachwissenschaft in der Regel
dem Worte den Vorzug einräumt, so ist in ihr der synthetische
Gesichtspunkt der vorherrschende. Demgemäß wird das Kom-
positum meist als ein durch willkürliche Vereinigung seiner Teile
entstandenes Gebilde behandelt, nach dessen psychologischen
Entstehungsbedingungen nicht weiter gefragt wird. Vielmehr be-
gnügt man sich mit der Feststellung der zwischen den Gliedern
des Kompositums bestehenden logischen und grammatischen
Verhältnisse, um dann darauf etwa eine Klassifikation der
Wortzusammensetzungen zu gründen. So werden denn Verbin-
dungen der Koordination, der Über- und Unterordnung, der attri-
butiven, adverbialen, objektiven Bestimmung, der Kasusverhält-
nisse usw. unterschieden^).
^) Vgl. L. Tobler, Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft,
V, 1868, S. 205 ff. A. Darmesteter, Trait^ de la formation des raots compos^s
dans la lahgue fran^aise, 1875. (Bibl. de l'ecole des hautes 6tudes, Fase. 19.)
Auch bei Paul (Prinzipien,* S. 325 ff.) ist für die Gruppierung der Beispiele
das logisch -grammatische Schema maßgebend. Dagegen hebt Brugmann mit
Rücksicht auf die Entstehung des Kompositums durch syntaktische Isolierung
mit Recht hervor, für diese Frage sei das Verhältm's der Glieder ohne Bedeutung,
überhaupt aber seien die Grenzen zwischen syntaktischer Verbindung und Wort-
zusammensetzung, ebenso wie die zwischen Kompositum und Simplex, fließende
(Grundriß II, S. 4 f.). Einen Versuch, die logische Klassifikation der Kompo-
sita durch eine psychologische Betrachtung zu ergänzen, hat wohl zuerst Tobler
gemacht. Aber er ist selbst von dem Versuch, seine logische Klassifikation mit
seinem psychologischen Schema in Beziehung zu setzen, wenig befriedigt (a. a. O.
S. 220 f.).
654 Die Wortbildung.
Wenn nun die Bildung eines jeden Kompositums im all-
gemeinen einen analytisclien und einen synthetisclien Vorgang
voraussetzt, so ist damit ebenso eine rein willkürliche wie eine
zufällige Entstellung ausgeschlossen. Willkürlich kann es nicht
zusammengefügt sein, da es aus dem syntaktischen Gefüge, in
dem es einem größeren Vorstellungszusammenhang angehörte, von
selbst vermöge der Beziehung seiner Glieder sich ausschied. Zu-
fällig kann es nicht entstanden sein, da zu jener Zerlegung der
Gesamtvorstellung eine durch die Affinität der Bestandteile ver-
mittelte engere Verbindung hinzutreten mußte. Beides, der ana-
lytische und der synthetische Prozeß, setzt also psychische Motive
voraus, die den Erscheinungen selbst immanent sind: Motive der
Sonderung von der im ganzen Inhalt des Satzes ausgedrückten
Gesamtvorstellung einerseits, und Motive der Verbindung der sich
aussondernden Bestandteile anderseits. Wird als ein Motiv der
letzteren Art gelegentlich dies angeführt, daß Wörter, die ursprüng-
lich mit gesonderten Akzenten gesprochen wurden, einen gemein-
samen Akzent erhielten, so ist aber dies offenbar nur eine äußere Wir-
kung der bereits eingetretenen Verbindung, nicht deren Ursache,
wie denn ja auch das allmähliche Schwinden des Akzents von dem
in der Betonung sich unterordnenden Wortbestandteil die verschie-
densten Gradabstufungen zeigt, die der zunehmenden Innigkeit der
Verbindung parallel gehen. Können die wirklichen Motive der Ver-
bindung nicht in dem die Wörter umfassenden Satzganzen, sondern
nur in den Bestandteilen selbst, die sich verbinden, gesucht werden,
so kann ferner die Feststellung des logischen Verhältnisses, in dem
die Kompositionsglieder zueinander stehen, zu einer solchen Erkennt-
nis nicht das geringste beitragen. Irgendwelche Wörter, die einander
nicht völlig disparat gegenüberstehen, lassen sich natürlich immer
in eine logische Beziehung bringen. Die Verhältnisse der Über-, Unter-,
Nebenordnung, der Beziehung des Subjekts zu seiner Eigenschaft
oder Tätigkeit, sie sind überall anwendbar, mögen nun solche
Wörter unabhängig nebeneinander vorkommen oder Bestandteile
eines Kompositums bilden. Eben darum aber sagen sie über die
psychologischen Motive, die diese Verbindung zustande brachten,
nichts aus.
Begriff und Hauptformen der Wortzusammensetzung. 655
Wollen wir uns die Entstehungsbedingungen der Wortzusam-
mensetzung näher vergegenwärtigen, so werden wir daher besser
tun, solche Verschiedenheiten der einzelnen Erscheinungen ins Auge
zu fassen, die direkt auf besondere Eigentümlichkeiten jener analy-
tischen und synthetischen Vorgänge hinweisen. Hier zeigt sich nun
vor allem, daß diese Vorgänge von anscheinend entgegengesetzter,
aber doch sich ergänzender Richtung in den einzelnen Fällen in sehr
verschiedenem Grad an der Entstehimg eines gegebenen Produkts
beteiligt sein können. Auf der einen Seite begegnen uns Komposita,
die unmittelbar so wie sie sind aus einem Satze losgelöst scheinen,
so daß sie uns fast als reine Produkte syntaktischer Gliederung mit
verhältnismäßig geringer Begleitwirkung verbindender psychischer
Kräfte entgegentreten. Auf der andern Seite finden sich nicht
minder häufig Komposita, deren Teile so, wie sie in das neu-
gebildete Wort eingehen, unmöglich als ursprünglich selbständige
Wortgebilde in einem Satze vorgekommen sein können, wo also
diese Teile mehr oder minder starke Dislokationen und Form-
veränderungen durch die zwischen ihnen tätige psychische Affi-
nität erfahren haben müssen: hier handelt es sich daher offenbar
um Erscheinungen, bei denen der synthetische Teil des Prozesses
weit über den analytischen überwiegt. Dazu kommt endlich
noch eine dritte Reihe von Formen, bei denen die Entstehungs-
orte der Teile des Kompositums sichtlich noch weiter entfernt
liegen, indem aller Wahrscheinlichkeit nach einer dieser Teile
ursprünglich gar nicht der Gesamtvorstellung angehörte, aus der
sich der den Hauptbegriff tragende ausgesondert hat, sondern
irgendwelchen ganz andern Satzverbindungen, aus denen er infolge
gewisser Assoziationsmotive von jenem Hauptbegriff attrahiert wurde.
Hier überwiegt also der synthetische Teil des Prozesses noch mehr
als im vorigen Fall, während sich der analytische ganz und gar auf
die Ausscheidung eines einfachen Wortes beschränkt, darüber hinaus
aber gar nichts zur Bildung der zusammengesetzten Form beiträgt.
Wir können uns diese drei Fälle durch das folgende Schema veran-
schaulichen, in welchem, um den Erörterungen der folgenden Kapitel
über die Gesetze der Satzgliederung nicht vorzugreifen, die durch
die Zerlegung der Gesamtvorstellimg G entstehenden einzelnen Wort-
656 Die Wortbildung.
bestandteile a, h, c^ d . . . des Satzes vorläufig einander einfach ko-
ordiniert werden sollen. Das resultierende Kompositum ist jedesmal
durch C angedeutet.
Typus I Typus II Typus III
G G G' G
I I I I ! I I I I I I I I I irt I I I I I I i
a h c d € f g a b e d e f g m a b c d e f g
u
c ^ c c
Hiernach läßt sich, nach Analogie der bei den Lautinduktionen
(Kap. IV, S. 415 f.) eingeführten Benennungen der Typus I kurz
als eine Komposition durch assoziative Kontaktwirkung,
der Typus II als eine solche durch assoziative Nahewirkung,
der Typus III als eine solche durch assoziative Fernewirkung
bezeichnen.
Als Beispiele für das Verhältnis der Typen I und II können das
französische Wort pourhoire und das den gleichen Begriff ausdrückende
deutsche Trinkgeld dienen. Beide weisen nicht nur grammatisch,
sondern vor allem auch psychologisch auf einen abweichenden Ur-
sprung hin. Zugleich können aber die psychologischen Unterschiede
aus den grammatischen nicht abgeleitet, sondern höchstens indirekt
erschlossen werden. Das deutsche Kompositum hat sich hier offenbar
unter der assimilierenden Wirkung anderer, älterer Komposita ähn-
licher Art, wie Wergeid, Handgeld, Mietgeld, Pachtgeld usw., gebildet,
Assoziationen, die unter dem Einfluß der Verbindung der Vorstellungen
,,Geld" mid ,, trinken" wirksam wurden. Diese Verbindung selbst
ist aber durchaus keine unmittelbare, wie das schon die grammatische
Umbildung des attributiven Bestandteils verrät. Auch gibt es keine
Satzfügung, in der diese Verbindung vorkommen könnte: in solchen
ist allenfalls ein „Geld zum Trinken", aber kein ,, Trinkgeld" mög-
lich. Wesentlich anders verhält sich das französische pourhoire. Zwar
sind auch hier Assoziationen mit andern aus der Präposition pour
gebildeten Zusammensetzungen, wie pourpoint, pourprendre, pour-
suivre u. a., denkbar. Doch da diese Komposita nicht nur in den hin-
Begriff und Hauptformen der Wortzusammensetzung. 657
zugefügten Wortbestandteilen, sondern auch in den Bedeutungen
der Präposition selbst weit auseinandergehen, so können solche Wörter
kaum anders als durch Lautassoziation, nicht, wie bei dem deutschen
Worte, durch einen gemeinsamen Hauptbegriff auf die Verbindung
gewirkt haben. Wohl aber trägt das französische Kompositum deut-
lich die Spuren der unmittelbaren Entstehung aus dem Satze an sich;
ja vielleicht ist es selbst ursprünglich nichts anderes als ein lücken-
hafter Satz gewesen. Nachdem hmiderte von Malen der Geber, der
eine Dienstleistung vergüten wollte, dem Beschenkten durch ein
,,pour boire" den Zweck der Gabe angedeutet hatte, wurde
dieser unvollständige Satz, der in der Handlimg des Gebens
seine pantomimische Ergänzung fand, in dem Augenblicke zum
Wort, wo er als selbständiges Ganzes in irgendeinen andern
Satz als dessen Subjekt oder Objekt eintrat. Dieser Ursprung
bringt es dann auch mit sich, daß das Ganze noch fortan ebenso-
wohl als eine Verbindung zweier Wörter in einem beliebigen andern
Zusammenhang wie als ein einziges substantivisches Wort vor-
kommen kann.
Beispiele für das Verhältnis der Typen II und III zueinander
sind einerseits Komposita wie Trinkgeld oder die ihm ähnlichen Dorn-
strauch, Apfelbaum, Kirchturm usw. und anderseits solche wie Hirsch-
käfer, Leberfleck, Blutbuche, Rittersporn. Jede Zusammensetzung
der ersteren Art enthält zwei Vorstellungen, die der Wahrnehmung
des Gegenstandes oder der Handlung gleichzeitig angehören, und die
daher beide in der ursprünglichen Gesamtvorstellung und ihrer Zer-
legung im Satze gegeben waren. Die Entstehung des Kompositums
beruht also hier ganz auf einer unmittelbaren Wahrnehmungsasso-
ziation. Der Hirschkäfer dagegen war zunächst nur als Käfer mit
einigen nicht benannten spezifischen Merkmalen in der Anschauung
gegeben. Diese Merkmale aber, die hornigen Mandibeln mit ihren
zweizinkigen Spitzen, erweckten das einer Keihe anderer Gesamt-
vorstellungen zugehörige Bild des Hirsches, das nun sekundär mit
der Vorstellung des Käfers assoziiert wurde. Hier also liegt der Bil-
dung des Kompositums zugleich eine Erinnerungsassoziation zu-
grunde. Ist es in diesen wie in den andern angeführten Beispielen
eine dem Hauptbegriff hinzugefügte, ihn näher determinierende Neben-
Wundt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. 42
658 Die Wortbildung.
Vorstellung, die aus einer außerhalb liegenden Vorstellungs Verbin-
dung attrahiert wird, so kann nun aber auch das Verhältnis sich um-
kehren, indem der assoziativ hinzutretende Bestandteil zur Haupt-
vorstellung und der direkte Wahrnehmungsinhalt zur Nebenvor-
stellung wird : so in dem in der gleichen Bedeutung gebrauchten franz.
cerf Volant, wo die Vorstellung des Hirsches als assimilative Erinne-
rungsassoziation im Vordergrund steht, an die nun das in der Wahr-
nehmung gegebene Bild der Flügel als Nebenvorstellung sich an-
schließt i).
2. Sprachliche Formen der Wortzusammensetzung.
Gegenüber den soeben erörterten drei Haupttypen der Wort-
komposition, die auf innere Motive der Assoziation und Apperzeption
zurückführen, dabei aber mit den verschiedensten grammatischen
Formen der Wortverbindung zusammenbestehen können, besitzen
nun diese äußeren Formen selbst zwar ein grammatisches, jedoch
nur indirekt ein psychologisches Interesse: insofern nämlich, als die
sprachliche Form immerhin unter Umständen auf die psychischen
Motive zurückschließen läßt. Namentlich pflegen die Verschieden-
heiten der Verbindungsweise für das Vorwalten bald mehr des ana-
lytischen bald mehr des synthetischen Teiles dieser Wortbildungs-
prozesse kennzeichnend zu sein 2).
^) Auf die eigentümlichen Verschiedenheiten der hier zugrunde liegenden
Assoziationsweisen hat zuerst O. Dittrich aufmerksam gemacht (Gröbers Zeit-
schrift für romanische Philologie, Bd. 22, 1898, S. 441) und darauf die Haupt-
einteilungen seiner Übersicht der neufranzösischen Komposita gegründet, indem
er die Komposita überhaupt in „Erkennungsnamen" und „Erinnerungsnamen*'
unterscheidet. Einen mehr logischen Charakter trägt dagegen seine weitere
Unterscheidung von ,,Übereinstimmungs-'* und „Abweichungsnamen" an sich.
Nach ihr würde z. B. ein Wort wie ,, Hirschkäfer" als ein Übereinstimmungs-,
,,cerf Volant" dagegen als ein Abweichungsname zu bezeichnen sein.
2) Über die grammatischen Verhältnisse der Wortzusammensetzung und
die hieraus sich ergebenden Unterformen dieses Prozesses, die „Worteinung"
und „Univerbierung", vgl. Brugmann, Kurze vergl. Grammatik, S. 287 ff. Die
„Worteinung" besteht darin, daß sich ein syntaktischer Verband bildet, dessen
Bestandteile durch die einheitliche Gesamtvorstellung, in die sie eintreten, be-
grifflich modifiziert werden, z. B. Landesverrat, Erstgeborner, auslesen, abkaufen
Sprachliche Formen der Wortzusammensetzung. 659
Hierher gehört vor allem die Erscheinung, daß es einerseits Kom-
posita gibt, in denen sowohl die Teilbegriffe selbst wie die Beziehungen,
in denen sie stehen, in einer Form ausgedrückt sind, in der sie schon
vor ihrer Verbindung zu einem Kompositum in einem Satze vor-
kommen können; während in andern Fällen irgend etwas, sei es auch
nur ein Flexionselement, hinzugefügt werden muß, um die Art der
Verbindung der Einzelbegriffe vollständig zum Ausdruck zu bringen.
Im ersten Fall kann also das Kompositum einfach durch festere Ver-
bindung zweier aus der Satzzerlegung entstandener Worte entstehen:
so in ^loaxovQoi, respuhlica, quamobrem, bienheureux, Gottesgericht
usw. Im zweiten Fall gehen gewisse Wortelemente verloren, oder
es finden Umstellungen der Worte statt, lauter Erscheinungen, die
auf hinzutretende synthetische Vorgänge hinweisen: so in (DiliTtnog
für q>LX(jjv %n7tov^, timbre-poste für timbre de poste, Vaterhaus für
Vaters Haus, Trinkgeld für Geld zum Trinken usw. Indem man in
dieser Hinweglassung grammatischer Verbindungsglieder ein wesent-
liches Merkmal dafür sah, daß aus der Zusammensetzung ein neues
Wort hervorgehe, wurde das Vorhandensein einer solchen ,, Ellipse"
geradezu als das Kriterium der eigentlichen Wortkomposition und
jeder Fall, wo jene fehlt, als eine bloße ,,Juxtaposition" angesehen^).
