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Full text of "Völkerpsychologie; eine Untersuchung der Ent-Wicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte"

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Völkerpsychologie 


Erster  Band 


Die   Sprache 


Vierte  Auflage 


Erster  Teil 


Völkerpsychologie 


Eine  Untersuchung  der  Entwicklungsgesetze 


von 


Sprache,  Mythus  und  Sitte 


von 


Wilhelm  Wundt 


Erster  Band 


Die   Sprache 

Vierte   unveränderte   Auflage 


Erster   Teil 


Mit  40  Abbildungen  im  Text 


Alfred  Kröner  Verlag  in  Stuttgart 

1921 


Alle  Rechte,  besonders  das  der  Übersetzung,  werden  vorbehalten. 


Vorwort  zur  ersten  Auflage. 


Über  Plan   und  Absicht  des  vorliegenden  Werkes  gibt  die  Ein- 
leitung Rechenschaft.      Ich  kann  mich  daher  an  dieser  Stelle 
auf  einige  kurze  Bemerkungen  über  mein  —  wenn  ich  mich  des  Aus- 
drucks bedienen  darf  —  persönliches  Verhältnis  zu  dem  Gegenstande 
beschränken.      Sprache,  Mythus,  Sitte  bilden  in  ihren  tatsächUchen 
Zusammenhängen    zunächst    den    Inhalt    bestimmter    philologisch- 
historischer Arbeitsgebiete;  sie  nehmen  aber  zugleich  mehr  als  an- 
dere,  dem  weiteren  Umkreis  der   Geschichte  angehörige   Stoffe  ein 
direktes  psychologisches  Interesse  in   Anspruch.      Dieses  Verhältnis 
gibt  den  genannten  Gebieten  das  Vorrecht,  zugleich  Grundlagen  der 
,, Völkerpsychologie"  zu  sein.    Nun  könnte  es  scheinen,  als  wenn  auch 
der  Psychologie  dann  am  besten  gedient  wäre,  wenn  derjenige,  der 
sich  an  die  völkerpsychologischen  Probleme  heranwagt,  die  Eigen- 
schaften des  Philologen  und  des  Historikers  mit  denen  des  Psycho- 
logen verbände.     Aus  zwei  Gründen  glaube  ich  jedoch,  daß  dieser 
Wunsch,  vorläufig  wenigstens,  kaum  Aussicht  hat,   verwirklicht  zu 
werden.    Erstens  wird  man  bei  der  gegenwärtigen  Teilung  der  wissen- 
schaftlichen  Arbeit  schwerlich   erwarten   dürfen,   daß   der  Philologe 
oder  Historiker  die  Sache  in  einer  den  heutigen  Forderungen  der  psy- 
chologischen Wissenschaft  genügenden  Weise  in  Angriff  nehmen  werde ; 
und  vielleicht  wird  man  ihm  dies  nicht  einmal  verdenken  können, 
da  die  Aufgaben  und,  was  damit  unvermeidlich  verbunden  ist,  die 
Gesichtspunkte,  mit  denen  er  an  die  Probleme  herantritt,  wesentlich 
abweichende  sind.     Sodann  aber  kann  ich  nicht  umhin  zu  glauben, 
jene  Arbeitsteilung,  die  hier  die   psychologische  Analyse  der  Er- 
scheinungen der  Psychologie  und  nicht  der  Philologie  und  Geschichte 
zuweist,  werde  in  einem  gewissen  Maß  immer  fortdauern,  wenn  auch, 
wie  zu  hoffen  ist,  beide  Gebiete  in  Zukunft  dadurch  einander  näher 


VI  Vorwort. 

treten  mögen,  daß  sicli  die  Philologen  und  die  Historiker  mit  den 
Betrachtungsweisen  der  wissenschaftlichen  Psychologie  mehr  be- 
freunden, und  daß  sich  die  Psychologen  der  Bedeutung  der  Völker- 
psychologie als  einer  unentbehrlichen  Erkenntnisquelle  mehr  bewußt 
werden,  als  dies  gegenwärtig  der  Fall  ist.  Gleichwohl  wird  die  Völker- 
psychologie als  solche  ein  Teil  der  Psychologie  bleiben.  Denn  wenn 
der  Philologe  gewiß  mit  Recht  geltend  macht,  daß  nur  der  mit  Er- 
folg in  die  Kulturwelt  des  Altertums  einzudringen  vermag,  der  die 
Elemente  der  philologischen  Methode  beherrscht,  so  wird  doch  wohl 
auch  der  Psychologe  daran  festhalten  müssen,  daß  man,  um  die  ver- 
wickelten Erscheinungen  der  Völkerpsychologie  zu  entwirren,  zuerst 
durch  die  exakte  Analyse  der  elementaren  Bewußtseinsvorgänge, 
wie  sie  die  Methoden  der  experimentellen  Psychologie  vermitteln, 
den  Blick  geschärft  und  die  Fähigkeit  psychologisch  zu  denken  geübt 
haben  muß. 

Wohl  gibt  es  heute  selbst  noch  Psychologen,  die  das  Gebiet  ihrer 
Betrachtungen  grundsätzlich  auf  diese  einfacheren  Aufgaben  ein- 
schränken möchten ;  und  in  der  öffentlichen  Meinimg  findet  die  gleiche 
Anschauung  gelegentlich  in  der  bedauernden  Bemerkung  ihren  Aus- 
druck, die  heutige  Psychologie  sei  ganz  und  gar  zur  Psychophysik, 
also  zu  einem  Anhangsgebiet  der  Physiologie  geworden,  und  sie  sei 
damit  in  den  Kreis  jener  Disziplinen  hinübergewandert,  die  nur  für 
diejenigen  ein  Interesse  besitzen,  die  sie  zu  ihrer  Spezialität  machen. 
Dies  ist  nach  meiner  tiefsten  Überzeugung  ein  Irrtum,  einer  jener 
Irrtümer,  die  daraus  entstehen,  daß  man  einen  vorübergehenden 
Zustand  für  das  bleibende  Wesen  eines  Dinges  ansieht.  Daß  die  ein- 
facheren Fragen  der  physiologischen  Psychologie  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  geklärt  sein  mußten,  ehe  sich  die  wissenschaftliche  Arbeit  den 
komphzierteren  völkerpsychologischen  Problemen  zuwenden  konnte, 
ist  wohl  begreiflich.  In  dieser  Bedingung  liegt  aber,  wie  ich  meine, 
ebensowenig  wie  in  der  teilweise  veränderten  Beschaffenheit  der 
Hilfsmittel  eine  Rechtfertigung  dafür,  der  Psychologie  dauernd  ein 
Gebiet  fern  zu  halten,  das  seiner  eigensten  Natur  nach  zu  ihr  gehört, 
und  das,  wie  man  vielleicht  behaupten  darf,  den  wichtigeren  und 
fruchtbareren   Teil  ihrer  Aufgaben  in   sich  schHeßt. 

Im  Hinblick  auf  die  in   den  obigen  Bemerkungen  angedeutete 
Scheidung   der    Standpunkte   des   Fsj^^chologen   und   des   Historikers 


Vorwort.  VII 

versteht  es  sich  übrigens  von  selbst,  daß  ich  mich  in  dem  folgenden 
Werk  eines  eigenen  Urteils  über  streitige  Fragen  der  Sprach-,  Mythen- 
und  Sittengeschichte,  soweit  solche  rein  geschichtlicher  Art  sind, 
enthalte.  Nur  da,  wo  sich  die  historischen  Folgerungen  mit  psycho- 
logischen Hypothesen  verbinden  oder  gar,  wie  es  wohl  zuweilen  ge- 
schieht, ausschließlich  in  solchen  bestehen,  glaube  ich  aus  dieser  Kolle 
eines  unbeteiligten  Zuschauers  heraustreten  zu  dürfen.  Ich  betrachte 
demgemäß  die  geschichtlichen  und  ethnologischen  Ergebnisse  auf 
allen  hierher  gehörigen  Gebieten  als  einen  Stoff,  den  ich,  ebenso  wie 
das  Resultat  eines  Experiments,  als  einen  gegebenen  anerkennen 
muß,  über  dessen  psychologische  Natur  ich  mir  aber  wohl  mit  dem- 
selben Rechte,  mit  dem  es  die  Philologen  und  Historiker  selbst  tun, 
ein  Urteil  gestatten  darf.  Dabei  unterscheidet  sich  meine  psycho- 
logische Betrachtung  dieser  Dinge  von  derjenigen  der  Spezialforscher 
auf  den  gleichen  Gebieten  natürlich  dadurch,  daß  diesen  ohne  Zweifel 
die  Tatsachen  leichter  und  reichlicher  zu  Gebote  stehen,  daß  dagegen 
meine  Betrachtungsweise  nach  den  anderwärts,  namentlich  nach  den 
innerhalb  der  physiologischen  Psychologie  gewonnenen  Ergebnissen 
orientiert  ist,  und  daß  sie  von  dem  Streben  geleitet  wird,  auf  diesem 
Wege  so  weit  als  möglich  die  allgemeinen  psychologischen  Erkennt- 
nisse zu  ergänzen  und  zu  erweitern.  Ich  habe  geglaubt,  diesem  Stand- 
punkte vor  allem  insofern  Rechnung  tragen  zu  müssen,  als  ich  meinen 
Betrachtungen  nur  solche  Tatsachen  oder  —  soweit  die  letzteren 
hypothetische  Ergänzungen  nie  ganz  entbehrlich  machen  —  nur  solche 
Voraussetzungen  geschichtlicher  Art  zugrunde  legte,  die  als  gesichert 
oder  durch  die  übereinstimmende  Überzeugung  der  Sachverständigen 
als  zureichend  beglaubigt  angesehen  werden  können.  Ich  meinte 
im  Zweifelsfalle  lieber  auf  ein  glücklich  gewähltes  Beispiel  für  irgend- 
eine psychologische  Gesetzmäßigkeit  verzichten,  als  mich  der  Gefahr 
ungewisser  linguistischer,  mythologischer  oder  kulturhistorischer  Hypo- 
thesen aussetzen  zu  dürfen.  Sollte  ich  trotzdem  im  einzelnen  einmal 
fehlgegriffen  haben,  so  wird  das  der  sachkundige  Leser,  wie  ich  hoffe, 
mit  der  Schwierigkeit  des  Gegenstandes  entschuldigen. 

Ich  kann  dieses  Vorwort  nicht  schließen,  ohne  dankbar  der  Hilfe 
zu  gedenken,  die  mir  zunächst  für  den  die  Sprache  behandelnden 
ersten  Band  die  sprachwissenschaftliche  Literatur,  in  der  wieder  die 

indogermanistische  und  germanistische  in  erster  Linie  steht,  geleistet 

p 

105 

,W6 


VIII  Vorwort. 

hat.  Innerhalb  der  Jahre,  in  denen  ich  mich  mit  den  Vorarbeiten 
zu  diesem  Werke  beschäftigte,  hat  sich  mir  immer  mehr  die  Überzeugung 
aufgedrängt,  daß  die  Sprachwissenschaft  von  sich  aus  in  wachsendem 
Maß  einer  gründlicheren  Vertiefung  in  die  psychologische  Seite  der 
Sprachprobleme  zugeführt  werde.  Dieser  Umstand  hat  es  gefügt, 
daß  vielfach  innerhalb  der  Sprachwissenschaft  selbst  schon  die  ein- 
zelnen Tatsachengebiete  einer  psychologischen  Behandlung  um  vieles 
zugängHcher  geworden  sind,  als  sie  es  zu  der  Zeit  waren,  da  ich  selbst 
es  zum  ersten  Male  unternahm,  mir  die  Aufgaben  der  Völkerpsycho- 
logie zurechtzulegen.  Es  würde  zu  weit  führen,  hier  auch  nur  die 
wichtigsten  Arbeiten  zu  nennen,  denen  ich  in  dieser  Beziehung  ver- 
pflichtet bin.  Ich  will  mich  auf  die  drei  hauptsächlichsten  beschränken. 
Zunächst  verdanke  ich  Hermann  Pauls  ,, Prinzipien  der  Sprach- 
geschichte" mannigfache  Anregungen.  Sein  Streben,  überall  die 
Analyse  der  sprachlichen  Vorgänge  an  die  Erscheinungen  der  lebenden 
Sprache,  und  hier  wieder  das  Studium  der  generellen  an  das  der  in- 
dividuellen Erscheinungen  anzuknüpfen,  kam  durchaus  einer  von  mir 
selbst  gehegten  und  auf  andern  Gebieten  betätigten  Überzeugung 
entgegen.  Diese  Anregungen  möchte  ich  um  so  rückhaltloser  an- 
erkennen, je  mehr  ich  sowohl  in  der  allgemeinen  psychologischen  Auf- 
fassung, wie  infolgedessen  zumeist  auch  in  der  Interpretation  des 
einzelnen  andere  Wege  einschlagen  mußte.  Unter  den  spezielleren 
sprachwissenschaftlichen  Werken  gewährte  mir  sodann  für  das  weite 
Gebiet  allgemeiner  Sprachvergleichung  vor  allem  Friedrich  Müllers 
,, Grundriß  der  Sprachwissenschaft"  vielfache  Förderung.  Gerade 
die  Zurückhaltung,  die  sich  Müller  auferlegt  hat,  indem  er  sich  über- 
all auf  die  Zusammenstellung  der  für  die  Beurteilung  einer  Sprache 
wesentlichen  Tatsachen,  der  Lautsysteme,  Paradigmen,  Sprach- 
proben usw.,  beschränkte,  macht  dieses  Werk  vor  andern,  die  von 
vornherein  die  Erscheinungen  nach  bestimmten  linguistischen  oder 
psychologischen  Hypothesen  gruppieren,  für  den  Psychologen  wert- 
voll. Für  das  Indogermanische  bin  ich  endlich  hauptsächlich  dem 
,, Grundriß  der  vergleichenden  Grammatik  der  indogermanischen 
Sprachen"  von  K.  Brugmann  und  B.  Delbrück  für  zahlreiche  Be- 
lehrungen verpflichtet. 

Leipzig,  im  März  1900. 


Vorwort.  IX 


Vorwort  zur  zweiten  und  dritten  Auflage. 

Die  zweite  und  die  dritte  Auflage  dieses  Werkes  haben  weder 
in  der  Gesamtauffassung  nocli  in  der  Anordnung  des  Stoffes  wesent- 
liche Änderungen  gegenüber  der  ersten  aufzuweisen.  Dagegen  ist 
alles  noch  einmal  sorgfältig  durchgearbeitet  worden.  Manches  hoffe 
ich  durch  ergänzende  Ausführungen  in  helleres  Licht  gesetzt,  anderes 
durch  Berichtigungen  und  Zusätze  verbessert  zu  haben.  Zweifel- 
hafte oder  als  irrig  erkannte  Beispiele  wurden  beseitigt  und  womög- 
lich durch  zuverlässigere  ersetzt.  Im  ganzen  aber  habe  ich  geglaubt, 
mich  jeweils  auf  wenige  erläuternde  Beispiele  beschränken  zu  dürfen, 
da  es  sich  ja  hier  nicht  sowohl  um  die  Mitteilung  sprachwissenschaft- 
lichen Materials,  das  den  Sprachforschern  besser  und  reicher  zu  Ge- 
bote steht  als  mir,  und  das  den  Psychologen  vielleicht  als  eine  über- 
flüssige Belastung  erscheinen  würde,  als  vielmehr  lediglich  um  die 
notwendige  Exemplifikation  der  an  der  Sprache  nachgewiesenen 
oder  wahrscheinlich  gemachten  psychischen  und  psychophysischen 
Vorgänge  handelt.  Tiefer  greifende  Umarbeitungen  hat  im  ersten 
Teil  namentlich  das  Kapitel  über  den  Lautwandel,  im  zweiten  die 
Darstellung  der  Wortformen  und  teilweise  die  des  Satzes  erfahren. 
Für  viele  kritische  Bemerkungen  und  Berichtigungen  im  einzelnen 
bin  ich  den  zahlreichen  Besprechungen, '  die  dieses  Werk  von 
linguistischer  Seite  erfahren  hat,  verpflichtet.  Besonders  habe  ich 
den  Schriften  von  B.  Delbrück  über ,, Grundfragen  der  Sprachforschung'' 
und  von  L.  Sütterlin  über  ,,das  Wesen  der  sprachlichen  Gebilde", 
die  beide  aus  Anlaß  dieses  Werkes  erschienen  sind,  manche  Anregungen 
zu  Verbesserungen  und  Umarbeitungen  entnehmen  können,  wofür 
ich  diesen  Forschern  aufrichtig  dankbar  bin.  Freilich  sind  diese  Ver- 
besserungen, wenn  sie  als  solche  anerkannt  werden  sollten,  nur  zu 
einem  kleinen  Teil  Zugeständnisse,  die  ich  dem,  wie  mir  scheint,  etwas 
allzu  einseitig  historischen  Standpunkt  der  genannten  Autoren  machen 
durfte.  In  der  Mehrzahl  der  Fälle  habe  ich  mich  vielmehr  genötigt 
gesehen,  eben  einem  solchen  einseitigen  Historismus  gegenüber  das 
Recht  der  psychologischen  Betrachtung  zu  wahren  und  wenn  mög- 
lich eingehender,  als  es  vielleicht  da  und  dort  in  der  ersten  Auflage 
geschehen  war,  zu  begründen.  Hoffentlich  wird  aber  der  billig  denkende 


X  Vorwort. 

Leser  nicht  verkennen,  daß  ich  den  Wert  der  Sprachgeschichte  darum 
wahrlich  nicht  gering  achte,  sondern  daß  ich,  wo  sie  uns  zugänglich 
ist,  hier  wie  überall  im  Grebiet  der  geistigen  Vorgänge  das  geschicht- 
liche Werden  der  Erscheinungen  als  die  Grundlage  ansehe,  auf  der 
sich  erst  die  psychologische  Untersuchung  erheben  kann.  Doch  mit 
der  bloßen  Geschichte  läßt  sich,  wie  ich  glaube,  ebensowenig  wie  mit 
reiner  Psychologie  ein  tieferes  Verständnis  der  sprachlichen  Entwick- 
lungen gewinnen,  sondern  beide  müssen  zusammenwirken.  Für  das 
Gebiet  der  indogermanischen  Sprachgeschichte  bin  ich  in  dieser  Be- 
ziehung meinem  verehrten  Kollegen  K.  Brugmann  für  viele  berich- 
tigende und  ergänzende  Bemerkungen  zu  besonderem  Dank  ver- 
pflichtet. 

Leipzig,  März  1904  und  Juni  191L 

W.  Wundt. 


Inhalt. 


Seite 

Einleitung 1 

I.  Aufgaben    und    Nachbargebiete    der    Völkerpsychologie  1 

IL  Grundbegriffe  der  Völkerpsychologie 7 

1.  Volksgeist  und  Volksseele 7 

2.  Vorgeschichte  und  Geschichte 11 

3.  Der  Einzelne  und  die  Gemeinschaft 18 

III.  Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Völkerpsychologie    .    .  25 

IV.  Hauptgebiete  der  Völkerpsychologie 36 


Erstes  Buch. 

Die  Sprache. 

Erstes  Kapitel.     Die  Ausdrucksbewegungen 43 

I.  Allgemeine  Bedeutung  der  Ausdrucksbewegungen    ...  43 
IL  Verhältnis  der  Ausdrucksbewegungen  zu  den  Gefühlen 

und  Affekten 50 

1.  Einfache  Gefühlsformen 50 

2.  Gefühlsverlauf  der  Affekte 57 

3.  Innervation  der  Ausdrucksbewegungen  , 66 

4.  Sensorische  Rückwirkungen  der  Ausdrucksbewegungen.    ...  77 

III.  Prinzipien  der  Ausdrucksbewegungen 81 

1.  Herbert  Spencers  physiologische  Theorie 81 

2.  Darwins  Prinzip  der  zweckmäßig  assoziierten  Gewohnheiten  85 

3.  Versuche  einer  psychologischen  Theorie 92 

4.  Allgemeines  psychophysisches  Prinzip  der  Ausdrucksbewegungen  97 

IV.  Intensitätsäußerungen  der  Affekte 98 

1.  Ausdrucksbewegungen  starker  Affekte 98 

2.  Beteiligung    einzelner  Muskelgebiete    an    den  Intensitätssym- 
ptomen    101 

3.  Vasomotorische  Intensitätssymptome 103 

V.   Qualitätsäußerungen  der  Affekte 107 

1.  Gefühle  als  Grundlagen  der  Qualitätssymptome     ......  107 

2.  Mechanismus  der  mimischen  Ausdrucksbewegungen 108 

3.  Mimische  Symptome  der  Lust-  und  Unlustgefühle 111 

4.  Mimische  Symptome  der  Spannungs-  und  Lösungsgefühle     .    .  117 

5.  Theorie  der  mimischen  Ausdrucksbewegungen 123 


XII  Inhalt. 

Seite 

VI.  Vorstellungsäußerungen  der  Affekte 131 

1.  Verhältnis  der  Vorstellungsäußerungen  zu  den  andern  Affekt- 
symptomen      131 

2.  Haupt  formen  pantomimischer  Bewegungen 133 

3.  Theorie  der  pantomimischen  Bewegungen 136 

4.  Verbindungen    und    Übergänge    zwischen    verschiedenen    Aus- 
drucksformen 140 

Zweites  Kapitel.     Die  Gebärdensprache 143 

I.  Die  Entwicklungsformen  der  Gebärdensprache 143 

1.  Begriff  und  allgemeine  Eigenschaften  der  Gebärdensprache     .  143 

2.  Gebärdensprache  der  Taubstummen 145 

3.  Gebärdensprache  bei  den  Naturvölkern 152 

4.  Überlieferte    Gebärdezeichen    bei    den    europäischen    Kultur- 
völkern    154 

5.  Gebärdezeichen  der  Zisterziensermönche 159 

II.  Grundformen  der  Gebärden 162 

1.  Psychologische  Klassifikation  der  Gebärden 162 

2.  Hinweisende  Gebärden 165 

3.  Nachbildende  Gebäi'den     , 170 

4.  Mitbezeichnende  Gebärden 178 

5.  Symbolische  Gebärden 182 

III.  Vieldeutigkeit    und    Bedeutungswandel    der    Gebärden  200 

1.  Unbestimmtheit  der  Begriffskategorien 200 

2.  Begriffsübertragungen  und  Bedeutungswandel  der   Gebärden  208 

IV.  Syntax  der  Gebärdensprache 216 

1.  Gebärdenfolge  der  Taubstummen 216 

2.  Gebärdenfolge  der  Indianer 223 

3.  Psychologische  Ursachen  der  Gebärdensyntax 226 

V.  Psychologische  Entwicklung  der  Gebärdensprache.    .    .  231 

1.  Ursprung  der  Gebärdensprache  aus  den  Ausdrucksbewegungen  231 

2.  Die  Gebärde  und  die  Anfänge  der  bildenden  Kunst      ....  238 

3.  Gebärdensprache  und  Bilderschrift 240 

4.  Psychologischer  Charakter  der  Gebärdensprache 252 

Drittes  Kapitel.     Die  Sprachlaute 258 

I.  Stimmlaute  im  Tierreich 258 

1.  Stimmlaute  als  Ausdrucksbewegungen 258 

2.  Allgemeine  Entwicklung  der  Ausdruckslaute 262 

3.  Tonmodulationen  als  Ausdrucksformen  bei  Tieren 265 

4.  Tonmodulation  und  Lautartikulation  beim  Menschen    ....  272 

II.  Sprachlaute  des  Kindes ■ 283 

1.  Stadien  der  Lautbildung  beim  Kinde 283 

2.  Angebliche  Worterfindung  des  Kindes 290 

3.  Psychophysische  Bedingungen  der  individuellen  Sprachentwick- 
lung      304 


Inhalt.  XIII 

Seite 

4.  Psychologische  Eigenschaften  der  kindlichen  Sprache 310 

5.  Lautvertauschungen  und  Lautverstümmelungen  in  der  Kinder- 
sprache    314 

III.  Naturlaute  der  Sprache  und  ihre  Umbildungen     ....  319 

1.  Primäre  und  sekundäre  Interjektionen 319 

2.  Wortformen  mit  Affektbetonung:  Vokativ  und  Imperativ   .    .  322 

3.  Naturlaute  als  Grundbestandteile  von  Wortbildungen  ....  325 

IV.  Lautnachahmungen  in  der  Sprache 329 

1.  Schallnachahmungen  und  Lautbilder 329 

2.  Allgemeine  Bedeutung  der  Lautnachahmung 337 

3.  Lautgebärden  zur  Bezeichnung  der  Artikulationsorgane    .    .    .  345 

4.  NatiMiche  Lautmetapheni 348 

a.  Lautmetaphem  in  den  Wörtern  für  Vater  und  Mutter     .  351 

b.  Lautmetaphern   in   Ortsadverbien   und   Pronominalformen  354 

c.  Korrespondierende    Laut-    und    Bedeutungsvariationen    bei 
Tätigkeitsbegriffen 359 

5.  Psychologische  Entstehung  der  Lautgebärden  und  Lautmeta- 
phern   367 

Viertes  Kapitel.     Der  Lautwandel 373 

I.  Die  Lautgesetze  in  der  Sprachwissenschaft 373 

1.  Das  Postulat  der  Ausnahmslosigkeit  der  Lautgesetze    ....  373 

2.  Teleologische   Hypothesen   über  die   Ursachen   der   Lautände- 
rungen      376 

3.  Annahme  physischer  und  psychischer  Momente  der  Lautent- 
wicklung      380 

4.  Komplikation  der  Ursachen  des  Lautwandels 382 

IL  Individuelle   und   generelle   Formen   der   Lautänderung  385 

1.  Lautwandel  und  Lautwechsel 385 

2.  Spielraum  der  normalen  Artikulationen 388 

3.  Störungen  der  Lautbildung 390 

a.  Lauterschwerungen 391 

b.  Lautvermengungen 393 

c.  Wortvermengungen 398 

4.  Sprachmischungen  und  Mischsprachen 404 

5.  Grundformen  des  generellen  Lautwandels 411 

III.  Assoziative  Kontaktwirkungen  der  Laute 419 

1.  Regressive  und  progressive  Lautinduktion 419 

2.  Theorie  der  Kontaktwirkungen 424 

a.  Ästhetische,  teleologische  und  psychologische  Deutungen     .  424 

b.  Psychophysische  Theorie  der  Lautinduktion 431 

IV.  Assoziative  Fernewirkungen  der  Laute 441 

1.  Allgemeine  Formen  assoziativer  Fernewirkung 441 

2.  Grammatische  Angleichungen 443 

«                a.  Innere  grammatische  Angleichungen 443 

b.  Äußere  grammatische  Angleichungen 445 


XIV  Inhalt. 

Seite 

3.  Begriffliche  Angleichungen 448 

a.  Angleichung  durch  Begriffsverwandtschaft 448 

b.  Angleichung  durch  Kontrast  der  Begriffe 449 

c.  Komplikationen  der  Angleichungs Vorgänge 451 

4.  Psychologische  Theorie  der  assoziativen  Fernewirkungen  .    ,    .  453 

a.  Entstehung    der    Fernewirkungen    aus    elementaren    Asso- 
ziationen   453 

b.  Psychologische   Analyse   der   vier   Hauptformen   der   Laut- 
angleichung    462 

6.  Physiologische  Einflüsse  bei  den  Lautangleichungen 467 

V.  Laut-  und  Begriffsassoziationen  bei  Wortentlehnungen  469 

1.  Haupt  formen  der  Wortentlehnung 469 

2.  Wortentlehnungen  mit  reiner  Lautassoziation  ........  471 

3.  Wortentlehnungen  mit  Begriffsassoziationen 474 

a.  Wortassimilationen  mit  begrifflichen  Nebenwirkungen  .    ,    .  476 

b.  Wortassimilationen  mit  Begriffsumwandlungen 479 

4.  Beziehungen  der  Wortentlehnungen  zu  den  andern  assoziativen 
Femewirkungen 481 

VI.  Regulärer  Lautwandel 484 

1.  Allgemeine  Bedingungen  des  regulären  Lautwandels  .    .    .    .    ,  484 

2.  Einfluß  der  Naturumgebung 488 

3.  Einflüsse  der  Kultur 490 

4.  Sprachmischungen 494 

5.  Tempo  der  Rede  und  Wortbetonung 497 

a.  Allgemeine  Wirkungen  der  Artikulationsgeschwindigkeit  .    .  497 

b.  Vokalkontraktionen  und  Lautschwächungen 500 

c.  Lautänderungen  der  Verschlußlaute 502 

d.  Lautänderungen  unter  Einfluß  des  Akzentwechsels   ....  517 

6.  Zur  Theorie  des  regulären  Lautwandels 522 

a.  Physische,  psychophysische  und  psychische  Hypothesen  .    .  522 

b.  Der  reguläre  Lautwandel  als  resultierende  Wirkung  der  singu- 
lären  Lautänderungen 528 

VII.  Allgemeiner    Rückblick    auf    die    Vorgänge    des    Laut- 
wandels       537 


Fünftes  Kapitel.     Die  Wortbildung 641 

I.  Psychophysische  Bedingungen  der  Wortbildung   ....  541 

1.  Zentrale  Störungen  der  Wortbildung 641 

2.  Hypothesen  über  die  physischen  Substrate  der  Wortbildung  546 

3.  Unzulänglichkeit  der  Lokalisationshypothesen 549 

4.  Physiologische  und  pathologische  Amnesie 551 

5.  Erscheinungen  der  Paraphasie      555 

6.  Psychophysisches  Prinzip  der  Funktionsübung 558 

7.  Psychologische  Deutung  der  zentralen  Sprachstörungen    .    .    .  561 


Inhalt.  XV 

belle 

II.  Psychologie  der  Wortvorstellungen 568 

1.  Psychische  Struktur  der  Wortvorstellungen 568 

2.  Tachistoskopische  Methode 575 

3.  Erscheinungen    bei    kurz    dauernder    Einwirkung    von    Wort- 
bildem 580 

4.  Das  Wort  als  simultane  Vorstellung 584 

5.  Psychologische  Analyse  der  Wortassimilationen 589 

6.  Apperzeption  des  Wortes  als  Einzelvorstellung 593 

III.  Stellung  des  Wortes  in  der  Sprache 594 

1.  Grund-  und  Beziehungselemente  des  Wortes 594 

2.  Wurzeln  der  Sprache 596 

3.  Unterscheidung  von  Sprachtypen  auf  Grund  der  Wurzeltheorie  598 

4.  Reale  Bedeutung  der  Sprachwurzeln 603 

5.  Wort  und  Satz 609 

6.  Ursachen  der  Wort  sonderung 612 

IV.  Neubildung  von  Wörtern 615 

1.  Volkstümliche  Neubildungen 615 

2.  Gelehrte  Neubildungen 622 

V.  Wortbildung  durch  Lautverdoppelung 627 

1.  Allgemeine  Formen  der  Lautverdoppelung 627 

2.  Bedeutungsarten  der  Lautverdoppelung 632 

a.  Verdoppelung    zum    Ausdruck    sich    wiederholender    Vor- 
gänge       632 

b.  Verdoppelung  bei  Kollektiv-  und  Mehrheitsbegriffen     .    .    .  635 

c.  Verdoppelung  zur  Steigerung  von  Eigenschaftsbegriffen  .    .  637 

d.  Verdoppelung  als  Steigerungsform  der  Verbalbegriffe    .    .    ,  638 

3.  Psychologisches  Schema  der  Verdoppelungsformeri 642 

4.  Psychologische  Theorie  der  Verdoppelungsformen 643 

VI.  Wortbildung  durch  Zusammensetzung 652 

1.  Begriff  und  Hauptformen  der  Wortzusammensetzung    ....  652 

2.  Sprachliche  Formen  der  Wortzusammensetzung 658 

3.  Laut-  und  Bedeutungsänderungen  der  Komposita 664 

4.  Theorie    der    Wortzusammensetzung    und    Wortverschmelzung  667 

VII.  Ursprüngliche  Wortbildung 671 

1.  Verhältnis   der   ursprünglichen    zu    den   sekundären   Wortbil- 
dungen    671 

2.  Wortbildungen  bei  der  Entstehung  neuer  Sprachen  aus  voran- 
gegangenen    674 

Register 678 


Einleitung. 


I.  Aufgaben  und  Nachbargebiete  der  Völker- 
psychologie. 

Die  Psychologie  in  der  gewölinlichen  und  allgemeinen  Bedeutung 
dieses  Wortes  sucht  die  Tatsachen  der  unmittelbaren  Erfahrung, 
wie  sie  das  subjektive  Bewußtsein  uns  bietet,  in  ihrer  Entstehung 
und  in  ihrem  wechselseitigen  Zusammenhang  zu  erforschen.  In 
diesem  Sinne  ist  sie  Individualpsychologie.  Sie  verzichtet 
durchgängig  auf  eine  Analyse  jener  Erscheinungen,  die  aus  der  geistigen 
Wechselwirkung  einer  Vielheit  von  Einzelnen  entspringen.  Eben 
deshalb  bedarf  sie  aber  einer  ergänzenden  Betrachtung,  die  wir  der 
Völkerpsychologie  zuweisen.  Demnach  besteht  die  Aufgabe 
dieses  Teilgebiets  der  Psychologie  in  der  Untersuchung  derjenigen 
psychischen  Vorgänge,  die  der  allgemeinen  Entwicklung 
menschlicher  Gemeinschaften  und  der  Entstehung  ge- 
meinsamer geistiger  Erzeugnisse  von  allgemeingültigem 
Werte  zugrunde  liegen. 

Indem  die  Völkerpsychologie  den  Menschen  in  allen  den  Be- 
ziehungen, die  über  die  Grenzen  des  Einzeldaseins  hinausreichen  und 
auf  die  geistige  Wechselwirkung  als  ihre  allgemeine  Bedingung  zurück- 
führen, zu  ihrem  Gegenstande  nimmt,  bezeichnet  nun  aber  freilich 
jener  Name  nur  unvollständig  ihren  Inhalt.  Der  Einzelne  ist  nicht 
bloß  Mitglied  einer  Volksgemeinschaft.  Als  nächster  Kreis  umschließt 
ihn  die  Familie;  durch  den  Ort,  den  Geburt  und  Lebensschicksale 
ihm  anweisen,  steht  er  inmitten  noch  anderer,  mannigfach  sich  durch- 
wandt, Völkerpsychologie.    I.    4.  Aufl.  1 


2  Einleitung. 

kreuzender  Verbände,  deren  jeder  wieder  von  der  erreichten  beson- 
deren Kulturstufe  mit  ihren  Jahrtausende  alten  Errungenschaften 
und  Erbschaften  abhängt.  Alles  das  wird  durch  den  Ausdruck  „Völker- 
psychologie" natürlich  nur  unvollkommen  angedeutet,  und  es  könnte 
darum  vielleicht  sinngemäßer  scheinen,  der  individuellen  eine  ,, so- 
ziale" Psychologie  gegenüberzustellen.  Doch  würde  diese  Bezeichnung 
wiederum  wegen  der  Bedeutung,  die  man  dem  Begriff  der  „Sozio- 
logie" bereits  angewiesen  hat,  Mißverständnissen  begegnen  können. 
Auch  ist  auf  den  höheren  Kulturstufen  das  Volk  jedenfalls  der  wich- 
tigste der  Lebenskreise,  aus  denen  die  Erzeugnisse  gemeinsamen 
geistigen  Lebens  hervorgehen.  Wir  werden  daher  den  Namen  ,, Völker- 
psychologie" hier  um  so  mehr  beibehalten,  als  er  in  einem  dem  hier 
angewandten  annähernd  entsprechenden  Sinne  nun  einmal  eingeführt 
ist.  Allerdings  pflegt  man  dabei,  von  der  unmittelbaren  Bedeutung 
des  Wortes  ausgehend,  mit  diesem  Namen  noch  einen  spezielleren 
Begriff  zu  verbinden,  indem  darunter  eine  Charakteristik  der  geistigen 
Eigentümlichkeiten  der  einzelnen  Völker  verstanden  wird.  In 
der  Tat  ist  eine  nach  diesem  Plan  ausgeführte  psychische  Ethnologie 
neben  Sprachwissenschaft,  Mythen-  und  Sittengeschichte  eine  unent- 
behrliche Grundlage  der  Völkerpsychologie.  Zugleich  teilt  sie  aber 
mit  diesen  historischen  Hilfsgebieten  die  Eigenschaft,  daß  sie  sich 
selbst  hinwiederum  überall  auf  die  allgemeinen  Gesetze  des  geistigen 
Zusammenlebens,  also  auf  das  Forschungsgebiet,  das  wir  hier  der 
Völkerpsychologie  vorbehalten,  angewiesen  sieht.  Diesem  Verhält- 
nis läßt  sich  zweckmäßig  wohl  dadurch  Ausdruck  geben,  daß  man 
jenen  psychischen  Teil  der  Ethnologie  als  eine  spezielle  Völker- 
psychologie der  allgemeinen  gegenüberstellt,  mit  der  sich  die  folgen- 
den Betrachtungen  beschäftigen. 

Ein  wesentlich  anderer  Gesichtspunkt  ist  dagegen  für  die  Ab- 
grenzung der  historischen  Disziplinen  gegenüber  der  Völkerpsycho- 
logie maßgebend.  Natürlich  gehören  die  völkerpsychologischen  Er- 
scheinungen, insofern  sie  an  der  allgemeinen  geschichtlichen  Ent- 
wicklung der  Menschheit  teilnehmen,  sämtlich  auch  zum  Inhalt  der 
Geschichte.  Aber  während  die  letztere  den  ganzen  Umfang  der  phy- 
sischen und  geistigen  Bedingungen  ins  Auge  faßt,  aus  denen  diese 
Entwicklung  entspringt,  um  sie  danach  in  ihrem  tatsächlichen  Ver- 


Aufgaben  und  Nachbargebiete  der  Völkerpsychologie.  3 

laufe  zu  schildern,  zergliedert  die  Völkerpsychologie  die  Erschei- 
nungen nur  mit  Rücksicht  auf  die  in  ihnen  hervortretenden  psycho- 
logischen Zusammenhänge  und  Gesetze.  Sie  verhält  sich  also  annähernd 
ähnlich  zur  Völkergeschichte,  wie  die  Individualpsychologie  zur 
historischen  Biographie.  Insbesondere  auf  jenen  Gebieten,  die  sich, 
wie  Sprach-,  Mythen-  und  Sittengeschichte,  mit  dem  Inhalt  der  Völker- 
psychologie am  nächsten  berühren,  scheiden  sich  deshalb  die  Auf- 
gaben ziemlich  scharf  schon  nach  dem  äußeren  Merkmal,  daß  die 
Erscheinungen  von  dem  Augenblick  an  der  Geschichte  zufallen,  wo 
sie  zu  einem  wesentlichen  Teile  durch  das  persönliche  Eingreifen 
Einzelner  zustande  kommen.  Darum  gehört  die  Geschichte  der 
individuellen  geistigen  Schöpfungen  in  Literatur,  Kunst  und 
Wissenschaft  nicht  zur  Völkerpsychologie.  Denn  es  ist  die  Haupt- 
aufgabe der  Geschichte  auf  allen  diesen  Gebieten,  das  Zusammen- 
wirken der  Natur-  und  Kulturbedingungen  sowie  der  psychischen 
Anlagen  der  Völker  mit  der  persönlichen  Begabung  und  Betätigung 
Einzelner  in  ihrem  inneren  Zusammenhange  verständlich  zu  machen. 
Insoweit  bei  der  Lösung  dieser  Aufgabe  psychologische  Momente 
von  allgemeiner  Natur  zur  Geltung  kommen,  sind  es  mehr  solche, 
die  der  psychischen  Ethnologie  als  der  allgemeinen  Völkerpsycho- 
logie angehören.  Von  den  Gebieten  der  Kulturgeschichte  ist  es  be- 
sonders die  Urgeschichte,  mit  der  sich  jene  berührt.  Auch  von 
ihr  wird  sie  jedoch  durch  die  abweichende  Eichtung  ihrer  Interessen 
geschieden.  Die  Urgeschichte  hat  ihren  Blick  der  Geschichte  zu- 
gewandt: die  Zeugnisse,  die  Sprache,  Mythen  und  sonstige  Volks- 
überlieferungen an  die  Hand  geben,  sucht  sie,  ebenso  wie  physische 
und  geographische  Merkmale,  zu  verwerten,  um  die  Geschichte  über 
die  durch  die  historischen  Überlieferungen  gesteckten  Grenzen  hinaus 
zu  ergänzen.  Die  Völkerpsychologie  hat  dagegen  ihr  Augenmerk  auf 
die  psychologische  Gesetzmäßigkeit  des  Zusammenlebens  selber  ge- 
richtet. Die  lokalen  und  nationalen  Unterschiede  seiner  Gestaltung 
sind  ihr  gleichgültig,  insoweit  sie  nicht  in  irgendeiner  Weise  auf  jene 
Gesetzmäßigkeit  Licht  werfen.  So  kann  für  sie  eine  konkrete  Sprach- 
form von  Interesse  sein,  weil  sich  in  ihr  gewisse  allgemein  mensch- 
liche Gesetze  der  Sprachentwicklung  in  charakteristischer  Weise 
äußern.    Doch  dies  Interesse  hört  auf,  sobald  etwa  eine  solche  Form 

1* 


4  Einleitung. 

als  Merkmal  einstigen  Zusammenhangs  verschiedener  Völker  benutzt 
wird,  ein  Punkt,  wo  nun  umgekehrt  die  Erscheinung  für  den  Geschichts- 
forscher ihren  Hauptwert  gewinnt.  Dieses  Verhältnis  ergibt  sich  eben 
mit  Notwendigkeit  daraus,  daß  die  Völkerpsychologie  nichts  anderes 
sein  will  als  eine  Erweiterung  und  Fortsetzung  der  Psychologie  auf 
die  Phänomene  gemeinsamen  Lebens. 

In  dieser  Aufgabe  liegt  nun  zugleich  ein  Grund  dafür,  daß  ihre 
Abgrenzung  gegen  die  historischen  Nachbargebiete  niemals  eine  ab- 
solute sein  kann.  Denn  der  Punkt,  wo  die  Einflüsse  individueller 
Willensbetätigung  beginnen  oder  aufhören,  bleibt  nicht  selten  un- 
bestimmbar; vor  allem  aber  bilden  die  Wechselwirkungen  zwischen 
den  Individuen  und  der  Gemeinschaft  selbst  wesentliche  Faktoren 
der  völkerpsychologischen  Entwicklimgen.  Dies  erhellt  schon  daraus, 
daß  das  geistige  Leben  einer  Gemeinschaft  mit  dem  Leben  der  Ein- 
zelnen, die  ihr  angehören,  unauflöslich  zusammenhängt,  und  daß 
daher  alle  die  geistigen  Erzeugnisse,  die  wir  auf  die  Gemeinschaft 
als  solche  zurückführen,  wenn  sie  auch  ohne  das  Zusammenleben  und 
seine  Wechselwirkungen  nicht  möglich  sein  würden,  doch  in  den  indi- 
viduellen Eigenschaften  ihre  letzte  Quelle  haben.  Gleichwohl  gibt 
es  zwei  Merkmale,  an  denen  das,  was  wir  im  Leben  eines  Volkes  ein 
,, gemeinsames"  Erzeugnis  nennen,  von  einer  individuellen  Schöpfung 
prinzipiell  stets  zu  unterscheiden  ist.  Das  erste  besteht  darin,  daß 
an  jenem  unbestimmt  viele  Glieder  einer  Gemeinschaft  in  einer  Weise 
mitgewirkt  haben,  welche  die  Zurückführung  auf  bestimmte  Indivi- 
duen ausschließt.  Das  zweite  ist  dies,  daß  die  gemeinsamen  Erzeug- 
nisse in  ihrer  Entwicklung  zwar  mannigfache,  zumeist  geschichtlich 
bedingte  Unterschiede  darbieten,  trotz  dieser  Mannigfaltigkeit  aber 
gewisse  allgemeingültige  Entwicklungsgesetze  erkennen  lassen; 
und  diese  sind  es  dann,  in  deren  Auffindung  die  Völkerpsychologie 
ihre  letzte  und  wichtigste  Aufgabe  sieht. 

Neben  Ethnologie  und  Geschichte  gibt  es  endlich  noch  ein  drittes 
Gebiet,  das  sich  mit  der  Völkerpsychologie  berührt:  die  Soziologie. 
Die  Frage,  was  die  Soziologie  sei,  welche  Stellung  sie  innerhalb  der 
sonstigen,  die  gesellschaftliche  Existenz  des  Menschen  voraussetzen- 
den Arbeitsgebiete  zu  übernehmen  habe,  ist  freilich  noch  eine  um- 
strittene.   Ihre  Aufgabe  läßt  sich  daher  vorläufig  aus  ihr  selbst  nicht. 


Aufgaben  und  Nachbargebiete  der  Völkerpsychologie.  5 

entnehmen,  da  sie  noch  nicht  in  einer  allgemein  anerkannten  Form 
existiert.     So  bleibt  denn  nichts  übrig,  als  umgekehrt  nach  den  Be- 
dürfnissen zu  fragen,  die  sich  von  bestimmten,  bereits  vorhandenen 
Wissensgebieten  aus  im  Sinn  einer  allgemeineren,  deren  eigene  Grenzen 
überschreitenden    Gesellschaftswissenschaft   erheben.       Unter   diesem 
Gesichtspunkt  ist  nun  wohl  vor  allen  Dingen  festzuhalten,  daß  die 
Soziologie,  wenn  man  sie  nach  dieser  Bedürfnisfrage  bemißt,  keine 
philosophische  Wissenschaft  ist,  so  oft  auch  der  Versuch  gemacht 
wurde,    sie  als  eine  solche  aufzufassen.      In  Wahrheit  ist  die  philo- 
sophische  Soziologie  von  Auguste  Comte  und  Herbert   Spencer  an 
bis  auf  die  neuesten   ähnlichen   Versuche   durchaus  nichts  anderes 
als  eine  Geschichtsphilosophie  unter  neuem  Namen.     Denn  es  ist  ja 
selbstverständlich,    daß    die    Geschichtsphilosophie    immer    zugleich 
eine  Philosophie  der  menschlichen  Gesellschaft  sein  muß,  daß  sich 
aber   diese   eben   wegen   des  allgemeinen  Gedankeninhalts,   dem   die 
philosophische  Betrachtung  die  gesellschaftlichen  Erscheinungen  ein- 
ordnet,   stets   zu   einer   philosophischen    Beleuchtung   der   geschicht- 
lichen Entwicklung  der  Menschheit  erweitert.    Ganz  abseits  von  einer 
solchen  philosophischen  liegt  jedoch  die  empirische  Aufgabe,  die  ge- 
sellschaftHchen    Erscheinungen    in    ihrem    gesamten    Zusammenhang 
und  mit  Rücksicht  auf  die   Beziehungen,   in  denen  sie  zueinander 
stehen,   zu  beschreiben   und  auf  ihre   Bedingungen  zurückzuführen. 
Die  Soziologie  in  diesem  Sinn  ist  eine  Zustandsschilderung  der 
Gesellschaft  innerhalb  bestimmter  zeitlicher  und  räumlicher  Grenzen. 
Sie  steht  einerseits  mit  der  Geschichte,  anderseits  mit  den  einzelnen 
sozialen  Wissenschaften,  Rechts-,  Wirtschafts-,   Staatslehre,  in  enger 
Verbindung.     Ihre  Aufgaben  greifen  teils  in  alle  diese  Einzelgebiete 
ein,  teils  bringt  sie  in  der  Untersuchung  der  Verhältnisse  der  verschie- 
denen Faktoren  des  gesellschaftlichen  Lebens  zueinander  eine  neue 
und  eigenartige  Aufgabe  hinzu.      Für  diese  bietet  vornehmlich  die 
Statistik  der  Bevölkerungserscheinungen  das  erforderliche  Material. 
Von  der  Geschichte  scheidet  sich  aber  eine  solche    empirische  So- 
ziologie dadurch,  daß  jene  die  ganze  Aufeinanderfolge  der  Zustände 
samt  den  Ereignissen,  die  den  Wechsel  der  Zustände  herbeiführten, 
zu  ihrem  Objekt  hat,  während  diese  gewissermaßen  Querschnitte  durch 
einzelne  Stellen  dieses  fortan  sich  verändernden  organischen  Ganzen 


6  Einleitung. 

ZU  legen  sucht.  Dabei  konzentriert  sich  wiederum  naturgemäß  das 
vorwaltende  soziologische  Interesse  auf  bestimmte  Epochen,  unter 
denen  die  Zustände  der  Gegenwart  um  so  mehr  im  Vordergrund 
stehen,  als  für  sie  allein  die  Hilfsmittel  der  Untersuchung  ausgebildet 
genug  sind,  um  die  Ergebnisse  einer  gewissen  Exaktheit  nahe  zu 
bringen^).  Nun  ist  es  klar,  daß  eine  empirische  Soziologie  in  diesem 
Sinne  in  dem  Maße,  als  sie  von  den  ihr  zunächst  obliegenden  deskrip- 
tiven Aufgaben  zu  einer  Interpretation  der  Erscheinungen  fortschreiten 
will,  nach  manchen,  die  physische  Seite  des  Zusammenlebens  betreffen- 
den Eichtungen  mit  gewissen  Teilen  der  Naturwissenschaft,  nach 
andern  mit  der  Individual-  und  Völkerpsychologie  in  Beziehung  tritt. 
Aber  diese  psychologischen  wie  jene  naturwissenschaftlichen  Gebiete 
können  dabei  nur  als  Hilfsdisziplinen  einer  solchen  die  gesellschaft- 
lichen Verhältnisse  interpretierenden  Soziologie  gedacht  werden. 
Dagegen  ist  es  völlig  unfaßbar,  wie  etwa  umgekehrt  die  Soziologie 
eine  Grundlage  der  Völkerpsychologie  werden  sollte.  Wenn  daher 
behauptet  worden  ist,  die  dieser  zugewiesene  Aufgabe  sei  eigentlich 
das  rechtmäßige  Eigentum  einer  zukünftigen  Soziologie,  oder  die  letz- 
tere müsse  mindestens  erst  gefestigt  sein,  ehe  sich  daran  denken  lasse, 
nun  von  ihr  aus  zu  einer  ihr  untergeordneten  sozialen  Psychologie, 
zu  gelangen,  so  zeigen  diese  Äußerungen,  daß  man  weder  von  dem, 
was  allenfalls  eine  Soziologie,  noch  von  dem,  was  die  Völkerpsycho- 
logie zu  leisten  hat,  eine  klare  Vorstellung  besitzt.  Hinsichtlich  der 
Soziologie  mag  das  angesichts  der  noch  bestehenden  Unsicherheit 
ihres  Programms  entschuldbar  sein.  Nicht  so  für  die  Völkerpsycho- 
logie,   wo    in    den   allgemein    menschlichen    Erzeugnissen,    besonders 


^)  Vgl.  über  diese  Aufgaben  der  Soziologie  neben  und  über  den  einzelnen 
Gesellschaftswissenschaften,  wie  Ethnologie,  Bevölkerungslehre,  Staatswissen- 
schaft, die  Ausführungen  in  meiner  Logik  *  Bd.  3,  S.  455  ff.  Mit  der  Beschränkung, 
daß  die  philosophische  Soziologie  gemeint  sei,  stimme  ich  ganz  der  These 
Paul  Barths  zu,  daß  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie  eins  und  dasselbe 
sind  (Paul  Barth,  Die  Philosophie  der  Geschichte  als  Soziologie,  Bd.  I,  1897, 
S.  10  ff.).  Aber  die  These  verliert,  wie  ich  meine,  ihr  Recht,  wenn  man  den  Be- 
griff der  Soziologie  im  Sinne  einer  empirischen  Gesellschaftswissenschaft  auf- 
faßt: dann  gehört  diese  ebensowenig  wie  die  Geschichte  zur  Philosophie,  son- 
dern ist  höchstens  neben  der  Geschichte  als  Grundlage  der  Geschichtsphilo- 
sophie anzuerkennen. 


Volksgeist  und  Volksseele. 


in  Sprache,  Mythus  und  Religion,  Sitte  und  Kultur,  die  Probleme 
überall  bereit  liegen  und  schon  auf  Grund  der  allgemeinen  Ergeb- 
nisse, die  uns  die  experimentelle  Psychologie  an  die  Hand  gibt,  zu  einer 
psychologischen  Analyse  und  Interpretation  herausfordern. 


II.  Grundbegriffe  der  Völkerpsychologie. 

1.  Volksgeist  und  Volksseele. 

Geist  und  Seele  sind  Wechselbegriffe,  deren  Bedeutungsentwick- 
lung, wenn  sie  auch  erst  einer  späteren  Zeit  angehört,  dennoch  bis 
in  das  mythologische  Denken  zurückreicht.  Geister,  nicht  Seelen, 
nennt  der  Aberglaube  noch  heute  die  körperlos,  aber  gleichwohl 
materiell  gedachten  Schatten  der  Verstorbenen  oder  jene  höheren 
Wesen,  von  denen  er  annimmt,  sie  seien  nie  an  einen  Körper  gebunden 
gewesen.  Die  Seele  gilt  ihm  zwar  auch  als  ein  besonderes  Wesen, 
das  beim  Tode  den  Körper  verlasse;  doch  sobald  dies  geschehe,  ent- 
schwinde sie  zugleich  der  sinnlichen  Anschauimg.  Wo  sie  in  dieser 
bleibt,  da  wird  sie  eben  zum  Geiste.  Darum  ist  die  Seele  für  den  Volks- 
glauben nur  in  ihrer  Gebundenheit  an  den  Leib  der  Erfahrung  zu- 
gänglich. Getrennt  von  ihm  existiert  sie  nur  in  einer  über- 
irdischen Welt.  Die  Geister  dagegen  sind  Wesen,  die  ebensowohl 
in  der  Umgebung  der  Lebenden  wie  jenseits  derselben  ein  selbstän- 
diges Dasein  führen. 

Diese  Unterscheidungen  des  mythologischen  Denkens  wirken 
deutlich  noch  in  dem  uns  geläufigen  wissenschaftlichen  Gebrauch 
der  Begriffe  nach.  Vom  Geist  und  von  geistigen  Vorgängen  reden 
wir  überall  da,  wo  an  irgendwelche  Beziehungen  zur  körperlichen 
Natur  nicht  gedacht,  oder  wo  geflissentlich  von  ihnen  abgesehen  wird. 
Bei  der  Seele  und  den  seelischen  Vorgängen  sind  uns  dagegen  stets 
zugleich  die  Beziehungen  zum  physischen  Leben  gegenwärtig.  Darum 
übersetzen  wir  mit  gutem  Recht  das  Wort  Psychologie  durch  ,, Seelen- 
lehre", während  wir  den  Naturwissenschaften  die  ,, Geisteswissen- 
schaften" gegenüberstellen.  Die  Psychologie  kann  nun  unmöglich 
an  den  Beziehungen  des  Seelenlebens  zum  körperlichen  Sein  vorüber- 
gehen. Denn  empirisch  ist  uns  die  Seele  überhaupt  in  einem  Zusammen- 


8  Einleitung. 

hang  von  Erfahrungen  gegeben,  die  zu  ihrem  Zustandekommen  einen 
physischen  Organismus  von  gewissen  Eigenschaften  fordern.  Diese 
Beziehung  zur  Naturseite  der  Erscheinungen  gilt  zwar  auch  für  die 
sämtlichen  sogenannten  Geisteswissenschaften.  Aber  da  bei  ihnen 
doch  bald  mehr,  bald  weniger  diese  Naturseite  außer  Betracht  bleibt, 
so  scheint  es  berechtigt,  eine  solche  Rücksichtnahme  auf  physische 
Bedingungen  und  Wirkungen  hier  nur  stillschweigend  hinzuzudenken, 
um  die  Beziehungen  zu  dem  geistigen  Leben  als  das  allen  diesen  Ge- 
bieten gemeinsame  und  sie  von  der  Naturforschung  scheidende  Merk- 
mal zu  betonen.  Wie  die  Psychologie  überhaupt,  so  hat  es  daher  auch 
die  Völkerpsychologie,  insofern  die  für  jene  maßgebenden  Bedingungen 
notwendig  für  sie  gleichfalls  gelten,  mit  der  Seele,  nicht  mit  dem 
Geiste  in  der  diesen  unterscheidenden  Bedeutung  des  Wortes  zu  tun. 
Nur  greift  sie  die  besonderen  Erscheinungen  heraus,  die  an  die  Be- 
dingungen des  menschlichen  Zusammenlebens  gebunden  sind.  Sie 
wird  daher  sinngemäß  eine  ,, Lehre  von  der  Volksseele"  zu  nennen 
sein.  Vom  ,, Volksgeiste"  werden  wir  dagegen,  wie  es  auch  der  Sprach- 
gebrauch bestätigt,  dann  reden  können,  wenn  es  sich  um  eine  Charakte- 
ristik der  geistigen  Eigentümlichkeiten  eines  bestimmten  Volkes 
oder  verschiedener  Völker  handelt.  Eine  solche  Untersuchung  würde 
demnach  nicht  der  eigentlichen  Völkerpsychologie,  sondern  einer 
Charakterologie  der  Völker  oder  dem  psychologischen  Teil  der  Ethno- 
logie zufallen. 

Nicht  selten  hat  man  freilich  gegen  die  Berechtigung  einer  Völker- 
psychologie Bedenken  erhoben,  die  eben  an  jene  Vorstellungen  an- 
knüpfen, von  denen  die  Unterscheidung  der  Begriffe  Seele  und  Geist 
ursprünglich  ausgegangen  ist.  „Wenn  wir  eine  Seele  als  Substrat 
der  geistigen  Lebensäußerungen  eines  Individuums  voraussetzen", 
sagt  man,  „so  entspricht  das  ebenso  dem  Gebundensein  dieser  Lebens- 
äußerungen an  einen  bestimmten  physischen  Körper,  wie  der  Un- 
möglichkeit, aus  den  Eigenschaften  des  letzteren  die  seelischen  Vor- 
gänge abzuleiten.  Wo  aber  soll  eine  Volksseele  ihren  Sitz  haben? 
So  wenig  es  einen  einzigen  einheitlichen  Volkskörper  gibt,  ebenso 
undenkbar  erscheint  ein  einheitliches  Substrat  des  gemeinsamen 
geistigen  Lebens.  Wie  vielmehr  der  Volkskörper  aus  nichts  anderem 
als  aus  den  Körpern  aller  einzelnen  Volksgenossen  besteht,  gerade 


Volksgeist  und  Volksseele.  9 


so  löst  sich  die  sogenannte  Volksseele  ohne  Rest  in  die  Summe 
"der  Einzelseelen  auf,  die  diesen  Volksgenossen  angehören.  Sie 
ist  ein  Geschöpf  der  mythologischen  Phantasie,  keine  Wirk- 
lichkeit." 

Es  ist  jedoch  augenfällig,  daß  diejenigen,  die  diese  Einwände 
erheben,  selbst  in  jener  mythologischen  Vorstellungsweise  befangen 
sind,  die  sie  hinter  dem  Ausdruck  Volksseele  verborgen  wähnen. 
Der  Begriff  ,, Seele"  ist  für  sie  so  untrennbar  an  den  eines  substan- 
tiellen, mit  einem  eigenen  Körper  ausgestatteten  Wesens  geknüpft, 
daß  ihnen  jeder  Wortgebrauch,  der  ihm  diese  Bedeutung  raubt,  für 
unerlaubt  gilt.  Da  die  Völkerpsychologie  nicht  der  geeignete  Ort  ist, 
um  an  metaphysischen  Hypothesen  Kritik  zu  üben,  so  können  wir 
Tins  hier  mit  dem  Hinweis  begnügen,  daß,  wie  wichtig  auch  im  meta- 
physischen Interesse  die  Frage  nach  der  Bedeutung  des  Begriffs  einer 
substantiellen  Seele  sein  mag,  die  empirische  Psychologie  als  solche 
an  dieser  Frage  gänzlich  unbeteiligt  bleibt.  Denn  wie  man  auch  über 
<iie  Notwendigkeit  denkt,  zu  dem  Gesamtinhalt  dessen,  was  wir  das 
seelische  Leben  nennen,  eine  transzendente  Substanz  als  Trägerin 
vorauszusetzen,  gewiß  ist,  daß  wir  es  in  der  Erfahrung  niemals  mit 
einer  solchen  zu  tun  haben,  und  daß,  wo  man  etwa  über  diesen  Punkt 
anders  dachte,  die  Voraussetzungen  über  die  Seelensubstanz  ent- 
weder sich  als  unnütze  metaphysische  Ornamente  erwiesen  oder  zu 
zweifelhaften,  wenn  nicht  direkt  der  Erfahrung  widerstreitenden 
Folgerungen  führten.  Für  die  empirische  Psychologie  kann  die  Seele 
nie  etwas  anderes  sein  als  der  tatsächlich  gegebene  Zusammenhang 
der  psychischen  Erlebnisse,  nichts,  was  zu  diesen  von  außen  oder  von 
innen  hinzukommt^). 

Aus  allem  dem  folgt,  daß  der  Begriff  ,, Seele"  keine  andere  em- 
pirische Bedeutung  hat  als  die,  den  Zusammenhang  der  unmittel- 
baren Tatsachen  unseres  Bewußtseins  oder,  wie  wir  diese  der  Kürze 
wegen  nennen  wollen,  der  ,, psychischen  Vorgänge"  selbst  zu  bezeichnen. 
Natürlich  kann  auch  die  Völkerpsychologie  den  Seelenbegriff  nur  in 
<iiesem  empirischen  Sinne  gebrauchen;  und  es  ist  einleuchtend,  daß 
in  ihm  die ,,  Volksseele"  genau  mit  demselben  Recht  eine  reale  Bedeutung 


1)  Vgl.  meine  Kleinen  Schriften,  Bd.  2,  S.  145  ff. 


10  Einleitung. 

besitzt,  wie  die  individuelle  Seele  eine  solche  für  sich  in  Anspruch 
nimmt.  Die  geistigen  Entwicklungen,  die  durch  das  Zusammenleben 
der  Glieder  einer  Volksgemeinschaft  entstehen,  sind  nicht  minder 
tatsächliche  Bestandteile  der  Wirklichkeit  wie  die  psychischen  Vor- 
gänge innerhalb  des  Einzelbewußtseins.  Sie  sind  allerdings  nichts, 
was  jemals  außerhalb  individueller  Seelen  vor  sich  gehen  könnte. 
Aber  wie  nicht  die  psychischen  Elemente  im  isolierten  Zustande, 
sondern  ihre  Verbindungen  und  die  hieraus  entspringenden  Produkte 
das  bilden,  was  wir  eine  Einzelseele  nennen,  so  besteht  die  Volks- 
seele im  empirischen  Sinne  nicht  aus  einer  bloßen  Summe  indivi- 
dueller Bewußtseinseinheiten,  deren  Kreise  sich  mit  einem  Teil  ihres 
Umfangs  decken;  sondern  auch  bei  ihr  resultieren  aus  dieser  Ver- 
bindung eigentümliche  psychische  und  psychophysische  Vorgänge, 
die  in  dem  Einzelbewußtsein  allein  entweder  gar  nicht  oder  min- 
destens nicht  in  der  Ausbildung  entstehen  könnten,  in  der  sie  sich 
infolge  der  "Wechselwirkung  der  Einzelnen  entwickeln.  So  ist  die 
Volksseele  ein  Erzeugnis  der  Einzelseelen,  aus  denen  sie  besteht; 
aber  diese  sind  nicht  minder  Erzeugnisse  der  Volksseele,  an  der  sie 
teilnehmen.  Es  wiederholt  sich  hier,  was  bei  solchen  Begriffsbildungen, 
die  nicht  bestimmte  Objekte,  sondern  verwickelte  Verbindungen 
und  Beziehungen  von  Tatsachen  ausdrücken,  zumeist  geschieht: 
die  Begriffe  erfahren  je  nach  den  Gebieten  ihrer  Anwendung  not- 
wendige Modifikationen.  Ähnlich  wie  wir  kein  Bedenken  tragen, 
den  Staat  einen  ,, Organismus"  zu  nennen,  ohne  zu  übersehen,  daß 
dem  Begriff  in  dieser  neuen  Bedeutung  nicht  alle  Merkmale  zukommen, 
die  seiner  ursprünglichen  Anwendung  auf  lebende  organische  Einzel- 
wesen eigen  sind,  und  daß  er  dagegen  dort  Merkmale  annimmt,  die 
ihm  hier  fehlen,  —  ähnlich  verhält  es  sich  mit  der  ,, Volksseele''.  Der 
individuellen  Seele  gegenüber  bezeichnet  sie  sowohl  eine  Erweiterung 
wie  eine  Verengerung  des  Begriffs:  eine  Erweiterung,  da  bei  dieser 
Übertragung  gewisse  Begriffselemente,  namentlich  die  der  Einzel- 
seele anhaftende  Beziehung  auf  einen  physischen  Einzelorganismus, 
verloren  gehen;  eine  Verengerung,  indem  sich  aus  dem  Zusammen- 
leben vieler  Individuen  besondere  Bedingungen  und  Eigenschaften 
ergeben.  Hierher  gehört  namentlich  die  Beschränkung  der  völker- 
psychologisch  bedeutsamen   psychischen   Leistungen   auf   bestimmte 


Vorgeschichte  und  Geschichte.  11 

Seiten  des  geistigen  Lebens,  sowie  die  Tatsache,  daß  die  völkerpsycho- 
logischen Entwicklungen  das  individuelle  Leben  überdauern,  dabei 
aber  doch,  da  sie  von  den  psychischen  Eigenschaften  der  Einzelnen 
getragen  sind,  mit  dem  "Wechsel  der  Generationen  eigenartige  Ver- 
änderungen erfahren.  Besonders  diese  Kontinuität  psychischer  Ent- 
wicklungen bei  fortwährendem  Untergang  ihrer  individuellen  Träger 
ist  es,  die  als  ein  der  Volksseele  spezifisch  zugehörendes  Merkmal 
angesehen  werden  kann. 

2.  Vorgeschichte  und  Geschichte. 

Indem  sich  die  Völkerpsychologie  vorzugsweise  mit  denjenigen 
Erscheinungen   im   Völkerleben    beschäftigt,    die   mehr   oder   minder 
allgemeingültiger  Natur  sind,    und  in   denen   ein   Einfluß   einzelner 
Persönlichkeiten  nicht  äußerlich  sichtbar  hervortritt,  liegt  es  nahe, 
hierin  den  wesentlichen  Unterschied  ihrer  Aufgaben   im  Verhältnis 
zu  denen  der  Geschichte  zu  sehen.    Darnach  würde  die  historische 
Betrachtung  da  beginnen,  wo  individuelle  Einflüsse,   sei  es,  daß 
sie  direkt  durch  die  Überlieferung  bezeugt  oder  indirekt  durch  den 
singulären  Charakter  des  Geschehens  wahrscheinlich  werden,  in  die 
Entwicklung  der  Völker  bestimmend  eingreifen;   der  Völkerpsycho- 
logie würde  aber  das  vor  dieser  entscheidenden  Wendung  zur  Ge- 
schichte liegende  Stadium  eines  der  Gesamtheit  als  solcher  zukommen- 
den Werdens  zufallen.    Eine  solche  Anschauung  ließe  sich  dann  wohl 
auch  im  Sinne  vieler  Historiker  mit  dem  Begriff  der  Volksseele  in 
Beziehung  bringen,  indem  man  der  Völkerpsychologie  die  allgemeinen, 
einem    noch    naturgeschichtlich    bestimmten    Dasein    des    Menschen 
zugehörenden    Entwicklungen    der    Volksseele,    der    Geschichte    aber 
diejenigen  Erscheinungen  zuwiese,  die  wesentlich  von  dem  Eingreifen 
einzelner  führender  Individuen  in  diese  Entwicklung  getragen  seien. 
Doch   einer  tiefer  eindringenden   Betrachtung  hält  die   Grenze,   die 
man  hier  zwischen  den  geschichtlichen  und  geschichtslosen  Völkern 
ziehen  möchte,  nirgends  stand.    Denn  die  Meinung,  daß  das  Verhält- 
nis der  Individuen  zur  Gemeinschaft  vom  Beginn  der  Geschichte  an 
ein  neues,   eigenartiges  sei,   das  den  Naturvölkern  fehle,   beruht  auf 
einer  oberflächlichen  Abstraktion,  die  über  der  Außenseite  der  Er- 


12  Einleitung. 

scheinimgen  ihren  Zusammenliang  vernachlässigt.  Geschichtslos 
im  wörtlichen  Sinne  ist  kein  noch  so  kulturlos  gebliebener  Teil  der 
Menschheit.  Vor  allem  Sprache,  Mythus  und  Sitte  bezeugen  überall 
eine  zumeist  weit  in  die  Vergangenheit  zurückreichende  Entwicklung, 
die  durch  Tradition  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  sich  fortpflanzt, 
und  in  der  es  auch  bei  den  primitivsten  Naturvölkern  an  Wandlungen 
nicht  fehlt.  Mag  dieses  geschichtliche  Werden  von  dem  unserer  Kul- 
turvölker darin  abweichen,  daß  es  nicht  oder  doch  nicht  äußerlich 
sichtbar  in  die  allgemeine  Geschichte  der  Menschheit  eingegriffen, 
und  daß  die  Stadien  derselben  durch  keine  direkte  Überlieferung 
fixiert  worden  sind,  —  alles  das  bleibt  schließlich  doch  nur  ein  äußerer 
Unterschied,  der  noch  dazu  in  den  mannigfaltigsten  Gradabstufungen 
zu  den  im  engeren  Sinne  geschichtlichen  Völkern  hinüberführt.  Je 
mehr  die  Völkerkunde  in  die  Verhältnisse  der  primitiven  Völker  ein- 
dringt, um  so  klarer  erweist  sich  daher  die  alte  Vorstellung,  als  sei 
bei  ihnen  Vergangenheit  und  Gegenwart  und,  falls  sie  sich  nur  selbst 
überlassen  blieben,  auch  die  Zukunft  ein  einziger,  unabänderlich  gleich 
bleibender  Zustand,  als  eine  Täuschung.  Völkerverkehr  und  Völker- 
mischungen haben  im  Leben  der  Menschheit  niemals  und  nirgends 
gefehlt,  wenn  auch  der  Umkreis,  in  dem  sie  sich  bewegen,  von  sehr 
verschiedener  Ausdehnung  sein  kann.  Wie  diese  Vorgänge  in  der 
vorhistorischen  Entwicklung  unserer  heutigen  Kulturvölker  die  Grund- 
lagen eben  dessen  gelegt  haben,  was  ihren  Eintritt  in  die  Geschichte 
möglich  machte,  so  sind  sie  aber  bei  den  Naturvölkern,  die  die  Schwelle 
der  eigentlichen  Geschichte  nie  überschritten  haben,  Etappen  einer 
Entwicklung,  über  die  freilich  keine  literarische  Tradition  berichtet, 
die  wir  aber  aus  den  Zeugnissen  der  Sprache,  aus  der  Verbreitung 
von  Werkzeugen  und  Waffen  und,  soweit  der  Grad  der  Übereinstimmung 
die  unabhängige  Entstehung  ausschließt,  von  Mythen  und  Kulten 
erschließen  können.  So  ist  es  im  letzten  Grunde  allein  die  absicht- 
liche, über  weitere  Zeiträume  sich  erstreckende  Überlieferung  und 
ihre  Bewahrung  durch  literarische  und  andere  Denkmale,  die  die 
eigentliche  Geschichte  und  jene  Vorgeschichte  voneinander  scheiden, 
der  unsere  eigene  Vergangenheit  und  die  Gegenwart  der  sogenannten 
Naturvölker  angehören.  Und  auch  hier  sind  diese  Unterschiede  fließende. 
Nicht  bloß  bildet  das  Denkmal,  das  die  Erinnerung  an  wichtige  Er- 


Vorgeschichte  und  Geschichte.  13 

eignisse  im  Bilde  bewahrt,  lange  vor  der  literarischen  Tradition  ein 
zwischen  Vorgeschichte  und  Geschichte  vermittelndes  Stadium: 
vor  allem  die  mündliche  Überlieferung  pflegt  die  einander  nächsten 
Generationen  gerade  da,  wo  die  Bewahrung  durch  die  Schrift  und 
durch  bleibende  Denkmäler  fehlt,  fester  zu  verbinden,  als  da,  wo 
diese  Mittel  zugleich  Bedingungen  mit  sich  führen,  die  abändernd 
in  die  Überlieferung  eingreifen.  Das  augenfälligste  Zeugnis  bietet 
hier  das  allgemeinste  Mittel  historischer  Tradition  selbst,  die  Sprache. 
Nur  die  literarische  Überlieferung  vermag  es,  die  Sprachformen  einer 
weit  entfernten  Vergangenheit  verhältnismäßig  treu  zu  bewahren. 
Kaum  gibt  es  aber  zugleich  einen  Einfluß,  der,  von  Sprachmischungen 
abgesehen,  in  höherem  Grade  verändernd  einwirkt  als  die  Literatur, 
die  die  Dialekte  mischt,  neue  Wortbildungen  verbreitet  und,  indem 
sie  dem  internationalen  Verkehr  dient,  der  in  vorhistorischer  Zeit 
an  die  Wanderungen  der  Völker  gebundenen  Sprachmischung  durch 
den  geistigen  Verkehr  neue  Wege  eröffnet.  So  ist  denn  in  der  Tat 
der  Naturmensch,  wo  die  Einflüsse  der  Wanderungen  und  Mischungen 
der  Völker  fehlen,  wie  die  Beobachtung  im  Gegensatze  zu  früher 
verbreiteten  Meinungen  gezeigt  hat,  in  seiner  Sprache  konservativer 
als  der  Kulturmensch;  und  was  von  ihr,  das  gilt  nicht  minder  von 
den  Traditionen  der  Mythen,  Märchen  und  Fabeln  und  von  den  all- 
gemeinen Formen  des  Lebens.  Ist  die  Tradition  durch  die  Literatur 
die  weitaus  umfassendere,  so  ist  die  Mitteilung  von  Mund  zu  Mund 
die  treueste.  Was  sie  bewahrt,  das  bildet  bei  Natur-  wie  Kultur- 
völkern ein  Erbgut,  das  dem  Wandel  der  Zeiten  am  dauerndsten 
widersteht. 