Dabei wird aber nicht beachtet, daß die Festigkeit der Verbindung
und das durch diese erzeugte Gefühl der Worteinheit hier genau im
selben Maße vorhanden sein kann wie dort. Dem gegenüber ist die
etwaige grammatische Umbildung um so mehr ein relativ gleichgültiger
Umstand, als in beiden Fällen die in dem Ganzen enthaltenen Ein-
zelvorstellungen, solange nicht weiter greifende Laut- und Begriffs-
umwandlungen eintreten, gleich deutlich unterschieden werden:
in timbre-poste ebensogut wie in timbre de poste, in Vaterhaus wie in
u. ä. „Univerbienmg** wird es genannt, wenn Worte gewohnheitsmäßig ver-
bunden sind, ohne aber eine Begriffseinheit zu bilden, z. B. homer. 6ixöv-ds „nach
Hause", e-tpsgov „ich trug" u. a. Psychologisch gehen diese Formen ohne scharfe
Grenze ineinander über, da sich an die einmal gebildete Verschmelzung leicht
auch im zweiten Fall Laut- oder Akzentänderungen sowie Bedeutungsänderungen
anschließen. Vgl. hierzu noch Brugmann, Ber. der sächs. Ges. 1900, S. 359 ff.,
und H. Paul, Indogermanische Forschungen, Bd. 14, S. 250 ff.
^) Darmesteter, Formation des mots compos6s, p. 10.
42*
660 Die Wortbildung.
Vaters Haus. Aucli zeigen Beispiele wie chef d'oeuvre, Gottesgericht
und ähnliclie, daß die Beibehaltung der selbständigen grammatischen
Form häufig wohl nur die Wirkung einer durch den Fluß der Rede
herbeigeführten Lautdissimilation, nicht ein Produkt geringerer Festig-
keit der Verbindung ist. Vollends nichtssagend und irreführend ist
es, wenn man jene den synthetischen Prozeß der Wortkomposition
begleitende Einschmelzung von Wortelementen als ,, elliptische"
Redeform bezeichnet. Die Übertragung rhetorischer Figuren auf die
natürliche Sprachbildung ist immer eines der unglücklichsten Inter-
pretationsmittel, weil es sich in allen solchen Fällen nur um eine zu-
fällige äußere Ähnlichkeit handelt, die aus ganz verschiedenen inneren
Ursachen hervorgeht. Die rhetorische Bedeutung der ,, Ellipse" liegt
bekanntlich in der Hinweglassung solcher Teile der Rede, die in dem
gewöhnlichen Ausdruck der Gedanken unentbehrlich sind. Bei den
sogenannten Ellipsen der Wortkomposition ist aber umgekehrt gerade
das durch Zusammenziehung der Laute und der grammatischen Form-
elemente gewonnene Ganze in der Weise stellvertretend für den Be-
griff geworden, daß im Ausdruck keine Lücke empfunden wird. Wollte
man als vollständiges Wort nur ein solches anerkennen, das den ganzen
Begriff unverkürzt enthielte, so müßte man auch jedes Simplex eine
,, Ellipse" nennen. Ist es doch immer nur ein einzelnes dominierendes
Merkmal, von dem die Benennung des Gegenstandes ausgeht. Diese
ursprünglichen sprachbildenden Vorgänge mit den sekundären Er-
scheinungen, wie sie in der Kunstform der Rede beobachtet werden
und erst auf Grimd jener vorangegangenen Entwicklungen möglich
sind, zusammenzuwerfen, kann daher nur zu einer Verwirrung der
psychologischen Tatsachen führen.
Wie es für den allgemeinen Charakter eines Wortkompositums
gleichgültig ist, ob ein die Teile verknüpfender Beziehungsausdruck
mit in dasselbe eingeht oder nicht, so können nun auch die Vorstellungen
selbst, die miteinander verbunden werden, nach ihrer logischen Be-
deutung den verschiedensten Begriffsformen angehören, ohne daß
dadurch die psychologische Natur der Verbindungsvorgänge wesent-
lich alteriert wird. Ob z. B. eine Eigenschaft durch eine gegenständ-
liche Vorstellung determiniert ist, wie in vogelfrei, steinreich, ehrgeizig,
lehrreich, oder ob ein Gegenstands- durch einen Eigenschaftsbegriff
Sprachliche Formen der Wortzusammensetzung. 661
ergänzt wird, wie in Festland, Freigeist, Großvater, Rotkehlchen, oder
ob statt dessen zwei Adjektiva oder zwei Substantiva sieb wechsel-
seitig ergänzen oder beschränken, wie in schwarzweiß, dunJcelrot, lau-
warm, Hausmann, Schneeberg, Fingerhut, Windmühle, — alle diese
und ähnliche Unterschiede sind für die psychologische Seite der Er-
scheinung ohne Bedeutung; oder soweit es sich hier um psycholo-
gische Unterschiede handelt, greifen diese direkt in die Verhältnisse
der allgemeinen Begriffsformen ein, ohne daß andere Gesichtspunkte
als die überhaupt für die Kategorien und ihre Umwandlungen maß-
gebenden in Betracht kommen^).
Weitere Fragen, die bei der üblichen logischen Behandlung ge-
wöhnlich in den Vordergrund gestellt werden, ob z. B. das in dem
Kompositum gegebene Begriffsverhältnis als ein einfach attributives
oder als ein solches von Art und Gattung aufzufassen sei, ob es räum-
liche, zeitliche," objektive, possessive Bestimmungen, den Gedanken
an einen Grund, einen Zweck, ein Mittel, einen Grad usw. enthalte
— diese Fragen sind schon logisch von verhältnismäßig geringem,
psychologisch aber von gar keinem Wert. Denn logisch betrachtet
sind natürlich alle überhaupt möglichen Begriffsverhältnisse und
Beziehungsformen der Begriffe auch zwischen den Gliedern eines
Kompositums möglich; und psychologisch bietet wiederum keines
dieser Verhältnisse irgendwelche Eigentümlichkeiten, wie denn ja
auch die logische Beziehung der Begriffe niemals eine direkte Ursache
der Verbindung ist. Vielmehr beruht diese stets nur auf der Asso-
ziation, die sich zwischen den in den Bestandteilen des Kompositums
ausgedrückten Vorstellungen gebildet hat, und auf Grund deren dieses
Assoziationsprodukt in der Apperzeption zu einem einzigen Vor-
stellungsinhalt verbunden wird. Ein unmittelbares Zeugnis für diese
^) Das Allgemeine über diese Verhältnisse der Begriffsformen und über
die auch bei der Wortzusammensetzung eine Rolle spielenden kategorialen Um-
wandlungen der Begriffe wird bei dem Bedeutungswandel (Kap. VIII) erörtert
werden. Die nähere Anwendung auf die Erscheinungen der Wortkompositicn
muß aber hier außer Betracht bleiben, da dieses Problem mit den besonderen
Ausdrucksformen der einzelnen Sprachen zusammenhängt. Vgl. über das Fran-
zösische 0. Dittrich in Gröbers Zeitschrift für romanische Philologie, Bd. 22,
1898, S. 305 ff., Bd. 23, 1899, S. 288 ff.
662 Die Wortbildung.
Unabhängigkeit der psydiologischen Entstehung von dem logischen
Verhältnis der Begriffe ist die Tatsache, daß in verschiedenen Sprachen
ein und derselbe Begriff durch Komposita ausgedrückt sein kann,
die nach ihrer grammatischen Bildung wie nach ihrer psychischen
Entwicklung völlig voneinander abweichen, während beiderlei Unter-
schiede in gar keiner direkten Beziehung zueinander stehen. Einen
Beleg hierzu bilden die oben bereits erläuterten gleichbedeutenden
Wörter Trinkgeld und pourhoire. Gerade im Gebiet der Komposita
zeigt es sich eben klar, daß ein Begriff nicht bloß in außerordentlich
verschiedener Weise ausgedrückt werden kann, sondern daß auch
die Art dieses Ausdrucks jedesmal sowohl von der eigentümlichen
Richtung des Denkens wie von der Beschaffenheit der vorhandenen
Ausdrucksmittel abhängt. Die deutsche Sprache, die eine große Frei-
heit in der Erzeugung der Wortkomposita überhaupt und nament-
lich auch in der Verbindung solcher Wörter besitzt, die der gleichen
Begriffsklasse angehören, ist fähig, einen neuen Gegenstandsnamen
einfach dadurch zu bilden, daß sie zwei schon vorhandene Substan-
tiva, die sich in dem neuen Begriff irgendwie begegnen, aneinander
fügt, oder auch daß sie einen Eigenschafts- mit dem geeigneten Gegen-
standsnamen unmittelbar vereinigt. Ähnlich bildet sie neue Eigen-
schaftswörter durch Verbindung bereits vorhandener mit Gegen-
standsbegriffen, mit denen die Eigenschaft in irgendeiner Beziehung
steht. Dadurch gewinnt das deutsche Kompositum den Charakter
eines frei nach den jedesmaligen Zwecken zusammengesetzten Ganzen,
dessen Teile aus beliebigen unabhängigen Sätzen ausgesondert und
neu verbunden sein können, oder, wenn sie in einem und demselben
Satze vorkamen, durch andere Satzbestandteile voneinander ge-
sondert waren. Ähnliche Eigenschaften wie die deutschen zeigen
auch die griechischen Komposita. Anders verhalten sich die der ro-
manischen Sprachen, denen schon das Lateinische darin vorausging,
daß in ihm viele Verbindungen aus einer einfachen Folge von Wörtern
entstanden, die sich durch häufiges Zusammentreffen im Satze in
dieser Verbindung befestigt hatten, wie respublica, senatusconsuUum,
jusjurandum und ähnliche. Diesen Charakter einer bloßen Ausschei-
dimg aus dem Satze haben in überwiegendem Maß auch die fran-
zösischen Komposita wie chef d'oeuvre, plafond, toujours (wobei ja die
Sprachliche Formen der Wortzusammensetzung. 663
Unterscheidung von flat fond und tous jours bloß in der Schrift, nicht
in der Aussprache existiert), maltraiter, malheureux, pourhoire usw.
Wo das nicht der Fall ist, da gehört die Verbindung in der Regel einer
früheren Stufe der Sprachentwicklung an, und die so entstandenen
Wörter fallen für das heutige Sprachbewußtsein dem Gebiet ursprüng-
licher Wortbildung zu^). Bei der Bildung des deutschen Komposi-
tums, wie sie noch fortwährend beobachtet werden kann, überwiegt
also das synthetische, bei der Bildung des neufranzösischen Kom-
positums das analytische Moment. In Wahrheit sind aber beide
Vorgänge, die Ausscheidung aus dem Ganzen des Satzes und die selb-
ständige Verbindung der Teile, zwei Faktoren des Prozesses, die nie-
mals fehlen, und von denen nur je nach den besonderen Bedingungen
bald der eine, bald der andere überwiegend zum Ausdruck kommt.
Ekie eigentümliche Nachwirkung des analytischen Ursprungs der
Komposita hat sich übrigens auch die deutsche Sprache darin be-
wahrt, daß sie die mit Präpositionen gebildeten verbalen Zusammen-
setzungen im Satze selbst wieder je nach den Bedingungen der syn-
taktischen Verbindung in ihre Bestandteile sondert, sofern überhaupt
die in das Kompositum eingehende Präposition noch in ihrem selb-
ständigen Begriffswert erhalten geblieben ist: so in aufstehen und ich
stehe auf, ablegen und ich lege ab, vortragen und ich trage vor usw. Mag
aber auch durch diese Eigenschaft das Bewußtsein der besonderen
Bedeutung der Teile mehr erhalten bleiben als in den Fällen unver-
rückbarer Zusammenfügung: an der Tatsache, daß solche Wörter
im vollen Sinne des W^ortes Komposita sind, kann diese Eigenschaft
nichts ändern. Sie geht auch da in den Wortverbindungen nicht ver-
loren, wo jene Sonderung erfolgt, weil dieser Vorgang vielmehr als
eine Einschaltung anderer Satzbestandteile in den Zusammenhang
des Wortes denn als eine wirkliche Zerlegung des letzteren emp-
funden wird.
1) Vgl. unten Nr. VII, 2.
664 Die Wortbildung.
3. Laut- und Bedeutungsänderungen der Komposita.
Ungleicli wichtiger als diese äußeren sprachliclien Unterscliiede,
die den psychischen Prozeß der Vorstellungs Verbindung nicht wesent-
lich berühren, sind für diesen die Laut- und die sie begleitenden Be-
griff sumwandlungen der Wortzusammensetzungen. Hier greifen
beide Momente, Laut- und Begriffswandel, durchweg derart ineinan-
der ein, daß sie sich wechselseitig verstärken, und daß daher meist
schwer zu entscheiden ist, welches das primäre gewesen sei. Dabei
folgen natürlich Laut- und Begriffswandel den für sie gültigen all-
gemeinen Gesetzen, deren Erörterung nicht hierher gehört^). Hier
ist nur hervorzuheben, daß die Wortzusammensetzung ein Vorgang
ist, der bei den in sein Bereich fallenden Wortgebilden die Laut- wie
Bedeutungsänderungen nicht selten zu beschleunigen scheint. In-
dem sich die Bestandteile des Kompositums zu einer neuen Wortein-
heit verbinden, kann ihnen der Zusammenhang mit den selbständigen
Wörtern, aus denen sie ursprünglich bestehen, nach Laut wie Begriff
abhanden kommen; oder es kann auch ein Wort in einem Kompo-
situm fortdauern, das für sich allein außer Gebrauch gekommen ist.
Auf diese Weise ist die Entwicklung der Wortzusammensetzung all-
gemein dahin gerichtet, daß sich die zuerst loser verbundenen und
in ihrer isolierten Bedeutung noch leicht erkennbaren Bestandteile
des Kompositums immer fester vereinigen, bis sie schließlich zu einer
Worteinheit zusammengeflossen sind, die unmittelbar überhaupt
nicht mehr als Kompositum erkennbar, sondern erst auf Grund der
Sprachgeschichte als ein solches nachzuweisen ist. Dieser Prozeß
kann sich aber an den verschiedenen Wortzusammensetzungen einer
Sprache in sehr verschiedener Zeit vollziehen, da er von mancherlei
inneren wie äußeren Bedingungen abhängt: von der Einheitlichkeit
der durch die Verbindung entstehenden Vorstellung einerseits, und
von den Vorgängen des Laut- und Begriffswandels sowie von der
Erhaltung und der relativen Geläufigkeit der einzelnen Wortbestand-
teile anderseits.
^) Rücksichtlich des Lautwandels vgl. Kap. IV, über den Bedeutungs-
wandel Kap. VIII.
Laut- und Bedeutungsänderungen der Komposita. 665
Überblickt man die ganze Reihe der Veränderungen, die auf
solche Weise das einzelne Kompositum von seiner ersten Bildung
als Niederschlag aus dem Satze an bis zum völligen Untergang seiner
Bestandteile in der neuen Worteinheit erfahren kann, so lassen sich
dieselben nach der Wirkung der angedeuteten Bedingungen in die
drei Stadien der Agglutination, der partiellen Verschmelzung
und der totalen Verschmelzung unterscheiden. Natürlich sind
aber diese Stadien nicht scharf geschieden, sondern es finden sich
die mannigfachsten Übergänge zwischen ihnen. Auch läßt sich nur
in verhältnismäßig seltenen Fällen an einem einzelnen Kompositum
der Entwicklungsprozeß durch alle drei Stadien gleichmäßig ver-
folgen. Dagegen treten uns unter den gleichzeitig vorhandenen Kom-
positis einer Sprache Repräsentanten einer jeden Gruppe imd ihrer
Übergangsstufen entgegen^).
So begegnen uns in jenen zahlreichen Kompositis der deutschen
Sprache, die sich fortwährend neu bilden, um dem Bedürfnis irgend
neuer Begriffsverbindungen zu genügen, ausgeprägte Beispiele der
Agglutination. Man denke an Wörter wie Landrecht, Eisenhahn,
Dampfschiff, Tauf stein, Regierungsrat, Reichsgericht usw. Partielle
Verschmelzungen können sodann in verschiedenen Formen vor-
kommen. In der einfachsten Weise gehen sie aus den Agglutinationen
dann hervor, wenn der Lautbestand eines Wortes ungeändert bleibt.
^) Vielleicht ist es nicht unnütz, ausdrückhch zu bemerken, daß man bei
der „Agglutination der Wortvorstellungen" in dem hier gebrauchten Sinn eben-
sowenig an die sogenannten „agglutinativen Sprachen", wie bei der partiellen
oder totalen Verschmelzung an den Verschmelzungsbegriff der Herbartschen
Psychologie zu denken hat. Was das erstere betrifft, so wird das hier obwaltende
Verhältnis wohl zureichend durch die Bemerkung gekennzeichnet, daß die Wörter
einer „agglutinativen Sprache" überhaupt nicht Agglutinationen von Vorstel-
lungen, sondern ursprüngliche Wortbildungen, also aller Wahrscheinlichkeit
nach früh eingetretene Wortverschmelzungen sind, gerade so wie die Wortformen
unserer Flexionssprachen, von denen sie sich überhaupt nur durch ihren in vielen
Fällen kompüzierten Aufbau unterscheiden. Der Herbartsche Verschmelzungs-
begriff endlich gehört ganz und gar der transzendenten VorsteUungsmechanik
seiner Psychologie an und hat daher mit dem hier angewandten empirischen
Begriff keine andern Berührungen als diejenigen, die aus der allgemeinen Bedeutung
des Wortes „Verschmelzung" hervorgehen.
666 Die Wortbildung.
die Bedeutung des Kompositums sich aber derart gegenüber derjenigen
seiner Bestandteile geändert hat,- daß die begriff lieben Inhalte der
letzteren durch den völlig abweichenden Begriff des Kompositums
verdunkelt werden, so daß dieses nun als ein einheitliches Wort auf-
gefaßt wird, bei dem die Vorstellungen der Teile nur noch schwach,
nicht anders als dies bei zufälligen Lautähnlichkeiten der Wörter
geschieht, anklingen. Dahin gehören Beispiele wie fahrlässig urspr.
= ,, fahren lassend", ausfielen eigtl. ,,den Anfang im Spiel machen",
Vorgang „was vorher geht" u. a. Mehr noch nähert sich die Verbin-
dung einer totalen Verschmelzung, wenn der eine Bestandteil des
Kompositums entweder vollständig aus der lebenden Sprache ver-
schwunden oder lautlich derart verändert ist, daß dadurch seine selb-
ständige Bedeutung verdunkelt wurde: so in Wörtern wie Vormund,
wo das Wort ,,Mund" im Sinne von Schutz außer Gebrauch gekommen,
Junker = mhd. ,,jungherre", wo das Teilwort ,,Herr" zu einem suffix-
ähnlichen Bestandteil geworden ist, ferner Herzog aus „her" = Heer
und ,,zoge" (zusammenhängend mit ,, ziehen") = Führer, ein Wort,
dessen beide Teile sich in ihrer Bedeutung verdunkelt haben. Am
häufigsten kommen endlich solche partielle Verschmelzungen in der
Form vor, daß ein einzelner Bestandteil seine Selbständigkeit ganz
verliert und zu einem Ableitungssuffix oder -präfix wird. Hier fließen
dann einstige Wortzusammensetzung und spätere Wortableitung
oft ununterscheidbar zusammen, und indem die Anwendung solcher
Elemente zu Ableitungen weitere Kreise zieht, wird deren ursprüng-
liche Bedeutung vollends verflüchtigt. Dahin gehören im Deutschen
unsere zahlreichen Wortbildungen auf -heit, ahd. hell, agot. haidus
,,Art und Weise", wie Schönheit, Klugheit, Tapferkeit usw., ferner
die Präfixbildungen mit ver- = vor-, er- = ur-, ge- = ga- (laut- und
begriffsverwandt mit dem lat. con-), he- = umhe- (um), also Wörter
wie verstehen, erblicken, Gemahl, Begriff u. a. In solchen partiellen
Verschmelzungen und sie begleitenden Prozessen der Laut- und Be-
deutungsänderung bereitet sich die letzte Stufe dieser Verbindungen,
die totale Verschmelzung, vor. Bei ihr angelangt ist das Wort ein
vollkommen einheitliches geworden und von einem Simplex nicht
mehr zu unterscheiden. Dahin gehören Wörter wie Heirat, einst ein
Kompositum aus ahd. Mwa, hiivo (Gatte, Gattin) und rat, welches
Theorie der Wortzusammensetzung und Wortverschmelzung. 667
letztere in einem an den Begriff des „Zusammenlesens'*, ,,Verbindens"
erinnernden Sinne sich noch in Wörtern wie „Vorrat", ,, Hausrat"
erhalten hat; ferner Leichnam mhd. Uchname ahd. lihhinamo aus
Hilihin= Körper und hämo = Gewand (noch erhalten in „Hemd");
Gesinde von mhd. sint Weg, also urspr. im Sinne von ,, Gefolgschaft"
(eines Fürsten), und viele andrere.
4. Theorie der Wortzusammensetzung und Wortverschmelzung.
Die allgemeinen Vorgänge der Wortkomposition, wie sie unab-
hängig von besonderen, in der überlieferten Form der Sprache be-
gründeten Bedingungen überall wiederkehren, lassen sich haupt-
sächlich aus zwei Reihen von Tatsachen erschließen: erstens aus den
konstanten Bedingungen, die jede Bildung eines zusammengesetzten
Wortes begleiten; und zweitens aus den psychischen Eigenschaften,
die ein Kompositum im Verhältnis zu seinen Bestandteilen darbietet.
In ersterer Beziehung bildet die Entstehung der Wortzusammen-
setzung nur einen Spezialfall der Wortbildung überhaupt. Von den
Neuschöpfungen unterscheidet sich aber die Wortzusammens^^tzung
in dem Bedeutungsinhalt der Wortkomplikation dadurch, daß
zunächst nicht ein einziger Begriff, sondern mindestens eine Zwei-
heit von Begriffen in den Blickpunkt des Bewußtseins tritt; hin-
sichtlich der Lautbestandteile darin, daß nicht ein neues Laut-
zeichen den Eindruck des Objekts wiedergibt, sondern daß der vor-
handene Wortvorrat hierzu verwendet wird. Dabei können dann
die verbundenen Begriffe entweder beide dem Gegenstande selbst
entstammen: so bei dem ersten und zweiten Typus der Wortbildung;
oder einer derselben kann durch die Assoziation mit einer fernliegen-
den, aber irgendwie ähnlichen Vorstellimg erzeugt werden: so bei
dem dritten der oben (S. 656) unterschiedenen Typen. Unter ihnen
steht der erste Typus vermöge seines unmittelbaren Ursprungs aus
einer syntaktischen Verbindung dem einfachen Wort näher als der
zweite und dritte. Dies kommt in der Struktur des Kompositums
darin zum Ausdruck, daß der eine Wortbestandteil eine für den Be-
griff relativ gleichgültige Neben vor Stellung sein kann, die dann erst
668 Die Wortbildung.
durch ihre Assoziation mit weiteren begleitenden Vorstellungen den
Begriff determiniert. In solchen Fällen gehört dann das eine der do-
minierenden Merkmale eigentlich immer einer solchen stillschweigend
assoziierten Vorstellung an, und der betreffende Bestandteil des Kom-
positums hat nur die Funktion einer Assoziationshilfe zur Erweckung
dieser Vorstellung. So ist in dem fr^nz. pourhoire die Vorstellung
des Geldstücks, die zu den Begriffsbestandteilen gehört, in der
Präposition four durch eine nur andeutend vorhandene Hin-
weisung auf die Handlung des Gebens ersetzt. In dem Ausdruck
„un vive-la-joie" für einen immer vergnügten Menschen genügt
der Artikel, um der ganzen Phrase die Beziehung auf eine Person
mitzuteilen usw.^).
Dem gegenüber bieten nun die Verbindungen des zweiten Typus
insofern die einfachsten Verhältnisse dar, als sich hier die bei der Bil-
dung des zusammengesetzten Wortes stattfindenden Assoziationen
ganz innerhalb der unmittelbar gegebenen Wahrnehmungs-
inhalte bewegen. Sieht jemand einen Strauch, der nach einem vor-
herrschenden Merkmal bereits den Namen Dorn führt, und bemerkt
er außerdem, daß dieser Strauch weiße Blüten trägt, so verbinden
sich durch eine direkte Wahrnehmimgsassoziation die beiden Merk-
male in dem neuen Namen Weißdorn, Oder sieht jemand einen Baum
und erkennt dessen Früchte als Äpfel, so bildet er unmittelbar aus
beiden Teilvorstellungen den Namen Äpfelbaum, usw. Dagegen ge-
stalten sich bei dem dritten Typus die Verhältnisse wiederum durch
hinzutretende assoziative Bedingungen verwickelter. Nur schließen
sich hier die Hilfsassoziationen nicht erst an einen gegebenen Bestand-
teil des Kompositums an, sondern sie gehen der Bildung des letzteren
voraus. Ist die Hilfsassoziation im ersten Fall eine Berührungsasso-
ziation, durch welche Vorstellungen geweckt werden, die innerhalb
der gleichen Gesamtvorstellung liegen, selbst aber unbenannt bleiben,
so ist sie im zweiten Fall eine im allgemeinen aus gleichen und sich
berührenden Elementen zusammengesetzte Erinnerungsassoziation.
^) Darmesteter verzeichnet zahlreiche diesem ähnliche Beispiele, vgl.
besonders p. 206, 210.
Theorie der Wortzusammensetzung und Wortverschmelzung. 669
Indem durch diese ein in eine ganz andere Gesamtvorstellung gehören-
der Begriff reproduziert wird, geht nun der letztere zusammen mit
der ihm zugehörenden Lautvorstellung in das Kompositum ein. So
kann ein Weib durch sein Aussehen oder durch sein Betragen an männ-
liche Eigenschaften erinnern, und die Wirkung dieser Assoziation
kann in dem Wort Mannweib ihren Ausdruck finden. Eine Mutter,
die ihre Kinder mißhandelt, erinnert an die dem Raben nachgesagte
Vernachlässigung seiner Jungen, und es entsteht durch die Asso-
ziation des gegenwärtigen Eindrucks mit jenem Erinnerungsbilde das
Wort Rabenmutter usw.^). Auf diese Weise können sich durch die
Erinnenmgsassoziationen Komposita bilden, die ganz verschieden-
artige Gegenstände, falls sie eben nur in irgendeinem Merkmal eine
Beziehung bieten, in Verbindung bringen. Hier ist daher speziell
für die Komposita der Ort des Ursprungs sogenannter ,, Metaphern
der Sprache", bei denen man sich freilich stets gegenwärtig halten
muß, daß sie unmittelbar in der Regel nicht als Metaphern, sondern
als wirkliche Ähnlichkeiten empfunden werden 2). Abgesehen von den
abweichenden Assoziationsmotiven, die so die drei typischen Formen
der Wortzusammensetzung auszeichnen, gestaltet sich nun aber jener
weitere Verlauf der Vorgänge, bei dem die gebildete Verbindung die
einzelnen, oben unterschiedenen Stufen der Agglutination, der
partiellen und der totalen Verschmelzung durchläuft, im wesent-
lichen in übereinstimmender Weise. Wenden wir die früher (S. 569 f.)
gebrauchten symbolischen Bezeichnungen für die Wortkomplika-
tionen im allgemeinen auch auf den speziellen Fall der Wortkom-
position an, so besteht von vornherein die Eigentümlichkeit dieser
in der Wirksamkeit zweier Vorstellungen v^ und V2, die entweder
von vornherein zu einer einzigen Vorstellung C gehören (2, Typus),
oder durch angeregte Hilfsassoziationen in verschiedener Weise in
dieselbe aufgenommen werden (1. und 3. Typus). Mit v^^ und Vg kom-
plizieren sich sodann die ihnen assoziierten Wortgebilde n^ und Wg^
daher die gesamte Wortkomplikation des Kompositums, wenn wir
' ) Vgl. dazu auch die oben S. 657 angeführten Beispiele.
2) Vgl. in Kap. VIII, Nr. V die allgemeinen Bemerkungen über die Meta»
phem.
670 I>ie Wortbildung.
von den Elementen m und o, die hier keine wesentliche Kolle
spielen, absehen, ausgedrückt werden kann durch die symbolische
Formel :
Der Inhalt dieser Komplikation erfährt dann stetige Veränderungen,
indem zunächst v^ v^ gegenüber C zurücktritt, während sich gleich-
zeitig n-^ Wg fester verbinden, so daß die Komplexion (n^ ^2) C übrig-
bleibt. Davon führt ein letzter Schritt zu einer Verschmelzung der
Wortgebilde n^ und n^ selbst, so daß der Endpunkt der ganzen Ent-
wicklung in einem Produkt n C besteht, d. h. in einem Wort, das ganz
und gar den psychologischen Charakter eines Simplex angenommen
hat. Nennen wir diesen Vorgang, um die Rolle anzudeuten, die bei
ihm der die Einzel vor Stellungen in ein Ganzes zusammenfassenden
Apperzeption zukommt, eine apperzeptive Synthese, so bezeichnen
demnach Assoziation, Agglutination und Verschmelzung
die drei Stufen dieses apperzeptiven Prozesses. Dabei macht sich
nun zugleich eine formale Gesetzmäßigkeit geltend, durch die sich
dieser Vorgang wesentlich von den bloßen Assoziations Vorgängen
unterscheidet. Diese Gesetzmäßigkeit besteht darin, daß jedes Pro-
dukt der Agglutination als ein zweigliedriges Ganzes erscheint.
Dies bewährt sich auch noch da, wo drei- oder mehrgliedrige Kompo-
sita gebildet werden, indem sich solche stets als zweigliedrige Ver-
bindungen höherer Stufe darstellen, in denen zuerst zwei Teile a und b
aneinander gebunden sind, dann an diese zusammen ein drittes Glied
c oder eine Verbindung zweier weiterer Glieder cd usw., also nach
dem Schema:
(a h c) oder {ab cd) oder {ab cd) usw.
So in Verbindungen wie Großvater stuhl, Reichsgerichtssenatspräsi-
dent, Stadtverordnetensitzungssaal u. dgl. Es gibt schlechthin keine
Wortzusammensetzung, die sich diesem formalen Gesetz apperzep-
tiver Vorstellungsverbindungen entzieht. Selbst die komplizierten
und künstlichen Wortgebilde der chemischen Terminologie ordnen
Verhältnis der ursprünglichen zu den sekundären Wortbildungen. 671
sich ihm unter. Mag man sich auch im Räume die chemischen Mole-
küle nach drei Dimensionen zusammengefügt vorstellen, die Sprache
und das Denken, die in der einen Dimension der Zeit die Teile des
Wortes verbinden, können eine solche Zusammenfügung immer nur
in einer einzigen fortschreitenden Richtung erzeugen; und das Wort
kann nur dadurch ein Ganzes bilden, daß jeder Teil mit jedem andern
verbunden ist, was eben durch jene Gliederung erreicht wird. Hierin
zeigt aber das Kompositum die nämliche Abhängigkeit von den Be-
dingungen der zusammenhängenden Rede und infolgedessen die näm-
liche Gesetzmäßigkeit der Struktur, die wir als bestimmend für den
Aufbau des Satzes kennen lernen werden. Es bewährt so in seiner
synthetischen Struktur die nämliche Beziehung zum Ganzen des
Satzes, die sich in seiner analytischen Entstehungsweise aus diesem
zu erkennen gab.
VII. Ursprüngliche Wortbildung.
1. Verhältnis der ursprünglichen zu den sekundären
Wortbildungen.