Tiefer  greifend  ist  ein  anderer  Unterschied  der  primitiven  von 
den  höheren,  durch  den  gesteigerten  Völkerverkehr  vermittelten 
Kulturen.  Mögen  Sagen  und  Sitten  der  Naturvölker  noch  so  treu 
von  Generation  zu  Generation  sich  fortpflanzen,  das  Gedächtnis 
der  individuellen  Träger  dieser  Überlieferungen  schwindet  schon  dem 
nächsten  oder,  wenn  es  hoch  kommt,  dem  übernächsten  Geschlecht. 
Auch  dieser  Unterschied  erweitert  sich  freilich  erst  dadurch  zu  einer 
jscheinbar  unüberbrückbaren  Kluft,  daß  sich  für  die  Betrachtung 
aus  der  Ferne  dieses  Verschwinden  der  Erinnerung  in  ein  Verschwin- 
den der  Einzelpersönlichkeit  selbst  umwandelt.    Bei  den  Naturvölkern 


14  Einleitung. 

soll  das  Individuum  überhaupt  ohne  Einfluß  sein  und  die  Masse  alles 
bedeuten;  bei  den  Kulturvölkern  wird  der  Einzelne  als  der  in  erster 
Linie  bestimmende  Faktor  der  Entwicklung  betrachtet.  Damit  ist 
dann  das  Kriterium  gegeben,  das  nach  der  im  allgemeinen  auch  von 
der  Wissenschaft  rezipierten  Ansicht  die  Geschichte  von  den  vor- 
geschichtlichen Zuständen  scheiden  soll.  Die  Geschichte  beginnt, 
wie  man  annimmt,  in  dem  Augenblick,  wo  führende  Einzelpersön- 
lichkeiten den  Verlauf  der  Ereignisse  bestimmen.  Nun  kann  aber 
selbstverständlich  die  Erinnerung  an  den  Einzelnen  seine  Bedeutung 
für  die  Gesamtheit  zwar  insofern  mitbestimmen,  als  sie  eine  weitere 
Wirkung  auf  künftige  Generationen  vermittelt;  ein  direktes  Maß 
ihres  Einflusses  vermag  sie  nicht  abzugeben.  Das  Verhältnis  selbst 
ist  daher  in  der  Naturgesellschaft  im  wesentlichen  kein  anderes  als 
in  der  Kulturgesellschaft.  Latent  lebt  auch  in  jener  der  Einzelne 
in  allem  dem  fort,  was  auf  sein  persönliches  Wirken  zurückgeht.  Wenn 
schon  in  primitiven  Zuständen  die  Sage  von  Heilbringern  und  Helden 
erzählt,  denen  die  Völker  ihre  am  höchsten  geschätzten  Lebensgüter 
verdanken,  so  wirkt  dabei  freilich  in  erster  Linie  die  mythologische 
Personifikation  mit;  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ist  aber  doch  sicher- 
lich auch  die  aus  der  täglichen  Erfahrung  geschöpfte  Vorstellung 
beteiligt,  daß  einzelne  durch  Tatkraft  und  Einsicht  hervorragende 
Menschen  einen  entscheidenden  Einfluß  ausüben.  In  den  Sagen  vom 
Heilbringer  wird  diese  Erfahrung  des  Augenblicks  nur  ins  Große  und 
in  eine  mythische  Vorzeit  projiziert,  was  die  spätere,  bis  an  die  Schwelle 
der  Gegenwart  herabreichende  Sage  und  die  in  diesem  Stück  zum 
Teil  noch  ihrem  Vorbilde  folgende  Geschichte  auf  einen  Einzelnen 
zu  vereinigen  pflegt,  und  was  doch  in  Wirklichkeit  die  Schöpfung 
vieler  oder  im  Grunde  genommen  der  Gesamtheit  selbst  ist.  So  läßt 
sich  denn  im  Lichte  dieser  Betrachtung  das  Verhältnis  der  Kultur- 
stufen wohl  auch  dahin  feststellen,  daß  bei  dem  primitiven  Volk  das 
Werk  des  Einzelnen  nach  kurzer  Zeit  in  den  Schoß  der  Gesamtheit, 
aus  dem  es  hervorgegangen,  zurückkehrt,  indes  überall,  wo  eine 
geschichtliche  Tradition  entstanden  ist,  neben  den  zahllosen  Ein- 
zelnen, die  nicht  anders  wie  dort  nur  in  den  unmittelbaren  Einflüssen 
auf  ihre  nächste  Umgebung  und  deren  unbestimmter  Ausbreitung 
fortwirken.  Einzelne  kürzere  oder  längere  Zeit  in  der  geschichtlichen 


Vorgeschichte  und  Geschichte.  15 

Erinnerung  an  ilire  Persönlichkeit  fortleben.  Im  Grunde  leben  aber 
doch  auch  sie  nur  in  allem  dem  wirklich  fort,  was  von  der  Gemein- 
schaft aufgenommen  und  weiterentwickelt  wird,  so  daß  jener  Unter- 
schied zwischen  vorgeschichtlichen  und  geschichtlichen  Völkern 
schließlich  mehr  ein  durch  die  Entwicklung  der  geschichtlichen 
Erinnerung  und  ihrer  Hilfsmittel  bedingter  Grad-  als  ein  Wesens- 
unterschied ist.  Was  dagegen  auf  allen  Stufen  der  Kultur  gültig  bleibt, 
ist  das  Prinzip,  daß  in  der  Entwicklung  dieser  Kultur  nur  das  Be- 
stand hat,  was  den  in  der  Gesamtheit  liegenden  Anlagen  entgegen- 
kommt, und  daß  ebenso  das  Wirken  des  Einzelnen  in  diesen  Anlagen 
vorgebildet  sein  muß,  wenn  es  Einfluß  gewinnen  soll.  Darum  ruhen 
im  letzten  Grunde  hier  wie  dort  in  der  Gesamtheit  die  schaffenden 
Kräfte,  aus  denen  das  gemeinsame  Leben  und  mit  diesem  das  von 
ihm  getragene  Leben  des  Einzelnen  hervorgeht.  Die  Geschichte  aber 
vermehrt  diese  Kräfte  in  steigendem  Maße,  indem  sie  neben  der 
unmittelbaren  Ausbreitung  durch  die  im  Kontakt  der  Generationen 
eintretende  Kumulation  der  Wirkungen  fernewirkende  Kräfte  schafft, 
die  jeden  Zeitpunkt  der  späteren  Geschichte  zu  einem  Brennpunkt 
machen  können,  in  dem  sich  die  Strahlen  sammeln,  die  zeitlich  wie 
räumlich  ins  Unabsehbare  reichen.  Diese  extensive  und  intensive 
Steigerung,  die  die  materiellen  wie  geistigen  Werte  des  Lebens  durch 
die  erhaltende  und  fortan  neue  Kräfte  auslösende  Macht  der  Über- 
lieferung erfahren,  begründet  jedoch  in  dem  Verhältnis  des  Einzelnen 
zur  Gemeinschaft  keinen  qualitativen  Unterschied  zwischem  dem 
geschichtlichen  und  dem  vorgeschichtlichen  Menschen.  Vielmehr 
ist  es  hier  wie  dort  die  Gemeinschaft,  die  in  dem  Einzelnen  die  geistigen 
Kräfte  auslöst,  durch  die  er  selbst  wieder  auf  jene  zurückwirkt;  und 
von  allem  dem,  was  er  zu  dem  gemeinsamen  Besitzstande  hinzu- 
bringen mag,  bleibt  nur  das  wirksam,  was  in  der  Gemeinschaft  bereits 
vorgebildet  war.  Der  Einzelne  konzentriert  nur  in  seinem  Streben 
und  Wirken  die  allverbreiteten  Motive  und  wird  so  zum  lebendigen 
Ausdruck  der  Gesamtentwicklung,  bis  schließlich  sein  Werk  zu  einem 
Allgemeinbesitz  geworden  ist,  der  als  ein  selbstverständliches  und 
unpersönliches  Gut  gilt.  Die  Dauer,  während  deren  die  führenden 
Geister,  die  das  gemeinsame  Streben  in  ihrem  Tun  verwirklichen, 
über  den  Strom  des  allgemeinen  Lebens  gehoben  werden,  um  dann 


16  Einleitung. 

wieder  in  ihm  zu  versinken,  kann  sich  bald  auf  kurze  Momente  ihres 
eigenen  Lebens  oder  auf  die  nächste  Generation  beschränken,  bald 
kann  sie  weite  historische  Zeiträume  umfassen,  —  die  Natur  des  Pro- 
zesses bleibt  schließlich  die  gleiche.  Wohl  aber  kann  es  nun  aus  der 
Ferne  gesehen  so  scheinen,  als  handle  es  sich  hier  nicht  um  einen  im 
letzten  Grunde  doch  bloß  gradweisen  Unterschied  in  den  Bedingungen 
des  Entstehens  und  des  Untergangs  der  Persönlichkeiten,  sondern 
um  einen  Wesensunterschied  dieser  selbst  und  der  Wirkungen,  die 
sie  zurücklassen.  Der  oberflächlichen  Betrachtung  erscheint  dann 
das  Naturvolk  als  eine  undifferenzierte  und,  abgesehen  von  spärlichen 
Bruchstücken,  die  ihm  aus  fremden  Kulturen  zugeführt  werden,  ent- 
wicklungslos dahinlebende  Masse.  Eine  etwas  tiefer  eindringende, 
die  allzu  einseitig  die  erhaltende  Kraft  der  Tradition  zum  Maßstab 
der  Werte  nimmt,  glaubt  dann  sicherer  zu  scheiden,  wenn  sie  in  der 
vorgeschichtlichen  Zeit  den  Einzelnen  ganz  durch  seine  Umgebung, 
die  Geschichte  aber  ganz  oder  doch  der  Hauptsache  nach  durch  das 
Wirken  Einzelner  bestimmt  sein  läßt.  Beides  ist  falsch.  Vielmehr 
ist  und  bleibt  die  Wechselwirkung  zwischen  dem  Einzelnen  und  der 
Gemeinschaft  in  ihrer  Form  die  gleiche.  Nur  das  Tempo  der  Erschei- 
nungen, der  Grad  der  Konzentration  der  aus  der  Gesamtheit  her- 
vorgehenden Kräfte,  endlich  die  Dauer  ihrer  Nachwirkung  und  der 
Erinnerung  an  ihren  Ursprung  sind  verschieden. 

Wie  sich  der  Gang  der  geistigen  Entwicklung  der  Natur-  und 
Kulturvölker  unmöglich  auf  ein  solches  Verhältnis  der  Masse  zu  den 
Individuen  zurückführen  läßt,  ebenso  wenig  können  aber  hier  for- 
male Unterschiede  des  seelischen  Lebens  der  Individuen  selbst  als 
Kriterien  gelten.  Wenn  man  bei  dem  Naturvolk  das  triebartige 
und  instinktive  Leben,  bei  dem  Kulturvolk  das  planmäßige  will- 
kürliche Handeln  vorherrschend  findet,  so  ist  das  wieder  nur  eine 
Interpretation,  die  den  allgemeinen  Eindruck  der  verschiedenen 
Kulturstufen  auf  die  Einzelnen  überträgt,  die  deren  Vertreter  sind. 
Der  Buschmann,  der  Andamanese,  der  Zentralaustralier,  die  den 
Typus  des  geschichtslosen  Menschen  wohl  in  den  ausgeprägtesten 
uns  bekannten  Formen  repräsentieren,  sind  als  Individuen  in  den 
Hilfsmitteln,  die  der  Befriedigung  ihrer  täglichen  Bedürfnisse  dienen, 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  erfinderisch,  und  die  Strenge,  mit  der 


Vorgeschichte  und  Geschichte.  17 

diese  Stämme  meist  an  der  altüberlieferten  Sitte  festhalten,  spricht 
dafür,  daß  sie  kaum  mehr  als  die  Mehrzahl  der  Kulturmenschen  von 
momentan  wirkenden  Trieben  beherrscht  werden. 

Gleichwohl  ist  es  nicht  minder  zulässig,  aus  dieser  Gleichartig- 
keit der  geistigen  Anlagen  auf  eine  wesentliche  Übereinstimmung 
in  der  Geistesverfassung  selbst  zu  schließen  und  demnach  etwa  die 
ungeheuren  Unterschiede  der  Kulturstufen  nur  auf  den  Unterschied 
der  äußeren  Lebensbedingungen  zurückführen  zu  wollen,  wie  dies 
zuweilen  in  dem  Streben  hervortritt,  in  primitiven  Zuständen  des- 
halb, weil  sie  in  ihrer  einfachen  Ursprünglichkeit  von  manchen  un- 
erfreulichen Zügen  einer  entwickelteren  Kultur  frei  sind,  eine  voll- 
kommenere Form  des  religiösen  und  sittlichen  Lebens  zu  sehen.  Hier- 
her darf  man  wohl  die  Bemühungen  mancher  Anthropologen  zählen, 
da,  wo  die  Frage  einer  Existenz  der  Religion  bei  der  unbestimmten 
Abgrenzung  dieses  Begriffs  gegen  Zauberglauben  und  Mythus  über- 
haupt noch  zweifelhaft  ist,  einen  primitiven  Monotheismus  nach- 
zuweisen, oder  die  aus  den  natürlichen  Gemeinschaftstrieben  ent- 
springenden Handlungen  als  Wirkungen  einer  reineren  Sittlichkeit 
zu  deuten,  Bemühungen,  in  denen  sich  das  alte,  aus  dem  Mythus 
überkommene  Streben  erneuert,  die  geistige  Einheit  der  Mensch- 
heit, die  bestenfalls  ein  Ideal  der  Zukunft  ist,  in  die  Vorgeschichte 
des  Menschen  zu  verlegen.  Die  Psychologie  als  empirische  Wissen- 
schaft hat  nun  weder  mit  der  Philosophie  künftige  Ideale  zu  ent- 
werfen, noch  mit  der  mythologischen  Dichtung  diese  in  die  Vergangen- 
heit oder  in  primitive  Kulturen  zu  projizieren,  in  denen  sich  jene  Ver- 
gangenheit widerspiegelt,  sondern  das  Feld  ihrer  Betrachtungen  ist 
die  Wirklichkeit  des  Lebens  in  allem  dem  Niedrigen  wie  Großen,  dem 
Abschreckenden  und  Erhebenden,  das  sie  mit  sich  führt.  Und  will 
sie  ein  Verständnis  der  geistigen  Entwicklung  gewinnen,  so  muß  nach 
den  allgemeinen  Regeln  wissenschaftlicher  Untersuchung  ihre  Auf- 
merksamkeit mehr  den  Unterschieden  als  den  Übereinstimmungen 
zugewandt  sein.  So  betrachtet  erscheint  das  geistige  Leben  des  primi- 
tiven Menschen  von  dem  des  Kulturmenschen,  abgesehen  von  dem 
Einschlag,  den  dort  von  außen  zugeführte  Kulturgüter,  hier  Rudi- 
mente früherer  Stufen  bilden,  nicht  weniger  verschieden  wie  der 
Bumerang  des  Australiers  oder  der  primitive  Pfeil  des  Buschmanns 

Wnndt,   Völkerpsychologie.    I.    4.  Aufl.  2 


18  Einleitung. 

von  der  Schnellfeuerwaffe  der  heutigen  Gewehrtechnik.  Doch  jene 
geistigen  Unterschiede  sind  nicht  sowohl  formaler  als  realer  Art. 
Sie  beziehen  sich  nicht  auf  die  Formen  der  Vorstellungen,  Gefühle, 
Triebe  und  Willenshandlungen,  sondern  auf  den  Inhalt  des  geistigen 
Lebens,  von  dem  aus  nur  noch  schwache,  eben  durch  die  überein- 
stimmenden Grundeigenschaften  der  Seele  gesponnene  Fäden  die 
höheren  Stufen  der  Kultur  mit  ihren  Anfängen  verbinden.  Diese 
Fäden  aufzusuchen  und  an  ihnen  den  bei  allen  Gegenwirkungen  und 
Kontrasten  doch  stetigen  und  gesetzmäßigen  Wandel  der  Motive 
zu  verfolgen,  das  ist  eben  die  Aufgabe  des  Völkerpsychologen  und  das 
Schwerste,  was  er  bei  ihrer  Lösung  zu  leisten  hat,  besteht  darin,  sich 
selbst  in  die  Anschauungen  des  Menschen  entlegener  Kulturen  und 
vor  allem  in  die  Anschauungs-  und  Gefühlswelt  des  Primitiven  zu 
versetzen.  Hier  gerade  wirkt  die  alte  rationalistische  Geschichts- 
philosophie immer  noch  nach,  und  sie  findet  in  der  Reflexionspsycho- 
logie des  populären  Denkens  und  der  von  diesem  beeinflußten  In- 
dividualpsychologie  ihre  vornehmste  Stütze.  Indem  dieser  Ratio- 
nalismus hier  wie  dort  die  realen  Unterschiede  des  geistigen  Lebens 
der  Völker  geflissentlich  ausgleicht,  um  das  Fremde  überall  auf  das 
Niveau  der  gleichen  verstandesmäßigen  Überlegung  zu  erheben, 
begibt  er  sich  von  vornherein  der  Fähigkeit,  in  die  Motive  der  diesem 
rationalistischen  Denken  fremd  gegenüberstehenden,  Religion  und 
Sitte  aus  sich  hervorbringenden  mythologischen  Anschauungswelt 
einzudringen.  Aber  auch  bei  der  Sprache  verdunkelt  diese  einseitig 
rationahstische  Behandlimg  der  Probleme  ihre  wirkHche  psycholo- 
gische Lösung  um  so  mehr,  da  hier  in  der  neueren  Sprachwissenschaft 
immer  noch  die  Traditionen  des  gewaltsam  uniformierenden  Logi- 
zismus  der  alten  Grammatik  fortleben. 


3.  Der  Einzelne  und  die  Gemeinschaft. 

Völkerpsychologie  und  Geschichte  setzen  beide  die  Gemein^ 
Schaft  als  eine  dem  Individuum  übergeordnete  geistige  Einheit  voraus. 
Darauf,  daß  die  Gemeinschaft  selbständige  geistige  Werte  schafft, 
die  in  den  seelischen  Eigenschaften  der  Einzelnen   wurzeln,   selbst 


Der  Einzelne  und  die  Gemeinschaft.  19 

aber  spezifischer  Art  sind  und  dem  individuellen  Seelenleben  selbst 
wieder  seine  wichtigsten  Inhalte  zuführen,  gründet  sich  die  Völker- 
psychologie.   Sie  würde  unmöglich  sein,  wenn  nicht  die  Gemeinschaft 
fortan   neue  Werte   erzeugte,   zu  deren   psychologischer  Erkenntnis 
die  Hilfsmittel  der  Individualpsychologie  unzureichend  sind.     Nicht 
minder  findet  die  Geschichte  in  der  Volksgemeinschaft  ihr  nächstes 
Substrat,  auf  das  sie  sich  ebenso  in  ihrer  Erweiterung  zur  Universal- 
geschichte wie  in  ihren  Beschränkungen  auf  einzelne  Gebiete  bis  herab 
zur  Geschichte  eines  einzelnen  Erzeugnisses  oder  einer  individuellen 
Persönlichkeit   von    historischer    Bedeutung    immer    wieder    zurück- 
bezieht.   Hierbei  greift  nun  aber  überall  zugleich  in  die  Behandlung 
der    Geschichte     das   Verhältnis   der   Individuen    zur    Gemeinschaft 
bestimmend  ein.     Indem  der  Historiker  geneigt  ist,  einzelne  hervor- 
ragende  Persönlichkeiten   zu   Trägern   der    Geschichte   zu    machen, 
wird  sein  Standpunkt  bei  der  Betrachtung  des  menschlichen  Lebens 
und  seiner  Schöpfungen,  auch  solcher,  die,  wie  Sprache,  Mythus  und 
Sitte,  unmittelbar  nur  an  die   Gemeinschaft  gebunden  sind,   leicht 
ein  einseitig  individualistischer;  und  da  alle  jene  gemeinsamen 
Schöpfungen,  wenn  sie  in  individuelle  Erzeugnisse  umgedeutet  werden, 
mit  Notwendigkeit  den  Charakter  einer  erfinderischen  Tätigkeit  an- 
nehmen, so  bildet  den  natürlichen  Verbündeten  dieses  Individualis- 
mus ein  ebenso  einseitiger  Intellektualismus.     Beide  Kichtungen 
vereinigt  in   schärfster  Ausprägung   die  rationaUstische    Geschichts- 
auffassung der  Aufklärungszeit.     Im  Lichte  dieser  Anschauung  ver- 
schwinden aber  die  Aufgaben  der  Völkerpsychologie  von  selbst:  sie 
verwandeln  sich  in  historische  Aufgaben.     Denn  nachzuweisen,  wer 
der  erste  Entdecker  oder  Erfinder  der  großen  Gemeinschaftserzeug- 
nisse gewesen  sei,  oder  aus  welchen  individuellen  Motiven  sie  her- 
vorgehen konnten,  dies  würde  eine  eminent  geschichtliche  Aufgabe 
sein,  wenn  sie  als  solche  überhaupt  zu  lösen  wäre.     Sollte  aber  die 
Geschichte    dabei    einer    psychologischen    Unterstützung     bedürfen, 
so  könnte  sie  eine  solche  nur  in  der  Individualpsychologie  finden. 
Innerhalb  des  weiteren  Gebiets  allgemeiner  Geschichtsbetrachtungen 
hat  dieser  IndividuaHsmus  und  Intellektualismus  der  Aufklärungs- 
philosophie gegenwärtig  wohl  seine  Rolle  ausgespielt.     Doch  gerade 
in  den  Gebieten,  wo  die  Geschichte  mit  der  Völkerpsychologie  zu- 

2* 


20  Einleitung. 

sammentrifft,  behaupten  sich  beide  mit  besonderer  Hartnäckigkeit. 
Daß  jede  sprachliche  Form,  jede  religiöse  Vorstellung  und  jede  sitt- 
liche Norm  ursprünglich  von  einem  Einzelnen  ausgegangen  sei,  und 
daß  sie  überall  auf  ein  intellektuelles  Bedürfnis,  sei  es  nun  eine  Natur- 
erklärung oder  einen  praktischen  Zweck  zurückgehe,  ist  namentlich 
in  den  Kreisen  der  Sprachforscher  und  Mythologen  noch  immer  eine 
verbreitete,  manchmal  für  selbstverständlich  geltende  Überzeugung. 
Daran  mag  die  vorwaltend  literarhistorisch  gerichtete  Forschung 
auf  diesen  Gebieten  teilweise  die  Schuld  tragen.  Das  Kunstwerk  und 
vor  allem  das  Literaturwerk  pflegt  ja  die  Frage  nach  seinem  Schöpfer 
wachzurufen,  und  von  der  wirklichen  Kunstschöpfung  wird  diese 
Frage  dann  auf  die  gemeinsamen  geistigen  Schöpfungen  übertragen, 
die  jener  ähnlich  sind.  Aber  mehr  noch  wirkt  hier  der  alte  metaphy- 
sische Seelenbegriff  nach,  in  welchem  die  rationalistische  Aufklärung, 
nachdem  sie  in  ihren  Anschauungen  über  Kecht,  Staat  und  Gesell- 
schaft als  überwunden  gelten  kann,  gerade  in  der  Psychologie  immer 
noch  lebendig  geblieben  ist.  Nach  diesem  metaphysischen  Seelen- 
begriff kann  es  nur  Einzelseelen,  keine  Volksseele  geben.  Auf  die 
Einzelseele  muß  daher  alle  geistige  Entwicklung  zurückgehen.  Wie 
die  metaphysische  Seele  in  keiner  Erfahrung  gegeben  ist,  so  kann 
sie  aber  auch  nicht  zur  Interpretation  der  Tatsachen  des  seelischen 
Lebens  verwendet  werden.  Hier  ist  nur  jener  aktuelle  Seelenbegriff 
brauchbar,  nach  welchem  die  Seele  nichts  anderes  als  die  Einheit 
der  seelischen  Vorgänge  selbst  ist.  Nach  diesem  Gesichtspunkte  allein 
bestimmt  sich  daher  das  Verhältnis  der  Begriffe  Einzelseele  und 
Volksseele  und  mit  ihm  das  des  Einzelnen  zur  Gemeinschaft.  So  wenig 
diese  ohne  die  Einzelnen  bestehen  könnte,  so  ist  sie  darum  noch  nicht 
eine  bloße  Addition  und  Verstärkung  der  Eigenschaften  und  Tätig- 
keiten der  Einzelnen.  Vielmehr  ist  es  die  Verbindung  und  Wechsel- 
wirkung der  Individuen,  welche  die  Gemeinschaft  als  solche  hinzu- 
bringt, und  durch  die  sie  auch  in  dem  Einzelnen  neue,  dem  gemein- 
samen Leben  spezifisch  angehörige  Leistungen  weckt.  Dieses  Medium 
der  Verbindung  und  Wechselwirkung  ist  es,  in  welchem  die  Völker- 
psychologie ihre  Aufgaben  vorfindet.  Wie  die  Annahme  einer  sub- 
stantiellen Volksseele  eine  von  psychologischer  Auffassung  weit  ab- 
liegende Vorstellung,  so  ist  auch  der  Versuch,  die  Erzeugnisse  der 


Der  Einzelne  und  die  Gemeinschaft.  21 

Oemeinschaft  und  ihre  Veränderungen  ausschließlicli  auf  individuelle 
Einflüsse  zurückzuführen,  also  die  Völkerpsychologie  zugunsten  der 
Individualpsychologie  auszuschalten,  nicht  minder  undurchführ- 
"bar.  In  der  Tat  kommt  man  auf  diesem  Wege,  abgesehen  von  gewissen 
singulären  Grenzfällen,  durchweg  zu  willkürlichen  Interpretationen, 
hinter  denen  schHeßlich  als  letzte  Zuflucht  der  absolute  Zufall  steht. 
Dahin  gehört  z.  B.  die  noch  heute  in  der  Sprachwissenschaft  ver- 
breitete Annahme,  jeder  generelle  Laut-  oder  Bedeutungswandel 
eines  Wortes  sei  aus  irgendeiner  individuellen  und  okkasionellen  Ab- 
weichung entstanden.  Während  zahlreiche  andere  Abweichungen 
ähnlicher  Art  wieder  verloren  gingen,  sei  irgendeine,  zufällig  oder 
weil  sie  einer  bestehenden  Neigung  entgegenkam,  usuell  geworden i). 
Diese  mitwirkende  Neigung  selbst  gilt  dabei  im  allgemeinen  als  eine 
von  dem  individuellen  Ausgangspunkt  der  Veränderung  unabhängige 
Anlage:  sie  wird  zuweilen  in  dem  Wohlgefallen  am  Neuen,  besonders 
aber  in  dem  der  menschlichen  Gattung  eigenen  Nachahmungstrieb 
gesehen.  Da  sich  nun  die  ursprünglichen  individuellen  Unterschiede 
wegen  ihrer  absolut  unberechenbaren  Entstehungsweise  jeder  Er- 
forschung ihrer  Bedingungen  entziehen,  so  geht  diese  Theorie  der 
Frage  nach  den  Ursachen  der  Erscheinungen  überhaupt  aus  dem  Wege, 
oder  sie  weist  statt  der  Antwort  auf  das  ,, soziologische  Gesetz"  der 
Nachahmung  hin,  nach  welchem  kein  einer  Gesellschaft  angehören- 
des Individuum  irgend  etwas  Auffallendes  oder  vom  Gewohnten 
Abweichendes  tun  könne,  ohne  daß  seine  Genossen  dem  suggestiven 
Einfluß  unterliegen,  den  eine  solche  Handlung  ausübt.  In  dieser 
Nachahmungstheorie  ist  dann  im  eigentlichsten  Sinne  der  Zufall 
zum  Schöpfer  der  sozialen  Erscheinungen,  also  schließlich  der  Ge- 
sellschaft selber  geworden,  die  sich  doch  nur  aus  allen  jenen  Erschei- 
nungen zusammensetzt.  „Die  Gesellschaft"  —  so  resümiert  daher 
folgerichtig  G.  Tarde  seine  der  gleichen  Richtung  angehörende  so- 


^)  H.  Paul,  Prinzipien  der  Sprachgeschichte  *,  S.  69  ff.  Ähnlich  Delbrück, 
Grundfragen  der  Sprachforschung  1901,  S.  98  ff.  Vgl.  dazu  meine  Schrift : 
Sprachgeschichte  und  Sprachpsychologie,  S.  59  ff.  und  Probleme  der  Völker- 
psychologie, 1911,  S.  61  ff.    2.  Aufl.  1921,  S.  64  ff. 


22  Einleitung. 

ziologische  Theorie  —  „ist  die  Nachalimung,  und  die  Nachahmung 
ist  eine  Art  somnambuHscher  Wirkung"  i). 

Nun  spielt  zwar  die  Nachahmung  im  gesellschaftlichen  Leben 
überall  eine  mitwirkende  Kolle  von  nicht  zu  unterschätzender  Be- 
deutung, aber  bei  den  tiefer  greifenden  und  allgemeineren  Veränderungen 
kommt  ihr  niemals  die  Hauptrolle  zu.     Vielmehr  erweisen  sich  diese 
Veränderungen,  wo  wir  imstande  sind  ihren  Bedingungen  nachzu- 
gehen, regelmäßig  als  solche,  die  nicht  von  einem  Individuum  und 
nicht    einmal    von    einer  bestimmt  begrenzten  Zahl  von  Individuen 
ausgehen,  sondern  auf  Einflüssen  beruhen,  die  entweder  die  sämt- 
lichen Mitglieder  einer   Gemeinschaft  oder  mindestens  deren   über- 
wiegende Masse  treffen.    Dabei  mögen  immerhin  die  einen  mehr,  die 
andern  weniger  diesen  Einflüssen  unterliegen,  und  es  mag,  nachdem 
erst  die  allgemeine  Richtung  eingeschlagen  ist,  die  aus  dem  Zusammen- 
leben entspringende  und  zum  Teil  auf  dem  Trieb  zur  Nachahmung 
beruhende  Ausgleichung  individueller  Unterschiede  nachträglich  mit- 
wirken.   Überall  steht  aber  dieses  Motiv  hinter  den  primären  Ein- 
flüssen von  genereller  Natur  zurück.     Nirgends  zeigt  sich  dies  deut- 
licher als  gerade  bei  der  Sprache.     Wenn  lateinisch  octo  in  italienisch 
Otto  oder  im  Deutschen  hrumben  in  brummen  überging  und  diese   Bei- 
spiele in  eine  fast  unübersehbare  Menge  analoger  Erscheinungen  sich 
einreihen,  so  spricht  keinerlei  Wahrscheinlichkeit  dafür,  daß  zufällig 
einmal  einem  Einzelnen  oder  mehreren  Einzelnen  diese  Abweichung 
begegnet  und    dann  von  andern  nachgeahmt  und  usuell  geworden 
sei.    Da  sich  vielmehr  beobachten  läßt,  daß  ein  solcher  an  den  Kon- 
takt der  Laute  gebundener  Wandel  leicht  von  selbst  eintritt,  wenn 
man  von  einer  langsameren  zu  einer  schnelleren  Sprechweise  übergeht, 
und   da   dieser  Übergang   offenbar   bei   zahllosen   Mitgliedern    einer 
Sprachgemeinschaft   stetig   und   gleichzeitig   erfolgen   kann,    so   liegt 
nicht  der  geringste  Grund  zu  der  Annahme  vor,  eine  solche  Änderung 
sei  von  einem  einzelnen  Individuum  ausgegangen.  Natürlich  können 
Zwischenstadien   existieren,   wo  sich  die  neue   Sprechweise  erst  un- 


^)  „La  sociale  c'est  l'imitation,  et  l'imitation  e'est  une  esp^ce  de  somnam- 
bulisme"  (Tarde,  Les  lois  de  Fimitation^  1895,  pag.  95). 


Der  Einzelne  und  die  Gemeinschaft.  23 

vollkommen  durchgesetzt  hatte.    Aber  auch  da  wird  die  Abweichung 
von  der  älteren  weder  eine  individuelle  noch  eine  okkasionelle  genannt 
werden  können :  das  erstere  nicht,  weil  alle  Individuen  den  gleichen 
abändernden  Kräften  unterworfen  sind;  das  letztere  nicht,  weil  ein 
solches  Zwischenstadium  entweder  darin  besteht,  daß  die  geläufige 
durchschnittliche  Lautform  zwischen  der  alten  und  der  neu  sich  bilden- 
den ungefähr  die  Mitte  hält,  oder  darin,  daß  der  stets  vorhandene  Spiel- 
raum der  individuellen  Artikulationen  größer  als  zuvor  ist.    In  beiden 
Fällen  ist  aber  der  Zustand  ein  genereller.     Nicht  anders  verhält  es 
sich  mit  den  in  der  Geschichte  und  wahrscheinlich  noch  mehr  in  der 
Vorgeschichte    der    Sprache    eingetretenen    Sprachmischungen.       Sie 
gehen  nicht  von  einem  Einzelnen    oder    einigen  Einzelnen,  sondern 
von  allen  denen  aus,  die  durch  den  Verkehr  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  beider  Sprachen  mächtig  geworden  sind,  und  die  nun  unwill- 
kürlich Wörter  oder  grammatische  Formen  aus  der  fremden  Sprache 
in  ihre  Muttersprache  herübemehmen.      Offenbar  müssen  wir  aber 
die  nämlichen  Gesichtspunkte  auch  da  anwenden,  wo  nicht,  wie  in 
jenen  leicht  zu  durchschauenden  Fällen  die  generelle  Natur  der  wirken- 
den Ursachen  ohne  weiteres  erkennbar  ist,  wo  jedoch  die  Erschei- 
nungen selbst  genereller  Art  sind.    Dann  weist  eben  die  Beschaffen- 
heit der  Wirkungen  auch  auf  eine  entsprechende  der  Ursachen  hin. 
Wenn  z.  B.  in  den  germanischen  Sprachen  allgemein  der  im  Vor- 
germanischen   als    sogenannte    Tenuis    vorhandene   Geräuschlaut    in 
eine  Spirans  übergegangen  ist  (p  in  /),  t  in  engl,  th,  h  in  cJi  oder  Ji,  so 
muß  dieser  Wandel  irgend  einmal  in  urgermanischer  Zeit  eingetreten 
sein.    Es  würde  aber  allen  Eegeln  der  Wahrscheinlichkeit  ins  Gesicht 
schlagen,   wollte  man  annehmen,   diese  Veränderungen  seien  zuerst 
nur  okkasionell,  oder  sie  seien  gar  nur  individuell  entstanden,  um  sich 
dann  durch  eine   ,, somnambulische"   Wirkung  nach  dem  Ausdruck 
Tardes  weiter  zu  verbreiten.     Ein  solcher  Ursprung    könnte    doch 
höchstens  für  eine  einzelne  Lautänderung  angenommen  werden.    Die 
Gesamtheit   der   Lautverschiebungen   würde   also    durch   eine   Fülle 
solcher    alleinstehender    okkasioneller    Abweichungen    zustande    ge- 
kommen  sein,    die   schließlich   sämtlich   durch   den   merkwürdigsten 
aller    Zufälle    in    vollkommener    Harmonie    miteinander   entstanden 
wären. 


24  Einleitung. 

Was  von  der  Sprache,  das  gilt  nun  genau  ebenso  von  allen  an- 
dern Formen  gemeinsamen  Lebens.  Mag  es  sein,  daß  in  Mythus  und 
primitiver  Kunst,  in  Keligion  und  Sitte  da  und  dort  verhältnismäßig 
frühe  schon  einzelne  Persönlichkeiten  hervortreten,  die  Überein- 
stimmungen, die  alle  diese  Entwicklungen  darbieten,  weisen  nicht 
minder  auf  generelle  Bedingungen  hin,  die  erst  in  ihren  letzten  Aus- 
läufern teilweise  in  individuelle  Einflüsse  ausmünden.  Die  Quelle, 
aus  der  hier,  ebenso  wie  bei  der  Sprache,  der  Fehler  jener  individuali- 
sierenden und  daher  jede  allgemeine  Gesetzmäßigkeit  schließlich 
auf  einen  ursprünglichen  Zufall  zurückführenden  Betrachtungsweise 
entspringt,  kann  nicht  zweifelhaft  sein.  Sie  geht  auf  jenen  in  der 
heutigen  Wissenschaft  immer  noch  fortwirkenden  Individualismus 
der  Aufklärungszeit  zurück,  dem  das  Individuum  als  der  Schöpfer 
aller  Erzeugnisse  des  menschlichen  Geistes  galt.  Wohl  hatte  schon 
die  Romantik  diese  in  der  Idee  eines  ersten  Erfinders  kulminierende 
Anschauung  zu  Fall  gebracht.  Aber  sie  selbst  hatte  den  Ursprung 
der  gemeinsamen  geistigen  Erzeugnisse  geflissentlich  in  ein  meta- 
physisch-mythologisches Dunkel  gehüllt.  Als  dann  in  den  aus  der 
romantischen  Bewegung  entsprungenen  historischen  Wissenschaften 
allmählich  eine  positivistische  Strömung  die  Oberhand  gewann,  stellte 
sich  von  selbst  eine  Art  Kompromiß  zwischen  Aufklärung  und  Ro- 
mantik ein.  Wo  jene  eine  planmäßige  Erfindung,  diese  ein  ursprüng- 
liches Wunder  gesehen  hatte,  da  machte  man  nun  den  Zufall  zum 
Schöpfer  und  den  Mechanismus  der  Gewöhnung  und  Nachahnmug 
zum  Vollender  der  Dinge.  Zufällig  soll  hier  einmal  jemand  ein  Wort 
falsch  ausgesprochen,  dort  ein  anderer  eine  irrtümliche  Vorstellung 
mit  einem  Wort  verbunden  haben,  —  die  Genossen  ahmen  das  nach, 
und  ein  neues  Lautgesetz  oder  ein  wichtiger  Begriffswandel  ist  in  die 
Wege  geleitet.  In  griechischer  Vorzeit  geschah  es,  wie  Max  Müller  er- 
zählt, daß  jemand  die  ähnlich  klingenden  Wörter  für  die  Morgen- 
röte und  den  Lorbeer  (Daphne)  verwechselte.  Damit  habe  er  der 
Vorstellung  den  Ursprung  gegeben,  dem  Apollo,  dem  einstigen  Sonnen- 
gott, sei  der  Lorbeer  heiligt).  Nun  glaube  ich  zwar  nicht,  daß  diese 
Ansicht  über  die  individuelle  und  zufällige  Entstehung  neuer  geistiger 


1)  Max  Müller,  Essays,  Bd.  II  \  1881,  S.  83  ff. 


Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Völkerpsychologie.  25 

Werte  von  der  Mehrzahl  der  Sprachforscher,  Mythologen  und  Kultur- 
historiker gerade  in  solch  extremer  Form  geteilt  wird.  Doch  die  Grund- 
anschauung, aus  der  jene  Theorien  erwachsen  sind,  ist  heute  noch  weit 
verbreitet.  Und  wäre  sie  richtig,  so  würde  die  Völkerpsychologie  als 
eine  irgendwie  selbständig  abzugrenzende  Wissenschaft  in  der  Tat 
kaum  ein  Existenzrecht  besitzen.  Da  sie  aber  falsch  ist,  vielmehr 
jede  Gemeinschaft,  obgleich  sie  keine  neuen  psychischen  Elemente 
zu  den  Bewußtseinsinhalten  ihrer  Mitglieder  hinzufügt,  doch  durch 
die  Verbindung  und  Wechselwirkung  dieser  neue  geistige  Schöpfungen 
erzeugt,  so  hat  in  ihnen  sowie  in  der  Nachweisung  ihrer  Beziehungen 
zu  den  im  Einzelbewußtsein  wirksamen  psychischen  Kräften  die 
Völkerpsychologie  ihre  selbständige  Aufgabe. 


III.  Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Völker- 
psychologie. 

Schon  die  allgemeine  Psychologie  kann  nicht  ganz  an  der  Tat- 
:sache  vorübergehen,  daß  das  Bewußtsein  des  Einzelnen  unter  dem 
Einflüsse  seiner  geistigen  Umgebung  steht.  Überlieferte  Vorstellungen, 
die  Sprache  imd  die  in  ihr  enthaltenen  Formen  des  Denkens,  endlich 
die  tief  greifenden  Wirkungen  der  Erziehung  und  Bildung  sind  Vor- 
bedingungen jeder  subjektiven  Erfahrung.  In  mancher  Beziehung 
kann  darum  der  Inhalt  der  Individualpsychologie  erst  von  der  Völker- 
psychologie aus  unserem  vollen  Verständnisse  zugänglich  werden. 
Gleichwohl  bleibt  diese  im  ganzen  das  speziellere,  von  jener  abhängige 
Oebiet.  Denn  die  Erscheinungen,  mit  denen  sie  sich  beschäftigt, 
müssen  schließlich  aus  den  allgemeinen  Gesetzen  des  geistigen  Lebens, 
die  schon  in  dem  Einzelbewußtsein  auf  jeder  Stufe  seiner  Entwick- 
lung wirksam  sind,  erklärt  werden;  und  unmöglich  kann  durch  eine 
Vereinigung  von  Menschen  ein  geistiges  Erzeugnis  entstehen,  zu  dem 
nicht  in  den  Einzelnen  die  Anlagen  vorhanden  wären.  Läßt  sich 
demnach  die  Völkerpsychologie  mit  einem  gewissen  Recht  eine  an- 
gewandte Psychologie  nennen,  so  ist  übrigens  der  Ausdruck  ,, an- 
gewandt" hier  in  einem  andern  Sinne  zu  verstehen,  als  in  dem  man 
etwa  von  einer  angewandten  Physik  und  Chemie  oder  auch  von  der 


26  Einleitung. 

Pädagogik  als  einer  angewandten  Psychologie  redet.  Dies  liegt  schon 
darin  ausgesprochen,  daß  die  Völkerpsychologie  von  den  allgemeinen 
psychologischen  Erfahrungen  zu  keinerlei  praktischen  Zwecken  Ge- 
brauch macht,  sondern  daß  sie,  ebensogut  wie  die  Individualpsycho- 
logie,  eine  rein  theoreti^he  Wissenschaft  ist.  Der  Ursprung  und  die 
Entwicklung  der  Sprache,  die  Bildung  mythologischer  und  religiöser 
Vorstellungen,  die  Entstehung  von  Sitten  und  sittlichen  Gefühlen 
—  die  Behandlung  dieser  und  verwandter  Probleme  dient  unmittel- 
bar nur  den  Interessen  der  Psychologie  selbst  und  der  mit  ihr  zu- 
sammenhängenden theoretischen  Geisteswissenschaften.  Von  solchem 
Gesichtspunkte  aus  besteht  daher  die  Völkerpsychologie  nicht  so- 
wohl in  einer  Anwendung  als  in  einer  Ausdehnung  der  psycho- 
logischen Untersuchung  auf  die  soziale  Gemeinschaft.  Diese  Aus- 
dehnung auf  Erscheinungen,  bei  deren  Entstehung  neben  den  sub- 
jektiven Eigenschaften  des  menschlichen  Bewußtseins  noch  die  be- 
sonderen Bedingungen  des  gemeinsamen  Lebens  in  Betracht  kommen, 
bringt  es  zugleich  mit  sich,  daß  die  Völkerpsychologie  bestimmte, 
ihr  ausschließlich  angehörende  Gebiete  psychischer  Tatsachen  zu 
erforschen  hat,  Gebiete,  die  von  der  allgemeinen  Psychologie  bei  ihrer 
gewöhnlichen  Begrenzung  ausgeschlossen  bleiben. 

Von  zwei  verschiedenen  Richtungen  her  hat  daher  auch  der  Ge- 
danke der  Völkerpsychologie  in  der  neueren  Wissenschaft  Wurzel 
gefaßt.  Zuerst  wurde  innerhalb  einzelner  Geisteswissenschaften 
das  Bedürfnis  nach  einer  psychologischen  Grundlage,  die  den  eigen- 
tümlichen Erscheinungen  geistiger  Wechselwirkung  in  Gesellschaft 
und  Geschichte  gerecht  werde,  immer  mehr  fühlbar.  Dazu  gesellte 
sich  dann  in  der  Psychologie  selbst  das  Streben,  objektive  Hilfs- 
mittel zu  schaffen,  mittels  deren  man  der  Unsicherheit  und  Viel- 
deutigkeit der  reinen  Selbstbeobachtung  zu  entgehen  suchte. 

Unter  den  einzelnen  Disziplinen,  in  denen  sich  jenes  psycho- 
logische Bedürfnis  regte,  standen  Sprachwissenschaft  und  Mytho- 
logie in  erster  Linie.  Beide  hatten  sich  aus  dem  allgemeineren  Um- 
kreis philologischer  Studien  abgesondert.  Indem  sie  aber  dabei  den 
Charakter  vergleichender  Wissenschaften  annahmen,  mußte  sich 
ihnen  von  selbst  die  Erkenntnis  aufdrängen,  daß  in  Sprachen-  und 
Mythenentwicklung  neben  den  besonderen  geschichtlichen  Bedingungen, 


Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Völkerpsychologie.  27 

die  überall  die  konkrete  Gestaltung  der  Erscheinungen  bestimmen, 
allgemeine  psychiscbe  Kräfte  wirksam  seien. 

Hat  unter  diesen  Gebieten  wohl  am  meisten  die  Sprachwissen- 
schaft  eine  Anlehnung  an  die  Psychologie  gesucht,  so  fand  freilich 
gerade  die  Psychologie  der  Sprache  ein  gewisses  Hindernis  darin, 
daß  ihre  Aufgaben  vielfach  mit  den  Zielen  verwechselt  wurden,  die 
seit  langer  Zeit  die  Sprachphilosophie  sich  gestellt  hatte.  Mögen 
aber  auch  in  dieser,  vom  platonischen  Kratylos  an  bis  auf  Wilhelm 
von  Humboldts  berühmte  Einleitung  ,,über  die  Verschiedenheit  des 
menschlichen  Sprachbaues"  und  andere  neuere  Werke  ähnlicher 
Richtung,  gelegentlich  psychologische  Überlegungen  enthalten  sein, 
so  ist  doch  die  vorherrschende  Tendenz  solcher  Arbeiten  eine  meta- 
physische, und  demgemäß  steht  ihnen  das  eine  Problem  des  Ur- 
sprungs der  Sprache  überall  im  Vordergrund.  Das  Verhältnis  zur 
Sprachpsychologie  wird  hier  genugsam  schon  durch  den  Umstand 
gekennzeichnet,  daß  die  psychologische  Untersuchung  eine  Menge 
von  Aufgaben  auch  dann  noch  vorfände,  wenn  sie  auf  jenes  Ursprungs- 
problem gänzlich  verzichten  wollte,  daß  aber  dieses  vom  Standpunkte 
psychologischer  Betrachtung  aus  jedenfalls  erst  nach  der  Erledigung 
jener  konkreten  Aufgaben  die  Aussicht  auf  eine  erfolgreiche  Lösung 
bietet. 

Da  nun  die  Sprachwissenschaft  an  der  metaphysischen  Sprach- 
philosophie ebensowenig  wie  an  den  herrschenden  Richtungen  der 
Psychologie  eine  nennenswerte  Hilfe  fand,  so  war  es  begreiflich,  daß 
sie  zumeist  sich  auf  jene  Kunst  psychologischer  Interpretation  ver- 
ließ, die  man  nirgends  zu  lernen  braucht,  weil  sie  von  jedermann  bei 
der  Beurteilung  praktischer  Lebensverhältnisse  fortwährend  geübt 
wird:  auf  die  Kunst  der  Vulgärpsychologie.  Mit  diesem  Namen 
darf  man  wohl  jene  Mischung  von  wirklichen  Beobachtungen,  Über- 
lebnissen älterer  Theorien  und  populären  Vorurteilen  bezeichnen, 
mit  der  sich  die  Vertreter  einzelner  Wissenschaften  da  zu  behelfen 
pflegen,  wo  sie  einer  psychologischen  Interpretation  nicht  entgehen 
können.  Wenn  diese  Aushilfe  vornehmlich  in  den  „Geisteswissen- 
schaften" tiefe  Wurzeln  gefaßt  hat,  so  liegt  das  wohl  vor  allem  in  dem 
eigentümlichen  Charakter  der  Vulgärpsychologie  begründet.  Denn 
dieser  besteht  im  wesentlichen  darin,  daß  irgendwelche  Erscheinungen 


28  Einleitung. 

des  individuellen,  gesellschaftlichen  oder  geschichtlichen  Lebens 
auf  solche  intellektuelle  Überlegungen  und  Zweckmäßigkeitserwägungen 
zurückgeführt  werden,  die  den  Beobachter,  falls  er  die  Erscheinungen 
mit  Plan  und  Absicht  herbeigeführt  hätte,  möglicherweise  bestimmt 
haben  könnten.  Alle  Vulgärpsychologie  besteht  also  kurz  gesagt 
in  der  Hinübertragung  einer  subjektiven  Reflexion  über 
die  Dinge  in  die  Dinge  selbst.  Hat  sich  z.  B.  in  einer  Sprache 
ein  Wort  in  zwei  verschiedene  Wörter  gespalten,  so  deutet  man  dies 
als  ein  Streben  nach  Erzeugung  bedeutsamer  Unterschiede.  Sind 
dagegen  wichtige  Unterschiede  durch  Laut  Verluste  geschwunden, 
so  erklärt  man  das  umgekehrt  aus  der  Tendenz,  sich  das  Sprechen 
so  bequem  wie  möglich  zu  machen.  Nach  den  meisten  Ausführungen 
über  Bedeutungswandel  müßte  man  annehmen,  eine  redende  Ge- 
meinschaft sei  fortwährend  bemüht,  die  logischen  Kategorien  der 
Über-,  Unter-,  Nebenordnung  usw.  auf  die  Worte  der  Sprache  an- 
zuwenden; denn  man  scheint  der  Meinung  zu  sein,  mit  der  Zurück- 
führung  auf  derartige  Begriffsverhältnisse  seien  die  psychologischen 
Vorgänge  als  solche  erklärt,  oder  es  bedürfe  doch,  wenn  ein  Begriffs- 
verhältnis gefunden  sei,  einer  weiteren  Erklärung  nicht  mehr.  Nicht 
anders  steht  es  in  der  Mythologie.  Bald  soll  die  ursprüngliche  Mythen- 
bildung eine  aus  dem  Streben  nach  Naturerklärung  hervorgegangene 
phantastische  Naturphilosophie,  also  eine  Art  primitiver  Natur- 
wissenschaft sein;  bald  soll  sie  auf  zufälligen  Mißverständnissen  und 
Begriffsverwechslungen  beruhen.  Für  die  Deutung  gewisser  frühester 
Formen  der  Eheschließung  zieht  man  gelegentlich  Motive  herbei, 
die  dem  Naturmenschen  einen  Grad  der  Fürsorge  für  die  Zukunft 
seines  Geschlechts  zutrauen,  von  dem  sich  die  ungeheuere  Mehr- 
zahl der  Kulturmenschen  nichts  träumen  läßt.  Im  Prinzip  stimmt 
diese  psychologische  Interpretation  mit  der  teleologischen  Natur- 
erklärung des  18.  Jahrhunderts  vollkommen  überein.  Nur  pflegte 
die  letztere  die  Motive  des  Geschehens  einem  vernünftigen  Urheber 
der  Dinge  zuzuschreiben,  während  die  Vulgärpsychologie  dieselben 
den  jeweils  handelnden  Menschen  selbst  aufbürdet.  Ob  aber  solche 
Motive  nachweisbar,  ja  ob  sie  unter  den  gegebenen  Bedingungen  mög- 
lich sind,  danach  wird  nicht  gefragt.  Wenn  also  das  Bestreben  aller 
wahren  Psychologie  dahin  gerichtet  sein  muß,  die  Tatsachen  so  zu 


Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Völkerpsychologie.  29 

erfassen,  wie  sie  unabhängig  von  unserer  subjektiven  Beurteilung 
beschaffen  sind,  so  geht  umgekehrt  die  Vulgärpsychologie  darauf  aus, 
über  die  Wirklichkeit  ein  Netz  subjektiver  und  willkürlicher  logischer 
Reflexionen  zu  breiten.  In  dieser  allgemeinen  Tendenz  befindet  sie 
sich  zugleich  in  Übereinstimmung  mit  einer  aus  der  Scholastik  über- 
kommenen, bis  auf  unsere  Tage  herabreichenden  intellektuahstischen 
Strömung  der  Philosophie  und  der  aus  ihr  hervorgegangenen  Re- 
flexionspsychologie. Denn  auch  diese  scheint  es  nicht  als  ihre  Auf- 
gabe anzusehen,  festzustellen,  was  die  psychischen  Vorgänge  wirk- 
lich sind,  und  wie  sie  tatsächlich  zusammenhängen,  sondern  aus- 
einanderzusetzen, was  nach  Maßgabe  irgendwelcher  logischer  oder 
philosophischer  Voraussetzungen  der  reflektierende  Psychologe  von 
ihnen  denkt. 

Dies  führt  uns  auf  das  zweite  Motiv  für  die  Entstehung  der 
Völkerpsychologie,  dessen  oben  gedacht  wurde.  Die  Psychologie 
selbst  bedarf  nicht  minder  dringend  des  völkerpsychologischen  Ma- 
terials, das  gewisse  Geisteswissenschaften  ihr  bieten,  wie  diese  der 
psychologischen  Grundlagen;  und  in  dem  Augenblick,  wo  die  Psycho- 
logie den  Quellen  nachgeht,  die  ihr  aus  den  einzelnen  Bereichen  des 
geistigen  Lebens  zufließen,  wird  auch  das,  was  sie  selbst  wiederum 
aus  der  allgemeinen  Betrachtung  dieses  Lebens  der  Würdigung  der 
einzelnen  Tatsachen  entgegenbringt,  nicht  mehr  unbeachtet  bleiben. 
Denn  in  Einem  kann  es  doch  der  feinste  praktische  Takt  und  die 
reichste  psychologische  Lebenserfahrung  mit  der  wissenschaftlichen 
Psychologie  nicht  aufnehmen:  in  der  Fähigkeit,  die  bei  der  Analyse 
der  einfacheren  Bewußtseinsvorgänge  gewonnenen  Gesichtspunkte 
für  das  Verständnis  der  verwickelten  Erscheinungen  des  gemein- 
samen Lebens  zu  verwerten.  Der  Historiker,  der  Sprachforscher, 
der  Mythologe,  sie  operieren,  solange  sie  jener  Analyse  fremd  gegen- 
überstehen, bestenfalls  mit  komplexen  Begriffen.  Erst  wenn  es  ge- 
lungen ist,  die  Brücke  zu  schlagen,  die  von  dem  Einzelbewußtsein 
zu  den  Erzeugnissen  der  Gemeinschaft  hinüberführt,  besteht  aber 
auch  die  Aussicht,  den  Weg  wieder  rückwärts  zu  finden  und  die  völker- 
psychologischen Ergebnisse  fruchtbar  zu  machen  für  die  Untersuchung 
jener  Gebilde  des  Einzelbewußtseins,  die  aus  diesem  allein  nicht  be- 
griffen werden  können.    Und  letzteres  trifft  überall  da  zu,  wo  solche 


30  Einleitung. 

Gebilde  in  zureichend  vollständigen  Entwicklungsformen  überhaupt 
nur  als  Produkte  des  Völkerbewußtseins  vorkommen,  wie  viele  Er- 
zeugnisse der  Phantasietätigkeit,  oder  wo  das  Einzelbewußtsein  selbst 
schon  mit  fertig  überlieferten,  aus  der  geistigen  Wechselwirkung  her- 
vorgegangenen Formen  arbeitet,  wie  bei  dem  in  seiner  spezifischen 
Gestaltung  an  die   Sprache  gebundenen  logischen  Denken. 

Von  den  verdienten  Forschern,  die  der  Völkerpsychologie  ihren 
Namen  gegeben  und  zum  erstenmal  ein  bestimmtes  Programm  für 
sie  entworfen  haben,  von  Steinthal  und  Lazarus,  ist,  so  umfassend, 
ja  vielleicht  allzu  umfassend  auch  dieses  Programm  war,  gerade  jener 
Gesichtspunkt,  daß  gewisse  Geisteswissenschaften  nicht  bloß  selbst 
der  psychologischen  Analyse  und  Interpretation  bedürfen,  sondern 
ihrerseits  unentbehrliche,  bisher  vernachlässigte  Hilfsgebiete  der 
Psychologie  sind,  kaum  zureichend  gewürdigt  worden^).  Dieser  bei 
einem  ersten  Versuch  gewiß  entschuldbare  Mangel  ist  aber  sichtlich 
durch  die  psychologischen  Grundanschauungen  bedingt,  von  denen 
diese  Forscher  ausgingen;  und  deshalb  ist  er  zugleich  bezeichnend 
für  die  eigentümlichen  Hemmnisse,  die  sich  dem  neuen  Gebiet  von 
Seiten  der  herrschenden  Kichtungen  der  Psychologie  entgegenstellten. 
Jene  Grundanschauungen  waren  die  der  Psychologie  Herbarts  mit 
ihrem  an  den  metaphysischen  Begriff  der  einfachen  Seele  und  an  die 
Hypothese  der  Vorstellungsmechanik  gebundenen  einseitigen  Indivi- 
dualismus und  Intellektualismus.  Daß  eine  so  geartete  Psychologie 
von  Haus  aus  den  Fragen  der  Völkerpsychologie  hilflos  gegenüber- 
steht, ja  zu  ihnen  eigentlich  gar  kein  Verhältnis  hat,  dafür  liefern 
Herbarts  eigene  gelegentliche  Aussprüche  über  diese  Fragen  die  deut- 
lichsten Belege^).       Mochten  nun  auch  die  Völkerpsychologen  der 


^)  Lazarus  und  Steinthal,  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie  und  Sprach- 
wissenschaft, I,  1860:  Einleitende  Gedanken  über  Völkerpsychologie,  S.  1 — 73. 
Vgl.  dazu  meinen  Aufsatz  über  Ziele  und  Wege  der  Völkerpsychologie,  PhU. 
Stud.  IV,  S.  1  ff.,  sowie  Steinthals  Gegenbemerkungen,  Zeitschr.  für  Völker- 
psych.  XVII,  S.  233  ff. 

2)  Belehrend  ist  hier  F.  Misteiis  Zusammenstellung  der  Aussprüche  Her- 
barts  über  die  Sprache,  unter  denen  als  der  merkwürdigste  der  hervor- 
gehoben werden  mag,  daß  die  Befähigung  des  Menschen  zur  Sprache  nur 
in  den  besonderen  Eigenschaften  seines  Kehlkopfes  begründet  sei,   wie  denn 


Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Völkerpsychologie.  31 

Herbartschen  Schule  in  dieser  Beziehung  den  von  dem  Meister  ver- 
tretenen Ansichten  im  einzehien  nicht  überall  beipflichten,  im  Prin- 
zip blieb  doch  das  Verhältnis  der  Individual-  zur  Völkerpsychologie 
das  der  begründenden  Wissenschaft  zu  ihren  Anwendungen.  Die  sub- 
jektive Beobachtung  und  als  Ergänzung  allenfalls  noch  die  Psycho- 
logie des  Kindes  sollten  das  Erfahrungsmaterial  liefern,  aus  dem  durch 
Abstraktion  die  Grundgesetze  einer  allgemeinen  „psychischen  Me- 
chanik" zu  gewinnen  seien,  und  diese  sollte  dann  von  der  Völker- 
psychologie zur  Deutung  der  verschiedenen  Erscheinungen  geschicht- 
lichen Lebens  verwendet  werden  i).  Gegen  eine  solche  Auffassung 
mochte  der  von  hervorragenden  Sprachforschern  erhobene  Einwand 
vielleicht  nicht  ganz  unzutreffend  sein,  das  neue  Gebiet  sei  überhaupt 
nicht  Psychologie,  sondern  eben  nur  Anwendung  der  Psychologie 
auf  die  verschiedenen  Bestandteile  der  Geistesgeschichte,  also  allen- 
falls eine  historische  „Prinzipienlehre"  auf  psychologischer  Grund- 
lage 2).  Je  mehr  man  die  Psychologie  als  eine  fertig  gegebene  „Norm- 
wissenschaft" betrachtet,  deren  Gesetze  in  irgendwelchen  allgemein- 
gültigen Formeln  einer  Vorstellungsmechanik  enthalten  seien,  um  so 
weniger  bleibt  natürlich  außerhalb  dieser  Individualpsychologie  Raum 
für  eine  auch  nur  relativ  selbständige  psychologische  Forschung. 
Mochten  die  Völkerpsychologen  immerhin  die  eigenartige  Natur  der 
„Volksgeister"  betonen  und  darauf  hinweisen,  die  in  den  geschicht- 
lichen    Entwicklungen     hervortretenden    Volkscharaktere     könnten 


überhaupt  der  Unterschied  zwischen  Mensch  und  Tier  nach  Herbart  nicht 
auf  der  an  sich  überall  gleich  beschaffenen  absolut  einfachen  Seele,  sondern 
auf  den  Unterschieden  der  physischen  Organisation  beruht!  (Misteli, 
Zeitschr.  f.  Völkerpsychologie,  XII,  S.  407  ff.)  Mit  Recht  hebt  übrigens 
schon  Misteli  hervor,  daß  sich  Steinthals  Ansichten  überall,  wo  es  sich  um 
konkrete  völkerpsychologische  Probleme  handelt,  weit  von  denen  Herbarts 
entfernen. 

^)  Steinthal,  Einleitung  in  die  Psychologie  und  Sprachwissenschaft,  I, 
1871  bes.  S.  91ff.,  290  ff. 

2)  Herrn.  Paul,  Prinzipien  der  Sprachgeschichte,  ^  1883,  *  1909,  S.  6  ff. 
Zu  dessen  Auffassung  der  Sprachwissenschaft  als  einer  rein  geschicht- 
lichen Disziplin  vgl>  Ottmar  Dittrich,  Grundzüge  der  Sprachpsychologie,  Bd.  1, 
1903,  S.  3  ff.,  und  Zeitschr.  f.  roman.  Phüologie,  Bd.  23,  1899,  S.  538  ff.  sowie 
meme  Probleme  der  Völkerpsychol,  1911,  S.  8ff.,  69f.  2.  Aufl.  1921,  S.  9ff.,  72f, 


32  Einleitung. 

keineswegs  bloß  als  Summen  individueller  Eigenschaften  betrachtet 
werden,  so  wurden  dadurch  doch  die  prinzipiellen  Einwände  nicht 
beseitigt.  Denn  jener  Begriff  des  Volksgeistes,  auf  den  man  sich  hier 
berief,  verblieb  ganz  innerhalb  der  allgemeinen  Sphäre  historischer 
Betrachtungen,  in  der  er  längst  zu  einem  Bestand  geschichtsphilo- 
sophischer  Spekulationen  geworden  war  ^).  Auch  dies  lag  aber  im  Grunde 
schon  in  der  individualistischen  Kichtung  der  Herbartschen  Psycho- 
logie. Denn  blieb  gleich  für  diese  der  Begriff  einer  Volksseele  seiner 
substantiellen  Bedeutung  nach  unvollziehbar,  so  legte  doch  die  „Me- 
chanik der  Vorstellungen",  die  für  die  wirkliche  Interpretation  der 
seelischen  Erfahrung  an  die  Stelle  jenes  transzendenten  Begriffs  trat, 
den  Gedanken  einer  Übertragung  auf  die  Wechselbeziehungen  der 
Individuen  innerhalb  einer  Gemeinschaft  nahe  genug.  Hier  hatte 
die  Analogie  um  so  mehr  freies  Feld,  da  die  Herbartsche  Vorstellungs- 
mechanik selbst  eigentlich  nur  eine  abstrakte  Theorie  der  Wirkungen 
und  Gegenwirkungen  irgendwelcher  einander  anziehender  oder  ab- 
stoßender intensiver  Größen  überhaupt  war.  Ob  man  unter  diesen 
Größen  Vorstellungen  des  individuellen  Bewußtseins  oder  auf  einer 
höheren  Stufe  die  mit  solchem  Bewußtsein  ausgestatteten  Individuen 
verstand,  blieb  für  die  Theorie  an  sich  gleichgültig.  In  diesem  Sinne 
hatte  Herbart  selbst  schon  in  seinen  ,, Bruchstücken  zur  Statik  und 
Mechanik  des  Staates"  das  Spiel  der  gesellschaftlichen  Kräfte  er- 
örtert^). Demnach  wurden  hier  die  „Volksgeister"  vollständig  zu 
Ebenbildern  der  Einzelgeister,  mit  dem  einzigen  Unterschied,  daß 
sie  sich  aus  komplexeren  Einheiten  zusammensetzten.  Dadurch  mußte 
aber  gerade  der  eigenartige  Charakter  der  Erscheinungen  des  gemein- 
samen Lebens,  der  aus  einer  bloßen  Analogie  mit  dem  individuellen 
Seelenleben  niemals  begriffen  werden  kann,  völlig  verschwinden. 
Um  so  mehr  forderte  der  durch  die  Projektion  des  individuellen 
Geistes  ins  Große  entstandene  Volksgeist  dazu  heraus,  vor  allem  den 
Wandel  der  politischen  Geschichte,  wie  es  in  der  Tat  bei  Herbart 
geschah,   als  die  dem  individuellen  Leben  analogen   Schicksale  des 


1)  Vgl.  Lazarus,  Leben  der  Seele,  «  l,  S.  335  ff. 

2)  Herbart,   Psychologie  als   Wissenschaft,   2.    Teil,    Einleitung.      Werke, 
herausgegeben  von  Hartenstein,  VI,  S.  31  ff. 


Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Völkerpsychologie.  33 


Volksgeistes  zu  betrachten.     Damit  bewegte  man  sich  aber  wieder 
ganz  in  den  Bahnen  der  alten  Geschichtsphilosophie. 

Sichtlich  ist  nun  das  Programm  der  Völkerpsychologie,  das 
Steinthal  und  Lazarus  entwarfen,  zunächst  unter  dem  Eindruck 
dieser  Herbartsch en  Analogien  entstanden.  Immerhin  machte  sich 
das  Bedürfnis  nach  psychologischem  Verständnis  der  Tatsachen,  be- 
sonders bei  den  von  der  Sprachwissenschaft  herüberkommenden 
Vertretern  jenes  Programms,  geltend.  Das  neue  Gebiet  zerfiel  dadurch 
im  Wesen thchen  in  zwei  Gebiete:  in  eine  Anwendung  individual- 
psychologischer Gesetze  auf  die  Erzeugnisse  des  gesellschaftlichen 
Lebens,  und  in  eine  geschichtsphilosophische  Beleuchtung  der  ver- 
schiedenen Volksgeister  und  ihrer  Betätigungen  in  der  Geschichte. 
Nach  beiden  Richtungen  blieb  die  Stellung  der  Völkerpsychologie 
eine  fragwürdige.  War  es  dort  zweifelhaft,  ob  die  Anwendung  der 
Psychologie  auf  bestimmte  Probleme  der  geschichtlichen  Entwick- 
lung nicht  den  historischen  Einzelwissenschaften  selbst  zuzuweisen 
sei,  so  war  hier  die  Geltendmachung  des  psychologischen  Gesichts- 
punkts zwar  berechtigt,  aber  man  hielt  dabei  gleichwohl  an  der  näm- 
lichen Aufgabe  fest,  die  sich  auch  bisher  die  Geschichtsphilosophie 
gestellt  hatte.  Um  so  mehr  muß  anerkannt  werden,  daß  der  Versuch 
der  Durchführung  dieser  allgemeinen  Aufgabe,  wie  er  durch  die  ein- 
zelnen Arbeiten  Steinthals  mid  der  sich  ihm  anschließenden  Forscher 
über  sprachliche  und  mythologische  Probleme  gemacht  wurde,  ganz 
von  selbst  den  Gesichtskreis  veränderte,  den  jenes  unter  dem  Ein- 
flüsse Herbartscher  Begriffe  entstandene  Programm  eröffnet  hatte. 
Erwiesen  sich  auf  der  einen  Seite  fast  überall,  wo  die  Erbschaft  der 
bisherigen  Geschichtsphilosophie  übernommen  wurde,  die  Probleme 
für  eine  völkerpsychologische  Betrachtung  wegen  der  Ungeheuern 
Bedeutung  individueller  und  äußerer  Einflüsse  wenig  ergiebig,  so 
schieden  sich  auf  der  andern  aus  dem  Umfang  der  Geisteswissen- 
schaften gewisse  Probleme  aus,  auf  die  sich  das  psychologische  In- 
teresse konzentrierte.  Dabei  mußte  aber  mehr  und  mehr  offenbar 
werden,  daß  die  allgemeine  Psychologie  hier  mit  der  Anwendung 
von  Gesichtspunkten,  die  der  Analyse  des  individuellen  Bewußtseins 
entnommen  sind,  nicht  ausreicht,  während  sie  ihrerseits  aus  der 
Fülle  völkerpsychologischer  Erscheinungen  neue  Aufschlüsse  gewinnt. 

Wundt,  Völkerpsychologie.    I.    4.  Aufl.  ° 


34  Einleitung. 

Hier  wurde  nun  aber  die  psychologische  Forschung  noch  von 
einer  zweiten  Richtung  her  auf  völkerpsychologische  Hilfsquellen 
hingewiesen.  Denn  wie  weit  auch  die  Meinungen  in  der  heutigen  Psy- 
chologie auseinandergehen,  in  methodologischer  Hinsicht  ist  es  ihr 
vorherrschender  Charakterzug,  daß  sie  Hilfsmittel  zu  gewinnen  strebt, 
welche  die  planlose,  von  zufälligen  Einflüssen  und  philosophischen 
Vorurteilen  abhängige  Selbstbeobachtung  durch  Anwendung  exakter 
Methoden  und  objektiver  Kriterien  beseitigen  sollen.  Das  erste  dieser 
Hilfsmittel  besteht  in  der  Ersetzung  der  sogenannten  ,, reinen"  durch 
die  experimentelle  Selbstbeobachtung,  So  wenig  wir  die  Vorgänge 
der  äußeren  Natur  in  ihrer  Zusammensetzung  und  ihren  wechsel- 
seitigen Beziehungen  exakt  analysieren  können,  ohne  sie  im  Experi- 
ment genau  bestimmbaren  Bedingungen  und  Veränderungen  zu  unter- 
werfen oder  ohne  mindestens  Beobachtungshilfsmittel  anzuwenden, 
die  der  experimentellen  Technik  entnommen  sind,  —  gerade  so  wenig, 
ja  im  Grunde  wegen  der  viel  geringeren  Stabilität  der  Bewußtseins- 
vorgänge noch  viel  weniger  ist  es  möglich,  auf  dem  "Wege  der  bloßen, 
durch  keinerlei  planmäßige  Einwirkungen  unterstützten  Beobachtung 
des  eigenen  Bewußtseins  andere  als  oberflächliche  und  trügerische 
Aufschlüsse  über  Verlauf  und  Zusammenhang  der  psychischen  Vor- 
gänge zu  gewinnen. 

Die  experimentelle  oder,  wie  sie  wegen  der  notwendigen  An- 
wendung physiologischer  Hilfsmittel  zuweilen  auch  genannt  wird, 
die  physiologische  Psychologie  ist  aber  der  Natur  der  Sache  nach 
Individualpsychologie.  Das  einzige  dem  Experiment  zugäng- 
liche psychologische  Objekt  bleibt  das  Einzelbewußtsein.  Zugleich 
ist  die  experimentelle  Methode  durch  die  Notwendigkeit,  die  typischen 
Verlaufsformen  des  psychischen  Geschehens  unter  verhältnismäßig 
einfachen  Bedingungen  zu  beobachten,  im  wesentlichen  auf  die  Ana- 
lyse relativ  einfacher  Bewußtseinsvorgänge  angewiesen.  Da 
die  geistigen  Gemeinschaften  die  Individuen,  und  da  die  zusammen- 
gesetzten psychischen  Vorgänge  die  einfachen  als  ihre  Bedingungen 
voraussetzen,  so  hat  demnach  die  experimentelle  Psychologie  einen 
allgemeineren  und  grundlegenden  Charakter.  Sie  ist  aber  zugleich 
an  die  Bedingungen  gebunden,  die  ihr  jenes  hoch  entwickelte  Einzel- 
bewußtsein entgegenbringt,  auf  das  die  psychologischen  Experimental- 


Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Völkerpsychologie.  35 


metlioden    schon    wegen    der  Schwierigkeiten    der    bei    ihnen  gefor- 
derten Selbstbeobachtung  angewiesen  sind.     Ihr   Objekt  ist  also  ein- 
fach und  verwickelt  zugleich:  einfach  gemäß  dem  nicht  zu  beseitigen- 
den Charakter    der  Methoden;  verwickelt    wegen  der  ungeheuer  zu- 
sammengesetzten Eigenschaften  des  Gegenstandes   der  Beobachtung. 
In  beiden  Beziehungen  bedarf  die  experimentelle  Methode    der  Er- 
gänzung.    Die  zusammengesetzten  psychischen  Bildungen,    die  nicht 
oder   nur   in   gewissen   äußeren   und   nebensächlichen   Eigenschaften 
dem    Experiment    zugänglich    sind,     fordern    analytische    Hilfsmittel 
von  ähnlicher  objektiver  Sicherheit;  und  das  unter  den  verwickeltsten 
Kulturbedingungen  stehende  individuelle  Bewußtsein    verlangt  nach 
Objekten    die  als  die  einfacheren  Vorstufen    jenes    letzten  Entwick- 
lungszustandes betrachtet  werden   können.      Beidemal    bestehen   die 
uns    verfügbaren    Hilfsmittel    in    den    Geisteserzeugnissen     von 
allgemeingültigem   Werte,    die   durch   die   naturgesetzliche    Art 
ihrer  Entstehung    dem  wechselvollen,  unberechenbaren   Spiel  indivi- 
dueller   persönlicher  Eingriffe  entzogen  sind.     Es  ist  das  Verdienst 
der  englischen  Psychologie  des  letzten   Jahrhunderts,    daß   sie, 
nachdem    die    vorangegangene     englische    Erfahrungspsychologie    die 
Forderung   einer   streng    empirischen,     von    philosophischen   Voraus- 
setzungen   unabhängigen    Analyse    des    Einzelbewußtseins     siegreich 
zur  Geltung  gebracht  hatte,  zum  ersten  Male  das  weite  Feld  ethno- 
logischer Tatsachen  im  psychologischen  Interesse  verwertete.     Sie 
ergänzte  so  die  in  Deutschland  von  der  Sprachwissenschaft  ausgehende 
Bewegimg  in  dem  Sinne,  daß   sie  sich  vorwiegend  den  Gebieten  des 
Mythus    und    der    Sitte     und    der    mit    beiden    zusammenhängen- 
den   Anfänge    der   Kultur   zuwandte.       Es   sei   hier   vor    allem   an 
die  zusammenfassenden  Arbeiten    E.  B.  Tylors  und  J.   G.  Frazers 
erinnert^). 


^)  E.  B.  Tylor,  Researches  into  the  Early  History  of  Mankind,  1865.  (Deutsch 
von  H.  Müller,  o.  J.)  Primitive  Culture,  1871.  (Deutsch  u.  d.  T.  Die  Anfänge 
der  Kultur,  übers,  von  Sprengel  und  Poske,  2  Bde.,  1873.)  J.  G.  Frazer,  The 
golden  Bough  2,  vol.  I — III.  Totemism  and  Exogamy,  vol.  I — IV,  1910.  Herbert 
Spencers  Soziologie  gibt  ebenfalls  ein  reiches  hierhergehöriges  Material, 
das  jedoch,  da  die  Soziologie  einen  Teil  seines  ,, Synthetischen  Systems 
der  Philosophie"  bildet,  allzu  sehr  unter  dem  Einfluß  der  Voraussetzungen  dieses 
Systems  steht. 

3* 


36  Einleitung. 

Experimentelle  Psychologie  und  Völkerpsychologie  stehen  dem- 
nach gleichzeitig  in  dem  Verhältnis  zweier  einander  ergänzender 
Teile  und  zweier  nebeneinander  wie  nacheinander  zur  Anwendung 
kommender  Hilfsmittel  der  Psychologie.  Geschichte,  Literatur, 
Kirnst,  Biographien,  Selbstbekenntnisse,  die  immer  noch  zuweilen 
als  Quellen  psychologischen  Wissens  gerühmt  werden,  sind  weder 
Teile  noch  Hilfsmittel,  sondern  Anwendungsgebiete,  die  zwar 
infolge  der  überall  bestehenden  Wechselbeziehungen  zwischen  Theorie 
und  Anwendimg  gelegentlich  der  allgemeinen  psychologischen  Er- 
kenntnis förderlich  sein  mögen,  aber  zu  einer  methodischen  Ver- 
wertung, wie  sie  zum  Charakter  eines  Hilfsmittels  erfordert  wird, 
unfähig  sind. 


IV.  Hauptgebiete  der  Völkerpsychologie. 

In  den  obigen  Erörterungen  sind  im  wesentlichen  die  Aufgaben 
bezeichnet,  die  der  Völkerpsychologie  zufallen.  Es  bleiben  ihr  hier- 
nach drei  selbständige  Probleme,  die,  sofern  sie  als  rein  psycho- 
logische behandelt  werden,  in  keiner  andern  Wissenschaft  ihre  Stelle 
finden,  während  sie  doch  ihrem  Wesen  nach  eine  psychologische  Unter- 
suchung erheischen.  Sie  bestehen  in  den  Problemen  der  Sprache, 
des  Mythus  und  der  Sitte.  Dem  Mythus  schließen  sich  die  An- 
fänge der  Religion  und  der  Kunst,  der  Sitte  die  Ursprünge  und 
allgemeinen  Entwicklungsformen  des  Rechtes  und  der  Kul- 
tur an. 

Diese  drei  Gebiete  stimmen  darin  überein,  daß  sie  durchaus  an 
das  gesellschaftHche  Leben  gebunden  sind.  Nicht  nur  geht  ihre  Ent- 
stehung jedem  nachweisbaren  Eingreifen  Einzelner  und  jeder  ge- 
schichtlichen Überlieferung  voraus,  sondern  auch  nach  dem  Beginn 
des  geschichtlichen  Lebens  erfahren  sie  fortan,  neben  den  allmählich 
einen  breiteren  Raum  einnehmenden  individuellen  Einflüssen,  ge- 
setzmäßige Veränderungen,  die  aus  den  Veränderungen  der  geistigen 
Verbände  selbst  entspringen.  So  bleiben,  nachdem  Sprache,  Mythus 
und  Sitte  Objekte  historischer  Betrachtung  geworden  sind,  dennoch 


Hauptgebiete  der  Völkerpsychologie.  37 


innerhalb  jeder  dieser  Erscheinungen  psychologische  Probleme  zurück, 
deren  Lösung  zwar  nur  auf  Grund  der  Tatsachen  des  individuellen 
Bewußtseins  möglich,  aber  ihrerseits  wieder  dem  Verständnis  vieler 
dieser  Tatsachen  förderlich  ist.  Zugleich  geht  hier  die  völkerpsycho- 
logische Entwicklung  in  eine  Reihe  geschichtlicher  Entwicklungen 
über,  in  denen  sie  als  allgemeine  Grundströmung  fortwirkt.  Darum 
berührt  sie  sich  mit  einer  Anzahl  historischer  Gebiete.  So  der 
Mythus  mit  der  Geschichte  der  Kulturreligionen ^  der  Wissenschaft  und 
der  Kunst;  so  die  Sitte  mit  der  Geschichte  der  Rechtsordnungen  und 
der  in  den  philosophischen  Moralsystemen  niedergelegten  sittlichen 
Weltanschauungen . 