Ursprüngliche Wortbildung und Neuschöpfung von Wörtern
sind wesentlich verschiedene und in mancher Beziehung einander
entgegengesetzte Vorgänge. Die Neuschöpfung gehört der Gegenwart
oder einer nahen Vergangenheit an; die ursprüngliche Wortbildung
ist der erste überhaupt auffindbare Anfang des Wortes in den unserer
Beobachtung gegebenen Sprachen und Sprachfamilien. Die Neu-
bildung steht also unter dem Einfluß einer bereits ausgebildeten
Sprache, und es sind überdies stets besondere, wegen ihrer eigenartigen
Beschaffenheit in der Regel leicht nachweisbare Motive, die zu ihr
geführt haben. Die Bedingungen der ursprünglichen Wortbildungen
sind uns dagegen vollkommen dunkel: ob diese aus den Trümmern
anderer vor ihr dagewesener Sprachformen, ob sie ganz oder teilweise
aus der Mischung verschiedener Idiome entstanden, ob sie völlige
Neuschöpfungen waren, alles dies ist uns unbekannt. Und auch wenn
wir mehr von der Urgeschichte der Wörter wüßten, würde es schwer-
lich ausreichen, um darauf begründete Vermutungen über die psychi-
672 Die Wortbildung.
sehen Motive jener im Anfang der Sprachgeschichte liegenden Vor-
gänge zu gründen. Dies ist zugleich der Punkt, in welchem sich die
ursprüngliche Wortbildung von der Wortbildung durch Zusammen-
setzung unterscheidet. Da diese überall in der Komposition bereits
vorhandener Wörter besteht, so sind im allgemeinen in den sprach-
lichen Erscheinungen selbst schon zureichende Hinweise auf ihre
psychischen Bedingungen enthalten; und da überdies die Bildung
solcher Formen durchweg einer späteren Zeit angehört, so sind auch
die äußeren kulturhistorischen Momente, die sie veranlaßt haben,
leichter zu ergründen. Nur die Lautwiederholungen machen davon
eine Ausnahme, insofern sie vielfach schon dem Gebiet der ursprüng-
lichen Wortbildung zugehören. Hier ist aber wiederum der Vorgang
selbst so offenkundig, und auch die Motive, die bei ihm wirksam sein
können, sind von so einfacher und allgemeingültiger Art, daß dies
eben als ein Fall betrachtet werden kann, wo sich uns das Geheimnis
ursprünglicher Wortbildung infolge der seltenen Einfachheit der
Form wie der Bedingungen des Vorgangs ausnahmsweise deutlich
enthüllt.
In allen andern Fällen scheinen bei der ursprünglichen Wort-
bildung zwei wesentlich verschiedene, bald ineinander eingreifende,
bald getrennt voneinander stattfindende Prozesse beteiligt gewesen
zu sein, die aber beide bereits die Existenz bedeutsamer Lautkomplexe
voraussetzen. Der eine besteht in einer den ältesten Sprachformen
bereits angehörenden Wortzusammensetzung, die in ihrer Bil-
dungsweise im ganzen der noch in der heutigen Sprache vor sich gehen-
den Bildung der Komposita entsprach. Der zweite, wenigstens in
seinen ausgeprägteren Formen auf engere Sprachgebiete beschränkte,
besteht in Klangvariationen eines in bestimmter Bedeutung ge-
brauchten Lautgebildes mit der Wirkung einer entsprechenden Va-
riation der Bedeutung. Diese zweite Form nähert sich in ihrer un-
mittelbaren sinnlichen Bedeutsamkeit einigermaßen der Lautwieder-
holung und den sonstigen onomatopoetischen Bildungen. Hierher
gehören die früher als Beispiele solcher Erscheinungen erwähnten
Klangvariationen des semitischen Verbums, sowie die besonders in
den monosyllabischen Sprachen Ostasiens vorkommenden Abstufungen
der Tonhöhe oder des sogenannten „Tonakzents", die möglicher-
Verhältnis der ursprünglichen zu den sekundären Wortbildungen. 673
weise aus einer weitgehenden, namentlich die sinnmodifizierenden
Elemente der Wörter ergreifenden Lautverschmelzung hervorge-
gangen sind^). Von beiden Formen ist die Wortkomposition jeden-
falls die weitaus allgemeinere; vielleicht ist sie auch die ältere. Doch
über die Vorgänge der ursprünglichen Wortkomposition ist es nur
selten möglich mit zureichender Wahrscheinlichkeit Rechenschaft
zu geben. Mag es auch ziemlich sicher sein, daß Wörter wie Ti&rifiL,
öidcDfÄi dereinst Komposita aus dem Verbalstamm und einem Pro-
nominalelement (.u gewesen sind, und daß dieses Element mit den
selbständigen Pronominalformen der ersten Person (.lovy /.loif (.li zu-
sammenhängt, so führt doch selbst in Sprachen von so großem, eine
ursprünglichere Stufe der Wortbildung verratendem Formenreich-
tum wie dem Sanskrit und dem Griechischen der Versuch einer ana-
logen Analyse der sonstigen Wortformen auf das Gebiet unsicherer
Hypothesen, die natürlich nicht zu Grundlagen psychologischer Fol-
gerungen genommen werden dürfen. Daß in Wörtern wie Ivoi^u,
hooai^i, XvöoifXL usw. der an gleicher Stelle wiederkehrende ^-Laut
eine konstante Beziehung zu dem in diesen Formen ruhenden Begriff
des Wunsches hat, ist ja zweifellos. Doch welchen Ursprung dieses
i haben mag, das wird vielleicht niemals mehr mit Sicherheit zu er-
mitteln sein. Jedenfalls aber geht diese Frage als solche nicht die
Psychologie an, sondern die Sprachgeschichte; und erst wenn die letz-
tere zu einem hinreichend sicheren Resultat gelangt wäre, würde es
auch an der Zeit sein, die psychischen Prozesse zu untersuchen, die
bei der Bildung eines solchen Wortes wirksam waren.
Hier trennen sich demnach, wie überall, wo es sich um Probleme
der Urgeschichte handelt, die psychologischen und die historischen
Aufgaben; und nahezu verhält es sich so, daß die Probleme des Psy-
chologen da beginnen, wo die des Historikers aufhören. Diese Lage
würde vielleicht schlimmer sein, als sie wirklich ist, wenn nicht die
Psychologie ihrerseits, im Gegensatz zu den teilweise nach entgegen-
gesetzter Richtung gehenden Tendenzen der Sprachhistoriker, auch
^) L. Ewald, Grammatik der T'ai oder Siamesischen Sprache, 1881, S. 20 ff.
Vgl. oben Kap. IV, S. 492, und hinsichtlich der Kllang Variationen des Semitischen
Kap. III, S. 361 ff.
Wundt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. ^3
674 Die Wortbildung.
hier den Gesichtspunkt zur Geltung bringen müßte, daß die Grund-
eigenschaften der menschlichen Natur die gleichen geblieben sind,
solange der Mensch überhaupt im sprachfähigen Zustand existiert hat.
Sowenig die Gesetze der Blutbildung und Blutbewegung im heu-
tigen menschlichen Körper andere sind als in dem des Urmenschen,
gerade so wenig werden auch die allgemeinen Gesetze der Bildung
der Vorstellungen, der Gefühle und Willens Vorgänge andere geworden
sein, seit solche psychische Inhalte überhaupt durch Sprachlaute oder
Gebärden geäußert werden. Nicht als ob in der Beschaffenheit der
Vorgänge und in der Art sie zu äußern nicht gewaltige Umwandlungen
vor sich gegangen wären. Aber diese müssen sich doch innerhalb der
Grenzen bewegen, in denen dies die allgemeinen Eigenschaften des
Menschen und die Entwicklung, die das menschliche Bewußtsein
tatsächlich erkennen läßt, psychologisch verständlich machen. Darum
ist nie zu vergessen, daß es neben der unhistorischen Anschauung
der Aufklärimgszeit, die den Menschen für absolut unveränderlich
hielt, noch eine zweite, entgegengesetzte Art unhistorischer Auf-
fassung gibt: die der Romantik, die gerade der Sprachwissenschaft
aus der Zeit ihres Ursprungs vielfach noch anhaftet, — die Meinung
nämlich, daß der Mensch irgend einmal seine Natur gänzlich ge-
ändert habe.
2. Wortbildungen bei der Entstehung neuer Sprachen
aus vorangegangenen.
Ist es auch unmöglich, über die inneren und äußeren geschicht-
lichen Bedingungen Rechenschaft zu geben, unter denen die ursprüng-
liche Wortbildung dereinst in den großen Sprachfamilien, die wir
heute unterscheiden, und in denen sich ein gemeinsamer Wortschatz
nachweisen läßt, erfolgt ist, so gibt es doch ein Gebiet von Erschei-
nungen, das gewissermaßen ein mittleres genannt werden kann
zwischen jenen beiden Vorgängen, die entgegengesetzten Perioden
der Sprachgeschichte angehören: zwischen der ursprünglichen Wort-
bildung und der gegenwärtigen Neuschöpfung. Das sind die Wort-
bildungen, die in die Periode der Entstehung einer solchen Sprache
fallen, die selbst aus einer vorangegangenen die Grundlagen ihres
Wortbildungen bei Entstehung neuer Sprachen aus vorangegangenen. 675
Wortschatzes übernommen hat. Die schlagendsten Beispiele bieten
hier die heutigen romanischenn Sprachen. Ihre Wörter stehen
zwischen Neubildungen xmd Umwandlungen in gewissem Sinne mitten -
inne. Sprachgeschichtlich betrachtet sind sie freilich ebensogut laut-
gesetzliche Änderungen lateinischer oder teilweise auch germanischer
Wörter und Wortverbindungen, wie die neuhochdeutschen Wörter,
wo sie nicht neu entstanden oder entlehnt wurden, aus althochdeutschen
hervorgegangen sind. Aber der Prozeß hat bei den romanischen
Sprachen dadurch sein besonderes Gepräge empfangen, daß sich die
neue Sprache aus Volksdialekten entwickelte, die durch Sprach-
mischungen starke Veränderungen erfuhren und sich längere Zeit
ohne literarische Überlief erimg fortbildeten. Nun ist es durchaus
nicht unmöglich, daß, wo in älterer Zeit Trennungen verwandter
Sprachen stattfanden, z. B. der verschiedenen Zweige der indoger-
manischen Familie, ähnliche Bedingungen obgewaltet haben; ja es
bleibt nicht ausgeschlossen, daß das Indogermanische selbst dereinst
in einer noch graueren Vorzeit auf dieselbe Weise auf der Grundlage
irgendwelcher vorher vorhandener Sprachen entstanden sei. Doch
von der Nachweisung eines solchen Vorgangs oder gar von der Ab-
leitung einzelner sprachlicher Erscheinungen aus ihm kann niemals
die Rede sein, weil jene Annahme einer indogermanischen Ursprache
selbst die Grenze bezeichnet, bis zu der äußerstenfalls die prähistorische
Forschung mit ihren Rückschlüssen vordringen kann.
Dagegen besteht der Wortschatz der romanischen Sprachen,
soweit er sich auf das Lateinische zurückführen läßt, teils aus direkten
Derivaten lateinischer Wörter, die sich mehr oder minder stark in
ihrem Lautbestand verändert haben, teils aus Wörtern, welche sich
etjnnologisch als ehemalige Komposita erweisen, die zu vollkommen
einheitlichen Bildungen verschmolzen sind. Lautveränderung und
Wortverschmelzung haben also hier zusammengewirkt, um das neue
Wort von seinem ursprünglichen Zustande so weit zu entfernen, daß
es wie ein vollkommen einfaches und ursprüngliches erscheint. So in
Wörtern wie franz. pröne von präconium, benir von henedicere, coucher
von collocare, ruser von recusare, precher von prädicare, chacun von
quisque unus, ferner in zahlreichen Partikeln wie tot von tot cito, ici
von ecöe hie, dans von de intus, sehn von suh longum, ainsi von ckeque
43*
676 Die Wortbildung.
sie, dont von de unde, comme von quomodo, or von ad hora usw.^). Nicht
selten kann so die mit dem Lautwandel zusammenwirkende Laut-
verstümmelung eine Grenze erreichen, bei der der Ursprung des Wortes
unsicher wird. Namentlich gilt dies in solchen Fällen, wo die Wort-
kompositionen offenbar syntaktische Verbindungen waren, die sich
allmählich durch häufiges Zusammentreffen befestigten und dadurch
in der Volkssprache zu unlösbaren Einheiten verschmolzen. Dahin
gehören die aus zwei selbständigen Wörtern zusammengewachsenen
Partikeln, gelegentlich aber auch Wörter, die in der modernen Sprache
zu Substantiven geworden sind, wie das italien. noja, franz. ennui,
aus in odio, das seine charakteristische Bedeutung wohl erst in dem
Zusammenhang der Phrase ,,€st mihi in odio^^ im Sinne von taedet me
„es verdrießt mich" gewonnen hat 2). In andern Fällen liegt jedoch
der Wortbildung ein bereits vorhandenes Wort zugrunde, das in seiner
Ursprungsform noch deutlich aus mehreren Wörtern zusammen-
gesetzt, in seinem Endprodukt aber zu einer völlig unzerlegbaren
Worteinheit verschmolzen ist. Die beiden Formen der Entstehung
zusammengesetzter Wörter, die aus den syntaktischen Gliedern eines
Satzes, und die aus der Assoziation mit außerhalb liegenden Vor-
stellungen, welche uns bei der Neubildung der Komposita begegnet
sind, kehren also auch hier wieder {S. 656). Wo immer aber solche
Wörter, die der Zusammensetzung ihren Ursprimg verdanken, in der
Sprache zu einheitlichen Laut- und Begriffsgebilden verschmelzen,
überall folgt die Wortkomposition denselben Gesetzen, die wir heute
noch in der Sprache beobachten. Die Glieder, die das Kompositum bilden,
lösen infolge der festeren Verbindung, in die sie treten, aus dem Ganzen
des Satzes sich ab, um dann in der gleichen Verbindung in andere syn-
taktische Fügungen einzugehen; und sie schließen sich daher nach
dem nämlichen Gesetze dualer Gliederung aneinander, das die syn-
taktische Verbindung der Teile des Satzes selber beherrscht.
Hiernach liegt nicht die geringste Wahrscheinlichkeit vor an-
zunehmen, daß in irgendeiner Periode der Sprache die Wortbildung
^) Vgl. Diez, Etymolog. Wörterb. der roman. Sprachen.* Darmesteter,
Formation des mots composi^s. Meyer- Lübke, Grammatik der romanischen
Sprachen, I, S. 620 ff. und an andern Stellen.
>) Diez a. a. 0. S. 224.
Wortbildungen bei Entstehung neuer Sprachen aus vorangegangenen. 677
auf wesentlich anderen Wegen erfolgt sei, als auf denen wir sie noch
heute vor sich gehen sehen. Dieser Wege gibt es nach allem Voran-
gegangenen hauptsächlich zwei: die Neuschöpfung von Wörtern
und die Verbindung vorhandener Wörter zu neuen, immer fester
verschmelzenden Worteinheiten. Die Neuschöpfung wird durch
die Eigenart des Eindrucks in ihrer Abweichung vom Vorhandenen
und zugleich durch Assoziationen mit bereits bestehenden Wort-
gebilden im Sinne der Angleichung an dieselben bestimmt. Bei der
Wortkomposition ist die Verbindung der Bestandteile im Satze
und die unter dem Einfluß der oben geschilderten Assoziations- und
Apperzeptionsbedingungen immer fester werdende, durch den gleich-
zeitigen Laut- und Bedeutungswandel begünstigte Verschmelzung
maßgebend. Beide Vorgänge setzen aber bereits vorhandene Wort-
bildungen voraus. Auch die prähistorische Untersuchung, die aus
den Zeugnissen der überlieferten Sprache ihre Rückschlüsse macht,
kann daher immer nur bis zu Anfangszuständen zurückgehen, für die
jene Voraussetzung gilt. Die Frage, wie etwa der Mensch sich ver-
halten mochte, als es noch keine Vorbilder gab, nach denen er Neu-
schöpfungen vornehmen, und keine Wortgebilde, aus denen er neue
Verbindungen zusammenfügen konnte, gehört deshalb ebensowenig
in die Sprachgeschichte, wie der erste Ursprung des Menschen in die
allgemeine Geschichte der Menschheit. Die psychologische Betrach-
tung der Sprache kann allerdings dieser Frage nicht ganz aus dem
Wege gehen. Aber auch sie wird dieselbe erst am Schluß aller der
Untersuchungen erheben können, die ihre eigentliche Aufgabe aus-
machen, und die sich selbstverständlich immer nur auf Tatsachen
beziehen, die andere, ihnen im allgemeinen gleichartige Tatsachen
zu ihrer Voraussetzung haben ^).
^) Auf das Ursprungsproblem wird demnach das Schlußkapitel dieses
Werkes über die Sprache (Kap. IX) zurückkommen.
Register.
(Bearbeitet von H. Lindau.)
Abhängigkeit, logische und anschau-
liche (zeitliche und räumliche) A.
und Syntax der Gebärdensprache
226, 229.
Abstrakte Begriffe sinnlich veranschau-
licht 165, a. Vorstellungen (Piderit)
94.
Adaptation 443, 507, 580 (vgl. An-
passung).
Adjektivum 2191, 230, 359, 423, 450,
554, 567, 636.
Adverbium 207, 220 f., 325, 554, 653.
Affekte 43, 45, 51, 531, 56 fl, 81,
124 fl, 164, 1771, 188, 227, 2431,
2541, 259 fl, 360, 530, 541, 631,
646, Zukunftsa. 64, A. von ge-
mischtem und kontrastierendem
Charakter 102 f., sthenische und
asthenische, exzitierende imd de-
primierende A.e 631, 106, 320,
Gefühlsverlauf 57 ff., A. und Ge-
fühl 661, 108, 2801, A. und Vor-
stellung 98, 131 fl, 2321, 244,
A. und Wille 651, 138, A. und
Akzent 2781, 281, 520, Lautsteige-
rung 278, A.betonung 230, 322 fl,
637, A.entladung 271.
Agglutination 598 f., 601, 609 f., 665,
6691
Agraphie 544, 552, 572 f.
Aktivum 365, 609.
Akzent (vgl. Betonung) 273 f., 356,
530, Tona. 273, 672, Tona. und
dynamischer A. 273, 277, Tonmo-
dulation und dyn. A. 279 fl, 4931,
516 fl, 534, A. und Affekt 2781,
281, 520, exspiratorischer A. 2781,
A. im Vokativ 322, interjektionaler
A. 324 f., A. auf der Stammsilbe
522, A. Wechsel 517 fl, A. und Wie-
derholung 634 f., A. im Kompo-
situm 654.
Alexie 544, 563, 572.
Amnesie 542 fl, 547, 550 fl, 5631,
568, A. und Wortkategorien 5541,
557, 5661, 573.
Analogiebildung als Angleichung durch
femewirkende Assoziation 442, A.
durch stoffliche und formale Aus-
gleichungen 4421, A. und Laut-
gesetze 376 fl, A. und Wortent-
lehnung 469, A. und Assoziation
382, 4421, 4541, A. und Onoma-
tomixie 453.
Angleichung 434, 437 f., 539, asso-
ziative A. 401, grammatische 442 fl,
463 fl, 483, innere 442 fl, 483,
äußere 442, 445 fl, 483, 621, be-
griffliche 4421, 448 fl, 4631, 466,
470, 483, durch Ähnlichkeit 442,
4481, 468, durch Kontrast 442,
449 1, 468, Wortassimilationen 470 fl,
589 ff., A. als simultane Assoziation
457, assoziative A. 437, progressive
Lauta. 3961, 427.
Anlagen (vgl. Dispositionen) 111, 124 fl,
Register
679
151, 241, 305, 307, 432, 591, funk-
tionelle A. 85, 87, 461, 485, geistige
17, physische 561, erworbene und
ererbte 561, nationale 278 f., latente
486.
Anpassung (vgl. Adaptation) 74, 90,
408, 410, 437, A. an den Fluß der
Rede 428, A. an die Artikulations-
bedingungen 532.
Antizipation (vgl. Vorausnahme) 395 ff.,
403, 424, 426 f., 586.
Antlitzmuskehi (vgl. Mimik) 82 ff.,
102, 108 ff.
Aphäresis 424.
Aphasie 391, anmestische 542 ff., 547,
550 ff., 563 ff., 567, 572, atak-
tische 542 ff., 572 f., motorische 551,
572.
Apokope 424.
Apperzeption 37 f., 223, 229, 308 ff.,
371, 397, 430, 458, 477, 553, 561,
577 f., 589, 636, 645, 647 ff., A.s-
zentrum 69, 72 f., 74, 90, A.sbe-
dingungen 197 f., Entwicklung 309 f.,
apperzeptive Verbindung 309 f., un-
vollkommene A. des Kindes 315,
willkürlicher Wechsel 577, A. und
Fixation 577, Umfang 582, 584,
simultane A. 583 ff., sukzessive 584,
Begriffsa. 585 f., Worta. 593 f., A.
einer Gesamtvorstellung 6141, Be-
ziehung zur Phantasietätigkeit 615,
apperzeptive Synthese bei der Wort-
verschmelzung und Wortzusammen-
setzung 670 ff.
Arbeit und Rhythmus 282 f., A.sge-
sänge 282.
Artikulation 264 ff., 270, 272 ff., 283,
286, 290 f., 293, 304 ff., 386 ff., 615,
individuelle A. 23, 486, Substitu-
tionen 314 f., Nachahmung 315 ff.,
328, rasche A. 428, A. des Kindes
(vgl. Kündersprache) 351, 402, A.
bei offenem Munde 492, Wortanfang
und -Schluß 503 f.
Artikulationsbasis 532 f.
Artikulationsbewegungen 273, 279, 309,
339, 342 ff., 364, 371, 407, 409,
419 f., 4251, 435, 438, 4991, 543,
562, 571, 585.
Artikulationsempfindungen 1501, 282,
316, 345, 366, 409, 438, 473, 543,
546, 562, 564, 569.
Artikulationsfehler 3871, 390 fl, 415.
Artikulationsgeschwindigkeit vgl.
Tempo.
Artikulationsorgane vgl. Sprachor-
gane.
Artikulationsspielraum 387 ff., 530 f.
Arzneimittel, volkstümliche Namen
4781
Aspiration 503 fl, 5101, 526.
Assimilation, psychische 267, 393,
4061, 420, 4251, 442 fl, 457 fl,
496, 515, 591 fl, 619, 6211, 6281,
physiologische 393, 4061, 420, 4251,
regressive 3171, 414, 420 fl, 426 fl,
432 fl, 499, 508, 531, 629, pro-
gressive 3171, 414, 420 fl, 426 fl,
432 fl, 440, 499, 508, vokalische
(Vokalharmonie) 432 fl, 437, 4961,
518.
Assoziation 371, 53, 78 fl, 93, 112,
124 fl, 130, 133, 138, 140, 149 fl,
161, 178, 182 fl, 197, 204, 2091,
2121, 234 fl, 245, 256, 260, 299 fl,
308 fl, 3171, 330, 333, 335, 340,
3441, 349, 358, 361, 365 fl, 370,
375, 379, 382 fl, 388, 397 fl, 409,
428, 4331, 436, 439 fl, 4441, 447,
451 fl, 506, 514, 522, 529, 532 fl,
537, 552, 555 fl, 561 fl, 583, 585,
588, 5931, 596, 612 fl, 619 fl,
645, 650, 655 fl, zweckmäßig asso-
ziierte Gewohnheiten 86 f f., asso-
ziative Femewirkungen der Laute
s. Femewirkungen, Spielraum der
A.en 403, Kontaktwirkungen 415 f f.,
simultane A. 434, 592, psychische
539, wiederholte 559, A. und Assi-
milation 5921, direkte und in-
direkte A. 590, Gleichheitsa. 308,
434, 593, 615, Berührungsa. 302,
308, 455, 593, Lauta. 379, 384,
680
Register
402 ff., 415, 418, 436, 469 ff., 474 f.,
479, 514, 522, 532 f., 539, 607,
641, 645, 657, Bedeutungs- und
Lauta. 435 f., Begriff sa. 379, 384,
404, 418, 451 f., 469 ff., 474 ff.,
514, 607.
Assoziationsgesetze 568.
Assoziationsmomente, innere und
äußere 443.
Assoziationspsychologie 455, 458.
Ästhetik 93, 95, 133 f., 156, ästhe-
tische Motive 425, Hypothesen
523 ff.
Atmung 56, Innervationen 56, 66, 69,
A.smuskeln 102.
Attraktion 426, 433 f., 440, 446 f.,
452, 460 ff., 471, 620.
Attribut 219, 221, 225, 2291, 653,
656.
Aufmerksamkeit 48, 58, 84, 128,
1771, 181, 192, 234, 255, 2901,
308, 309, 328, 365, 458, 471, 553,
575, 5771, 5931, 6131, Ablen-
kung 394, 525, schweifende A.
402, zufällige Richtung 583, A.
und Augenbewegungen 578, 580,
587 f., Wanderung 578, Wirkungen
594.
Ausdrucksbewegungen 43 fl, 140 f.,
144, 231 fl, 241, 243, 365, 396,
541, 615, sensorische Rückwirkung
77 ff., A. und Affekt, psychophy-
sisch ein Vorgang 96, psychophy-
sisches Prinzip 97 f., A. imd Laut-
bewegungen 258 ff., 369 f., Ermäßi-
gung der Intensität 90, 646.
Ausgleichung, formale 443, A. der
Störungen 5601, 566.
Aushilfe, fimktionelle 574.
Auslassung von Lauten 394 f., 414,
4241 (vgl. Lautvermengung).
Ausnahme 529, 535, grammatische
A.n 332.
Aussage 216.
Ausschaltung von Abweichungen 414,
A. von Lauten 424 f.
Aussprache (vgl. Artikulation) 484.
Ausstoßung 427 f.
Automatische Bewegungen 44 ff., 77,
82, 88 f., a. Verbindungen 369, 382.
Bahnung 88.
Bedeutung 94, 144, 153, 585, Viel-
deutigkeit 208 fl, 218, B. und Bild
235, B. und Laut 312, 330 fl, 3361,
357, 470, 485, 6191, 622, korre-
spondierende Variationen der B.
359 fl, B. und Tonfall 278, Gegen-
satz der B. 442, Ähnlichkeit 448 f.
Bedeutungsassoziation und Lautasso-
ziation 436.
Bedeutungswandel 21, 28, 37 f., 163,
169, 191, 200 fl, 208 fl, 231, 244,
360, 384, 416, 491, 625, 661, 664,
677.
Bedingungen, Komplikation 353,
413, 485, 487, Häufung und Durch-
kreuzung 487, Variation 461 (vgl.
Experiment).
Begehrungslaute 343.
Begriff 181, 184, 186, 2341, 5411,
komplexe B.e 29, B. und Laut
3681 (vgl. Bedeutung), B. und
Wort 4691, 596, Versinnlichungen
217, Angleichung 442 f., 448 fl,
4631, 466, 468, 470, 4821, Neben-
wirkungen 475 ff., Kategorien beim
Vergessen 5541, 557, 5661, 573.
Begriffsapperzeption 585 f.
Begriffsassoziation 379, 384, 404, 418,
4511, 469 fl, 474 fl, 514, 607.
Begriffsbestandteile des Wortes 569.
Begriffsbeziehungen 200 fl, 206 fl,
216.
Begriffsbildung 298 f., 302.
Begriffselemente 608, B. und Laut-
elemente 464 ff.
Begriffsgefühle 563, 566 f., 571, 573.
Begriffsgegensatz 466.
Begriffsmodifikationen 463.
Begriffsverschiebung 642.
Begriffsverstärkung 640.
Register
681
Begriffsverwandtschaft 443, Anglei-
chung durch B. 448 f., 466, 468.
Begriffsvorstellung 569 f., B. und Wort
585.
Begriffszentrum 545.
Beharrungsvermögen der Wörter 554 ff.,
557, 566 f., 573.
Bejahung 188 f., 190.
Bekanntheitsgefühl 564, 567.
Benennung 283, 288 f., 297 f., 302,
308, 312, 479.
Bequemlichkeit 376 ff., 425, 426, 525 f.,
608.
Berufskreise und Sprache 618, 623.
Beruhigung 50, 53, 58 f., 62 ff., 105,
107, 118, 129.
Berührungsassoziation 302, 308, 455,
593.
Beschleunigung der Artikulations-
bewegungen 432, 435, 499 f., 504.
Betonung, (vgl. Akzent) 422, 484,
497 ff., 526, 639, 642, 646, relative
Dauer und relativer Grad 389, ex-
spiratorische B. 279, Wechsel 494,
517 ff., 532, 534 f., B. und Laut
607, B. der Nachbarlaute 514, 517,
dynamische B. und Tonmodulation
277 ff., 493 f., 516 ff., 534.
Bevölkerungslehre 6.
Bewegungsempfindungen 270 f., 308,
409, 438, 543, 569, 571.
Bewußtsein, Schwelle 459 f., individu-
elles B. 574, Vorerlebnisse 593,
Gesamtrichtungen 594, (conscien-
tia) 625 f., B. und Übung, allmäh-
liche Verdunkelung der Willenshand-
lungen 88 f.
Bewußtseinsenge 429 ff. (vgl. Apper-
zeption).
Bewußtseinsvorgänge, Analyse 35,
B. imd Dispositionen 591 ff.
Beziehungselemente 471, 483, 594 ff.,
602, 608, 620 f., B. und Grundele-
mente 462 ff., 469 f.
Beziehungs- imd Begriffsworte 596.
Bilderschrift 143, 161, 177, 179, 187,
199, 238, 240 ff., 584.
Büdung 25, 390, 408.
Biographie 3, 36.
Bitter 112 ff., 116 ff., 120, 124, 127,
130.
Brief 247 f., 251.
Brocasche Windung 541 f., 546.
Buchstaben 580, 588 f., 609.
Buchstabenbezeichnung 506, 511.
Buchstabenkombinationen 581 f., 586.
Buchstabieren 585, 589.
Charakterologie 2, 8, 495.
Darstellende Gebärden 164, 170 ff.,
2311, 238, d. Zeichen 242, 246.
Dauer (vgl. Durativ) 642, D. der Be-
tonung 389.
Demonstration vgl. Hinweisung, de-
monstrative Wurzeln 597 f.
Demonstrativlaut 294 f.
Demonstrativpronomen 350, 355 ff.
Demonstrativzeichen 170.
Demut 87, 91, Demütigimg 158.
Denken (vgl. Apperzeption) 30, 125,
459, D. und Sprechen 427, 429,
433, 472 f., 498, 562, 614 f. (vgl.
Begriff, Artikulation usw.).
Dentallaute 492.
Depression 63 f., 70, 106, 108, 119,
122, 124, 130, 132, 136, 320, 365.
Determination durch Gebärden (Hilfs-
gebärden) 201 ff.
Deutebewegung 137.
Deutewurzeln 597.
Deutlichkeit 577, 581 f., 594.
Dialekt 144, 146, 153, 162 f., 335,
382, 393, 407, 409, 446, 448, 450,
473, 490, 494, 511, 517, 522, 533,
619, 623, 631, 675, D. imd Schrift-
spräche 399, D.mischung 482.
Diminutivbildungen 400.
Disposition 459 f., 588, 590 ff.
Dissimilation der Laute 318, 414,
420, 434 ff., 451, 506, 508, 515,
628, eigentliche D. (Lautwechsel
682
Register
ohne Lautverlust) 435 ff., voka-
lische und konsonantische D. 437,
regressive und progressive D. 420 f.,
423 f., Hauchd. 423.
Dual 648 f.
Durativ 640, 651 f.
Dynamische Betonung und Tonmodu-
lation 278 ff., 493 f., 516 ff., 534.
Dyslalien 391, 393 (vgl. Artikulations-
fehler).
Echosprache 287, 293, 298, 307, 312,
316, 328, 339, 563, 572.
Eigennamen 554, 566.
Eigenschaft (vgl. Adjektivum) 201,
205, 219, 229 f., 565, 567, 604, 636 ff.,
661, 662, Lautabstufung 359 f., Stei-
gerung 643, 645.
Einschaltung von Lauten (vgl. Dis-
similation, Lautvermengimg) 394 f.,
402 f., 414, 420, 424, 427, 437,
E. von Wörtern 556, assoziative
E. 558.
Einzellaute 529.
Einzelvorstellung 592 ff., 619 ff.
Elision 421, 424, 435 ff., 501 ff., 514,
516, 518, 523.
Ellipse 659 f.
Empfindung 48, 70, 73, 79, 81, 83,
124 ff., 290 f., 341, 364, 562, 564,
583, Laute, und Artikulationse.
316, E.selemente 588, 590, E. und
Dispositionen 591 f., E. xmd Reiz
592.
Entfernung, Lautabstufung zur Be-
zeichnung der E. 350, 355, 358.
Entlehnung s. Wortentlehnung.
Entschlüsse 124.
Entwicklung, individuelle 126, gene-
relle 47, 126, geistige 20, 491, so-
ziale 485, E. der Sprache 533 f., E.s-
gesetze 4.
Epos 276 f.
Erfindung 17, 19, 143, 148, 161, 191,
199 f., 234, 2411, 253, 256 f., 290 ff.,
298 ff., 303, 310, 313, 339 f., 369,
379, 618, 622 f., 641.
Erinnerung 58 f., 145, 147, 236, 456,
586, 612, 614 f. (vgl. Vergessen).