Bilden  nach  allen  diesen  Richtungen  Sprache,  Mythus  und  Sitte 
die  natürhchen  Grundlagen  der  geschichtlichen  Entwicklungen,  so 
zeigen  sie  sich  aber  selbst  eng  aneinander  gebunden.  Wie  sehr  auch 
der  Sprache  als  dem  notwendigen  Hilfsmittel  des  gemeinsamen  Denkens 
der  Vorrang  gebührt,  so  trägt  sie  doch  von  Anfang  an  die  Spuren  des 
Mythus  an  sich;  und  die  Sitte  als  Norm  des  Handelns  ist  so  sehr  Aus- 
drucksform der  die  Gemeinschaft  beseelenden  Vorstellungen  und 
Gefühle,  daß  sie  im  Verhältnis  zu  den  andern  Gebieten  die  Bedeutung 
eines  Symptoms  gewinnt,  ohne  das  jene  so  wenig  sich  denken  lassen, 
wie  etwa  im  individuellen  Seelenleben  Gefühle  und  Triebe  ohne  äußere 
Willenshandlungen . 

Der  engen  Verbindung  dieser  drei  Hauptteile  der  Völkerpsycho- 
logie entspricht  ihr  Verhältnis  zu  gewissen  Erscheinungen  des  Einzel- 
bewußtseins. Inder  Sp  räche  spiegelt  sich  zunächst  die  Vor  st  ellungs- 
welt  des  Menschen.  In  dem  Wandel  der  Wortbedeutungen  äußern 
sich  die  Gesetze  der  Veränderungen  der  Vorstellungen,  wie  sie  unter 
dem  Einflüsse  wechselnder  Assoziations-  und  Apperzeptionsbedingungen 
stattfinden.  In  dem  organischen  Aufbau  der  Sprache,  in  der  Bildung 
der  Wortformen  und  in  der  syntaktischen  Fügung  der  Redeteile  gibt 
sich  die  Gesetzmäßigkeit  kund,  von  der  die  Verbindung  der  Vor- 
stellungen unter  den  besonderen  Natur-  und  Kulturbedingungen 
der  Sprachgemeinschaft  beherrscht  ist.  Der  Mythus  gibt  sodann 
den  in  der  Sprache  niedergelegten  Vorstellungen  vornehmlich  ihren 
Inhalt,  da  er  in  dem  ursprünghchen  Völkerbewußtsein  die  gesamte, 
aus    Wahrnehmungen    und    Phantasieschöpfungen    sich    aufbauende 


38  Eineitung. 

Weltanschauung  noch  in  ungesonderter  Einheit  umschließt.     Dabei 
zeigt  sich  die  in  ihm  wirksame  Phantasietätigkeit  außerdem  so  sehr 
von    Gefühlsrichtungen    bestimmt,    daß    die    Wahrnehmungsein- 
flüsse zumeist  nur  die  äußeren  Gelegenheitsursachen  bilden,  die,  in- 
dem sie  Furcht  und  Hoffen,  Bewunderung  und  Staunen,  Demut  und 
Verehrung  erwecken,  ebenso  die  Richtung  der  mythologischen  Vor- 
stellungen wie  die  Auffassung  der  Objekte  überhaupt  bedingen.    Die 
Sitte  endlich  umfaßt  alle  die  gemeinsamen  Willensrichtungen, 
die   über   die   Abweichungen   individueller    Gewohnheiten   die   Herr- 
schaft  erringen   und   sich  zu  Normen   verdichtet  haben,  denen  von 
der   Gemeinschaft  Allgemeingültigkeit  beigelegt  wird.     Aber  wie   in 
dem  individuellen  Bewußtsein  Vorstellen,  Fühlen  und  Wollen  keine 
getrennt  vorkommenden  seelischen  Vorgänge,  sondern  nur  verschiedene, 
an  sich  unlösbar  verbundene  Faktoren  eines  und  desselben  Geschehens 
sind,  so  haben  auch  jene  Beziehungen  der  drei  völkerpsychologischen 
Gebiete  zu  diesen  seelischen  Richtungen  nur  die  Bedeutung,   daß  sie 
diejenigen  Elemente   des   Seelenlebens  bezeichnen,   die   vorzugsweise 
für  die  einzelnen  Erscheinungen  maßgebend  sind.     Die  Sprache  ist, 
wie  schon  ihr  Verhältnis  zum  Mythus  lehrt,    überall  von   Gefühls- 
motiven abhängig,  und  nach  ihrem  eigensten  Charakter  ist  sie  eine 
Willensfunktion.      Nicht  minder  ist  der  Mythus  von  Vorstellungen 
imd  Willensmotiven  erfüllt,  und  in  die   Sitte  greifen,  eben  weil  sie 
in  allgemeinen  Willensnormen  besteht,  fortwährend  jene  Vorstellungs- 
und  Gefühlsprozesse  ein,   die  den    Willens  Vorgang  zusammensetzen. 
So  gilt  hier  womöglich  noch  in  höherem  Grade  als  von  dem  Einzel- 
bewußtsein, daß  die  unmittelbare  seelische  Erfahrung  alle  Elemente 
zumal  in  sich  schließt.     Ähnlich  bezeichnen  aber  die    drei  Begriffe 
Sprache,  Mythus  und  Sitte  selbst  nur  die  Haupterscheinimgen,  mit 
deren  Betrachtung  sich  die  Völkerpsychologie  beschäftigt,  und  um 
die  sich  andere  gruppieren.    So  sind  an  die  Sprache  die  Anfänge  der 
Poesie,  so  an  den  Mythus  die  ursprüngUchen  Formen  künstlerischer 
Betätigung  überhaupt  gebunden.     Dabei  besitzt  die  Kunst  außer- 
dem insofern  ein  selbständiges  Interesse,  als  in  ihr  am  unmittelbarsten 
die  Entwicklung  der  Phantasie  mit  ihren  alle  seelischen  Funktionen 
mächtig  erregenden  Wirkungen  ihren  Ausdruck  findet.     Ebenso  ist 
die  Religion  zunächst  mit  dem  Mythus  und  dann  durch  diesen  mit 


Hauptgebiete  der  Völkerpsychologie.  39 


der  Sitte  verwoben.  Die  Sitte  endlicli  führt  neben  den  Beziehungen 
zu  Mythus  und  Sprache  solche  zu  den  anfänglich  mit  ihr  zusammen- 
fließenden Erscheinungen  des  Rechtes  mit  sich,  indes  sich  ihre  weiteren 
Verzweigungen  über  die  gesamte  Kultur  und  Geschichte  erstrecken. 
Hiernach  sondern  wir  den  Inhalt  der  folgenden  Untersuchungen  in 
vier  Bücher:  in  die  Psychologie  der  Sprache,  der  Kunst,  des 
Mythus  und  der  Religion,  der  Sitte  und  Kultur. 


Erstes  Buch. 


Die  Sprache. 


Erstes  Kapitel. 

Die  Ausdrucksbewegungen. 

L  Allgemeine  Bedeutung   der   Ausdrucks- 
bewegungen. 

Die    psychopliysisclien    Lebensäußerungen,    denen    die    Sprache 
als   eine   besondere,   eigenartig   entwickelte   Form   zugezählt  werden 
kann,  bezeichnen  wir  ihrem  allgemeinen  Begriffe  nach  als  Ausdrucks- 
bewegungen.     Jede   Sprache  besteht  in   Lautäußerungen   oder  in 
andern  sinnlich  wahrnehmbaren  Zeichen,  die,  durch  Muskelwirkungen 
hervorgebracht,    innere    Zustände,    Vorstellungen,    Gefühle^    Affekte, 
nach  außen  kundgeben.     Ist  das  die  Definition,  die  dem  Begriff  der 
Ausdrucksbewegung   überhaupt   entspricht,    so    pflegt   man   nun   als 
das  besondere  Merkmal,  durch  das  sich  die  Sprache  von  andern  Be- 
wegungen ähnlicher  Art  unterscheidet,  dies  zu  betrachten,  daß  sie 
durch  den  Ausdruck  von  Vorstellungen  der  Gedankenmitteilung 
diene.     Dieses  Merkmal  vermag  jedoch  der  Sprache  schon  deshalb 
keine   absolute    Sonderstellung   anzuweisen,   weil   auch   andere   Aus- 
drucksbewegungen nicht  selten  von  Vorstellungssymptomen  begleitet 
sind,  und  weil  umgekehrt  die  Sprache  selbst  neben  den  Vorstellungen 
auch  Gefühle  zum  Ausdruck  bringen  kann.    Die  Gedankenmitteilung 
ist  also  immer  nur  ein  möglicher  Zweck,  der  nicht  bei  jeder  einzelnen 
Sprachäußerung  notwendig  bestehen  muß.     Überdies  pflegt  das  ein- 
same Denken  die  sprachliche  Form  auch  unter  Verhältnissen  anzu- 
nehmen, unter  denen  die  Absicht  wie  die  MögHchkeit  der  Mitteilung 
ausgeschlossen  ist.    Noch  weniger  ist  endUch  die  lautliche  Form  des 
Ausdrucks  ein  Kriterium  der  Sprache  als  solcher,  da  unter  den  reinen. 


44  Die  Ausdrucksbewegungen. 


Ausdrucksformen  der  Gefühle,  die  wir  niclit  zur  Sprache  rechnen, 
auch  Ausdruckslaute  vorkommen,  während  anderseits  die  Gebärden- 
sprache aus  unhörbaren  Bewegungen  besteht  und  trotzdem  alle  wesent- 
lichen Eigenschaften  einer  wirklichen  Sprache  besitzt. 

Diese  Schwierigkeiten,  denen  die  Definition  der  Sprache  be- 
gegnet, stehen  offenbar  in  engem  Zusammenhang  damit,  daß  der 
Begriff  der  ,, Ausdrucksbewegungen"  selbst  nur  einen  symptoma- 
tischen Wert  hat,  da  durch  ihn  in  keiner  Weise  die  allgemeinere 
physiologische  oder  psychologische  Natur  dieser  Bewegungen  be- 
stimmt wird.  Mit  Rücksicht  auf  diese  ihre  allgemeinere  Natur  können 
alle  durch  Muskelaktionen  bewirkten  Bewegungen,  mögen  sie  nun 
Ausdrucksbewegungen  sein  oder  nicht,  in  die  drei  Klassen  der  auto- 
matischen, der  Trieb-  und  der  Willkürbewegungen  unter- 
schieden werden.  Hierbei  verstehen  wir  unter  den  automatischen 
Bewegungen  rein  physiologische  Erscheinungen,  die,  nur  in  der  Ver- 
bindung der  zentralen  Nervenelemente  begründet,  bewußtlos  und 
willenlos  vor  sich  gehen;  unter  den  Triebbewegungen  einfache,  in- 
folge eines  einzigen,  das  Gefühl  erregenden  Motivs  entstehende  Willens- 
handlungen; endlich  unter  den  Willkürbewegungen  solche,  bei  denen 
in  irgendeinem  Maße  ein  Wettstreit  mehrerer  Gefühlsmotive  die  äußere 
Handlung  vorbereitet.  Die  automatischen  Bewegungen  zerfallen 
dann  wieder  nach  den  besonderen  Bedingungen  der  zentralen  Reiz- 
übertragung in  die  Reflexbewegungen  und  die  Mitbewegungen. 
Bei  den  ersteren  wird  ein  sensibler  Reiz  auf  motorische  Nerven  über- 
tragen und  durch  eine  ihm  im  allgemeinen  zweckmäßig  zugeordnete 
Muskelbewegung  beantwortet.  Bei  den  letzteren  breitet  sich  eine 
motorische  Erregung,  die  selbst  entweder  eine  Reflex-  oder  eine  Willens- 
bewegung hervorrufen  kann,  auf  weitere  motorische  Nerven  aus, 
deren  Erregung  in  der  Regel  der  zunächst  ausgelösten  Reizung  zweck- 
mäßig koordiniert  ist.  Nun  ist  leicht  ersichtHch,  daß  die  Ausdrucks- 
bewegungen jeder  dieser  Klassen  angehören  können,  daß  sie  sich  aber 
auch  nicht  selten  aus  verschiedenen  Bewegungsformen  zusammen- 
setzen, oder  daß  sie,  entsprechend  den  allgemeinen  Gesetzen  des 
Übergangs  dieser  Bewegungen  ineinander,  je  nach  Zeitbedingungen 
ihre  Bedeutung  wechseln.  So  müssen  wir  die  beim  Neugeborenen 
auf    Geschmacksreize    eintretenden    mimischen    Bewegungen    jeden- 


Allgemeine  Bedeutung  der  Ausdrucksbewegungen.  45 

falls  zu  den  Ausdrucksbewegungen  zählen:  sie  sind  aber  höchstwahr- 
scheinlich  reine  Reflexe,  oder  sie  können  doch  als  solche  vorkommen, 
wie  der  Umstand  beweist,  daß  man  sie  auch  bei  hirnlosen  Mißgeburten 
beobachtet  hat.  Die  charakteristischen  Bewegungen  des  Erschreckten 
sind  dagegen  teils  Reflex-,  teils  Triebbewegungen:  als  Reflex  ist  das 
plötzliche  Zusammenfahren,  das  beim  heftigsten  Schreck  zu  einem^ 
lähmimgsartigen  Zusammenstürzen  werden  kann,  zu  deuten;  trieb- 
artig sind  die  unwillkürlich  eintretenden  Abwehr-  und  Fluchtbewegun- 
gen. Ebenso  gehören  die  Ausdrucksbewegungen  des  Zornes,  der  aus- 
gelassenen Freude,  des  tiefen  Kummers  und  anderer  Affekte  zumeist 
zu  den  Triebhandlungen.  Sie  können  sich  aber  teils  mit  gänzlich  willen- 
losen und  unbewußten,  also  reflexähnlichen  Mitbewegungen,  teils  auch 
mit  einzelnen  Willkürhandlungen  verbinden,  wobei  im  allgemeinen 
diese  letzteren  am  wenigsten  für  einen  einzelnen  Affekt  typisch  sind, 
sondern  durch  mehr  zufällig  dazwischentretende  Gelegenheitsursachen 
bestimmt  werden.  Die  Willkürbewegungen  endlich  können  als  pri- 
märe Bestandteile  einer  komplexen  Ausdrucksform  höchstens  dann 
auftreten,  wenn  die  Bewegung  überhaupt  zu  einer  bloßen  Schein- 
bewegung wird,  also  bei  geheuchelten  Affekten.  Doch  treten  auch 
hier  durch  die  Rückwirkung  der  begleitenden  Empfindungen  auf  den 
Seelenzustand  in  der  Regel  Triebbewegungen  hinzu,  mit  denen  sich 
meistens  noch  automatische  Mitbewegungen  verbinden.  So  können 
z.  B.  gewisse  Ausdrucksbewegungen  eines  Schauspielers  willkürHch 
und  sogar  auf  Grund  vorangegangener  Überlegung  erfolgen:  sie  sind 
aber  mit  andern  Bewegungen  von  der  gleichen  Bedeutung  so  fest 
assoziiert,  daß  die  Wahl  der  Ausdrucksform  bloß  den  Anfang  und  die 
Richtung  der  Erscheinungen  zu  bestimmen  pflegt. 

Die  generelle  Entwicklung  der  Ausdrucksbewegungen  erfolgt 
aller  Wahrscheinlichkeit  nach  gemäß  den  allgemeinen  Entwicklungs- 
gesetzen tierischer  Bewegungen.  Nach  diesen  sind  es  aber  nicht,  wie 
-SO  oft  auf  Grund  dogmatischer  Vorurteile  angenommen  wird,  die 
Reflexe,  aus  denen  allmählich  oder  plötzlich,  infolge  einer  zuvor  im- 
geahnten  Entdeckung  der  Seele,  Willenshandlimgen  entspringen. 
Vielmehr  sind  die  einfachen  Willens-  oder  Triebhandlungen  als  die 
primären  tierischen  Bewegungen  anzusehen.  Aus  ihnen  können  einer- 
seits  durch   die  allmählich   eintretende   Vervielfältigung   der   Motive 


46  Die  Ausdrucksbewegungen. 

Willkür-  oder  Wahlhandlungen,  auf  der  andern  Seite,  durch  die  in- 
folge der  Einübung  geschehende  Mechanisierung,  Reflexe  und  auto- 
matische Mitbewegungen  hervorgehen.  Es  können  sich  aber  auch  die 
bereits  entwickelten  Willkürhandlungen  wieder  zuerst  in  Trieb-  und 
dann  in  automatische  Bewegungen  zurückverwandeln.  Hiernach 
läßt  sich  dieser  ganze  Zusammenhang  progressiver  wie  regressiver 
Entwicklungen     durch     das     folgende      Schema    veranschaulichen: 

Triebbewegungen 


Automatische  Bewegungen  Willkürbewegungen 

Die  äußeren  größeren  Pfeile  deuten  die  primären  Entwicklungen  an, 
die  nach  zwei  Richtungen  erfolgen:  regressiv  von  den  ursprünglichen 
Triebbewegungen  durch  deren  Mechanisierung  zu  den  Reflexen  und 
Mitbewegungen,  und  progressiv  von  den  nämlichen  Triebbewegungen 
zu  den  zusammengesetzten  Willens-  oder  Willkürhandlungen.  Die 
inneren  kleineren  Pfeile  bezeichnen  die  sekundäre  Entwicklung,  die 
nur  in  der  einen  Richtung  der  Mechanisierimg  ursprünglich  psychisch 
bedingter  Bewegungen  stattfindet.  Für  den  Teil  des  Verlaufs,  der 
von  den  triebartigen  zu  den  automatischen  Bewegungen  geht,  fällt 
daher  diese  sekundäre  vollständig  mit  der  regressiven  Form  der  pri- 
mären Entwicklung  zusammen.  Für  den  andern  Teil,  der  die  beiden 
Formen  der  Willenshandlungen  miteinander  verbindet,  ist  der  sekun- 
däre dem  primären  Verlauf  entgegengesetzt,  jener  progressiv,  dieser 
regressiv  gerichtet.  Damit  zusammenhängend  bildet  der  primäre 
Verlauf  überhaupt  zwei  ganz  verschiedene,  divergierende  Entwick- 
lungen,  während  der  sekundäre  in  kontinuierlicher  Folge  von  der 
höchsten  Form,  den  komplexen  Willenshandlungen,  zu  der  niedersten, 
den  automatischen  Bewegungen  führt,  wie  dies  in  unserem  Schema 
durch  den  oberen,  die  beiden  Seiten  verbindenden  Pfeil  angedeutet 
wird.     Zugleich  ist  aber  zu  beachten,  daß  die   hier   gegebene  Inter- 


Allgemeine  Bedeutung  der  Ausdrucksbewegungen.  47 

pretation  dieses  Schemas,  nach  der  alle  Entwicklungen  von  den  Trieb- 
bewegungen als  der  ursprünglichen  tierischen  Bewegungsform  aus- 
gehen, in  ihrer  Allgemeinheit  nur  für  die  generelle  Entwicklung  gilt. 
Bei  den  individuellen  Organismen,  die  mit  den  mannigfaltigsten 
vererbten  Anlagen  in  das  Leben  eintreten,  sind  von  Anfang  an  Trieb- 
und  Reflexbewegungen  gleichzeitig  anzutreffen.  So  reagieren,  wie 
bereits  bemerkt  wurde,  die  mimischen  Muskeln  des  Kindes  sofort 
nach  der  Geburt  reflektorisch  auf  Geschmacksreize ;  andere  Bewegungen 
desselben  sind  wahrscheinlich  als  Reflexe  des  Tastsinns  zu  deuten. 
Auch  bei  den  meisten  Tieren  sind  zwar  die  ursprünglichen  Bewegungen 
unverkennbare  Triebhandlungen;  doch  sind  viele,  wie  z.  B.  die  Be- 
wegungen des  eben  aus  dem  Ei  geschlüpften  Hühnchens,  zugleich 
deutlich  von  einem  System  komplizierter  Mitbewegungen  begleitet, 
die  wohl  automatisch  an  die  einfachsten  Triebäußerungen  gebunden 
sind. 

Diese  unverkennbare,  nur  aus  den  allgemeinen  Vererbungs- 
gesetzen begreifliche  Tatsache,  daß  die  Tiere  mit  einer  Menge  in  der 
physiologischen  Organisation  ihres  Nervensystems  begründeter  An- 
lagen ins  Leben  treten,  hat  nun  offenbar  auch  die  Hypothese,  nach  der 
die  Reflexe  allgemein  den  Willenshandlimgen  vorausgehen  sollen, 
veranlaßt.  Denn  diese  Hypothese  besteht  eben  in  der  Verallgemeinerung 
einer  bei  der  individuellen  Entwicklung  vorkommenden  Gruppe  von 
Erscheinungen  und  in  ihrer  Übertragung  auf  die  generelle  Entwick- 
lung. Hierbei  ist  aber  erstens  jene  Verallgemeinerung  in  den  Tat- 
sachen selbst  nicht  begründet:  automatische  Reflexe  treten  im  Gegen- 
teil, gegenüber  den  als  ursprüngliche  Triebhandlungen  zu  erkennen- 
den Bewegungen,  bei  den  frühesten  Lebensäußerungen  um  so  mehr 
zurück,  eine  je  tiefere  Stufe  in  der  Reihe  der  psychophysischen  Organi- 
sation die  Tiere  einnehmen.  Zweitens  entzieht  man  sich  durch  diesen 
Versuch,  den  Reflexen  die  erste  Stelle  anzuweisen,  jede  Möglichkeit, 
die  zweckmäßige,  den  Endeffekten  angepaßte  Beschaffenheit  der 
Bewegungen  überhaupt  zu  deuten.  Dagegen  ergibt  sich  diese  von  selbst 
aus  der  Natur  der  Willenshandlungen,  die  stets  nach  bestimmten 
Zweckmotiven  erfolgen.  Drittens  endlich  treten  uns  Erscheinungen 
einer  Mechanisierung  triebartiger  und  sogar  willkürlicher  Hand- 
lungen fortwährend  im  individuellen  Leben  in  den  Erfolgen  der  Übung 


48  Die  Ausdrucksbewegungen. 

entgegen.  Die  verwickeltsten,  ursprünglich  nur  unter  steter  Kon- 
trolle der  Aufmerksamkeit  ausführbaren  Bewegungen  können  be- 
kanntlich durch  Einübung  derartig  automatisch  werden,  daß  der 
Anfang  der  Handlung  die  weitere  Folge  derselben  mit  mechanischer 
Sicherheit  nach  sich  zieht,  oder  daß  sogar  die  ganze  Bewegung  auf 
irgendeinen  passenden  Sinnesreiz  hin  von  Anfang  an  automatisch 
ausgeführt  wird.  Wir  haben  also  nur  nötig,  diese  in  der  individuellen 
Entwicklung  uns  fortwährend  begegnende  Erfahrung  auf  die  generelle 
Entwicklung  auszudehnen,  um  die  Zweckmäßigkeit  der  Reflexe  be- 
greif Hch  zu  finden,  während  sie  für  den  entgegengesetzten  Stand- 
punkt entweder  ein  ursprüngliches  Wunder  bleibt  oder  auf  eine  An- 
sammlung zufälliger  Einflüsse,  die  schließlich  doch  einen  zweckmäßigen 
Erfolg  haben  sollen,  bezogen  werden  muß.  Dabei  schließt  aber  die 
letztere  Deutung  eigentlich  wieder  die  Voraussetzung  des  Wunders, 
nur  in  einer  andern  Form,  ein.  Zu  erklären  freilich,  wie  die  ursprüng- 
lichen Triebe,  das  heißt,  wie  die  Empfindungen  und  Gefühle  tierischer 
Wesen  überhaupt  entstanden  seien,  das  liegt,  wie  überall  die  Nach- 
weisung der  ursprünglichen  Elemente  der  Erfahrung,  außerhalb  der 
Grenzen  unserer  Untersuchung.  Denn  die  fundamentalen  psychischen 
Tatsachen  müssen  wir  ebenso  wie  die  Existenz  jener  letzten  Bestand- 
teile der  Körperwelt,  zu  denen  die  Analyse  der  Naturerscheinungen 
vorzudringen   vermag,   als  gegeben   voraussetzen. 

Diese  Anerkennung  des  Gegebenseins  der  nicht  weiter  analysier- 
baren psychischen  Elemente  schheßt  nun  aber  weiterhin  die  Not- 
wendigkeit ein,  auch  die  Zuordnung  der  Triebe  zu  bestimmten  körper- 
lichen Bewegungen  als  eine  ursprünglich  gegebene  zu  betrachten. 
Sie  läßt  schon  deshalb  keine  Zurückführung  auf  entferntere  Bedingungen 
zu,  weil  die  primitiven  Willensvorgänge  überhaupt  psychische  und 
körperliche  Vorgänge  zugleich  sind.  Jeder  Versuch,  den  einen  dieser 
Faktoren  aus  dem  andern  abzuleiten,  setzt  sich  mit  dieser  Tatsache 
in  Widerspruch:  mag  das  nun  in  der  Weise  geschehen,  daß  man  die 
Seele  zuerst  wollen  und  dann  gewisse  körperliche  Aktionen  ihres  Leibes 
entdecken  läßt,  die  sie  ihrem  Wollen  dienstbar  mache:  oder  mag  es 
so  gedacht  werden,  daß  aus  einem  Zusammenhang  mechanischer 
Bewegungen,  der  zufällig  zweckmäßig  geworden  ist,  plötzlich  ein 
zwecksetzender  Wille  entstanden  sei.    Das  erste  anzunehmen  istun- 


Allgemeine  Bedeutung  der  Ausdrucksbewegungen.  49 

zulässig,  weil  die  Seele  kein  den  Körper  von  außen  betrachtendes 
und  sich  unterwerfendes  Wesen  ist,  sondern  mit  dem  leiblichen  Or- 
ganismus zusammen  ein  einziges  unlösbar  verbundenes  Ganzes  bildet, 
das  nur  durch  unsere  Abstraktion  in   seine  Bestandteile  gesondert 
werden  kann.  Die  zweite  Annahme  ist  unerlaubt,  weil  hier  die  Willens- 
handlungen, die  überall  in  der  Welt  erst  objektive  Zwecke  zustande 
bringen,  selbst  als  die  Ergebnisse  einer  ihnen  angeblich  vorausgehen- 
den,  völlig  motivlosen  Zwecktätigkeit  aufgefaßt  werden.      Dagegen 
nimmt  die  hier  vertretene  genetische  Auffassung  allerdings  ebenfalls 
eine  den  psychischen  Zuständen  entsprechende,  in  diesem  Sinn  also 
zweckmäßige  Bewegungsreaktion  als  Ausgangspunkt  aller  tierischen 
Handlungen  an.    Doch  diese  Reaktion  kann  und  muß  dabei  als  eine 
solche  einfachster  Art  gedacht  werden.     Gebunden  an  die  niederste, 
der  späteren  Differenzierungen  noch  entbehrende  Organisationsform, 
bedeutet  sie  die  ursprüngliche  und  darum  einfachste  psychophysische 
Zuordnung.     Aus  ihr  sind  dann  alle  verwickeiteren  Formen  als  Er- 
zeugnisse der  in  dem  obigen  Schema  (S.  46)  veranschaulichten  vor- 
und  rückwärts  schreitenden  Differenzierungen  hervorgegangen.    Diese 
selbst  aber  müssen  zugleich  als  psychophysische  Begleiterscheinungen 
der    fortschreitenden    organischen    Entwicklung    betrachtet    werden. 
Damit  erfüllt  diese  Annahme  ebenso  die  Forderung  möglichster  Ein- 
fachheit der  letzten  Voraussetzungen,  wie  die  der  Übereinstimmung 
dieser  Voraussetzungen  und  der  aus  ihnen  abgeleiteten  Folgerungen 
mit  der  Erfahrung. 


Wnndt,  Völkerpsychologie.    I.    4.  Aufl. 


50 


Die  Ausdrucksbewegungen. 


II.  Verhältnis  der  Ausdrucksbewegungen  zu 
den  Gefühlen  und  Affekten. 


1.  Einfache  Gefühlsformen. 

Sind  die  Triebhandlungen  als  die  ursprünglichen  tierischen  und 
menschlichen  Handlungen  überhaupt  und  demnach  auch  als  die  ur- 
sprüngHche   Art   der   Ausdrucksbewegungen  aufzufassen,   so   werden 
nun  die  wesentlichen  Eigenschaften  dieser,   ebenso  wie  die  Unter- 
schiede, die  sie  in  ihren  verschiedenen  Formen  darbieten,    auf  die 
psychologische  Natur  der  Triebe  zurückzuführen  sein.    Jede  Trieb- 
handlung schließt  aber 
neben      mannigfachen 
Vorstellungselementen 
einen   Gefühlsver- 
lauf ein,  dessen  Eigen- 
schaften  für   den   all- 
gemeinen      Charakter 
der  Handlung  bestim- 
mend sind.    Das  näch- 
ste Ergebnis  der  Ana- 
lyse eines  solchen  Ver- 
laufs   ist    nun    dieses, 
daß     jedes     einfache, 
nicht    weiter    in    ver- 
schiedene    Qualitäten 
zerlegbare  Gefühl  einer 
der  drei  Hauptdim- 
ensionen der  Lust-  und  Unlust-,  der  erregenden  und  beruhi- 
genden, der  spannenden  und  lösenden  Gefühle  angehört.    Geo- 
metrisch können  wir  uns  daher  die  Gesamtheit  dieser  Gefühlsformen 
durch    eine   dreidimensionale  Mannigfaltigkeit  versinnlichen  (Fig.  1), 
deren  drei  Hauptachsen  LU,  ED,  SR  jenen  drei  Hauptdimensionen 
entsprechen,  während  der  Durchschnittspunkt  /  den  Indifferenz-  oder 
Nullpunkt  andeutet,  bei  dem  das  Bewußtsein  als  gefühlsfrei  anzusehen 


Fig.  1.    Symboliche  Darstellung 
der  Hauptrichtungen  der  Gefühle. 


Einfache  Gefühlsformen.  51 


ist.  Von  diesem  Nullpunkte  gehen  dann  die  Hauptrichtungen  der 
Gefühle  aus,  so  daß  die  von  I  in  der  Richtung  1  L  gemessene  lineare 
Strecke  der  Größe  eines  gegebenen  Lustgefühls,  die  in  der  Richtung  /  JJ 
der  eines  Unlustgefühls  entspricht  usw.  Im  allgemeinen  kann  aber  ein 
konkretes  Gefühl  entweder  nur  einer  der  sechs  Hauptrichtungen,  oder 
es  kann  gleichzeitig  mehreren  angehören.  Sind  die  Gefühle  von  relativ 
einfacher  Beschaffenheit,  so  pflegen  sich  Komponenten,  die  vom 
Indifferenzpunkte  /  nach  entgegengesetzten  Richtungen  liegen,  z.  B 
Lust  und  Unlust,  auszuschließen.  In  diesem  Fall  kann  daher  die  Quali- 
tät des  Gefühls  durch  einen  einzigen  Punkt  in  dem  durch  die  drei 
Dimensionen  LU,  SR,  ED  bestimmten  Kontinuum  repräsentiert 
werden.  Ist  etwa  das  Gefühl  ein  reines  Lustgefühl,  so  liegt  dieser 
Punkt  auf  der  Linie  IL;  besteht  es  aus  einer  Lust-  und  Erregungs- 
komponente, so  liegt  er  in  der  Ebene  I L  E;  enthält  er  eine  Lust-, 
Erregungs-  und  Lösungskomponente,  so  wird  der  Ort  des  Punktes 
in  dem  durch  I L  E  und  IRE  begrenzten  Raum  durch  die  relative 
Stärke  der  drei  Komponenten  bestimmt,  usw.  Gefühle  von  komplexer 
Beschaffenheit,  namentlich  solche,  die  in  Affekte  eingehen,  können 
jedoch  wahrscheinlich  auch  Komponenten  von  entgegengesetzter 
Richtung,  z.  B.  gleichzeitig  Lust  und  Unlust,  enthalten.  Ein  kom- 
plexes Gefühl  dieser  Art  würde  dann  durch  zwei  und  eventuell  durch 
drei  Punkte  zu  symboHsieren  sein,  die  verschiedenen  Orten  des  Ge- 
fühlskontinuums  entsprechen. 

Dieses  durch  Fig.  1  dargestellte  Verhältnis  der  Hauptrichtungen 
der  Gefühle  bezieht  sich  zunächst  nur  auf  Momentangefühle  oder  auf 
Gefühle,  die  während  der  betrachteten  Zeit  hinreichend  unverändert 
bleiben,  so  daß  von  ihrem  Zeitverlauf  abstrahiert  werden  kann.  Solche 
momentane  oder  relativ  stabile  Gefühle  haben  zugleich  die  Eigenschaft, 
daß  sie  sich  nicht  oder  nur  in  verschwindendem  Grade  durch  eigent- 
liche Ausdrucksbewegungen  verraten.  Um  letztere  hervorzubringen, 
dazu  gehört  stets  ein  bestimmter  Gefühlsverlauf,  der  dann  immer 
auch  mit  einem  Wechsel  der  Gefühle,  sei  es  bloß  ihrer  Intensität, 
sei  es  außerdem  ihrer  Richtung,  verbunden  ist.  In  diesen  Verhält- 
nissen liegen  die  Schwierigkeiten  begründet,  denen  die  Untersuchung 
der  reinen  Gefühle  begegnet.  Auch  ist  ein  momentanes  Gefühl  sub- 
jektiv   schwer  in  gleichbleibender  Beschaffenheit  festzuhalten,   weil 

4* 


52  Die  Ausdrucksbewegungen. 


es  entweder  zu  rasch  verschwindet  oder  in  einen  Gefühlsverlauf,  einen 
Affekt,  übergeht.  Die  Analyse  der  Gefühle  gehört  deshalb  zu  den 
meistumstrittenen  Aufgaben  der  Psychologie.  Für  ihre  experimen- 
telle Untersuchung  ergibt  sich  aber  aus  den  angedeuteten  Bedingungen 
die  Regel,  daß  man  zu  ihrer  Erzeugung  nur  mäßige  Reize  anwende. 
Stärkere  Reize  erwecken  unvermeidlich  auch  stärkere  Gefühle,  und 
diese  gehen  stets  in  Affekte  über.  Ein  bei  der  Verbindung  mit  auf- 
merksamer Selbstbeobachtung  durch  seine  wegweisende '  Bedeutung 
wertvolles  Hilfsmittel  besteht  außerdem  in  der  Untersuchung  der 
physischen  Begleiterscheinungen.  Sie  bestehen  bei  den  reinen 
Gefühlen  nur  zum  allergeringsten  Teil  in  äußerHch  sichtbaren  Aus- 
drucksbewegungen. Bei  sehr  schwachen  und  rasch  vergänglichen 
Gefühlen  können  solche  sogar  ganz  fehlen.  Was  auch  hier  niemals 
zu  fehlen  scheint,  das  sind  aber  Innervationsänderungen  des 
Herzens,  der  Blutgefäße  und  der  Atmungsmuskeln.  Sie 
bilden  daher  die  empfindlichsten  objektiven  Erkennungsmittel  reiner 
Gefühlserregungen . 

Den  einfachsten  Bedingungen  begegnet  nun  naturgemäß  sowohl 
die  subjektive  Beobachtung  wie  die  Analyse  der  objektiven  Begleit- 
erscheinungen, wenn  die  durch  irgendwelche  Sinnesreize  erregten 
Gefühle  nur  einer  der  oben  unterschiedenen  sechs  Komponenten 
angehören,  nicht  aus  irgendwelchen  Verbindungen  derselben  bestehen, 
wenn  sie  also  in  unserer  symbolischen  Darstellung  (Fig.  1)  in  eine 
der  sechs  Hauptrichtungen  selbst  fallen.  Am  leichtesten  läßt  sich 
dieser  Forderung  bei  den  reinen  Lust-  oder  Unlustgefühlen  nach- 
kommen; und  besonders  eignen  sich  zu  ihrer  Erzeugung  einfache 
Geschmacks-  oder  Geruchsreize.  Ein  mäßig  süßer  Eindruck  auf  die 
Zungenspitze  erweckt  ein  schwaches,  aber  unverkennbares  und,  in 
der  Regel,  wie  es  scheint,  unvermischtes  Lustgefühl.  Ebenso  ent- 
steht durch  einen  mäßig  bitteren,  auf  den  hinteren  Teil  der  Zunge 
einwirkenden  Reiz  ein  reines  Unlustgefühl,  das  sich  nur,  wenn  der 
Reiz  stärker  wird,  mit  einem  erregenden  Gefühl  zu  verbinden  pflegt. 
Bei  diesen  einfachen  Lust-  und  Unlustformen  beobachtet  man  als 
regelmäßige  Puls  Wirkungen,  daß  der  lusterregende  Eindruck  die  Puls- 
welle verstärkt  und  verlangsamt,  der  unlusterregende  sie  schwächt 
und  beschleunigt,  so  daß  sich  also  diese  physischen  Wirkungen  ahn- 


Einfache  Gefühlsformen. 


53 


lieh  gegensätzlich  zueinander  verhalten  wie  die  Gefühle  selbst  (Fig.  2 
und  3).  Viel  schwieriger  ist  es,  mit  Hilfe  äußerer  Sinnesreize  reine  Er- 
regungs-  oder  Beruhigungsgefühle  von  einigermaßen  dauernder  Be- 
schaffenheit zu  erzeugen.  Am  ehesten  leisten  dies  Farbeneindrücke. 
Namentlich  Kot  und  Blau  bilden  in  dieser  Beziehung  scharf  aus- 
geprägte Gegensätze,  Rot  als  erregender,  Blau  als  beruhigender  Ein- 
druck. Mit  beiden  kann  sich  auch  ein  Lustgefühl  oder  bei  starken 
Lichtreizen  ein  Unlustgefühl  verbinden.  Weniger  ungemischt  sind 
wohl  die  analogen  Wirkungen  der  Tonqualitäten,  wo  zwar  hohe  Töne 


Fig.  2.    Lust.    (Bei  a  h  Einwirkung  eines   sehr  angenehmen  Geruchs,  Menthol, 

Lehmann  Taf.  XLIV  B.) 


Fig.  3.   Unlust.   (Schwefels.   Chinin,  Einwirkung  bei  1,  Anfang  der  Geschmacks- 
empfindung bei  2,  Lehmann  Taf.  XXXI  C.) 


den  erregenden,  tiefe  den  beruhigenden  Charakter  zeigen,  außerdem 
jedoch  teils  Assoziationseinflüsse,  teils  die  sonstigen  Eigentümlich- 
keiten der  Klangfarbe  Nebenwirkungen  ausüben.  Ferner  lassen  sich 
solche  Erregungs-  und  Hemmungswirkungen  ziemlich  rein  bei  mäßigen 
Affektzuständen  (Aufregung,  Niedergeschlagenheit)  wahrnehmen,  wo- 
bei sie  sich  dann  nur  durch  ihre  längere  Dauer  etwas  intensiver  ge- 
stalten. Darum  ist  wohl  auch  bei  diesen  Gefühlsgegensätzen  bis  jetzt 
erst  in  den  erwähnten  Affektzuständen  ein  regelmäßiges  Zusammen- 
gehen mit  Pulsänderungen  beobachtet:  die  erregende  Gefühlswirkung 


54 


Die  Ausdrucksbewegungen. 


ist  hier  mit  Verstärkung,  die  hemmende  mit  Abnahme  der  Pulswelle 
verbunden,  —  ein  ähnlicher  Gegensatz  also,  wie  er  zwischen  den 
Symptomen  von  Lust  und  Unlust  besteht,  jedoch  ohne  die  für  diese 
kennzeichnende  gleichzeitige  Verlangsamung  und  Beschleunigung 
des  Pulses  (Fig.  4  und  5).  Erst  bei  gesteigerten  Erregungs-  und  Hem- 
mungszuständen,  wie  sie  bei  dem  Gefühlsverlauf  starker  Affekte  vor- 


Fig.  4.  Erregung,  nach  vorausgehender  Unlust  und  Depression.  (Erschreckender 
Reiz  bei  1,   Unlust  und  Depression  von   a  bis  b,  Erregungskurve  von  b  bis  c, 

Lehmann  Taf.  XIX  C.) 


W 


Fig.  5.    Depression.    (Stark   deprimierte  Stimmung  infolge  eines  unangenehmen 
Ereignisses,  darunter  einige  normale  Kurven  des  gleichen  Beobachters  von  einem 

andern  Tage,  Lehmann  Taf.  X  A.) 


kommen,  pflegt  sich  die  Erregung  zugleich  in  Beschleunigung,  die 
Hemmung  in  Verlangsamung  des  Pulses  zu  äußern.  Um  schließhch 
auch  das  dritte  Gegensatzpaar  einfacher  Gefühle,  das  der  Spannung 
und  Lösung,  in  möglichster  Isolierung  zu  erwecken,  muß  man  zur 
zeitlichen  Aufeinanderfolge  von  Eindrücken  greifen.  Kein  Gemüts- 
zustand  enthält   so  ausgeprägt  und   unter  geeigneten   Bedingungen 


Einfache  Gefühlsformen.  55 


SO  frei  von  andern  Elementen  das  Gefühl  der  Spannung  wie  die  Er- 
wartung; und  ebenso  prägt  sicli  das  entgegengesetzte  Gefühl  der 
Lösung  nirgends  so  rein  aus  wie  in  dem  Moment  der  erfüllten  Er- 
wartung. Wenn  man  daher  Gehörseindrücke  nimmt,  die  hinreichend 
indifferent  sind,  etwa  die  einfachen  Taktschläge  eines  Pendels,  und 
wenn  man  diese  außerdem  noch  derart  regelmäßig  einander  folgen 
läßt,   daß   der   gewählte   Rhythmus   den    Spannungs-   und   Lösungs- 


Fig.  6.  Spannung.    (Nachwirkung   eines  schwachen  Tones,  dessen  Wiederholung 
erwartet  wird,  Spannungskurve  von  a  bis  h,  Lehmann  Taf.  XXIX  A.) 


A 


Fig.  7.    Lösung.     (Unmittelbare   Fortsetzung   des   Versuchs  von  Fig.  6,   von  1 
bis  2  Einwirkung   des  erwarteten  Tones,   von   c  bis  d  Lösungskurve,  Lehmann 

Taf.  XXIX  B.) 


gefühlen  Zeit  genug  gibt  sich  zu  entwickehi,  welche  Bedingungen 
beide  bei  ziemlich  langsam,  in  1,5 — 2  Sek.  einander  folgenden  Ein- 
drücken am  besten  erfüllt  sind,  so  kann  man  diese  dritte  Gefühls- 
form in  ausgezeichneter  Weise  und  so  gut  wie  ganz  losgelöst  von  an- 
dern Gefühlsqualitäten  beobachten.  Der  Puls  scheint  dann  bei  be- 
stehendem Spannungsgefühl  Verlangsamung  und  Stärkeabnahme, 
bei  eintretender  Lösung  der  Spannung  allmähliche  Verstärkung  und 


56  3)ie  Ausdrucksbewegungen. 

Beschleunigung  der  Pulswelle  zu  zeigen.  Die  gleichen  Erscheinungen 
lassen  sich  auch  bei  unbestimmten,  nicht  an  rhythmische  Eindrücke 
gebundenen  Erwartungszuständen  beobachten  (Fig.  6  und  7).  Die 
Figuren  2 — 7  enthalten  einige  den  sorgfältigen  Untersuchungen  Alfr. 
Lehmanns  entnommene  Kurvenabschnitte,  die  das  Gesagte  verdeut- 
lichen. Diese  Kurven  geben  die  Volumenschwankungen  einer  Flüssig- 
keitsmasse wieder,  die  in  einem  die  Hand  wasserdicht  umschließenden 
Beutel  enthalten  war  (sogenannte  ,, plethysmographische"  Kurven.) 
Es  sind  daher  bei  ihnen  neben  den  Pulskurven  auch  noch  die  lang- 
sameren, von  dem  wechselnden  Kontraktionszustand  der  Blutgefäße 
abhängigen  Volum-  oder  vasomotorischen  Kurven  zu  bemerken^). 
Alle  diese  Pulssymptome,  sowie  die  sie  begleitenden  Verände- 
rungen der  Gefäß-  und  Atmungsinnervation  sind,  solange  es  sich  um 
reine  Gefühle  handelt,  unbedeutend  und  vorübergehend.  Sie  nehmen 
dagegen  zu  beim  Übergang  in  den  Affekt;  zugleich  kommen  dann 
auch  Vermischungen  der  verschiedenen  Symptome  vor,  v/elche  die 
Erscheinungen  komplizieren.  Unter  diesen  Komplikationen  stehen 
die  Wechselwirkmigen  zwischen  Atmung  und  Herzbewegung  innerster 
Linie.  Sie  machen  sich  vornehmlich  darin  geltend,  daß  die  Beschleu- 
nigung der  Atmung  auch  eine  solche  des  Pulsschlags  mit  sich  führt. 
Die  entsprechende  Wirkung  in  entgegengesetzter  Richtung  fehlt 
zwar  nicht,  aber  sie  tritt  doch  seltener  hervor.  Eine  Quelle  bedeut- 
samer Affektsymptome  ist  ferner  die  Korrelation,  in  der  in  sich  kreuzen- 


^)  Alfred  Lehmann,  Die  Hauptgesetze  des  menschlichen  Gefühlslebens, 
1892.  Die  körperlichen  Äußerungen  psychischer  Zustände,  I,  1899  (mit  einem 
Atlas  plethysmographischer,  pneumo-  und  sphygmographischer  Kurven).  Zoneff 
und  Meumann,  Philos.  Studien,  Bd.  18,  1903,  S.  1  ff.  Werner  Gent,  ebd.  S.  715  ff. 
Da  Lehmann  noch  unter  der  Voraussetzung  arbeitete,  daß  die  einfachen  Ge- 
fühle in  die  eine  Dimension  der  Lust-Unlust  einzureihen  seien,  so  hat  er  selbst 
den  von  ihm  gewonnenen  Resultaten  eine  von  der  obigen  abweichende  Deutung 
gegeben.  Wichtige  Ergänzungen  hinsichtlich  der  Symptomatik  der  Gefühle 
im  Gebiet  der  Atmungsbewegungen  bieten  die  Untersuchungen  von  Zoneff  und 
Meumann,  sorgfältige  Analysen  pneumo-  und  plethysmographischer  Kurven 
bei  Gefühlen  und  Affekten  die  Arbeiten  von  W.  Gent.  Philos.  Stud. 
Bd.  18,  S.  715  ff.  Alechsieff,  Salow,  Drozynski,  Rehwoldt,  Psychol.  Stud. 
Bd.  3 — 7.  Vgl.  zu  dem  Ganzen  meine  Physiol.  Psychologie  ^,  II,  S.  301  ff., 
III,  S.  191  ff. 


Gefühls  verlauf  der  Affekte.  57 


den  Richtungen  die  Innervationen  des  Herzens  und  der  Blutgefäße 
zueinander  stehen.  Verstärkte  Herzaktion  pflegt  nämlich  mit  einer 
Hemmung  des  Gefäßtonus,  und  umgekehrt  Hemmung  des  Herzschlags 
mit  einer  Erregung  der  Konstriktoren  der  kleinen  Arterien  verbunden 
zu  sein:  dort  schafft  die  durch  den  Nachlaß  des  Tonus  entstehende 
Dilatation  der  Gefäße  Platz  für  die  durch  die  gesteigerte  Herzaktion 
erhöhte  Blutwelle;  hier  folgt  die  durch  die  krampfhafte  vasomotorische 
Erregung  eintretende  Verengerung  des  Gefäß lumens  der  Abnahme  des 
Blutdrucks,  die  durch  die  Hemmung  des  Herzens  bewirkt  wird.  Das 
Erröten  im  Zorn  bei  gleichzeitiger  heftiger  Herzaktion,  das  Erblassen 
beim  Schreck,  bei  der  Furcht,  überhaupt  allen  übermächtigen  Affekten, 
sind  deutliche  Symptome  dieser  kompensatorischen  Korrelation, 
die  jedenfalls  auf  zentrale  Innervationsverbindungen  zurückzu- 
führen  ist. 

2.  Gefühlsverlauf  der  Affekte. 

Da  jeder  Affekt  einen  bestimmten  Gefühlsverlauf  darstellt, 
kein  einziges  Gefühl  aber  als  ein  streng  momentaner  oder  auch  als 
ein  konstant  in  der  Zeit  andauernder  Zustand  festgehalten  werden 
kann,  so  sind  ,, reine  Gefühle"  eigentlich  nur  Erzeugnisse  einer  psycho- 
logischen Abstraktion.  Alle  wirkHchen  Gefühle  bilden  vielmehr  Be- 
standteile eines  niemals  ganz  zur  Euhe  kommenden  Affektverlaufs, 
und  es  läßt  sich  bei  diesem  immer  nur  von  einzelnen  relativen  Ruhe- 
punkten reden.  Verfolgt  man  nun  von  solchen  Punkten  aus  die  Ge- 
fühle in  die  bewegteren  Affekte,  so  kann  man  nicht  zweifeln,  daß  zwar 
das  so  entstehende  Zusammenwirken  der  Gefühle  und  ihr  zeitlicher 
Ablauf  die  Intensität  und  die  Verbindung  der  einzelnen  in  hohem 
Grade  beeinflussen  kann,  daß  aber  niemals  aus  dem  Affekt  selbst 
eigentlich  neue  Gefühlselemente  entspringen.  Hieran  scheitert  denn 
auch  von  vornherein  die  Annahme,  alle  in  dem  Verlauf  eines  Affekts 
vorkommenden  Gefühle  seien  aus  bloßen  Lust-  und  Unlustgefühlen 
zusammengesetzt,  oder  alle  in  Affekten  vorkommenden  Gefühle, 
die  nicht  der  Lust  und  Unlust  unterzuordnen  sind,  entstünden  erst 
infolge  der  Affekte.  Weder  auf  die  eine  noch  auf  die  andere  Weise 
läßt  sich  begreifen,  wie  solche  Gefühle  überhaupt  entstehen  können. 


58  Die  Ausdrucksbewegungen. 

Sollten  sie  aus  den  Lust-  und  Unlustgefühlen  hervorgehen,  so  müßte 
sich  doch  nachweisen  lassen,  daß  Erregung  und  Beruhigung,  Spannung 
und  Lösung  wirklich  mit  Lust  und  Unlust  verwandt  seien  oder  min- 
destens konstante  Beziehungen  zu  diesen  angeblich  einfacheren  Ge- 
fühlen darbieten.  Dem  widerspricht  aber  direkt  die  Ta'tsache,  daß 
jede  jener  andern  Gefühlsrichtungen  sowohl  mit  einem  Lust-  wie  mit 
einem  Unlustgefühl  sich  verbinden  wie  endlich  ohne  eines  dieser 
Gefühle  bestehen  kann.  Es  gibt  einen  Zustand  der  Erwartung,  bei 
dem  man  nichts  als  ein  deutliches  Gefühl  der  Spannung  wahrnimmt. 
Dieses  auf  bloße  Spannungsempfindungen  der  Haut  und  der  Muskeln 
zurückzuführen,  die  allerdings  infolge  begleitender  Muskelerregungen 
entstehen,  geht  deshalb  nicht  an,  weil  sich  solche  Spannungsempfin- 
dungen auch  ohne  jede  Spur  eines  Erwartungsgefühls  hervorbringen 
lassen,  z.  B.  durch  einen  Induktionsstrom  oder  durch  eine  willkür- 
liche Innervation  der  Muskeln.  Nicht  minder  lehrt  die  Beobachtung, 
daß  sich  die  Spannungsgefühle  bald  mit  Lust-,  bald  mit  Unlust- 
stimmungen verbinden  können.  So  ist  die  lange  fortgesetzte  un- 
geduldige Erwartung  ein  oft  bis  zur  Unerträglichkeit  unlustvolles 
Spannungsgefühl.  Die  mäßig  ansteigende  Erwartung  dagegen  kann, 
besonders  bei  rhythmischen  Eindrücken,  ein  lustvolles  Spannungs- 
gefühl sein.  Ebenso  gibt  es  Affekte,  bei  denen  das  Gefühl  der  Erregimg 
mit  Unlustgefühlen  verbunden  ist,  wie  der  Zorn,  und  andere,  bei  denen 
es  Lustgefühle  begleitet,  wie  die  Freude. 

Mißlingt  demnach  der  Versuch,  die  genannten  Gefühlsbestand- 
teile der  Affekte  auf  einzelne  unter  ihnen  zu  reduzieren  oder  sie  in 
anderweitige  Elemente  aufzulösen,  so  läßt  sich  aber  umgekehrt  auch 
die  Frage  erheben,  ob  nicht  außer  ihnen  noch  weitere  Grundformen 
vorkommen.  Ist  die  Erregung  des  Zornigen  wirklich  dasselbe  Gefühl 
wie  die  des  Erfreuten  ?  Oder  sind  nicht  etwa  die  bei  der  Tätigkeit 
der  Aufmerksamkeit,  bei  den  Willenshandlungen,  bei  den  Erinnerungs- 
und Wiedererkennungsakten,  beim  gelingenden  oder  mißlingenden 
Vollzug  eines  intellektuellen  Prozesses  vorkommenden  Gefühle  — 
sind  sie  nicht  alle  wieder  ebenso  spezifisch  verschiedene  Qualitäten 
wie  Lust,  Unlust,  Erregung,  Beruhigung  usw.  ?  Nun  enthält  diese 
Frage  eigentlich  zwei  Fragen.  Erstens:  sind  die  angegebenen  sechs 
die  einzigen  Hauptrichtungen  der  Gefühle?     Und  zweitens:  be- 


Gefühls  verlauf  der  Affekte.  59 

zeichnet  jede  dieser  Richtungen  zugleich  eine  einzige  einfache  Gefühls- 
qualität, oder  deutet  sie  nur  eine  Gefühlsart  an,  unter  der  eine 
Mannigfaltigkeit  konkreter  Gefühle  enthalten  sein  kann,  ähnlich 
wie  unter  der  Farbe  Blau  eine  Menge  einzelner  Farbennuancen  ver- 
standen wird?  Die  große  Vergänglichkeit  der  Gefühle,  ihre  Verbin- 
dungen und  Verschmelzungen,  endhch  ihre  mangelhafte  Unterscheidung 
in  den  Benennungen  der  Sprache  machen  es  nicht  leicht,  diese  Fragen 
zu  entscheiden.  Bei  unbefangener  Prüfung  müssen  sie  aber  doch, 
wie  mir  scheint,  dahin  beantwortet  werden,  daß  wirklich  diese  Haupt- 
richtungen nicht  Individual-,  sondern  Artbegriffe  andeuten,  daß  sie 
dann  aber  auch  die  einzigen  Arten  sind,  welche  vorkommen.  Zunächst 
lassen  sich  nämlich  die  verschiedensten  konkreten  Gefühle,  denen 
man  auf  den  ersten  Blick  geneigt  sein  möchte,  eine  selbständige  Stelle 
anzuweisen,  bei  näherer  Betrachtung  auf  Modifikationen  oder  Ver- 
bindungen jener  zurückführen.  So  dürften  die  eigentümlichen  Er- 
kennungs-  und  Wiedererkennungsgefühle  bei  der  Begegnung  mit 
früher  wahrgenommenen  Gegenständen  sowie  die  oft  sehr  intensiven 
Gefühle  bei  den  Vorgängen  des  Besinnens  und  Erinnerns  aus  auf- 
einander folgenden  Spannungs-  und  Lösungsgefühlen  bestehen,  mit 
denen  sich  in  etwas  wechselnder  Weise  Erregungs-  und  unter  Um- 
ständen, aber  keineswegs  immer,  Lust-  und  Unlustgefühle  verbinden. 
Die  eigentümlichen  Gefühle,  die  dunkel  im  Bewußtsein  vorhandene 
Vorstellungen  begleiten,  und  durch  die  sich  diese  deutlich  verraten, 
während  sie  selbst  doch  durchaus  unbestimmt  bleiben,  sind  wohl 
ihrem  Hauptcharakter  nach  Spannungsgefühle,  zunächst  der  Er- 
wartung verwandt;  es  ist  ihnen  aber  außerdem  der  sonstige  Gefühls- 
ton der  dunkel  perzipierten  Vorstellung  eigen,  durch  den  jene  oft 
wahrzunehmende  Stimmung  entsteht,  es  gebe  irgend  etwas  Angenehmes 
oder  Unangenehmes,  das  uns  widerfahren  werde,  ohne  daß  wir  doch 
zu  sagen  wissen,  was  dies  Angenehme  oder  Unangenehme  sei.  Aus 
einer  eigenartigen  Verbindung  von  Spannungs-  und  Lösungs-  mit 
Erregungsgefühlen  erscheint  endlich  der  Willensvorgang  zusammen- 
gesetzt, und  zugleich  sind  hier  die  verschiedenen  Entwicklungsformen 
der  Willenshandlungen  durch  die  verschiedene  Intensität  und  Dauer 
der  Gefühlskomponenten  gekennzeichnet.  Bei  dem  einfachen  Willens- 
vorgang oder  der  Triebhandlung  wachsen  im  allgemeinen  das  Spannungs- 


60  Die  Ausdrucksbewegungen. 

und  das  Erregungsgefühl,  die  der  Handlung  vorausgehen,  rasch  an, 
um  dann  plötzlich  mit  dem  Vollzug  des  Willensakts  dem  meist  zu- 
gleich mit  Lust  verbundenen  Lösungsgefühl  Platz  zu  machen.  Bei 
der  Willkürhandlung  und  besonders  bei  der  Wahl  zwischen  einander 
bekämpfenden  Motiven  befinden  sich  außerdem  jene  einleitenden 
Gefühle  in  einem  oszillierenden  Zustand,  der  wie  immer  das  Schwanken 
zwischen  entgegengesetzten  Phasen,  die  Intensität  der  Gefühle  zu 
verstärken  pflegt.  Übrigens  zeigt  sowohl  der  Gefühls  verlauf  der 
Willenshandlungen  wie  die  Beschaffenheit  sonstiger  komplexer  Ge- 
fühle und  Stimmungen,  daß  die  Erregungs-  und  Hemmungsgefühle, 
so  oft  sie  auch  mit  denen  der  Spannung  und  Lösung  vereinigt 
sind,  doch  von  diesen  der  Art  nach  abweichen.  Denn  auch  hier 
können  beide  Gefühlsformen  wieder  in  wechselnden  Verbindungen 
vorkommen.  So  ist  das  Spannungsgefühl  bei  hochgradiger  Er- 
wartung von  Erregung  begleitet;  aber  dieses  Erregungsgefühl  kann 
nun  bei  eintretender  Erfüllung,  wo  das  Lösungsgefühl  bereits 
intensiv  hervorbricht,  noch  andauern,  ja  stärker  werden  als 
vorher. 

Die  drei  Grundformen  der  Gefühle,  auf  die  wir  so  bei  der  Ana- 
lyse der  einzelnen  Gemütszustände  immer  wieder  geführt  werden,, 
scheinen  nun  außerdem  zu  den  wichtigsten  Eigenschaften  des  Ver- 
laufs der  Affekte  in  einer  nahen  Beziehung  zu  stehen.  Erinnern  wir 
uns  nämlich,  daß  das  einzelne  Momentangefühl  strenggenommen 
stets  eine  Abstraktion  ist,  weil  jedes  Gefühl  Teil  eines  Gefühlsverlaufs, 
jeder  Gefühlsverlauf  aber  seinem  allgemeinen  Wesen  nach  ein  Affekt 
ist,  so  ergibt  sich,  daß  in  diesem  kontinuierlichen  Strom  der  Gefühle 
jedes  Element  in  dreifacher  Weise  bestimmt  sein  kann.  Erstens 
hat  der  Gefühlsverlauf  in  jedem  AugenbHck  einen  bestimmten  quali- 
tativen Inhalt.  Diese  Gefühlsqualität  des  gegenwärtigen  Eindrucks 
gibt  dem  Gefühl  jene  Eigenschaften,  die  wir  den  allgemeinen  Be- 
griffen der  Lust  mid  Unlust  unterordnen  können.  Zweitens  übt  der 
momentane  Bewußtseinszustand  immer  eine  Wirkung  auf  den  nach- 
folgenden aus,  die  sich  als  intensive  Erregung  oder  Hemmung  äußern 
kann:  das  erstere,  wenn  die  Gefühlskurve  vom  gegenwärtigen  Moment 
zum  folgenden  ansteigt,  das  letztere,  wenn  sie  sinkt.  Da  sich  dieser 
Unterschied  der  Schwankungen  des  Verlaufs  dem  Vorstellungsinhalte 


Gefühlsverlauf  der  Affekte.  61 

des  Bewußtseins  mitteilt,  so  pflegt  das  Gefühl  der  Erregung  zugleich 
von  einem  rascheren,  dasjenige  der  Hemmung  von  einem  retardierten 
Vorstellungswechsel  begleitet  zu  sein.  Drittens  ist  die  gegebene  Ge- 
fühlslage durch  den  unmittelbar  vorangehenden  Zustand  des  Bewußt- 
seins zeitlich  bestimmt.  Danach  kann  sich  entweder  ein  voran- 
gegangener Gefühlsverlauf  seinem  Abschlüsse  zudrängen:  dann  ent- 
steht ein  Lösungsgefühl;  oder  es  kann  sich  die  Vorbereitung  zu  einem 
solchen  Abschlüsse  vom  vorangegangenen  Moment  auf  den  gegen-' 
wärtigen  fortsetzen:  dann  ist  ein  Spannungsgefühl  von  verschiedener 
Stärke  vorhanden.  So  sind  es  die  drei  allen  psychischen  Inhalten 
gemeinsamen  Eigenschaften  der  Qualität,  der  relativen  Intensität 
und  des  Zeitverlaufs,  zu  denen  sich  die  drei  Bestimmungsstücke  eines 
jeden  in  einen  Affekt  eingehenden  Momentangefühls  in  Beziehung 
bringen  lassen.  Dadurch  ist  natürlich  nicht  ausgeschlossen,  daß  die 
nähere  qualitative  Färbung  in  jeder  dieser  Dimensionen  noch  eine 
wechselnde  sein  kann,  da  sie  jeweils  von  den  unendlich  variierenden 
Inhalten  des  Bewußtseins  abhängig  ist.  Nicht  minder  kann  die  Be- 
stimmtheit in  irgendeiner  Richtung  oder  in  mehreren  gleichzeitig  zu 
Null  werden,  was  der  partiellen  oder  eventuell  totalen  Indifferenz- 
lage der  Gefühle  und  damit  dem  Zustand  der  Affektlosigkeit  ent- 
spricht. Doch  wird  dieser  Zustand  wahrscheinlich  nur  zuweilen  ge- 
streift. 

Wird  so  jedes  Gefühl  eigen thch  erst  in  seiner  Zugehörigkeit  zu 
einem  Gefühlsverlauf  oder  Affekt  in  allen  seinen  Eigenschaften  ver- 
ständlich, so  ergibt  sich  mm  hieraus  zugleich,  daß  jene  graphische 
Versinnlichung  der  Grundformen  der  Gefühle,  wie  sie  die  Fig.  1  (S.  50} 
zeigt,  eine  unvollständige  ist,  weil  sie  eben  nur  die  momentanen  Be- 
stimmungselemente eines  gegebenen  Gefühls,  nicht  dieses  in  seiner 
ganzen  Zugehörigkeit  zu  einem  konkreten  Affekt  zum  Ausdruck  bringt. 
Wollen  wir  die  letztere  Aufgabe  irgendwie  lösen,  also  die  Veränderungen 
der  Gefühlslage  in  einer  Reihe  aufeinander  folgender  Momente  oder 
gar  während  der  Dauer  eines  Affekts  symbolisch  darstellen,  so  ist  dies 
innerhalb  einer  einzigen  ebenen  Konstruktion  natürlich  nicht  mehr 
möglich,  da  bereits  die  Bestimmung  der  momentanen  Gefühlslage 
ein  dreidimensionales  Gebilde  fordert.  Dagegen  läßt  es  sich  schon 
mit  Hilfe  der  Ebene  ausführen,  wenn  wir,  wie  in  Fig.  8,   den  Affekt- 


62 


Die  Ausdrucksbewegungen. 


verlauf  in  bezug  auf  die  drei  Gefülilsdimensionen  in  drei  gesonderten 
Kurven  darstellen,  deren  Abszissen  die  Zeiten  bedeuten.  Hier  ordnet 
sich  der  einem  gegebenen  Moment  entsprechende  Gefühlszustand  den 
ihm  vorausgehenden  und  nachfolgenden  Momenten  unmittelbar  ein, 
wenn  wir  die  senkrecht  übereinander  liegenden  Punkte  der  drei  Ab- 
szissenachsen den  gleichen  Zeitpunkten  entsprechen  lassen.  Es  wird 
dann  bei  einer  solchen  Darstellung,  gegenüber  dem  einfachen,  von 
der  Zeit  abstrahierenden  Schema  der  Fig.  1,  zweckmäßig  noch  die 
weitere  Veränderung  vorgenommen,  daß  man  die  innerhalb  einer  und 
derselben  Dimension  liegenden  Gegensätze,  wie  Lust  und  Unlust, 
durch  die  Lage  des  betreffenden  Punktes  der  Gefühlskurve  über  oder 
unter  der  Abszissenlinie  der  Zeiten  ausdrückt.  Die  positiven  Ordi- 
naten  der  auf  der  Linie  L  L'  gezeichneten  Kurve  bedeuten  demnach 
Lustgefühle,  die  negativen  Unlustgefühle,  während  die  Höhe  der 
Ordinate  jedesmal  die  Intensität  des  Gefühls  mißt,  womit  dann  von 

selbst  der  Punkt,  wo 
die     Kurve    die    Ab- 
szissenachse schneidet, 
die  Indifferenzlage  an- 
zeigt.  Ahnlich  können 
wir  durch   die   Kurve 
EE'  den  Verlauf  der 
Erregungs-     und     Be- 
ruhigungsgefühle, 
durch    ß  8'    den    der 
Spannungs-    und    Lö- 
sungsgefühle    darstel- 
len.    Der  momentane 
Gefühlszustand   in   ir- 
gendeinem Zeitpunkte 
t  wird  dann  in  seiner 
21erlegung  nach  den   drei   Gefühlsdimensionen    durch    die    drei  dem 
Abszissenwert    entsprechenden    positiven    oder   negativen   Ordinaten 
ausgedrückt.      Alle    drei    Kurven    zusammen    schildern    aber  einen 
Affektverlauf    in    bezug  auf  seine    sämtlichen    Gefühlskomponenten 
und    ihre   Veränderungen    in    der  Zeit.     Die  in  Fig.  8  gezeichneten 


Fig.  8.    Beispiel   eines   Gefühlsverlaufs  im   Afiekt. 


Gefühlsverlauf  der  Affekte.  63 

Kurven  würden  so  beispielsweise  dem  Vorgang  entsprechen,  der  bei 
der  Erwartung  und  dem  Eintritt  eines  lusterregenden  Eindrucks 
sich  abspielt.  Der  Prozeß  beginnt  bei  S  mit  einem  allmählich  an- 
steigenden Spannungsgefühl,  dem  sich  nach  kurzer  Zeit  ein  Unlust- 
und  ein  Erregungsgefühl,  beide  ebenfalls  allmählich  wachsend,  zu- 
gesellen. Wirkt  in  einem  Moment  f  der  erwartete  Reiz  ein,  so  folgt 
nun  sofort  ein  Übergang  des  Spannungs-  in  das  Lösungs-,  des  Unlust- 
in das  Lustgefühl,  während  die  Erregung  noch  einige  Zeit  anhält,  um 
dann  auf  Null  zu  sinken  und  eventuell  ebenfalls  in  ihren  Gegensatz, 
die  Beruhigung,  überzugehen. 

Sucht  man  in  dieser  Weise,  die  subjektive  Beobachtung  durch 
experimentelle  Versuchsbedingungen  unterstützend,  Affekte  zu  ana- 
lysieren, so  ergibt  sich,  daß  für  die  allgemeinen  Typen  des  Ver- 
laufs der  Affekte  nicht,  wie  für  ihre  momentanen  Gefühlsinhalte, 
die  Lust-  und  Unlustrichtung,  sondern  die  beiden  andern  Dimen- 
sionen, die  Erregung  und  Hemmung,  die  Spannung  und  Lösung, 
von  vorwiegender  Bedeutung  sind.  Dies  wird  verständlich,  wenn  wir 
uns  an  die  oben  bemerkte  Abhängigkeit  von  den  zeitlichen  Bedingungen 
der  Gefühle  erinnern.  So  sehr  hier  für  deren  unmittelbare  Qualität 
das  Lust-  oder  Unlustmoment  von  entscheidendem  Wert  ist,  weshalb 
eben  die  andern  Hauptrichtungen  meist  ganz  übersehen  wurden, 
so  sehr  müssen,  sobald  man  vom  Gefühl  zum  Affekt  übergeht,  die- 
jenigen Momente  in  den  Vordergrund  treten,  bei  denen  diese  Be- 
ziehung zum  Zeitverlauf  die  Hauptrolle  spielt,  während  der  Lust- 
und  Unlustwert  bloß  die  Bedeutung  eines  konkreten  qualitativen 
Inhalts  hat,  der  auf  die  Verlaufsform  als  solche  nur  indirekt  von  Ein- 
fluß ist.  Dabei  sind  dann  weiterhin  die  Erregungs-  und  Hemmungs- 
gefühle hauptsächlich  für  die  eigentlichen  Affekte  maßgebend,  die, 
ohne  daß  sie  Wirkungen  von  unmittelbar  affekt lösendem  Charakter 
hervorbringen,  durch  allmähliche  Beruhigung  des  Gefühlsverlaufs 
endigen.  Die  alten  Einteilungen  in  exzitierende  und  deprimierende, 
sthenische  und  asthenische  Affekte  weisen  schon  deutHch  auf  dieses 
Übergewicht  der  Erregungs-  und  Beruhigungsgefühle  hin.  Es  würde 
ja  unbegreiflich  sein,  wie  man  dazu  kam,  einerseits  Zorn  und  aus- 
gelassene Freude,  anderseits  Schreck  und  überwältigende  Freude 
jedesmal    als    Affektformen    von    übereinstimmendem,    beide    Arten 


64  Die  Ausdrucksbewegmigen. 

der  Freude  daher  als  solche  von  entgegengesetztem  Typus  zu  betrachten, 
hätte  sich  hier  nicht  dieses  für  die  Affekte  und  die  sie  begleitenden 
Ausdrucksbewegungen  überwiegende,  den  Lust-  und  Unlustcharakter 
zurückdrängende  Moment  der  Erregung  und  Hemmung  geltend  ge- 
macht. Übrigens  ist  es  charakteristisch,  daß  erst  der  Versuch  einer 
wissenschaftlichen  Einteilung  der  Affekte  zu  diesen  die  Verlaufsform 
in  den  Vordergrund  rückenden  Abstraktionen  geführt  hat,  während 
die  Unterscheidungen  des  gewöhnlichen  Bewußtseins,  wie  sie  in  den 
sprachlichen  Bezeichnungen  niedergelegt  sind,  auch  hier  bei  den 
momentanen  Gefühlswerten  mit  ihrer  Einordnung  in  die  Lust-  und 
Unlustreihe  stehen  blieben.  Solche  Ausdrücke  wie  exzitierend,  de- 
primierend, sthenisch,  asthenisch  gehören  ausschließlich  der  psycho- 
logischen Theorie  an.  Die  Sprache  unterscheidet  nur  Freude,  Leid, 
Kummer,  Sorge,  Hoffnung,  Furcht  usw.  Der  Reichtum,  über  den 
die  Sprache  bei  diesen  Lust-  und  Unlustbezeichnungen  der  Affekte 
verfügt,  indes  sie  den  übrigen  Gefühlsrichtungen  gegenüber  versagt, 
begünstigte  aber  auch  hier  wieder  das  intellektualistische  Vorurteil, 
das  sich  der  psychologischen  Analyse  der  Gemütsbewegungen  so  oft 
bemächtigt  hat:  man  hielt  jene  Gegensätze  der  Erregung  und  Hemmung 
meist  für  bloße  Unterschiede  des  Vorstellungsverlaufs  und  erkannte 
nicht,  daß  die  letzteren  selbst  Begleiterscheinungen  bestimmter,  wohl 
ausgeprägter  Gefühlsqualitäten  sind. 

Neben  den  Gefühlen  der  Erregung  und  Beruhigung  treten  so- 
dann in  vielen  Affekten  auch  die  Spannungs-  und  Lösungsgefühle 
als  bedeutsame  Elemente  hervor.  So  bei  Erwartung,  Angst,  Furcht, 
Kummer,  Sorge,  Hoffnung,  Zweifel,  Erfüllung,  Befriedigung  usw. 
Auch  hier  hat  in  der  Sprache  wieder  vorwiegend  das  Lust-  und  Un- 
lustmoment seinen  Ausdruck  gefunden.  Nur  in  der  eigentümlichen 
Nebenbedeutung,  die  man  schon  im  gewöhnlichen  Sprachgebrauch 
diesen  Benennungen  gegenüber  den  einfachen  Begriffen  der  Freude 
und  des  Leides  beilegt,  kommen  jene  Momente  der  Spannung  und 
Lösung  unwillkürUch  zur  Geltung.  Einen  entscheidenden  Wert  be- 
sitzen sie  aber  in  ihrer  eigentümlichen  Verbindung  mit  Gefühlen  der 
Erregung  und  Beruhigung  bei  den  Willensvorgängen,  ein  Ver- 
hältnis, das  diese  in  die  unmittelbare  Nachbarschaft  der  Affekte, 
namentlich  der  sogenannten  Zukunftsaffekte,  rückt.    Näher  betrachtet 


Gefühlsverlauf  der  Affekte.  65 

sind  sie  in  der  Tat  nur  eine  besondere  Klasse  der  letzteren,  die  sich 
von  den  übrigen  durch  die  den  Verlauf  abschließende  plötzliche 
Lösung  des  Affekts  unterscheidet.  Diese  Lösung  wird  aber  bei 
den  ursprüngHchen  Willens  Vorgängen  stets  durch  eine  äußere  Körper- 
bewegung vermittelt. 

Durch  alle  diese  Beziehungen  gewinnen  nun  die  physischen 
Begleiterscheinungen  der  Affekte,  die  Ausdrucksbewegungen,  ihre 
psychologische  Bedeutung.  Jeder  Affekt  ist  vermöge  jener  natür- 
lichen Einheit  der  psychophysischen  Organisation,  die  als  die  nicht 
weiter  empirisch  abzuleitende  Voraussetzung  der  physischen  wie  psy- 
chischen Lebensvorgänge  angenommen  werden  muß,  von  Bewegungen 
begleitet,  die  seinem  Charakter  entsprechen.  Nennen  wir  diese  be- 
gleitenden Bewegungen  allgemein  Ausdrucksbewegungen,  so  ist  es 
daher  nur  eine  besondere,  diesen  in  gewissen  Fällen  zukommende 
Nebenbestimmung,  daß  sie  einen  die  endgültige  Lösung  des  Affekts 
bewirkenden  Verlauf  nehmen;  und  zugleich  ist  dies  eine  Eigentüm- 
lichkeit, in  der  sich  die  Willensbewegungen  nur  durch  ihre  besondere 
Anpassung  an  den  vorhandenen  Gemütszustand  unterscheiden.  Denn 
alle  Ausdrucksbewegungen  sind  schheßlich  auf  Wirkungen  gerichtet, 
die  zur  Lösung  des  Affekts  beitragen.  So  die  Bewegungen  des  Er- 
freuten, des  Zornigen,  des  Erschreckten  usw.  Wenn  wir  diese  Be- 
wegungen zwecklose  nennen,  so  geschieht  dies  nur,  weil  sie  den  Zweck, 
den  sie  sichtlich  verraten,  und  ohne  den  wir  den  Charakter  des  ein- 
zelnen Affekts  gar  nicht  erkennen  würden,  nicht  in  einer  die  Lösung 
desselben  verwirklichenden  Weise  erreichen.  Nicht  einmal  dies  läßt 
sich  jedoch  behaupten,  daß  sie  in  diesem  Fall  für  die  Lösung  ganz 
ergebnislos  seien.  Die  Bewegungen  des  Zornigen,  des  Erfreuten,  des 
Bekümmerten,  ja  selbst  des  Erschreckten  können  immerhin  zur  Er- 
mäßigung des  Affekts  beitragen.  Auch  können  diese  Bewegungen, 
falls  nur  der  Gegenstand  des  Affekts  gegenwärtig  ist,  unmittelbar 
in  wirkliche  Willenshandlungen  übergehen.  In  solchen  Fällen  pflegen 
wir  dann  den  ganzen  Vorgang  bis  zu  einem  bestimmten  Punkt  als 
Affekt,  und  von  da  an  erst  als  Willensakt  zu  betrachten.  Aber  es  ist 
klar,  daß  diese  Scheidung  im  Grunde  willkürHch  bleibt.  Der  Affekt 
selbst  ist  eben  ein  die  Willenshandlung  vorbereitender  Prozeß;  und 
deshalb  ist  es  schließhch  nur  ein  Unterschied  der  meist  durch  äußere 

Wtindt,  Völkerpsychologie.    I.    4.  Aufl.  ^ 


ßß  Die  Ausdrucksbewegungen. 

Bedingungen  bestimmten  größeren  oder  geringeren  Vollständigkeit 
dieses  Prozesses,  der  die  eigentlichen  Affekte  von  den  Willensvor- 
gängen scheidet.  So  steht  der  Affekt  in  der  Mitte  zwischen  Gefühl 
und  Willenshandlung,  und  die  Begrenzung  gegenüber  jenem  elemen- 
taren und  diesem  komplexeren  Vorgang  ist,  weil  sie  alle  ein  einziges, 
zusammenhängendes  Geschehen  bilden,  niemals  streng  durchzu- 
führen. Von  dem  Gefühl  ist  der  Affekt  nicht  sicher  abzugrenzen, 
weil  jedes  Gefühl  eigentlich  schon  Bestandteil  eines  Affektverlaufs 
ist.  Von  der  Willenshandlung  scheidet  sich  dieser  nur  durch  die  be- 
sondere physische  und  psychische  Endwirkung  der  begleitenden  Aus- 
drucksbewegungen. Nehmen  wir  aber  die  physiologischen  Sym- 
ptome zu  Maßstäben,  so  lassen  sich  die  einzelnen  Gefühle  als  solche 
Gemütserregungen  definieren,  deren  physiologische  Begleiterscheinungen 
hauptsächlich  auf  Veränderungen  der  Herz-,  Gefäß-  und  Atmungs- 
innervation  beschränkt  sind.  Bei  den  Affekten  treten  dann 
außerdem  Innervationsänderungen  der  allgemeinen  motorischen 
Nerven  hinzu.  Bei  den  in  äußeren  Handlungen  endigenden  Willen s- 
vorgängen  führen  endlich  diese  allgemeinen  Muskelinnervationen 
zweckbewußte  Bewegungen  herbei,  welche  entweder  unmittelbar 
durch  ihre  Erfolge  die  Lösung  des  Affekts  erreichen  oder  auf  diese 
Lösung  abzielen.  Die  ohne  einen  solchen  äußeren  Enderfoig  ver- 
laufenden Willensvorgänge  aber,  die  sogenannten  ,, reinen  inneren 
Willenshandlungen",  sind  nicht  primäre  Formen,  sondern  sekundäre 
Entwicklungsprodukte . 


3.  Innervation  der  Ausdrucksbewegungen. 

Wie  jene  Innervationsänderungen  des  Herzens  und  der  Blut- 
gefäße, welche  die  einfachen  Gefühlsregungen  begleiten,  lediglich 
als  Symptome  der  psychologischen  Natur  dieser  Vorgänge  anzu- 
sehen sind,  so  ist  das  nicht  anders  bei  den  eigentlichen  Ausdrucks- 
bewegungen, die  als  Teilerscheinungen  der  Affekte  auftreten.  Auch 
hier  läßt  sich  daher  streng  genommen  nur  von  einer  regelmäßigen 
Beziehung  gewisser  psychischer  Vorgänge  zu  ihrer  physischen  Äußerung, 


Innervation  der  Ausdrucksbewegungen.  67 

nicht  von  einem  im  eigentlichen  Sinne  kausalen  Verhältnis  reden. 
Der  Affekt  und  die  Ausdrucksbewegung  samt  den  ihr  vorausgehen- 
den Innervationen  sind  eben  in  Wahrheit  nur  Bestandteile  eines  und 
desselben  Vorgangs,  die  verschiedenen  Formen  oder,  wenn  man  will, 
Standpunkten  unserer  Erfahrung  angehören.  Sie  lassen  deshalb  nur 
Beziehungen  regelmäßiger  Koordination,  aber  kein  wirkliches  Ver- 
hältnis von  Grund  und  Folge  erkennen.  Immerhin  wird  man  gemäß 
dieser  Koordination  erwarten  dürfen,  daß  den  allgemeinsten  for- 
malen Eigenschaften  der  Affekte  analoge,  wenn  auch  nach  ihrem 
realen  Inhalt  unvergleichbare  Eigenschaften  ihrer  physischen  Be- 
gleiterscheinungen entsprechen.  Namenthch  in  zwei  Beziehungen 
ist  eine  solche  formale  Analogie  nach  dem  Prinzip  des  psychophysischen 
Parallelismus  vorauszusetzen.  Erstens  weist  der  enge  Zusammen- 
hang der  subjektiven  Affekte  mit  ihren  äußeren  Erscheinungsformen 
darauf  hin,  daß  die  physischen  Symptome  des  gesamten  Gefühls- 
lebens von  einem  einheitlichen  Zentrum  aus  reguliert  werden,  welches 
den  zum  Teil  weit  auseinander  liegenden  direkten  Innervationsherden 
übergeordnet  ist.  Zweitens  legt  der  Umstand,  daß  sich  die  Inner- 
vationsprozesse  der  Gefühls-  und  Affektsymptome,  ebenso  wie  die 
Gefühle  und  Affekte  selbst,  zwischen  Gegensätzen  bewegen,  die  An- 
nahme nahe,  daß  sich  in  diesem  Fall  ein  psychophysischer  Parallelis- 
mus irgendwelcher  Art  auch  auf  diese  Gegensätze  erstrecken 
werde. 

Die  erste  dieser  Folgerungen  führt  auf  ein  physiologisches  „Zentral- 
organ der  Gefühle".  Natürlich  kann  jedoch  in  diesem  Zusammen- 
hang von  einem  ,, Organ"  nur  in  demselben  Sinne  geredet  werden, 
wie  dies  bei  dem  Gehirn  überhaupt  den  psychischen  Funktionen  gegen- 
über möglich  ist:  nicht  in  dem  gleichen  Sinne  nämlich,  in  dem  wir 
irgendeinen  Körperteil  als  Organ  bestimmter  physischer  Funktionen 
betrachten,  den  Muskel  z.  B.  als  Organ  der  mechanischen  Arbeits- 
leistung, sondern  in  der  Bedeutung  jener  oben  berührten  Koordi- 
nation, wonach  ein  bestimmter  Gehirn  teil  nur  Organ  der  physischen 
Teilvorgänge  ist,  die  in  einen  psychophysischen  Vorgang  eingehen. 
Demnach  schheßt  die  Bezeichnung  ., Organ",  auf  die  psychischen 
Prozesse  angewandt,  eine  Ergänzung  des  wirklichen  Kausalglieds 
durch  ein  anderes  ein,  welches  der  an  sich  abweichenden  physiolo- 


68  Die  Ausdrucksbewegungen 


gischen  Betrachtungsweise  angehört.  Wenn  wir  uns  zu  dieser  Sub- 
stitution gerade  bei  der  Physiologie  des  Gehirns  beinahe  regelmäßig 
genötigt  sehen,  so  erklärt  sich  dies  hinreichend  daraus,  daß  die  phy- 
siologische Seite  der  Erscheinungen  hier  vorläufig  noch  so  gut  wie 
unbekannt  ist,  während  wir  die  psychologische  aus  der  unmittel- 
baren Erfahrung  kennen.  Freilich  ersieht  man  hieraus  zugleich,  auf 
einem  wie  gänzlich  verkehrten  Wege  sich  jene  immer  wieder  auf- 
tauchenden Versuche  befinden,  die  aus  den  physiologischen  oder 
gar  den  anatomischen  Verhältnissen  des  Gehirns  eine  Theorie  der 
psychischen  Funktionen  gewinnen  möchten.  Gerade  der  umgekehrte 
Weg  ist  der  einzig  mögliche :  nur  die  Analyse  der  psychischen  Funk- 
tionen selbst  kann  hier  der  physiologischen  Untersuchung  als  Führerin 
durch  das  allmählich  zu  lichtende  Dunkel  der  Nervenprozesse  und 
durch  das  Labyrinth  der  Leitungswege  zwischen  den  verschiedenen 
Zentren  dienen.  In  vielen  Fällen  sind  wir  aber  leider  noch  ganz  darauf 
angewiesen,  überhaupt  nur  auf  Grund  der  psychischen  und  psycho - 
physischen  Funktionsbeziehungen  Zentren  und  Leitungswege  zu 
postulieren,  für  die  uns  das  anatomisch-physiologische  Bild  des  Gehirns 
vorläufig  keine  oder  nur  zweifelhafte  Anhaltspunkte  bietet.  Wenn 
man  nun  die  engen  Beziehungen  ins  Auge  faßt,  die  zwischen  den  ver- 
schiedensten Gefühlen  und  Affekten  bestehen,  und  die  in  der  oben 
erörterten  Einordnung  in  eine  und  dieselbe  Mannigfaltgkeit  allgemeiner 
Gefühlsrichtungen  ausgedrückt  sind  (S.  62),  so  kann  man  sagen: 
hier  machen  die  psychologischen  Tatsachen  ebensosehr  ein  einheit- 
liches physiologisches  Substrat  wahrscheinHch,  wenn  sich  umgekehrt 
bei  den  Sinnesempfindungen,  schon  bevor  man  die  abweichenden 
Leitungswege  der  Sinnesnerven  kannte,  gesonderte  Sinneszentren 
der  Vermutung  aufdrängten.  Aber  wo  liegt  ein  solches  ,, Gefühls- 
zentrum" ?  Und  wie  führen  die  Wege,  die  von  ihm  aus  den  Zusammen- 
hang der  Gefühle  und  Affekte  mit  den  verschiedenen  Formen  der 
Ausdrucksbewegungen  vermitteln?  Beide  Fragen  sind  nicht  mit 
Sicherheit  zu  beantworten.  Wir  wissen  nur,  daß  es  solche  Wege  geben 
muß;  und  wir  entnehmen  hauptsächlich  daraus,  daß  es  bei  den  ver» 
schiedensten  Gemütsbewegungen  die  nämlichen  Leitungswege  sind, 
die  in  Anspruch  genommen  werden,  die  Vermutung,  das  ,, Gefühls- 
zentrum" selbst  sei  ein  einheitliches  Organ.    Fragen  wir  aber  nach  den 


Innervation  der  Ausdrucks bewegungen.  69 

Beziehungen  dieses  Organs  zu  andern  Zentralteilen,  so  sind  es  wiederum 
nur  psychologische  Zusammenhänge,  aus  denen  auf  die  physiologischen 
zurückzuschließen  ist.  Das  Gefühl  ist,  im  Unterschiede  von  den  ob- 
jektiven Vorstellungen,  ein  einheitHcher  Zustand,  in  welchem  das 
Verhalten  des  Subjekts  zu  den  Objekten  seinen  Ausdruck  findet» 
Diese  unmittelbare  Beziehung  auf  das  Subjekt  legt  die  Annahme 
nahe,  das  ,,Gefühlszentrum"  sei  mit  dem  allgemeinen  Substrat  der 
Verbindung  aller  Bewußtseinsvorgänge  oder,  wie  wir  dies  für  die  letzte 
Zentralisierung  der  psychophysischen  Prozesse  zu  postulierende  Ge- 
biet nennen,  mit  dem  „Apperzeptionszentrum"  identisch.  Nun  liegen 
die  nächsten  Innervationsherde  des  Herzens,  der  Blutgefäße,  der 
Atmung,  der  mimischen  und  der  pantomimischen  Bewegungen  un- 
weit voneinander  im  verlängerten  Mark,  und  sie  sind  durch  mannig- 
fache sekundäre  Leitungsbahnen  zu  koordinierten  Wirkungen  ver- 
bunden. Als  ein  Zentrum,  das  den  verschiedenen  Sinnes-  und  Be- 
wegungszentren übergeordnet  ist,  da  es  mehr  als  irgendein  anderer 
Teil  der  Hirnrinde  von  diesen  direkten  Zentren  her  Fasern  aufnimmt, 
ist  aber  vermutlich  der  Teil  der  Hirnrinde  anzusehen,  der  bei  dem 
Menschen  der  Stirnregion  entspricht^  Läßt  man  diese  Annahme  zu, 
so  würde  dann  eine,  sei  es  direkte,  sei  es  irgendwie  durch  Zwischen - 
Zentren  imterbrochene  Bahn  zwischen  diesem  Apperzeptionszentrum 
und  den  unmittelbaren  Zentren  bestimmter  Bewegungsorgane  die 
hypothetische  Grundlage  der  physiologischen  Gefühls-  und  Affekt- 
äußerungen sein.  Diese  Voraussetzungen  müssen  aber  noch  durch 
weitere  physiologische  Annahmen  ergänzt  werden,  sobald  man  auch 
dem  speziellen  Parallelismus  zwischen  dem  Gegensatz  der  Gefühls- 
richtungen und  den  gegensätzlichen  Erscheinungsformen  der  Inner- 
vation gerecht  werden  will.  Freilich  wird  man  hier  bei  den  physischen 
Symptomen  von  vornherein  nicht  dieselbe  qualitative  Mannigfaltig- 
keit erwarten,  wie  sie  uns  in  den  psychischen  Inhalten  der  Affekte 
entgegentritt.  Der  Begriff  eines  gleichartigen,  bloß  in  den  Bewegungs- 
formen seiner  Elemente  unterschiedenen  Substrats,  den  wir  für  die 
physische  Seite  der  Lebenserscheinungen  festhalten  müssen,  führt 
vielmehr  auch  hier  die  Forderung  mit  sich,  daß  den  qualitativen  Eigen- 
schaften quantitative  physische  Relationen  entsprechen. 
In  der  Tat  gilt  ja  schon  auf  Grund  der  physikalischen  Analyse  der 


70  Die  AuBdrucksbewegungen. 

Satz,  daß  den  Unterschieden  der  Form  und  Geschwindigkeit  objek- 
tiver Schwingungsvorgänge,  wenn  sie  einen  bestimmten,  von  der 
besonderen  Organisation  der  Sinneswerkzeuge  abhängigen  Grad  er- 
reichen, Modifikationen  qualitativer  Art  innerhalb  der  reinen  Emp- 
findungen zugeordnet  sind.  Wenden  wir  diesen  Gesichtspunkt  auf 
die  Gefühlsvorgänge  an,  so  kann  demnach  nicht  erwartet  werden, 
daß  man  die  Grundqualitäten  der  Gefühle  in  den  begleitenden  phy- 
siologischen Vorgängen  unmittelbar  wiederfinde;  sondern  es  kann 
sich  nur  um  eine  Korrespondenz  in  jenem  weiteren  Sinne  handeln, 
in  dem  einem  einfachen  qualitativen  Gefühlsunterschied  sehr  kom- 
plexe, aber  nicht  minder  charakteristische  Unterschiede  der  Inner- 
vation entsprechen  mögen.  Einen  deutlichen  Maßstab  für  dieses  Ver- 
hältnis geben  uns  hier  gerade  die  äußerlich  sichtbaren  Wirkungen 
der  an  die  Gefühle  und  Affekte  gebundenen  Innervationen.  Lust, 
Unlust  usw.  sind,  als  Gefühle  betrachtet,  für  uns  unanalysierbare 
Qualitäten.  Aber  ihre  an  den  mimischen  Muskeln  des  Mundes  her- 
vortretenden Ausdrucksformen  sind  im  allgemeinen  von  höchst  zu- 
sammengesetzter Beschaffenheit.  Dennoch  treten  sie  insofern  in  ein 
den  Gefühlen  analoges  Verhältnis,  als  einzelne  Bewegungen  bei  Lust 
und  Unlust,  bei  Erregung  und  Hemmung,  bei  Spannung  und  Lösung 
entgegengesetzte  Richtungen  zeigen.  So  wird  der  Mundwinkel  bei 
Lustgefühlen  aufwärts,  bei  der  Unlust  abwärts  gezogen.  So  sind  bei 
der  Erregung  die  mimischen  und  pantomimischen  Bewegungen  leb- 
hafter, bei  deprimierter  Stimmung  sind  die  mimischen  Muskeln  er- 
schlafft. Die  Spannmig  als  Gefühl  ist  auch  physisch  mit  verstärkten 
Spannungen  der  Antlitzmuskeln,  die  Lösung  mit  einem  plötzlichen 
Nachlaß  dieser  Spannungen  verbunden  usw.  Dabei  lassen  sich  die 
Erscheinungen  keineswegs  dem  einfachen  Schema  eines  überall  gleich- 
förmig wiederkehrenden  Gegensatzes  räumlicher  Richtungen,  Ge- 
schwindigkeiten und  Energien  unterordnen,  sondern  infolge  der  ver- 
wickelten Zusammensetzung  der  psychophysischen  Zustände  können 
Bewegung  und  Ruhe,  Spannung  und  Erschlaffung  sowie  verschie- 
dene Richtungen  der  Bewegung  bei  einer  und  derselben  Ausdrucks- 
form nebeneinander  und  über  verschiedene  Muskelgruppen  verteilt 
vorkommen.  Allgemein  gilt  daher  nur,  daß  die  Ausdrucksbewegungen 
hinreichend   verschieden   sind,   um   in   unserer   Gesamtauffassung  als 


Innervation  der  Ausdrucksbewegiingen.  71 


gegensätzliclie  Symptome  zu  gelten  und  sich  so  mit  Gegensätzen 
der  Gefühle  selbst  fest  zu  assoziieren.  Diesem  Verhältnis  der  äußeren 
Bewegungen  muß  aber  notwendig  das  der  zentralen  Innervationen 
entsprechen. 

Innerhalb  dieser  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen  gibt  es 
einen  Punkt,  bei  dem  sich  jene  allgemeine  Korrespondenz  begleiten- 
der Unterschiede  zu  einer  bestimmteren  Analogie  verdichtet,  einen 
Unterschied  der  Innervationen  nämlich,  der  zugleich  die  Bedeutung 
eines  vollkommenen  Gegensatzes  hat.  Dies  ist  der  physiologische 
Gegensatz  der  Erregung  und  Hemmung.  Er  ist  wahrscheinlich 
in  gewissen  allgemeinen  funktionellen  Eigenschaften  der  nervösen 
Substanz  vorgebildet.  In  den  für  die  zusammengesetzten  Inner- 
vationswirkungen  maßgebenden  Formen  scheint  er  jedoch  überall 
erst  infolge  der  Dazwischenkunft  zentraler  Elemente  zustande  zu 
kommen,  wo  er  vielleicht  mit  der  verschiedenen  Verbindungsweise 
leitender  Fasern  und  zentraler  Gebilde  zusammenhängt^).  Die  über- 
sichtlichsten Verhältnisse  bietet  in  dieser  Beziehung  die  Herzinner- 
vation.  Denn  es  sind  im  Herzen  selbst  liegende  zentrale  Elemente, 
die  je  nach  der  Art,  wie  ihnen  von  den  höheren  Zentralorganen  aus 
die  Reize  zufließen,  entweder  erregend  oder  hemmend  auf  die  Herz- 
bewegungen wirken.  Da,  soviel  wir  wissen,  der  Reizungsvorgang 
in  den  leitenden  Nerven  selbst  überall  ein  gleichartiger  ist,  so  kann 
die  erregende  oder  hemmende  Wirkung  in  diesem  Fall  nur  in  der  Art 
begründet  sein,  wie  die  Reizung  auf  jene  Elemente  einwirkt,  die  sich 
im  Herzen  selber  befinden.  Hierbei  sondert  sich  aber  diese  doppelte 
Art  der  Innervation  deshalb  deuthch  für  unsere  Beobachtung,  weil 
die  Nervenbahnen,  die  erregende  und  hemmende  Wirkungen  auf  das 
Herz  übertragen,  zumeist  in  getrennten  Nervenstämmen  verlaufen: 
die  erregenden  in  den  mit  dem  Sympathikus  zum  Herzen  tretenden 
Fasern,  die  jenem  in  den  Rückenmarksnerven  des  sympathischen 
Geflechts  zufließen;  die  hemmenden  in  den  dem  zehnten  Himnerven. 


^)  Vgl.  die  Erörterung  der  hier  möglichen  Vorstellungsweisen  in  meinen 
Untersuchungen  zur  Mechanik  der  Nerven  und  Nervenzentren,  II,  1876,  S.  113  f., 
und  Grundzüge  der  physiol.  Psychologie  «,  I,  S.  127  ff.,  dazu  das  von  O.  Dittrich 
entworfene  allgemeine  Schema,  Grundzüge  der  Sprachpsychologie,  I,  1903,  S.  444 
Anm.,  und  Atlas  Fig.  77. 


72  Die  Ausdrucksbewegungen. 


(Nervus  vagus)  angehörenden  Herznerven.  Zugleich  ist  bemerkens- 
wert, daß  sich  die  Hemmungsnerven  in  einem  Zustand  dauernder, 
sogenannter  ,, tonischer"  Reizung  befinden,  wie  wir  aus  der  infolge 
der  Durchschneidung  beider  Vagusnerven  bei  Tieren  eintretenden 
Beschleunigung  des  Herzschlags  schließen  müssen.  An  den  Erregungs- 
nerven des  Sympathikus  läßt  sich  dagegen  auf  ähnlichem  Wege  keiner- 
lei tonische  Reizung  nachweisen.  Daß  nun  die  Zentren  oder  Nerven- 
kerne dieser  beschleunigenden  und  hemmenden  Herznerven  ihrer- 
seits wieder  mit  noch  höher  gelegenen  Zentralteilen  in  Verbindung 
stehen,  ist  schon  im  Hinblick  auf  die  bald  beschleunigenden,  bald 
hemmenden  Wirkungen,  welche  die  Gefühle  und  Affekte  auf  den 
Herzschlag  ausüben,  jedenfalls  im  höchsten  Grade  wahrscheinlich. 
Im  Sinne  der  oben  über  die  Zentren  der  Gefühlsinnervation  gemachten 
Voraussetzungen  wird  dabei  vor  allem  wieder  an  das  ,, Apperzeptions- 
zentrum" zu  denken  sein.  Abgesehen  von  dieser  Verbindung  zusammen- 
gehöriger Innervationen  zeigt  es  sich  aber  auch  hier,  daß  schon  bei 
einfachen  psychischen  Vorgängen  die  korrespondierenden  physischen 
Erscheinungen  von  sehr  verwickelter  Natur  sind.  Gibt  es  doch  schlech- 
terdings keine  einfache  Affektform,  der  nicht  eine  höchst  zusammen- 
gesetzte, eventuell  aus  verschiedenen  Erregungen  und  Hemmungen 
bestehende  Innervationswirkung  entspräche.  Außerdem  zwingen 
uns  die  physischen  Symptome  anzunehmen,  daß  Innervationen  ver- 
schiedener Zentralgebiete  interferieren  und  infolgedessen,  je  nach 
den  Bedingungen  der  Leitung,  bald  gleichzeitige  Vorgänge  sich  ver- 
stärken, bald  aber  auch  Erregungs-  in  Hemmungs-  und  Hemmungs- 
in  Erregungswirkungen  übergehen  können.  So  läßt  der  Herzstillstand 
des  Schrecks  auf  eine  in  dem  Vaguszentrum  ausgelöste  starke  Er- 
regung schließen,  die  dann  in  den  Zentren  des  Herzens  selbst  in  eine 
Hemmungsinnervation  übergeht.  Die  Wirkung,  die  wir  bei  einfachen 
Lustgefühlen  beobachten,  Verlangsamung  und  gleichzeitige  Ver- 
stärkung der  Herzschläge,  läßt  sich  durch  eine  mäßige  Vagusreizung 
hervorbringen;  umgekehrt  können  wir  die  als  Unlustsymptom  ein- 
tretende Beschleunigung  und  Verminderung  der  Pulse  durch  eine 
Herabsetzung  der  normalen  Dauererregung  deö  nämlichen  Nerven 
erzielen  usw.  Bedenkt  man  nun,  daß  bei  den  Gefühls-  und  Affekt- 
wirkungen   die    entsprechenden    Einflüsse    mutmaßlich    direkt    dem 


Innervation  der  Ausdrucksbewegungen.  73 

Yaguszentrum  im  verlängerten  Mark  zugeleitet  werden,  so  führt  dies 
zu  der  Annahme,  ähnlich  wie  im  Herzen  selbst  hemmende  und  er- 
regende Verbindungen  mit  dessen  Muskelfasern  vorhanden  sind,  so 
könne  der  Vaguskern  im  verlängerten  Mark  ebenfalls  von  den  ihm 
aus  den  höheren  Hirnteilen  zugeleiteten  Fasern  erregende  und  hemmende 
Keizwirkungen  empfangen^). 

Wie  das  Herz  vom  Vagus  aus  unter  einer  dauernden  zentralen 
Innervation  steht,  so  sind  nun  im  allgemeinen  auch  die  äußeren  Muskeln 
unseres  Körpers  dauernd  in  einem  geringen,  nach  den  besonderen 
Bedingungen  der  Raumlage  der  Körperteile  variierenden  Grad  inner- 
viert. Im  Unterschied  von  den  Verhältnissen  der  Herzerregung  führt 
^ber  hier  die  Dauerinnervation  nicht  zu  einer  Beeinflussung  rhyth- 
mischer Bewegungs Vorgänge,  sondern  sie  äußert  sich  als  ein  stetig 
andauernder  Einfluß  auf  die  Muskeln:  diese  befinden  sich  in  einer 
geringgradigen  dauernden  Spannung,  einer  tonischen  Erregung. 
Hierbei  ist  die  letztere  in  ihrer  Größe,  abgesehen  von  sonstigen  zen- 
tralen Bedingungen,  von  den  stattfindenden  dauernden  Sinnes- 
erregungen abhängig,  wie  sich  daraus  ergibt  daß  der  Tonus  der  Muskeln 
einer  Körperprovinz  nachläßt,  wenn  man  die  von  dem  zugehörigen 
Hautgebiet  kommenden  sensibeln  Nerven  durchschneidet.  Außer- 
dem scheint  es,  daß  die  relative  Stärke  der  tonischen  Erregungen 
verschiedener  Körperteile  nach  der  Raumlage  der  Organe  reflek- 
torisch reguliert  wird.    Ihre  Verteilung  über  die  Flexoren  und  Exten- 


^)  Die  nach  dem  Zusammenhang  der  physischen  Symptome  mit  psy- 
■chischen  Zuständen  zu  postulierenden  Verbindungen  mit  höheren  Zentren 
müssen  übrigens,  wie  hier  nebenbei  bemerkt  sei,  noch  durch  ein  weiteres 
System  von  Leitungsbahnen  ergänzt  werden,  das,  nach  seinen  Wirkungen 
jenem  analog,  in  psychophysischer  Beziehung  insofern  eine  wesentlich  an- 
dere Bedeutung  hat,  als  es  mit  den  Gefühls-  und  Apperzeptionszentren 
nicht  in  Beziehung  steht.  Zu  der  Annahme  eines  solchen  Systems  zentraler 
Verbindungen  von  rein  physiologischer  Bedeutung,  also,  nach  dem  oben 
(S.  44)  aufgestellten  Begriffe  des  Reflexes,  von  bloßen  Reflexbahnen,  nötigt 
nämlich  die  Tatsache,  daß  irgendwelche  Reize  auf  zentripetal  verlaufende 
Nerven  auch  dann  bald  erregende,  bald  hemmende  Wirkungen  auf  die 
Herzbewegungen  ausüben  können,  wenn  jene  Reize  gar  nicht  als  Empfin- 
dungen und  Gefühle  zum  Bewußtsein  kommen.  Wahrscheinlich  sind  es  ebenfalls 
die  Nervenkerne  des  verlängerten  Markes,  in  denen  diese  Reflexbahn  sich 
schließt. 


74  Die  Ausdrucfesbewegungen. 

soren  der  Glieder  z.  B.  hängt  wesentlich  davon  ab,  ob  wir  sitzen, 
stehen  oder  liegen,  und  welche  besondere  Lage  wir  in  jedem  dieser 
Fälle  annehmen.  Besteht  in  dieser  genauen  Regulierung  der  relativen 
tonischen  Erregungen  nach  den  Sinneseindrücken,  die  offenbar  sehr 
vollkommene  zentrale  Anpassungsvorrichtungen  verlangt,  schon  eine 
erhebliche  Verwicklung  der  äußeren  Muskelwirkungen,  so  liegt  noch 
eine  weitere  in  der  Verteilung  der  Innervationen  über  eine  große  An- 
zahl von  Muskeln.  Hier  sind  wieder  vorzugsweise  die  antagonistisch 
wirkenden  durch  besondere  zentrale  Verknüpfungen  einander  an- 
gepaßt, derart  daß  der  Zunahme  des  Tonus  einer  gegebenen  Muskel- 
gruppe regelmäßig  eine  Abnahme  bei  ihren  Antagonisten  zu  ent- 
sprechen pflegt^).  Diese  Verhältnisse  führen  zu  dem  Schluß,  daß 
jener  doppelten  Regulierung  des  Tonus  auch  hier  eine  doppelte  Inner- 
vation entspricht,  die  den  beiden  Bestandteilen  der  Herzinnervation 
gleicht,  indem  die  eine  eine  Zunahme,  die  andere  eine  Abnahme  des 
Tonus  herbeiführt,  daher  jene  wieder  als  die  erregende,  diese  als  die 
hemmende  bezeichnet  werden  kann.  Der  Unterschied  vom  System 
des  Herzens  liegt  nur  darin,  daß  in  den  Muskeln  selbst  keinerlei  Um- 
wandlung der  zugeführten  Nervenreize  in  Erregungs-  oder  in  Hem- 
mungswirkungen möglich  ist,  sondern  daß  diese  schon  im  Zentral- 
organ stattfindet.  In  den  peripheren  Nervenleitungen  sind  daher 
überhaupt  nur  solche  Fasern  anzutreffen,  deren  Reizung  Muskel- 
erregung bewirkt.  Dagegen  scheinen  in  den  Nervenzentren  getrennte 
Leitungen  zu  verlaufen,  die  in  den  im  Gehirn  und  Rückenmark  ge- 
legenen Muskelzentren  je  nach  den  besonderen  Bedingungen  bald 
Steigerimg,  bald  Herabsetzung  des  Tonus  auslösen.  Wie  die  Nerven- 
keme  des  Vagus  und  Akzelerans,  so  müssen  aber  auch  diese  Tonus- 
zentren schon  in  Anbetracht  der  Gefühls-  und  Affektsymptome  noch 
mit  höheren  Zentralgebieten,  vor  allem  mit  dem  ,, Apperzeptions- 
zentrum", in  Verbindung  stehen,  von  wo  ihnen  bald  erregende  bald 


^)  H.  E.  Hering  und  C.  S.  Sherrington,  Über  Hemmungen  der  Kontrak- 
tion willkürlicher  Muskeln  bei  elektrischer  Reizung  der  Großhirnrinde,  Pflüger» 
Archiv  für  Physiologie,  Bd.  68,  1897,  S.  222  ff.  Sherrington,  Über  das  Zusammen- 
wirken der  Rückenmarksreflexe  usw.  Ergebnisse  der  Physiologie,  Bd.  4,  1905, 
S.  797  ff. 


Innervation  der  Ausdrucksbewegungen.  75 

hemmende  Wirkungen  zuströmen.  Betrachten  wir  einen  gewissen 
mittleren  Tonusgrad  als  neutralen  Ausgangspunkt,  der  zugleich  der 
Indifferenzlage  der  Gefühle  entspricht,  so  kann  daher  von  diesem 
Punkte  aus  in  vierfacher  Weise  eine  Innervationsänderung  ein- 
treten: erstens  als  dauernde  Erhöhung  des  Tonus,  zweitens  als  Ab- 
nahme desselben,  drittens  als  vorübergehender  Kontraktionsvor- 
gang, viertens  als  plötzliche  Hemmung  tonischer  Erregungen.  Bedenkt 
man,  daß  diese  vier  Innervationen  in  der  verschiedensten  Weise  kom- 
biniert und  über  eine  große  Zahl  von  Muskelgruppen  verbreitet  neben- 
und  nacheinander  vorkommen,  so  gibt  dies  eine  schwache  Vorstellung 
von  der  unabsehbaren  Komplikation  der  zentralen  Vorgänge,  die  einer 
einzelnen  Ausdrucksbewegung  zugrunde  liegen.  Auch  wird  diese 
KompHkation  nur  wenig  dadurch  vereinfacht,  daß  die  genannten 
vier  allgemeinen  Erregungsformen  wieder  auf  zwei  zu  reduzieren 
sind:  auf  Erregung  und  Hemmung,  die  nur  je  nach  Umständen  dauernd, 
tonisch  oder  in  der  Form  eines  plötzlichen,  rasch  vorübergehenden 
Impulses,  als  Kontraktion  oder  Lähmung^  zur  Erscheinung 
kommen. 

Am  größten  ist  diese  Komplikation  sichtlich  bei  den  mimischen 
Ausdrucksbewegungen.  Sie  ergibt  sich  hier  schon  aus  Beobachtungen, 
die  man  bei  der  peripheren  elektrischen  Reizung  einzelner  Bündel 
der  beim  Mienenspiel  wirksamen  Muskeln  machen  kann.  Solche  Ver- 
suche wurden  zuerst  von  Duchenne  de  Boulogne  ausgeführt^).  Er 
variierte  und  kombinierte  die  Angriffspunkte  der  Eeize  so  lange,  bis 
es  ihm  geglückt  war,  diejenige  Ausdrucksform  zu  erzeugen,  die  einer 
bestimmten  seelischen  Stimmung,  wie  der  Freude,  dem  Mißbehagen, 
dem  Kummer,  der  Sorge  usw.,  entsprach.  Die  so  gewonnenen  Er- 
gebnisse zeigen  deutlich,  daß  es  kaum  eine  Ausdrucksform  gibt,  an 
der  irgendein  einzelner  Antlitzmuskel  mit  allen  seinen  Fasern  gleich- 
mäßig beteiligt  wäre;  daß  es  dagegen  in  vielen  Fällen  nur  ein  eng 
begrenzter  Faserzug  innerhalb  eines  größeren  Muskelganzen  ist,  der 
durch  seine  Zusammenziehung  einem  bestimmten  Gesichtsausdruck 
sein  charakteristisches  Gepräge  verleiht.     Gleichwohl  ist  es  der  eine 


^)  Duchenne    de    Boulogne,     M^canisme    de    la    Physiognomie    humaine, 
1862. 


76  Die  Ausdrucksbewegungen. 

Nervenstamm  des  Fazialis,  von  dem  aus  die  sämtlichen  Antlitzmuskeln 
innerviert  werden.  Die  von  den  direkten  Nervenkernen  des  Fazialis 
sowie  von  den  höheren  Zentren  ausgehenden  Innervationen  können 
also  in  der  feinsten  Nuancierung  auf  einzelne  Fasern  des  Nerven  be- 
schränkt sein;  sie  können  aber  nicht  minder  auch  räumlich  getrennte 
Fasern  zu  gemeinsamer  Aktion  verbinden.  Insbesondere  müssen 
für  die  Nerven  beider  Seiten  solche  Einrichtungen  gemeinsamer  Aktion 
existieren,  die  gleichwohl  in  bestimmten  Fällen  außer  Wirksamkeit 
treten  können,  um  eigenartige  mimische  Ausdrucksformen,  wie  z.  B. 
die  der  Verachtung,  des  Argwohns  und  ähnlicher  Gemütsstimmungen 
von  zwiespältigem  Charakter,  hervorzubringen.  Dächte  man  sich, 
diese  ganze  Fülle  teils  tonischer,  teils  vorübergehender  Erregungen 
samt  den  namentlich  bei  gewissen  Affekten  noch  hinzutretenden 
Hemmungserscheinungen  sollte  willkürlich  in  dieser  Weise  verteilt 
und  abgestuft  werden,  so  würde  schon  der  einfachste  Affektausdruck 
ein  Zusammenspiel  zahlreicher,  alle  wieder  einem  herrschenden  Willen 
gehorchender  Einzelkräfte  fordern,  dem  höchstens  die  Ausführung 
eines  symphonischen  Kunstwerks  von  verwickeltstem  kontrapunk- 
tischem Aufbau  durch  ein  wohlgeschultes  Orchester  verglichen  wer- 
den könnte.  Nur  werden  jene  natürlichen  Ausdrucksformen  der  Ge- 
fühle meistens  überhaupt  nicht  willkürlich  hervorgebracht,  oder, 
wo  dies  der  Fall  sein  sollte,  da  sind  sie  bloß  in  gewissen  Endwirkungen, 
niemals  in  den  einzelnen  Bestandteilen  und  Hilfsmitteln  dieser  Wir- 
kungen gewollt.  Bei  den  sonstigen  Ausdrucksformen,  so  namentlich 
bei  dem  Gebärdenspiel  der  Arme  und  Hände,  ist  zwar,  der  verhält- 
nismäßig roheren  Muskelanordnung  gemäß,  die  isolierte  Beweglich- 
keit einzelner  Faserbündel  nicht  zu  gleich  hoher  Vollendung  aus- 
gebildet; die  Kombination  der  Bewegungen  bleibt  aber  auch  hier 
von  gleichem  unübersehbarem  Reichtum,  und  die  größere  Unab- 
hängigkeit der  symmetrischen  Organe  beider  Körperhälften  von- 
einander erhöht  in  diesem  Falle  noch  die  Mannigfaltigkeit  der  Er- 
scheinungen. Zu  welch  unendlicher  Verwicklung  gestaltet  sich  vollends 
dieses  Spiel  der  Innervationen,  wenn  man  der  Verbindungen  gedenkt, 
in  die  mimische  und  pantomimische  Bewegungen  untereinander  treten 
können!  Besonders,  wenn  man  erwägt,  daß  beinahe  jede  Ausdrucks- 
form  nach   ihren   psychophysischen   Bedingungen   wieder   eine   drei- 


Sensorische  Rückwirkungen  der  Ausdrucksbewegungen.  77 

fache  Bedeutung  haben  kann:  die  des  automatischen,  ohne  jede  Be- 
teihgung  des  Bewußtseins  auftretenden  Reflexes,  die  der  einfachen 
Triebbewegung,  endlich  die  der  willkürlichen  Handlung  —  Formen, 
die  sich  dann  noch  mannigfach  miteinander  verbinden,  weil  Willens- 
handlungen stets  zugleich  von  eingeübten  automatischen  Mitbewegungen 
begleitet  werden.  Immerhin  zeigt  diese  verschiedene  psychophysische 
Bedeutung,  die  eine  und  dieselbe  Ausdrucksform  haben  kann,  daß 
mannigfaltiger  noch  als  das  Spiel  der  äußeren  Erscheinungen  die 
innere  Mechanik  der  Innervationen  selbst  ist.  Kann  doch  jede  ein- 
zelne Bewegung  aus  verschiedenen  Formen  des  Zusammenwirkens 
hervorgehen,  indem  bald  nur  die  nächsten  Nervenzentren,  bald  kom- 
plizierte Reflexzentren,  bald  endlich  die  höheren  Zentralgebiete  daran 
beteiligt  sind.  So  bilden  überhaupt  die  spezifischen  mimischen  und 
pantomimischen  Symptome  eines  einzelnen  Affekts  eigentlich  über- 
all nur  einen  besonders  charakteristischen  und  deutlich  sichtbaren 
Ausschnitt  aus  der  Fülle  der  Ausdrucksbewegungen,  die  den  Affekt 
begleiten,  und  an  denen  sich  in  der  wechselnden  Erhöhung  oder  Ver- 
minderung der  tonischen  Muskelspannungen  nahezu  alle  Muskel- 
gebiete beteiligen  können.  Wie  der  Affekt  selbst  das  ganze  Gemüt 
ergreift,  so  ist  schließlich  der  ganze  Körper  der  Träger  seiner  Aus- 
drucksbewegungen ^). 


4.  Sensorisehe  Rückwirkungen  der  Ausdrucksbewegungen. 

Die,  sobald  wir  an  eine  elementare  Analyse  der  Funktionen  denken, 
unabsehbar  werdende  Verwicklung  der  Innervationen  erfährt  noch 
eine  letzte  Steigerung  durch  eine  meist  vernachlässigte,  aber  nichts- 
destoweniger auch  für  die  psychologische  Seite  der  Erscheinimgen 
überaus  wichtige  Wechselbeziehung  sensorischer  und  motorischer 
Vorgänge.    Sie  hat  darin  ihre  Grundlage,  daß  der  gesamte  Bewegungs- 


^)  Sehr  bezeichnend  für  den  Zusammenhang  der  Stellungen  und  Be- 
wegungen der  Körperteile  mit  dem  Charakter  der  Affekte  und  insbesondere 
auch  der  dauernden  Affektrichtungen  sind  in  dieser  Beziehimg  die  Beobach- 
tungen des  Gesangslehrers  Josef  Rutz,  herausgegeben  von  Dr.  Ottmar  Rutz, 
Neue  Entdeckungen  von  der  menschlichen  Stimme,  1908. 


78  Die  Ausdrucksbewegungen. 


apparat  des  Körpers  zugleich  dem  allgemeinen  Tastsinne  zu- 
gehört, indem  die  bewegten  Organe  der  Sitz  jener  „inneren  Tast- 
empfindungen" sind,  die,  in  ihrer  Qualität  den  äußeren  Druckemp- 
findungen verwandt,  durch  ihre  Intensitätsänderungen,  sowie  durch 
ihre  mannigfach  nuancierte  Verteilung  über  verschiedene  Muskel- 
gruppen ein  System  wechselvoller  und  fein  abgestufter  Empfindungen 
abgeben.  Dieses  entspricht  nun  auf  das  genaueste  dem  System  der 
Ausdrucksbewegungen,  so  daß  jeder  noch  so  leisen  Veränderung  der 
letzteren  eine  entsprechende  Veränderung  jener  Spannungs-  und 
Tastempfindungen  parallel  geht.  Wie  daher  eine  Ausdruck:sbewegung 
primär  einem  bestimmten  psychischen  Affekte  zugeordnet  ist,  so 
sind  sekundär  die  Spannungs-  und  Tastempfindungen  fest  mit  be- 
stimmten Ausdrucksbewegungen  assoziiert.  Nach  dem  allgemeinen 
Prinzip  der  Assoziation  gleichzeitig  geübter  Funktionen  verbinden 
sich  aber  mit  den  inneren  Tastempfindungen  wieder  die  primären 
psychischen  Zustände,  deren  physische  Symptome  ursprünglich  die 
Ausdrucksbewegungen  waren.  So  ist  z.  B.  ein  unangenehmer  bitterer 
Geschmacksreiz,  sowie  jeder  in  seiner  allgemeinen  Gefühlsqualität 
mit  einem  solchen  Geschmackseindruck  übereinstimmende  Unlust- 
affekt durch  einen  Komplex  mimischer  Bewegimgen  gekennzeichnet. 
Wenn  wir  nun  die  nämliche  Bewegung  des  ,,bitteren"  mimischen 
Ausdrucks  ohne  den  begleitenden  Gefühlszustand,  etwa  willkürlich 
oder  durch  elektrische  Reizung  der  entsprechenden  mimischen  Muskeln, 
hervorbringen,  so  entsteht  die  gleiche  zusammengesetzte  Spannungs- 
empfindung, die  bei  der  Affekterregung  des  Ausdrucks  beobachtet 
wird.  Aber  nicht  bloß  dies:  es  entsteht  auch  eine  Gefühlsstimmung, 
die  der  Affektgrundlage  der  Ausdrucksbewegungen  verwandt  ist. 
Sie  ist  zunächst  schwach,  jedoch,  wenn  die  Bewegung  des  öfteren 
wiederholt  wird,  kann  sie  sich  beträchtUch  steigern.  Auch  wird  sie 
besonders  dadurch  verstärkt,  daß  die  konkrete  Richtung  der  ein- 
geleiteten Assoziation  bestimmte  unlustbetonte  Vorstellungen  wieder- 
erweckt. Natürlich  kommen  nun  solche  sekundäre  Assoziationen 
auch  dann  zustande,  wenn  der  Ausgangspunkt  der  Erscheinungen 
ein  wirklicher  Affekt  ist;  nur  daß  in  diesem  Fälle  die  Disposition  zu 
bestimmten  Gefühlserregungen  noch  günstiger  liegt  und  daher  ener- 
gischer in  Wirksamkeit  tritt.     So  erklärt  sich  die  bekannte  Erschei- 


Sensorische  Rückwirkungen  der  Ausdrucksbewegungen.  79 


nung,  daß  nichts  mehr  geeignet  ist,  Affekte  und  Leidenschaften  zu 
steigern,  als  der  ungehemmte  Erguß  derselben  in  äußeren  Hand- 
lungen. 

Diese  assoziative  Steigerung  der  Affekte  durch  ihre  Ausdrucks- 
bewegungen ist  gelegentlich  bestritten  worden.  Nicht  als  ob  man 
eine  solche  Beziehung  überhaupt  leugnete,  wohl  aber,  indem  man 
eine  umgekehrte  Richtung  der  Assoziation  annahm.  Nicht  durch 
die  Ausdrucksbewegungen  werde  die  zugehörige  Stimmung  erweckt, 
sondern  durch  reine  Vorstellungsassoziationen  werde  ein  Affekt  er- 
zeugt oder  ein  vorhandener  verstärkt  und  dann  erst  die  entsprechende 
Ausdrucksform  hervorgerufen^).  Diese  Auffassung  entspricht  jedoch 
weder  den  in  diesem  Falle  zu  machenden  Beobachtungen  noch  den 
sonst  nachzuweisenden  Bedingungen  der  Assoziation.  Das  früher 
so  verschwenderisch  angenommene  Auftreten  ,, reiner  Erinnerungs- 
bilder" reduziert  sich,  wenn  man  den  Phänomenen  des  Wiedererkennens 
imd  der  Erinnerung  genauer  nachgeht,  auf  außerordentlich  seltene 
Fälle,  bei  denen  überdies  meist  der  Verdacht,  daß  irgendwelche  direkte 
Empfindungselemente  übersehen  worden  seien,  nicht  ausgeschlossen 
bleibt.  Als  allgemeine  Regel  darf  es  daher  gelten,  daß  von  unmittel- 
bar gegebenen  Eindrücken  ausgehende  Assoziationswirkungen  über- 
all das  bilden,  was  wir  einen  Erinnerungsvorgang  nennen.  Nun  ist 
in  dem  vorHegenden  Falle  das  tatsächlich  gegebene  Verhältnis  dies, 
daß  wir  eine  Affektsteigerung  an  lebhafte  Ausdrucksbewegungen 
gebunden  sehen,  und  daß  wir  diese  Steigerung  selbst  dann  noch 
beobachten,  wenn  die  Ausdrucksbewegung  in  ihrer  ersten  Entstehung 
nicht  einmal  die  Begleiterscheinung  eines  bestimmten  Affekts  war. 
Alle  diese  Tatsachen  fügen  sich  ohne  Schwierigkeit  dem  durch  die 
mannigfachsten  Erfahrungen  bestätigten  Satze,  daß  jeder  Sinnes* 
eindruck  Erregimgen  wachruft,  die  früher  mit  ihm  verbunden  gewesen 
sind.  Dagegen  wird  hier  ganz  ohne  Not  eine  willkürlich  und  ursachlos 
schaltende  Phantasietätigkeit  zu  Hilfe  gerufen,  wenn  man  die  Er- 
scheinimgen  aus  bloßen  Assoziationen  zwischen  den  psychischen  Affekt- 
inhalten selbst  ableiten  will.  Auf  Grund  jener  wohlbekannten  Ver- 
bindungen   zwischen    direkten    und    reproduktiven    Elementen    läßt 


^)  Piderit,  Mimik  und  Physiognomik,  2  I886,  S.  20. 


80  I^ie  Ausdrucksbewegungen. 

sich  aber  diese  Wechselbeziehung  zwischen  Ausdrucksbewegung  und 
Affekt  in  zwei  eng  verbundene  Vorgänge  zerlegen.  Zuerst  erzeugen 
die  Ausdrucksbewegungen  bestimmte  Tast-  und  Spannungsempfin- 
dungen; und  dann  assoziieren  sich  diese  Empfindungen  wieder  mit 
den  Seelenzuständen,  deren  Symptome  jene  Bewegungen  sind.  Ist 
das  Bewußtsein  ursprünglich  affektfrei,  wird  also  z.  B.  die  Ausdrucks- 
bewegung rein  willkürlich  erzeugt,  so  sind  dann  freilich  auch  die  asso- 
ziierten Gefühle  und  Affekte  von  sehr  unbestimmtem  Inhalt.  Dies 
ändert  sich  jedoch,  sobald  eine  Assoziation  mit  gewissen  bereit  liegenden 
Affektinhalten  erfolgt,  oder  wenn  der  ganze  Vorgang  schon  mit  in- 
haltsvollen Affekten  beginnt.  In  diesem  Falle  wirkt  die  Ausdrucks- 
bewegung sofort  verstärkend  auf  den  primären  Affekt,  und  indem 
sich  der  so  gesteigerte  wiederum  in  verstärkten  Bewegungssymptomen 
äußert,  ist  damit  auch  die  Bedingung  zu  einer  Wiederholung  dieser 
Wechselwirkungen  gegeben. 

Für  das  physiologische  Innervationsproblem  der  Ausdrucks- 
bewegungen entsteht  nun  aus  diesen  Verhältnissen  eine  weitere,  nicht 
unerhebliche  Verwicklung.  Denn  physiologisch  wird  der  verstärkende 
Einfluß  der  äußeren  Symptome  auf  die  psychischen  Vorgänge  und 
dieser  auf  jene  wiederum  nur  durch  ein  System  von  Miterregungen 
und  Eeflexerregungen  verständlich,  die  zu  allen  den  vorhin  erwähnten 
Hemmungs-  und  Erregungsinn ervationen  hinzutreten,  während  sie 
zugleich  von  diesem  ersten  System  derart  abhängen,  daß  sie  erst  durch 
die  in  ihm  ablaufenden  Innervations Vorgänge  erweckt  werden  können. 
Aus  allem  dem  ergibt  sich,  daß,  so  groß  auch  die  qualitative  Mannig- 
faltigkeit der  Gefühlsinhalte  und  der  psychischen  Verlaufsformen 
der  Affekte  sein  mag,  wenn  man  sie  dem  relativ  einfachen  Schema 
erregender  und  hemmender  Innervationen  gegenüberstellt,  doch  an- 
derseits die  ungeheure  Komplikation  dieser  Einflüsse  vorläufig  für 
uns  noch  in  viel  höherem  Grad  ein  unabsehbares  Problem  ist.  Darin 
findet  die  allgemeine  Tatsache  ihren  Ausdruck,  daß  überall,  wo  uns 
zusammengehörige  psychische  und  physische  Vorgänge  gegeben  sind, 
der  unendlichen  qualitativen  Mannigfaltigkeit  der  psychischen  Ele- 
mente eine  große  Gleichförmigkeit  der  physischen  gegenübersteht, 
daß  dafür  aber  die  extensive  Ausdehnung  und  Komplikation  der 
Erscheinungen  hier  um  so  größer  wird.   Eben  durch  diese  Übertragung 


Herbert  Spencers  physiologische  Theorie.  81 

der  intensiven  in  eine  extensive  Mannigfaltigkeit  von  Vorgängen 
kommt  dann  jene  durchgängige  Beziehung  der  Variationen  der 
Gemütsstimmung  zu  dem  wechselnden  Spiel  ihrer  Ausdrucksformen 
zustande,  vermöge  deren  wir  jede  Ausdrucksbewegung  als  ein 
adäquates  Symptom  der  entsprechenden  seelischen  Kegung  be- 
trachten  lernen. 


III.  Prinzipien  der  Ausdrucksbewegungen. 

1.  Herbert  Spencers  physiologische  Theorie. 

Da  die  Ausdrucksbewegungen  physische  Erscheinungen  sind 
und  von  uns  als  Symptome  psychischer  Zustände  gedeutet  werden, 
so  kann  man  die  Prinzipien  zu  ihrer  Erklärung  auf  jeder  dieser  Seiten, 
der  physischen  wie  der  psychischen,  zu  gewinnen  suchen.  Als  Haupt- 
vertreter einer  physiologischen  Erklärung  darf  Herbert  Spencer 
gelten^).  Indem  er  als  die  objektiven  Tatsachen,  auf  die  alle  sub- 
jektiven Phänomene  unseres  Bewußtseins  zurückzuführen  seien, 
die  Funktionen  des  Nervensystems  betrachtet,  ist  damit  auch  sein 
allgemeiner  Standpunkt  in  der  vorliegenden  Frage  gegeben^).  Jeder 
psychische  Zustand,  ob  er  dem  Gebiet  der  Empfindungen  und  Vor- 
stellungen oder  dem  der  Gefühle  und  Affekte  angehört,  ist  nach  Spencer 
die  Begleiterscheinung  irgendeiner  Molekularbewegung  innerhalb  des 
Nervensystems,  die  eine  auf  den  übrigen  Körper  ausstrahlende  ner- 
vöse Entladung  bewirkt,  so  daß  dadurch  verschiedene  Symptome  im 
Gebiete  der  Herz-  und  Gefäßinnervation  sowie  des  gesamten  Muskel- 
systems entstehen  können.  Von  dieser  Entladung  wird  angenommen, 
sie  sei  ursprünglich  eine  völlig  diffuse,  in  ihrer  Ausbreitung  nur  nach 
der  Stärke  der  Erregung  verschieden.  Erstes  Prinzip  der  Ausdrucks- 
bewegungen ist  demnach  das  Gesetz  der  wachsenden  Ausbreitung 
der  Entladung  bei  zunehmender  Erregung.  Dazu  gesellt  sich  als 
zweites  die  Voraussetzung,  daß  bei  jeder  diffusen  Entladung  kleine 


*)  H.   Spencer,  Prinzipien  der  Psychologie,  deutsche    Ausg.  II,  S.  610  ff. 
*)  Ebenda,  I,  S.  99  ff. 

Wundt,   Völkerpsychologie.    1.    4.  Aufl.  6 


82  I^iö  Ausdrucksbewegungen. 


und  an  leicht  beweglichen  Organen  befestigte  Muskeln  leichter  als 
große  und  schwer  bewegliche  ergriffen  werden.  Dies  soll  die  vor- 
wiegende Beteiligung  der  Antlitzmuskeln  an  allen  Affektäußerungen 
und  ihre  ausschließliche  bei  schwachen  Affekten  erklären.  Dazu 
kommt  endlich  als  drittes  Prinzip  die  Annahme  eines  allmählichen 
Übergangs  beliebiger  zweckloser  Körperbewegungen  in  zweckmäßige 
im  Laufe  der  generellen  Entwicklung.  Hierdurch  soll  allmählich  eine 
engere  Beziehung  zwischen  den  Nerven,  in  denen  bestimmte  Emp- 
findungen imd  Gefühle  lokalisiert  sind,  und  den  Muskelgruppen  ent- 
stehen, deren  Zusammenspiel  in  der  Regel  die  Befriedigung  jener 
Gefühle  herbeiführt.  Auf  diese  Weise  erklärt  es  sich,  daß  die  Aus- 
drucksbewegungen zahlreicher  Affekte  gemilderte  Formen  von  Hand- 
lungen sind,  die  ursprünglich  bestimmten,  die  Befriedigung  des  Affekts 
erzielenden  Zwecken  dienten:  so  das  Ballen  der  Faust  und  das  Zähne- 
knirschen des  Zornigen^). 

Der  ganz  und  gar  hypothetische  Charakter  dieser  drei  Prinzipien 
springt  in  die  Augen.  Das  dritte  namentlich  ist  offenbar  nichts  als 
eine  Anwendung  der  allgemeinen  Annahme,  daß  die  Willenshand- 
lungen aus  automatischen  Bewegungen  von  ursprünglich  zufälliger 
und  zweckloser  Beschaffenheit  durch  eine  Auslese  des  Nützlichen 
entstanden  seien.  Es  bedarf  kaum  noch  der  Bemerkung,  daß  gerade 
das,  was  diese  Hypothese  als  den  Ausgangspunkt  von  Willenshand- 
lungen wie  Ausdrucksbewegungen  annimmt,  nämlich  die  Entstehung 
zweckmäßig  koordinierter  Reflexe  aus  zufälligen  Nervenentladungen, 
nirgends  nachzuweisen  ist.  Zu  dieser  imaginären  Natur  des  voraus- 
gesetzten Anfangs  kommt  dann  aber  noch  eine  andere  Schwierig- 
keit. Die  Theorie  setzt  zwar  ein  ursprüngliches  ,, Bewußtsein'^  voraus, 
das  eine  an  die  Nervenentladungen  unmittelbar  gebundene  „ästho- 


^)  Einige  weitere  diesen  Prinzipien  von  Spencer  beigefügte  Hilfsannahmen 
können  hier  übergangen  werden,  weil  sie  für  die  Beurteilung  des  Ganzen  un- 
wesentlich sind,  während  ihre  Unwahrscheinlichkeit  und  der  Widerspruch,  in 
den  sie  sich  mit  den  Voraussetzungen  der  Theorie  verwickeln,  auf  der  Hand  liegen. 
Dahin  gehört  z.  B.  die  Annahme,  daß  das  Streben  des  Bewußtseins,  gewisse 
Affekte  zu  verbergen,  bei  der  Verlegenheit,  Scham  usw.  dazu  geführt  habe,  die 
primären  Wirkungen  durch  sekundäre  von  entgegengesetzter  Beschaffenheit  zu 
verdecken. 


Herbert  Spencers  physiologische  Theorie.  83 

physiologische"  Erscheinung  sein  solP).  Doch  sie  stattet  dieses  Be- 
wußtsein mit  einer  Eigenschaft  aus,  die  keinem  wirklichen  Bewußt- 
sein zukommt,  nämlich  mit  der  sozusagen  bloß  theoretischen  Fähig- 
keit der  Empfindung  und  Wahrnehmung.  Aus  dieser  soll  sich  dann 
erst  allmählich,  nachdem  zufällig  einige  jener  Bewegungen  zu  nütz- 
lichen Wirkungen  geführt  haben,  deren  willkürliche  Beherrschung 
herausbilden. 

Aber  auch  dem  ersten  und  zweiten  Prinzip  fehlt  die  zureichende 
empirische  Begründung.  Indem  das  erste  die  Zunahme  der  äußeren 
Symptome  mit  der  Zunahme  der  inneren  Vorgänge  hervorhebt,  bietet 
es  an  sich  keine  Erklärung  irgendwelcher  Ausdrucksbewegungen; 
sondern,  da  nun  einmal  bei  allen  von  nachweisbaren  physischen  Pro- 
zessen begleiteten  Affektionen  des  Bewußtseins  ein  solches  Verhält- 
nis beziehungsweisen  Wachstums  zu  bestehen  pflegt,  so  konstatiert 
es  im  Grunde  nur  diese  allgemeine  Tatsache  auch  für  diesen  einzelnen 
Fall.  Daneben  ist  das  Prinzip  zugleich  insofern  mangelhaft  formu- 
liert, als  es  in  der  ,, diffusen  Erregung"  einen  an  sich  eigentlich  gleich- 
artigen, nur  nach  Ausbreitimg  und  Stärke  verschiedenen  Vorgang 
voraussetzt.  Um  den  Hemmungswirkungen  gewisser  Affekte  gerecht 
zu  werden,  verweist  darum  Spencer  auf  den  bei  starken  Affekten 
vorkommenden  Stillstand  des  Herzens,  der  wegen  der  Störung  des 
Blutzuflusses  zu  den  Muskeln  eine  allgemeine  Erschlaffung  zur  Folge 
habe.  Nun  ist  es  richtig,  daß  der  Herzstillstand  in  hohem  Grade  de- 
primierend auf  die  willkürlichen  Muskeln  wirkt.  Aber  jene  plötzlichen 
Affektlähmungen,  wie  man  sie  z.  B.  beim  Schreck  beobachtet,  wo  die 
äußeren  Wirkungen  vollkommen  gleichzeitig  mit  den  Herzsymptomen, 
wenn  nicht  schneller  eintreten,  können  unmöglich  auf  diese  Weise 
gedeutet  werden.  Überdies  kommen  solche  Hemmungsinnervationen 
nicht  bloß  als  Wirkungen  stärkster  Affekte  vor.  Namentlich  zeigt 
das  wechselnde  Spiel  der  Antlitzmuskeln  eine  oft  äußerst  fein  ab- 
gestufte, meist  auf  verschiedene  Muskeln  verteilte  Kombination  er- 
regender und  hemmender  Wirkungen.  So  pflegt  sich  z.  B.  die  Mimik 
der  Überraschung   in   einer   plötzlichen   Erschlaffung   der  zuvor  ge- 


^)  Prinzipien  der  Psychologie,  I,  S.  99. 

6* 


84  Die  Ausdnicksbewegungeii. 


spannten  Wangenmuskeln  und  daneben  in  einer  Kontraktion  der  bei 
gespannter  Aufmerksamkeit  auf  einen  Gegenstand  in  Aktion  tretenden 
Augen-  und  Stirnmuskeln  zu  äußern.  Die  Gefühlskomponenten  des 
Vorgangs  verteilen  sich  also  hier  in  ihren  äußeren  Symptomen  über 
verschiedene  Muskelgebiete:  die  Erschlaffung  der  Wangenmuskeln 
spiegelt  die  plötzliche,  dem  Schreck  verwandte  deprimierende  Wirkung 
des  unerwarteten  Eindrucks;  in  der  Kontraktion  der  Augen-  und 
Stirnmuskeln  kommt  die  gleichzeitige,  die  gesteigerte  Aufmerksam- 
keit begleitende  Erregung  und  Spannung  zur  Geltung.  Man  darf 
daher  wohl  sagen:  wenn  die  Existenz  einer  der  des  Herzens  analogen 
doppelten  Innervation  für  das  äußere  Muskelsystem  nicht  durch 
andere  physiologische  Erscheinungen  nahegelegt  wäre,  schon  die 
Beobachtung  der  Ausdrucksbewegungen  würde  sie  unzweifelhaft 
machen. 

Noch  weniger  als  das  erste  läßt  sich  das  zweite  Prinzip,  das  die 
besondere  Bedeutung  der  mimischen  Bewegungen  aus  der  Kleinheit 
und  leichten  Beweglichkeit  der  Antlitzmuskeln  ableiten  will,  als  ein 
glücklicher  Ausdruck  der  Tatsachen  anerkennen.  Gibt  es  doch  eine 
große  Zahl  kleinerer  Muskeln  am  menschlichen  Körper,  z.  B.  die  kleinen 
Wirbel-  und  Zwischenrippen-,  die  Finger-  und  Zehenmuskeln,  von 
denen  manche  überdies  an  leicht  beweglichen  Teilen  befestigt  sind, 
ohne  daß  sie  darum  zu  den  Affektäußerungen  in  einer  näheren  Be- 
ziehung stehen.  Es  ist  also  klar,  daß  die  Antlitzmuskeln  die  be- 
sondere Wichtigkeit,  die  sie  für  den  Ausdruck  der  Gemütsbewegungen 
erlangt  haben,  nicht  ihrer  Kleinheit  verdanken  können.  Auch  weisen, 
wie  Spencer  selbst  zugibt,  manche  Erscheinungen  auf  andere  Be- 
dingungen hin.  Wenn  z.  B.  der  Zornige  mit  den  Zähnen  knirscht, 
so  geschieht  das  zunächst  nicht  deshalb,  weil  die  Mundmuskeln  klein 
und  leicht  beweglich,  sondern  weil  sie  eben  die  Muskeln  sind,  die  schon 
im  tierischen  Zustand  bei  dem  Beißen  und  Zerreißen  des  Feindes 
wirksam  werden  mußten.  Oder  wenn  Spencer  das  Stirnrunzeln  als 
erstes  Anzeichen  eines  unangenehmen  Gefühls  daraus  ableitet,  daß 
der  Urmensch,  um  seine  aus  der  Ferne  herannahende  Beute  zu  er- 
spähen, die  Augen  beschattet  habe^),  so  würde  es,  selbst  wenn  man 


^)  Prinzipien  der  Psychologie,  II,  S.  618. 


Darwins  Prinzip  der  zweckmäßig  assoziierten  Gewohnheiten.  85 

diese  immerhin  zweifelhafte  Hypothese  annehmen  will,  wiederum  nicht 
die  Kleinheit  des  ,,Corrugator  superciliorum",  sondern  seine  Be- 
ziehung zum  Auge  sein,  die  diese  mimische  Bewegung  erzeugt  hat. 
Alle  diese  einzelnen  Interpretationen  bewegen  sich  übrigens,  wenn 
man  von  der  fragwürdigen  Annahme  des  ersten  Ursprungs  zweck- 
mäßiger Willenshandlungen  absieht,  eigentlich  auf  psychologischem 
Gebiet.  Man  kann  daher  das  Urteil  über  diese  ganze  Theorie  dahin 
zusammenfassen:  wo  sie  sich  auf  die  Erklärung  der  einzelnen  Erschei- 
nungen einläßt,  da  fällt  sie  aus  der  Rolle  und  wird  psychologisch; 
insoweit  sie  dagegen  wirklich  eine  physiologische  Theorie  ist,  besteht 
sie  aus  teils  unkontrollierbaren,  teils  der  Erfahrung  widerstreitenden 
Hypothesen  1). 


2.  Darwins  Prinzip  der  zweckmäßig  assoziierten 
Gewohnheiten. 

Bei  dem  Punkte,  wo  Spencers  Prinzipien  auf  die  generelle  Ent- 
wicklung gewisser  Ausdrucksbewegungen  hinweisen,  hat  Darwin 
das  Problem  aufgenommen  2).  Die  Frage  der  Vererbung  steht  im 
Vordergrund  seiner  Untersuchungen.  Die  Ausdrucksbewegungen 
sind  ihm  nicht  sowohl  um  ihrer  selbst  willen  von  Wert,  als  deshalb, 
weil  sie  ein  Gebiet  bilden,  auf  dem  sich  die  Vererbung  funktioneller 
Anlagen  in  der  verschiedensten  Weise  nachweisen  läßt :  im  allgemeinsten 
Umfang    an    der    Analogie    tierischer    und    menschlicher    Ausdrucks- 


1)  Schon  die  Theorie  Spencers  steht  der  Annahme  nahe,  daß  nicht  die 
Ausdrucksbewegung  die  Wirkung  des  Affekts,  sondern  umgekehrt  der  Affekt 
selbst  erst  eine  Wirkung  der  Ausdrucksbewegungen  sei.  C.  Lange  (Über  Ge- 
mütsbewegungen, aus  dem  Dänischen  von  H.  Kurella,  1887)  und  W.  James 
(Principles  of  Psychology,  1890,  II,  pag.  442 ff.)  haben  dann  den  Versuch  ge- 
macht, diese  Annahme  näher  durchzuführen.  Das  Mittelglied  sollen  dabei  die 
,, Gemeinempfindungen"  bilden.  Ich  enthalte  mich  hier  einer  näheren  Erörterung 
dieser  Theorie  und  verweise  auf  die  Abhandlung  Zur  Theorie  der  Gemüts- 
bewegungen, Kleine  Schriften,  Bd.  2,  S.  379.  Dazu  Physiol.  Psychol.  «,  II,  S.  376  f., 
III,  S.  261  ff. 

2)  Darwin,  Der  Ausdruck  der  Gemütsbewegungen  bei  dem  Menschen  und 
den  Tieren.     Deutsche  Ausg.  1872. 


86  Die  Ausdrucksbewegungen. 


formen,  in  etwas  engeren  Grenzen  an  der  Übereinstimmung  der  Ge- 
bärden bei  verschiedenen  Menschenstämmen,  im  engsten  Bezirk  end- 
lich an  der  Vererbung  individueller  Bewegungen  in  einzelnen  Familien. 
Die  in  dieser  Absicht  von  Darwin  gesammelten  Beobachtungen  sind 
überaus  wertvoll,  und  es  kann  kaum  einem  Zweifel  unterliegen,  daß 
der  erstrebte  Zweck  durch  sie  erreicht  ist:  die  von  Spencer  nur  an 
wenigen,  zum  Teil  in  ihrer  Deutung  zweifelhaften  Fällen  erläuterte 
Vererbung  ist  auf  diesem  Gebiete  von  Darwin  durch  eine  Fülle  von 
Tatsachen  erwiesen  worden.  Viele  dieser  Tatsachen  bestätigen  zu- 
gleich den  Satz,  daß  sich  zahlreiche  Ausdrucksformen  als  abgeschwächte 
Überlebnisse  einstiger,  in  tierischen  Zuständen  noch  jetzt  zu  beobach- 
tender Willenshandlungen  betrachten  lassen.  Für  uns  steht  natür- 
lich nicht  diese  speziell  auf  die  Vererbungslehre  gerichtete  Tendenz 
der  Darwinschen  Untersuchung,  die  ihre  eigentliche  Bedeutung  aus- 
macht, sondern  der  sonstige,  namentlich  der  psychologische  Ertrag 
derselben  im  Vordergrund  des  Interesses.  Hier  aber  hat  Darwin, 
abgesehen  von  der  sorgfältigen  Analyse  einzelner  Ausdrucksbewegungen 
bei  Tieren  und  Menschen,  den  durch  Spencer  vertretenen  allgemei- 
neren Anschauungen  nichts  Wesentliches  hinzugefügt.  Immerhin 
darf  man  vom  empirischen  Standpunkt  aus  auch  das  als  ein  Ver- 
dienst seiner  Arbeit  ansehen,  daß  er  sich  auf  physiologische  Hypo- 
thesen über  den  Ursprung  der  Willenshandlungen  nicht  einläßt.  In- 
folgedessen stellen  sich  seine  Prinzipien  der  Ausdrucksbewegungen 
teilweise  schon  auf  den  Boden  einer  psychologischen  Deutung.  Das 
wichtigste  dieser  Prinzipien  ist  das  der  ,, zweckmäßig  assoziierten 
Gewohnheiten".  Gewisse  Handlungen  seien  dadurch,  das  sie  die 
Gefühle  und  Triebe,  die  an  bestimmte  Seelenzustände  gebunden  sind, 
befriedigen,  von  direktem  oder  indirektem  Nutzen.  Es  entstehe  da- 
her eine  gewohnheitsmäßige  Assoziation  zwischen  diesen  Seelen- 
zuständen  und  jenen  Bewegungen,  so  daß  beide  einander  stets  und 
auch  in  solchen  Fällen  begleiten,  wo  die  Bewegungen  infolge  der  ob- 
waltenden Bedingungen  von  gar  keinem  Nutzen  mehr  sein  können. 
Hierher  gehören  das  Zähneknirschen  in  der  Wut,  die  Angriffsbewegungen 
im  Zorn,  das  Zusammenfahren  im  Schreck,  welches  letztere  ursprüng- 
lich durch  die  Gewohnheit  entstanden  sein  soll,  einer  Gefahr  so  schnell 
als  möglich  durch  einen  Sprung  zu  entgehen.    Auf  diese  Weise  nimmt 


Darwins  Prinzip  der  zweckmäßig  assoziierten  Gewohnheiten.  87 


auch  Darwin  einen  allmähliclien  Übergang  gewohnheitsmäßig  asso" 
ziierter,  also  ursprünglich  willkürlicher  Bewegungen  in  Keflexe  an, 
obgleich  er  bezweifelt,  daß  alle  Eeflexbewegungen  auf  solche  Weise 
zu  erklären  seien.  Besonders  aber  betont  er  gerade  bei  den  zweck- 
mäßig assoziierten  Bewegungen  das  Gesetz  der  Vererbung,  nach 
welchem  eine  von  den  Vorfahren  erworbene  Assoziation  in  den  späteren 
Generationen  als  eine  angeborene  Anlage  auftreten  könne  ^). 

Die  Umschau  über  das  ganze  Gebiet  ,, zweckmäßig  assoziierter 
Gewohnheiten"  lehrt  nun  aber,  daß  die  so  entstandenen  Ausdrucks- 
bewegungen entweder  ausschließlich  oder  doch  vorzugsweise  zu  Un- 
lustaffekten in  Beziehung  stehen.  Zorn,  Wut,  Verachtung,  Schmerz 
äußern  sich  in  Bewegungen,  die  sich  auf  ursprünglich  nützliche  Willens- 
handlungen zurückführen  lassen.  Bei  Freude,  Hoffnung,  Zuneigung 
ist  das  gleiche  nicht  ohne  weiteres  ersichtlich.  Dennoch  äußern  sie 
sich  in  Bewegungen,  die  wir  als  bezeichnende  Symptome  für  die  Quali- 
tät der  Affekte  ansehen.  Zu  ihrer  Interpretation  glaubt  daher  Dar- 
win nur  den  allgemeinen  Gesichtspunkt  verwerten  zu  können,  daß 
sie  ihrer  Erscheinungsweise  nach  zu  bestimmten  andern  Symptomen 
im  Gegensatz  stehen.  So  sind  z.  B.  die  Bewegungen,  die  ein  Hund 
oder  eine  Katze  ausführen,  wenn  sie  sich  einem  andern  Tier  oder  dem 
Menschen  in  feindseliger  Absicht  nahen,  unmittelbar  Vorbereitungs- 
akte zu  Angriffsbewegungen.  Die  Bewegungen  der  gleichen  Tiere 
in  demütigen  und  zuneigungsvollen  Stimmungen  dagegen  sind  an 
sich  zwecklos,  bilden  aber  einen  durchgängigen  Gegensatz  zu  jenen. 
Sie  werden  also  aus  dem  Prinzip  des  Kontrastes  erklärt.  Eine  direkte, 
von  dem  Kontrast  unabhängige  Beziehung  der  Bewegungen  zur  Seelen- 
stimmung läßt  sich  nach  Darwins  Meinung  in  diesen  Fällen  im  all- 
gemeinen nicht  auffinden  2). 

Mögen  nun  immerhin  unter  diesen  Prinzipien  zahlreiche,  für  die 
Entwicklung  der  Willenshandlungen  wie  der  Ausdrucksbewegungen 
bedeutsame  Tatsachen  unter  einheitlichen  Gesichtspunkten  zusammen- 
gefaßt sein,   so  bleibt  es  doch  ein  Übelstand,  daß  hier  allgemeine  Be-- 


1)  A.  a.  O.  S.  28  ff. 

2)  A.  a.  0.  S.  28,  51  ff. 


88  Die  Ausdrucksbewegungen. 

griffe,  wie  Gewohnheit  und  Gegensatz,  die  selbst  erst  der  Erklärung 
bedürfen,  als  erklärende  Ursachen  eingeführt  werden.  Bei  der  Ge- 
wohnheit kann  man  sich  wohl  am  ehesten  noch  diese  Lücke  ergänzt 
denken,  und  mit  dem  Vorbehalt  dieser  Ergänzung  wird  in  der  Tab 
hier  so  wenig  wie  anderwärts  das  ,, Gesetz  der  Gewohnheit"  zu  missen 
sein.  Nach  den  Erscheinungen  individueller  Einübung  und  des  durch 
sie  vermittelten  Übergangs  willkürlicher  in  automatische  Bewegungen, 
auf  die  oben  (S.  46  f.)  schon  hingewiesen  wurde,  ist  es  aber  doch  er- 
forderlich, daß  man  diesen  Begriff  der ,, Gewohnheit''  in  seine  psycho- 
physischen  Elemente  zerlegt.  Auf  psychischer  Seite  besteht  nun 
jeder  Vorgang  der  Übung  darin,  daß  von  einer  ursprünglich  in  allen 
ihren  Bestandteilen  mit  Bewußtsein  ausgeführten  Bewegung  zuerst 
gewisse  Zwischenglieder  und  dann  allmählich  der  ganze  Verlauf  aus 
dem  Bewußtsein  verschwinden.  Nach  seiner  physischen  Seite  be- 
steht der  gleiche  Vorgang  in  einer  immer  vollkommener  werdenden 
Anpassung  des  Umfangs  und  Verlaufs  der  Bewegung  an  eine  bestimmte 
Einwirkung,  demnach  in  einer  Ausschaltung  von  Nebeneffekten,  die 
ursprünglich  in  wechselnder  Weise  die  Bewegung  begleiten.  Dieser 
Prozeß  setzt  als  Bedingung  eine  Eigenschaft  des  Nervensystems  voraus, 
die  sich  uns  in  der  Tat  schon  in  gewissen  elementaren  Erscheinungen 
der  Nervenerregung  zu  erkennen  gibt.  Es  ist  die,  daß  mäßige  Rei- 
zungen irgendeiner  Nervenfaser  eine  Steigerung  der  Erregbarkeit 
erzeugen.  Diese  Nachwirkung  in  ihrer  auf  bestimmte,  oft  wieder- 
holte Erregungen  eingeschränkten  Ausbreitung  ist  offenbar  mit  dem, 
was  wir  ,,Übung'^  oder  ,, Gewöhnung"  nennen,  identisch.  Denn  so- 
bald irgendeine  komplexe  Bewegung  wiederholt  in  der  Weise  aus- 
geführt wird,  daß  gewisse  ihrer  Bestandteile  variieren,  während  an- 
dere gleichmäßig  wiederkehren,  so  müssen  notwendig  infolge  jener 
Steigerung  der  Erregbarkeit  durch  die  Erregung  diese  regelmäßigen 
Bestandteile   des  Vorgangs  immer  mehr  erleichtert  werden^).      Die 


^)  Vgl.  meine  Untersuchungen  zu  Mechanik  der  Nerven,  TI,  1876,  S.  65, 
132  ff.  Phys.  Psych.  *  I,  S.  111  ff.  Ähnliche  Anschauungen  sind  in  neuerer  Zeit 
noch  von  verschiedenen  Physiologen  ausgesprochen  worden.  So  namentlich 
von  S.  Exner  (Entwurf  zu  einer  physiologischen  Erklärung  der  psychischen  Er- 
scheinungen, I,  1894,  S.  76),  der  hierbei  für  die  Übungserfolge  der  Erregungs- 
leitung den  Ausdruck  „Bahnung"  vorgeschlagen  hat. 