Erinnerungsassoziation 379, 657 f.,
668.
Erinnerungsbild 79, 94, 126, 131,
140, 178, 238, 243 ff., 456, 547 ff.,
565, 571, 573, 583.
Erinnerungsnamen 658.
Erkennen, Zeit 580 f., 588 f.
Erkennungsgefühle 59.
Erkennungsnamen 658.
Erregung 50 f., 53 f., 58 ff., 70 ff.,
80, 84, 104 ff., 118, 121, 124, 128 ff.,
132, 136, 2691, 286, 343, 365,
Zimahme 81 fl, tonische E. 73 fl,
99, 101, 119, E. und hohe Vokal-
klänge 320.
Erregungsgefühle 5931
Erregimgsinnervation 99.
Erregungssymptome 99 f f., 104 ff.
Erstaunen 103.
Erwartung 541, 57 fl, 64, 1061, 121,
1281, 286.
Erzählung 166, 2051, 323, 637.
Essen, Bezeichnung für E. 294 fl,
3461
Ethnologie 2, 4, 6, 8, 35, 223.
Etymologie 135, 162 fl, 377, 436,
475, 605, Volkse. 4701, 474 fl
Experiment 341, 52, 4031, 4291,
443, 461, 503, 505, 513, 519, 531,
561, 577, 580, 587, 591, 610, Übung
580.
Explosivlaute 492, 503 ff., 513.
Expositionszeit des Sehobjekts 579 fl,
587.
Exspirationsdruck 507.
Exzitierende Affekte (vgl. Erregung)
631, 106, 108, 119.
Falltachistoskop 578 f.
Farben, Gefühlseigenschaften 53, 271.
Femewirkimg, assoziative 415, 418,
Register
683
4361, 439, 441 ff., 468 f., 481 ff.,
487, 494, 505, 508, 514, 529 ff.,
534 f., 539, 656.
Fixation und Apperzeption 577.
Fleck, blinder 576.
Flektierender Wurzeltypus 599.
Flexion 659, F.ssprachen 600 f., 610.
Form- und Stoffelemente der Sprache
601 f.
Formgesetze 454.
Formlose und Formsprachen 601 ff.
Formwurzeln 597 ff.
Frage 278,
Fremdwort 399, 409 f., 423 f., 437,
471, 473, 482, 618 f., 622, 624, 640.
Furcht 64, 121, 269, 360.
Gaunersprache 157 f., 161, 251 f., 617 ff.
Gebärden, hinweisende 135 ff., nach-
bildende 164 ff., symbolische 164 ff.,
zeichnende 157 ff., mitbezeichnende
164 ff., plastische 170 ff.
Gebärdenfolge 216 ff.
Gebärdensprache 43 f., 143 ff., 383,
Syntax 216 ff., 603, G. und Laut-
sprache 135, 143 f.
Gebet 158, 276, 321.
Gedankenflucht 556.
Gefäßinnervation 56, 66, 69, 81, 104,
106.
Gefühle 18, 26, 37 f., 43, 48, 50 ff.,
81, 86, 89 f., 92, 97 f., 107 ff., 123 ff.,
177, 303, 312 f., 337, 341 ff., 541,
647, 651, Symptomatik 56, G.,
Affekt und Willenshandlung 66, G.
und Wille (Hughes) 97, Zentral-
organ 67 ff., 73, Intensität imd
Qualität 98, beschleunigter Verlauf
100, Hemmung 101, G. und Affekt
255, 281, Differenzierung der G.
261, Ausdrucksmittel 498, Beweg-
lichkeit 534, Begriff sg. 563, 566 f.,
571, 573, G. und Aufmerksamkeit
593 f., G. und Vorstellung 60, 98,
348 ff., 366 f., 573 (vgl. Gefühls-
ton), G. und Wort 596.
Gefühlsassoziationen 349, 366, 370 f.
Gefühlsbetonung 356, 366, 641 (vgl.
Gefühlston).
Gefühlsfärbung der Wörter 330, 567,
573.
Gefühlslage 530, Indifferenzpunkt 50 f.,
61 f., 75, 99, G. und Rede 273, G.
und dunkler Bewußtes 430.
Gefühlslaute 259 ff., 289, 304, 307,
315, 319 f., 326 f., 343.
Gefühlston 362, 364 f., 570, 639 ff.,
G. und Affekt 259, 261, G. und
Vorstellung und Laut 348 ff.
Gefühlswert der Farben 53, 271, der
Laute 336, der Vokale 330, der
Worte 567, 573.
Gegensatz (vgl. Kontrast) 87 f., 90 f.,
99, 104 ff., 108, 359 f., 362, 365,
442 f., 447, 449 f., G. der Gefühls-
symptome 70 f., qualitativer G. 420,
G. der Begriffe 466.
Gegenstandsbegriffe 201, 203 f., 219,
221, 228 ff., 324, 565, 604 f., 636,
649, 660 ff.
Geheimschrift 252.
Geheimsprache 157 f., 167, 253, 619.
Gehirn 67 ff., 561, G.läsionen 561,
G. Physiologie 547, 558.
Gehör 575, 586.
Gehörsempfindungen 473, 553.
Geist imd Seele 7 ff.
Geisteskranke, Sprache 393, 395, 398,
402, 404, 556.
Geisteswissenschaften 7 f., 26, 27 ff.,
33.
Gemeinempfindungen 85.
Gemeinschaft 533 f., G. und Indivi-
duum 4, 11, 15 ff., 19 ff., 385, 389,
G. der Sprache 382, 389, 404 f.,
411, 415, 453, 473, 485, 535, G.
und individuelle Sprachschöpfung
627.
Gemination (vgl. Verdoppelung) 628,
G. eines Konsonanten im Vokativ
323.
Gemütsbewegungen vgl. Affekte.
Genitiv 221, 450 f.
684
Register
Geräuscheharakter des Sprachlauts
389.
Geräuschlaute 504, 506.
Geruch, Reaktionen 115, G.sempfin-
dungen 126 ff.
Gesamtbegriff 478.
Gesamtvorstellung 324, 585, 611 ff.,
654 ff.
Gesang, Vögel 260 f., Mensch 272,
274 ff., 390, G. und Sprache 281 f.
Geschichte (vgl. Sprachgeschichte) 3,
5 f., 11 ff., 19 f., 33, 36 f., 39, 241,
geschichtliche Veränderiuigen und
Experiment 505.
Geschichtsphilosophie 5 f., 18, 32 ff.
Geschmack 441, 111 ff., 124 ff., 291,
304.
Gesetze, soziologische 21, empirische
3741
Gesetzmäßigkeit 3, 252, 332 f., 3731,
516, 5351, 559.
Gesichtsmuskehi 1021, 109 ff., 240.
Gesichtssinn 1271, 1501, 564, 575,
586.
Gewissen (conscientia) 625 ff.
Gewohnheit 38, 88, 118, 147, 383,
395, 4021 491, 569, 5801, zweck-
mäßig assoziierte G.en 86 ff.
Gewöhnung 24, 386, 530.
Gleichheitsassoziation 308, 434, 593,
615.
Gleichklang 476, 478.
Grammatik 18, 331, 374, 376, 380,
383, 417, 424, 461, 529, 596, 602,
604 ff., 632, G. und Gebärdensprache
171, 2001, 216 fl, Angleichungen
442 fl, 463 fl
Greif bewegungen 136 f., 231, 242, Hin-
weisimg und G. 137, 231.
Greiforgane 238.
Grundbegriff und Wurzel 597 f.
Grund elemente und Beziehungsele-
mente 462 fl, 469 f., 483, 594 fl,
602, 608, 619 ff.
Grundsprache, hypothetische 603 ff.
Gruß 1891
Gutturallaute 489.
Handeln, willkürliches 16, 77, 261
zwecktätiges 426, 433.
Handlung vgl. Verbum.
Handwerksburschensprache 618.
Harmonie 269, 274 f.
Harpokrates 179.
Hauchdissimilation 423.
Hauptvorstellung 476, 479.
Hautempfindungen 92 f.
Hemmung 70 ff., 80, 101, 569, durch
den Willen 396 f., 402, 403, 562,
H. der Artikulationsbewegungen 504,
der Assimilationen 583, der Wort-
vorstellungen beim Schreiben 586.
Hemmungserscheinimgen 89.
Hemmungsgefühle 60, 63 f.
Hemmungsinnervation 83, 99 ff.
Hemmungsnerven 72.
Hemmungssymptome 98 ff., 104 ff., 130.
Herzbewegungen 56, 99 f.
Herzinnervationen 66, 69, 71, 731,
81, 103 fl
Hieroglyphen 179, 245 f.
Hilfsgebärden und Hauptgebärden
201 fl, 226.
Hilfszeitwörter 610.
Hmweisende Gebärden 135, 137, 141,
1571, 164, 166 fl, 184, 207, 215,
220, 224, 2311, 2351, 2381, 2411,
245 f., 249, 369, h. Lautgebärden
348, 364 fl, 369, 371, Greifbewe-
gungen und h. G. 1361, 231.
Hiphil 362 f., 365.
Hirnzellen 547 f., 555.
Historismus 333, 336, 674.
Hitpael 362 ff.
Hochmut 119 f., 129, 194.
Hoffnung 64, 87, 121, 124.
Höflichkeit 156.
Hophal 362 ff., 365.
Hören 584 f., H. imd Sprechen 409,
473, sukzessives H. 585.
Hörstummheit 316.
Hörzentrum 543, 545.
Hypothesen 9, 81 fl, 429 fl, 522 fl,
538, 607, teleologische H. 367 ff.,
I 523 ff.
Register
685
Illusionen 458, 590.
Imitative Bewegungen s. Nachah-
mung.
Imperativ 324.
Indianer 179, 187, 196 ff., 223 ff.,
247 ff., 492.^
Indifferenzpunkt der Gefühlslage 50 f.,
61 f., 75, 99.
Individualismus 19 f., 24, 31 f., 486.
Individualpsychologie 1 f., 18 ff., 25 f.,
31 ff., 458.
Individuum und Gemeinschaft 4, 11,
15 ff., 18 ff., 385, 389, indiv. Ein-
flüsse 453 f., indiv. Abweichungen
387 f., 486, indiv. Sprachschöpfung
und Gemeinschaft 627.
Induktion der Laute s. Lautinduk-
tion.
Innervation der Ausdrucks bewegun -
gen 66 ff., klonische und tonische
L 99.
Innervationsänderungen 52, 56, 66.
Innervationsstörungen 391 f.
Instinktäußerungen 138.
Instrumente, musikalische 283, Stim-
mung 498.
Intellektualismus 18 ff., 28 f., 30, 64.
Intensivbildungen 646.
Intensivum 638 ff., 650.
Interferenzerscheinungen 89, 334, 452,
457.
Interjektionen 343, 567, 573, primäre
319 ff., 326 f., 365, sekundäre 319,
321 f.
Isolierender Wurzeltypus 598.
Iterativ 362 f., 365, 609, 638, 640,
650 (vgl. Wiederholung).
Judendeutsch 406.
Jurisprudenz 5, Sprache 624.
Juxtaposition 659.
Kampfgesang 283.
Kasus 653, K. formen, Reduktion 444,
461.
Kategorien, logische 200 f., 204 f.,
207 ff., 218, grammatikalische 217 ff.,
gramm. K. imd Gedächtnis 554 f.,
557, 566 f., 573.
Kauderwelsch 617.
Kausalität, psychische 375, Umkehrung
der K. 523.
Kausativum 362 ff., 609, 639.
Kehllaute 489.
Kehltonschreiber 507.
Kennzinken 161, 251.
Kind, Greif bewegimgen 136 f., 231,
242, Ausdrucksbewegungen 138,
165 f., 242, Artikulation 272 f., Re-
zitation 274, Sprachlaute 283 ff.,
Lautbildimg 283 ff., Sprechenlemen
393, Lesenlemen 589 f.
Kindersprache 31, 288 ff., 397, 399 ff.,
406 ff., 427, 432 f., 437, 473, 492,
505, 513, 605, 629 ff., 633, pro-
gressive Lautangleichungen 397,
falsche Wortbildung 399 f.
Klangassoziation 629.
Klangfarbe 359, 504, 506 f., 530, K.
der Nachbarlaute 514, 518, K. und
Tempo 518 f.
Klangqualität 493.
Klangvariation 672 f.
lOangverbindung 349.
KoUektiva 635 ff.
Kollektivbegriff 648 f., K. und Laut-
wiederholung 642 f.
Kombinatorischer Lautwandel 416, 426,
432, 502 f., 529.
Komparativ 451, 460, 637.
Komplikation 615, 647 ff., K. der
Bedingungen 353, 413, 487, 536,
K. der Ursachen 403, 417, 485,
519, K. der Angleichungsvor-
gänge 450, K. der Vorstellungen
564.
Komposita 451, 652 ff.
Konjugationsformen 362 f.
Konjunktionen 222, 228, 554, 567.
Kontaktwirkungen der Laute 315 ff.,
332, 415 ff., 425 ff., 441, 451, 453 f.,
457, 486 f., 494, 499 f., 502, 505,
686
Register
506, 508, 514 ff., 526, 528, 530 ff.,
535 f., 539, 640, 656, differenzie-
rende Wirkung 532 f.
Kontamination 394, 557.
Kontinuativ 640.
Kontraktion 424 f., 427 f., 523.
Kontrast (vgl. Gegensatz) 87 f., 90 f.,
359 f., 362 f., 466, 468, K.bedeu-
tungen 159, Angleichung durch K.
442, Grenzfall der Verwandtschaft
449, K.wirkung und Selbstverstär-
kung 519.
Konvention 160 f., 182, 191, 199, 204,
208, 222, 234, 238, 369, 498.
Koordination 653 f.
Körper und Seele 49, 541.
Kultlied 282.
Kulttanz 276, 282 f.
Kultur 7, 36 f., 39, 245, 251 f., 276,
432 f., 439, 482, 485, 488, 490 ff.,
569, 623 f., Ermäßigung der Affekte
89, höhere und niedrigere K. 494 f.,
K. imd Artikulationsgeschwindig-
keit 497, 533, ältere und jüngere,
höhere und niedrigere K. 500.
Kultureinflüsse 517, 534 f.
Kultur- und Sprachentwicklung 499.
Kulturfortschritt, Maß 500.
Kulturgeschichte 3, 241 f.
Kultursprachen 494 f., 499, 531.
Kulturvölker 13 f., 535, 623, Inter-
jektionen 320, Vater- imd Mutter-
namen 327 ff., Lautsteigerung 354 f.
Kultus 276 f., 282 f.
Kunst 24, 36 f., 39, 183, 187, 238 ff.,
2421, 245, 275 ff., 281, 623, nach-
ahmende Künste 164, künstliche
Gebärdensprache 161, 162, 199,
205.
Kunstgesang 266, 272 f.
Kunstgeschichte 3, 241.
Kunstwerk 20.
Kuß 190.
Lachen 91, 114 ff., 127, 138.
Lähmimg 45, 75, 83, 102.
Lakonismus 401.
Langsamkeit der Zeichenfolge 226,
228 ff., L. der Rede 498 f.
Lärminstrumente 283.
Lässigkeit 525.
Latein, Literjektionen 320, L. und
romanische Sprachen 495.
Laut, Gefühlston 348 ff., 354, L. und
Bedeutung 312, 329 ff., 336 f., 356,
383 f., 470, 485, 619 f., 622, kor-
respondierende Variationen 359 ff.,
Divergenz 522, Verbindung der L.e
und Tempo 502 f., L. und Betontmg
607.
Lautabschwächungen 414.
Lautabstufung und Entfernung 350,
355, 358.
Lautanalogien 607 (vgl. Analogie).
Lautänderungen, Verschlußlaute 502 ff.,
L. imd Akzentwechsel 517 ff., sin-
gulare L. 528 ff.
Lautangleichung (vgl. Angleichung)
406 ff., 476, 478, 532, Hauptfor-
men 462 ff., progressive L. 397, 427,
physiologische Einflüsse 467 f.
Lautartikulation (vgl. Artikulation)
264 ff., 272 ff., 293, 585 f., 615.
Lautassimilation vgl. Assimilation.
Lautassoziation 379, 384, 402 ff., 415,
418, 435 f., 469 ff., 474 ff., 479,
514, 522, 532 f., 539, 607, 640 f.,
645, 657.
Lautattraktion s. Attraktion.
Lautauslassung s. Lautvermengung
(b).
Lautausstoßung 427 f.
Lautbestandteile des Wortes 569,
571 f.
Lautbild 329 ff., 338 f., 344 f., 347,
354, 409.
Lautbildung, Stadien beim Kinde
283 ff., individuelle Abweichungen
387 f., Störungen 390 ff.
Lautdauer, zeitl. Variation 389, 413.
Lautdifferenzierung 353, konsonan-
tische L. 521.
Lautdissimilation vgl. Dissimilation.
Register
687
Lauteinschaltung vgl. Lautvermen-
gung (a).
Lautelemente 463 ff., 608 (vgl. Ele-
mente).
Lauterschwenmgen 391 ff.
Lautgebärden 343 ff., 361 ff., 369,
370 f., 383, 619, 621, 633, 645, nach-
bildende L. 3471, 364, 366 f., 369,
370 f., hinweisende 347 f., 364 ff., 369,
370 f.
Lautgesetze, Ausnahmslosigkeit 334,
373 ff., 412, 416 f., 454, 514, 522,
529, 537, 539.
Lautinduktion 457, 463 f., 534, 656,
regressive und progressive Assimi-
lation 419 ff., regressive imd pro-
gressive Dissimilation 419 ff., L.
und verwandte Änderungen der
Lautgestalt (Weglassung, Zufti-
gung, Umstellung, Zusammen -
Ziehung) 424 f., psychophysische Theo-
rie 431 ff.
Lautintensität s. Lautstärke.
Lautmetaphem 344, 383 f., 619, na-
türliche 348 ff., künstliche 348 f.
Lautnachahmung 288, 307 f., 328, 363 f.,
633, 645, L.en in der Sprache 329 ff.,
L. und Lautmetapher 348 f., 354,
L. von Geräuschen 360.
Lautschrift 584.
Lautschwächungen 500 ff., 503 f., 514,
516.
Lautschwankungen 506.
Ijaut spräche und Gebärdensprache 135,
143 f.
Lautstärke, Variationen 389 f., 413.
Lautsteigerung und Entfernung 350,
355, 358.
Lautsymbole 344, 370.
Lautsystem 307, 313, Änderungen
491, L. und grammatisches System
494 f.
Lautumgebung 530.
Lautumstellung s. Laut vermengung (c).
Laut- und Begriffsumwandlung (vgl.
Lautwandel, Bedeutungswandel)
481.
Laut Variationen 634, L. zur Bezeich-
nung von Modifikationen 350 f.,
L. und Aneinanderreihung der
Laute 504.
Lautverdoppelung 627 ff. (vgl. Laut-
wiederholung).
Lautverlust und Lautwechsel 434.
Lautvermehrung und Lautwechsel 434.
Lautvermengung 388, 391, 393 ff.,
414, 427, 453, 555, 457, a) Ein-
schaltungen 394 f., 402 f., 414, 420,
424, 427, 437, b) Auslassungen
394 f., 414, 424 f., c) Umstellungen
394 ff., 4241
Lautverschärfung 503.
Lautverschiebung 496, 509 fl, 523,
erste gemeingermanische 509 ff. ,
515, 5201, 524, 527, zweite hoch-
deutsche 509, 5111, 525, Bantu-
sprachen 515 fl, 521.
Lautverschmelzimg 673.
Lautverstärkung 639 f., (vgl. Laut-
steigerung).
Lautverstümmelung 314 ff., 437, 676.
Lautvertauschungen, Kindersprache
314 fl
Lautvertretungen 3921, 406, 496.
Lautvorstellung 569, 585.
Lautwandel 21 fl, 346, 356 f., 372 fl,
594, 664, 6761, L. und Laut-
wechsel 385 fl, 413, Grundformen
des generellen L.s 412 ff. , regulärer
L. 412 fl, 484 fl, 539 f., singulärer
4131, 416 fl, 487, 530 fl, selbstän-
diger und abhängiger (kombina-
torischer) L. 4161, 426, 432, 5021,
505, 529, L. und Bedeutungswandel,
Wechselwirkung 416.
Lautwechsel 385 fl, 413, 469, 486,
509, L., Lautverlust und Lautver-
mehrung 434.
Lautwiederholung 2861, 311, 313, 319,
422 fl, 432, 435, 627 fl, 632 fl,
645, 672.
Lehnwörter 404, 406, 491, 618.
Leiden (Pual) 362, L. und Tätigkeit
360, 365.
688
Register
Lesen 576, 580 ff., L. und Sprechen
562 f., L. und Artikulation 572,
sukzessives L. 577, Gewohnheit
580 ff., buchstabierendes L. 585,
Kiemen 589 f.
Lied 2761, 2811
Linguallaute 492, 503, 505.
Linguistik 331 fl
Linkshändigkeit und Lage der
Sprachzentren 543.
Lippenlaute 492, 503, 505.
Literatur 13, 20, 36, 241, 453, 484, L.-
geschichte 3, 20, 241, L. spräche 494.
Lockrufe 259 fl, 2741
Logische Abhängigkeit 226, 1. Zwecke
228.
Logizismus 18.
Lokalisationshypothesen, Unzulänglich-
keit 549 ff., 562.
Lösung 501, 541, 57, 59 fl, 64, 70,
1071, 117, 118, 1211, 128 fl, 271,
282.
Lust und Unlust 50 fl, 57 fl, 70,
72, 94, 106, 107, 111 fl, 118, 1231,
1271, 130, 243, 260, 2631, 270,
282, 285 fl, 291, 293, 304, 308,
L.äußerungen 285.
Magyarisch, Volksharmonie 497.
Märchen 13, 637.
Mechanismus 24, 380, 425 f., 429,
4541, 468, 475, 504 fl, 5321
Medizm 624.
Medizinmann 240.
Mehrheitsbegriffe und Reduplikation
6421
Melodie 268, 272, 277, 279 ff.
Messingisch 399.
Metaphern 941, 1241, 127, 3441,
348 fl, 3651, 369, 394, 669.
Metathesis 424.
Metrum, poetisches 501.
Mienenspiel (vgl. Mimik) 75, 155, 343.
Mimik 691, 75 fl, 84, 91 fl, 1021,
108 fl, 136, 1771, 1811, 192 fl,
209, 217, 220, 240, 243 f., 258, 288,
304, 344 fl, 488, mimische Reflexe
112.
Mischbevölkerung 495.
Mischsprachen 404 fl, 494 f., 523 (vgl.
Sprachmischimg ).
Mischung und Berührung der Völker
496, M. der Sprachen s. Sprach-
mischung.
Mitbewegungen 44 fl, 77, 138, 14Ö,
243, 316, 343, 402, 559, 573, M.
und Antwort 254 ff.
Mitbezeichnende Gebärden 164, 171,
178 fl, 1841, 207, 209, 233.
Miterregungen 80.
Mitgefühl 138.
Mitübung 440, 467, 559, 573.
Modulation vgl. Tonmodulation.
Motive, Wandel 18, Vervielfältigung
45 f., Wahl 59, Streit 90, 255, 375,
Wechsel 255.
Mund 3461, Muskehi 103, 109 fl,
120, 123, Artikulation mit offenem
M.e 383.
Mundbewegungen 111, 127.
Musik 265 fl, 274 fl, Tempo 498,
musikalischer Sinn 525.
Musikinstrumente 283.
Muskelbewegungen 44.
Muskelempfindungen 126.
Mutation 485, 497, 515.
Mutter, Bezeichnung 327 fl, 334, 345,
350 fl
Mythologie 20, 241, 271, 29, 33,
276, 331.
Mythologisches Denken 7, 9, 171,
38, 383.
Mythus 3, 7, 121, 17, 19, 24, 26,
28, 36.
Nachahmung 211, 24, 135, 137 fl,
238, 244, 245, 248, 266, 2731, 277,
2881, 2931, 298, 3071, 310, 312,
344, 383, nachahmende Gebärden
1641, 167, 170, 231 fl, 270, 290,
zeichnende und plastische 170 fl,
183, 209, N. und Antwort 256,
Register
689
N. und deutliches Sehen 313,
nachahmende Sprachbewegungen
315 ff., N. der Lautartikulation 328,
N. des Lautes durch den Laut 337,
willkürliche N. 339 f., 343, nach-
ahmende Lautgebärden 347 f., 364,
366 f., 369, 371.
Nachbildende Gebärden 164 ff., 170 ff.,
185, 187, 196, 208 ff., 215, 232,
235, 2381, 241, 245, 255, 330, 339,
344 f., 347, 364, 3661, 369, 371, 645.
Nachbilder 580.
Nachsprechen 3151, 329, 5501, 553,
5631, 569, 585.
Nachwirkung 427, 4311, 457, N. und
Vorausnahme 3971, 415.
Nahewirkung (vgl. Kontaktwirkung)
419, 441, 451, 656.
Namengebung 339.
Nase 492, Muskehi 109 fl, 114 fl
Nasengruß 190.
Naturgesetze 374, 376, Allgemeingül-
tigkeit 537.
Naturlaute 365, 629, N. der Sprache
319 fl
Naturvölker 12 fl, 152 fl, 252, 314,
320, 406, 484, 631, 6371, Interjek-
tionen 320, Vater- und Mutter-
namen 327 fl, Lautabstufung 3551
Neapolitaner, Gebärdenspr. 154 fl, 162,
1731, 176, 1801, 189, 192 fl, 2041,
208, 211 1, 215, 253.
Nebenordnung 653 f.
Nebenvorstellung 476, 479 f., 6571
Nebenwirkimgen 483, begriffliche N.
475 fl
Nennwurzeln 597.
Nervensystem 81, 881, 105, 5601
Netzhaut 575 fl, 582.
Neubildungen 4461, 6741, 677, volks-
tümliche 615 fl, gelehrte 617, 622 fl
Neutrum, Kindersprache 400.
Niedergeschlagenheit 53, 270.
Niphal 3621
Nomen 610.
Nominalbegriff 639.
Nominalwurzeln 605.
Wtindt, Völkerepychologie. I. 4. Aufl.
Objekt imd Verbum 229 f., objek-
tive Wurzeln 598, obj. Bestimmung
653.
Onomatomixie 391, 394, 399, 453,
555, 557 (vgl. Wortvermengung).
Onomatopöie 2931, 310, 312 f., 329 fl,
333, 337, 340 fl, 3531, 361, 3631,
371, 620 ff., 638, onomatopoetische
Verben 326, Tiemamen 329, 3341,
Verdoppelung 645, 648.
Opferkultus 276.
Optativ 384.
Ortsadverbien 350, 3541
■ri ^.t
Palpel 363 1^
Pantomimische Bewegungen 691, 761,
1021, 133 fl, 155, 181, 198, 211,
221, 2431, 279, 288, 569.
Paralalien s. Lautvermengung.
Parallelismus, psychophysischer 67,
538, 561.
Paralyse 403.
Paraphasie 391, 394, 550 f., 555 fl,
563, 573.
Partikel 567, 573, 596, 675 f.
Pasilalie 213.
Passivum 362 fl, 609.
Perfektum 640, 652.
Personalpronomina 350, 3561, 6091
Personifikation, mythologische 14.
Perzeption 59, 577, 581, 583.
Phantasie 30, 371, 79, 94, 124, 165,
2381, 243, 615.
Philologie 26, 241.
Phonetik 507, 512, 529.
Phonetische Schrift 388 f., ph. Sym-
bole 506.
Phonoautograph 484.
Phrenologie 546.
Physiognomik 93, 118, 123, 130, 306,
488.
Piel 362.
Plastische Gebärden 170 fl, 183, 185,
192, 1961, 198, 204, 2081, 215,
2331, 239.
44
690
Register
Plural 635 f., 644, 649, plurale und
kollektive Mehrheit 643.
Pluralsuffixe 636.
Poesie 276, 283, 499, 501, poetische
Redeweise 444.
Polysynthetischer Wurzeltypus 599,
601.
Postposition und Antizipation 396 f.
Prädikat 2221, 226 ff., 325, prädika-
tive Wurzeln 597 f.
Präfixe 324, 362 ff., 371, 595, 626,
666.
Präpositionen 207, 225, 450, 554,
567, 610, 657, 663.
Präteritum 447.
Progressive Vokalharmonie 497, p.
Lautassimilation 3181, 414, 420 fl,
426 fl, 432 fl, 440, 499, 508.
Pronomen 350, 354 fl, 6091, 673.
Psychologie 17, 20, 27, 29 ff., 240.
541, 549, 561, 673, Individual- und
Völkerps. 1 f., experimentelle Ps.
7, 34 fl, empirische 9, angewandte
25, physiologische 34.
Pual 362 ff.
Radebrechen 399, 409.
Rassen 306, 4891, R.mischung 485,
488 fl
Rechtswissenschaft, Sprache 624.
Rede, Rhythmus 273 fl, 281, 336,
484, 520, Tempo 484, 534, 539,
Maß dafür 500, Beschleunigung
432, 435, Tempo und Betonung
497 f f., Redestrom und Lauf der
Vorstellungen 3961, 426, 429, 433,
435, 534.
Redeteile, Scheidung 6101
Redeweise, poetische 444.
Reduplikation und vollendete Hand-
lung 641, 643.
Reflex 73, 90, 115, 125, 254 (Darwin)
871
Reflexbewegung 44 fl, 77, 129, 341 fl
Reflexerregungen 80.
Reflexion 234, 256, 2901, 298, 300 f.,
312.
Reflexionspsychologie 18, 28 f., 291,
299, 483, 486, 528.
Reflexive Beziehung 362 ff., 609.
Refrain 2821
Regeln und Ausnahmen 332 f., 417.
Regressive Lautassimilation 318 f., 414,
420 fl, 426 fl, 432 fl, 499, 508,
531, 629, r. Vokalharmonie 497.
Regulärer Lautwandel 412 ff., 484 ff.,
5391, Reguläres und Singuläres
412 fl, 487, 530 fl, 5351, 539.
Reiz 574, R. und Gefühle 52, R. und
Empfindungen 592.
Relativpronomen 222.
Religion 7, 171, 20, 24, 26, 361, 39,
495.
Reproduktion 254, 456 f., 472, 573,
575, R. des Wortbildes 585, repro-
duktive Elemente 474, 583, 586,
588 fl, r. Lautwirkimgen 591.
Resonanzlaute 357, 492.
Resultanten, psychische 256, 594.
Rhythmus 55, 58, 73, 242, 243, 262,
263, 2681, 271, 287, 31^, 3481,
406, 491, 526, 650, Rh. und Rede
273 fl, 281, 336, 484, exspirato-
rische Rhythmisierung der Rede
520, R. und Körperbewegungen
2761, R. und Arbeit 2821, indi-
viduelle Eigentümlichkeiten 389.
Rituelle Gebärden .158 f.
Romantik 24, 331 f., 524, 674.
Rotwelsch 617 fl
Ruf formen 259 f., 3231
Sandhi 383.
Sanskrit 596, 605, -610.
Satz 216 fl, 431, S. und Wort 584,
603, 606, 609 fl, 653, Aufbau 671,
S.akzent 2801, S.apperzeption 610,
S.äquivalente 3231, S.betonung 520,
S.bildung 652, S.fügung 314, 373,
458.
Register
691
Schallnachahmung 329 ff., 344, 348,
358, 371.
Schaltlaute 395.
Schmerz 87, 1201, 177, 319, 322,
368, S.ensschrei 260 ff., 272, Inter-
jektion 320.
Schnalzlaute 495.
Schnelligkeit (vgl. Tempo) der Rede
484, 534, 539, Maß dafür 500, zu-
nehmende S. 432, 435, S. der Ar-
tikulation 428, 491, 497 ff., S. der
Aufeinanderfolge 526.
Schrei 262 ff., 270, 275.
Schreibbewegungen 547, 552, 564, 569,
572, 585, S.Störungen 573, S. Zentrum
544 f.. Schreiben 584 ff., S. und
Sprechen 564, 586.
SchreUaute 2831, 286, 293, 304, 314,
319, 352.
Schrift 143, 1451, 2401, 245, 501,
584 fl, phonetische S. 388, S. und
Rede 564, 586.
Schriftbild 547, 569, 5711, 575 f.,
S. und Wort 564.
Schriftblindheit 551, 562 f.
Schriftsprache 335, 399, 471, 502,
S. imd Wortgrenzen 609.
Sehschärfe 5751, normale S. 580,
Sehweite 577, Sehzentrum 576 f.
Siegesgesänge 276.
Silben 609, S.schwund 501, S.stol-
pem 931 f., 396, S. Wiederholung
395.
Singvögel 2601, 265 fl, 274.