Darwins  Prinzip  der  zweckmäßig  assoziierten  Gewohnheiten.  89 

hierbei  zugleich  sich  einstellende  Mechanisierung  der  Bewegungen 
weist  außerdem  darauf  hin,  daß  zu  diesen  allgemeinen  Erregbarkeits- 
änderungen noch  die  allmähliche  Ausschaltung  höherer  Nerven- 
zentren als  eine  komplizierende  Erscheinung  hinzutritt.  Der  wachsen- 
den Reizbarkeit  der  zunächst  erregten  zentralen  Elemente  geht  also 
eine  Beschränkung  in  der  Ausbreitung  der  Reizungs Vorgänge  parallel^) . 
Aus  diesen  Betrachtungen  erhellt  übrigens,  daß  eine  rein  physiolo- 
gische ebensogut  wie  eine  rein  psychologische  Erklärung  des  Begriffs 
,, zweckmäßig  assoziierter  Gewohnheiten"  unmöglich  ist.  Denn  phy- 
siologisch können  wir  zwar,  wenn  erst  gewisse,  auf  bestimmte  Zwecke 
gerichtete  Willenshandlungen  gegeben  sind,  deren  allmähliche  Ver- 
vollkommnung und  Mechanisierung  an  der  Hand  der  Gesetze  der 
Nervenerregung  und  der  Nachwirkungen  der  Erregbarkeit  begreifen. 
Was  wir  jedoch  auf  diesem  physiologischen  Wege  nicht  verständlich 
machen  können,  das  ist  der  Anfang,  die  Willenshandlung  selbst  und 
ihre  unmittelbare  Verbindung  mit  bestimmten,  bereits  dem  Inhalt 
des  Wollens,  d.  h.  den  dasselbe  konstituierendön  Gefühlen  und  Vor- 
stellungen, irgendwie  adäquaten  Körperbewegungen.  Wenn  wir  da- 
her alle  empirisch  nicht  gerechtfertigten  metaphysischen  Hilfskon- 
struktionen beiseite  lassen,  so  führt  das  Darwinsche  Prinzip  der  Ge- 
wöhnung auf  vielleicht  unvollkommene,  aber  doch  von  Anfang  an 
unmittelbar  mit  den  psychischen  Willensregungen  verbundene  zweck- 
mäßige Bewegungen  zurück.  Der  Vorgang,  durch  den  solche  Willens- 
handlungen in  bloße  Ausdrucksbewegungen  übergehen,  muß  dann 
wiederum  als  ein  doppelter,  als  ein  psychischer  und  ein  physischer, 
gedacht  werden.  Auf  beiden  Seiten  ist  hier  ein  zwiefacher  Prozeß 
vorauszusetzen.  Erstens  hat  sich  infolge  der  Kultur  allmählich  der 
psychische  Inhalt  der  Affekte  ermäßigt,  und  ist  demgemäß  physisch 
die   Intensität   der   Ausdrucksbewegungen   vermindert   worden;    und 


^)  Auch  diese  Tatsache  ist  wahrscheinlich  zu  gewissen  allgemeinen  Er- 
gebnissen der  Nervenphysiologie  in  Beziehung  zu  bringen,  und  zwar  wird  man 
hier  vor  allem  an  die  im  Gebiete  der  zentralen  Nervenerregung  nachzuweisen- 
den Interferenz-  und  Hemmungserscheinungen  denken  können.  Vgl.  Unter- 
suchungen zur  Mechanik  der  Nerven,  II,  S.  84  ff.,  106  ff.,  Phys.  Psych.  » 
I,  S.  129  ff. 


90  I^ie  Ausdrucksbewegungen. 


z\Yeitens  hat  sich  der  Willensvorgang  zuerst  in  einzelnen  seiner  Glieder 
und  dann  in  seinem  ganzen  Ablauf  verdunkelt,  während  in  gleichem 
Maße  die  mechanische  Sicherheit  der  Bewegungen  zunahm.  Dem 
entspricht,  daß  diese  physiologisch  dezentralisiert  wurden,  indem 
sich  die  Arbeit  der  Übertragung  des  Eeizes  in  motorische  Erregungen 
mehr  und  mehr  auf  niedrigere  Zentren  einschränkte.  Zugleich  muß 
freilich  hinzugefügt  werden,  daß  es  sich  gerade  bei  den  Ausdrucks- 
bewegungen, solange  sie  wirkliche  Symptome  bestimmter  Gemüts- 
bewegungen sind,  nicht  um  eine  Ausschaltung  der  höheren  Zentren 
überhaupt  handelt,  sondern  nur  jener,  die  zu  den  Vorstellungen 
der  äußeren  Bewegungen  in  Beziehung  stehen.  Die  Gefühls-  und 
Vorstellungsprozesse,  die  in  die  Gemütsbewegungen  selbst  eingehen,, 
bleiben  ja  im  allgemeinen  bewußt  und  weisen  also  auf  die  Funktionen 
der  entsprechenden  Sinnes-  und  Apperzeptionszentren  hin.  Solche- 
Ausdrucksbewegungen  aber,  die  zu  reinen  Reflexen  geworden  sind, 
bei  denen  also  Gefühls-  und  Vorstellungsinhalte  überhaupt  hin  weg- 
fallen, bilden  offenbar  nur  einen  Grenzfall.  Die  meisten  bleiben  fortan 
auf  der  Stufe  triebartiger  Handlungen:  bestimmte  Motive  sind  im 
Bewußtsein,  nicht  minder  der  Ausdruck  dieser  Motive  in  Bewegungen ; 
doch  die  letzteren  folgen  ohne  vorausgehenden  Streit  der  Motive  und 
darum  auch  ohne  besondere  Anpassung  an  einen  äußeren  Erfolg  den 
herrschenden  Eindrücken  und  Gefühlen.  Mit  dieser  näheren  Bestimmung 
seines  Inhalts  kann  man  das  Darwinsche  Gesetz  ,, zweckmäßig  asso- 
ziierter Gewohnheiten"  als  ein  für  zahlreiche,  wenn  auch  keineswegs^ 
für  alle  Ausdrucksbewegungen  zutreffendes  psychophysisches  Prin- 
zip anerkennen. 

Anders  verhält  es  sich  mit  dem  Prinzip  des  Kontrastes.  Es 
ist  einem  doppelten  Einwurf  ausgesetzt.  Zunächst  ist  es  überhaupt 
mizulässig,  Erscheinungen  nicht  aus  sich  selbst  und  aus  ihren  eigenen 
Bedingungen  zu  erklären,  sondern  aus  andern,  die  von  verschiedener, 
ja  entgegengesetzter  Art  sind.  Dies  Verfahren  ersetzt  die  wirkliche 
Interpretation  durch  eine  bloße  Einteilung  nach  dem  unbestimmtesten 
aller  Einteilungsgründe,  nach  dem  des  kontradiktorischen  Gegen- 
satzes, wo  das  den  Gegensatz  bildende  Glied  bloß  negativ  bestimmt 
ist.  Sodann  läßt  sich  bei  vielen  der  hierher  bezogenen  Erscheinungen 
mit  Grund  bestreiten,  daß  bei  ihnen  ein  ursprünglicher  oder  ein  noch 


Darwins  Prinzip  der  zweckmäßig  assoziierten  Gewohnheiten.  91 

fortdauernder  positiver  Zweck  der  Bewegung  überhaupt  nicht  nach- 
zuweisen sei.  Wenn  sich  die  Demut  in  kriechenden  Bewegungen, 
die  Liebe  im  innigen  Anschmiegen  an  den  Gegenstand  der  Zuneigung 
äußert,  so  scheint  dort  die  Unterwerfung  unter  den  fremden  Willen, 
hier  die  Vereinigung  mit  dem  geliebten  Gegenstand  ebensogut  ein 
unschwer  erkennbarer  Zweck  noch  jetzt  zu  sein  oder  in  den  gesteigerten 
Formen  der  gleichen  Ausdrucksbewegungen  einer  früheren  Stufe  ge- 
wesen zu  sein,  wie  der  drohende  Blick,  der  aufgerichtete  Nacken  und 
die  geballte  Faust  des  Erzürnten.  Darwin  selbst  hat  diese  Möglich- 
keit direkter  Gründe  bei  einzelnen  der  hierher  gehörigen  Beispiele 
anerkannt^).  Wenn  er  trotzdem  sein  Prinzip  des  Kontrastes  stehen 
ließ,  so  dürfte  ihm  wohl  der  Umstand  Bedenken  erregt  haben,  daß, 
falls  er  die  Ausdrucksbewegungen  der  Freude,  Zuneigung  usw.  dem 
Prinzip  der  ,, assoziierten  Gewohnheiten"  zurechnete,  der  Begriff 
des  Nutzens  für  die  ursprüngliche  Entstehung  vieler  dieser  Gewohn- 
heiten kaum  mehr  passend  erschien.  Was  für  einen  Nutzen  sollte  es 
haben,  wenn  der  Hund  durch  Schweifwedeln  und  durch  Drehungen 
und  Windungen  seines  Körpers  seine  Freude  oder  Zuneigung  aus- 
drückt ?  Das  spricht  aber  doch  nur  dafür,  daß  der  Nutzen  überhaupt 
hier  ein  bedenklicher  Begriff  ist.  Das  Lachen  und  Weinen  und  die 
große  Mehrzahl  der  andern  mimischen  Bewegungen  lassen  sich  kaum 
oder  höchstens  mittels  einer  gewaltsamen  und  fragwürdigen  Inter- 
pretation als  nützliche  oder  einmal  nützlich  gewesene  Erscheinungen 
deuten.  Offenbar  haben  die  von  ihm  eingehend  analysierten  Gebärden 
des  Zornes,  bei  denen  allerdings  die  Beziehung  zu  Kampf  und  Angriff 
unverkennbar  ist,  den  ausgezeichneten  Naturforscher  zu  einer  Ver- 
allgemeinerung verleitet,  die  sich  der  Gesamtheit  der  Ausdrucks- 
bewegungen gegenüber  nicht  aufrechterhalten  läßt.  Ist  gerade  bei 
dem  Zorn  diese  in  gewissem  Sinn  ,, nützliche"  Natur  der  Affektäußerung 
augenfällig,  so  hat  dies  seinen  nächsten  Grund  darin,  daß  bei  ihm  die 
Beziehung  zu  bestimmten  Vorstellungen,  etwa  zu  solchen  von  wirk- 
lichen oder  imaginären  Feinden,  imgleich  mehr  als  bei  sonstigen  Affekten 
in  den  Vordergrund  tritt.    Darum  ist  es  aber  selbst  hier  zweifelhaft, 


^)  Ausdruck  der  Gemütsbewegungen,  S.  217,  und  anderwärts. 


92  Die  Ausdrucksbewegungen. 

ob  alle  Symptome  eine  derartige  Deutung  zulassen.  In  der  Tat  wird 
man  das  namentlich  von  jenen  Symptomen  sagen  müssen,  die,  wie 
die  an  den  Winkeln  herabgezogene  Unterlippe,  die  gerunzelte  Stirn, 
eigentlich  nur  allgemein  den  Zorn  als  einen  Unlustaffekt  charakte- 
risieren; daher  sie  sich  auch  bei  andern  Unlustaffekten,  wie  Kummer, 
Sorge,  bei  denen  von  einer  Beziehung  auf  einen  äußeren  Feind  nicht 
die  Rede  sein  kann,  in  ähnlicher  Weise  vorfinden.  Damit  kommen 
wir  auf  einen  Punkt,  bei  dem  der  einseitige  und  unzulängliche  Stand- 
punkt dieser  Theorie  deutlich  zu  erkennen  ist.  Darwin  analysiert 
in  einzelnen  Fällen  vortrefflich  solche  Bestandteile  der  Ausdrucks- 
bewegungen, die  dem  Vorstellungsinhalt  der  Affekte  angehören.  Er 
würdigt  aber  die  Symptome,  in  denen  sich  die  Gefühle  spiegeln, 
nicht  zureichend.  Nun  sind  gerade  die  Gefühle  die  wesentlichen  Ele- 
mente der  Affekte,  während  die  Vorstellungen  im  allgemeinen  varia- 
blere Bestandteile  bilden.  So  begreiflich  also  nach  jener  intellektua- 
listischen  Auffassung  des  Seelenlebens,  wie  sie  nun  einmal  in  der  von 
Darwin  angewandten  Vulgärpsychologie  herrscht,  diese  einseitige 
Bevorzugung  sein  mag,  so  unmöglich  kann  sie  doch  der  Gesamtheit 
der  Erscheinungen  gerecht  werden. 

3.  Versuche  einer  psychologischen  Theorie. 

Zwischen  den  physiologischen  Deutungen  und  den  rein  psycho- 
logischen Theorien  über  Ausdrucksbew^egungen  stehen  solche  An- 
sichten mitteninne,  die  zwar  von  gewissen  Eigenschaften  der  phy- 
sischen Organisation  ausgehen,  dabei  aber  doch  auf  die  psychische 
Seite  das  Hauptgewicht  legen.  Natürlich  bleibt  hierbei  ein  ziemlich 
weiter  Spielraum.  So  brachte  E.  Harless  die  Affektäußerungen  über- 
haupt, namentlich  die  mimischen,  mit  den  an  die  Hautempfindungen 
gebundenen  angenehmen  und  unangenehmen  Gefühlen  in  Verbindung. 
Durch  die  mimischen  Muskeln  entstehe  ,,ein  verschiedenes  Haut- 
gefühl, die  Natur  dieses  Gefühls  sei  aber  unserer  geistigen  Erregung 
verwandt,  und  sie  sei  daher  das  entscheidende  Moment  für  die  Bedeutung 
einer  Miene"  ^).    Es  ist,  wie  wir  es  heute  ausdrücken  würden,  das  Prin- 


^)  E.  Harless,  Lehrbuch  der  plastischen  Anatomie  1856,  S.  125. 


Versuche  einer  psychologischen  Theorie.  93 

zip  der  Assoziation  der  durch  die  Ausdrucksbewegungen  entstehenden 
sinnlichen  Gefühle  mit  den  Gefühlsinhalten  der  Affekte,  auf  das  dem- 
nach Harless  den  mimischen  Ausdruck  zurückführt.  Noch  allgemeiner 
macht  A.  Bain  die  Gegensätze  der  Steigerung  und  der  Herabsetzung 
der  Lebensfunktionen,  die  sich  in  den  Gefühlen  kundgeben  sollen, 
auch  für  die  Verschiedenheit  der  Ausdrucksbewegungen  geltend^). 
Daß  solche  Hypothesen  zu  allgemein  und  unbestimmt  sind,  um  über 
die  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen  Rechenschaft  zu  geben,  ist 
einleuchtend,  wenn  auch  namentlich  dem  von  Harless  ausgesprochenen 
Gedanken  etwas  Richtiges  zugrunde  liegt. 

Eingehendere  Versuche  einer  psychologischen  Deutung  gingen 
zumeist  von  ästhetischen  Interessen  aus.  Daraus  erklärt  es  sich, 
daß  man  stillschweigend  oder  ausdrücklich  einen  Begriff  in  den  Vorder- 
grund stellte,  der  von  Haus  aus  ein  ästhetischer,  kein  psychologischer 
ist:  den  Begriff  des  Symbols.  Von  den  ,, Conferences"  des  Malers 
Le  Brun^)  und  J.  J.  Engels  „Ideen  zu  einer  Mimik"  ^)  bis  zu  den 
Arbeiten  von  Th.  Piderit^)  und  Pierre  Gratiolet^)  ist  es  dieser  Be- 
griff des   Symbols,  der,  zum  Teil  in  abweichender  Form,  zuweilen 


1)  A.  Bain,  The  Senses  and  the  Intellect.  ^  1864,  p.  285.  Die  Annahme 
Bains  nähert  sich  übrigens  zugleich  durch  die  starke  Betonung  der  physischen 
Grundlagen  der   Gefühle  der   physiologischen  Theorie  Herbert   Spencers. 

2)  Le  Brun,  Conferences  sur  l'expression  des  differents  characteres  des 
passions,  1667. 

3)  J.  J.  Engel,  Ideen  zu  einer  Mimik,  2  Bde.  1785—86. 

*)  Mimik  und  Physiognomik,  1866.  Als  ersten  Entwurf  dieses  späteren 
Werkes  veröffentlichte  Piderit  1858  ,, Grundsätze  der  Mimik  und  Physiognomik", 
in  denen  er  sein  allgemeines  Prinzip  der  Ausdrucksbewegungen  bereits  bestimmt 
formuliert.  In  diesem  Punkte  gebührt  ihm  daher  Gratiolet  gegenüber, 
der  das  seinige  beinahe  in  dieselben  Worte  faßt,  die  Priorität.  Übrigens 
hat  Gratiolet,  gerade  so  wie  früher  Engel,  vorwiegend  die  pantomimischen, 
Piderit  die  mimischen  Bewegungen  berücksichtigt.  Darwin,  der  Gratiolet 
und  Piderit  einigemal  mit  Anerkennung  erwähnt,  urteilt  über  das  von 
diesen  Autoren  aufgestellte  Prinzip,  daß  darin  überhaupt  keine  Erklärung 
der  Ausdrucksbewegungen  enthalten  sei  (Über  den  Ausdruck  der  Gemüts- 
bewegungen, S.  6),  ein  für  die  Verschiedenheit  der  Standpunkte  bezeichnender 
Ausspruch. 

^)  De  la  Physiognomie  et  des  mouvements  d'expression,  1865.  (Das  Werk 
ist  nach  dem  Tode  des  Verfs.  herausgegeben.) 


94  Die  Ausdrucksbewegungen. 


auch  nur,  wie  bei  Engel,  als  nicht  ausgesprochene  Voraussetzung, 
die  Deutung  der  Erscheinungen  beherrscht.  Piderit  hat  das  Prinzip 
in  dem  Satz  ausgesprochen:  ,,Alle  Ausdrucksbewegungen  beziehen 
sich  entweder  auf  imaginäre  Gegenstände  oder  auf  imaginäre  ange- 
nehme oder  unangenehme  (harmonische  oder  disharmonische)  Sinnes- 
eindrücke." Als  psychologische  Begründung  des  ersten  Teiles  dieses 
Satzes  gilt  ihm  die  Tatsache,  daß  ,,jede  Vorstellung  dem  Geiste  gegen- 
ständlich erscheint",  daher  eine  mimische  oder  sonstige  Ausdrucks- 
bewegimg, die  durch  Vorstellungen  erregt  werde,  sich  eben  damit 
zugleich  auf  imaginäre  Gegenstände  beziehen  müsse.  Für  den  zweiten 
Teil  führt  er  an,  daß  ,, abstrakte"  Vorstellungen,  weil  sie  gegenständ- 
lich gedacht  werden,  ähnlich  den  unmittelbaren  Sinneseindrücken 
angenehm  oder  unangenehm  auf  uns  wirken,  wie  dies  auch  die  Meta- 
phern der  Sprache,  ,, bittere  Kränkung",  „süße  Liebe"  und  ähnliche, 
bestätigen.  Demnach  sind  ihm  die  Ausdrucksbewegungen,  ebenso 
wie  diese  Metaphern,  Übertragungen  des  Nicht- Sinnlichen  in  das 
Sinnliche,  die  aber  nicht  direkt,  sondern  erst  durch  das  Zwischen- 
glied der  ,, Vorstellungen"  —  unter  denen  er  hier  nur  Erinnerungs- 
oder Phantasiebilder  versteht  —  zustande  kommen. 

Daß  diese  Tatsache  insofern  eine  psychologische  ist,  als  sie  aus- 
schließlich den  psychischen  Wert  der  Bewegungen  hervorhebt,  ist 
augenfällig.  Schon  darin  zeigt  sich  jedoch  ihr  mehr  ästhetischer  als 
psychologischer  Charakter,  daß  sie  nur  auf  die  geistige  Bedeutung 
dieser  Erscheinungen  hinweist,  ihre  Motive,  den  Zusammenhang 
ihrer  psychischen  Bedingungen  im  Dunkeln  läßt.  Sagt  man  z.  B., 
der  Zornige  drücke  den  tätlichen  Angriff  auf  einen  Feind  symbolisch  aus, 
so  entspricht  das  wohl  dem  objektiven  ästhetischen  Eindruck  auf  den 
Zuschauer,  schwerlich  aber  dem  wirklichen  Vorgang,  wie  er  sich  in 
der  Seele  des  Erzürnten  abspielt.  Ähnlich  verhält  es  sich  mit  den 
zur  Erklärung  der  mimischen  Bewegungen  herbeigezogenen  Beziehungen 
auf  imaginäre  Gegenstände.  Hier  hat  namentlich  Piderit  durch  seine 
verständnisvolle  Analyse  dieser  Bewegungen  unleugbar  auch  die 
psychologische  Deutung  gefördert.  Daß  sie  in  engster  Beziehung 
zu  den  Funktionen  der  am  Kopfe  vereinigten  Organe  der  vier  Spe- 
zialsinne  stehen,  und  daß  Lustgefühle  jeder  Art  mit  Bewegungen 
verbunden    sind,    die    angenehmen,    Unlustgefühle    mit    solchen,    die 


Versuche  einer  psychologischen  Theorie.  95 

unangenelimen  Sinneseindrücken  entsprechen,  dies  erkannt  zu  haben, 
bleibt  ein  nicht  zu  unterschätzendes  Verdienst  der  symbolistischen 
Theorie.  Freilich  muß  auch  hier  wieder  gesagt  werden,  daß  die  Be- 
ziehung auf  ,, imaginäre  Sinneseindrücke''  noch  keine  psychologische 
Deutung  ist.  Die  Erinnerung  an  die  Metaphern  der  Sprache  kann 
um  so  weniger  als  eine  solche  gelten,  weil  diese  Metaphern  selbst  ver- 
mutlich erst  aus  der  Wahrnehmung  der  Ausdrucksbewegungen  her- 
vorgegangen sind  (vgl.  unten  V,  5).  Das  Wort  ,, symbolisch"  bringt 
also  nur  die  beobachteten  Tatsachen  unter  einen  allgemeinen  und 
selbst  erst  der  psychologischen  Erklärung  bedürftigen  ästhetischen 
Begriff. 

Hiernach  könnte  man  vermuten,  es  sei  nur  erforderlich,  den  in 
diesem  Prinzip  ausgesprochenen  ästhetischen  Gedanken  psychologisch 
umzuformen  oder  in  seinen  psychologischen  Wurzeln  bloßzulegen, 
um  zu  einer  haltbaren  Deutung  der  Erscheinungen  zu  gelangen.  In 
der  Tat  mag  das  für  die  meisten  mimischen  Bewegungen  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  richtig  sein.  Aber  es  gilt  keineswegs  für  alle  Ausdrucks- 
bewegungen, da  es  eben  solche  gibt  —  man  erinnere  sich  nur  an  die 
Äußerungen  des  Schrecks  oder  an  das  Erröten  bei  der  Scham  — ,  wo 
die  Unterordnung  unter  den  Begriff  des  Symbols  auch  im  ästhetischen 
Sinne  gezwungen  oder  gänzlich  unzureichend  sein  würde.  Dazu  kommt 
noch  ein  anderer,  allgemeinerer  Gesichtspunkt.  Jede  psychologische 
Theorie  der  Ausdrucksbewegungen  nimmt,  da  diese  körperliche,  also 
an  physiologische  Bedingungen  geknüpfte  Bewegungen  sind,  not- 
wendig einen  ihrem  Gegenstand  nicht  adäquaten  Standpunkt  ein. 
Mag  sie  darum  in  die  psychischen  Vorgänge,  die  jene  physischen 
Symptome  begleiten,  noch  so  tief  eindringen,  über  die  Symptome 
selbst  kann  sie  keine  zureichende  Rechenschaft  geben.  Denn  es  ist 
an  und  für  sich  ebenso  unmöglich,  diese  ausschließlich  aus  dem  psy- 
chischen Inhalt  der  Affekte  abzuleiten,  wie  es  für  die  physiologische 
Theorie  unmöglich  ist,  aus  den  Innervationszuständen,  welche 
die  Ausdrucksbewegungen  begleiten,  deren  psychische  Bedeutung  zu 
begreifen. 

Diese  Erwägungen  führen  bei  dem  engen  Zusammenhang,  in 
dem  hier  die  körperlichen  und  die  seelischen  Bestandteile  der  Vor- 
gänge zueinander  stehen,    unvermeidlich  zu  dem  Schlüsse,  daß  über- 


96  Die  Ausdrucksbewegungen. 

haupt  weder  eine  rein  physiologische  noch  eine  rein  psychologische 
Theorie  Aussicht  auf  Erfolg  haben  wird.  Eine  physiologische  nicht, 
weil  der  Affekt  als  unmittelbares  seelisches  Erlebnis  durch  keine 
körperliche  Begleiterscheinung,  wäre  uns  diese  selbst  noch  so  bekannt, 
ersetzbar  ist.  Eine  psychologische  nicht,  weil  die  Ausdrucksbewegungen 
physische  Funktionen  sind  und  daher  auch  in  ihrer  Bedeutung  für 
die  psychische  Seite  der  Vorgänge  nur  in  ihrem  physischen  Zusammen- 
hang richtig  gewürdigt  werden  können.  In  der  Tat  finden  sich  bei 
unbefangener  Betrachtung  der  Erscheinungen  keinerlei  Gründe, 
die  es  rechtfertigen  könnten,  in  dem  Gesamtbilde  seelischer  und  körper- 
licher Vorgänge,  das  uns  ein  Affekt  bietet,  einem  dieser  Bestand- 
teile die  zeitliche  Priorität  vor  dem  andern  einzuräumen.  Wenn  die 
gewöhnliche  Auffassung  die  Gemütsbewegung  als  das  Vorangehende, 
ihre  körperlichen  Symptome  als  das  Nachfolgende  ansieht,  so  hat 
sie  darin  natürlich  recht,  insoweit  es  sich  nur  um  die  äußeren,  sicht- 
baren Symptome  handelt.  Damit  ist  aber  nicht  gesagt,  daß  auch 
die  zentralen  Innervationsvorgänge,  deren  Wirkungen  erst  jene  Sym- 
ptome, später  als  die  Affekte  selbst  sind.  Vielmehr  spricht  alle  Wahr- 
scheinlichkeit dafür,  daß,  sobald  wir  auf  diese  zentralen  Prozesse 
zurückgehen,  der  Affekt  und  seine  physischen  Korrelaterscheinungen 
gleichzeitig  beginnen,  imd  daß  sie  ebenso  in  ihrem  weiteren  Verlauf 
einander  begleiten.  Damit  ist  schon  gesagt,  daß  auch  die  entgegen- 
gesetzte Auffassung,  wonach  der  physische  Vorgang  der  Zeit  nach 
das  Erste,  der  Affekt  aber  das  Nachfolgende  sein  soll,  keinerlei  Stütze 
in  der  Erfahrung  findet.  In  Wahrheit  sind  Affekt  und  Ausdrucks- 
bewegung zusammen  ein  einziger  psychophysischer  Vorgang, 
den  wir  erst  auf  Grund  einer  Analyse  und  Abstraktion  in  jene  zwei 
Bestandteile  sondern,  Die  Motive,  aus  denen  diese  Zerlegung  ent- 
springt, bringen  es  dann  freilich  mit  sich,  daß  bei  der  Betrachtung 
der  Affekte  selbst  wie  ihrer  Äußerungen  das  Hauptgewicht  unseres 
Interesses  auf  die  psychologische  Seite  fällt.  Denn  die  Bedeutung 
der  Ausdrucksbewegungen  wird  für  uns  allezeit  wesentlich  darin  be- 
stehen, daß  sie  Symptome  seelischer  Vorgänge  sind^). 


^)  In  der  Voranstellung  des  psychologischen  Gesichtspunktes  stimmt  mit 
den  folgenden  Ausführungen  ein  gleichzeitig  mit  der  1.  Auflage  dieses  Bandes 


Allgemeinstes  psychophysischee  Prinzip  der  Ausdrucksbewegungen.        97 

4.  Allgemeinstes  psychophysisches  Prinzip  der  Ausdrucks- 
bewegungen. 

Sucht  man  in  dem  angegebenen  Sinne  die  Ausdrucksbewegungen 
in  erster  Linie  als  psychophysische  Funktionen,  in  zweiter,  in  An- 
betracht ihrer  allgemeinen  Bedeutung,  als  Merkmale  psychischer  Vor- 
gänge zu  verstehen,  so  wird  man  nun  von  vornherein  darauf  ver- 
zichten müssen,  sie  irgendwelchen  spezifischen  Prinzipien  imter- 
zuordnen.  Vielmehr  wird  hier  lediglich  das  allgemeinste  Prinzip  psy- 
chophysischen  Inhalts,  nach  dem  mit  jeder  Veränderung  psy- 
chischer Zustände  zugleich  Veränderungen  physischer 
Korrelat  Vorgänge  verbunden  sind,  auch  für  die  Ausdrucks- 
bewegungen und  die  Seelenzustände  gelten,  als  deren  Symptome 
wir  jene  auffassen. 

Nun  bilden,  wie  mehrfach  hervorgehoben  wurde,  in  dem  ge- 
samten Tatbestand  unserer  subjektiven  Erfahrung  die  Gefühle  und 
Affekte  oder,  da  die  Gefühle  nur  als  Bestandteile  von  mehr  oder  minder 
ausgebildeten  Affekten  vorkommen,  die  Affekte  diejenige  Seite  des 
Seelenlebens,  als  deren  physische  Begleiterscheinungen  wir  die  Aus- 
drucksbewegungen und  die  sie  erzeugenden  Innervationsvorgänge 
betrachten  müssen.  Daraus  ergibt  sich  ohne  weiteres,  daß  eine  nähere 
Analyse  dieser  Bewegungen  nur  in  steter  Beziehung  zur  Analyse  der 
entsprechenden  Affekte  selbst  vorgenommen  werden  kann.  Die  letzten 
leitenden   Gesichtspunkte  werden  aber  den   Elementen  des  Affekts, 


erschienenes  Werk  von  Henry  Hughes  überein  (Die  Mimik  des  Menschen  auf 
Grund  voluntarischer  Psychologie,  mit  119  Abb.  1900).  Dasselbe  enthält  im 
einzelnen  bemerkenswerte  Ergänzungen,  namentlich  zu  den  Beobachtungen 
Piderits.  Seine  Theorie  der  mimischen  Bewegungen  gründet  der  Verf.  auf  eine 
eigentümliche  psychophysische  Theorie  des  Willens  und  der  Gefühle,  die  ge- 
wissermaßen eine  Umkehrung  der  oben  (S.  37  ff.)  entwickelten  Auffassung  dar- 
stellt, da  ihm  der  Willens  Vorgang  nicht  ein  Gefühls  verlauf,  sondern  jedes  Ge- 
fühl ein  aus  Willenselementen  zusammengesetzter  komplexer  Vorgang  ist  (S.  210  ff.). 
Es  scheint  mir  aber  nicht,  daß  diese  Theorie  mit  den  Beobachtungen  über  den 
Verlauf  der  Willens  Vorgänge,  wie  sie  vornehmlich  bei  den  ,,Reaktions  versuchen" 
auszuführen  sind,  in  Einklang  gebracht  werden  kann.  (Vgl.  Grundzüge  der  phy- 
siol.  Psychol.   «  Bd.  3,  S.  228 ff.) 

Wandt,  Völkerpsychologie.    I.    4.  Aufl.  ' 


98  I^ie  Ausdrucksljewegungen. 


den  ihn  zusammensetzenden  einfachen  Gefühlen,  zu  entnehmen  sein. 
Damit  sind  wir  wiederum  auf  jene  fundamentalen  Eigenschaften 
hingewiesen,  die  jedem  noch  so  einfachen  Gefühl  als  seine  näheren 
Bestimmungen  zukommen,  und  die  sich  daher  auch  in  jedem  Affekt 
in  irgendeiner  Weise  finden.  Dieser  Eigenschaften  gibt  es  im  ganzen 
drei.  Zwei  von  ihnen  sind  dem  Gefühl  als  solchem  eigen,  unabhängig 
von  seinem  Zusammenhange  mit  andern  Bewußtseinsvorgängen; 
die  dritte  entsteht  durch  seine  Beziehung  zu  den  objektiven  Inhalten 
unserer  unmittelbaren  Erfahrmig.  Die  beiden  ersten  nennen  wir  die 
Intensität  und  die  Qualität  des  Gefühls;  die  dritte  können  wir 
als  seine  Vorstellungsverbindung  oder,  da  solche  Verbindungen 
regelmäßige  Inhalte  der  Affekte  bilden,  als  seinen  Vorstellungs- 
inhalt bezeichnen.  Auf  diese  Weise  gewinnen  wir  drei  Klassen  von 
Ausdrucksbewegungen  oder  vielmehr,  da  im  allgemeinen  diese  Klassen 
nicht  getrennt  voneinander  vorkommen,  drei  Richtungen  von 
Ausdrucksbewegungen.  Wir  wollen  sie  kurz  die  Intensitäts-, 
die  Qualitäts-  und  die  Vorstellungsäußerungen  der  Affekte 
nennen.  Innerhalb  jeder  dieser  Richtungen  findet  sich  eine  Fülle 
einzelner  Formen,  die  durch  mannigfaches  Übereinandergreifen  der 
Symptome  und  durch  die  Koexistenz  von  Erscheinungen  verschiedener, 
ja  entgegengesetzter  Art  noch  beträchtlich  vermehrt  wird.  Eine  ein- 
gehende Betrachtung  auch  nur  der  hauptsächlichsten  würde  von  dem 
nächsten  Zwecke  dieses  Werkes  allzuweit  abliegen.  Es  kann  sich  daher 
im  folgenden  nur  darum  handeln,  bei  jeder  der  genannten  Klassen 
die  Gesichtspunkte  hervorzuheben,  die  für  das  allgemeine  Problem 
der  Ausdrucksbewegungen  und  damit  zugleich  für  das  Problem  der 
Sprache  von  Bedeutung  sind. 


IV,  Intensitätsäußerungen  der  Affekte. 
1.  Ausdrucksbewegung  starker  Affekte. 

Die  erste  und  allgemeinste  Eigenschaft,  die  uns  die  Intensitäts- 
äußerungen der  Affekte  bieten,  ist  die,  daß  sie  sich  zwischen  den 
Gegensätzen  der  Erregungs-  und  Hemmungssymptome  be- 
wegen, wobei  die  letzteren  keineswegs  in  einer  bloßen  Abnahme  oder 


Ausdrucksbewegungen  starker  Affekte.  *  99 

Aufhebung  der  Erregung,  sondern,  ebenso  wie  diese,  in  einem  posi- 
tiven, nur  in  entgegengesetztem  Sinn  auf  die  Muskeln  einwirkenden 
Innervationsvorgange  bestehen.  Die  Bedingung  zu  diesem  gegen- 
sätzlichen Charakter  liegt  aber  darin,  daß,  wie  das  Herz,  so  auch  die 
äußeren  Körpermuskeln  im  Zustande  der  Affektlosigkeit  oder  un- 
merklicher Affektwirkungen  immer  noch  eine  dauernde  tonische 
Erregung  zeigen,  von  welchem  Indifferenzpunkt  aus  nun  Innervationen 
nach  entgegengesetzten  Richtungen   stattfinden   können. 

Am  reinsten,  verhältnismäßig  unvermischt  mit  Qualitäts-  und 
Vorstellungssymptomen,  lassen  sich  diese  Intensitätsäußerungen  bei 
sehr  starken  Affekten  beobachten,  weil  hier  durch  die  gesteigerten 
Erregungs-  oder  Hemmungswirkungen  alle  sonstigen  Erscheinungen 
verwischt  oder  verdeckt  werden.  Solche  reine  Intensitätssymptome 
können  wir  daher  als  „Ausdrucksbewegungen  starker  Affekte"  be- 
zeichnen. Der  Gegensatz  der  Erregung  und  Hemmung  ist  bei  ihnen 
stets  an  Gradunterschiede  der  Affekte  gebunden,  so  daß  wir  sie  wieder 
in  Intensitätsäußerungen  starker  und  in  solche  stärkster  Affekte 
unterscheiden  können.  Bei  jenen  wird  die  Erregungsinner vation  in 
die  Nähe  ihres  Maximums  gehoben;  bei  diesen  besteht  eine  mehr 
oder  minder  ausgebreitete  Hemmungsinnervation.  Die  Grenze,  wo 
die  erste  in  die  zweite  Form  übergeht,  wechselt  beträchtlich  nach  den 
besonderen  Bedingungen;  in  jedem  einzelnen  Falle  scheint  sie  aber 
eine  ziemlich  scharfe  zu  sein,  so  daß  plötzlich  die  höchste  Erregung 
in  eine  fast  momentane  und  oft  über  zahlreiche  Körpermuskeln  aus- 
gebreitete Hemmung  überspringt.  Am  deutlichsten  ist  das  beim 
Herzen  zu  verfolgen,  dessen  Pulsationen  bei  starken  Affekten,  wie 
Schreck,  Angst,  Wut,  zunächst  in  ihrer  Frequenz  enorm  gesteigert 
werden  können,  worauf  dann  sehr  bald  ein  plötzlicher  Abfall  der 
Höhe  der  Pulskurve  oder  selbst  Herzstillstand  eintritt.  Dieser  Er- 
scheinungsfolge entsprechen  vollkommen  die  eigentHchen  Ausdrucks- 
bewegungen, jedoch  mit  der  besonderen  Eigentümlichkeit,  daß  die 
Erregung  vorwiegend  eine  ,, klonische",  die  Hemmung  eine  „tonische" 
Innervation  ist.  Starke  Affekte  der  Freude,  des  Zornes,  der  Angst, 
der  Sorge  äußetn  sich  in  raschen  und  wechselnden  Bewegungen,  denen 
offenbar  ähnliche  explosive  Erregungsvorgänge  der  höheren  Nerven- 
zentren entsprechen.    Auch  der  Verlauf  der  Gefühle  und  Vorstellungen 

7* 


100  I^ie  Ausdrucksbewegungen. 

wird  nämlich  ein  beschleunigter,  oft  ein  so  stürmisch  beschleunigter, 
daß  darin  schon    für    das    unmittelbare  Erleben    der  Affekte    eine 
Nötigung  zu  plötzlichem  Stillstande  mit  der  Wirkung  eines  der  Be- 
wußtlosigkeit   sich    nähernden    Zustandes    oder    wirkliche:    Bewußt- 
losigkeit liegt.     Nach  dem  formalen  Charakter  der  Symptome  bietet 
sich  also  hier  auf  psychischer  Seite  genau  dasselbe  Bild,  das  die  Puls- 
kurve  in   den   obenerwähnten   verschiedenen   Phasen   ihres   Verlaufs 
zeigt.     Nur  in  dem  einen  Punkt  unterscheidet  sich  jener  psychische 
Verlauf,  daß  er  in  außerordenthch  mannigfaltiger  Weise  qualitativ 
gefärbt  sein  kann,  indem  ein  konkreter  Affekt  aus  seinen  besonderen 
Gefühlen  und  Vorstellungen  besteht,  die  ihn  von  jedem  andern,  formal 
noch  so  ähnlichen  unterscheiden,  während  die  Herzsymptome,  eben 
weil    sie    bloße    Intensitätserscheinungen    ohne     qualitative    Neben- 
bestimmungen sind,  nur  diesen  formalen  Verlauf  widerspiegeln.     Da- 
gegen zeigen  die  äußeren  Körperbewegungen  ein  mittleres  Verhalten : 
sie  sind,  wie  die  Herzbewegungen,  in  Energie  und  Geschwindigkeit 
nach  der  Stärke  des  Affekts  intensiv  abgestuft;  und  sie  lassen  zugleich 
zwar  nicht  die  konkrete  Besonderheit  des  Affekts,  aber  doch  seine 
allgemeine    Gefühlsrichtung    und    einzelne    besonders    hervortretende 
Vorstellungsbestandteile    deutlich    erkennen.       Diese    Erscheinungen 
gehören  jedoch  schon  zu  den  nachher  zu  erörternden   Qualitäts-  und 
Vorstellungsäußerungen,   die  auf  dieser  ersten   Stufe,  derjenigen  der 
,, starken   Affekte",   noch  die  reinen   Intensitätssymptome   begleiten. 
Solche  qualitative  Nebenbestimmungen  treten  nun  in  dem  Maße 
zurück,  als  sich  die  ,, starke"  der  ,, stärksten"  Affektsäußerung  nähert. 
Ist  sie  in  diese  übergegangen,  so  tritt  plötzlich  statt  der  bisher  vor- 
handenen Erregung  die  Hemmung  hervor,  in  deren  Folge  die  an  der 
Affektäußerung  beteiligten  Muskehi  nicht  nur  momentan  erschlaffen, 
sondern  für  eine  längere,  je  nach  der  Stärke  des  Affekts  wechselnde 
Zeit  im  erschlafften  Zustande  verharren,  um  dann  nicht  plötzlich, 
sondern  allmählich  wieder  den  normalen  Erregungstonus  zu  gewinnen. 
Alle  diese  Hemmungserscheinungen  werden   um  so  mehr,   je  inten- 
siver und  ausgebreiteter  sie  sind,  zu  bloßen,  gegenüber  dem  quali- 
tativen Inhalt  der  Affekte  indifferenten  Intensitätssymptomen.     Bei 
jenen  seltenen  äußersten  Graden  der  Gemütsbewegung,  wo  der  Körper 
jäh  und  blitzartig  von   einem  Hemmungsstoß  getroffen   zusammen- 


Beteiligung  einzelner  Muskelgebiete  an  den  Intensitätssymptomen.      101 


sinkt,  sind  so  die  Äußerungen  der  verscliiedensten  Affekte,  der  über- 
mächtigen Freude,  der  Wut,  der  höchsten  Angst,  des  Schrecks,  über- 
einstimmend. Kann  man  auch  das  Bild  des  Schrecks  als  diejenige 
Form  betrachten,  der  sich  die  andern  Gemütsbewegungen  zuerst 
nähern,  um  dann  ganz  in  sie  überzugehen,  so  ist  dies  doch  offenbar 
nur  darin  begründet,  daß  der  Schreck  vermöge  seiner  Entstehungs- 
bedingungen schon  bei  relativ  unbedeutenden  Ursachen  ein  Affekt 
von  stark  hemmendem  Charakter  ist.  Übrigens  ist  auch  diese  Gleich- 
förmigkeit der  Hemmungserscheinungen  nicht  auf  die  Ausdrucks- 
bewegungen beschränkt,  sondern  sie  erstreckt  sich  nicht  minder  auf 
die  psychische  Symptomenreihe,  und  die  plötzliche  Hemmung  des 
Vorstellungs-  und  Gefühlsverlaufs,  die  hier  eintritt,  läßt  der  Natur 
der  Sache  nach  ebenfalls  keine  qualitativen  Unterschiede  zu.  Man 
kann  daher  diese  Tatsache  mit  ihren  sämtlichen  Teilerscheinungen 
in  den  Satz  zusammenfassen:  alle  Affekte  gehen  beim  äußersten  Grad 
in  einen  einzigen  intensivsten  Affekt  von  schreckhaftem  Charakter 
über,  imd  ihr  innerer  Verlauf  wie  ihre  äußeren  Symptome  werden  von 
diesem  Punkt  an  gleichförmig. 


2.  Beteiligung  einzelner  Muskelgebiete  an  den 
Intensitätssymptomen. 

An  den  geschilderten  Erregungs-  und  Hemmungssymptomen 
pflegen  keineswegs  alle  Körpermuskeln  gleichmäßig  teilzunehmen. 
Abgesehen  von  dem  Herzen  und  den  kontraktilen  Wandungen  der 
Blutgefäße,  die  hier  als  innere  muskulöse  Organe  eine  eigenartige 
Stellung  einnehmen  (vgl.  unten  3),  sind  es  in  erster  Linie  die  Atmungs- 
sowie  überhaupt  solche  Muskeln,  die  gleich  ihnen  in  wechselnder 
Tätigkeit  geübt  sind,  welche  die  Intensitätssymptome  der  Affekte 
erzeugen.  Aus  der  Gesamtheit  der  äußeren  Körpermuskeln  treten 
dann  aber  wieder  drei  Gruppen  durch  die  besondere  symptomatische 
Bedeutung  ihrer  Wirkungen  hervor;  die  mimischen  des  Angesichts, 
die  pantomimischen,  die  der  Bewegung  der  Arme  und  Hände  dienen, 
und  endlich  die  der  Gehwerkzeuge.  Diese  drei  Gruppen  bilden  zu- 
gleich eine  Intensitätsskala,  indem  die  Bewegungen  um  so  mehr,  einer 


102  Diö  Ausdrucks bewegungen. 


je  weiter  voranstehenden  Gruppe  sie  angehören,  nicht  mehr  reine 
Intensitäts-  sondern  zugleich  Quahtäts-  und  Vor  Stellungsäußerungen 
sind.  So  spiegelt  sich  in  den  mimischen  Bewegungen  in  der  Regel 
nur  neben  den  vor  allem  hervortretenden  qualitativen  Gefühlsmerk- 
malen auch  der  Grad  des  Affekts.  Mehr  sind  schon  die  Gebärden 
der  Arme  und  Hände,  wenn  nicht  ein  aus  bestimmten  Ursachen  ent- 
stehender Trieb  nach  Mitteilung  hinzukommt,  Zeichen  gesteigerten 
Affekts.  Die  Muskeln  der  Gehwerkzeuge  aber  werden  im  allgemeinen 
erst  bei  den  stärksten  Affekten  in  Anspruch  genommen,  und  sie  sind 
dann  fast  reine  Intensitätssymptome.  Gerade  bei  den  stärksten  Affek- 
ten ist  die  hemmende  Wirkung  auf  diese  Muskeln,  mag  sie  sich  nun 
als  bloße  Empfindung  der  Ermattung  oder  als  lähmungsartige  Schwäche 
oder  endlich  bei  den  äußersten  Graden  als  wirkliche,  das  momentane 
Zusammenbrechen  des  Körpers  verursachende  Lähmung  äußern, 
die  subjektiv  wie  objektiv  am  meisten  hervortretende  Affekterschei- 
nimg. Übrigens  steigern  sich  bei  diesem  Hinzutreten  der  sonst  an 
der  Affektäußerung  unbeteiligten  Muskelgebiete  immer  auch  die  bei 
minder  ausgebreiteten  Wirkungen  vorhandenen  Symptome,  und 
diese  gewinnen  die  nämliche,  mit  der  Stärke  des  Affekts  zunehmende 
Unabhängigkeit  von  der  besonderen  Qualität  der  seelischen  Zustände. 
So  können  schon  bei  starken,  aber  noch  nicht  übermäßigen  Affekten 
die  heftigeren  mimischen  und  noch  mehr  die  pantomimischen  Be- 
wegungen die  besonderen  Färbungen  der  Gemütsvorgänge  zurück- 
treten lassen;  und  bei  den  stärksten  Affekten  ist  namentlich  die 
lähmungsartige  Erschlaffung  der  Gesichtsmuskeln  eine  charakteristische 
Teilerscheinung  der  allgemeinen  Hemmung. 

Im  Gegensatze  zu  diesen  intensivsten  Affektäußerungen,  bei 
denen  alle  besonderen  Nuancen  des  Ausdrucks  verschwinden,  bietet 
nun  bei  schwächeren  Gemütsbewegungen  speziell  das  Gebiet  der 
mimischen  Gebärden  nicht  selten  das  Schauspiel  einer  mannig- 
faltigen Verbindung  verschiedener  und  selbst  entgegengesetzter 
Symptome  —  eine  Folge  jener  weitgehenden  Sonderung  der  einzelnen 
Inner vationsgebiete,  die  vor  allem  dem  Nervus  facialis  eigen  ist  (S.  76). 
Dem  entspricht  es  ganz,  daß  die  um  die  einzelnen  Sinnesorgane  ge- 
lagerten Muskeln,  insbesondere  die  um  Auge  und  Mund,  in  hohem 
Grad  unabhängig  voneinander  innerviert  werden  können,   und  daß 


Vasomotorische  Intensitätssymptome.  103 


niciit  selten  selbst  die  symmetrisclien  Muskelregionen  beider  Gesichts- 
bälften  verschiedene,  ja  entgegengesetzte  Erscheinungen  zeigen. 
In  den  Bereich  der  Intensitätsäußerimgen  fallen  jedoch  diese  Wir- 
kungen nur  insofern,  als  sie  in  Kombinationen  von  Erregungs-  und 
Hemmungssymptomen  bestehen,  die  immer  zugleich  qualitative 
Merkmale  gewisser  gemischter  Affekte  sind.  So  ist  die  plötzliche 
Hemmung  der  Innervation  der  Wangen-  imd  Mundmuskeln  ein  sehr 
ausgeprägter  Zug,  der  bei  manchen  Personen  jede  auch  nur  leiseste 
Regung  eines  deprimierenden  oder  erregenden  Affekts  begleitet,  also 
bei  Sorge,  Kummer  ebensowohl  wie  bei  Erstaunen,  Verwunderung, 
Neugierde  vorkommt,  und  der  mit  lebhaften  und  je  nach  den  beson- 
deren Bedingungen  wieder  qualitativ  nuancierten  Erregimgssym- 
ptomen  der  das  Auge  und  seine  Umgebung  bewegenden  Muskeln  ver- 
bunden zu  sein  pflegt.  Auf  solche  Weise  reichen  diese  kombinierten 
Erscheinungen,  in  denen  sich  der  gemischte  oder  kontrastierende 
Charakter  gewisser  Affekte  spiegelt,  bereits  in  das  Gebiet  der  Quali- 
tätsäußerungen hinüber. 


3.  Vasomotorische  Intensitätssymptome. 

Zu  den  an  den  äußeren  Körpermuskeln  hervortretenden  Sym- 
ptomen bilden  die  oben  (S.  52  ff.)  erörterten  Innervationsänderungen 
des  Herzens  und  der  kleineren  arteriellen  Gefäße  Begleiterscheinungen, 
die  auch  insofern  eine  eigentümliche  Stellung  einnehmen,  als  sie, 
gegenüber  der  in  der  Regel  gemischten  Natur  namentlich  der  mi- 
mischen und  der  pantomimischen  Bewegungen,  durch  alle  Stufen 
der  Affektäußerimg  hindurch  den  Charakter  reiner  Intensitäts- 
symptome bewahren.  Dabei  ist  allerdings  dieser  Ausdruck  nicht 
so  zu  verstehen,  als  ob  nicht  auch  hier  aus  der  eigentümlichen  Kombis 
nation  der  Erscheinungen  irgendwie  auf  die  Qualität  des  Affekts 
zurückgeschlossen  werden  könnte  Vielmehr  haben  wir  ja  speziell 
für  die  Herzbewegimgen  solche  Beziehungen  kennen  gelernt.  Eben- 
so ist  das  vasomotorische  Symptom  des  Errötens  in  der  eigentüm* 
liehen  Beschränkung,  in  der  es  bei  der  Scham  mid  der  Verlegenheit 
vorkommt,  für  diese  Affekte  kennzeichnend.    Trotzdem  ist  es  äugen- 


104  Die  Ausdrucksbewegungen. 


fällig,  daß  diese  Innervationsänderungen  nicht  in  ähnlicher  Weise 
eindeutige  Merkmale  der  Qualität  bestimmter  Gefühle  und  Affekte 
sind  wie  die  Mimik  des  Mundes  imd  des  Auges,  oder  wie  in  anderem 
Sinn,  in  der  Beziehung  auf  irgendwelche  Vorstellungen,  die  Gebärden 
der  Arme  und  Hände.  Der  Grund  dieses  Unterschieds  liegt  offenbar 
darin,  daß  es  immer  nur  eine  eigentümliche  Verbindung  an  sich  rein 
intensiver  Symptome  ist,  die  den  vasomotorischen  Erscheinungen 
den  Wert  von  qualitativen  Merkmalen  verleihen  kann.  Wir  werden 
daher  zu  dem  Schluß  gedrängt,  daß  die  vasomotorischen  Erregungen 
eine  qualitative  Bedeutung  immer  erst  sekundär,  durch  die  beson- 
deren Intensitätsmerkmale,  die  bestimmte  Gefühle  und  Affekte  in 
ihrem  zeitlichen  Verlauf  darbieten,  gewinnen  können.  Mit  andern 
Worten:  die  Herz-  und  Gefäßinnervation  bleiben  reine  Intensitäts- 
symptome, aber  die  Verteilung  der  Intensitätsschwankungen 
der  Gefühle  in  der  Zeit  ist  zugleich  für  jede  qualitative  Klasse 
von  Gefühlen  eine  besondere,  im  wesentlichen  ihr  allein  eigentüm- 
liche, und  die  aus  dieser  Verteilung  entspringenden  Merkmale  be- 
sitzen so  neben  ihrem  intensiven  einen  qualitativen  Wert. 

Betrachtet  man  unter  diesem  Gesichtspunkt  die  vasomotorischen 
Erscheinungen,  so  springt  in  die  Augen,  daß  sie  sich  sämtlich  zu- 
nächst auf  die  zwei  gegensätzlichen  Reizwirkungen  zurückführen 
lassen,  die  überhaupt  alle  Intensitätsäußerungen  beherrschen:  auf 
Erregung  und  Hemmung.  Beide  in  ihrem  einfachen  Gegensatz 
treten  bei  der  Innervation  der  Gefäße  in  der  Verengerung  und  Er- 
weiterung des  Gefäßlumens  hervor,  jene  ein  Erregungs-,  diese  ein 
Hemmungssymptom.  Verwickelter  verhält  es  sich  bei  der  Herz- 
innervation,  wo  infolge  der  besonderen  Einrichtungen  des  regu- 
latorischen Nervensystems  Erregung  wie  Hemmmig  in  zwei  Formen 
in  die  Erscheinung  treten  können:  erstens  als  Zu-  und  Abnahme  der 
Höhe  der  Pulswelle;  zweitens  als  Beschleunigmig  und  Verlangsamung 
(Verkürzung  und  Verlängerung)  derselben.  Hiernach  werden  wir 
speziell  für  die  Herzerscheinungen  voraussetzen  dürfen,  daß  sie,  als 
reine  Intensitätssymptome  aufgefaßt,  in  doppelter  Weise  für  die 
quantitativen  Eigenschaften  der  Affekte  charakteristisch  sind:  erstens 
in  der  Beschaffenheit  der  einzelnen  Herzkontraktionen  oder  der  ihnen 
entsprechenden    Pulswellen    für    die    Intensität    des    Gefühlsinhalts; 


Vasomotorische  Intensitätssymptome.  105 


und  zweitens  in  dem  zeitlichen  Verlauf  der  Pulsbewegungen  für  die 
extensiven  zeitlichen  Eigenschaften  der  Gemütsbewegung.  In  beiden 
Beziehungen  oszilliert  dann  wieder  die  Veränderung  zwischen  den 
Gegensätzen  der  Erregung  und  Hemmung;  und  es  können  nicht  bloß 
diese  intensiv  und  extensiv  zusammentreffen,  sondern  es  kann  sich 
auch  eine  intensive  Erregung  mit  einer  extensiven  Hemmung  ver- 
binden, und  ebenso  umgekehrt.  Nun  ist  es  augenfällig,  daß  unter  den 
drei  allgemeinen  Gefühlsdimensionen,  die  uns  die  psychologische 
Analyse  der  Affekte  unterscheiden  ließ,  die  der  Erregung  und  Be- 
ruhigung (/  E  und  /  D  Fig.  1  S.  50)  dem  Gegensatz  der  physiolo- 
gischen Erregungs-  und  Hemmungsinnervation  am  unmittelbarsten 
entspricht.  Scheinen  doch  in  diesem  Fall  die  letzteren  nur  die  auf 
das  physische  Gebiet  übertragenen  Kontraste  der  psychischen  Zu- 
stände selbst  zu  sein.  So  ist  denn  auch  in  intensiver  Beziehung  un- 
zweifelhaft die  gesteigerte  psychische  Erregung  durch  Erhöhung, 
die  herabgesetzte  durch  Erniedrigung  der  Pulswelle  gekennzeichnet, 
wogegen  analoge  extensive  Innervationsänderungen,  Beschleunigung 
und  Verlangsamung  der  Herzbewegungen,  erst  bei  den  höheren  Graden 
gehobener  und  deprimierter  Stimmung  hinzuzutreten  scheinen.  Diese 
zu  den  physiologischen  Symptomen  in  nächster  Beziehung  stehen- 
den Gefühlsrichtungen  der  Erregung  und  Beruhigung  sind  aber  zu- 
gleich diejenigen,  die  in  der  Verbindung  der  Gefühle  zu  einem  Affekt- 
verlauf die  wesentlichsten  Intensitäts-  und  Verlaufsunterschiede 
der  Affekte  konstituieren.  Hierdurch  wird  es  begreiflich,  daß  die  ver- 
gleichende Betrachtung  der  Affekte  immer  wieder  zu  Einteilungen 
geführt  worden  ist,  die,  wie  die  Ausdrücke  sthenisch  und  asthenisch, 
exzitierend  und  deprimierend,  auf  solche  von  der  sonstigen  Beschaffen- 
heit der  Gefühlsinhalte  unabhängige  Gegensätze  hinweisen,  und  die 
infolgedessen  ebensowohl  auf  die  physischen  wie  auf  die  psychischen 
Symptome  bezogen  werden  können  —  ein  sprechendes  Zeugnis  da- 
für, daß  in  dieser  Hinsicht  beide  eine  zusammengehörige  Einheit 
bilden.  Die  physische  Erregung  oder  Hemmung  ist  daher  ein  unmittel- 
bares Maß  für  die  in  der  Richtung  der  erregenden  und  hemmen- 
den Gefühle  liegenden  Komponenten  der  Affekte.  Bei  den  andern 
Gefühlsrichtungen  verhält  sich  dies  insofern  abweichend,  als  sich 
hier  die  intensiven  und  die  extensiven  Wirkungen  in  verschiedener 


106  Die  Ausdrucksbewogungen. 


Weise  verbinden  können.  Mit  jeder  solchen  Kombination  stellt  aber 
die  besondere  Qualität  des  Gefühls  derart  in  Beziehung,  daß  der 
formale  Charakter,  den  die  Gefühle  dem  Affekt  mitteilen,  zum  Aus- 
druck kommt.  Zugleich  zeigt  es  sich  hierbei,  daß  eben  dieser  formale 
Charakter  es  ist,  der  den  erregenden  und  hemmenden  Gefühlen  in 
ihrer  Bedeutung  für  den  Affektverlauf  eine  Art  Suprematie  über 
die  andern  Richtungen  verleiht,  so  daß  auch  diese  nach  ihrer  formalen 
Natur  in  verschiedener  Weise  in  Erregungs-  und  Hemmungskompo- 
nenten zerlegt  werden  können.  Insofern  bei  einer  solchen  formalen 
Analyse  der  qualitative  Inhalt  der  Gefühle  unberührt  bleibt,  ent- 
spricht dieses  Ergebnis  der  allgemeinen  Beziehung,  die  sich  überall 
zwischen  den  psychischen  Vorgängen  und  ihren  physischen  Parallel- 
erscheinungen findet.  Demnach  wird  man  die  gesteigerte,  aber  ver- 
langsamte Pulswelle  bei  Lustgefühlen  daraus  ableiten  können,  daß 
die  formale  Affektwirkung  dieser  Gefühle  in  einer  Steigerung  und  zu- 
gleich in  einem  Festhalten  der  Stimmung  an  dem  lusterregenden  Ein- 
druck besteht:  daher  die  Verbindung  intensiver  Steigerung  mit  ex- 
tensiver Verzögerung  des  Verlaufs.  Von  entgegengesetztem  Einfluß 
ist  der  Unlust  Charakter  der  Gefühle.  Intensiv  entsteht  hier  Hem- 
mung der  Erregung,  extensiv  beschleunigter  Verlauf,  der  sich  in  der 
konkreten  Aufeinanderfolge  der  Vorstellungen  imd  Affekte  als  ein 
Fliehen  vor  den  unerfreulichen  Eindrücken  darstellt.  Endlich  bei 
den  Spannungsgefühlen  sind  intensiv  wie  extensiv  nur  Hemmungen 
wirksam,  wie  wir  das  bei  der  gespannten  Erwartung  an  der  vermin- 
derten Reizbarkeit  für  äußere  Eindrücke  und  dem  verlangsamten 
Vorstellungsverlauf  beobachten.  Bei  der  Lösung  der  Spannung 
bricht  dagegen  in  beiden  Formen  die  Umkehrung  zu  gesteigerter 
Erregung  durch,  die  an  verstärkter  und  beschleunigter  Herzaktion 
und  auf  der  psychischen  Seite  an  den  rasch  zuströmenden  und  stark 
erregenden  neuen  Bewußtseinsinhalten  zu  erkennen  ist  (vgl.  Fig.  2 — 7, 
S.  53). 

Wesentlich  einfacher  gestaltet  sich  die  Innervation  der  Blut- 
gefäße, da  sie  bloß  zwischen  den  Zuständen  der  Kontraktion  und 
der  Dilatation  durch  Hemmung  der  dauernden  Tonuserregung  wechselt, 
wobei  jedoch  die  verschiedene  Ausbreitung  der  Symptome  eine  diesem 
Gebiet  eigentümliche   extensive  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen 


Gefühle  als  Grundlagen  der  Qualitätssymptome.  107 


bewirken  kann.  Zugleich  sind  es,  vielleicht  im  Zusammenhang  mit 
der  überwiegenden  Bedeutung  der  mimischen  Muskeln  für  den  Aus- 
druck der  Affekte,  die  Blutgefäße  des  Angesichts,  die  am  empfind- 
lichsten auf  Reize  jeder  Art  reagieren.  Erröten  und  Erblassen 
bilden  so  die  zwei  den  entgegengesetzten  Formen  der  erregenden  und 
hemmenden  Affekte  entsprechenden  Symptome.  Ihre  Ausbreitung 
folgt  im  allgemeinen  dem  Gesetze,  daß  sich  schwächere  Reize  er- 
regender wie  hemmender  Art  zunächst  nur  auf  die  vasomotorischen 
Nerven  der  Wangen  erstrecken,  worauf  dann  erst  bei  stärkeren  Rei- 
zmigen  dieselben  Wirkungen  auf  die  nähere  Umgebung  dieses  Ge- 
biets, wie  Stirn,  Nacken,  Hals,  endlich  in  seltenen  Fällen  und  nur  bei 
den  stärksten  Hemmungswirkungen  auch  auf  andere  Teile  sich  aus- 
dehnen: so  auf  die  Kopfhaut,  wo  nun  infolge  der  Kontraktion  der 
kleinen  Gefäßmuskeln  die  Haare  sich  sträuben. 


V.  Qualitätsäußerungen   der  Affekte. 

1.  Gefühle  als  Grundlagen  der  Qualitätssymptome. 

Mit  den  Bewegungs-  imd  Hemmungserscheinungen,  welche  die 
Stärke  des  Affekts  messen,  verbinden  sich  in  der  Regel  untrennbar 
charakteristische  Ausdrucksbewegungen  von  beschränkterem  Um- 
fang, in  denen  sich  die  Qualität  des  Affekts  spiegelt.  Da  diese  Quali- 
tät ganz  und  gar  auf  dem  Gefühlsinhalte  beruht,  so  sind  es  die  Grund- 
formen der  Gefühle,  nach  denen  sich  hier  die  hauptsächlichsten 
Ausdruckserscheinungen  scheiden.  Von  den  früher  hervorgehobenen 
sechs  Hauptqualitäten  nehmen  aber  nicht  alle  in  gleicher  Weise  an 
dieser  qualitativen  Charakteristik  der  Affekte  teil.  Dies  hängt  damit 
zusammen,  daß  der  Affekt  gegenüber  dem  einfachen  Gefühl  ein  Prozeß 
zusammengesetzter  Art  ist,  auf  dessen  Eigenschaften  daher  auch  die 
einzelnen  Elemente,  die  in  ihn  eingehen,  einen  verschiedenen  Ein- 
fluß ausüben.  In  der  Tat  haben  uns  auf  einen  solchen  Unterschied 
die  obigen  Betrachtungen  über  die  Intensitätsäußerungen  bereits 
geführt.  Die  Gefühlsgegensätze  der  Erregung  und  Beruhigung  be- 
sitzen nämlich,  wie  sich  dort  zeigte,  für  den  ganzen  Verlauf  des  Affekts 


108  Die  Ausdrucksbewegungen. 


und  für  die  an  diesen  Verlauf  zunächst  gebundenen  Intensitätssym- 
ptome eine  so  vorwiegende  Bedeutung,  daß  diese  für  uns  zugleich  Merk- 
male sind,  nach  denen  wir  die  Gefühle  der  Erregung  und  Hemmung 
selbst,  die  an  einem  Affektverlauf  teilnehmen,  bemessen.  Diese  Ge- 
fühle nehmen  daher  mit  Rücksicht  auf  den  Affektverlauf  und  seine 
körperlichen  Begleiterscheinungen  eine  eigentümliche  Sonderstellung 
ein.  Sie  sind  qualitative  wie  die  andern,  aber  als  Bestandteile  eines 
Affekts  sind  sie  außerdem  diejenigen  Gefühlselemente,  die  dessen 
formale  Eigenschaften,  seine  Energie  und  Geschwindigkeit,  und  da- 
mit die  Energie  und  den  Verlauf  seiner  physischen  Symptome  un- 
mittelbar bestimmen,  während  die  übrigen  Gefühlsrichtungen  nur 
indirekt,  durch  den  Einfluß,  den  sie  auf  den  exzitierenden  oder  de- 
primierenden Charakter  des  Affekts  äußern,  auch  für  seine  formalen 
Eigenschaften  in  Betracht  kommen.  Demnach  sind  aber  umgekehrt 
hauptsächlich  die  beiden  andern  Gefühlsdimensionen,  der  Lust  und 
Unlust,  der  Spannung  undLösung,  für  die  spezifischen  Quali- 
tätssymptome bestimmend.  Sie  geben  sich  durch  Ausdrucks- 
bewegungen kund,  die  an  sich  freilich  gleichfalls  keine  qualitativen 
Merkmale  sind,  —  solches  ist  durch  die  Natur  aller  Affektäußerungen 
als  Bewegungserscheinungen  ausgeschlossen.  Wohl  aber  gewinnen 
diese  Bewegungen  durch  ihre  eigentümliche  lokale  Beschränkung 
und  Verteilung  für  unsere  Auffassung  der  Affektäußerungen  durch- 
aus den  Wert  qualitativer  Symptome.  Hierbei  lassen  nun  natürlich 
auch  diese  Erscheinungen  mannigfache  intensive  Abstufungen  zu. 
Doch  solange  sie  eine  vorwiegend  qualitative  Bedeutung  bewahren, 
beschränken  sie  sich  auf  bestimmte,  ihnen  zugeordnete  Muskelgebiete. 
Soweit  sie  das  nicht  tun,  werden  sie  zugleich  Symptome  einer  Er- 
regung oder  Hemmung,  und  sie  verbinden  sich  dann  mit  ausgebreite- 
teren  und  unbestimmteren  Intensitätsäußerungen. 


2.  Mechanismus  der  mimischen  Ausdrucksbewegungen. 

Die  in  solcher  Weise  den  genannten  Richtungen  der  Gefühle 
zugehörigen  spezifischen  Qualitätsäußerungen  der  Affekte  sind  in 
ihrer  ursprünglichen  und  reinen  Form  ganz  und  gar  beschränkt  auf 


Mechanismus  der  mimischen  Ausdrucksbewegungen.  109 

die  Antlitzmuskeln.  Der  allgemeine  Grund  dieser  Bevorzugung 
ist  augenfällig:  jene  Bewegungen  stehen  in  engster  Beziehung  zu  den 
am  Angesicht  vereinigten  Organen  der  vier  sogenannten  Spezial- 
sinne.  Unter  diesen  Organen  sind  aber  wieder  Auge  und  Mund  die- 
jenigen, die  durch  die  Ausbildung  der  ihre  Funktionen  unterstützen- 
den Muskulatur  die  größte  Mannigfaltigkeit  charakteristisch  ver- 
schiedener Bewegungen  zulassen.  Die  Muskeln  des  äußeren  Gehör- 
organs sind  beim  Menschen  verkümmert,  so  daß  ihre  Beteiligung 
an  den  mimischen  Bewegungen  ganz  hinwegfällt.  Wo  die  Richtung 
auf  Schalleindrücke  Bewegungen  herausfordert,  da  gehen  diese  von 
der  Gesamtmuskulatur  des  Kopfes  aus:  solche  gehören  dann  aber 
wesentlich  schon  in  das  Gebiet  der  Vorstellungsäußerungen  der  Affekte. 
Eine  stärker  hervortretende  Rolle  spielt  die  Nase  bei  den  mimischen 
Gefühlsäußerungen.  Im  ganzen  ist  aber  doch  auch  diese  Rolle  nur 
eine  sekundäre,  indem  sich  mit  den  Ausdrucksbewegungen  des  Mundes 
entsprechende  Wirkungen  der  Nasenmuskeln,  namentlich  Erweiterung 
und  Verengerung  der  Nasenöffnung,  Hebung  und  Senkung  der  Nasen- 
flügel, verbinden. 

Bei  Mund  und  Auge  ist  nun  die  typische  Anordnung  der  um- 
gebenden Muskeln  eine  wesentlich  übereinstimmende  (Fig.  9).  Nur 
ist  die  äußere  Muskulatur  des  Mundes  reicher  und  feiner  gegliedert. 
Analog  verhalten  sich  bei  beiden  Organen  zunächst  die  in  dichten 
und  fest  mit  der  Haut  verwachsenen  Bündeln  verlaufenden  Schließ- 
muskeln der  Mund-  und  der  Augenspalte  (Orbicularis  oris  und  oculi). 
Indem  diese  Muskeln  in  beiden  Fällen  der  festen  Anheftungspunkte 
ermangeln,  und  indem  ganz  besonders  bei  ihnen  die  früher  (S.  75  f.) 
für  die  Gesichtsmuskeln  im  allgemeinen  hervorgehobene  Eigenschaft 
lokal  beschränkter  und  mannigfach  kombinierbarer  Reizbarkeit  der 
einzelnen  Faserbündel  hervortritt,  ist  jeder  von  ihnen  für  sich  allein 
schon  verschiedener  Nuancen  des  Ausdrucks  fähig.  Daneben  besitzt 
dann  der  Mund  noch  ein  vollkommen  symmetrisch  ausgebildetes 
System  geradlinig  ziehender  Muskeln,  die  teils  die  Oberlippe  heben, 
die  Unterlippe  senken  (Levator  und  Quadratus  labii  superioris,  Qua- 
dratus  labii  inf  erioris),  teils  im  selben  Sinn  auf  die  Mimdwinkel  und  die 
an  sie  angrenzenden  Gebiete  beider  Lippen  einwirken  (Zygomaticus, 
Risorius    Santorini,   Triangularis).      Demgegenüber    bieten    die    das 


110 


Die  Ausdiiicksbewegungen. 


Auge  umgebenden  Antlitzmuskeln  eine  wesentlich  einfachere  und  in- 
sofern eine  minder  symmetrische  Anordnung,  als  nur  den  Hebemuskeln 
der  Oberlippe  hier  in  den  breiten  Faserzügen  des  Stirnmuskels  (Fron- 
talis) imd  in  dem  in  der  Tiefe  der  Ringmuskelschichten  liegenden 
(darum  in  der  Fig.  nicht  sichtbaren)  Heber  des  oberen  Augenlids 
sowie  in  dem  dem  Mundwinkelheber  entsprechenden  „Stimrunzler" 


Auricularis 


Buccinator- 


Fronialis 

\ 

\t"':"::"" 

■  Orhicular.  oculi 

Mi 

■'mm Borsalis  narium 

j>-4ii... Levfitor  alae  nasi 

Triangwlaris  nasi 

^.^J-'""-"""f Levaior  lab,  sup. 

m^^^^^^^^"^^ Quadrat,  l.  s. 

Orhicular.  oris 

filt^Ti"'^  '  Z^ffontatictis 

'  'fe, 

,  ///l ■-'■•■—  Bisorius  Santorini 

'[/[ß— Quadratus  lab.  inf. 

Triangiüaris 


Fig.  9.    Übersicht  der  mimischen  Muskulatur, 


{Corrugator  superciliorum)  ähnliche  Muskeln  gegenüberstehen,  während 
am  äußeren  Augenwinkel  solche  fehlen.  Dafür  bilden  hier  die  Be- 
wegungen des  Augapfels  selber,  die  unter  der  Wirkung  der  in  der 
Augenhöhle  liegenden,  das  Auge  um  seinen  Mittelpunkt  drehenden 
Muskeln  erfolgen,  einen  um  so  wichtigeren  Bestandteil  des  mimischen 
Ausdrucks.  An  der  Nase  treten  als  oberflächliche  mimische  Muskeln 
ein  die   Nasenöffnung  verengender   (Compressor   oder   Triangularis), 


Mimische  Symptome  der  Lust-  und  ünlustgefühle.  111 


sodann  der  den  unteren  Teil  der  Nase  emporhebende  Nasenrücken- 
muskel (Dorsalis  narium),  und  endlich  ein  Heber  des  Nasenflügels 
(Levator  alae  nasi)  hervor,  welchem  letzteren  in  der  Tiefe  ein  Nieder- 
zieher  des  Nasenflügels  und  ein  solcher  der  Nasenscheidewand  gegen- 
überstehen. « 


3.  Mimische  Symptome  der  Lust-  und  ünlustgefühle. 

Unter  den  durch  dieses  System  der  Antlitzmuskeln  erzeugten 
Bewegungen  sind  es  in  erster  Linie  die  Mundbewegungen,  die 
teils  für  sich  allein,  teils  mit  unterstützender  Wirkung  der  das  Auge 
und  die  Nase  umgebenden  Muskeln  die  Gefühle  der  Lust  und  Un- 
lust in  ihren  mannigfachen  Färbungen,  Verbindungen  und  Inten- 
sitätsabstufimgen  ausdrücken.  Die  leighte  Verständlichkeit  dieses 
Mienenspiels  beruht  vor  allem  darauf,  daß  der  von  der  Mimik  des 
Mundes  angegebene  Grundton  des  Ausdrucks  in  nichts  anderem  als 
in  einer  Wiedergabe  jener  Bewegungen  besteht,  die  bei  lust-  oder 
unlusterregenden  Geschmackseindrücken  reflektorisch  erfolgen. 
Schon  beim  neugeborenen  Kinde  sind  sie  auf  die  Einwirkung  süßer, 
saurer  und  bitterer  Geschmacksreize  zu  beobachten,  unter  Bedingungen 
also,  unter  denen  es  noch  zweifelhaft  ist,  ob  die  Eindrücke  bereits 
Lust-  oder  Ünlustgefühle  erregen  können,  wo  aber  jedenfalls  die  Be- 
wegungsreaktionen selbst  als  reflektorische,  in  der  vererbten  Anlage 
der  zugehörigen  niederen  Zentren  begründete,  angesehen  werden 
müssen^).  Auch  wenn  wir  an  uns  selbst  die  mimischen  Wirkungen 
der  Geschmacksreize  prüfen,  beobachten  wir  übrigens,  daß  diese 
Ausdrucksbewegungen  ohne  unser  Wissen  und  Wollen  erfolgen,  und 
daß  es  außerordentlich  schwer  wird,  sie  willkürlich  zu  unterdrücken. 
Ebenso  verbinden  sich  die  durch  diese  Bewegungen  hervorgerufenen 
Tastempfindungen  so  innig  mit  den  zugehörigen  Geschmackserregungen, 
daß  beide  bei  jeder  Reizqualität  eine  jener  festen  Assoziationen  bilden, 
von  denen  das  eine  Glied  das  andere  in  das  Bewußtsein  ruft.     Mag 


^)  A.  Kußmaul,  Untersuchungen  über  das  Seelenleben  des  neugeborenen 
Menschen,  1859,  S.  16  ff.  Genzmer,  Die  Sinneswahmehmungen  des  neugeborenen 
Menschen,  1892.     Vgl.  oben  S.  44  f. 


112  Die  Ausdrucksbewegungen. 


aber  auch  diese  Assoziation  noch  so  sehr  in  den  Reflex  Verbindungen, 
die  im  Laufe  der  generellen  Entwicklung  entstanden  sind,  mechanisch 
vorgebildet  sein,  so  läßt  sich  doch  kaum  zweifeln,  daß  ursprünglich 
alle  diese  mimischen  Bewegungen  Triebbewegungen  waren,  die,  durch 
die  Sinnesreize  hervorgerufen;  der  lust-  oder  unlusterregenden  Be- 
schaffenheit derselben  entsprachen.  Für  diese  Beurteilung  ist  be- 
sonders die  Tatsache  maßgebend,  daß  die  Papillen  der  Zunge,  die  auf 
die  verschiedenen  Geschmacksstoffe  mit  verschiedener  Empfindlich- 
keit reagieren,  derart  über  die  Oberfläche  dieses  Organs  verteilt  sind, 
daß  an  der  Zungenspitze  vorzugsweise  dicht  die  für  süße  Eindrücke 
reizbaren  Elemente  liegen,  die  durch  saure  Reize  erregbaren  in  größerer 
Menge  längs  der  beiden  Zungenränder,  und  die  für  bittere  Stoffe  emp- 
findlichen an  der  oberen  Fläche  der  Zungenbasis.  Die  letztere  Pa- 
pillenregion  scheint  auch  das  Salzige  am  stärksten  zu  empfinden^). 
Nun  stehen  die  mimischen  Reflexe,  die  bei  der  Einwirkung  süßer, 
saurer  und  bitterer  oder  stark  salziger  Geschmacksreize  beobachtet 
werden,  zu  den  genannten  drei  Regionen  des  Geschmacksorgans  in 
deutlicher  Beziehung.  Dies  spricht  sich  schon  darin  aus,  daß  die  Be- 
wegungen jedesmal  solche  Teile  der  Mundmuskulatur  ergreifen,  die 
den  genannten  Regionen  benachbart  sind.  Daneben  ist  aber  auch 
eine  teleologische  Beziehung  dieser  Bewegungen  zu  den  Geschmacks- 
reizen nicht  zu  verkennen.  Sie  beruht  darauf,  daß  das  Süße  durch- 
weg ein  angenehmer,  das  Bittere  ebenso  allgemein  ein  unangenehmer 
Reiz  ist,  während  salzige  und  saure  Eindrücke  mehr  indifferent  in 
der  Mitte  stehen,  jedenfalls  aber  bei  erheblicher  Intensität  ebenfalls 
unangenehm  sind.  Dem  entspricht  es  nun,  daß  die  Reflexe  auf  Süß 
und  Bitter  den  ausgesprochensten  Gegensatz  bilden.  Der  süße  Ein- 
druck erzeugt  eine  Bewegung  der  Zunge  und  der  Lippen,  welche  die 
vollkommenste  Berührung  der  reizbaren  Stellen  des  Geschmacks- 
organs mit  dem  Reiz  vermittelt.  Äußerlich  tritt  dabei  die  gleich- 
mäßige Zusammenziehung  des  den  Mund  umgebenden  Ringmuskels 
deutlich  hervor  (Fig.  10).  Umgekehrt  bewirkt  der  bittere  Reiz  re- 
flektorisch   eine    Senkung   der   Zungenwurzel   und   gleichzeitig   eine 


1)  D.  P.  Hänig,  Phil.  Stud.,  Bd.  17,  1901,  S.  576  ff.,  Physiol.  Psych.  «  II, 
S.  62  f.,  III,  S.  264  f. 


Mimische  Symptome  der  Lust-  und  Unlustgefühle. 


113 


Hebung  de  5  weichen  Gaumens,  Lageänderungen,  bei  denen  der  bittere 
Stoff  möglicbst  wenig  mit  der  empfindlichen  Geschmacksregion  in 
Berührung  kommt.  Hierbei  erzeugt  die  erste  jener  inneren  Bewegungen 
als  Folgewirkung  ein  Herabziehen  des  Mundwinkels,  die  zweite  ein 
Emporziehen  des  Nasenflügels  und  des  mittleren  Teiles  der  Ober- 
lippe durch  gleichzeitige  Aktion  der  nach  entgegengesetzter  Richtung 
wirkenden  Muskeln  (Fig.  11).  Der  mimische  Eeflex  des  Sauern  steht 
zwischen  diesen  beiden  Fällen  in  der  Mitte.  Er  besteht  in  einer  Er- 
weiterung der  Mundspalte,  die  geringer  bei  mäßigen,  sehr  stark  bei 


Fig.  10.    Mimik  des  Süßen. 


Fig.  11.    Mimik  des  Bittern. 


intensiven  Reizen  ist  und  demnach  im  ersten  Fall  eine  vollkommene 
Berührung  des  Reizes  mit  den  empfindlichen  Zungenrändern  mög- 
lich macht,  im  zweiten  dagegen  einer  beschleimigten  Vorüberbewegung 
an  diesen  Teilen  zureichenden  Raum  läßt.  Bei  mäßigen  Reizen  bleibt 
dabei  die  Mundspalte  geschlossen;  bei  intensiveren  wird  sie  durch 
die  Aktion  der  Heber  der  Oberlippe  geöffnet,  während  sich  zugleich 
die  Mundwinkel  etwas,  jedoch  bedeutend  weniger  als  bei  der  Einwirkung 
bitterer  Geschmacksreize,  senken  (Fig.  12). 

Natürlich  läßt  sich  nicht  annehmen,  daß  alle  diese  Bewegungen 
ursprünglich  oder  überhaupt  jemals  auf  Grund  willkürhcher  Über- 
legung ausgeführt  worden  seien.  Aber  sobald  man  zugibt,  daß  ihre 
zweckmäßige  Beziehung  zur  Empfindlichkeit  der  verschiedenen  Re- 

Wundt,  Völkerpsychologie.    I.    4.  Aufl.  " 


114  Die  Ausdrucksbewegungen. 


gionen  der  Zunge  irgendeinmal  entstanden  sein  muß,  so  ist  es  im 
höclisten  Maß  unwahrscheinlicli,  daß  eine  solche  Anpassung  aus  einer 
bloßen  Häufung  von  Zufälligkeiten  hervorgegangen  sein  sollte.  Viel- 
mehr wird  die  nächstliegende  Annahme  auch  hier  die  bleiben,  daß 
aus  den  ursprünglich  unbestimmter  begrenzten,  durch  Sinnesreize 
hervorgerufenen  Triebbewegungen  diejenigen  sich  begrenzt  und  be- 
festigt haben,  die  im  einen  Fall,  bei  lusterregenden  Eindrücken, 
der  Aufnahme  des  Reizes  günstig  sind,  im  andern  Fall,  bei  un- 
lusterregenden, die  leichteste  Beseitigung  desselben  bewirken. 

Ihre  Bedeutung  als  mimische  Ausdrucksbewegungen  empfangen 
nun  diese  sämtlichen  Geschmacksreflexe  dadurch,  daß  sie  bei  allen 

möglichen  lust-  oder  unlusterregenden  Ein- 
drücken, die  mit  dem  Geschmackssinn  gar 
nichts  zu  tun  haben,  sowie  nicht  minder  bei 
bloß  innerlich  vorgestellten  Erlebnissen  von 
ähnlichem  Gefühlscharakter  auftreten.  So 
deutet  der  „süße''  Ausdruck  des  Mundes 
Fig.  12.    Mimik  (pig    ^q)  j^^j^  beliebige   angenehme    oder   er- 

freuliche seelische  Stimmung  an;  der  „bittere" 
Ausdruck  begleitet  alle  möglichen  unangenehmen 
Gefühle  (Fig.  11).  Nicht  in  gleicher  Weise  unzweideutig  ist  der  ,, saure" 
Ausdruck.  Dies  ergibt  sich  schon  daraus,  daß  die  beiden  gegensätz- 
lichen, im  allgemeinen  gesteigerte  Lust-  und  Unlustgefühle  begleiten- 
den Bewegungen  des  Lachens  und  Weinens  dieselbe  Verbreiterung 
der  Mundspalte  erkennen  lassen,  wie  sie  durch  saure  Geschmacks- 
reize hervorgerufen  wird  (Fig.  13  und  14).  Das  lachende  und  das 
weinende  Gesicht  unterscheiden  sich  nicht  oder  in  kaum  nennens- 
wertem Grade  durch  die  Mimik  des  Mundes  selbst.  Sie  erhalten  ihr 
eigentümliches  Gepräge  hauptsächlich  durch  die  begleitende  Mimik 
von  Nase  und  Auge.  Beim  Lachen  ist  die  Nasenöffnung  erweitert, 
die  Nasenflügel  sind  gehoben,  das  Auge  geöffnet  und  bei  mäßigem 
Affekt  fixierend  einem  Gegenstand  zugewandt  (Fig.  13).  Das  weinende 
Gesicht  zeigt  herabgezogene  Nasenflügel,  verengerte  Nasenöffnungen, 
halb  geschlossene,  besonders  am  inneren  Winkel  etwas  zusammen- 
gedrückte und  nach  einwärts  gezogene  Augen,  womit  sich  infolge  der 
Kontraktion    des    diese    Bewegung    bewirkenden    Corrugator   super- 


Mimische  Symptome  der  Lust-  und  Unlustgefühie. 


115 


ciliorum  kurze  senkrechte,  unmittelbar  über  dem  Augenlid  gegen 
die  horizontale  Richtung  sich  neigende  Stirnfalten  verbinden  (Fig.  14), 
Durchgängig  bilden  so,  wie  diese  beiden  Beispiele  andeuten,  die  mi- 
mischen Ausdrucksformen  der  Umgebung  von  Nase  und  Auge  er- 
gänzende Bestandteile  zur  Mimik  des  Mundes.  Wir  erweitern  die  Nase> 
heben  die  Nasenflügel  und  öffnen  das  Auge,  um  Geruchs-  oder  Licht- 
reize aufzunehmen.  Durch  die  entgegengesetzten  Bewegungen  schützen 
wir  uns  vor  den  Eindrücken  auf  diese  Sinne.  Auch  diese  Bewegungen 
sind  aber,  ebenso  wie  die  mimischen  des  Mundes,  angeborene  Reflexe, 


Fig.  13.    Lachen. 


Fig.  14.    Weinen. 


wenngleich  sie  im  allgemeinen  erst  in  einer  etwas  späteren  Zeit  deut- 
lich hervortreten^).  Indem  sich  ferner  diese  mimischen  Bewegungen 
der  Sinnesorgane  des  Angesichts  in  verschiedener  Weise  kombinieren, 
kann  der  Gesamtausdruck  alle  möglichen  Schattierungen  zwischen 
Lachen  und  Weinen  durchlaufen.  So  unterscheidet  sich  das  heftige 
Lachen  vom  Weinen  eigentlich  nur  durch  wenige,  aber  charakteristische 
Züge  (Fig.  14  und  15).  Die  Züge  um  den  Mund  sind  fast  genau  dieselben, 
nur  ist  beim  Weinen  die  Lippe  leicht  gebogen,  den  Übergang  in  den 


^)  Übrigens  hat  Kußmaul  (a.  a.  0.  S.  25)  schon  bei  Neugeborenen  Reak- 
tionen auf  Gerüche  beobachtet« 

8* 


116 


Die  Ausdrucksbewegungen. 


bitteren  Ausdruck  andeutend.  Nocli  ähnliclier  ist  der  Ausdruck  um 
die  Augen,  da  die  mit  dem  heftigen  Lachanfall  verbundene  Anstrengung 
hier  dieselbe  Verengerung  der  Lidspalte  mit  hinzukommender  Tätig- 
keit des  Stirnrunzlers  hervorbringt.  Den  Hauptunterschied  des  Aus- 
drucks erzeugen  daher  in  diesem  Fall  die  sonst  zurücktretenden 
mimischen  Züge  der  Nase,  wo  das  heftig  lachende  Gesicht  (Fig.  15) 
die  starke,  die  Öffnung  der  Nase  unterstützende  Hebung  der 
Nasenflügel  und  die  hilfsweise  eingreifende,  den  grinsenden  Aus- 
druck erzeugende  Wirkung  des  Rückenmuskels  der  Nase  höchst 
augenfällig   zeigt,   während  beim  weinenden    umgekehrt  die   Nasen - 

Öffnungen  gesenkt,  die  Nasenflügel  gegen 
den  Mund  herabgezogen  sind.  Diese  Züge 
sind  es,  mittels  deren  ein  in  der  Wieder- 
gabe des  mimischen  Ausdrucks  geübter 
Zeichner  mit  wenigen  Strichen  ein  lachen- 
des in  ein  weinendes  Gesicht  überführen 
kann. 

Ahnliche  Kombinationen  teils  überein- 
stimmender, teils  kontrastierender  Aus- 
drucksformen können  noch  in  mannig- 
faltiger Weise  vorkommen.  Es  mag  hier 
die  Erwähnung  zweier  besonders  häufiger 
Beispiele  genügen.  Das  eine  besteht  in  der 
kombinierten  Bewegung  von  Mund,  Nase 
und  Auge,  die  ein  stark  bitterer,  Ekel  erregender  Geschmacksreiz 
hervorruft,  und  die  uns  dann  allgemein  als  Symptom  sehr  heftiger 
Unlustaffekte  begegnet,  wie  Zorn,  Wut,  Verachtung,  nur  jedesmal 
nach  der  besonderen  Beschaffenheit  des  Affekts  in  etwas  veränderter 
Form  (Fig.  16).  Der  mimische  Ausdruck  in  allen  seinen  Bestandteilen 
ist  hier  lediglich  eine  Steigerung  der  einfach  bitteren  Miene,  wie 
sie  die  Fig.  11  wiedergibt.  Ein  Gegenstück  zu  dieser  Steigerung  bietet 
die  in  Fig.  17  dargestellte  Verbindung  der  süßen  mit  der  bitteren  Miene 
(Fig.  10  und  11),  wie  sie  als  Ausdruck  zwiespältiger  Stimmungen  sehr 
oft  vorkommt.  Sie  ist,  ähnlich  den  Übergängen  des  Lachens  in  das 
Weinen,  für  die  außerordentlich  kleinen,  der  oberflächHchen  Be- 
obachtung leicht  entgehenden  mimischen  Unterschiede  bezeichnend, 


Fig.  15.    Heftiges  Lachen. 


Mimische  Symptome  der  Spannungs-  und  Lösungsgefühle. 


117 


die  dem  Ausdruck  dennoch  einen  sofort  in  die  Augen  fallenden 
Gesamtcharakter  verleihen  können.  Der  einzige  Unterschied  zwischen 
Fig.  10  und  17  besteht  in  der  Tat  darin,  daß  im  letzteren  Fall 
Mundwinkel  und  Nasenflügel  um  eine  kaum  merkliche  Größe 
gesenkt  sind.  Dieser  kleine  Zug  gibt  aber  der  süßen  Miene  jenen 
leichten  Anflug  von  Bitterkeit,  den  man  als  Symptom  einer  resi- 
gnierten, halb  selbstzufriedenen,  halb  weltschmerzlichen  Stimmung 
findet. 


Fig.  16.    Ekel. 


Fig.  17.  Kombination  von  Süß  und  Bitter. 


4.    Mimische   Symptome   der   Spannungs-   und   Lösungsgefühle. 

Mit  den  mimischen  Bewegungen,  die,  unmittelbar  an  die  Sinnes- 
organe des  Angesichts  gebunden,  den  Lust-  oder  Unlustinhalt  der 
Affekte  andeuten,  verbinden  sich  nun  weitere,  ebenfalls  dem  mi- 
mischen Gebiet  angehörende  Erscheinungen,  die  charakteristische 
Symptome  der  Spannungs-  und  Lösungsgefühle  bilden.  Sie 
sind  physiologisch  durch  die  Eigenschaft  gekennzeichnet,  daß  sie  nicht 
oder  doch  nur  in  nebensächlicher  Weise  von  den  Muskeln  der  speziellen 
Sinnesapparate  ausgehen,  vielmehr  vorzugsweise  an  den  die  Mund- 
bewegungen unterstützenden  Wangenmuskeln,  dem  Buccinator 
(Fig.  9)  und  dem  unter  dem  Platysma  zum  Unterkiefer  herabsteigen- 
den Masseter,  zum  Ausdruck  kommen,  während  in  geringerem  Grade 
die    übrigen    mimischen    Muskeln    beteiligt    sein    können.      Insoweit 


118 


Die  Ausdrucksbewegungen. 


hierbei  aucli  die  Muskeln  der  Sinnesorgane  in  Aktion  treten, 
lassen  diese  eine  direkte  Beziehung  zu  lust-  oder  unlusterregenden 
Eindrücken  nicht  erkennen,  es  sei  denn,  daß  Komplikationen  mit 
den  mimischen  Bewegungen  der  vorigen  Art  vorliegen.  Ein 
weiteres  physiologisches  Merkmal,  das  minder  allgemeingültig  ist, 
besteht  darin,  daß  diese  Bewegungen  nicht  rasch  wechselnde, 
sogenannte  klonische,  sondern  mehr  oder  minder  dauernde  Steige- 
rungen oder  Hemmungen  des 
g:^^^^'^^T>^-^^  Tonus   der   mimischen   Mus- 

keln sind.  Doch  ist  dieses 
Merkmal  nicht  immer  zu- 
treffend, da  die  mimischen 
Ausdrucksformen ,  die  ur- 
sprünglich von  Sinnesein- 
drücken ausgehen,  wie  der 
süße,  bittere,  saure  Aus- 
druck usw.,  durch  Gewohn- 
heit und  Übung  ebenfalls 
zu  tonischen  Zuständen  füh- 
ren können,  wo  sie  dann  in 
physiognomische  Züge 
übergehen.  Psychophysisch 
kann  man  schließlich  als 
das  hauptsächlichste  Unter- 
schiedsmerkmal beider  Arten 
wohl  dies  ansehen,  daß  die 
Symptome  der  Lust  und  Unlust  in  Bewegungen  von  abweichender 
Form  bestehen,  die  erst  indirekt,  durch  die  Beziehung  zu  Sinnes- 
eindrücken, auf  die  qualitativen  Gegensätze  der  Gefühle  hinweisen, 
wogegen  die  mimischen  Symptome  der  Spannung  und  Lösung  durch 
die  verschiedenen  Grade  der  Erhöhung  und  der  Herabsetzung 
des  Tonus  unmittelbar  einen  Gegensatz  andeuten.  In  dieser  Be- 
ziehung sind  die  Gefühle  der  Spannung  und  Lösung  in  ihren  phy- 
sischen Äußerungen  offenbar  den  Symptomen  der  Erregung  imd  Be- 
ruhigung näher  verwandt.  Doch  es  bleibt,  abgesehen  von  der  Be- 
schränkung der  ersteren  auf  die  mimischen  Muskeln,   der  wichtige 


Fig.  18. 
Ausdruck  dauernder  Befriedigung. 


I 


Mimische  Symptome  der  Spannungs-  und  Lösungsgefühle. 


119 


Unterschied,  daß  sicli  die  exzitierenden  und  deprimierenden  Gemüts- 
bewegungen in  dem  wechselnden  Spiel  gesteigerter  und  herabgesetzter 
Muskeltätigkeit  zu  erkennen  geben,  während  Spannung  und  Lösung 
in  dauernden  Zuständen  gradweise  verschiedener  tonischer  Erregung 
bestehen.  Dabei  können  übrigens  auch  diese  Zustände  bald  allmählich, 
bald  plötzlich  sich  einstellen. 

Diese   Momente   allmählicher   oder   plötzlicher    Entstehung   sind 


Fig.  19.    Hochmut. 


Fig.  20.  Verachtung. 


es  zugleich,  die  neben  dem  Grad  der  Erhöhung  und  der  Erniedrigung 
des  Tonus  die  eigentümlichen  Unterschiede  bestimmen,  durch  die 
diese  Innervationsverhältnisse  der  mimischen  Muskeln  charakteristische 
Symptome  für  bestimmte  qualitative  Gefühlszustände  werden.  Als 
solche  kommen  aber  hier,  nach  der  psychologischen  Natur  der  Span- 
nungs- und  Lösungsgefühle  wie  nach  dem  tonischen  Charakter  der 
entsprechenden  physischen  Erscheinungen,  nicht  sowohl  vorüber- 
gehende Affekte  als  dauernde  Stimmungen  in  Betracht.  So  ist 
eine  mäßige   tonische  Spannung   der  Wangenmuskeln   das   deutliche 


120 


Die  Ausdrucksbewegungen. 


Merkmal  dauernder  Befriedigung,  besonders  wenn  sich  damit 
auch  noch  ein  schwacher  Tonus  der  Mund-  und  Augenmuskeln  ver- 
bindet, der  bei  den  ersteren  eine  nur  eben  erkennbare  leichte  Schließung 
der  Mundspalte,  bei  den  letzteren  einen  die  starre  Fixation  vermeiden- 
den Blick  herbeiführt  (Fig.  18).  Der  Ausdruck  ändert  sich  sofort  in 
seiner  Bedeutung,  wenn  die  tonische  Spannung  aller  der  genannten 
Muskelgruppen  um  eine  kleine  Größe  zunimmt,  wo  nun  der  stärkere 
Druck  der  Wangen,  der  fester  geschlossene  Mund,  der  strenger  fixie- 
rende Blick  jene  intensiveren   Spannungsgefühle  andeuten,  die  dem 

erhöhten  Selbstgefühl  eigen 
sind,  und  die  sich  bei 
weiterer  Verstärkung  zum 
Hochmut  steigern  kön  - 
nen,  in  dessen  Symptome 
denn  auch  der  mimische 
Ausdruck  ohne  scharfe 
Grenze  übergeht  (Fig.  19). 
Verbindet  sich  dieser  noch 
mit  der  bittere  Geschmacks- 
eindrücke und  unange- 
nehme Stimmungen  an- 
deutenden Senkung  des 
Mundwinkels,  so  wird  er, 
namentlich  wenn  der  letz- 
tere Zug  auf  eine  Seite 
beschränkt  bleibt,  zum 
Ausdruck  der  Verach- 
tung (Fig.  20).  Dabei  ist  der  Blick  nach  der  nämhchen  Seite  gerichtet, 
auf  der  auch  der  Gegenstand  der  Verachtung  vorauszusetzen  ist; 
doch  pflegt  die  Blickrichtung  an  dem  Gegenstand  selbst  vorbeizu- 
gehen. Es  ist  ganz  besonders  diese  einseitige  Richtung  des  mimischen 
Ausdrucks,  die  ihm  jenes  besondere  Gepräge  verleiht,  in  dem  sich  das 
erhöhte  eigene  Selbstgefühl  mit  dem  unangenehmen  Eindruck,  den 
ein  anderer  ausübt,  verbindet.  Eine  davon  wesentlich  abweichende 
Bedeutung  gewinnt  der  äußerste,  auf  alle  mimischen  Muskeln  sich 
ausdehnende   Grad  tonischer   Spannung,  wie  er  im  Zustand  angst- 


Fig.  21.  Heftiger  Schmerz. 


Mimische  Symptome  der  Spannungs-  und  Lösungsgefühle. 


121 


voller  Erwartung  oder  bei  intensivstem,  in  hohem  Maße  zugleich 
Furcht  wie  Hoffnung  erregendem  Schmerz  vorkommt.  Neben  den 
Wangenmuskeln  sind  in  diesem  Fall  besonders  die  Kiefermuskeln, 
die  Stirn-  und  die  Augenmuskeln  in  tonischem  Krampf  kontrahiert; 
daher  die  Zähne  fest  zusammengepreßt,  die  Stirn  gerunzelt,  das  Auge 
starr  fixierend  erscheint  (Fig.  21).  Zugleich  pflegt  das  Symptomen - 
bild  insofern  ein  kompliziertes  zu  sein,  als  die  Spannungs-  nicht  nur 


Fig.  22.    Passiver  Gesichtsausdruck 
eines  Imbezillen. 


Fig.  23.    Schreck. 


mit  Unlust-,  sondern  auch  mit  Erregungssymptomen  verbunden  sein 
können,  wobei  sich,  wie  oben  erörtert,  die  Unlust  hauptsächlich  in 
der  Mimik  des  Mundes,  die  Erregung  in  wiederholten  klonischen  Be- 
wegungen der  übrigen  Körperorgane  sowie  in  solchen  des  Angesichts 
äußert,  welche  die  tonische   Spannung  unterbrechen. 

Die  diesen  Ausdrucksweisen  gesteigerter  Spannung  entgegen- 
gesetzten Symptome  der  Lösung  bieten  sich  wieder  in  verschiedenen 
Formen,  je  nachdem  sie  dauernde  Stimmungen  begleiten  oder  bei 
plötzlichen   Affekten  auftreten,   wobei   sie   in   letzterem   Falle   meist 


122 


Die  Ausdrucksbewegungen. 


auf  eine  unmittelbar  vorangegangene  Erwartung,  Furcht  und  der- 
gleichen folgen.  Die  Lösung  als  dauernder  Ausdruck  erscheint  als 
eine  einfache  Umkehrung  der  in  Fig.  18  und  19  dargestellten  Formen 
der  Spannung.  Die  schlaff  herabhängenden  Wangen,  der  unbestimmt 
fixierende  Blick,  wie  sie  die  wesentlichen  Bestandteile  dieses  Sym- 
ptomenbildes ausmachen,  können  ebensogut  als  Zeichen  stumpfer 
Teilnahmlosigkeit  wie  träumerischer  Versunkenheit  und  ähnlicher 
passiv  hingegebener  Seelenzustände  vorkommen  (Fig.  22).  Ganz 
anders,  wenn  der  Zustand  plötzlich  hereinbricht  und  sich  durch  die 


Fig.  24.    Kummer. 


Fig.  25.    Angst. 


größere  Intensität  der  Erscheinungen  sowie  durch  den  Kontrast  zu 
vorangegangenen  Spannungen  sogleich  als  heftiger  Affektanfall  zu 
erkennen  gibt,  wie  in  ausgesprochenem  Maße  beim  Schreck  und 
in  geringerem  bei  der  Überraschung,  wo  beinahe  alle  zuvor  tonisch 
erregten  Muskeln  des  Angesichts  ihre  Dienste  versagen,  die  Wange 
schlaff  herabsinkt,  der  Mund  sich  öffnet,  das  Auge  ins  Weite  starrt 
und  zugleich  durch  seine  krampfhafte  Öffnung  eine  begleitende  starke 
Erregung  verrät  (Fig.  23).       Die  ähnliche  Komplikation  der  Sym- 


Theorie  der  mimischen  Ausdrucksbewegungen.  123 

ptome,  bei  der  das  übrige  Angesicht  völlige  Hingebung,  nach  den  Ge- 
fühlselementen betrachtet  Lösung  und  Depression,  das  Auge  und 
seine  Umgebung  eine  bald  unbestimmtere,  bald  bestimmter  gerichtete 
Spannung  andeutet,  findet  sich  nicht  selten  auch  bei  dauernden 
Stimmungen.  So  ist  diese  Komplikation  von  Ausdrucksformen  ver- 
schiedener Gefühlsrichtungen  das  überaus  charakteristische  Sym- 
ptomenbild des  Kummers  (Fig.  24)  und,  wenn  sich  die  Unlust  mid 
Erregung  steigern,  der  Angst  (Fig.  25).  Bei  dem  letzteren  Affekt 
bilden  zugleich  die  Hemmung  des  Herzschlags  und  die  diese  kom- 
pensatorisch begleitende  Kontraktion  der  kleinen  Arterien  Neben- 
symptome, die  sich  äußerlich  in  der  tiefen  Blässe  des  Angesichts  und 
zuweilen,  infolge  der  Beteiligung  der  Kopfhaut  an  dem  Krampf  der 
Arterien,    in    dem    sich    emporsträubenden    Kopfhaar    kundgeben^). 

5.  Theorie  der  mimischen  Ausdrucksbewegungen. 

Die  hier  an  einigen  Beispielen  vorgeführten,  in  unzähligen  Ab- 
stufimgen,  Variationen  imd  Kombinationen  vorkommenden  Grund- 
formen mimischer  Ausdrucksbewegungen  bieten  uns  überall  in  der 
praktischen  Lebenserfahrung  die  Merkmale,  nach  denen  wir  vorüber- 
gehende Affekte  oder  bleibende  Stimmungen  und  die  Qualität  der 
in  sie  eingehenden  Gefühle  beurteilen.  Aber  so  sehr  wir  auch  in  der 
Beobachtung  dieser  Merkmale  geübt  sein  mögen,  so  erstreckt  sich 
doch  diese  Übung  in  der  Regel  nur  auf  den  Totaleindruck,  den  sie 
hervorbringen,  nicht  auf  den  objektiven  Tatbestand  selbst  in  den 
einzelnen  ihn  konstituierenden  Bestandteilen.  Unter  diesen  bieten 
wohl  die  mimischen  Bewegungen  der  Mundmuskeln  nebst  den  sie 
in  übereinstimmendem   Sinn  begleitenden  Bewegungen  der  übrigen, 


^)  Zu  den  obigen  die  Haupt  formen  des  mimischen  Ausdrucks  erläutern- 
den Abbildungen  haben,  insoweit  sie  sich  auf  die  Mimik  der  Lust-  und  Unlust- 
affekte beziehen  (Fig  10 — 17),  die  von  Piderit  mitgeteilten  Skizzen  (Mimik  und 
Physiognomik 2)  als  Vorlagen  gedient.  Die  Ausdrucksformen  der  Spannungs- 
und Lösungsgefühle  sind  teils  nach  Abbildungen  von  Harless  (Plastische  Ana- 
tomie, S.  127  ff.)  teils  nach  solchen  Morisons  (Physiognomik  der  Geisteskrank- 
heiten, 1853)  ausgeführt.  Parallelen  zu  den  obigen  Figuren  bieten  einige  von 
Kraepelin  (Psychiatrie®,  II)  mitgeteilte  Gruppenbilder,  sowie  eine  Reihe  phy- 
siognomischer  Abbildungen  Geisteskranker  bei  Th.  Kirchhoff,  Lehrbuch  der 
Psychiatrie,  1892  (10  Gesichtstafeln). 


;[24  I^i®  Ausdrucksbewegungen. 


Nase  und  Auge  umgebenden  Muskeln  der  psychologisclien  Deutung 
die  geringsten  Schwierigkeiten.  Die  einfachen  Gefühle,  die  sich  mit 
den  Geschmacksreizen  des  Süßen,  Sauern,  Bittern,  sowie  mit  ent- 
sprechenden Geruchs-  und  Gesichtsreizen  verbinden,  sind  allen  mög- 
lichen zusammengesetzten  Gefühlen  und  Affekten  insofern  verwandt, 
als  diese  den  nämlichen  allgemeinen  Gefühlsrichtungen  angehören. 
Dabei  bewährt  sich  überall  das  Gesetz,  daß  die  seelischen  Zustände, 
die  an  unmittelbare  sinnliche  Eindrücke  gebunden  sind,  in  ihrer  Ent- 
stehung den  verwickeiteren,  auf  früheren  Erlebnissen  und  erworbenen 
Anlagen  beruhenden  vorausgehen.  Wie  Sinneswahrnehmungen  früher 
sind  als  Phantasievorstellungen,  äußere  Willenshandlungen  früher 
als  innere  Entschlüsse  und  Vorsätze  zu  künftigen  Handlungen,  so 
sind  auch  die  einfachen  Tast-,  Geschmacks-  und  sonstigen  Sinnes- 
empfindungen früher  als  die  inneren  seelischen  Stimmungen  der  Freude, 
des  Kummers,  des  Ärgers  usw.  Nun  ist  aber  die  sogenannte  innere 
Seelenstimmung  gleichfalls  eine  seelisch-körperliche  Erregung,  wie 
die  Veränderungen  von  Herzschlag,  Blutgefäßreizung  und  Atmung, 
und  die  gesamten,  die  erregende  oder  deprimierende  Richtung  des 
Affekts  anzeigenden  Einflüsse  auf  die  äußeren  Körpermuskeln  zeigen. 
Daß  unter  diesen  motorischen  Erregungen  diejenigen  in  bevorzugter 
Weise  auftreten,  deren  ursprüngliche  Entstehung  der  allgemeinen 
Richtung  des  Affekts  entspricht,  ist  wiederum  eine  notwendige  Folge 
jener  Assoziation  analoger  Gefühle,  die  ihrerseits  nur  ein  Spezialfall 
des  durch  zahllose  Erfahrungen  bestätigten  allgemeinen  Assoziations- 
prinzips ist.  Sobald  sich  eine  neue,  zusammengesetztere  seelische 
Stimmimg  entwickelt,  die  z.  B.  in  ihrer  Lust-  oder  Unlustqualität 
einer  früheren,  einfacheren  verwandt  ist,  wird  daher  diese  durch  Asso- 
ziation wachgerufen,  und  mit  ihr  entstehen  naturgemäß  auch  die 
an  sie  gebundenen  physischen  Ausdrucksbewegungen.  Hierdurch 
gewinnen  zugleich  die  bekannten  Metaphern  der  Sprache  ihre  psy- 
chologische Beleuchtung.  Wenn  wir  Freude  und  Hoffnung  ,,süß", 
das  Leid  ,, bitter",  den  entsagenden  Entschluß  ,, sauer"  nennen,  so 
können  diese  Ausdrücke  ursprünglich  unmöglich  absichtliche  Über- 
tragungen des  sinnHchen  Eindrucks  auf  eine  sogenannte  ,, nicht  sinn- 
liche Vorstellung"  sein.  Ist  doch  hier  die  Metapher  selbst  erst  auf 
Grund  jener  natürlichen   Assoziationen   verständlich,   bei   denen   die 


Theorie  der  mimischen  Ausdrucksbewegungen.  125 

Verbindung   zunächst  gar  nicht  als   eine   Übertragung,   sondern   als 
eine    unmittelbare    Übereinstimmung    empfunden    wird^).     Nachdem 
sich  einmal  solche  Assoziationen  gebildet  haben,  kann  dann  allerdings 
auch  eine  willkürliche  Metapher  einsetzen,  die  nach  dem  Vorbild  jener 
natürlichen  Verbindungen  neue,  künstliche  schafft.    Aber  diese  Über- 
tragungen folgen  dabei  doch  den  natürlichen  Vorbildern  der  primären 
Assoziationen,  durch  welche  neu  sich  entwickelnde  seelische  Stimmungen 
ihnen  verwandte  sinnliche  Gefühle,  die  in  der  psychischen  Entwick- 
lung vorausgingen,  erweckten.     An  die  sinnlichen   Gefühle  und  die 
sie  leise  begleitenden  Empfindungen  sind  dann  wieder  mit  mecha- 
nischer  Sicherheit  die  durch  die  letzteren  ausgelösten   Bewegimgen 
gebunden.     Vermutlich  ist  daher  die  Entstehung  jener  sprachlichen 
Metaphern  selbst  ein  sekundärer  Vorgang,  der  sich  nicht  an  die  Emp- 
findung, sondern  an  den  mimischen  Ausdruck  derselben  angeschlossen 
hat.     Mußte  doch  dieser  erst  dem  sinnlichen  Gefühl  die  bestimmte 
Beziehung  verleihen,  die  den  objektiven  Beobachter  wie  den  Fühlen- 
den selbst  veranlassen  konnte,  sich  der  Assoziation  eines  rein  inneren 
Seelenzustandes  mit  gewissen   Sinneseindrücken  deutlich  bewußt  zu 
werden.     Vorher  war  diese  Assoziation  eine  jener  dunkel  bewußten, 
die,  so  wichtige  Erfolge  sie  auch  für  die  elementaren  psychischen  und 
psychophysischen  Vorgänge  haben  mögen,  doch  nicht  in  die  Sphäre 
des  sprachlichen  Denkens  hineinreichen. 

Innerhalb  der  individuellen  Entwicklung  wird  man  nun  die  Asso- 
ziation der  zusammengesetzten  Gefühle  und  Affekte  mit  den  ein- 
fachen sinnlichen  Gefühlen  durchaus  als  eine  solche  ansehen  müssen, 
die  sich  an  die  angeborenen  und  vererbten  Reflexe  der  den  Sinnes- 
organen beigegebenen  mimischen  Muskeln  anschließt,  und  zu  der 
deshalb  ebenfalls  in  ähnlichen  angeborenen  und  vererbten  Anlagen 
der  Grund  gelegt  sein  mag.  In  der  Tat  stehen  ja  die  Leitungsbahnen 
der  Geschmacksnervenfasern  mit  den  Fazialis-  und  Hypoglossus- 
zentren  offenbar  in  einer  durch  die  generelle  Entwicklung  eingeübten 
Verbindung,  so  daß  sofort  nach  der  Geburt  durch  bestimmte  Ge- 
schmacksreize die  ihnen  adäquaten  Bewegungen  ausgelöst  werden 
(S.  111).    Dies  vorausgesetzt,  ist  aber  natürlich  auch  die  allmähliche 

^)  Vgl.  hierzu  die  in  Kap.  VIII  (Bedeutungswandel)  folgende  eingehen- 
dere Erörterung  der  ,, Metaphern  der  Sprache". 


126  I^ie  Ausdrucksbewegungen. 

Entwicklung  anderer,  uns  noch  unbekannter  Nervenverbindungen 
nicht  ausgeschlossen,  durch  die  eine  Übertragung  der  inneren  Seelen- 
zustände  in  äußere  sinnliche  Formen  vermittelt  werden  kann,  bevor 
die  Assoziationseinflüsse  des  individuellen  Lebens  in  merklicher  Weise 
wirksam  geworden  sind.  Hier  werden  sich  eben  niemals  individuelle 
und  generelle  Entwicklung  ganz  voneinander  sondern  lassen.  Doch 
für  das  psychophysische  Verständnis  der  Vorgänge  ist  dies  deshalb 
nicht  von  erhebhcher  Bedeutung,  weil  die  in  bestimmten  organischen 
Anlagen  niedergelegten  Erwerbungen  der  generellen  Entwicklung 
doch  nur  auf  dem  Weg  einer  zahllosen  Menge  individueller  Vorgänge 
entstanden  sein  können.  Im  vorliegenden  Falle  wird  man  nun  mit 
großer  Wahrscheinlichkeit  die  Stufen  des  Prozesses  so  zwischen  bei- 
den Gebieten  verteilen  dürfen,  daß  man  die  Entstehung  der  zweck- 
mäßigen Sinnesreflexe  ganz  und  gar  der  generellen,  die  Assozia- 
tionen zwischen  sinnlichen  Empfindungen  und  Gefühlen  und  inneren 
Seelenzuständen  aber  der  Hauptsache  nach  der  individuellen  Ent- 
wicklung zuweist;  wenn  auch  immerhin  diese  Asso/iiationen  durch 
gewisse  generell  erworbene  zentrale  Anlagen  begünstigt  sein  werden. 
Für  die  erste  Annahme  bildet  das  Vorkommen  der  Geschmacks-  und 
Geruchsreflexe  beim  Neugeborenen  ein  unzweifelhaftes  Zeugnis. 
Die  zweite  erscheint  aus  dem  Grunde  wahrscheinlich,  weil  die  zu- 
sammengesetzteren Gefühle  und  Affekte  überhaupt  erst  während 
des  individuellen  Lebens  sich  ausbilden. 

Ist  die  Assoziation  zwischen  dem  physischen  Zustand  und  der 
einem  Sinneseindruck  von  verwandtem  Gefühlston  entsprechenden 
mimischen  Bewegung  eingetreten,  so  schließt  sich  aber  an  sie  not- 
wendig eine  zweite,  sekundäre,  die  zugleich  verstärkend  auf  die  erste 
zurückwirkt.  Die  mimische  Bewegung  selbst  wird  nämlich  von  einer 
Tast-  und  Muskelerapfindung  begleitet,  die  auf  das  engste  mit  den 
entsprechenden  Sinneseindrücken  assoziiert  ist.  Die  so  erweckten 
psychischen  Inhalte  sind  allerdings  in  ihren  Empfindungsbestand-, 
teilen  sehr  schwach  und  unbestimmt,  was  sich  teils  aus  der  außer- 
ordentlich geringen  Intensität  der  Erinnerungsbilder  von  Geschmacks- 
und Geruchsempfindungen,  teils  aus  der  Mannigfaltigkeit  lust-  und 
unlusterregender  Empfindungen  imd  Vorstellungen  des  Gesichts- 
sinns erklärt.     So  kommt  es,  daß  diese  reproduktiven  Elemente  hier 


Theorie  der  mimischen  Ausdrucksbewegungen.  127 

großenteils  durch  die  an  die  mimischen  Bewegungen  gebundenen 
Tastempfindungen  ergänzt  werden,  mit  denen  nun  die  entsprechen- 
den sinnlichen  Gefühle  fest  assoziiert  sind.  Darum  ist  bei  dem  Ge- 
schmacksaus druck  des  Süßen,  Bittern,  Sauern  wirklich  etwas  vom 
gleichen  Geschmackseindruck  in  unserem  Bewußtsein.  Aber  zu- 
gleich tritt  die  eigentliche  Geschmacksempfindung  sehr  hinter  der 
ihr  assoziierten  Tastempfindung  zurück.  Mit  dieser  Beschränkung 
haben  dann  die  Ausdrücke  ,,süße  Freude",  ,, bitteres  Leid"  und  der- 
gleichen keine  metaphorische,  sondern  eine  wirkliche,  sinnliche  Be- 
deutung. 

Die  ähnlichen  Verhältnisse  wie  beim  Geschmackssinn  kehren 
bei  den  mimischen  Bewegungen  wieder,  die  lust-  und  unlusterregende 
Licht-  und  Geruchseindrücke  andeuten.  Nur  kann  es  schon  wegen 
der  sehr  viel  größeren  Anzahl  der  Geruchs-  und  Gesichtsqualitäten 
hier  nicht  zu  ähnlichen  scharf  charakterisierten  Ausdrucksformen 
kommen.  Damit  hängt  wohl  zusammen,  daß  überhaupt  die  mimischen 
Hilfsmittel  dieser  beiden  Sinne  beschränkter,  die  Ausdrucksbewegungen 
gleichförmiger  sind,  indem  sie  nur  die  Gegensätze  solcher  Eindrücke, 
die  vom  Sinnesorgan  aufgesucht,  und  solcher,  die  von  ihm  gemieden 
werden,  angeben.  Erst  als  Begleiterscheinungen  der  feiner  nuan- 
cierten mimischen  Mundbewegungen  gewinnen  diese  unbestimmteren 
Lust-  und  Unlustsymptome  ihre  konkretere  Bedeutung.  Gerade  die 
Armut  des  Geschmackssinns  an  spezifisch  verschiedenen  Empfin- 
dungen scheint  hier  mit  dem  größeren  Eeichtum  der  von  ihm  aus- 
gehenden mimischen  Bewegungen  zusammenzuhängen.  Auch  die  an 
die  mimischen  Tastempfindungen  jener  andern  Sinne  gebundenen 
Assoziationen  sind  daher  von  unbestimmterem  Charakter:  die  Sinnes- 
qualitäten selbst  verschwinden  in  den  entstehenden  Komplikationen. 
Um  so  mehr  ist  wieder  an  die  jede  Bewegung  begleitende  innere  Tast- 
empfindung ein  deutliches  Lust-  oder  Unlustgefühl  geknüpft,  das 
die  Rückwirkung  des  mimischen  Ausdrucks  auf  den  Affektverlauf 
verstärkt.  Dies  ist  vor  allem  bei  den  Ausdrucksbewegungen  des 
Lachens  imd  Weinens  zu  beobachten,  an  denen  sich  diese  Geruchs- 
und Gesichtsreflexe  der  Affekte  hauptsächlich  beteiUgen.  So  wird 
man  kaum  sagen  können,  daß  durch  die  energische  Tätigkeit  des 
Stirnrunzlers,  wie  wir  sie  bei  verdrießlichen  und  traurigen  Stimmimgen 


128  Die  Ausdrucksbewegungen. 

wahrnehmen,  jemals  irgendeine  Assoziation  an  ein  bestimmtes  Ge- 
sicbtsbild  erweckt  werde.  Aber  gewiß  ist,  daß  diese  Bewegmig  — 
was  man  sogar  durch  ihre  willkürKche  Herbeiführmig  erproben  kami 
—  eine  Unluststimmung  mit  sich  führt,  der  wir  mit  aller  Gewalt  nicht 
widerstehen  können.  Man  versuche  es  einmal,  mit  dem  Ausdruck 
des  Grames  heitere,  fröhliche  Vorstellungen  zu  verbinden,  und  man 
wird  bald  wahrnehmen,  daß  dies  entweder  nicht  gelingt,  oder  daß 
der  Ausdruck  mit  einer  Art  mechanischen  Zwanges  der  ihm  wider- 
streitenden Stimmung  weicht. 

Die  nämlichen  hin-  und  herwandernden  Assoziationswirkungen 
fehlen  nun  auch  bei  den  Ausdrucksformen  der  andern,  die  qualitativen 
Symptome  der  Affekte  mitbestimmenden  Gefühle  der  Spannung 
und  Lösung  nicht.  Bei  ihnen  verschwinden  aber  im  allgemeinen 
noch  mehr  als  bei  den  mimischen  Gesichts-  und  Geruchsreaktionen 
die  Assoziationen  mit  den  äußeren  Eindrücken,  die  als  ursprüngliche 
Gelegenheitsursachen  der  psychischen  Stimmungen  wirksam  gewesen 
sein  mögen.  Um  so  größer  ist  die  Mannigfaltigkeit  dieser  Ursachen 
und  um  so  unbestimmter  der  einzelne  zu  assoziierende  Eindruck, 
weil  nicht  nur  Reize  aller  möglichen  Sinnesorgane  an  der  Entstehung 
der  Ausdrucksformen  beteiligt  sein  können,  sondern  weil  gerade  die 
Gefühle  der  Spannung  und  Lösung,  ebenso  wie  die  oft  mit  ihnen  ver- 
bundenen der  Erregung  und  Herabstimmung,  von  frühe  an  aus  An- 
laß psychischer  Vorgänge  entstehen,  die  nur  noch  indirekt  äußere 
Sinneserregungen  als  ihre  entfernteren  Vorbedingungen  voraussetzen. 
Besonders  gilt  das  von  jenen  dauernden  mimischen  Ausdrucksformen, 
die  in  dem  tonischen  Spannungsgrade  der  Antlitzmuskeln  zutage 
treten,  und  die  auf  gleichmäßig  andauernde  psychische  Ursachen 
zurückweisen.  Reproduktionen  früherer  Eindrücke  kommen  als 
dauernde  seelische  Zustände  kaum  vor.  So  mögen  sie  denn  auch 
hier  höchstens  bei  den  niemals  ganz  fehlenden  momentanen  Schwan- 
kungen der  Gemütslage  bis  zu  einem  gewissen  Grade  mitwirken. 
Um  so  mehr  drängen  sich  in  diesem  Fall  die  unmittelbar  gegebenen 
Spannnungsempfindungen  selbst  und  ihr  Einfluß  auf  die  Gemütslage 
in  den  Vordergrund.  Jener  wechselnde  Tonus  der  Wangenmuskeln, 
der  bald  aufmerksame  Erwartung,  bald  ruhige  Festigkeit  des  Ent- 
schlusses, bald  plötzliche  Lösung  einer  psychischen   Spannung  oder 


Theorie  der  mimischen  Ausdrucksbewegungen.  129 

fortwährende  apathische  Ruhe  ausdrücken  kann  —  er  ist  jedesmal 
von  Empfindungen  begleitet,  die  der  Seelenstimmung  einen  ihr  ad- 
äquaten, eben  darum  aber  auch  sie  wiederum  steigernden  Gefühlston 
hinzufügen.  Dies  tritt  wegen  der  Summation  der  Wirkungen  in  der 
Zeit  ganz  besonders  bei  den  dauernden  Stimmungen  hervor.  Hier  kann 
man  geradezu  sagen:  der  mimische  Ausdruck  des  Selbstzufriedenen, 
des  Hochmütigen,  des  Kummervollen  (Fig.  18,  19,  24)  ist  ein  wich- 
tiges Moment  der  Erhaltung  seiner  Gemütslage.  Aus  dieser  können 
die  einzelnen  psychischen  Bestandteile  auf  längere  Zeit  ganz  ver- 
schwinden: bleibt  der  mimische  Ausdruck,  so  bleibt  mit  den  an  ihn 
gebundenen  Empfindungen  und  Gefühlen  auch  der  Grundcharakter 
der  seelischen  Stimmung  bestehen. 

Vergleicht  man  die  so  in  ihren  wesentlichsten  Elementen  in  der 
Mimik  des  Angesichts  vereinigten    Qualitätsäußerungen  der  Affekte 
mit  den  Intensitätssymptomen,   so  fällt  ohne  weiteres  die  reichere 
und  feinere  Ausbildung  der  ersteren  in  die  Augen.    Dies  hat  im  all- 
gemeinen seinen  verständlichen   Grund  darin,   daß   die   Intensitäts- 
äußerungen   in   ihren    ursprünglichen    Formen    Trieb-   und    Reflex- 
bewegungen sind,  die  auf  Tastreize  erfolgen,  die  Qualitätsäußerungen 
dagegen  Reaktionen,  die  Eindrücken  auf  die  Sinnesorgane  des  An- 
gesichts entsprechen.    Mit  diesem  Verhältnis  läßt  es  sich  auch  in  Be- 
ziehung bringen,  daß  nicht  nur  beide  Formen  stets  miteinander  ver- 
bunden   vorkommen,    sondern    daß    in    einem    gewissen    Sinne    die 
mimischen    Bewegungen    als    eine    höhere    Entwicklungsform    oder, 
wenn  man  will,  als  eine  nähere  qualitative  Nuancierung  der  unbe- 
stimmteren,   die    Intensität    der    Erregung    spiegelnden    Ausdrucks- 
bewegungen betrachtet  werden  können.      Damit  hängt  zusammen, 
daß  unter  den  drei  allgemeinen  Gefühlsdimensionen  die  der  Erregung 
und  Beruhigung  nicht  an  den  Qualitätssymptomen  im  engeren  Sinne 
teilnimmt.      Ihnen   stehen  am  nächsten  die  mimischen  Äußerungen 
der  Spannung  und  Lösung,  die  bereits  in  nähere  Beziehung  zu  den 
höheren  Sinnesorganen  treten,  da  an  ihnen  die  mimischen  Muskeln 
hervorragend  beteiligt  sind.     Gleichwohl  sind  es  auch  hier  nicht  so- 
wohl die  spezifischen  Sinnesorgane  als  die  besonderen  Eigenschaften 
der  entsprechenden  Teile  des  Tastorgans,  die  bei  der  Entstehung 
der  Ausdrucksformen  eine  Rolle  spielen.     Denn  die  Bedeckung  der 

W  u  n  d  t ,  Völkerpsychologie.    I.    4.  Aufl.  9 


j[30  I^iö  Ausdrucksbewegungen. 


mimisclien   Muskulatur   ist   zugleich   das   empfindlichste    Gebiet   des 
Tastsinns.    Dadurch  wird  es  zu  einem  besonders  feinen  Maße  für  jene 
Spannungsverhältnisse   der    Gemütszustände,     wie   sie   eben   in   den 
Spannungs-  und  Lösungsgefühlen  enthalten  sind.    Daß  es  das  Gebiet 
der  Wangenmuskeln  ist,  das  vorzugsweise  dem  Ausdruck  dieser  Ge- 
fühle dient,  dafür  darf  man  aber  wohl  die  entferntere  Ursache  in  der 
engen   Beziehung    erblicken,    in   der   jene   Muskeln   zur  Aufnahme 
und    ersten    Bewältigung    der    Nahrung    stehen.      Indem    die 
Kaumuskeln   diesem  physischen  Bedürfnis  die  nächste  Befriedigung 
schaffen,    reflektieren    sich   in   ihren    Spannungszuständen   auch   die 
damit  assoziierten  sinnlichen  Gefühle.     Hunger  und  Sättigung  geben 
sich  zu  allererst  in  der  Ab-  und  Zunahme  des  Tonus  dieser  Muskeln 
kund.      Diese  ursprünglichen  sinnlichen   Grundlagen  läßt  auch  hier 
die  Kultur  nicht  verschwinden.    Wir  übertragen,  von  dem  mimischen 
Eindruck  ausgehend,   die  Bezeichnungen  des   „Hungrigen"   und  des 
,, Satten  '   gelegentlich  ebenso   wie  die  des  ,, Süßen",   ,, Bittern"   und 
,, Sauern"  auf  moralische  Eigenschaften.     Ein  physiognomischer  Aus- 
druck, wie  der  in  Fig.   18  (S.   118)  dargestellte,  kann  nicht  minder 
den  physisch  Gesättigten  wie  den  Selbstzufriedenen  verraten.     Die 
durch   den    Gefühlston   der   Tastempfindungen   dieser   Muskelgebiete 
vermittelte    Verbindung    erscheint    daher    vollkommen     analog    den 
bei  den  andern  mimischen  Muskeln  durch  die   Sinneseindrücke  auf 
Geschmack,   Geruch  und   Gesicht  erregten  Assoziationen.      Zugleich 
bringt  es  aber  diese  Entstehung  mit  sich,  daß  die  Mimik  der  Wangen- 
muskeln immer  auch  an  den  Lust-  und  Unlust-  sowie  an  den  Erregungs- 
und Hemmungssymptomen  teilnimmt.     Sättigung  und  Hunger  sind 
ja  nicht  bloß   Spannungs-  und  Lösungs-,  sondern  stets  auch  Lust- 
und  Unlust-,   und  mehr  oder  minder  erregende  und  deprimierende 
Gefühle.      Erst  im   Gefolge  des  Übergangs  der  gleichen  mimischen 
Bewegungen  auf  andere  Seelenzustände  dürfte  hier,  unterstützt  durch 
die    mit    der    ursprünglichen    Funktion     zusammenhängende     Tast- 
empfindlichkeit der  Wangen,   der  Ausdruck  der  Lösungs-   und  der 
Spannimgsgefühle   mehr   in   den   Vordergrund   getreten   sein. 


Verhältnis  d.   Vorstellungsäußerungen  zu  d.   and.  Affektsymptomen.    131 

VI.  Vorstellungsäußerungen  der  Affekte. 

1.  Verhältnis  der  Vorstellungsäußerungen  zu  den  andern 

Affektsymptomen. 

Jeder  Affekt  enthält  Vorstellungen,  die  ebenso  wie  die  den  Affekt 
zusammensetzenden  Gefühle  untereinander  verbunden  sind  und  auf 
diese  Weise  einen  Vorstellungs verlauf  bilden.  Nirgends  zeigt  es  sich 
daher  so  augenfällig  wie  bei  der  Beobachtung  der  Affekte,  daß  die 
Vorstellungen  und  die  Gefühle  des  seelischen  Lebens  nur  verschiedene 
Seiten  der  nämlichen  unmittelbaren  Erlebnisse  sind,  von  denen  sich 
je  nach  den  besonderen  Bedingungen  bald  mehr  die  eine,  bald  mehr 
die  andere  unserer  Wahrnehmung  aufdrängt.  Wenn  wir  uns  an  einem 
Gegenstand  erfreuen  oder  über  ihn  erzürnen,  so  erscheint  uns  wohl 
die  Vorstellung  des  Gegenstandes  als  die  Ursache,  der  die  Gefühls- 
erregung als  ihre  Wirkung  folgt.  Wenn  wir  aber,  wie  es  bei  den  dauern- 
den Gemütsrichtungen  die  Regel  ist,  in  gehobener  oder  gedrückter 
Stimmung  sind,  und  wenn  dann  dort  heitere,  hier  trübe  Bilder  der 
Zukunft  vor  uns  auftauchen,  so  sind  wir  geneigt,  das  umgekehrte 
Verhältnis  anzunehmen.  Genau  genommen  ist  jedoch  weder  hier 
noch  dort  von  irgendeiner  regelmäßigen  zeitlichen  Sonderung  dieser 
Erfahrungsinhalte  zu  reden.  In  dem  Moment,  wo  uns  ein  Objekt 
als  Vorstellung  gegeben  wird,  ist  auch  schon  ein  Gefühlszustand  vor- 
handen, der  dieser  Vorstellung  irgendwie  entspricht;  und  der  Ver- 
lauf, den  Vorstellung  wie  Gefühl  darbieten,  kann  ebenso  dieses  wie 
jene  zuerst  in  den  Vordergrund  des  Bewußtseins  heben.  So  ist  bei 
neuen  Sinneseindrücken  meist  die  Vorstellung,  bei  Erinnerungs- 
bildern sehr  oft  das  Gefühl  der  anscheinend  zunächst  sich  aufdrängende 
Bestandteil.  Ebenso  gibt  es  aber  keine  Art  seelischer  Stimmung, 
die  nicht  an  irgendwelche  gegenständliche  Inhalte  gebunden  wäre, 
mögen  diese  häufig  auch  dauernd  im  dunkeln  Hintergrunde  des  Be- 
wußtseins bleiben^). 

Dieses  Verhältnis  bringt  es  mit  sich,  daß  die  Affekte  ebenso  in 
Vorstellungs-  wie  in  Gefühlssymptomen  sich  äußern  können.  Dabei 
«ind    beide    Formen    der    Ausdrucksbewegungen    so    eng    aneinander 


1)  Physiol.  Psych.  III  e  S.  99  ff. 

9* 


132  I^iö  Ausdrucksbewegungen. 


gebunden,  daß  sie  erst  durch  eine  ähnliche  Abstraktion,  wie  sie  zur 
Scheidung  der  Vorstellungen  von  den  Gefühlen  selbst  dient,  zu  son- 
dern sind.  Hierfür  ist  in  diesem  Falle  schon  der  Umstand  bezeichnend, 
daß  alle  jene  Gefühlsäußerungen,  in  denen  sich  bestimmte  Sinnes- 
eindrücke von  einem  dem  vorhandenen  Affekt  entsprechenden  Ge- 
fühlscharakter spiegeln,  nicht  bloß  auf  die  Gefühle,  sondern  stets 
auch  auf  die  mit  diesen  assoziierten  äußeren  Eindrücke  hinweisen. 
Aber  in  der  Festigkeit  dieser  Assoziationen  ist  es  zugleich  begründet, 
daß  hier  die  ursprünglichen  Vorstellungsgrundlagen  der  Ausdrucks- 
bewegungen zurücktreten  und  wir  daher  den  Symptomen  einen  be- 
stimmten Vorstellungswert  überhaupt  nicht  mehr  beilegen.  Dem- 
nach können  als  spezifische  ,,  Vor  Stellungsäußerungen"  nur  solche 
Erscheinungen  gelten,  in  denen  sich  unmittelbar  die  Gegenstände, 
auf  die  sich  der  Affekt  bezieht,  die  Erinnerungen,  die  er  wachruft, 
zu  erkennen  geben.  Dabei  ist  aber  von  vornherein  zu  erwarten,  daß 
sich  diese  Erscheinungen  hinwiederum  untrennbar  mit  Gefühlsäuße- 
rungen verbinden,  mögen  sich  nun  solche  durch  besondere  mimische 
Bewegungen  oder  durch  die  Energie  und  Geschwindigkeit  der  Vor- 
stellungssymptome selbst  verraten.  In  dieser  letzteren  Form  sind 
vorzugsweise  mit  den  Merkmalen  der  für  den  Verlauf  der  Affekte  ent- 
scheidenden Gefühle  der  Erregung  und  Depression  Vorstellungs- 
gebärden verknüpft.  Indem  so  auch  bei  dieser  Klasse  eine  Bewegung, 
in  der  sich  überhaupt  kein  Affekt  verriete,  nicht  oder  annähernd 
höchstens  in  gewissen  Grenzfällen  vorkommt,  gehören  die  Vorstellungs- 
äußerungen im  vollen  Sinne  des  Wortes  zu  den  Affektsymptomen. 
Zugleich  ist  hier  durchaus  die  für  die  Ausdrucksbewegungen  im  all- 
gemeinen gültige  Voraussetzung  maßgebend,  daß  sie  in  keinem  ihrer 
Bestandteile  aus  Überlegung  und  Wahl  entstehen,  sondern  daß  sie 
natürliche  und  notwendige  Erzeugnisse  der  bei  den  ursprünglichen 
Trieben  und  deren  allmählicher  Entwicklung  wirksamen  psycho- 
physischen  Bedingungen  sind.  Wo  bei  einer  Bewegung  Plan  und  Ab- 
sicht wirklich  bestehen,  da  ist  dies  selbst  bei  den  Vorstellungsäuße- 
rungen stets  Resultat  späterer  Entwicklung.  Doch  diese  Lösung  von 
der  einstigen  Affektgrundlage  vollzieht  sich  nicht  anders  als  bei  den 
Intensitäts-  und  Qualitätssymptomen:  sie  ist  dort  wie  hier  ein  Be- 
standteil   jener    allgemeinen    Entwicklung    der    Willenshandlungen ^ 


Hauptformen  pantomimischer  Bewegungen.  133 


in  deren  Gefolge  sich  die  ursprünglichen  psychischen  Motive  bestimmter 
Bewegungen  ermäßigen  und  allmählich  mit  andern  Motiven  ihre 
Stellen  tauschen  können.  Und  wieder  fehlt  auch  hier  nicht  ganz  das 
Moment  der  Kückwirkung  der  Bewegungen  auf  den  psychischen  In- 
halt der  Affekte.  Wo  irgendeinmal  eine  Ausdrucksbewegung  affekt- 
los entstehen  sollte,  da  müßte  sie  doch,  weil  sie  selbst  ein  Bestandteil 
des  ganzen  psychophysischen  Komplexes  aller  Affekterscheinungen 
ist,  die  übrigen  Elemente,  mit  denen  sie  fest  assoziiert  ist,  hervor- 
rufen. Das  gilt  um  so  mehr  auch  für  die  Vorstellungsäußerungen, 
weil  diese  eben  in  der  Energie  und  Geschwindigkeit,  mit  denen  sie 
ausgeführt  werden,  stets  zugleich  Intensitätssymptome  sind,  denen 
als  solchen  ganz  besonders  die  affektverstärkende  Wirkung  zu- 
kommt. 

Mit  der  in  diesem  Verhältnis  abermals  zutage  tretenden  all- 
gemeineren Stellung  der  Intensitätsmerkmale  hängt  die  weitere  Tat- 
sache zusammen,  daß,  wie  die  Qualitäts-,  so  auch  die  Vorstellungs- 
symptome im  wesentlichen  auf  bestimmte  Muskelgebiete  be- 
schränkt sind.  Wie  für  jene  das  Gebiet  der  mimischen,  so  tritt  näm- 
lich für  diese  vorzugsweise  das  der  pantomimischen  Muskeln  in 
der  engeren  Bedeutung  des  Wortes  ein.  Dieser  engere  Begriff  umfaßt 
das  Bewegungssystem  der  Arme  und  Hände.  Nur  aushilfsweise 
können  dazu  auch  noch  andere  Körperteile,  wie  der  Kopf,  der  Rumpf, 
die  Gehwerkzeuge,  treten. 


2.  Hauptformen  pantomimischer  Bewegungen. 

Wie  die  mimischen,  so  haben  die  pantomimischen  Bewegungen 
frühe  schon  ein  wissenschaftliches  Interesse  erregt,  das  freilich  mehr 
von  praktisch-ästhetischen  als  von  psychologischen  Gesichtspunkten 
geleitet  war;  daher  es  denn  auch  weniger  in  dem  Versuch  einer  ge- 
netischen Erklärung  als  in  der  sorgfältigen  Beschreibung  einzelner 
Pantomimen  bestand,  die  man  auf  Grund  irgendeiner  durch  die  Be- 
obachtung nahegelegten  Einteilung  unternahm.  Dabei  wurde  jedoch 
schon  diese  Einteilung  durch  die  im  Vordergrund  stehenden  prak- 
tischen Interessen  beeinträchtigt.    Denn  da  man  bei  der  Beurteilung 


134  Die  Ausdrucksbewegungen. 


der  Bewegungen  des  Schauspielers  und  des  Redners  auf  eine  mög- 
lichst adäquate  Darstellung  wirklich  erlebter  Affekte  den  Haupt- 
wert legte,  so  ergab  sich  zunächst,  daß  mimische  und  pantomimische 
Bewegungen  überhaupt  nicht  gesondert  wurden.  Sodann  erschien 
es  als  das  Natürlichste,  daß  man  vor  allem  die  von  dem  Gefühl  ge- 
tragenen eigentlichen  Affektäußerungen  und  diejenigen  Bewegungen, 
die  Gedanken  andeuten,  unterschied.  In  diesem  Sinne  stellt  bereits 
Cicero  der  ,,significatio",  unter  der  er  den  Ausdruck  der  ,,affectiones 
animi"  versteht,  und  auf  die  er  den  rednerischen  Vortrag  beschränken 
möchte,  die  ,, demonstratio"  gegenüber,  durch  die  das  Wort  verdeut- 
licht oder  ersetzt  werde,  und  die  er,  weil  sie  vom  Schauspieler  ver- 
wendet wird,  auch  den  ,,genius  scenicus"  nennt ^).  Ähnlich  unter- 
scheidet noch  J.  J.  Engel  ,, ausdrückende"  und  ,, malende  Gebärden", 
wobei  er  den  letzteren  auch  die  hinweisenden  zuzählt^).  Meist  ging 
man  jedoch  nicht  einmal  so  weit,  sondern  verzichtete  nach  dem  Vor- 
bilde, das  schon  der  gründlichste  Erörterer  der  Lehre  vom  ,,gestus" 
im  Altertum,  Quintilian,  gegeben,  überhaupt  auf  eine  Subumstion 
der  Erscheinungen  unter  bestimmte  Allgemeinbegriffe,  um  statt 
dessen  einzelne  Beispiele  in  loser  Aufeinanderfolge  zu  schildern^). 
Gegenüber  dieser  im  einzelnen  verdienstlichen,  an  allgemeinen 
Gesichtspunkten  aber  ergebnislosen  praktisch-ästhetischen  Betrach- 
tungsweise, war  es  eine  für  die  psychologische  Behandlung  förder- 
liche Wendung,  daß  in  neuerer  Zeit  mehr  und  mehr  ein  anderes  Inter- 
esse die  Beschäftigung  mit  den  Gebärden  in  den  Vordergrund  rückte. 
Es  waren  die  praktischen  Fragen  der  Taubstummenbildung, 
die  notwendig  auch  auf  die  natürliche  Gebärdensprache  dieser  Un- 
glücklichen die  Aufmerksamkeit  lenkten.  Hier  wurde  nun  von  selbst 
eine  Unterscheidung  nahegelegt,  die  bei  den  ästhetischen  Erörterungen 
immer  wieder  verwischt  worden  war:  die  Unterscheidung  derjenigen 
Gebärden,  die  dem  reinen  Ausdruck  von  Vorstellungen  dienen,  von 
den  Gefühlsäußerungen  der  Affekte.  Waren  einmal  so  die  Gebärden 
der   ,, Gedankenmitteilung"   als   eine   selbständige   Klasse   gewonnen. 


^)  Cicero,  De  oratore,  Lib.  III,  cap.  9. 

2)  J.  J.  Engel,  Ideen  zu  einer  Mimik,  I,  1785,  S.  59  ff. 

3)  Quintilianus,  Institutiones  oratoriae,  XI,  3,  65 — 136. 


Hauptformen  pantomimischer  Bewegungen.  135 

SO  mußte  sich  unter  dem  hier  betonten  Gesichtspunkt  der  Analogie 
mit  der  Lautsprache  auch  die  Forderung  einer  gewissen  ,, Etymo- 
logie" der  als  Vorstellungszeichen  verwendeten  Gebärden,  also  einer 
Untersuchung  ihres  Ursprungs  und  ihrer  näheren  Beziehungen  er- 
heben. "Wie  sehr  man  dabei  meist  noch  geneigt  blieb,  einfach  die  der 
Lautsprache  entnommenen  Kategorien  auf  die  Gebärden  zu  über- 
tragen, dafür  bildet  freilich  die  noch  heute  vollständigste  Sammlung 
von  Zeichen  dieser  Art  einen  Beleg.  Sie  unterscheidet  die  Gebärden 
lediglich  in  Symbole  für  Hauptwörter,  Eigenschaftswörter  und  Zeit- 
wörter, ohne  darauf  Rücksicht  zu  nehmen,  daß  diese  grammatischen 
Kategorien  in  der  Form,  in  der  sie  die  Lautsprache  besitzt,  für  die 
Gebärde  überhaupt  nicht  existieren^).  Den  ersten,  auf  die  Natur 
der  Gebärden  selbst  gegründeten  und  mindestens  die  Hauptgruppen 
mit  sicherem  Takt  herausgreifenden  Versuch  einer  Einteilung  hat 
wohl  E.  B.  Tylor  gemacht,  indem  er  ,, Bilder  in  der  Luft"  und  das 
wirkliche  Hinweisen  auf  die  Gegenstände  als  die  zwei  Hauptklassen 
pantomimischer  Bewegungen  unterschied  2).  Wenn  wir  uns  statt 
der  ,, Bilder  in  der  Luft"  des  etwas  allgemeineren  Ausdrucks  ,, Nach- 
ahmung" bedienen,  so  dürften  in  den  beiden  Klassen  der  hinweisen- 
den und  der  nachahmenden  Bewegungen  in  der  Tat  die  Grund- 
formen der  Vorstellungsäußerungen  zutreffend  bezeichnet  sein.  Für 
die  allgemeine  Bedeutung  dieser  beiden  Gebärdeformen  ist  aber  maß- 
gebend, daß  sie  keineswegs  bloß  in  solchen  Fällen  vorkommen,  wo 
durch  sie  ein  Ersatz  der  Lautsprache  erstrebt  wird,  sondern  daß  sie, 
gerade  so  gut  wie  die  mimischen  Bewegungen,  allgemeine  Bestand- 
teile der  Ausdrucksbewegungen  sind. 


^)  Dieses  im  übrigen  wertvolle  Verzeichnis  findet  sich  in  dem  Werke  von 
Ed.  Schmalz,  Über  die  Taubstummen  und  ihre  Bildung,  ^  1838,  ^  1842. 
S.  314-339. 

2)  E.  B.  Tylor,  Forschungen  über  die  Urgeschichte  der  Menschheit.  A.  d. 
Engl.  Kap.  II,  S.  20.  ,,Descriptive  or  imitative  signs**  unterscheidet  auch  W.  R. 
Scott  (The  Deaf  and  Dumb,  1870,  ^  p.  124).  Er  stellt  ihnen  aber  unzweckmäßiger- 
weise als  zweite  Klasse  ,, natural  signs"  gegenüber,  unter  denen  alle  möglichen 
andern,  insbesondere  auch  die  mimischen  Ausdrucksbewegungen,  zusammen-, 
gefaßt  werden. 


2^36  ^^^  Ausdrucksbewegungen. 


3.  Theorie  der  pantomimischen  Bewegungen. 

Für  die  richtige  Würdigung  der  Bedeutung  der  pantomimischen 
Ausdrucksformen  ist,  wie  für  die  mimischen  Bewegungen,  das  schon 
oben  im  allgemeinen  berührte  Verhältnis  zu  den  Intensitätsäuße- 
rungen der  Affekte  in  erster  Linie  maßgebend.  Indem  unter  allen 
diesen  Symptomen  die  Intensitätsäußerungen  die  verbreitetsten  sind, 
geben  sich  dadurch  die  beiden  andern  von  vornherein  als  deren  be- 
sondere Entwicklungsformen  zu  erkennen,  die  in  den  spezifischen 
Eigenschaften  der  mimischen  und  der  pantomimischen  Muskeln  be- 
gründet sind  —  Eigenschaften,  die  sich  infolge  der  Lage  und  allgemeinen 
Funktion  der  Organe  ausgebildet  haben.  Diese  Auffassung,  wonach 
Qualitäts-  wie  Vorstellungsäußerungen  gewissermaßen  nach  ver- 
schiedenen Richtungen  hin  entwickelte  Intensitätssymptome  dar- 
stellen, bestätigt  sich  auch  darin,  daß  sich  ganz  besonders  in  den  mi- 
mischen und  pantomimischen  Bewegungen,  abgesehen  von  ihrer 
spezifischen  Bedeutung,  jedesmal  zugleich  die  Stärke  des  Affekts 
spiegelt.  Heftigere  Mimik  und  rasche  pantomimische  Gestikulationen 
verraten  meist  zu  allererst  erregende  Affekte;  und  nicht  minder  gibt 
sich  der  deprimierende  Charakter  anderer  im  Nachlaß  der  tonischen 
Spannungen  der  nämlichen  Muskelgebiete  zu  erkennen. 

Ist  es  auf  diese  Weise  eine  Art  Auslese,  die  den  Vorstellungs- 
äußerungen wie  den  Gefühlssymptomen  ihr  besonderes  Substrat 
in  bestimmten  Muskelgruppen  angewiesen  hat,  so  ist  aber  von  vorn- 
herein zu  erwarten,  daß,  analog  wie  die  mimischen  Bewegungen  in 
ihrer  Beziehung  zu  der  Funktion  der  spezifischen  Sinnesorgane  und 
in  der  hervorragenden  Sensibilität  der  Hautbedeckung  des  Angesichts 
(S.  127  f.)  die  Bedingungen  dieser  Auslese  erkennen  lassen,  so  nicht 
minder  bei  den  pantomimischen  Bewegungen  ganz  bestimmte  Gründe 
der  Bevorzugung  obgewaltet  haben.  In  der  Tat  springt  ja  die  Be- 
ziehung dieser  Bewegungen  zu  den  Gegenständen  der  uns  um- 
gebenden Außenwelt  unmittelbar  in  die  Augen.  Die  Arme  und 
Hände  sind  von  der  frühesten  Entwicklung  des  Menschen  an  als  die 
Organe  tätig,  mit  denen  er  die  Gegenstände  ergreift  und  bewältigt. 
Aus  dieser  offenbar  ursprünglicheren  Verwendung  als  Greiforgane, 
in  welcher  der  Mensch  den  analogen  Tätigkeiten  der  ihm  nahestehen- 


Theorie  der  pantomimischen  Bewegungen.  137 


den  Tiere  nur  dem  Grade,  nicht  dem  Wesen  nach  überlegen  ist,  führt 
eine  jener  stufenweisen  Veränderungen,  die  zunächst  eigentlich  re- 
gressiver Art  sind,  in  ihren  Wirkungen  jedoch  wichtige  Bestandteile 
-einer  fortschreitenden  Entwicklung  bilden,  zur  ersten,  primitivsten 
Porm  pantomimischer  Bewegungen:  zur  hinweisenden  Gebärde. 
Sie  ist  genetisch  betrachtet  nichts  anderes  als  die  bis  zur  Andeutung 
a,bgeschwächte  Greifbewegung.  In  allen  möglichen  Übergängen 
von  der  ursprünglichen  zur  späteren  Form  begegnet  sie  uns  noch 
fortwährend  beim  Kinde.  Dieses  greift  auch  nach  solchen  Gegen- 
ständen, die  es  nicht  erreichen  kann.  Damit  geht  aber  die  Greif - 
bewegung  unmittelbar  in  die  Deutebewegung  über.  Nach  oft  wieder- 
holten vergeblichen  Versuchen,  die  Gegenstände  zu  ergreifen,  ver- 
selbständigt sich  erst  die  Deutebewegung  als  solche.  Das  Kind  weist 
auf  einen  Gegenstand  hin,  den  es  zu  besitzen  wünscht,  und  dann  bald 
^uch  auf  einen  solchen,  der  seine  Neugierde  erregt,  oder  auf  den  es 
-die  Aufmerksamkeit  seiner  Umgebung  lenken  möchte.  Hiermit  ist 
•der  Weg  von  der  Greif-  zur  Deutebewegung  vollständig  zurückgelegt, 
und  diese  gewinnt  nun  neben  jener  in  dem  Maß  eine  selbständige 
Bedeutung,  als  die  anfänglichen  Bewegungstriebe  vor  ihrem  Über- 
gang in  äußere  Willenshandlungen  gehemmt  und  zu  bloßen  Affekten 
ermäßigt  werden.  Daneben  wird  aber  als  positives  Moment  das  Streben 
^rksam,  die  eigenen  Gemütszustände  nach  außen  kundzugeben. 
Beide  Bedingungen  gehören  mindestens  in  diesem  Grade  der  Aus- 
bildung nur  der  menschlichen  Entwicklung  an.  Darum  ist  kein  Tier, 
nicht  einmal  der  in  der  Organisation  der  Arme  und  Hände  dem  Menschen 
so  nahestehende  Affe,  zu  der  Entwicklung  hinweisender  Gebärden 
aus  Greifbewegungen  vorgeschritten.  Höchstens  sind  hier  jene  Über- 
gangsformen zu  finden,  bei  denen  eine  bestimmte  Bewegung  erst 
durch  die  Unmöglichkeit,  den  Gegenstand  zu  erreichen,  die  Bedeu- 
tung einer  Gebärde  empfängt. 