Singulärer Lautwandel 4131, 416 fl,
487, 530 f f., Singuläres und Regu-
läres 412 fl, 487, 530 fl, 5351, 539.
Sinn, innerer 5461, 562.
Sinnestäuschungen 458, 461, 5901
Sinneswahmehmung 83, 124, 458, 459 fl
560, 565, 567, 613 fl, 668.
Sinneszentren 90.
Sitte 7, 121, 17 fl, 24, 26, 36 fl, 383,
4911
Slang 617.
Soldatensprache 618.
Sondersprachen 6181
Soziologie 2, 4fl, 211, 36, soziolo-
gische Auslese 414 f., s. Bedingungen
414.
Spannung 50, 541, 57 fl, 70, 84,
119 fl, 128 fl, 269, 286.
Spannungsempfindungen 78, 80.
Spannungsgefühle 106 fl, 117, 1191,
5931
Spiel 283.
Spielraum der Artikulation 387 f f.,
5301, S. der Assoziationen 403.
Spott 156, 1931, 215.
Sprache 3, 7, 121, 18 fl, 36 fl, Ur-
sprung 27, Unterscheidung der
Affekte 64, Vorstufe 260 f., S. und
Gesang 281 f., fremde S. und indi-
viduelles Sprachorgan 388, indi-
viduelle Nuancierung 389, Form-
losigkeit imd Form 601 fl, S. und
Berufskreise 618, 623, S. des Kin-
des s. Kindersprache; S. und Zeit-
dimension 671.
Sprachfehler 415, 453.
Sprachform, innere und äußere 601 ff.
Sprachgemeinschaft 382, 389, 4041,
411, 415, 453, 473, 485, 535.
Sprachgeschichte 334 ff., 494 f., 505,
538, 6711, 674, 677.
Sprachlaut 258 fl, 283 fl, 293, 541,
561, 569, S. und Gegenstand 3091
Sprachmischung 13, 23, 388, 404 fl,
415, 448, 469, 471, 482, 490,
4941, 5161, 521 fl, 528, S. und
Tempo 500.
Sprachorgane 429, 492, 523, 532 ff.,
562, Lautbewegung 342, Benen-
nungen 345 fl, individuelle S. 387 f.,
fehlerhafte Bildung 391.
Sprachphilosophie 27.
Sprachpsychologie 27.
Sprachreflex 342.
Sprachstörungen 541 ff.
Sprachwissenschaft 21, 18, 201, 25,
27, 31 fl, 144, 330 fl, 373 fl, 384,
442, 537, 541, 605, 630, 653, 674.
Sprachwurzeln 596 fl, reale Bedeutmig
603 ff.
44*
692
Register
Sprachzentrum 541 ff., 562.
Sprechmelodie 281, S. und Affekt 520.
Sprechrhythmus 337.
Sprechtakt 371.
Sprechweise, Unterschiede 390, in-
dividuelle S. 411.
Sprichwort 211, 475, 478, 481.
Stammehi 391 f.
Stammsilbe und Akzent 522.
Steigerung 643, 645, S. und Verdoppe-
lung 637 f.
Steigerungsformen der Ortsadverbien
355 f.
Sthenische Affekte 63 f., 105.
Stil und Tempo 498 f., althochdeutscher
S. 499.
Stimmlaute 258 ff., 271 f., 319, Ent-
wicklung der S. und Kindersprache
314.
Stimmungen 60, 119, 1231, 128, 131.
Stoiker 609, 626.
Stoffwurzehi 597 ff.
Störungen, funktionelle 549, Aus-
gleichung 560 f., 566.
Stottern 392, 573.
Studentensprache 618 f., 621.
Subjekt 222 ff.
Subjektbegriff, psychologischer 219.
Subjektive Wurzeln 598.
Substantivum 220 f., 2291, 461, 554,
557, 563, 5661, 636.
Substitution 557 f., 563, 582, 587, 590,
S. richtiger für falsche Symbole 582.
Subsumtion 301.
Suffix 324, 371, 422, 433, 451, 595,
610, 636, 639, 666.
Superlativ 637.
Symbol 93 fl, 143, 153, 156 fl, 163,
182, 204, 230, 242, 246 fl, 345,
natürliche und künstliche S.e 2341,
symbolische Gebärden 165, 170, 179,
182 fl, 209 fl, 234 fl, 250, 3691,
primäre und sekundäre 1861, 2101
Synonyma 208.
Syntax, Gebärdensprache 216 ff., 603.
Synthese, schöpferische 256, apper-
zeptive 670.
Tachistoskop 575 fl, 5861
Tanz 243, 2761, 2811
Tastempfindungen 78, 80, 112, 124,
1261, 271, 5641
Tastorgan 130, 569, T.reize 129 ff.
Tätigkeitsbegriffe 639, Lautabstufung
Tätigkeitsgefühl 256. [359, 361.
Taubstummenbildung imd Gebär-
densprache 1341, 145 fl, 159,
162, 166 fl, 170 fl, 178 fl, 1861,
1961, 199, 201 fl, 206 fl, 214,
216 fl, 227.
Täuschungen, geometrisch - optische
458, 461, 591.
Tausch verkehr 2501
Teleologie 28, teleologische Hypo-
thesen 376 fl, 523 fl, t. Deutung
der Kontaktwirkungen 424 f., t.
Interpretation 454.
Tempo der Rede 494, 497 fl, 521,
534, 539, T. der Musik 498, Be-
schleunigung, Stillstand und retro-
grade Bewegung 500.
Tiere, Ausdrucksbewegungen 231,
Stimmlaute 258 fl, 319.
Tierlaute, Nachahmung 339.
Tiemamen, onomatopoetische 329, 334 f.
Tierzeichnung 244 f.
Tonabstufungen 493, T.akzent 672,
T.bewegung der Rede 484, T.er-
höhung 646; T.erhöhung der ak-
zentuierten Silbe 519.
Tonfall 278, 336, 491, 530, indivi-
duelle Eigentümlichkeiten 389,
T.höhe 269, 359, 506, 519 f., 530,
qualitative Variation 389 f., 413,
T.melodie 371, T.modulation 264 fl
287, 305, 322, 356, 4931, 516 fl,
534, T.Verlängerung 646, T. Wechsel
333, T.Wiederholung 268 f.
Trieb 16 fl, 37, 48, 86, 132, 2321,
239, 241, 2431, 257, 259, 2611,
282, 3121, 340, 349, 365, 3761,
380, 383, 5251, 6151
Triebbewegungen 44fl, 77, 114, 129,
139, 141, 342 fl, T.handlungen 50,
59, 90, 2541, 343.
Register
693
Übung 46, 47 f., 88 f., 118, 123, 173,
305, 309, 3171, 382, 392, 397, 399 ff.,
402 f., 409 f., 438 ff., 4671, 472, 477,
488, 530, 5321, 5581, 5671, 570 fl,
581, 5851, 589, 6101, 650.
Umstellung der Laute 394 fl, 4241
(vgl. Lautvermengung).
Unabhängiger Lautwandel 416 f., 426,
432, 505, 529.
Universalsprache 144, 157, 208, 310.
Urgeschichte 3, 333, 337.
Ursprache 144, 1631, 332, 415, 603 fl,
Urwörter 331 1, 606.
Vater, Bezeichnung 327 ff., 334, 345,
350 fl
Verbum 217, 219 fl, 227 fl, 3241,
461, 554, 557, 563, 567, 6041,
6091, 619, 6411, V. und Ver-
doppelung 638 ff.
Verdoppelung 311, 312, 329, 422,
627 f 1
Vererbung 47, 85 fl, 291, 3041, 5601
Verfall 377 f.
Vergangenheit 168, 235, 644, 651.
Vergessen 5631, 586, Ordnung der
Kategorien 5541, 557, 5661,
573.
Vergleichung 256, 291, 3001, 527.
Verhören 587, 590.
Verkehr 2511, 390, 515 fl, 531.
Verkehrssprache 516.
Verlesen 5821, 587, 590.
Verneinung 188 f., 190, 194.
Vemersches Gesetz 521 f.
Verschlußlaute, Wandlungen 502 ff.,
518, 523, 525, Wirkung auf die V.
520, Spaltung 521.
Verschmelzung 439, V. von Vokalen
500, partielle V. 6651, 6691, totale
6651, 6691
Verschreiben 435.
Versprechen 394 ff., 402, 426, 428,
435, 453, 528, 556.
Verwandtschaft der Begriffe 448 f.,
- Kontrast als Grenzfall 449.
Verwunderung 103, 285, 322, Tonfall
278.
Vögel, Gesang 259 ff., 274, Tonmodu-
lationen 286 f.
Vokal, Schwächung und Abwerfung
501, 503, V.harmonie 432 fl, 4961,
V.klang und Betonung 5181, V.-
kontraktionen 500 ff., 514, 516, 523,
V.Steigerung 356, V. Verschmelzung
500.
Vokativ 322 ff., 424.
Völkermischung 485, 495, 5231, V.
imd Tempo der Rede 500.
Völker- und Individualpsychologie
11, 6, 18 fl, 251, 31 fl, V. und
Geschichte 2fl, 11, 181
Völkerverkehr 515 fl, 531.
Völkerwanderungen 494 f., 5161, 528,
531.
Volksdialekte 675 (vgl. Dialekt).
Volksetymologie 470, 4741, 4821
Volksgeist 7fl, 32 f., 524, V.gemein-
schaft 11, 10, 18, V.glaube 7, 211,
V.Ued 2821, V.seele 7fl, 201,
V. sprachen 605.
Voluntarismus 97.
Vorausnahme (vgl. Antizipation) 396 f.,
403, 457, V. und Nachwirkung
3971
Vorsätze 124.
Vorstellungen 18, 20, 26, 371, 43,
81, 891, 124, 1261, 131, 261, 2831,
303, 573 fl, V. und Gefühle 60, 98,
348 fl, 3661, 573 (vgl. Gefühlston),
abstrakte V. 94, beschleunigter
Verlauf 991, Hemmung 1001, 586,
selbständige und abhängige V.
229, affektbetonte V. 230, 322 ff.,
637, V. und Affekt 98, 131 fl, 232 1,
243, Austausch 232, stellvertretende
V. 234, 236, Mitteilung 254, Wie-
dererzeugung 254 (vgl. Reproduk-
tion), Erfolg 262, mythologische V.
7, 9, 171, 38, 383, V. im Bewußt-
sein 428, schwingende V. 429 f.,
Vorauseilen 427, 438, Beweglich-
keit 534, Kategorien beim Ver-
694
Register
gössen 554 f., 557, 5661, 573, Kom-
plikation 564, sinnliche V. 566, V.
und Wort 568 ff., V. und Eindruck
575, dunkle V. 577, V.slauf und
Lautbewegung 396 f., 426, V. und
Redefluß 429, 433, 435, 534, V.s-
residuen 473.
Vulgärpsychologie 27 ff., 92, 586.
Wahrnehmung 83, 124, 457, 459 ff.,
560, 565, 567, 613 ff., 668.
Wahrscheinlichkeit, empirische 333,
337, historische und psychologische
W. 607 f.
Wanderungen der Völker 4941, 5161,
528, 531.
Wangenmuskeln 103, 117, 1191, 122,
128 ff.
Wiedererkennen 58 f., 79.
Wiederholung (vgl. Iterativ, Verdop-
pelung) 3631, 468, 5321, 535, 559,
581, 590, 641 fl, Lust, Neigung zur
W. 3121, 440, W. von Silben 395,
von Worten 399, 433, 6281, 632,
641, 644, 6471, von Lauten 2871,
311, 313, 319, 422 fl, 432, 435,
627 fl, 632, 645, 672, volle und
partielle W. 628, W. und Verstär-
kung 632.
Wille 48, 97, 458, 526, 541, W. und
Affekt 65 f., 138, W. und Gefühle
(Hughes) 97, Hemmmung des W.ns
396 f., 402, 403, 562, W.nsbewe-
gungen 44, 65, W.nsentwicklung
256, 565, W.nshandlungen 18, 371,
45 fl, 58 fl, 77, 82, 861, 89, 124,
1321, 2901, 312, 341, 455, W.ns-
motive 383, 614.
Wort 182, 200, 541 f., W. und Begriff
469 f., 596, W. ein psychophysi-
sches Gebilde 561, W. und Vor-
stellung 568 ff., W. als simultane
Vorstellung 584 ff., W. und Satz
584, 603, 606, 609 fl, 653, W. und
Laut 584, 588, W. und optisches
Zeichen 584, 586 fl, W. und Be-
griffs Vorstellung 5851, Grund- und
Beziehungselemente 594 ff., 602, 608,
619 fl, W. als Einzelvorstellung
6101, Neubildung 615 fl, Urge-
schichte 671.
Wortanfang und Artikulation 504 f.
Wortapperzeption 586 1, 593 1,
610.
Wortassimilation 471 fl, 539, psycho-
logische Analyse 589 fl
Wortassoziation 402 fl, 453.
Wortbild, akustisches 562, optisches
5621, 569, 571, 580.
Wortbildung (vgl. Kindersprache) 293 1,
373, 391, 448, 458, 504, 532, 541 fl,
W. durch Zusammensetzung s. Wort-
zusammensetzung ; zentrale Störun-
gen der W. 541 ff.
Wortblindheit 544.
Worteinung 658.
Wortelemente 608.
Wortentlehnung 415 f., 418, 469 fl,
516.
Worterfindung 290 fl
Wortfehler 555.
Wortfügung 314.
Wortgedächtnis 542, 550 ff., 562, Ab-
nahme des W.es imd grammati-
kalische Stellung der Wörter 5541,
557, 5661, 573.
Wortgrenzen und Schriftsprache 609.
Wortklassen des Vergessens 5541, 557,
5661, 573.
Wortkomplikation 562, 567 f., 569,
574, 585, 646 fl, 669 f., graphischer
Bestandteil 569, 5711, Lautbe-
standteil 569, 5711, Begriffsbe-
standteil 569, W.komposition 463,
W.schluß 5011, 504, W.sonderung
612 fl, W.taubheit 544, W. ver-
mengung 388, 391, 394, 398 fl,
W.Verschmelzung 667 ff., 675, W.-
verwechslung 556 f., W. Vorrat und
Kultur 491, 4941, W. Vorstellungen
608, reproduktive Elemente 4731,
akustische W. 562, 564, optische
W. 562, 564 (vgl. Wortkompli-
Register
695
kation), akustische und optische Ele-
mente 575, direkte und reprodu-
zierte Teile 583, 586, Resultante
aus vielen Elementen 592, W.wie-
derholung 399, 433, 628 f., 6471,
W. Zentren 553, akustisches W.-
zentium 553, W.Zusammensetzung
435, 461, 491, 556, 625, 627, 652 ff.
Wurzehi 331 f., 596 ff., reale Bedeu-
tung 603 ff., 630.
Wurzelperiode 6031, 6081
Wurzeltheorie 327 f., W. und Sprach-
typen 598 fl
Wurzeltypus, isolierender, reiner 598,
agglutinativer 598 f., 601, 6091,
polysynthetischer (einverleibender)
5981, flektierender 599.
Wurzelvariation 360 f., 362, 622.
Zahlgebärden 195 f., Z.symbole 236.
Zaubergebärden 159, Z. glauben 17,
Z.kultus 2391, 243, 282.
Zeichenschrift 143, Z.prache 155, Z.-
system 146, 159 f., 245.
Zeichnende Gebärden 157 f., 170 fl,
1781, 183, 1981, 204, 206, 2081,
2331, 2391, 245, 584.
Zeitbestimmungen der Handlung 609,
611.
Zentrum, Sprachz. 541 ff., motorisches
544, 5461, 550, 554, 562, senso-
risches 542, 5441, 547, 550, moto-
risch-sensorisches 546 f., ideagenes
547, Hörz. 543, 545, Schreibz. 5441,
Begriffsz. 545.
Zinken 161, 252.
Zisterziensermönche, Gebärdensprache
159 fl, 1681, 1711, 179, 188.
Zunge 1121, 258, 3451, 492.
Zuordnung, psychophysische 48 f.
Zusammenziehung von Lauten 424 f.,
4271, 5001
Zustandsbegriffe 201, 204 f., 604.
Zweckmäßigkeit der Bewegungen 47 ff.,
Zweckmotive 261, 376.
Zweifel 64, 278.
Druck von Bär & Herrmann, Leipzig.
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59 QUEEN'S PARK CRESCENT
TORONTO— 5, r.AMADA
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