Zu  dieser  ersten  tritt  viel  später  die  zweite  Form  von  Vorstel- 
lungsäußerungen, die  der  nachahmenden  Gebärden.  Auch  sie 
haben  ihre  Vorstufe  in  Erscheinungen,  die  im  Tierreich  weitverbreitet 
sind,  und  als  deren  höhere  Entwicklungsformen  sie  betrachtet  werden 
können.  Imitative  Bewegungen  finden  sich  als  Wirkungen  des 
Zusammenlebens  bei  höheren  wie  niederen  Tieren.    Sie  bestehen  aber 


j^38  I^i®  Ausdrucksbewegungen. 

hier  ausschließlicli  darin,  daß  die  Handlungen  gleicher  oder 
ähnlicherlebenderWesen  nachgeahmt  werden .  Solche  Bewegungen 
spielen  bei  den  Instinktäußerungen  aller  gesellig  lebenden  Tiere  offen- 
bar eine  wichtige  Rolle.  Wenn  die  Ameisen  und  Bienen  bei  der  An- 
legung ihrer  Bauten,  der  Herbeischaffung  der  Nahrung  usw.  unver- 
kennbar in  Übereinstimmung  handeln,  so  beruht  dies  sicherlich  nicht 
auf  absichtlicher  Verständigung;  und  noch  weniger  kann  es  ein  rein 
mechanischer  Ablauf  von  Nervenerregungen  sein,  der  in  jedem  In- 
dividuum durch  äußere  Reize  ausgelöst  wird.  Mögen  daher  auch  ver~ 
erbte  Anlagen  der  Organisation  mithelfende  Bedingungen  sein,  in 
alle  jene  scheinbar  nach  gemeinsamem  Plan  ausgeführten  Instinkt- 
handlungen greifen  Nachahmungsbewegungen  bestimmend  ein.  Sie 
machen  es  verständlich,  wie,  sobald  nur  einmal  gewisse  übereinstim-^ 
mende  Triebrichtungen  gegeben  sind,  ein  Zusammenwirken  der  In-^ 
dividuen  möglich  wird,  das  zweckmäßige  Enderfolge  herbeiführt,, 
die  keineswegs  von  den  einzelnen  selbst  als  zu  erreichende  Zwecke 
vorgestellt  worden  sind^).  Dies  führt  aber  zu  dem  Schluß,  daß  bei 
solchen  Kollektiverscheinungen  die  Wirkung  der  Nachahmung  auf 
ähnlichen  Bedingungen  beruht  wie  die  Erregung  mimischer  oder 
pantomimischer  Mitbewegungen  beim  Menschen.  Ein  mimischer 
Ausdruck,  z.  B.  der  des  Lachens  oder  Weinens,  bringt  bei  dem,  der 
ihn  sieht,  infolge  der  festen  Assoziation  von  Ausdrucksbewegung  und 
Affekt,  eine  ähnliche  Gemütsbewegung  und  diese  wiederum  den  näm- 
liehen  mimischen  Ausdruck  hervor.  Beim  erwachsenen  Kulturmenschen 
hat  sich  diese  Wirkung,  infolge  der  hemmenden  Einflüsse  des  Willens« 
auf  die  Äußerung  der  Affekte,  zu  einer  schwachen  inneren  Affekt- 
erregung ermäßigt.  Beim  Kinde  dagegen  pflegt  sich  noch  ungehemmt 
das  erweckte  Mitgefühl  in  Ausdrucksbewegungen  zu  entladen,  die 
nach  dem  gleichen  Assoziationsgesetz  wieder  verstärkend  auf  die 
Gemütsstimmung  zurückwirken.  Von  einem  ,, Nachahmungstrieb" 
als  einer  sozusagen  unzerlegbaren  psychischen  Kraft  zu  sprechen, 
haben  wir  daher  nirgends  Anlaß.  Vielmehr  werden  wir  annehmen 
dürfen,  daß  auch  bei  den  Tieren  die  wahrgenommene  Triebbewegung 


^)  Über  die  Frage  der  Entwicklung  der  Instinkte  überhaupt  verweise  ich 
hier  auf  die  Erörterung  in  meinen  Vorlesungen  über  die  Menschen-  und  Tier- 
seele, «  1919,  S.  497  ff. 


Theorie  der  pantomimischen  Bewegungen.  139 

zunächst  den  nämliclien  Affekt  und  Trieb  erzeugt,  der  sich  durch 
die  Bewegung  Befriedigung  schafft.  Während  aber  bei  den  niederen 
Tieren  vorzugsweise  die  zu  irgendwelcher  Arbeitsleistung  geeigneten 
Körperbewegungen  der  Sitz  von  Affekt-  und  Triebäußerungen  sind, 
treten  schon  bei  dem  menschenähnlichen  Affen  mid  dann  ebenso 
beim  Menschen  die  mimischen  Bewegungen  besonders  hervor.  Der 
Grund  liegt  hier  offenbar  in  der  nur  dem  Menschen  und  den  ihm  ähn- 
lichsten Wesen  eigenen  Ausbildung  der  mimischen  Bewegungen.  Auch 
bei  dem  Affen  bleibt  jedoch  die  mimische  oder  pantomimische  Nach- 
ahmungsbewegung eine  Affektäußerung,  die  sich  durchaus  auf  die 
Nachahmung  der  gleichen  Ausdrucksbewegungen  anderer  ähnlicher 
Wesen  beschränkt,  z.  B.  eines  andern  Affen  oder  des  Menschen,  sel- 
tener schon  solcher  Tiere,  die  in  ihrer  Leibesgestalt  mehr  abweichen. 
Darum  erscheinen  diese  Nachahmungen  in  der  Kegel  als  ein  absolut 
zweckloses  Tun,  ähnlich  etwa  dem  sinnlosen  Nachsprechen  idiotischer 
Kinder.  Auch  ihre  Quelle  liegt  sichtlich  in  der  Miterregung  von  Affek- 
ten, deren  Symptome  die  nachgeahmten  Handlungen  selbst  sind. 
Der  Übergang  solcher  rein  sympathischer  Bewegungen,  bei  denen 
die  Handlungen  gleichartiger  Wesen  die  notwendigen  Objekte  der 
imitativen  Affektäußerungen  bleiben,  auf  beliebige  in  den  Affekt- 
verlauf eingehende  Vorstellungen  ist  nun  eben  deshalb,  weil 
er  eine  spezifisch  menschliche  Erwerbung  ist,  jedenfalls  ein  spätes 
Produkt  der  Entwicklung.  Darum  ist  es  nicht  wahrscheinlich,  daß 
er  vor  der  Sprache  hervorgetreten  sei.  In  der  Tat  wird  dieser  Über- 
gang am  ehesten  begreiflich,  wenn  wir  annehmen,  daß  er  unter  der 
Mitwirkung  des  Strebens  nach  Verständigung  zustande  kam.  Dieser 
zu  dem  ursprünglichen  Affekt  hinzukommende  Trieb  konnte  erst 
der  nachahmenden  Bewegung  jene  Kichtung  auf  beliebige  Objekte 
der  Außenwelt  geben,  wodurch  diese  nun  ebensolche  affekterregende 
Vorstellungsinhalte  wurden,  wie  es  zuvor  nur  die  wahrgenommenen 
Ausdrucksbewegungen  gewesen  waren.  Vor  allem  dann  lag  dieser 
Übergang  nahe,  wenn  der  nachzubildende  Gegenstand  kein  ruhendes 
Objekt,  sondern  wiederum  eine  Handlung  war  und  so  de  Aus- 
gangspunkt der  primären  imitativen  Bewegungen  nahelag.  Vollends 
nahe  gerückt  wurden  sich  beide  Formen,  wenn  die  durch  die  Aus- 
drucksbewegung   mitgeteilte    Vorstellung    eine    frühere    oder    bevor- 


240  I^i®  Ausdrucksbewegungen. 


stehende  Handlung  des  Redenden  selbst  oder  des  Angeredeten  be- 
zeichnete. Denn  hier  ging  ja  nur  das  eine  Assoziationsglied  der  imi- 
tativen Mitbewegung  von  der  unmittelbar  gesehenen  Handlung  auf 
ihr  Erinnerungsbild  über.  In  der  Tat  kommen  noch  heute  nachahmende 
Bewegungen  als  einfache  Affektäußerungen  hauptsächlich  da  vor, 
wo  sie  die  Vorstellung  einer  Handlung  andeuten;  und  sie  begleiten 
hier  am  häufigsten  entweder  die  affektstarke  Erzählung  geschehener 
Ereignisse  oder  die  affektbetonte  Aufforderung  zur  Ausführung  ge- 
wisser Handlungen,  die  Ermahnung,  den  Befehl,  die  Bitte.  Bewegungen, 
die  als  Nachahmungen  ruhender  Gegenstände  erschienen,  sind  inner- 
halb der  gewöhnlichen  Affektäußerungen  sehr  selten.  Sie  gewinnen 
erst  ihre  Bedeutung  unter  der  Wirkung  der  Motive,  die  aus  den  Aus- 
drucksbewegungen die  eigentliche  Gebärdensprache  hervorgehen 
lassen^). 

4.  Verbindungen  und  Übergänge  zwischen  verschiedenen 

Ausdrucksformen. 

Sind  die  hinweisenden  und  die  nachahmenden  Gebärden  zwei 
Formen  der  Vorstellungsäußerung,  die,  verschiedenen  Quellen  ent- 
sprungen, auch  in  ihrer  Erscheinungsweise  wesentlich  abweichen, 
so  bietet  nun  gleichwohl  die  Beobachtung  eine  Menge  einzelner,  auf 
Vorstellungen  zu  beziehender  Affektsymptome,  die  zwischen  diesen 
Formen  in  der  Mitte  stehen  oder  beiden  gleichzeitig  zuzurechnen  sind. 
Diese  Komplikation  wird  noch  dadurch  erhöht,  daß  sich  der  mimische 
Ausdruck  von  Gefühlen  nicht  nur  mit  den  pantomimischen  Bewegungen 
verbindet,  sondern  auch  in  dieser  Verbindung  eine  Bedeutung  ge- 
winnen kann,  durch  die  er  gleichzeitig  oder  sogar  vorzugsweise  zur 
Vorstellungsäußerung  wird.  So  läßt  sich  schon  bei  der  einfachen  Ge- 
bärde des  Winkens  mit  der  Hand,  mit  der  wir  je  nach  ihrer  Richtung 
jemandem  zu  verstehen  geben,  er  möge  näher  kommen  oder  sich  ent- 
fernen, wohl  fragen,  ob  sie  als  hinweisende  oder  als  nachahmende 
zu  deuten  sei.  Wenn  der  Zornige  gegen  die  wirkliche  oder  die  bloß 
vorgestellte  Person,  die  seinen  Affekt  erregt,  die  Fäuste  ballt,  mit 


^)  Vgl.  das  folgende  Kapitel,  V,  1. 


Verbindungen  u.  Übergänge  zwischen  verschiedenen  Ausdrucksformen.     141 

den  Zähnen  knirscht  und  mit  dem  ganzen  Körper  energische  Angriffs- 
bewegungen ausführt,  so  wird  man  diesen  ganzen  Symptomenkomplex, 
insoweit  er  neben  Gefühls-  zugleich  Vorstellungsäußerungen  enthält, 
als  eine  Verbindung  betrachten  müssen,  die  in  jeder  Bewegung  beide 
Gebärdeformen  vereinigt.  So  ist  das  Ballen  der  Faust  zunächst  eine 
hinweisende  Gebärde,  denn  es  erhält  erst  durch  die  Richtung  auf  den 
Gegenstand  seine  Bedeutung.  Zugleich  ist  es  aber  eine  höchst  aus- 
drucksvolle nachahmende  Gebärde,  nämlich  die  abgeschwächte  Form 
des  aus  dem  gleichen  Affekt  entspringenden  tätlichen  Angriffs  auf 
einen  Feind.  Dazu  kommt  ein  weiteres  Moment,  das  die  Grenzen 
noch  mehr  verwischt,  weil  es  einer  und  derselben  Ausdrucksform  in 
verschiedenen  Fällen  wechselnde  Bedeutungen  zuweist.  Es  besteht 
in  der  zunehmenden  psychischen  Umwandlung  der  ursprüng- 
lich triebartigen  Ausdrucksbewegungen  in  willkürliche.  Infolgedessen 
können  diese  bald  noch  in  ihrer  triebartigen  Form  als  ungesuchte 
Symptome  wirklicher  Affekte  auftreten,  bald  infolge  von  Hemmungen>, 
die  von  widerstreitenden  Motiven  ausgehen,  bloß  rudimentäre  Affekt- 
äußerungen sein,  bald  endlich  infolge  anderer  Konstellationen  der 
Motive  als  willkürliche  Nachbildungen  natürlicher  Äußerungen  er- 
scheinen. In  diesem  letzteren  Fall  verwandeln  sich  von  selbst  alle 
Ausdrucksbewegungen  in  nachahmende  Gebärden.  Auch  die  mi- 
mischen Bewegungen  sind  dann  nicht  mehr  bloße  Gefühlssymptome, 
sondern  sie  bilden  Bestandteile  des  ganzen  Symptomenbildes,  das 
z.  B.  an  die  Vorstellung  eines  Erzürnten  erinnern  soll,  indem  es  die 
Mienen  und  Gebärden  desselben  nachahmt.  Hierin  liegt  schon  aus- 
gesprochen, daß  sich  gerade  in  diesem,  für  die  Psychologie  der  Sprache 
wichtigsten  Fall  die  sämtlichen  sonstigen  Affektäußerungen  den  Vor- 
stellungssymptomen unterordnen.  Dies  entspringt  aber  wieder  aus 
der  mit  solcher  Mitteilung  immer  verbundenen  Ermäßigung  der 
Affekte  und  der  entsprechenden  Verstärkung  der  Vorstellungsbestand- 
teile der  psychischen  Inhalte.  Gleichwohl  darf  diese  Tatsache  nicht 
zu  dem  oft  begangenen  Irrtum  verführen,  als  wenn  die  Mitteilung 
von  Vorstellungen  allgemein  auf  einem  affektlosen  Verhalten  der 
Seele  beruhe  oder  auch  nur  in  der  Regel  mit  einem  solchen  verbunden 
sei.  Da  vielmehr  die  Entstehung  von  Ausdrucksbewegungen  über- 
haupt gar  nicht  anders  denkbar  ist  als  auf  Grund   bestimmter  Affekte 


142  Die  Ausdrucksbewegungen. 

SO  kann  es  sich  überall  nur  um  ein  Zurücktreten  der  GefüMsinhalte 
derselben  hinter  ihre  Vorstellungselemente,  und  insofern  also  um  eine 
Ermäßigung  der  Affekte  selbst  handeln.  Doch  den  allgemeinen  Cha- 
rakter des  Affekts  behält  der  die  Mitteilung  begleitende  Seelenzustand 
immer,  imd  auch  die  ursprüngliche  Intensität  und  Gefühlsstärke  ge- 
winnt er  um  so  mehr  zurück,  je  lebhafter  die  Ausdrucksbewegungen 
werden.  Denn  die  begleitenden  sinnlichen  Empfindungen  und  die 
intensiver  werdenden  Gefühle  nähern  nun  die  nachahmenden  Ge- 
bärden selbst  mehr  und  mehr  einem  wirklichen  Nacherleben  der  Hand- 
lungen, die  sie  andeuten. 


Zweites  Kapitel. 

Die  Gebärdensprache. 

I.  Die  Entwicklungsformen  der  Gebärdensprache. 
1.  Begriff  und  allgemeine  Eigenschaften  der  Gebärdensprache. 

•Man  pflegt  die  Gebärdenspraclie  als  eine  ,, Äußerung  der  Gedanken 
durch,  sichtbare,  aber  nicht  hörbare  Bewegungen"  zu  definieren  und 
demnach  der  Gebärdenäußerung  ihre  Stellung  mitteninne  zwischen 
Schrift  und  Sprache  anzuweisen.  Gleich  der  ersteren  stelle  sie  die 
Begriffe  in  sichtbaren  Zeichen  dar,  während  doch  diese  Zeichen,  ähn- 
lich den  Sprachlauten,  rasch  vorübergehende  Vorgänge  seien.  Sie 
erscheint  so  als  eine  Bilder-  oder  Zeichenschrift,  die  ihre  Symbole 
mittels  der  flüchtigen  Gebärde  in  die  Luft  zeichnet,  statt  auf  ein  so- 
lides, sie  dauernd  festhaltendes  MateriaP). 

Da  nun  die  Schrift  der  Sprache  gegenüber  ein  verhältnismäßig 
spätes  und  in  höherem  Grade  die  erfinderische  Tätigkeit  heraus- 
forderndes Erzeugnis  ist,  so  wird  dadurch  zugleich  die  weitverbreitete 
Meinung  verständlich,  die  Gebärdensprache  sei,  wie  in  den  meisten 
Fällen  ihrem  Erfolge  nach  ein  Ersatzmittel  für  die  Lautsprache,  so 
auch  nach  ihren  ursprünglichen  Motiven  aus  der  Absicht  entsprungen, 
einen  solchen  Ersatz  zu  schaffen.  Sie  wird  daher  von  diesem  Stand- 
punkte aus  ganz  oder  mindestens  in  höherem  Maß  als  die  Lautsprache 
für  ein  Produkt  planmäßiger  Erfindung  gehalten. 

Diese  Auffassimg  wird  jedoch  von  einer  andern  durchkreuzt, 
die  von  einem  nicht  minder  bezeichnenden  Unterschiede  der  Ge- 
bärden- und  Lautsprache  ausgeht.    Die  Lautsprache  tritt  uns  in  einer 

^)  Tylor,    Urgeschichte    der   Menschheit.      A.    d.    Engl,    von   H.    Müller. 
S.  105  ff. 


144  I^iß  Gebärdensprache. 


unabsehbaren  Fülle  einzelner  Gestaltungen  entgegen,  deren  nähere 
oder  entferntere  Beziehungen  sich  durchweg  erst  den  Hilfsmitteln 
der  sprachwissenschaftlichen  Analyse  erschließen,  so  daß  für  die  prak- 
tischen Zwecke  der  Mitteilung  jede  Sprache  wie  ein  konventionelles 
System  von  Zeichen  erscheint,  dessen  Gebrauch  besonders  erlernt 
und  eingeübt  sein  muß.  Das  ist  wesentlich  anders  bei  der  Gebärden- 
sprache, die  schon  Quintilian  ,,omnium  hominum  communis  sermo" 
genannt  hat^).  Sie  ist,  wenn  auch  nicht  in  allen,  so  doch  in  ihren  wich- 
tigsten und  verbreitetsten  Formen  eine  Art  Universalsprache,  die 
unter  den  verschiedensten  Entstehungsbedingungen  zahlreiche  Be- 
standteile gemein  hat,  so  daß  zwischen  ihren  verschiedenen,  allen- 
falls den  ,, Dialekten"  einer  Lautsprache  vergleichbaren  Entwick- 
lungsformen oft  ohne  besondere  Schwierigkeit  eine  Verständigung 
möglich  ist.  Dieser  universelle  Charakter  ist  aber  sichtlich  durch  die 
unmittelbar  in  der  Anschauung  gegebene  Beziehung  bedingt,  in  der 
die  Gebärde  und  ihre  Bedeutung  zueinander  stehen.  Durch  diese 
Beziehung  gewinnt  die  Gebärdensprache  eine  Ursprünglichkeit  und 
Natürlichkeit,  wie  solche  die  Lautsprache  weder  heute  besitzt  noch 
in  irgendwelchen  früheren  sprachgeschichtlich  zu  erschließenden 
Formen  jemals  besessen  hat.  Nimmt  man  hinzu,  daß  schon  gewisse 
Ausdrucksbewegungen  der  Tiere  eine  den  Gebärden  des  Menschen 
ähnliche  und  darum  für  uns  leicht  verständliche  Bedeutung  haben, 
so  kann  man  dadurch  wohl  zu  der  von  manchen  Anthropologen  aus- 
gesprochenen Vermutung  geführt  werden,  die  Gebärdensprache  sei 
die  eigentliche  Ursprache,  und  sie  sei,  als  das  natürlichere  Hilfsmittel 
der  Mitteilung,  der  Lautsprache  vorausgegangen. 

Die  Antinomie,  die  in  diesen  verschiedenen  Auffassungen  zutage 
tritt,  macht  es  bereits  wahrscheinlich,  daß  die  Gebärdensprache 
durchaus  kein  so  einheitliches,  nach  ihrem  Ursprünge  zusammen- 
gehöriges Ganzes  ist,  wie  man  dies  bei  ihrer  zuletzt  erwähnten  Cha- 
rakterisierung als  einer  Ur-  und  Universalsprache  anzunehmen  pflegt. 
In  der  Tat  kann  sie  nach  den  mannigfachen  Bedingungen  ihrer  Ent- 
stehung Abweichungen  darbieten,  die  uns  von  vornherein  nötigen, 
mehrere  Entwicklungsformen  zu  unterscheiden. 


^)  Quintilian,  Instit.  orator.  XT,  3,  87. 


Gebärdensprache  der  Taubstummen.  145 


2.  Gebärdensprache  der  Taubstummen. 

Unter  allen  Formen  der  Gebärdenspraclie  hat  in  neuerer  Zeit 
diejenige  der  Taubstummen  wobl  am  meisten  die  Aufmerksamkeit 
auf  sich  gelenkt.  Das  praktische  Interesse  des  Taubstummenunter- 
richts ist  hier  der  Beschäftigung  mit  dem  Gegenstand  besonders  förder- 
lich gewesen.  Freilich  hat  aber  auch  dieses  Interesse  durch  die  mannig- 
fachen einander  zum  Teil  widerstreitenden  pädagogischen  Anschau- 
ungen und  Maßregeln,  die  aus  ihm  hervorgegangen  sind,  auf  die  Art 
und  den  Umfang  der  Gebärdenmitteilung  selbst  nicht  wenig  hinüber- 
gewirkt. Unter  den  sonstigen  Bedingungen  steht  natürlich  der  Ein- 
fluß der  Umgebung  obenan.  Neben  ihm  kommt  dann  noch  der  Grad 
des  Gehörmangels  und  die  Zeit  seines  Eintritts  in  Betracht.  Denn 
der  Gehörmangel  des  Taubstummen  fällt  zwar  stets  unter  die  hoch- 
gradigen Sinnesdefekte,  da  geringere  Gehörsschwäche  nicht  den  Ver- 
lust der  Sprache  zur  Folge  hat.  Aber  darum  ist  jener  doch  keines- 
wegs in  allen  Fällen  ein  absoluter,  und  je  nachdem  Reste  des  Gehörs 
oder  auch  nur  Erinnerungen  an  einstige  Schallempfindungen  vor- 
handen sind  oder  fehlen,  gstalten  sich  die  Bedingungen  für  die  Ge- 
bärdenmitteilung verschieden.  Nicht  minder  ist  die  Frage,  ob  der 
Taubstumme  im  Hause,  in  der  ausschließlichen  Umgebung  Hören- 
der, oder  ob  er  in  Anstalten  mit  seinesgleichen  aufwächst,  und  end- 
lich, unter  welchem  Unterrichtssystem  er  erzogen  wird,  von  Be- 
deutung. 

Am  ungünstigsten  für  die  spontane  Entwicklung  der  Gebärden- 
sprache ist  begreiflicherweise  das  Leben  des  einzelnen  Taubstummen 
in  einer  hörenden  Umgebung.  Wie  das  hörende,  so  empfängt  auch 
das  gehörlose  Kind  die  erste  Anregung  zur  Mitteilung  seiner  Wünsche 
und  Vorstellungen  vom  Erwachsenen.  Die  Unmöglichkeit,  sich  ihm 
durch  Laute  verständlich  zu  machen,  läßt  dann  von  selbst  zu  ein- 
fachsten, zunächst  fast  ausschließlich  hinweisenden  Gebärden  greifen. 
Sobald  sich  aber  die  Intelligenz  des  Kindes  zureichend  entwickelt 
hat,  pflegt  allmählich  die  Umgebung  das  gesprochene  Wort  durch 
das  geschriebene  zu  ergänzen,  und  da  die  wirkliche  Schrift  nicht  über- 
all zur  Hand  ist,  so  wird  sie  dann  durch  die  Nachbildung  der  Schrift- 
zeichen mit  den  Fingern  ersetzt.     So  kann  gewissermaßen  auf  natür- 

Wundt,  Völkejrpsychologie.    I.    4.  Aufl.  1" 


]^46  I^i®  Gebärdensprache. 


lichem  Weg  eine  völlig  künstliche,  erst  auf  Grundlage  der  Schrift 
mögliche  Gebärdensprache  entstehen. 

Diese  Verhältnisse  machen  es  verständlich,  daß  der  erste  Ver- 
such einer  systematischen  Ausbildung  der  Gebärdensprache  für  die 
Zwecke  des  Taubstummenunterrichts  das  Fingeralphabet  war.  In 
Spanien,  der  Heimat  dieses  Unterrichtszweigs,  erfunden,  ist  es  in 
verschiedenen  Formen,  bald  als  einhändiges,  bald  als  zweihändiges 
Zeichensystem,  durch  alle  zivilisierten  Länder  gewandert,  und  es 
hat  sich  später  namentlich  in  der  Gunst  solcher  Taubstummenlehrer 
erhalten,  die  in  der  natürlichen  Gebärde  ein  Hindernis  für  die  Er- 
reichung des  höchsten  Zieles  der  Taubstummenbildung,  der  Erwerbung 
der  artikulierten  Lautsprache,  erblickten. 

Den  vollen  Gegensatz  zu  dieser  ganz  und  gar  künstlichen  Finger- 
schrift bildet  nun  jene  Gebärdensprache,  die  sich  von  selbst  ausbildet, 
wenn  entweder  von  früh  an  mehrere  Taubstumme  zusammenleben, 
oder  wenn,  was  bis  zu  einem  gewissen  Grade  diese  zwingendste  Be- 
dingung ersetzen  kann,  die  hörende  Umgebung  sich  selbst  den  Be- 
dürfnissen des  Stummen  anzupassen  und  in  seine  Vorstellungs-  und 
Gefühlsweise  einzuleben  sucht.  Mit  Recht  kann  man  das  so  sich  bil- 
dende Zeichensystem  eine  natürliche  Gebärdensprache  nennen, 
weil  es  an  sich  gar  keine  schon  existierenden  Hilfsmittel  der  Mit- 
teilung, weder  die  Lautsprache  noch  die  Schrift,  fordert  und  darum 
auch  nicht  notwendig  einer  fortlaufenden  längeren  Tradition  bedarf, 
sondern  nötigenfalls  in  einem  Kreise  von  Taubstummen  oder  von 
Taubstummen  und  Hörenden  völlig  selbständig  entstehen  kann. 
Freilich  kommt  das  nur  selten  wirklich  vor,  da  irgendeine  Art  Über- 
lieferung nicht  leicht  fehlt  und  namentlich  in  den  Fällen,  wo  Taub- 
stumme dauernd  zusammenbleiben,  also  in  den  Taubstummenanstalten, 
eine  so  überwiegende  Rolle  spielt,  daß  das  in  einer  solchen  Anstalt 
herrschende  System  von  Gebärdezeichen  beinahe  ebensosehr  als 
ein  durch  Überlieferung  angeeignetes  und  konventionelles  angesehen 
werden  kann,  wie  ein  beliebiger  lokaler  Dialekt  einer  Lautsprache. 
Immerhin  tritt  auch  dann  der  natürliche  Charakter  eines  solchen 
Systems  in  ^wei  Erscheinungen  hervor,  die .  der  Lautsprache  fehlen 
oder  höchstens  in  entfernten  Andeutungen  in  ihr  vorkommen.  Die 
eine  besteht  darin,  daß  innerhalb  eines  räumlich  beschränkten  Gebiets 


Gebärdensprache  der  Taubstummen.  147 

Neubildungen  außerordentlich  häufig  auftreten:  sie  sind  durch  die 
Natur  der  Gebärdenmitteilung  nahegelegt  und  verbinden  sich  daher 
fortwährend  und  oft  ohne  deutliches  Bewußtsein  der  Neubildung  mit 
dem  Gebrauch  der  überkommenen  Symbole.  Die  zweite,  noch  augen- 
fälligere Erscheinung  ist  die,  daß  räumlich  weit  voneinander  ent- 
fernte und  zweifellos  ganz  unabhängig  entstandene  Zeichensysteme 
in  einem  großen  Teil  ihrer  Bestandteile  einander  gleichen  oder  doch 
nahe  verwandt  sind,  eine  Verständigung  also  zwischen  denen,  die 
sich  solcher  Gebärdeformen  bedienen,  meist  ohne  Schwierigkeit  mög- 
lich ist.  Hierin  besteht  eben  die  oft  gerühmte  Universalität  der  Ge- 
bärdensprache. Übrigens  versteht  es  sich  von  selbst,  daß  diese  Univer- 
salität nur  für  Vorstellungen  gilt,  die  hinreichend  allgemeingültiger 
Art  sind.  Demnach  bilden  das  Ich  und  Du,  das  Dieser  und  Jener,  das 
Hier  und  Dort,  oder  die  Erde,  der  Himmel,  die  Wolken,  die  Sonne, 
das  Haus,  der  Baum,  die  Blume,  ferner  das  Gehen,  Stehen,  Liegen, 
Schlagen  und  viele  andere  Gegenstände  und  Tätigkeiten,  die  im  wesent- 
lichen überall  nach  den  nämlichen  bevorzugten  Merkmalen  apper- 
zipiert  werden,  die  Substrate  eines  mit  wenigen  Variationen  überein- 
stimmend wiederkehrenden  Vorrats  von  Gebärdezeichen.  Die  ein- 
zelnen Personen,  die  in  der  bestimmten  Gemeinschaft  leben,  die  be- 
sonderen, an  den  Wohnort  und  an  die  speziellen  Zeitbedingungen 
gebundenen  Gegenstände,  Gewohnheiten  und  Erinnerungen  aber, 
sie  variieren  natürlich  auch  in  den  Zeichen,  die  für  sie  gebraucht  wer- 
den, von  Ort  zu  Ort  und  in  vielen  ihrer  Bestandteile  sogar  von  einer 
Generation  zur  andern,  ja  von  Jahr  zu  Jahr  mit  den  wechselnden 
Erlebnissen.  In  dieser  Beziehung  gibt  die  Gebärdensprache  sogar 
ein  lebendigeres  Bild  von  dem  fortwährenden  Fluß  der  Lebensinhalte 
einer  jeden  beschränkteren  wie  weiteren  Gemeinschaft,  als  es  die 
Lautsprache  zu  tun  vermag,  weil  diese  in  viel  höherem  Maße  an  einen 
festen  Bestand  von  Symbolen  gebunden  ist  und  daher  zumeist  auch 
das  Neue  enger  an  das  Bekannte  anschließt.  Da  auf  diese  Weise  inner- 
halb der  Gebärdensprache  fortan  weit  radikalere  Neubildungen  vor- 
kommen als  in  der  ungleich  stabileren  Lautsprache,  so  fordert  jene 
aber  auch  in  höherem  Grade  zu  willkürlichen  Neubildungen  heraus, 
und  diese,  wenn  sie  nur  irgendwie  den  auszudrückenden  Begriffen 
adäquat  sind,  gehen  dann  ohne  Schwierigkeit  in  den  allgemeinen  Be- 

10* 


248  I^®  Gebärdensprache. 


sitz  über.  Von  der  Scheu,  die  auf  dem  Gebiet  der  Lautsprache  den 
überkommenen  Wortschatz  im  ganzen  getreu  bewahrt  und  neue 
Eindringlinge  nur  selten  zuläßt,  ist  in  der  Gebärdensprache  nicht  die 
Rede.  Sie  bemächtigt  sich  begierig  neuer  Bildungen,  um  damit  ihrer 
stets  empfundenen  Armut  abzuhelfen.  Mehr  noch  als  den  Taub- 
stummen selbst  macht  sich  dieses  Bedürfnis  oft  ihrer  hörenden  Um- 
gebung fühlbar,  die  immer  mit  der  Schwierigkeit  kämpfen  muß,  das 
in  der  Lautsprache  Gedachte  durch  Gebärden  auszudrücken.  So- 
bald dieser  Einfluß  der  Umgebung  überwiegend  wird,  so  streben  in 
die  Gebärdensprache  auch  solche  Elemente  überzugehen,  die  eigent- 
lich nur  in  der  Lautsprache  möglich,  also,  wenn  sie  in  Gebärden  um- 
gesetzt werden,  künstlich  erfundene  Symbole  sind.  Immerhin  können 
diese  im  Sinne  der  Gebärdensprache  erfunden  werden,  und  dies  ge- 
schieht um  so  mehr,  wenn  schon  der  ganze  Bewußtseinszustand  auf 
das  Denken  in  Gebärden  angelegt  ist.  Hierdurch  unterscheiden  sich 
immerhin  auch  diese  künstlichen  Bestandteile  der  Gebärdensprache 
sehr  wesentlich  von  der  Fingerschrift. 

Die  Frage,  ob  und  in  welchem  Umfang  eine  solche  Bereicherung 
der  natürlichen  Gebärden  durch  willkürliche,  aber  soviel  als  mög- 
lich in  ihrem  Geist  erfundene  Zeichen  zulässig  sei,  hat  von  der  Mitte 
des  18.  Jahrhunderts  an  bis  auf  unsere  Tage  herab  in  dem  Streite 
zwischen  der  französischen  und  der  deutschen  Methode  des  Taub- 
stummenunterrichts eine  wichtige  Rolle  gespielt.  Dieser  Streit  selbst 
hat  aber  eine  psychologische  und  eine  ethische  Seite.  Die  französische 
Schule  fordert  das  psychologisch  Angemessene,  die  deutsche  das 
ethisch  Erstrebenswerte.  Nun  ist  die  den  Fähigkeiten  des  Taubstummen 
angemessene  Sprache  selbstverständlich  die  Gebärdensprache.  Ver- 
möge seiner  natürlichen  Anlagen  würde  er  nie  zu  einer  andern  Art 
der  Mitteilung  gelangen.  Die  französische  Schule,  nach  den  vom 
Abbe  de  l'Epee  gemachten  Anfängen  hauptsächlich  von  Abbe  Sicard 
begründet,  suchte  daher  die  natürliche  Gebärdenmitteilung  fort- 
zubilden, indem  sie  im  Sinne  derselben  weitere  Zeichen  und  solche 
logische  und  grammatische  Hilfsmittel  erfand,  durch  die  ihr  die  Er- 
werbungen der  Lautsprache  möglichst  zugänglich  gemacht  werden 
sollten^).     „Nicht  wir  sind  die  Erfinder  der  Zeichen,"  sagt  Sicard, 

^)  Sicard,    Theorie   des   signes   pour   l'instruction   des   sourdsmuets,    Paris 


Gebärdensprache  der  Taubstummen.  149 


„sondern  die  Taubstummen  selbst,  und  wir  haben  nur  ihren  wahren 
Erfindern  nachzuschreiben,  wenn  wir  die  Theorie  dieser  Zeichen  zu 
geben  suchen."  Ist  diese  Methode  zweifellos  diejenige,  die  das  zu  er- 
reichende Ziel  am  meisten  den  psychischen  Eigenschaften  des  Taub- 
stummen anpaßt,  so  ist  aber  dieses  Ziel  selbst  ein  ethisch  unbefriedi- 
gendes: es  verurteilt  den  Gehörlosen  zu  einer  Sonderexistenz  unter 
seinesgleichen  oder  in  der  Gesellschaft  der  Vollsinnigen,  in  der  er  nur 
in  kümmerlichster  Weise  an  den  Gütern  des  gemeinsamen  Lebens 
teilnimmt.  Auch  ist  es,  wenn  maÄi,  wie  es  die  französische  Methode 
prinzipiell  tut,  die  natürliche  Gebärdensprache  des  Taubstummen 
soviel  als  möglich  der  Stufe  der  Lautsprache  zu  nähern  sucht,  sehr 
schwer,  die  Grenze  einzuhalten,  bei  der  das  erfundene  Zeichen  nicht 
dennoch  zu  einem  gekünstelten  wird,  das  den  natürlichen  Bedingungen 
der  Gebärdensprache  selbst  widerspricht.  Wenn  z.  B.  in  dem  System 
Sicards  die  Auf-  und  Abwärtsbewegung  der  geschlossenen  Hände 
auf  der  Brust  bei  auswärts  gekehrten  Daumen  das  Verbum  substan- 
tivum  sdin,  das  Vorwärtsstoßen  der  geballten  Fäuste  mit  aufwärts 
gerichteten  Daumen  das  Adverbium  noch,  die  Bewegung  der  Finger 
von  den  Schläfen  nach  außen  die  Konjunktion  wann  bedeuten  soll 
usw.,  so  können  diese  Zeichen  schon  deshalb  keine  naturgemäßen 
Weiterbildungen  der  ursprünglichen  Gebärdensprache  sein,  weil  in 
dieser  solche  abstrakte  Verba  und  Partikeln  nicht  existieren  und  ihrem 
ganzen  Charakter  nach  nicht  existieren  können.  Die  Interpretation, 
die  diese  künstlichen  mit  den  natürlichen  Zeichen  verknüpft,  läuft 
darum,  falls  sie  überhaupt  versucht  wird,  auf  irgendeine  fernliegende 
Assoziation  hinaus,  die  von  dem  Taubstummen  mühselig  erlernt  wer- 
den muß,  wenn  er  sie  verstehen  soll,  und  die  er  samt  dem  Zeichen, 
das  durch  sie  begreiflich  gemacht  wird,  in  der  Regel  vergißt,  sobald 
er  sich  von  dem  Zwang  der  Schule  befreit  weiß. 

Die  deutsche  Schule  stellt  nun  im  Gegensatz  zu  der  französischen 
den  ethischen  Zweck,  die  Taubstummen  soviel  als  möglich  zu  voll- 


1808,  2  vols.  Über  die  Geschichte  des  Taubstummenunterrichts  überhaupt  vgJ. 
Ed.  Schmalz,  Über  die  Taubstummen  und  ihre  Bildung,  1838,  ^  1848,  S.  120  ff. 
A.  Hartmann,  Taubstummheit  und  Taubstummenbildung,  1880,  S.  125  ff. 
W.  R.  Scott,  The  Deaf  and  Dumb,   ^  1870,  p.  95  ff. 


J50  I^^®  Gebärdensprache. 


wertigen  Mitgliedern  der  Gesellschaft  zu  machen,  in  den  Vordergrund. 
Nach  dem  Vorbild  ihres  Begründers  Samuel  Heinicke  benützt  sie 
daher  die  Gebärden  nur  als  vorübergehende  Hilfsmittel,  durch  die 
jenen  allmählich  die  Lautsprache  selbst  zugänglich  werden  solP). 
Bei  dieser  Aneignung  der  artikulierten  Lautsprache  fallen  aber  für 
den  Gehörlosen  naturgemäß  die  beiden  Fähigkeiten,  die  Sprache  zu 
verstehen  und  sie  zu  gebrauchen,  ungleich  mehr  auseinander  als  für 
das  hörende  Kind,  bei  dem  der  Laut  alsbald  das  Streben  erweckt, 
ihn  nachzuahmen,  so  daß  sich  hier  Sprachlaute  und  Artikulations- 
empfindungen von  frühe  an  fest  assoziieren.  Für  den  Gehörlosen 
sind,  weil  ihm  gerade  diejenige  Sinnesempfindung  fehlt,  die  das  natür- 
liche Mittelglied  dieser  Assoziationen  ist.  Verstehen  und  Gebrauch 
der  Lautsprache  von  Anfang  an  gesonderte  Tätigkeiten,  die  allmäh- 
lich erst  durch  eine  völlig  neue,  künstlich  eingeübte  Assoziation  an- 
einander gekettet  werden.  Verstehen  lernt  er  die  Sprache  dadurch, 
daß  er  sie  vom  Munde  abliest,  also  in  der  Form  einer  Folge  von  Ge- 
sichtsbildern. Gebrauchen  lernt  er  sie,  indem  er  die  Artikulations- 
bewegungen des  Hörenden  und  Sprechenden  nachbildet.  Die  fran- 
zösische Schule  sucht  also  den  Gehörlosen  innerhalb  der  ihm  gebliebenen 
Sinnessphären  zu  entwickeln,  indem  sie  dabei  jeden  Sinn  nur  in  den 
ihm  auch  beim  Hörenden  zukommenden  Funktionen  weiterzubilden 
bemüht  ist.  Die  deutsche  Schule  will  für  den  fehlenden  Gehörssinn 
dadurch  Ersatz  schaffen,  daß  sie  ihm  andere  Sinne  substituiert.  Diese 
Selbstvertretung  übernimmt  dann  für  das  Verstehen  der  Sprache  der 
Gesichtssinn,  für  den  Gebrauch  der  Sprache  der  Tastsinn  mit  den 
die  Artikulationsbewegungen  begleitenden  inneren  und  äußeren  Tast- 
empfindungen. Hierdurch  verliert  aber  jener  Vorzug  der  Natürlich- 
keit, den  man  der  einseitigen  Pflege  der  Gebärdensprache  zuschreibt, 
einigermaßen  seine  Bedeutung.  Die  artikuHerte  Sprache  des  Taub- 
stummen beruht  so  gut  wie  die  des  Hörenden  auf  der  Einübung  be- 
stimmter Assoziationen  zwischen  Empfindungen  verschiedener  Sinnes- 
gebiete 2).    Mögen  nun  auch  die  Assoziationen  zwischen  Sprachlauten 

^)  Samuel  Heinicke,  Beobachtungen  über  Stumme  und  über  die  mensch- 
liche Sprache,  Hamburg  1878,  S.  54  f f . 

^)  W.  Gude,  Die  Gesetze  der  Physiologie  und  Psychologie  über  Ent- 
stehung   der    Bewegungen    und    der    Artikulationsunterricht    der    Taubstum- 


Gebärdensprache  der  Taubstummen.  151 

und  Artikulationsempfindungen,  die  bei  der  Lautsprache  wirken, 
durch  die  generelle  Entwicklung  vorbereitet,  also  durch  angeborene 
Anlagen  begünstigt  und  durch  die  genauere  Kontrolle,  die  der  Gehörs- 
sinn zuläßt,  erleichtert  sein,  so  ist  doch  die  Ausbildung  der  weit  schwie- 
rigeren Assoziationen  zwischen  den  Gesichtsbildern  der  Sprach- 
bewegungen und  den  Artikulationsempfindungen  keineswegs  eine 
unmögliche,  und  sie  ist  das  Ersatzmittel,  auf  das  die  bei  mangeln- 
dem Gehör  von  selbst  sich  einstellende  regere  Tätigkeit  des  Gesichts- 
sinns gewissermaßen  als  auf  ein  natürliches  hinweist.  Freilich  bringt 
aber  die  größere  Schwierigkeit  der  Bildung  jener  eigenartigen  Asso- 
ziationen für  die  Lautsprache  des  Gehörlosen  die  Einschränkung^ 
mit  sich,  daß  das  Niveau  geistiger  Anlagen,  das  zur  Aneignung  der 
Sprache  erfordert  wird,  hier  ein  höheres  ist  als  beim  vollsinnigen 
Menschen,  daß  also  die  Aneignung  in  eine  spätere  Lebenszeit  fallen 
muß,  und  daß  sie  manchen  Individuen  ganz  versagt  bleibt,  eine  Ein- 
schränkung, die  natürlich  für  die  Gebärdensprache  bei  weitem  nicht 
in  ähnlichem  Maß  besteht.  Dieser  Umstand  ist  es  denn  auch  haupt- 
sächlich, der  heute  noch  dem  französischen  System  in  den  Ländern 
romanischer  Zunge  den  Vorzug  verschafft  hat.  Insoweit  es  grund- 
sätzlich eine  künstliche,  von  grammatischen  Begriffen  beherrschte 
Weiterbildung  der  natürlichen  Gebärdensprache  erstrebt,  wird  da- 
durch allerdings  seine  psychologische  Bedeutung  beeinträchtigt. 
Auf  der  andern  Seite  wird  aber  darüber  geklagt,  daß  der  deutsche  Unter- 
richt allzusehr  darauf  ausgehe,  den  natürlichen  Ausdruck  der  Gebärde 
zu  unterdrücken,  wodurch  dann  natürlich  auch  das  Material  für  die 
psychologische  Beobachtung  eingeschränkt  wird^).  Am  meisten 
scheint    man    in   England    auf    die   Konservierung   der    natürlichen 


men,  1880,  S.  40  ff.  Als  weiteres  assoziatives  Hilfsmittel  wird  in  neuerer 
Zeit  bei  dem  sogenannten  ,, imitativen  Sprachunterricht"  auch  noch  die 
Assoziation  der  Schriftzeichen  mit  den  entsprechenden  Laut-  und  Schreib-, 
bewegungen  verwendet.  Demnach  handelt  es  sich  hierbei  wesentlich  nur- 
um  eine  Vermehrung  der  im  Gebiet  des  Tast-  und  Gesichtssinns  zu  Gebote 
stehenden  Assoziationshilfen.  Vgl.  G.  Forchhammer,  Der  imitative  Sprach-. 
Unterricht  in  der  Taubstummenschule  usw.  Aus  dem  Dänischen  von  E.. 
Göpfert,  1899. 

1)  Heidsiek,   Der  Taubstumme  und  seine  Sprache,   1889,   S.   127  ff. 


152  I^iö  Gebärdeasprache. 


Gebärdenzeichen  Bedacht  zu  nehmen,  ohne  allerdings  künst- 
liche Nachhilfen  im  Sinne  des  französischen  Systems  ganz  zu 
verschmähen  ^) 


3.  Gebärdensprache  bei  den  Naturvölkern. 

Ist  infolge  der  Einflüsse,  die  Umgebung,  Erziehung  und  Unter- 
richtsweise auf  den  Taubstummen  ausüben,  dessen  Gebärdensprache 
durchaus  kein  einheitliches  und  nur  noch  teilweise  ein  ursprüngliches 
Erzeugnis  seines  Bewußtseins,  so  verhält  sich  das  einigermaßen  ähn- 
lich bei  der  Gebärdensprache  der  Naturvölker,  wie  sie  namentlich 
bei  den  Stämmen  der  nordamerikanischen  Indianer  beobachtet 
worden  ist^). 

Zwei  Bedingungen  können  im  allgemeinen  der  Entstehung  einer 
solchen  Gebärdensprache  zugrunde  liegen,  und  es  ist  anzunehmen, 
daß  sie  meist  ineinander  eingreifen.     Erstens  pflegen  schon  bei  den 


1)  W.  R.  Scott,  The  Deaf  and  Dumb,  ^  1870,  p.  108.  Vgl.  übrigens  zu  dieser 
ganzen  Frage  den  Bericht  von  H.  Gutzmann,  Archiv  für  die  ges.  Psychol.  Bd.  1, 

1903,  S.  67  ff. 

2)  Der  folgenden  Analyse  sind  hauptsächlich  die  eingehenden  Mitteilungen 
zugrunde  gelegt,  die  wir  über  die  Gebärden  der  nordamerikanischen  Indianer 
von  Garrick  Mallery  besitzen,  in  seiner  von  zahlreichen  Abbildungen  begleiteten 
Arbeit:  Signe  Language  among  North  American  Indians,  First  annual  Report 
of  the  Bureau  of  Ethnology,  Smithsonian  Institution,  1879 — 80,  p.  269 — 552. 
Ein  anderes  Verzeichnis  indianischer  Gebärdezeichen,  das  besonders  bei  den 
Indianern  der  Rocky  mountains  und  der  angrenzenden  Territorien  gesammelt 
ist,  hat  der  Prinz  von  Wied  mitgeteilt  (Reise  in  das  Innere  von  Nordamerika, 
1832—1834,  Coblenz  1841,  II  S.  645—653).  Wied  bemerkt,  man  versichere  ihm, 
die  Stämme  der  Rocky  mountains  wüßten  sich  sämtlich  untereinander,  nicht 
aber  mit  den  Dakotas  und  anderen  Nationen  in  der  Gebärdensprache  zu  ver- 
ständigen. In  der  Tat  finden  sich  zwischen  den  von  ihm  und  den  von  Mallery 
gesammelten  Zeichen  viele  Unterschiede,  jedoch  auch  manche  Übereinstimmungen. 
Ähnlich  ist  das  Verhältnis  zwischen  den  Indianern  und  den  Rassen  anderer  Erd- 
teile, wie  Australiern,  Afrikanern,  asiatischen  Völkern  (Arabern,  Japanern), 
von  denen  wir  freilich  meist  nur  unvollständigere  Nachrichten  besitzen.  Über 
die  Gebärdensprache  der  Australier,  bei  denen  sie  übrigens,  wahrscheinlich 
unter  dem  wechselnden  Einfluß  des  Verkehrs,  in  sehr  verschiedener  Aus- 
bildung vorkommt,    vgl.   Howitt,    The  native  Tribes  of  South-East  Australia, 

1904,  p.  723  ff. 


Gebärdensprache  bei  den  Naturvölkern.  153 

Genossen  einer  und  derselben  Horde  Wort  und  Affektäußerung  bei 
lebhafter  Mitteilung  zusammenzuwirken.  So  kommt  es,  daß  in  vielen 
Pällen  auf  das  begleitende  Wort  verzichtet  wird,  sei  es  weil  die  Ge- 
bärde zur  Verständigung  genügt,  sei  es,  weil  man  die  lautlose  Mit- 
teilung aus  irgendwelchen  Gründen  vorzieht.  Zweitens  tritt  bei  dem 
Verkehr  verschiedener  Stämme  oder  dialektisch  gesonderter  Zweige 
des  gleichen  Stammes  die  Gebärde  ins  Mittel,  sobald  die  Verständigung 
durch  die  Lautsprache  erschwert  ist.  Die  so  gepflegte  Gewohnheit, 
mit  Mitgliedern  fremder  Herkunft  durch  Gebärden  zu  verkehren, 
muß  dann  aber  wieder  auf  deren  Gebrauch  zwischen  den  näheren 
Genossen  fördernd  zurückwirken.  So  erklärt  es  sich  wohl,  daß  nament- 
lich bei  manchen  Indianerstämmen  Nordamerikas,  wo  alle  jene  Be- 
dingungen durch  ein  unstetes  Jäger-  und  Kriegerleben  gefördert  wur- 
den, die  Gebärdensprache  einen  hohen  Grad  der  Ausbildung  erreicht 
hat.  Sichtlich  haben  an  ihr  viele  Generationen  gearbeitet,  und  wenn 
sie  auch  weit  mehr  als  die  Lautsprache  eine  fortwährende  Neubildung 
von  Symbolen  gestattet,  so  hat  sich  doch  in  ihr  eine  vielleicht  schon 
Jahrhunderte  bestehende  Tradition  ausgebildet,  durch  die  sie  in  ge- 
wissem Grad  dem  Einzelnen  als  ein  fertiges  System  von  Zeichen  über- 
liefert wird.  Zeugnis  hierfür  ist  die  Tatsache,  daß  der  Indianer  manche 
Gebärden  konventionell  anwendet,  bei  denen  er  über  die  Beziehung 
zwischen  Symbol  und  Bedeutung  keine  Rechenschaft  mehr  geben 
kann^).  Teils  diese  lange  dauernde  Tradition,  teils  andere  damit  zu- 
sammenhängende Bedingungen  unterscheiden  diese  Zeichensprache 
sehr  wesentlich  von  derjenigen  der  Taubstummen.  Wenn  man  von 
den  willkürlich  erfundenen  Symbolen  des  französichen  Systems 
oder  des  Fingeralphabets,  die  hier  nicht  in  Vergleich  gezogen 
werden  können,  absieht,  so  ist  daher  diese  Gebärdensprache  nicht 
nur  überhaupt  reicher  an  Symbolen,  sondern  namentlich  auch 
reicher  an  solchen,  die  nur  dem  Eingeweihten  verständlich,  und 
die  in  einzelnen  Fällen  auch  für  diesen  zu  bloß  konventionellen 
-Zeichen  geworden  sind. 


1)  Mallery  a.  a.  O.  pag.  409  ff . 


154  T)i6  Gebärdensprache. 


4.  Überlieferte  Gebärdezeichen  bei  Kulturvölkern. 

In  dieser  Beziehung  schließt  sich  eine  dritte  Entwicklungsform 
der  Gebärdensprache  auf  das  engste  an  die  Zeichensysteme  der  Wilden 
an,  wenn  sie  auch  infolge  der  sehr  verschiedenen  Kulturbedingungen 
in  der  Beschaffenheit  der  gebrauchten  Symbole  erheblich  abweicht. 
Das  ist  die  bei  den  südlichen  Völkern  Europas,  namentlich  bei  den 
Süditalienern,  übliche  Form  der  Gebärdenmitteilung.  Sie  ist  vor- 
zugsweise in  den  niederen  Volkskreisen  verbreitet,  wird  aber  auck 
vom  Gebildeten  zum  Teil  verstanden  und  im  Verkehr  mit  dem  Volk 
angewandt.  Am  eingehendsten  ist  unter  ihnen  die  neapolitanische 
studiert  worden^).  Sie  ist  durch  ihren  Eeichtum  und  durch  die  Be- 
harrlichkeit ausgezeichnet,  mit  der  sie  sich  seit  Jahrhunderten  erhalten 
hat.  Denn  zahlreiche  der  noch  heute  beim  süditalienischen  Volk  ge- 
brauchten Zeichen  finden  sich  in  analoger  Bedeutung  auf  antiken 
Kunstdenkmälern  oder  werden  von  älteren  Schriftstellern  erwähnt^). 
Dadurch  erweist  sich  auch  diese  Form  als  das  Produkt  einer  langen, 
viele  Jahrhunderte  dauernden  Tradition.  Wie  die  Formen  uralten 
heidnischen  Aberglaubens  noch  heute,  zum  Teil  in  christlichen  Ver- 
kleidungen, im  süditalienischen  Volke  fortleben,  so  sind  die  Gebärde- 
zeichen, die  uns  gegenwärtig  auf  den  Straßen  Neapels  begegnen,  mit 
wenig  Ausnahmen  dieselben,  wie  sie  in  den  Tagen  des  August us  und 


^)  Andrea  de  Jorio,  La  mimica  deg]i  antichi  investigata  nel  gestire  na- 
poletano,  Napoli  1832.  In  seinem  antiquarischen  Teil  gentigt  dieses  Werk  natür- 
lich heutigen  Ansprüchen  nicht  mehr.  Die  Sammlung  der  beim  neapolitanischen 
Volk  verbreiteten  Gebärdezeichen  bleibt  aber  wertvoll.  Sie  dürfte,  obgleich 
mehr  als  ein  halbes  Jahrhundert  alt,  dem  heutigen  Zustande  noch  durchaus 
entsprechen,  und  auch  in  seiner  Annahme,  daß  die  meisten  der  heute  gebrauchten 
Gebärden  bis  in  das  Altertum  zurückreichen,  hat  der  Verfasser  ohne  Zweifel 
das  Richtige  getroffen. 

2)  Viele  hierher  gehörige  Züge  hat  schon  Jorio  beigebracht.  Das  archäo- 
logische und  literarhistorische  Material  ist  in  neuerer  Zeit  von  Sittl  gesammelt 
worden  in  seinem  Werk  über  die  Gebärden  der  Griechen  und  Römer,  1890,  in 
welchem  jedoch  die  Beziehung  zu  den  heute  gebrauchten  Zeichen  nicht  näher 
verfolgt  wird.  Unter  den  Berichten  älterer  Schriftsteller  ist  die  schon  oben  er- 
wähnte Abhandlung  Quintilians  über  den  Gestus  in  Lib.  XI  seiner  Institut, 
orator.  das  vollständigste  und  wertvollste  Dokument. 


überlieferte  Gebärdezeichen  bei  Kulturvölkern  155 

wahrscheinlich  in  einer  noch  viel  weiter  zurückliegenden  Zeit  im  Ge- 
brauch waren.  Diese  lange  Überlieferung  bedingt  es,  daß,  ähnlich  wie 
bei  den  Indianern  Nordamerikas,  viele  jener  Zeichen  völlig  konven- 
tionell geworden  und  in  ihrer  ursprünglichen  Bedeutung  verblaßt 
sind.  Da  jedoch  in  diesem  Fall  die  Gebärde  zwar  nicht  selten  das  ge- 
sprochene Wort  verdrängt  hat,  aber  es  nicht,  wie  bei  dem  Verkehr 
zwischen  stammesfremden  Wilden,  völlig  ersetzt,  so  hat  der  Besitz 
der  fortwährend  ergänzend  und  erläuternd  eingreifenden  Lautsprache 
hier  zugleich  auf  die  Erhaltung  und  Entwicklung  der  Gebärden  för- 
dernd eingewirkt.  Die  heute  bei  den  südlichen  Völkern  Europas  vor- 
kommende Zeichensprache  erscheint  so  als  ein  Überlebnis  der  in  der 
antiken  Welt  überhaupt  lebendigeren  Begleitung  der  Sprache  durch 
die  Gebärde,  einer  Erscheinung,  die  in  der  Pflege  der  Pantomime  und 
in  dem  großen  Wert  sich  ausspricht,  den  die  Alten  bei  der  Kede  auf 
den  Gestus  legten.  Darum  ist  es  nun  aber  auch  eine  falsche  Auffassung, 
wenn  man  dies  allgemein  als  Zeichen  eines  niedrigen  Standes  der 
Kultur,  und  demnach  das  Vorkommen  der  Gebärdensprache  bei 
Menschen,  die  zugleich  der  Lautsprache  mächtig  sind,  als  eine  Eigen- 
tümlichkeit unzivilisierter  Völker  betrachtet  hat.  Der  Südfranzose 
und  der  Italiener  zeigen  noch  heute  ein  weit  lebhafteres  Gebärden- 
spiel als  der  Engländer  und  der  Deutsche,  und  dieser  Unterschied 
erstreckt  sich  auf  alle  Kreise  der  Gesellschaft  ziemlich  gleichförmig. 
Nicht  die  Bildung,  sondern  der  Grad  des  Affekts  oder  die  dauernde 
Affektanlage,  das  Temperament,  ist  vor  allen  Dingen  für  die  Ent- 
stehung der  Gebärde  entscheidend.  Besteht  einmal  vermöge  dieser 
Anlage  die  Neigung  zu  einem  lebhaften  Mienenspiel,  so  begleitet  dieses 
nicht  bloß  von  selbst  die  gesprochene  Rede,  sondern  es  tritt  auch 
leicht  an  deren  Stelle,  wenn  die  laute  Gedankenäußerung  unterdrückt 
wird ;  und  aus  dieser  freieren  Übung  entspringt  naturgemäß  eine  ästhe- 
tische Freude  ^an  der  bedeutsamen  Gebärde  als  solcher.  Die  Alten 
haben  diese  Freude  auch  im  gewöhnlichen  Verkehr  der  Menschen 
offenbar  mehr  gekannt,  als  wir  sie  heute  kennen,  und  die  Eegeln  der 
Sitte  geboten  bei  ihnen  zwar  das  Übermaß  der  Affektäußerung,  nicht 
aber,  wie  bei  uns,  die  Affektäußerung  selbst  zu  unterdrücken.  Die 
Alten  besaßen  also  ein  lebendigeres  Gefühl  für  die  Bedeutung  der  Ge- 
bärde, nicht  weil  ihre  Kultur  eine  niedrigere,  sondern  weil  sie  eine 


156  Die  Gebärdensprache. 


andere  war  als  die  luisere,  un(|  weil  insbesondere  der  Sinn  für  die 
äußere  Erscheinungsweise  des  Menschen  feiner  ausgebildet,  in  dieser 
Beziehung  also  die  Kultur  eine  ästhetisch  höhere  war.  Wenn  sich 
diese  lebendigere  Ausdrucksweise  bei  den  von  ihnen  abstammenden 
Völkern  mehr  in  den  niedrigeren  als  in  den  höheren  Kreisen  der  Ge- 
sellschaft erhalten  hat,  so  ist  dieser  besondere  Zug  dann  allerdings 
ein  Symptom  der  Kulturstufe.  Denn  diese  Erscheinung  fällt  unter 
die  allgemeine  Regel,  daß  die  Reste  alter  Anschauungen  und  Sitten 
am  längsten  in  den  Massen  des  Volkes  zurückbleiben. 

Ähnliche  Überlieferungen  eines  hoch  ausgebildeten  Zeichen - 
Systems  bestehen  nun  noch  mannigfach  sonst  auf  unserer  Erde.  Be- 
sonders der  Orient  bietet  hier  ein  reiches  Feld  der  Beobachtung.  Bei 
den  islamitischen  Arabern  scheint  der  Gebärdenausdruck  ein  viel 
gebrauchtes,  von  den  arabischen  Philosophen  als  eine  eigene  Art  der 
Sprache  anerkanntes  Hilfsmittel  nicht  nur  der  Verständigung,  son- 
dern auch  der  sinnlichen  Interpretation  des  gesprochenen  Wortes 
gewesen  zu  sein,  dessen  sich  der  Prophet  selbst  mit  Vorliebe  bediente^). 
Andere,  wahrscheinlich  ebenfalls  auf  sehr  alter  Tradition  beruhende 
und  zumeist  wieder  unabhängig  entstandene  Entwicklungen  der 
Gebärdensprache  sind  bei  den  Chinesen,  Japanern  und  andern  orien- 
talischen Völkern  zu  finden^).  Was  wir  von  diesen  Ausdrucksformen 
wissen,  läßt  im  allgemeinen  den  Schluß  zu,  daß  sie  sich  nicht  wesent- 
lich anders  zueinander  verhalten  als  etwa  die  Gesten  des  Neapoli- 
taners zu  denen  des  nordamerikanischen  Indianers.  Der  verschiedene 
Zustand  der  Kultur,  mag  er  au,ch  auf  gewisse  spezifisch  gebrauchte 
Zeichen  von  Einfluß  sein,  berührt  also  den  Charakter  der  Gebärden- 
sprache nicht  wesentlich.  Nicht  bloß  gewisse  Gebärden,  die  allgemein- 
gültige Vorstellungen  bezeichnen,  wie  das  Ich,  Du  und  Er,  das  Hier  und 


^)  Goldziher,  Über  Gebärden-  und  Zeichensprache  bei  den  Arabern,  Zeit- 
schr.  für  Völkerpsychologie  und   Sprachwissenschaft,  XVI,   S.  369  ff. 

2)  Der  Freundlichkeit  des  Herrn  J.  Jrie  in  Sendai,  Japan,  verdanke  ich 
die  Mitteilung  einer  Anzahl  in  Japan  üblicher  Gebärden,  die  in  gewissen  ali- 
gemeinen Symbolen  der  Höflichkeit,  Ehrfurcht,  der  Liebe,  der  Verachtung, 
des  Spottes  usw.  den  im  Abendland  gebrauchten  ähnlich  oder  ganz  gleich  sind, 
daneben  aber  auch  vereinzelt  Formen  darbieten,  die  den  abendländischen  Sy- 
stemen fehlen. 


überlieferte  Gebärdezeichen  bei  Kulturvölkern.  157 

Dort,  Groß  und  Klein,  den  Himmel,  die  Erde,  die  Wolke,  den  Regen, 
das  Gehen,  Stehen,  Sitzen,  Schlagen,  den  Tod  und  den  Schlaf  und 
viele  andere,  sondern  auch  die  Ausbildung  des  Zeichensystems,  die 
Fähigkeit  der  Übertragung  sinnlicher  Zeichen  auf  nicht  sinnliche 
Gegenstände,  die  Art,  wie  sich  in  der  Zusammenfügung  der  Gebärden 
die  Gedankenfolge  spiegelt,  alles  das  charakterisiert  die  verschiedenen 
Formen  als  Erscheinungen,  die  weder  wesentliche  Unterschiede  der 
Vollkommenheit,  noch  solche  der  Qualität  imd  Struktur  erkennen 
lassen.  Dadurch  nähern  sie  sich  in  einem  gewissen  Grad  einer  Uni- 
versalsprache, wenn  auch  nicht  ganz  in  dem  Sinne,  in  dem  man  dieses 
Wort  in  der  Regel  anwendet.  Nicht  so  nämlich,  als  ob  die  in  einem 
bestimmten  Volkskreise  gebrauchten  Zeichen  für  jeden,  oder  auch 
nur  für  denjenigen,  der  eine  auf  anderer  Grundlage  erwachsene 
Art  der  Gebärdensprache  gebraucht,  ohne  weiteres  verständlich 
wären.  Das  ist  in  Wirklichkeit  nur  sehr  teilweise  der  Fall.  Der 
Dakotaindianer,  den  man  in  die  Straßen  Neapels  versetzte,  würde 
zunächst  wahrscheinlich  von  den  Gebärden  seiner  Umgebung  nicht 
viel  verstehen.  Er  würde  aber  freilich  dieses  Verständnis 
unvergleichlich  schneller  gewinnen,  als  es  bei  der  Lautsprache 
möglich  ist. 

Mehr  als  der  Unterschied  der  Kultur  ist  jedoch  ein  anderes  Mo- 
ment auf  diese  zumeist  konventionell  gewordenen  Formen  der  Ge- 
bärdensprache von  Einfluß.  In  ihren  ursprünglichen,  dem  Ersatz 
oder  der  Unterstützung  der  Lautsprache  dienenden  Formen  will  sie 
vor  allem  verständlich  sein.  Unter  der  Wirkung  dieses  Strebens  bilden 
sich  hinweisende  und  zeichnende  Gebärden  aus,  die  wegen  ihrer  engen 
Beziehung  zu  den  sinnlichen  Gegenständen,  die  sie  andeuten,  einer 
näheren  Interpretation  oder  vorangegangenen  Verständigung  nicht 
bedürfen.  Aber  die  Gebärdenmitteilung  kann  auch  als  eine  Geheim- 
sprache benutzt  werden.  Eine  solche  ist  zwar  als  Lautsprache  eben- 
falls möglich,  wie  die  wichtigste  solcher  Geheimsprachen,  die  Gauner- 
sprache, zeigt.  Aber  die  Gebärde  bleibt  selbst  für  diesen  ihrem  Ur- 
sprungsmotiv entgegengesetzten  Zweck  gewissermaßen  das  natür- 
lichste Hilfsmittel.  Denn  sie  bietet  in  ihren  übertragenen,  symbolischen 
Formen  immerhin  noch  ein  anschauliches  Bild,  dessen  Verständnis 
für  den,  dem  solche  Art  der  Mitteilung  vertraut  ist,  durch  die  Beziehung 


158  Die  Gebärdensprache. 


zu  andern  Symbolen  unterstützt  wird.  Auch  hat  sie  den  großen  Vor- 
zug, daß  sie  eine  stumme  Sprache  ist,  die  sich  vor  andern  leichter  ver- 
bergen läßt,  so  daß  man  in  ihr  nach  Belieben  das  in  der  Lautsprache 
Geäußerte  in  einer  nur  dem  Kundigen  bemerkbaren  Form  ergänzen 
oder  selbst  widerrufen  kann.  Schon  die  Gebärden  der  Neapolitaner 
sind  daher  in  sehr  vielen  Fällen  plastische,  durch  Formung  der  Hand 
erzeugte  Bilder,  da  ein  flüchtiger  Hinweis  oder  ein  in  die  Luft  ge- 
zeichnetes Bild  leicht  nicht  bloß  andern,  denen  es  verborgen  bleiben 
soll,  sondern  auch  dem  entgeht,  für  den  es  bestimmt  ist,  während 
eine  plastische  Handgebärde  so  lange  festgehalten  werden  kann,  bis 
sie  ihren  Zweck  erreicht  hat. 

Hierin  bildet  nun  der  rituelle  Gebrauch  der  Gebärde  einen 
vollen  Gegensatz  zu  dieser  okkulten  Pantomimik  der  Diebe  und  Vaga- 
bunden. Sie  dient  im  allgemeinen  der  besonderen  Akzentuierung 
bestimmter  Bestandteile  der  gesprochenen  Rede  durch  eine  ausdrucks- 
volle Bewegung.  Auch  sie  bezweckt  daher  keine  zusammenhängende 
Gedankenmitteilung.  Aber  dadurch,  daß  jene  Akzentuierung  aus 
einer  starken  Gefühlsbetonung  hervorgeht  und  zugleich  in  ein  feier- 
liches Zeremoniell  sich  einfügt,  nehmen  diese  rituellen  Gebärden  eine 
intensiv  wie  extensiv  gesteigerte  Form  an:  intensiv,  indem  die  den 
gewöhnlichen  Verlauf  der  affektbetonten  Vorstellungen  begleitende 
Ausdrucksbewegung  verstärkt  wird,  extensiv,  indem  sie  sich  über 
eine  längere  Zeit  ausdehnt.  So  bei  den  Gebärden  des  Gebets,  der 
Demütigung,  der  Segenspendung  usw.  Eine  besondere  Abzweigung 
ritueller  Handlungen,  die  ebenfalls  religiösen  Ursprungs  ist,  aber  sich 
infolge  der  Konkurrenz  mit  Zwecken  des  bürgerlichen  Lebens  teil- 
weise verweltlicht  hat,  bilden  die  rituellen  Rechtssymbole.  In 
dem  heutigen  Rechtsleben  bis  auf  dürftige  Reste  geschwunden,  bilden 
sie  in  den  Rechtssitten  aller  Völker,  insbesondere  auch  im  alten  rö- 
mischen und  im  deutschen  Recht  des  Mittelalters  wichtige  Bestand- 
teile der  Rechtshandlungen.  Das  Rechtsbuch  des  ,, Sachsenspiegels'' 
hat  uns  in  seinen  Bilderhandschriften  Darstellungen  dieser  Symbole 
bewahrt.  Sie  sind  durchweg  Handgebärden,  teils,  wie  das  Erheben 
der  gegen  den  Himmel  gerichteten  Schwurfingier,  hinweisender,  teils, 
wie  das  die  Besitznahme  andeutende  Ergreifen  eines  Gegenstandes, 
zeichnender  oder  endlich,   wie  die  Handreichung  bei  der  Vertrags- 


Gebärdezeiöhen  der  Zisterzienser mönche.  159 


Schließung  und  die  meisten  andern,  symbolischer  Art^).  Dabei  bildet 
es  überall  einen  charakteristischen  Unterschied  dieser  rituellen  Ge- 
bärden von  der  gewöhnlichen  Gebärdensprache,  z.  B.  der  Taubstummen, 
daß  jene  durch  ihre  längere  Dauer  stärker  sich  einprägen  und  einen 
feierlichen  Charakter  gewinnen.  Gleichwohl  fehlt  hier  die  oben  er- 
wähnte plastische  Gebärde  so  gut  wie  ganz.  Denn  die  rituelle  Ge- 
bärde will  so  eindrucksvoll  und  deutlich  wie  möglich  sein:  das  wird 
•erreicht,  indem  die  an  sich  vergängliche,  aber  unmittelbar  verständ- 
liche hinweisende  und  zeichnende  Bewegung  durch  ihre  langsame, 
feierliche  Form  selbst  zu  einem  plastischen  Bilde  wird.  Eine  beson- 
dere Abzweigung  dieser  rituellen  bilden  schließlich  die  Zaubergebärden, 
die  ihrerseits  wieder  eine  wichtige  Klasse  der  Zaubersymbole  und 
Zaubermittel  sind.  Die  Vorstellung,  daß  die  Gebärde  eine  bindende 
oder  lösende  magische  Kraft  besitze,  ist  gerade  in  den  noch  im  heu- 
tigen Aberglauben  verbreiteten  Zaubergebärden  lebendig  geblieben. 
Doch  reichen  diese  bereits  in  das  jenseits  der  Gebärdensprache  als 
solcher  liegende  Gebiet  der  Zauberkulte,  das  uns  später  beschäftigen 
wird^). 

5.  Gebärdezeichen  der  Zisterziensermönche. 

Eine  letzte  Entwicklungsform  der  Gebärdensprache,  bei  der 
man  von  vornherein  mehr  als  bei  irgendeiner  der  vorangegangenen 
einen  willkürlichen  und  rein  konventionellen  Ursprung  vermuten 
muß,  entsteht  in  solchen  Fällen,  wo  eine  Gesellschaft  Hörender  ab- 


^)  K.  von  Amira,  Die  Handgebärden  in  den  Biiderhandschriften  des 
Sachsenspiegels.     Abh.  der  Bayr.  Akademie  der  Wiss.  I.  KL,  Bd.  23,  S.  163  ff. 

2)  Nur  einer  Gattung  dieser  Zaubergebärden  sei  hier  gedacht,  in  denen 
der  ursprüngliche  magische  Charakter  der  entsprechenden  rituellen  Gebär- 
den noch  deutlich  zu  erkennen  ist.  Man  könnte  sie  die  „umkehrenden  Gebärden" 
nennen,  weil  sie  gewissen  feierlich  verpflichtenden  Gebärdensymbolen  entgegen- 
gesetzt sind,  daher  sie  denn  auch  eine  Aufhebung  jener  Verpflichtung  bezwecken. 
Dahin  gehören  besonders  die  von  A.  Hellwig  (Archiv  für  Religionswissenschaft, 
Bd.  12,  1909,  S.  46  ff.)  mitgeteilten  Gebärden  zur  Aufhebung  eines  Eidschwurs. 
Der  Schwörende  richtet  z.  B.,  während  er  die  Rechte  zum  Schwur  erhebt,  die 
Linke  mit  der  gleichen  Schwurgebärde  zum  Boden,  oder  er  wendet  die  Schwur- 
hand selbst  mit  ihrer  Hohlfläche  gegen  den  Richter,  Zeichen,  deren  Kontrast- 
und Abwehrbedeutung  auf  der  Hand  liegt. 


160  I^i®  Gebärdensprache. 


sichtlicli  auf  den  Gebrauch  der  Lautsprache  verzichtet  und  sich  so 
gewissermaßen  künstlich  in  die  Lage  der  Taubstummen  versetzt. 
Seit  alter  Zeit  aber  bildet  das  Gelübde  des  Schweigens  einen  Bestand- 
teil religiöser  Askese,  ob  es  nun,  wie  im  Altertum  in  der  Sekte  der 
jüngeren  Pythagoreer,  nur  vorübergehend  dem  Novizen  als  Prüfung 
auferlegt  wird  oder  ihn,  wie  in  dem  Mönchsorden  der  Zisterzienser, 
für  immer  bindet.  Über  die  Gebärdensprache  der  Zisterzienser  be- 
sitzen wir  zwei  interessante  Verzeichnisse  von  Leibniz,  ein  latei- 
nisches ohne  nähere  Angabe  seiner  Herkunft  und  ein  niederdeutsches 
aus  dem  vormaligen  Kloster  Lockum.  Das  eine  zählt  143,  das  andere 
145  Nummern^).  Ein  älteres  (aus  dem  11.  Jahrhundert)  aus  einem 
englischen  Kloster,  in  angelsächsischer  Sprache,  das  die  Beschreibung 
von  127  Zeichen  enthält,  hat  F.  Kluge  mitgeteilt 2).  Alle  diese  Ver- 
zeichnisse sind  wenig  umfangreich,  vermutlich  weil  sich  die  Gebärden- 
mitteilung der  Mönche  auf  das  Nötigste  beschränkte.  Aber  sie  sind 
hinreichend,  um  eine  Vergleichung  mit  andern  Formen  der  Gebärden- 
sprache niöglich  zu  machen.  Diese  ergibt  nun  in  vielen  Punkten  eine 
große  Übereinstimmung.  Doch  ist  das  System  der  Zisterzienser  ziem- 
lich reich  an  Zeichen,  die  offenbar  willkürlich  erfunden  und  verabredet 
sind.  Auf  der  andern  Seite  zeigt  es,  wo  Beziehungen  zu  den  sonstigen 
Formen  vorliegen,  mehr  Übereinstimmung  mit  den  einfacheren  und 
leichter  verständlichen  Gebärden  der  Taubstummen  als  mit  den  auf 
längerer  Tradition  beruhenden  der  Indianer  und  Neapolitaner.  Das 
System  macht  so  den  Eindruck  einer  Mischung  aus  Fragmenten  einer 
natürlichen  Gebärdensprache  einfachster  Beschaffenheit  und  eines 
völlig  künstlichen  Zeichensystems.  Da  die  Zeichen  der  letzteren  Art 
die  Entstehung  dieser  Form  der  Mitteilung  aus  einer  willkürlichen 
Übereinkunft  unzweifelhaft  machen,  so  ist  sie  für  die  sprachpsycho- 
logischen Fragen  von  geringerer  Bedeutung.     Immerhin  ist  sie  inso- 


')  Leibnitii  opera  omnia  ed.  Dutens,  Tom.  VI,  Pars  II,  Collect,  etymo- 
logica  pag.  207. 

2)  F.  Kluge,  Zur  Geschichte  der  Zeichensprache.  (Angelsächsische  indicia 
monasterialia. )  Techmers  Zeitschr.  f.  allgem.  Sprachwissenschaft.  II,  1885, 
S.  116  ff.  Im  Eingang  der  Klugeschen  Arbeit  sind  noch  einige  andere  ähnliche 
Verzeichnisse  erwähnt.  Ebenso  findet  sich  ein  solches  in  Ducanges  Glossarium 
nov.  ad  Script,  med.  aet.  v.  Signum  n.  9. 


Gebärdezeichen  der  Zisterziensermönche.  161 

fern  lehrreich,  als  sie  zeigt,  daß  eine  solche  Ühereinkunft  da,  wo  es 
sich  um  geläufige  sinnliche  Vorstellungen  handelt,  zu  ähnlichen  leicht 
verständlichen  Zeichen  greift  wie  der  natürliche  Gebärdenausdruck. 
Dies  beweist  aber,  daß  eben  das,  was  man  die  ,, Natürlichkeit"  der 
Gebärdensprache  zu  nennen  pflegt,  über  die  Frage  der  Entstehung 
derselben  an  und  für  sich  noch  nichts  aussagt.  Eine  Gebärde,  die 
weder  unmittelbar  noch  in  der  Zurückverfolgung  auf  ihren  Ursprung 
irgendeine  anschauliche  Beziehung  zu  ihrer  Bedeutung  erkennen 
läßt,  ist  ganz  gewiß  willkürlich  erfunden.  Eine  Gebärde  dagegen, 
bei  der  eine  solche  Beziehung  nachweisbar  ist,  kann  ebensowohl  natür- 
lich entstanden  wie  erfunden  sein.  Die  tatsächlichen  Eigenschaften 
können  also  niemals  die  Kenntnis  der  wirklichen  Entstehungsbedingun- 
gen ersetzen^). 

Wenn  wir  uns  nun  bei  den  verschiedenen  oben  erörterten  Ent- 
wicklungsformen der  Gebärdensprache  diese  Entstehungsbedingungen 
vergegenwärtigen,  so  spricht  alles  dafür,  daß  sie  überall  von  zusammen- 
gesetzter Art  sind,  daß  also  keine  der  vorhandenen  Formen  psycho- 
logisch auf  einen  einheitlichen  Ursprung  zurückgeführt  werden  kann. 
Alle  diese  Systeme  sind,  wenn  wir  die  populären  Begriffe  des  Natür- 
lichen und  Künstlichen  auf  sie  anwenden  wollen,  natürlich  und  künst- 
lich zugleich.  Und  zwar  erscheinen  nicht  nur  einzelne  Zeichen  als 
natürliche,  ohne  Wahl  und  Überlegung  hervorgebrachte  Reaktionen, 
andere  als  Produkte  einer  erfinderischen  Tätigkeit;  sondern  diese 
verschiedenen  psychischen  Funktionen  verbinden  sich  auch  nicht 
selten  bei  der  Entwicklung  einer  und  derselben  Gebärde.  Dadurch 
werden  sich  aber  die  verschiedenen  Formen  der  Gebärdensprache 
näher  gerückt,  als  die  äußeren  Umstände,  unter  denen  sie  vorkommen, 
vermuten  lassen.  Als  diejenige  Bedingung,-  die  für  die  Differenzierung 
der  Erscheinungen  die  wichtigste  ist,  erweist  sich  der  Einfluß  der 
Zeit.    Denn  mehr  als  die  Kulturstufe,  mehr  als  das  vermutliche  Maß 


^)  Zu  den  großenteils  künstlich  erfundenen,  aber  doch  durch  die  überall 
wirksamen  Assoziationen  vielfach  mit  den  natürlichen  Gebärdeformen  zusammen- 
hängenden Zeichen  gehören  auch  die  sogenannten  „Kennzinken"  der  Gauner. 
(Zinken  ist  wahrscheinlich  volksetymologische  Umbildung  von  lat.  signum.) 
Wir  werden  auf  dieselben  unten  (V,  3)  bei  der  Erörterung  des  Zusammenhangs 
von  Gebärdensprachen  und  Bilderschrift  zurückkommen. 

Wundt,   Völkerpsychologie.     I.    4.  Aufl. 


162  I^i®  Gebärdensprache. 


von  Zwang  oder  Freiheit  ist  offenbar  der  Umstand  maßgebend,  ob 
eine  bestimmte  Form  der  Gebärdensprache  eine  lange  Tradition  hinter 
sich  hat,  wie  die  der  nordamerikanischen  Indianer  oder  der  NeapoH- 
taner,  oder  ob  sie  im  Vergleich  damit  eine  Neubildung  ist,  die  sich 
in  der  Kegel  nur  durch  wenige  Generationen  hindurch  verfolgen  läßt, 
wie  die  Zeichen  der  Taubstummen. 

Da  es  diese  Unterschiede  der  Zeit  und  der  Tradition  sind,  mit 
denen,  wie  wir  sogleich  sehen  werden,  auch  bemerkenswerte  Eigen- 
tümlichkeiten der  einzelnen  Gebärden  zusammenhängen,  so  wollen 
wir  diese  beiden  Fälle  im  folgenden  kurz  als  die  der  neugebildeten 
und  der  überlieferten  Gebärdensprache  auseinanderhalten.  Natür- 
lich sind  diese  Ausdrücke  nur  im  relativen  Sinne  zu  verstehen.  Denn 
es  gibt  wohl  keine  neugebildete  Gebärdensprache,  die  nicht  in  einem 
gewissen  Maß  unter  dem  Einflüsse  von  Überlieferungen  steht,  noch 
weniger  aber  eine  überlieferte,  in  der  nicht  fortwährend  sporadische 
Neubildungen  vorkommen. 


IL  Grundformen   der  Gebärden. 

1.  Psychologische  Klassifikation  der  Gebärden. 

Wenn  man  die  verschiedenen  Entwicklungsformen  der  Gebärden- 
sprache mit  einem  der  Lautsprache  entnommenen  Bild  ihre  Dia- 
lekte nennen  kann,  so  läßt  sich  wohl  eine  Klassifikation  der  Gebärden, 
die  von  genetischen  Gesichtspunkten  aus  unternommen  wird,  als 
eine  Art  Etymologie  derselben  bezeichnen.  Freilich  verschiebt  sich 
aber  die  Bedeutung  der  Ausdrücke  erheblich  bei  dieser  Übertragung, 
und  diese  Verschiebung  wirft  wiederum  ein  gewisses  Licht  auf  die 
Natur  der  Gebärdensprache  selbst.  Man  kann  nämlich  bei  ihr,  wenn 
wir  von  den  ganz  und  gar  künstlichen  Zeichensystemen  absehen, 
zwar  von  verschiedenen  Dialekten,  aber  niemals  von  verschiedenen 
Sprachstämmen  reden;  und  außerdem  sind  die  vorkommenden  dia- 
lektischen Unterschiede  mehr  von  den  äußeren  Lebensverhältnissen 
und  von  der  Existenz  einer  längeren  Überlieferung  als  von  der  ur- 


Psychologische  Klassifikation  der  Gebärden.  163 

sprüngliclien  Verwandtschaft  oder  der  gemeinsamen  Abstammung 
der  Menschen  abhängig.  Hieraus  ergibt  sich  die  Folgerung,  daß  eine 
Etymologie  der  Gebärden  nur  zum  geringsten  Teil  darin  bestehen 
kann,  die  Herkunft  eines  gegebenen  Zeichens  aus  andern  ursprüng- 
licheren Gebärden  nachzuweisen.  Eine  derartige  Nach  Weisung  ist 
nur  in  solchen  Fällen  möglich,  wo  eine  Gebärde  im  Laufe  der  Tradi- 
tion entweder  selbst  Änderungen  erfahren  oder  ihre  Bedeutung  ge- 
wechselt hat.  Daß  das  letztere  vorkommt,  davon  werden  wir  uns 
in  der  Tat  bei  der  Betrachtung  des  Bedeutungswandels  gewisser  Sym- 
bole überzeugen.  Aber  das  Maß  dieser  Entwicklung  ist  doch  hier 
ein  sehr  beschränktes.  Da  selbst  bei  jenen  Formen  der  Gebärden- 
sprache, die  auf  einer  lange  dauernden  Überlieferung  beruhen,  die 
Zahl  der  in  ihrer  Beschaffenheit  oder  Bedeutung  erheblich  veränderten 
Symbole  relativ  klein  ist,  so  kann  demnach  die  Frage  der  Herkunft 
bei  der  Mehrzahl  der  Gebärden  überhaupt  nur  im  psychologischen 
Sinne  verstanden  werden.  Muß  sich  die  Etymologie  der  Lautsprache 
mit  der  Ermittelung  der  Anfangsbildungen  begnügen,  die  sie  als  ge- 
schichtlich gegebene  und  nicht  weiter  abzuleitende,  eben  deshalb 
aber  auch  in  der  Regel  als  unerklärbare  anzusehen  hat,  so  ist  das 
„Etymon"  einer  Gebärde  dann  nachgewiesen,  wenn  ihre  psycho- 
logische Bedeutung  und  ihr  Zusammenhang  mit  den  allgemeinen 
Prinzipien  der  Ausdrucksbewegungen  erkannt  ist.  Hier  beginnt  also 
das  Problem  gerade  bei  dem  Punkte,  wo  es  für  die  Etymologie  der 
Lautsprache  aufzuhören  pflegt.  Die  Bedeutung  der  Gebärdensprache 
für  die  sprachpsychologischen  Probleme  überhaupt  erhellt  ohne 
weiteres  aus  diesem  Verhältnis.  In  gewissem  Grade  bleibt  eben  die 
Gebärdensprache  immer  auf  der  Stufe  eines  Urzustandes,  und  was 
wir  in  ihr  von  Spuren  historischer  Veränderungen  beobachten,  reicht 
nur  hin,  ihren  allgemeinen  Charakter  als  Sprache  auch  in  dieser  Be- 
ziehung erkennbar  zu  machen.  Man  könnte  sagen:  der  Begriff  einer 
Ursprache,  im  Gebiet  der  Lautsprache  ein  hypothetischer  Grenz- 
begriff, wird  bei  der  Gebärdensprache  zur  unmittelbar  beobachteten 
Wirklichkeit.  Dieser  Tatsache  kann  aber,  wenn  sie  keinen  andern 
Nutzen  hätte,  mindestens  der  nicht  bestritten  werden,  daß  sie  die 
Notwendigkeit  der  Annahme  einer  Ursprache  in  diesem  psycholo- 
gischen Sinne  beweist:  die  Notwendigkeit  nämlich,  daß  es  für  jede 

11* 


164  I^ie  Gebärdensprache. 


Art  natürlich  entstandener  Sprache  einmal  eine  Zeit  gegeben  haben 
muß,  in  der  die  Beziehung  zwischen  dem  Zeichen  und  dem,  was  es 
bezeichnet,  eine  unmittelbar  anschauliche  war.  Daß  freilich  diese 
Zeit  nicht  für  den  ganzen  Inhalt  einer  Sprache  die  gleiche  zu  sein  braucht, 
dies  lehrt  wieder  die  Gebärdensprache,  in  der  es  neben  den  unver- 
ändert gebliebenen  Bestandteilen  und  Neubildungen  auch  an  Wand- 
lungen nicht  fehlt,  die  das  ursprünglich  Bedeutsame  in  ein  anscheinend 
konventionelles  Symbol  überführen. 

Eine  Etymologie  der  Gebärdensprache,  die  der  psychologischen 
Herkunft  der  einzelnen  Gebärden  nachgeht,  muß  nun  naturgemäß 
die  Ausdrucksbewegungen  zum  Anfangspunkt  ihrer  Betrachtungen 
nehmen,  da  ja  die  Gebärdensprache  selbst  nichts  anderes  ist  als  ein 
System  von  Ausdrucksbewegungen,  dem  der  Trieb  der  Mitteilung 
und  Verständigung  seine  besonderen  Eigenschaften  verliehen  hat. 
In  der  Tat  sind  es  die  beiden  Grundformen  der  Vorstellungsäußerung 
der  Affekte,  die  hinweisenden  und  die  nachahmenden  Gebärden, 
die  uns  überall  als  die  ursprünglichen  Bestandteile  des  Inhalts  der 
Gebärdensprache  wieder  begegnen.  Von  diesen  beiden  Grundformen 
bewahren  die  hinweisenden  bei  der  Entwicklung  der  natürlichen 
Affektäußerung  zur  Gebärdensprache  im  wesentlichen  ihren  ursprüng- 
lichen Charakter  unverändert.  Wie  ihre  äußere  Erscheinungsweise 
keiner  erheblichen  Weiterbildung  fähig  ist,  so  bleibt  nicht  minder 
ihre  Bedeutung  eine  beschränkte.  Dies  verhält  sich  anders  bei  den 
nachahmenden  Gebärden.  Sie  hängen  zwar  sämtlich  genetisch 
mit  der  nachahmenden  Bewegung  zusammen,  wie  denn  auch  psycho- 
logisch der  Trieb  zur  Nachahmung  des  den  Affekt  erregenden  Gegen- 
standes in  gewissem  Maße  bei  ihnen  allen  noch  fortwirkt.  Aber  dabei 
haben  sich  doch  diese  aus  der  gleichen  Wurzel  entsprossenen  Gebärde- 
formen derart  differenziert,  daß  das  Wort  „Nachahmung"  sie  ebenso- 
wenig mehr  zureichend  bezeichnet,  wie  etwa  für  die  Gesamtheit  der 
bildenden  Künste  der  Ausdruck  „nachahmende  Künste"  zutreffend 
sein  würde.  Wir  wollen  deshalb  die  zweite  Klasse  mit  einem  alle  ihre 
einzelnen  Anwendungen  umfassenden  Ausdruck  als  die  der  dar- 
stellenden Gebärden  bezeichnen,  und  sie  dann  in  die  beiden  Unter- 
klassen der  nachbildenden  und  der  mitbezeichnenden  ein- 
teilen.    Unter  ihnen  stehen  die  nachbildenden,  wie  ihr  Name  schon 


Hinweisende  Gebärden.  165 


andeutet,  der  bloßen  Nachahmung  am  nächsten,  und  sie  fallen  in 
den  einfachsten  Fällen  ohne  weiteres  mit  ihr  zusammen.  Aber  im 
ganzen  treffen  wir  doch  schon  bei  ihnen  die  Nachbildung  gewisser- 
maßen auf  einer  höheren  Stufe,  da  die  Umbildungen,  die  der  Gegen- 
stand in  der  Phantasie  des  Beschauers  erfährt,  ehe  er  nachgebildet 
wird,  hierbei  eine  Rolle  spielen.  Die  Nachbildung  gestaltet  also  das 
Bild  eines  Gegenstandes  in  einem  ähnlichen  Sinne  freier,  wie  es  die 
bildende  Kunst  gegenüber  der  bloß  nachahmenden  Technik  tut.  In 
diesem  Verhältnis  liegt  denn  auch  der  Grund,  daß  sich  aus  der  nach- 
bildenden die  mitbezeichnende  Gebärde  aussondert,  bei  der  die  Be- 
ziehung zwischen  dem  Zeichen  und  seinem  Gegenstand  erst  durch 
die  mithelfende  und  ergänzende  Funktion  der  Phantasie  zustande 
kommt.  Als  eine  dritte  Hauptklasse  unterscheiden  wir  endlich  die 
symbolischen  Gebärden.  Sie  sind  insofern  sekundärer  Art,  als  ihre 
Formen  stets  auf  hinweisende  oder  darstellende  Gebärden  oder  auf 
eine  Vereinigung  beider  zurückgeführt  werden  können.  Auch  nimmt 
zweifellos  ihre  Anzahl  mit  der  Entwicklung  der  Gebärdensprache  zu. 
Doch  reichen  die  einfachsten  symbolischen  Zeichen  jedenfalls  in  eine 
sehr  frühe  Zeit,  wenn  nicht  in  die  Anfänge  der  Gebärdensprache  zurück. 
Der  allgemeine  Charakter  der  symbolischen  Gebärde  besteht  aber 
darin,  daß  sie  die  auszudrückenden  Vorstellungen  aus  einem  An- 
schauungsgebiet in  ein  anderes  überträgt,  also  z.  B.  zeitliche  Vor- 
stellungen räumUch  andeutet,  oder  daß  sie  abstrakte  Begriffe  sinnlich 
veranschaulicht^). 


2.  Hinweisende  Gebärden. 

Daß  die  hinweisende  Gebärde  unter  den  genannten  Formen  nicht 
bloß  die  einfachste,  sondern  auch  die  ursprünglichste  ist,  läßt  sich 
aus   verschiedenen    Tatsachen   erschließen.      Unter   den   Ausdrucks- 


^)  Vgl.  zu  dieser  Klassifikation  und  zu  dem  Folgenden,  zugleich  mit  Rück- 
sicht auf  die  Bemerkungen  Delbrücks  (Grundfragen  der  Sprachforschung,  S.  48  ff. ) 
und  Sütterlins  (Das  Wesen  der  sprachlichen  Gebilde,  S.  14 ff.),  meine  Schrift: 
Sprachgeschichte  und  Sprachpsychologie,  S.  35  ff. 


166  Die  Gebärdensprache. 


bewegungen  des  Kindes  kommt  das  Hindeuten  auf  die  Gegenstände 
am  frühesten   und  selbständigsten  zum  Zweck  der  Mitteilung,   also 
in  der  allgemeinen  Bedeutung  der  Sprachgebärde  vor.    Ebenso  über- 
wiegen die  einfach  hinweisenden  Bewegungen  bei  den  neugebildeten 
Formen  der  Gebärdensprache,  während  bei  den  überlieferten  die  nach- 
bildenden die  Mehrzahl  bilden  und  die  hinweisenden  meist  nur  in 
Verbindung  mit  ihnen  in  zusammengesetztere  Gebärdeformen  eingehen. 
Diese  größere  Ursprünglichkeit  erklärt  sich  ohne  weiteres  aus  den 
psychologischen  Bedingungen  ihrer  Entstehung.    Wo  der  Gegenstand, 
auf  den  sich  irgendeine  Gebärdenmitteilung  bezieht,  im  Sehbereich 
liegt,  da  ist  die  unmittelbare  Richtung  des  Zeigefingers  gegen  ihn  das 
einfachste,  weil  das  sicherste  und  eindeutigste  Mittel  die  Aufmerk- 
samkeit auf  ihn  zu  lenken,  ein  Mittel,  das  in  der  Regel  ohne  Über- 
legung,  aus   dem   unmittelbaren   Trieb   nach   Mitteilung   heraus   an- 
gewandt wird.     Wo  eine  individuelle   Gebärdensprache  vollkommen 
neu  sich  ausbildet,  wo  etwa  ein  Taubstummer  isoliert  in  hörender  Um- 
gebung aufwächst,  da  ist  daher  anfänglich  die  Hinweisung  auf  die 
Objekte  fast  die  einzige  überhaupt  vorkommende  Gebärde,  und  sie 
genügt  für  diesen  Anfang  um  so  mehr,  weil  sich  bei  dieser  ersten  Ent- 
wicklung das  Interesse,  das  zur  Mitteilung  führt,  nur  solchen  Gegen- 
ständen zuwendet,  die  der  unmittelbaren  Wahrnehmung  zugänglich 
sind.  Das  wird  anders,  wo  die  Erinnerung  eine  größere  Rolle  zu  spielen 
beginnt,  und  wo  nun  bei  der  Verwendung  der  Gebärde  zur  Erzählung 
vergangener  Erlebnisse  oder  zum  Ausdruck  von  Befehlen  und  Wünschen 
die  Objekte  der  Vorstellungen  nicht  immer  gegenwärtig  sind.     Dann 
führt  der  Trieb  nach  Mitteilung  des  Gedachten  von  selbst  dazu,  das 
vorgestellte    Objekt   durch   Andeutung    seiner   Eigenschaften    kennt- 
lich zu  machen.     Aber  auch  hier  greift  der  Taubstumme  noch  gern, 
falls  sich  nur  ähnliche  Objekte  im  Sehbereich  vorfinden,  zur  hinweisen- 
den Gebärde,  oder  er  zieht  sie  wenigstens  neben  der  nachbildenden 
zu  Hilfe.     Beide  zusammen  verraten  nun  durch  den  nachahmenden 
Bestandteil  die  Abwesenheit  des  Gegenstandes,  durch  die  Hinweisung 
auf  ein  ähnliches  Objekt  beseitigen  sie  die  Unsicherheit  der  bloß  nach- 
ahmenden Bewegung.     Dies  ist  einigermaßen  anders  bei  den  Formen 
der  überlieferten  Gebärdensprache,  wo  die  verschiedenen  Arten  nach- 
bildender  Zeichen   durch   eine   lange   eingelebte    Gewöhnung   festere 


Hinweisende  Gebärden.  167 


Bedeutungen  gewonnen  haben.  Zuweilen  mag  übrigens  hier  das  Zu- 
rückdrängen jener  einfachsten  Gebärdeform  auch  dadurch  bedingt 
sein,  daß  die  Gebärdensprache  den  Charakter  einer  Geheimsprache 
annimmt,  bei  der  die  Hinweisung  auf  den  Gegenstand  gerade  um  ihrer 
leichten  Verständlichkeit  willen  vermieden  wird. 

In  ihrer  ursprünglichen  Bedeutung  bezeichnet  demnach  die  hin- 
weisende Gebärde  schlechthin  den  anwesenden  Gegenstand, 
auf  den  sie  die  Aufmerksamkeit  lenkt.  Da  aber  alle  zur  umgebenden 
Welt  gehörenden  Objekte  gelegentlich  auch  abwesend  sein  können, 
so  entstehen,  namentlich  nachdem  sich  eine  gewisse  Tradition  aus- 
gebildet hat,  bald  für  die  meisten  Außendinge  selbständige,  nach- 
bildende, sie  unabhängig  von  ihrer  Anwesenheit  andeutende  Zeichen. 
Hierdurch  wird  die  hinweisende  Gebärde  aus  ihrer  ersten  allgemeinen 
Anwendung  allmählich  verdrängt.  Nur  zwei  Vorstellungsgebiete 
bleiben  zurück,  für  die  fortan  der  unmittelbare  Hinweis  die  ange- 
messene Bezeichnung  bleibt,  weil  ihre  Objekte  fortwährend  an- 
wesend sind.  Das  erste  dieser  Gebiete  ist  das  der  Personen  der 
Unterredung,  das  zweite  das  der  räumlichen  Verhältnisse. 
Das  Ich  und  Du  sind  immer  wiederkehrende  Attribute  der  Gedanken- 
mitteilung. Mögen  auch  die  Personen  der  Unterredung  wechseln, 
dies  ihr  Verhältnis  zueinander  mit  der  Bedingung  unmittelbarer 
Gegenwart  bleibt  bestehen.  Bis  zu  einem  gewissen  Grade,  wenn- 
gleich minder  konstant,  kann  aber  auch  eine  dritte  Person  oder  eine 
Mehrzahl  dritter  Personen  eine  analoge  Rolle  spielen.  Ähnlich  können 
räumliche  Richtungen,  ein  Oben  und  Unten,  Rechts  und  Links,  Vom 
und  Hinten  nicht  anders  ausgedrückt  werden  als  durch  hinweisende 
Gebärden,  die  von  dem  eigenen  Körper,  als  dem  Mittelpunkt  aller 
Orientierungen  im  Raum,  ausgehen. 

An  diese  räumlichen  Hinweisungen  schließen  sich  dann  weitere 
an,  die  in  ihrer  Form  nicht  wesentlich  abweichen,  nach  ihrer  Bedeu- 
tung jedoch  nicht  mehr  als  rein  hinweisende  Zeichen  betrachtet  wer- 
den können.  Hierher  gehören  erstens  diejenigen  Gebärdeformen,, 
die  Größe  und  Kleinheit,  namentlich  in  der  Höhendimension,  zu- 
weilen aber  auch  in  andern  räumlichen  Richtungen  ausdrücken;  so- 
dann solche  hinweisende  Bewegungen,  die  gegen  Teile  des  eigenen 
Leibes  gekehrt  sind,  um  entweder  diese  Teile  selbst  oder  gewisse  ihrer;- 


168  I^ie  Gebärdensprache. 


Eigenschaften  oder  ihre  Funktion  auszudrücken;  endlich  Gebärden, 
welche  die  drei  räumlichen  Beziehungen  des  unmittelbar  gegenwärtigen 
Ortes,  der  zurückgelegten  und  der  zurückzulegenden  Strecke  in  die 
zeitlichen  Bedeutungen  der  Gegenwart,  Vergangenheit  und  Zu- 
kunft übertragen.  Diese  drei  Entwicklungsformen  gehören,  ebenso 
wie  der  einfache  Hinweis,  zu  den  verbreitetsten  Gebärden:  sie  sind 
übereinstimmender  Weise  unter  den  Zeichen  der  Taubstummen, 
der  Zisterzienser  und  in  den  verschiedenen  Formen  üb^lieferter  Ge- 
bärdensprache zu  finden.  Wir  haben  also  allen  Grund,  diese  demon- 
strativen Zeichen  sämtlich  für  in  hohem  Grade  natürliche  Ausdrucks- 
mittel zu  halten.  Nach  ihrer  Bedeutung  besitzen  sie  aber  den  Charakter 
von  Übergangsstufen  zwischen  der  primären  Form  des  Hinweises 
und  verschiedenen  Arten  nachbildender  Gebärden.  Obgleich  den 
hinweisenden  Zeichen  gleichend  und  mit  den  nämlichen  Hilfsmitteln 
ausgeführt,  liegt  in  ihnen  stets  noch  ein  weiterer  Vorstellungsinhalt, 
der  über  den  durch  die  Bewegung  selbst  ausgedrückten  hinausgeht. 
So  ist  bei  den  Gebärden  der  Größe  und  Kleinheit  die  hinweisende 
offenbar  ganz  in  der  nachbildenden  Bedeutung  aufgegangen.  Näher 
scheint  die  Bezeichnung  der  Organe,  ihrer  Eigenschaften  und  Funk- 
tionen durch  Hinweis  auf  Teile  des  eigenen  Leibes  der  primären  Be- 
deutung zu  stehen.  Läßt  sie  sich  doch  als  eine  besondere  Gestaltung 
des  einfachen  Hinweises  auf  sich  selbst  ansehen.  So  werden  Kopf, 
Brust,  Bein,  Auge,  Ohr,  Nase,  Zunge  usw.  durch  derartige  Bewegungen 
angedeutet;  und  ähnliche  bezeichnen  die  Funktion  der  Organe:  das 
Sehen,  Hören,  Riechen,  Schmecken  usw.  In  allen  diesen  Fällen  ist 
demnach  gegenüber  dem  einfachen  Hinweis  eine  Erweiterung  der 
Bedeutung  eingetreten,  die  sich  mit  dem  Übergange  von  der  Person 
auf  ihre  Teile  von  selbst  verbindet.  Auch  bezieht  sich  ein  solcher 
Hinweis  auf  ein  einzelnes  Organ  in  der  Regel  nicht  mehr  bloß  auf  den 
Redenden  selbst,  sondern  dieser  benutzt  jenes  nur  als  das  nächste 
Beispiel,  um  den  Begriff  überhaupt  auszudrücken.  Darum  verbinden 
sich  hiermit  leicht  noch  andere  Bedeutungsentwicklungen:  so  der 
Übergang  vom  Organ  auf  seine  Funktion,  wie  bei  den  Sinnesorganen; 
oder  es  treten  zu  den  hinweisenden  andere,  näher  determinierende 
Bewegungen,  die  bereits  direkt  den  Charakter  darstellender  Gebärden 
besitzen.     So,  wenn  eine  weitverbreitete  Gebärde  das  Sehen  zuerst 


Hinweisende  Gebärden.  169 


durch  den  Hinweis  auf  das  Auge  und  dann  durch  eine  von  diesem  aus- 
gehende, in  den  Kaum  gerichtete  Bewegung  des  Zeigefingers  anzeigt, 
wodurch  die  Funktion  von  dem  Organ  selbst  unterschieden  wird. 
Oder  wenn  ,, Fleisch"  bei  den  Taubstummen  und  den  Zisterzienser- 
mönchen übereinstimmend  durch  Emporheben  einer  Hautfalte  am 
Arm  angedeutet  wird,  eine  Modifikation,  die  zur  Unterscheidung 
von  dem  Arm  als  solchem  dient,  wo  aber  eben  deshalb  die  Gebärde 
rschon  in  ihrer  äußeren  Erscheinungsweise  den  Charakter  einer  bloß 
Tiinweisenden  verloren  hat.  Wie  auf  die  Funktionen,  so  können  end- 
lich auch  auf  die  Eigenschaften  der  Organe  oder,  in  einer  sich  weiter 
.anschließenden  Übertragung,  auf  irgendwelche  andere  Vorstellungen, 
•die  mit  diesen  Eigenschaften  in  Beziehung  stehen,  die  nämlichen  Ge- 
bärden übergehen.  So,  wenn  die  Farbe  ,,rot"  durch  Hinweisung  auf 
»den  roten  Lippenrand  oder  auf  die  Wange,  oder  wenn  gar  bei  den 
.Zisterziensern  der  „Wein"  durch  eine  Berührung  der  Nase,  gleichsam 
;als  ,,der,  der  die  Nase  rötet",  angedeutet  wird  —  eine  Gebärde,  die 
durch  die  Gleichförmigkeit,  mit  der  sie  sich  in  der  Kloster  spräche  der 
verschiedenen  Jahrhunderte  wiederholt,  ein  merkwürdiges  Licht 
auf  die  Verbreitung  wirft,  in  der  dieses  Symptom  bei  den  frommen 
Brüdern  vorgekommen  sein  muß.  Alles  dies  sind  natürlich  sekun- 
däre Übertragungen,  die  schon  in  das  Gebiet  des  Bedeutungswandels 
der  Gebärden  hineinreichen. 

Eine  etwas  andere  Stellung  nehmen  nach  ihrem  psychologischen 
Inhalt  die  sekundären  demonstrativen  Gebärden  ein,  bei  denen  der 
ursprünglich  räumlichen  eine  zeitliche  Bedeutung  untergeschoben 
ist.  Die  Regelmäßigkeit,  mit  der  diese  Darstellung  der  Zeit  durch 
hinweisende  Zeichen  in  den  neugebildeten  wie  in  den  überlieferten 
Gebärdensprachen  angewandt  wird,  bildet  vielleicht  einen  der  sprechend- 
sten Belege  für  die  ürsprünglichkeit  der  Verbindung  beider  Anschau- 
nngsformen.  Da  aber  bei  dieser  Substitution  der  Raum  ein  Symbol 
der  Zeit,  wenn  auch  ein  noch  so  natürliches  und  ursprüngliches  ist, 
so  ist  diese  dritte  Form  zugleich  zu  den  symbolischen  Gebärden  zu 
rechnen. 


170  I^ie  Gebärdensprache. 


3.  Nachbildende  Gebärden. 

Ungleich  größer  an  Zalil  und  mannigfaltiger  ist  die  Klasse  der 
darstellenden  Gebärden.  Sie  zerfallen,  wie  schon  oben  bemerkt,  in 
mehrere  Formen,  die  man  am  zweckmäßigsten  wieder  nach  ihren 
genetischen  Beziehungen  ordnet.  Während  bei  den  hinweisenden 
die  sekundären  Formen  immer  zugleich  in  darstellende  übergingen, 
worin  sich  die  natürliche  Armut  der  bloßen  Demonstrativzeichen 
verriet,  bleibt  bei  den  verschiedenen  Entwicklungsstufen  der  dar- 
stellenden Gebärden  selbst  der  enge  Zusammenhang  mit  der  pri- 
mären Form,  aus  der  sie  sich  differenziert  haben,  dauernd  erhalten. 
Diese  primäre  Form  ist  aber  die  der  nachbildenden  Gebärden. 

Sie  sind  unmittelbare  Weiterentwicklungen  der  nachahmenden 
Ausdrucksbewegungen,  mit  denen  sie  in  ihrer  ursprünglichen  Erschei- 
nungsweise vollständig  zusammenfallen.  Die  ausgebildeten  Gebärden 
dieser  Klasse  lassen  sich  dann  in  zwei  verschiedene  Arten  unterscheiden.. 
Entweder  nämlich  werden  die  Umrißlinien  des  vorgestellten  Gegen- 
standes mit  dem  bewegten  Zeigefinder  in  die  Luft  gezeichnet;  oder 
die  Gestalt  des  Gegenstandes  wird  durch  die  Hände  in  einer  bleibenden 
Form  nachgebildet.  Hiernach  können  wir  jene  die  zeichnende,, 
diese  die  plastische  Form  der  nachahmenden  Gebärden  nennen. 
Beide,  die  vergänglichere  und  die  bleibendere  Form,  können  sich  üb- 
rigens miteinander  verbinden,  und  wo  sich  die  Gebärdenmitteilung 
weiter  ausgebildet  hat,  da  geschieht  dies  in  der  Tat  fortwährend.  Im 
allgemeinen  läßt  sich  aber  die  vergängliche  Form,  das  flüchtig  vom 
Finger  in  die  Luft  gezeichnete  Bild,  als  die  primitivere  betrachten. 
Sie  herrscht  in  der  natürlichen  Gebärdensprache  unserer  Taubstum- 
men vor,  während  sich  die  entwickelteren,  auf  einer  langen  Tradition 
beruhenden  Zeichensprachen  mehr  der  in  solchen  Fällen  mit  großer 
Fertigkeit  geübten  Plastik  der  Hände,  wenn  nötig  unter  Hinzunahme 
bewegter  Umrißzeichnungen  und  hinweisender  Bewegungen,  bedienen  ^). 


^)  Deutlich  erhellt  dieses  Übergewicht  zeichnender  Gebärden  bei  den 
Taubstummen,  wenn  man  das  von  Ed.  Schmalz  (Über  die  Taubstummen  und 
ihre  Bildung,  S.  314  ff.)  gesammelte  ausführliche  Verzeichnis  durchgeht  und 
mit  den  Verzeichnissen  von  Mallery  und  A.  de  Jorio  (a.  a.  0.),  die  sich  auf  über- 


Nachbildende  Gebärden.  171 


So  bezeichnet  der  Taubstumme  das  ,,Ha^s",  indem  er  Giebeldach 
und  Seitenwände  mit  dem  Zeigefinger  in  der  Luft  andeutet.  Ebenso 
der  Zisterzienser,  der  die  „Kirche"  vom  gewöhnlichen  Hause  noch 
dadurch  unterscheidet,  daß  er  nachträglich  über  dem  Dach  ein  Kreuz 
beschreibt.  Ein  ,, Zimmer"  wird  durch  Beschreibung  eines  Vierecks, 
ein  ,,Hof",  ein  ,, Platz",  ein  ,, Garten"  entweder  ebenso  oder  häufiger 
durch  Beschreiben  eines  Kreises  angedeutet.  Der  Zusammenhang 
der  Rede  oder  hinzutretende  demonstrative  und  mitbezeichnende 
Gebärden  sondern  wieder  diese  verschiedenen  Begriffe:  so  den  Garten 
vom  Platze  die  der  Umrißzeichnung  des  Kreises  angehängte  Gebärde 
des  Riechens  an  einer  Blume,  der  durch  mehrmalige  Bewegung  des 
Daumens  und  Zeigefingers  gegen  die  Nase  angedeutet  wird.  Der* 
,, Rauch"  wird  durch  eine  die  Bewegung  der  Rauchwolken  annähernd 
wiedergebende  spiralige  Drehung  des  Zeigefingers  von  unten  nach 
oben  ausgedrückt.  Soll  gesagt  werden,  daß  der  Rauch  aus  einem  Ge- 
bäude aufsteigt,  so  wird  diese  Gebärde  dem  obenerwähnten  Zeichen 
des  Daches  beigefügt.  Ist  ein  von  einer  brennenden  Flamme  auf- 
steigender Rauch  gemeint,  so  wird  durch  Blasen  gegen  den  empor- 
gehaltenen Zeigefinger  die  Flamme  angedeutet:  diese  beiden  Gebärden 
der  Flamme  und  des  Rauches  zusammen  werden  daher  auch  benutzt, 
um  überhaupt  ,, Feuer"  auszudrücken.  Ähnliche  Verbindungen  der 
zeichnenden  mit  mitbezeichnenden  Bewegungen,  die  zur  Erläute- 
rung jener  dienen,  kommen  noch  in  der  mannigfaltigsten  Weise  vor. 
Für  „Brot"  zeichnet  der  Taubstumme  einen  Kreis  in  die  Luft,  die 
Form  des  Brotlaibs  wiedergebend,  und  macht  dann  die  Gebärde  des 
Brotschneidens.  ,,Buch"  drücken  der  Taubstumme  und  der  Zister- 
zienser in  gleicher  Weise  dadurch  aus,  daß  sie  die  beiden  Hände  in 
der  Form  eines  aufgeschlagenen  Buches,  in  dem  man  liest,  vor  das 
Angesicht  halten  und  mit  dem  Munde  Bewegungen  ausführen,  die 
das  Lesen  nachahmen.  Den  ,,Hut"  als  männliche  Kopfbedeckung 
drückt  der  Taubstumme  aus,  indem  er  die  Umrisse  eines  Zylinder- 


lieferte Gebärdensprachen  beziehen,  vergleicht.  Schmalz  ist  übrigens  der  ein- 
zige unter  diesen  Autoren,  der  die  Gebärden  in  gewisse  Klassen  geordnet  hat  — 
freilich  in  solche,  die  der  Grammatik  der  Lautsprache  entlehnt  sind  und  also, 
da  deren  Kategorien  in  der  Gebärdensprache  nicht  existieren,  für  diese  keine  Be- 
deutung besitzen  (vgl.  oben  S.  135  f.). 


172  I^iö  Gebärdensprache. 


huts  über  dem  Kopfe  zeichnet.  Dasselbe  Zeicben  teilt  der  Prinz  von 
Wied  von  den  Indianern  der  Kocky  mountains  mit;  es  war  aber  zu- 
gleich auf  den  weißen  Mann  selbst,  als  den  buttragenden,  im  Unter- 
schiede vom  Eingeborenen,  übergegangen.  Der  Neger  wurde,  da  er 
in  Amerika  meist  in  europäischer  Kleidung  geht,  in  derselben  Weise 
angedeutet,  aber  als  Unterscheidungsmerkmal  eine  Bewegung  mit 
der  flachen  Hand  über  das  Haar  beigefügt,  die  auf  das  Wollhaar  hin- 
wies.  Die  verschiedenen  Tiere  werden  bei  Taubstummen  wie  In- 
dianern in  der  Regel  durch  Umrißzeichnungen  nicht  des  ganzen  Tieres, 
sondern  einzelner  charakteristischer  Teile  ausgedrückt:  so  der  ,, Hirsch" 
durch  Zeichnung  des  Geweihes  über  der  eigenen  Stirne,  der  „Ochse" 
Äurch  ähnliche  Beschreibung  der  Hörner,  die  „Ziege"  durch  Zeich- 
nung ihres  Bartes,  der  ,, Vogel"  durch  Nachbildung  seines  Schnabels 
mit  Zeigefinger  und  Daumen,  die  gegeneinander  bewegt  werden.  Ähn- 
liche flüchtige  Umrißzeichnungen  bieten  sich  endlich  überall  von 
selbst  dar,  wo  es  sich  um  den  Ausdruck  von  Vorgängen  und  Tätig- 
keiten handelt,  die  in  der  Zeit  verlaufende  Erscheinungen  sind,  also 
für  die  meisten  der  in  der  Lautsprache  durch  Verbalformen  aus- 
gedrückten Begriffe.  So  gibt  der  Taubstumme  den  Begriff  „gehen" 
durch  die  Nachahmung  von  Gehbewegungen  mit  dem  rechten  Zeige- 
und  Mittelfinger  auf  dem  emporgehaltenen  linken  Vorderarm  wieder; 
,, reiten",  indem  er  mit  den  nämlichen  Fingern  die  Beine  eines  Reiters 
und  mit  ihnen  gleichfalls  auf  dem  Vorderarm  der  andern  Seite  die 
Bewegungen  des  Reiters  nachbildet;  ,, sprechen"  durch  nachahmende 
Bewegungen  der  Lippen.  Diese  Bewegungen  nehmen  die  Bedeutung 
,, nennen"  an,  wenn  zugleich  der  Zeigefinger  vom  Mund  aus  gegen 
die  benannte  Person  oder  Sache  hingeführt  wird;  die  Bedeutung 
,, singen",  wenn  Arm  und  Zeigefinger  die  Bewegungen  des  Taktschiagens 
machen.  ,, Schlagen"  wird  unmittelbar  durch  schlagende  Bewegungen 
mit  dem  rechten  Arm,  „verbergen"  durch  Verstecken  der  rechten 
Hand  unter  dem  Kleide  der  linken  Seite,  ,, Handel  treiben",  ,, kaufen" 
durch  abwechselndes  Hinlegen  eines  fingierten  Gegenstandes  und  Auf- 
nehmen eines  andern  mit  der  Hand,  also  eigentlich  durch  abwechseln- 
des Geben  und  Nehmen  ausgedrückt  usw. 

Neben  diesen  in  der  Ausführung  von  Umrißzeichnungen  in  der 
Luft  bestehenden  Zeichen  haben  sich  nun  namentlich  in  den  über- 


Nachbildende  Gebärden. 


173 


lieferten,  auf  eine  längere  Tradition  zurückgehenden  Gebärdensprachen 
dauerndere,  plastische  Gebärden  entwickelt.  Sie  kommen  dadurch 
zustande,  daß  die  Hände  als  plastische  Organe  die  Nachbildung  der 
verschiedenen  Natur-  oder  Kunstformen  gestatten  und  sich  in  dieser 
Fähigkeit  noch  in  hohem  Grade  durch  Übung  vervollkommnen.  Unter 
den  Ausdrucksmitteln  der  Taubstummen  fehlen  diese  plastischen 
Gebärden  fast  gänzlich,  wogegen  sie  in  der  Sprache  der  Indianer  und 
des  neapolitanischen  Volkes  eine  große  Rolle  spielen.  Eine  kleine 
Sammlung  solcher  Zeichen  geben  die  Figuren  26 — 28.  In  Fig.  26  sind 
Gebärden  neapolitanischen,  in  Fig.  27  und  28  solche  amerikanischen 
Ursprungs  dargestellt^). 


^-W       / 


h  c 

Fig.  26.    Neapolitanische  Handgebärden. 


So  ist  die  Gebärde  a  (Fig.  26)  das  in  Neapel  viel  und  in  mancher- 
lei Bedeutungen  gebrauchte  Zeichen  eines  „gehörnten  Kopfes": 
Zeige-  und  kleiner  Finger  ausgestreckt  bezeichnen  die  beiden  Hörner, 
die  übrige  Hand  den  Kopf.  Die  Urbedeutung  ist  natürlich  die  eines 
gehörnten  Tier  köpf  s  oder  Tieres.  Ebenso  ist  h  die  Nachbildung  eines 
„Eselskopfs":  die  nach  oben  gehaltenen  Daumen  beider  Hände  sind 
die  Ohren,  durch  den  Zwischenraum  zwischen  den  kleinen  Fingern 
und  der  übrigen  Hand  wird  die  Mundspalte  angedeutet.  Werden 
die  beiden  Hände  in  derselben  Stellung  zueinander  mit  den  Finger- 
spitzen nach  abwärts  gerichtet,  während  die  Daumen  fester  aneinan- 


^)  Die  Zeichnungen  in  Fig.  26  sind  dem  Werke  A.  de  Jorios  (a.  a.  0.  Taf.  19 
und  20),  die  in  Fig.  27  und  28  der  Arbeit  G.  Mallerys  entnommen. 


174 


Die  Gebärdensprache. 


der  gedrückt  werden,  wie  in  c,  so  stellt  diese  Form  abermals  den  Kopf 
des  Esels  dar,  aber  nicht  wie  vorhin  im  Profil,  sondern  in  der  Vorder- 
ansicht. Eine  oft  gebrauchte  Gebärde  der  Neapolitaner  ist  endlich 
das  in  d  wiedergegebene  Bild  der  „Flasche":  der  nach  oben  gekehrte 
Daumen  bedeutet  deren  Hals,  die  übrige  Hand  mit  den  gebogenen 
Fingern  den  Bauch, 

Noch    mannigfaltiger    sind    die    plastischen    Handgebärden    der 
Indianer,     e  (Fig.  27)  ist  das  gewöhnliche  Zeichen  für  „Geld".     Es 


Fig.  27.    Nordamerikanische  Handgebärden. 


ist  die  Nachbildung  der  Form  des  Geldstücks  und  als  solche  auch 
an  andern  Orten  der  Erde  verbreitet:  so  z.  B.  mit  der  gleichen  Bedeu- 
tung in  Japan.  /  ist  das  indianische  Zeichen  für  „Sonne".  Es  besteht 
ebenfalls  nur  in  der  Nachbildung  eines  runden  Gegenstandes,  wie 
das  vorige;  aber  der  größere  Umfang  des  mit  beiden  Händen  gebildeten 
Kreises  deutet  die  erhebliche  Größe  an.  Zur  näheren  Begrenzung 
der  Bedeutung  werden  zuweilen  noch  die  so  zusammengefügten  Hände 
von  Osten  nach  Westen  bewegt:  gleichsam  ,,der  große  runde  Gegen- 


Nachbildende  Gebärden. 


175 


stand,  der  von  Osten  nach  Westen  geht".  Die  Unbestimmtheit  dieses 
Kreiszeichens  macht  es  übrigens  auch  in  anderem  Sinne  verwend- 
bar. So  dient  es  nach  Prinz  Wied  zur  Bezeichnung  eines  indianischen 
,, Dorf  es",  wo  zur  bestimmteren  Hervorhebung  dieser  Vorstellung 
die  Zeigefinger  und  Daumen  etwas  voneinander  entfernt  werden,  um 
die  beiden  Eingänge,  die  durch  die  Umzäunung  des  Dorfes  führen, 
anzudeuten.    Ein  Zelt  kann,  wie  in  g,  durch  eine  einzige  Hand  nach- 


Fig.  28.    Nordamerikanische  Handgebärden. 


gebildet  werden,  deren  Hohlfläche  nach  vorn  sieht,  und  deren  Finger- 
spitzen so  nach  oben  gekehrt  sind,  daß  sich  einige  Fingerglieder  kreuzen, 
ähnlich  den  Zeltstangen.  Wird  die  Hand  ohne  diese  Kreuzung  der 
Finger  noch  stärker  gehöhlt,  wie  in  h,  und  nach  oben  gekehrt,  so  bedeutet 
dies  ein  „Trinkgefäß"  oder  in  übertragener  Bedeutung  auch  den ,, Trank", 
das  „Wasser".  Eine  etwas  vollständigere  Weise  für  die  Bezeichnung 
des  Zeltes  ist  die  in  i  dargestellte  zweihändige  Gebärde,  bei  der  durch 
die  Kreuzung  der  Finger  beider  Hände  die  Kreuzung  der  Zeltpfähle 


176  Die  Gebärdensprache. 


wiedergegeben  ist.  Werden  die  Finger  der  Hände  gekreuzt  und  mit 
dem  Rücken  nach  vorn  gekehrt,  wie  in  h,  so  bedeutet  dies  ein  ,, Block- 
haus", wobei  wiederum  die  Kreuzung  der  Finger  die  Anordnung  der 
Blöcke  nachbildet.  Die  mit  der  Hohlhand  und  den  ausgestreckten 
Fingern  nach  oben  gekehrte  Hand  in  l  bezeichnet  endlich,  wenn  sie 
bei  aufwärts  gekehrtem  Arm  ausgeführt  wird,  einen  ,,Baum",  mit 
abwärts  gegen  den  Boden  gekehrtem  einen  ,, Strauch"  oder  das 
„Gras". 

Eine  weitere  Reihe  plastischer  Handgebärden  zeigt  die  Fig.  28. 
Wird  die  nämliche  Handstellung  gewählt  wie  in  l  der  vorigen  Figur, 
während  die  Finger  mehr  horizontal  gelagert  sind  und  sich  die  Hand 
gleichzeitig  aufwärts  bewegt  (m),  so  bedeutet  dies  ,, Rauch".  Beide 
Hände  in  umgekehrter,  abwärts  gerichteter  Haltung  und  mit  gleich- 
zeitiger Bewegung  im  selben  Sinne  (n)  bezeichnen  ,, Regen".  Tiere 
drückt  der  Indianer  wie  der  Neapolitaner  durch  die  Umrißkonturen 
des  Kopfes  oder  anderer  charakteristischer  Körperteile  aus.  So  be- 
zeichnet die  in  f  dargestellte  Handform  die  Tatze  des  „Bären",  die 
in  q  den  Kopf  des  ,, Pferdes",  die  in  r  den  der  „Antilope".  Diese  an 
sich  vieldeutigen  Gestalten  können  aber  natürlich  erst  durch  den 
Zusammenhang  der  Rede  oder  durch  hinzugefügte  andere  Zeichen 
verständlich  gemacht  werden:  so  das  Pferd,  indem  man  dem  Zeichen 
desselben  das  in  o  wiedergegebene  für  ,, reiten"  beifügt. 

In  vielen  andern  Fällen  wird  der  Sinn  einer  bestimmten  plasti- 
schen Gebärde  dadurch  näher  bestimmt,  daß  mit  ihr  eine  den  Um- 
rißlinien des  Gegenstandes  folgende  zeichnende  Bewegung  verbunden 
ist.  So  kann,  wie  schon  erwähnt,  das  Zeichen  für  „Sonne"  (Fig.  27  /) 
verdeutlicht  werden,  indem  man  gleichzeitig  eine  rasche  Bewegung 
von  Osten  nach  Westen  ausführt.  Die  nämliche  Gebärde  nimmt  aber 
die  Bedeutung  ,,Tag"  an,  wenn  die  zum  Kreise  verbundenen  Hände, 
oder  wenn  bei  einfacherer  Ausführung  die  einzelne  den  Kreis  dar- 
stellende Hand  (e  Fig.  27)  von  Osten  nach  Westen  und  dann  wieder 
zurückbewegt  wird.  Das  Zeichen  für  ,, Wolke"  besteht  gewöhnlich 
darin,  daß  beide  Hände  in  der  Höhe  des  Kopfes  die  Form  eines  herab- 
hängenden Wolkenbauchs  nachbilden,  ein  Zeichen,  welches  dann, 
um  den  bewölkten  Himmel  auszudrücken,  mit  der  Bewegung  des 
Zeigefingers  gegen  den  Himmel  verbunden  wird.    Mallery  hat  schon 


Nachbildende  Gebärden.  177 


darauf  hingewiesen,  daß  diese  und  andere  Gebärden  auffallend  an  die 
Symbole  erinnern,  mit  denen  die  gleiclien  Gegenstände  in  der  Bilder- 
schrift der  Indianer  bezeichnet  werden,  während  zugleich  zwischen 
den  offenbar  unabhängig  entstandenen  Formen  der  Bilderschrift 
verschiedener  Völker  eine  ähnliche  universelle  Verwandtschaft  be- 
steht wie  zwischen  den  entsprechenden  Gebärdezeichen  ^). 

Abgesehen  von  den  Händen,  die  durch  die  Beweglichkeit  der 
Finger  zur  Darstellung  plastischer  Formen  in  bevorzugter  Weise  ge- 
eignet sind,  ist  es  noch  die  mimische  Muskulatur  des  Angesichts,  die 
bei  der  Erzeugung  plastischer  Gebärden  mitwirkt.  Aber  während 
die  Hand  alle  möglichen  äußeren  Gegenstände  nachzubilden  vermag, 
ist  das  Angesicht  immer  nur  imstande,  sich  selbst  in  den  verschiedenen 
Zuständen  wiederzugeben,  in  die  es  durch  den  Ausdruck  der  Affekte 
versetzt  wird.  Wie  die  Hand  die  auf  Objekte  bezogenen  Vorstellungen, 
so  deutet  daher  die  Plastik  der  mimischen  Muskeln  alle  jene  subjek- 
tiven Zustände  an,  die  durch  die  Mimik  des  Angesichts  ausgedrückt 
werden  können:  demnach  in  erster  Linie  die  Gefühle  und  Affekte, 
dann  aber  auch  andere  Zustände  des  Bewußtseins,  die,  wie  Schlaf 
und  Tod  oder  gespannte  Aufmerksamkeit,  vorzugsweise  an  mimischen 
Merkmalen  zu  erkennen  sind.  Die  Plastik  des  Angesichts  besteht  also 
in  einer  Verwertung  des  natürlichen  Mienenspiels  für  die  Gebärden- 
sprache, bei  der  aber  eine  bestimmte  Gebärde  nicht  mehr  direkt  den 
ihr  entsprechenden  Seelenzustand  selbst,  sondern  nur  noch  die  Vor- 
stellung dieses  Zustandes  ausdrückt.  Diese  Übertragung  ist  eine  so 
naheliegende,  daß  die  hierher  gehörenden  Gebärden,  im  Unterschied 
von  der  nur  in  den  entwickelteren  Zeichensprachen  ausgebildeten 
Plastik  der  Hände,  ein  sehr  frühes  und  allgemein  verbreitetes,  zu- 
gleich aber  auch  ein  überaus  beharrliches  Besitztum  der  Gebärden- 
sprache sind.  So  werden  ganz  allgemein ,, Freude",  „Schmerz", ,, Trauer", 
„Kummer",  „Zorn"  und  andere  Affekte  lediglich  durch  ihren  natür- 
lichen mimischen  Ausdruck  angedeutet,  während  meist  noch  hin- 
weisende oder  zeichnende  Gebärden  zu  Hilfe  kommen.  Ähnlich  wird 
der  Begriff  der   ,, Aufmerksamkeit"   bei   Taubstummen   und  Wilden 


1)  Mallery  a.  a.  0.  S.  349  ff.    Vgl.  auch  Tylor  a.  a.  0.  S.  105  ff.,  sowie  unten 
V,  3. 

Wnndt,  Völkerpsychologie.    I.    4.  Anfl.  1^ 


;[78  I^^®  Gebärdensprache. 


durch  den  gespannten  Gesiclitsausdruck,  unterstützt  durch  die  Er- 
hebung des  Zeigefingers,  ausgedrückt.  Zur  Bezeichnung  von  „Schlaf" 
und  ,,Tod"  wird  der  Kopf  mit  geschlossenen  Augen  auf  die  rechte 
Hand  gelegt.  Wird  die  hinweisende  Bewegung  des  Zeigefingers  auf 
den  Boden  beigefügt,  so  sagt  dies,  daß  der  Tod,  gleichsam  der  „Schlaf 
dort  unten",  gemeint  sei. 

4.  Mitbezeichnende  Gebärden. 

Als  eine  zweite  Unterform  darstellender  Gebärden  wurden  oben 
(S.  164)  die  mitbezeichnenden  unterschieden.  Ihre  charakteristische 
Eigenschaft  besteht  darin,  daß  sie  nicht  den  Gegenstand  selbst  in 
seinen  gesamten  Umrissen  oder  in  denen  eines  besonders  in  die  Augen 
fallenden  Teiles  wiedergeben,  sondern  daß  sie  irgendein  sekundäres, 
willkürlich  herausgegriffenes  Merkmal  zu  seiner  Bezeichnung  wählen. 
Natürlich  ist  zwischen  dieser  und  der  vorigen  Form  keine  scharfe 
Grenze  zu  ziehen.  So  wird  man  z.  B.  die  in  der  unteren  Reihe  der  Fig.  28 
mitgeteilten  Beispiele  (p,  q,  r)  noch  zur  vorigen  Gattung,  die  An- 
deutung der  Ziege  durch  die  in  die  Luft  gezeichneten  Konturen  ihres 
Bartes,  oder  die  des  Esels  durch  die  seiner  Ohren  schon  zu  den  mit- 
bezeichnenden Gebärden  stellen  können.  Die  Allmählichkeit  des 
Übergangs  liegt  hier,  wie  in  andern  ähnlichen  Fällen  dieses  Gebiets, 
in  der  Natur  der  Sache.  Alle  Arten  darstellender  Gebärden  sind  eben 
auf  gemeinsamem  Stamm  erwachsene  Entwicklungsformen.  Wo 
statt  der  Umrißzeichnung  oder  der  plastischen  Wiedergabe  ein  neben- 
sächliches Merkmal  zureicht,  da  begnügt  sich  die  Gebärde  mit  der 
Andeutung  eines  solchen,  das  dann  durch  Assoziation  das  Erinnerungs- 
bild wachruft. 

Wie  nun  die  nachbildenden  Gebärden  in  doppelter  Gestalt  vor- 
kommen, als  in  die  Luft  geschriebene  flüchtige  Bilder  oder  Umriß - 
Zeichnungen,  und  als  dauerndere  plastische  Nachbildungen,  so  sind 
auch  bei  den  mitbezeichnenden  eine  solche  vergängliche  und  eine  blei- 
bendere Form  zu  unterscheiden;  nur  daß  beide  noch  häufiger  ineinan- 
der übergehen  und  sich  verbinden  können.  Übrigens  trifft  es  auch 
hier  zu,  daß  die  vergängliche,  zeichnende  Form  mehr  der  ursprüng- 
lichen,   neugebildeten    Gebärdensprache,    die    dauerndere,    plastische 


Mitbezeichnende  Gebärden.  179 

der  traditionell  überlieferten  eigen  ist.    So  bezeichnet  der  Taubstumme 
den  Begriff  „Mann'*,  indem  er  die  Gebärde  des  Hutabnehmens  aus- 
führt. Die  Gebärde  ist  natürlich  ein  spezifisch  abendländisches  Zeichen, 
da  es  von  der  im  Orient  im  allgemeinen  unbekannten  Sitte  des  Hut- 
abnehmens beim  Gruße  herrührt.    Da  aber  diese  Sitte  bei  uns  nur  für 
den  Mann,  nicht  für  die  Frau  gilt,  so  ist  das  in  der  Gebärde  ausgedrückte 
Merkmal  vollkommen  zureichend.     Eine  „Frau"  wird  bei  den  Taub- 
stummen in  der  Regel  durch  die  auf  die  Brust  gelegte  Hand  ausgedrückt. 
Die  Zisterzienser  bedienten  sich  zum  gleichen  Zweck  einer  mit  dem 
Zeigefinger  horizontal   über  die    Stirn   ausgeführten   Bewegung,   um 
damit  die  geringere  Körpergröße  anzudeuten.    Daß  das  Zeichen  kein 
zufälliges  und  vereinzeltes  ist,  dafür  spricht  übrigens  die  Tatsache, 
daß  Prinz  Wied  bei  den  nordamerikanischen  Indianern  das  nämliche 
Zeichen  beobachtete.     Der  ,,Mann"  wurde  bei  ihnen  im  Gegensatz 
dazu  durch  Erheben  des  Zeigefingers  über  das  Haupt  bezeichnet. 
Doch  könnte  darin  auch  schon  eine  mitwirkende  symbolische  Be- 
deutung, die  der  beherrschenden  Stellung  des  Mannes,  gesehen  werden. 
Das  ,,Kind"  bezeichnet  der  deutsche  Taubstumme  meist  durch  Schau- 
keln des  rechten  Ellbogens  auf  der  linken  Hand,  gleichsam  als  das, 
was  auf  dem  Arm  getragen  und  geschaukelt  wird.    Die  Zisterzienser 
drückten  denselben  Begriff  durch  den  an  den  Mund  geführten  Zeige- 
finger aus,  eine  Gebärde,  die  nach  Mallerys  Nachweisungen  auch  bei 
den  Indianern  weitverbreitet  ist,  und  die  genau  ebenso  in  der  hiero- 
glyphischen Bilderschrift  der  Ägypter  und  in  den  Darstellungen  des 
„Harpokrates",  des  „Gottes  des  Schweigens",  wiederkehrt.     In  der 
Tat  soll  mit  der  Gebärde  offenbar  die  Sprachlosigkeit  des  Kindes 
angedeutet  werden.     Eine  verwandte  Gebärde  ist  in  Japan  für  ein 
„altes  Weib"  in  Gebrauch;  der  Zeigefinger  weist  aber  dabei  auf  die 
Zähne  oder  auf  Zahnlücken  hin,  die  Gebärde  hat  also  wohl  die  Be- 
deutung der  ,, Zahnlosen".     Weitere  mitbezeichnende  Gebärden  aus 
der  Taubstummensprache,  die  den  Charakter  einer  in  die  Luft  ge- 
zeichneten Bilderschrift  besitzen,  sind  die  folgenden:  ,, Feuer"  Blasen 
gegen  den  aufgehobenen  Zeigefinger,  ,, Butter"  Bewegung  des  Butter- 
streichens,  ,,Salz"  die  des  Salzstreuens,   ,, Stein"  die  des  Aufhebens 
vom  Boden  und  Klopfen  an  die  Zähne,  um  die  Härte  anzudeuten. 
Die  letztere  Gebärde  allein  kann  auch  für  die  Eigenschaft  ,,hart" 

12* 


180 


Die  Gebärdensprache. 


oder  in  anderem  Zusammenhang  für  ,,weiß"  gebraucht  werden.  Einige 
fernere  Gebärden  von  ähnlicher  Art  sind  als  begleitende  und  die  Be- 
deutung determinierende  Bewegungen  zu  nachbildenden,  nament- 
lich plastischen  schon  erwähnt  worden:  so  die  Bewegung  von  Osten 
nach  Westen  zum  Ausdruck  der  Sonne  oder  des  Tages,  die  Bewegung 
der  das  Bild  eines  Baumes  wiedergebenden  Hand  nach  oben,  um  das 
Wachstum  anzudeuten,  usw. 

Gegenüber  allen  diesen  in  veränderlichen  Bewegungen  bestehen- 
den Zeichen,  an  denen  meist  ausschließlich  die  Hände  beteiligt  sind, 
verhalten    sich    die   plastischen    Gebärden    von    mitbezeichnendem 


rv"*x-~ 


Fig.  29.     Mimische  Zeichea  der  Neapolitaner 


Charakter  insofern  eigenartig,  als  sie  in  der  Regel  durch  ein  eigen-, 
tümliches  Zusammenwirken  der  Hände  und  des  Angesichts  zustande 
kommen.  Dabei  gibt  der  Ausdruck  des  Angesichts  gewissermaßen 
den  Grundton  der  für  das  Verständnis  der  Gebärde  unerläßlichen 
Gefühlsrichtung  an,  während  die  eigentliche  Funktion  der  Mitbezeich- 
nung der  mit  dem  Gesicht  in  irgendwelche  Verbindung  gebrachten 
Hand  zufällt.  Diese  plastische  Unterform  läßt  sich  demnach  auch 
als  eine  Modifikation  jener  Gebärden  betrachten,  bei  denen  die  Vor- 
stellmig  einer  Gemütsbewegung  durch  ihren  mimischen  Gesichts- 
ausdruck wiedergegeben  wird  (S.  174  f.).  Die  Fig.  29  zeigt  einige  Bei- 
spiele,  die   der   neapolitanischen    Gebärdensprache   entnommen   sind^ 


Mitbezeichnende  Gebärden.  181 

aber  in  denselben  oder  ähnlichen  Formen  auch  sonst  vorkommen^). 
So  ist  die  in  a  dargestellte  Gebärde  der  ebenso  alte  wie  allgemeine 
Ausdruck  der  „Stille",  zunächst  als  Warnung  oder  Aufforderung 
gegenüber  einem  andern,  dann  aber  auch  als  allgemeines  Zeichen 
für  den  Begriff  überhaupt.  Die  Gebärde  zerfällt,  wie  man  sieht,  in 
einen  mimischen  und  in  einen  pantomimischen  Bestandteil.  Jener 
deutet  durch  die  fest  geschlossenen  Lippen  das  Schweigen,  durch 
den  fixierenden  Blick  die  erhöhte  Aufmerksamkeit  und,  wenn  der 
Blick  auf  eine  bestimmte  Person  gerichtet  ist,  die  an  diese  gerichtete 
Auffordermig  an.  Der  pantomimische  Teil,  der  erhobene  Zeigefinger, 
verleiht  der  letzteren  den  Charakter  des  Befehls.  Beide  Bestandteile 
unterstützen  und  interpretieren  sich  demnach  wechselseitig.  Nicht 
in  gleicher  Weise  eindeutig  ist  die  in  h  dargestellte  Gebärde.  Das 
Erfassen  der  beiden  Wangen  hat  zunächst  die  Bedeutung  des  Hin- 
weises: es  will  den  Blick  auf  das  Angesicht,  vor  allem  auf  denjenigen 
Teil  desselben  lenken,  der  hauptsächlich  für  dessen  Form  bestimmend 
ist.  Was  mit  der  Hinweisung  gemeint  ist,  darüber  entscheidet  aber, 
ähnlich  wie  bei  der  vorigen  Figur,  der  mimische  Ausdruck.  Ist  dieser, 
Avie  in  &,  ein  freundlich  lächelnder,  so  bezeichnet  die  Gebärde  ein  an- 
genehmes, schönes  Gesicht  oder  allgemein  ,, Schönheit".  Wird  das 
Angesicht  zur  Fratze  verzerrt,  so  nimmt  sie  im  Gegenteil  den  Begriff 
der  ,, Häßlichkeit"  an.  Wird  es  in  die  Länge  gezogen,  während  der 
Druck  der  Finger  den  so  entstehenden  Eindruck  der  Hohlwangig- 
keit unterstützt,  so  gewinnt  sie  die  Bedeutung  der  ,, Magerkeit", 
,, Dürftigkeit".  Werden  umgekehrt  die  Wangen  aufgeblasen,  so  wird 
dadurch  ein  Vollmondsgesicht  oder  allgemein  ,,  Wohlbeleibtheit" 
ausgedrückt.  Bei  der  in  c  dargestellten  Gebärde  wirken  der  mimische 
und  der  pantomimische  Teil  zusammen,  um  „Hunger"  oder,  in  etwas 
übertragenem  Sinne,  „Bedürftigkeit"  wiederzugeben.  Der  Mund 
ist  begehrlich  geöffnet,  während  der  übrige  mimische  Ausdruck  die 
Unlust  des  Hungernden  andeutet.  Dazu  macht  die  rechte  Hand  eine 
auf  den  Mund  hinweisende  Gebärde,  die  durch  die  eigentümliche, 
das  Ergreifen  eines  Bissens  andeutende  Krümmung  der  Finger  unter- 
stützt wird.     Eine  in  Japan  übliche  Gebärde,  der  in  den  Mund  und 


1)  A.  de  Jorio  a.  a.  O.  Taf.  21. 


182  I^G  Gebärdensprache. 


zwischen  die  Zähne  gesteckte  Zeigefinger,  verbunden  mit  dem  begehr- 
lichen Ausdruck  des  Angesichts,  drückt  ursprünglich  wohl  das  näm- 
liche aus;  sie  hat  aber  den  allgemeinen  Begriff  des  ,, Wunsches"  an- 
genommen und  ist  damit  in  eine  symbolische  Gebärde  übergegangen. 
Eine  ähnliche  Zwischenstufe  zwischen  Mitbezeichnung  und  Symbol 
hat  die  im  Neapolitanischen  gebrauchte  Bewegung  des  Streichens 
mit  der  flachen  Hand  über  die  Stirn,  während  das  Gesicht  den  Aus- 
druck der  Anstrengung  zeigt.  Die  Gebärde  veranschaulicht  das  Ab- 
wischen des  Schweißes  bei  anstrengender  Arbeit.  Sie  bedeutet  daher 
zunächst  physische  Anstrengung,  dann  aber  ,,Mühe''  und  „Ermüdung" 
überhaupt.  Wie  in  diesen,  so  geht  noch  in  vielen  andern  Fällen  auch 
die  mitbezeichnende  Form  in  die  dritte  und  für  die  innere  Entwick- 
lung der  Gebärdensprache  wichtigste  Gattung  darstellender  Gebärden, 
in  die  der  symbolischen,  über. 


5.  Symbolische  Gebärden. 

Wenn  wir  die  Gebärdensprache  dem  Begriff  der  Sprache  über- 
haupt unterordnen,  so  kann  bei  ihr  von  Symbolen  zunächst  in  jenem 
allgemeinsten  Sinne  geredet  werden,  in  welchem  wir  auch  bei  der 
Lautsprache  das  Wort  ein  Symbol  des  Begriffs  nennen.  Symbol 
bedeutet  hier  lediglich  ein  Zeichen  irgendwelcher  Art,  das  uns  an  den 
zu  denkenden  Begriff  erinnert,  gleichgültig,  ob  die  zwischen  beiden 
stehende  Verbindung  auf  irgendeiner  inneren  Beziehung  beruht,  oder 
ob  sie  bloß  eine  äußere  und  konventionelle  ist.  Für  unser  heutiges 
Denken  ist,  von  wenigen  Fällen  abgesehen,  das  Wort  in  der  Tat  nur 
solch  ein  äußeres  Zeichen.  Von  der  Vorstellung,  die  es  ausdrückt, 
ist  es  an  sich  ebenso  verschieden  wie  ein  algebraisches  Symbol  von 
dem  Größenbegriff,  dem  es  substituiert  wird.  Höchstens  hat  es  den 
Vorzug  der  konstanteren  Assoziation  mit  seiner  Bedeutung.  Dies 
ist  nun  zugleich  der  Punkt,  wo  sich  die  Gebärdensprache  von  der 
Lautsprache  scheidet.  Die  Gebärden  erscheinen  uns  nicht  als  bloß 
äußere  und  zufällige,  sondern  als  adäquate  Symbole  der  Vorstellungen. 
Dadurch  kommt  es  aber,  daß  sich  hier  aus  dem  allgemeinen  Begriff 
der   ,, Gebärdensymbole'*,   der  auf  jede  irgendeine  Vorstellung  aus- 


Symbolische  Gebärden.  183 


drückende  Gebärde  anwendbar  ist,  der  engere  Begriff  der  symbo- 
lischen Gebärden  aussondert.  Ibn  werden  wir  nämlich  dann  an- 
wenden können,  wenn  die  Gebärde  nicht,  wie  in  den  bisherigen  Fällen, 
eine  unmittelbare  Andeutung  der  Vorslellung  enthält,  sondern 
wenn  sie  mittelbar,  infolge  irgendwelcher  durch  Assoziation  be- 
wirkter Begriffsübertragungen,  auf  sie  hinweist.  Da  man  unter  einem 
., Symbol''  ein  sinnliches  Bild  versteht,  das  einen  von  ihm  selbst  ver- 
schiedenen, aber  zu  ihm  in  assoziacivei  Beziehung  stehenden  Begriff 
darstellen  soll,  so  wird  im  Sinne  dieser  allgemeinen  Bedeutung  eine 
,, symbolische  Gebärde"  eine  solche  sein,  die  zunächst  eine  bestimmte 
sinnliche  Vorstellung  erweckt,  um  mit  dieser  einen  andern,  von  ihr 
abweichenden,  jedoch  irgendwie  durch  innere  Eigenschaften  asso- 
ziierten Gedankeninhalb  zu  verbinden.  Demnach  können  wir  die 
symbolischen  Gebärden  kurz  als  die  mittelbar  andeutenden  von 
allen  andern  als  den  unmittelbar  andeutenden  unterscheiden. 
Wenn  ich  auf  einen  Gegenstand  hinweise,  so  ist  das  eine  unmittel- 
bare Andeutung  desselben.  Ebenso,  wenn  ich  sein  Bild  in  die  Luft 
zeichne  oder  seine  plastische  Form  mit  der  Hand  nachbilde.  Und 
auch  dann  noch,  wenn  ich  irgendeine  Eigenschaft  oder  eine  äußere 
Beziehung  des  Gegenstandes  hervorhebe,  die  ihm  nur  unter  gewissen 
Bedingungen  zukommt,  wird  dies  dem  Gebiet  unmittelbar  andeuten- 
der Zeichen  zuzurechnen  sein.  Anders  bei  der  mittelbaren  Andeutung. 
Hier  wird  durch  die  Gebärde  eine  Vorstellung  ausgedrückt,  die  nicht 
selbst  der  mitzuteilende  Begriff  ist,  auch  sich  nicht  als  begleitendes 
Merkmal  mit  ihm  verbindet,  sondern  die  ihn  erst  durch  entferntere 
psychologische  Zwischenglieder  im  Bewußtsein  wachruft.  Der  Unter- 
schied von  der  nächstverwandten  mitbezeichnenden  Gebärde  besteht 
aber  darin,  daß  die  S5rmbolische  nicht  eine  zum  auszudrückenden 
Begriff  selbst  gehörende,  sondern  eine  von  ihm  ganz  verschiedene 
Vorstellung  erweckt,  die  erst  vermöge  der  ihr  beigelegten  Eigen- 
schaften jenen  Begriff  vertreten  kann.  Man  darf  somit  hier  bei  dem 
Begriff  des  Symbols  nicht  an  die  Weiterbildungen  denken,  die  er 
im  Gebiet  der  symbolisierenden  Kirnst  findet.  Weder  braucht  die 
symbolische  Gebärde  Gedankeninhalte,  die  der  sinnlichen  Anschau- 
ung fern  liegen,  noch  überhaupt  abstrakte  Begriffe  auszudrücken. 
Vielmehr  besteht  das  Wesen  des  Symbols  zunächst  nur  darin,  daß.^ 


184  Die  Gebärdensprache. 


es  irgendeinen  geistigen  Inhalt  in  einer  Form  darstellt,  die  durch  irgend- 
welche Mittelglieder  mit  ihm  verbunden  ist. 

Nun  besteht  bei  jeder  Gebärde  die  Beziehung  zwischen  ihr  und 
der  Vorstellung,  die  sie  bedeutet,  in  einer  Assoziation.  Bei  den  bis- 
her behandelten  Zeichen  führt  diese  Assoziation  unmittelbar  von  der 
Vorstellung  zu  der  Gebärde  und  von  dieser  wieder  direkt  zu  der  Vor- 
stellung zurück.  So  assoziiert  sich  die  hinweisende  Bewegung  ohne 
weiteres  mit  dem  Gegenstand,  gegen  den  sie  gerichtet  ist.  Nicht  min- 
der erwecken  nachbildende  und  mitbezeichnende  Gebärden  unmittel- 
bar die  entsprechenden  Vorstellungen,  weil  ihre  eigenen  Merkmale 
oder  diejenigen,  auf  die  es  ankommt,  mit  Merkmalen  des  Gegenstandes 
übereinstimmen.  Dies  ändert  sich  bei  den  symbolischen  Gebärden, 
indem  hier  mindestens  eine  Zwischenvorstellung,  die  ebenso- 
wohl mit  der  Gebärde  selbst  wie  mit  der  auszudrückenden  Vorstellung 
assoziativ  verbunden  ist,  zwischen  beide  tritt.  Der  Unterschied  zwischen 
diesen  Fällen  entspricht  demnach  durchaus  dem  zwischen  unmittel- 
barer und  mittelbarer  Assoziation.  So  ist  die  gleich  einem 
Schöpfgefäß  gehöhlte  Hand  eine  auf  unmittelbarer  Assoziation  be- 
ruhende Gebärde  für  ein  ,, Trinkgefäß"  (Fig.  27  h).  Die  nämliche 
braucht  aber  der  Indianer,  um  „Wasser"  auszudrücken;  hier  ist  es 
dann  offenbar  eine  mittelbare  Assoziation,  durch  welche  Gebärde  und 
Gegenstand  miteinander  verbunden  werden:  die  Gebärde  erweckt 
die  Vorstellung  eines  Trinkgefäßes,  das  Trinkgefäß  die  seines  Inhalts. 
In  dieser  neuen  Anwendung  ist  daher  die  Gebärde  bereits  im  all- 
gemeinsten Sinn  eine  symbolische:  sie  benutzt  eine  Vorstellung,  nicht 
um  diese  selbst,  sondern  um  einen  von  ihr  verschiedenen  Begriff  zu 
bezeichnen.  Die  Bedeutung  bleibt  dabei  eine  sinnliche,  und  es  kann 
daher  leicht  in  diesem  Fall  die  symbolische  durch  eine  direkt  an- 
deutende Gebärde  ersetzt  werden,  z.  B.  durch  Hinweisung  auf  zu- 
fällig vorhandenes  Wasser  oder  durch  die  mitbezeichnende  Hand- 
lung des  Trinkens.  Gerade  die  symbolischen  Gebärden  sind  nun  in- 
sofern für  die  psychologische  Entwicklung  des  Symbolischen  überhaupt 
lehrreich,  als  sie  uns  alle  möglichen  Übergangsstufen  von  dieser  primi- 
tiven Form  zu  der  ausgebildeteren  darbieten,  wo  das  Symbol  sinn- 
licher Ausdruck  für  einen  an  sich  sinnlich  nicht  darzustellenden  Be- 
griff wird.    Doch  schiebt  sich  dann  in  der  Regel  zugleich  eine  größere 


Symbolische  Gebärden.  185 


Anzahl  von  Assoziationsgliedern  zwischen  die  in  der  Gebärde  direkt 
iiusgedrückte  und  die  von  ihr  angedeutete  Vorstellung.  So  wird  die 
plastische  Nachbildung  des  Eselskopfs  mit  der  Hand  (Fig.  26  b  und  c), 
ebenso  wie  das  bekannte  das  Ohr  des  Esels  am  eigenen  Ohr  durch 
•die  ausgestreckte  Hand  andeutende  Zeichen,  wohl  selten  in  der  ur- 
sprünglichen Bedeutung,  sehr  häufig  aber  als  symbolischer  Ausdruck 
der  ,, Dummheit"  gebraucht.  Auch  hier  ist  die  Symbolik  noch  "eine 
einfache,  weil  nur  eine  einzige  Vorstellung  als  assoziatives  Zwischen- 
glied existiert,  nämlich  die  dem  Esel  sprichwörtlich  zugeschriebene 
X)ummheit.  Schon  tritt  aber  in  diesem  Fall  das  Symbol  für  einen 
Begriff  ein,  der  anders  als  symbolisch  überhaupt  nicht  ausgedrückt 
^werden  kann,  weil  er  sich  auf  keine  sinnliche  Eigenschaft  bezieht. 
Aus  solchen  einfachsten  symbolischen  Gebärden,  bei  denen  eine  einzige 
einfache  Assoziation  von  der  direkten  zur  symbolischen  Bedeutung 
mberführt,  können  nun  leicht  durch  die  Dazwischenkunft  weiterer 
Assoziationsglieder  symbolische  Gebärden  von  verwickelterem  Ur- 
:sprung  hervorgehen.  Sie  sind  dann  aber  auch  meist  vieldeutiger  Art 
und  erst  durch  den  Zusammenhang  der  Gedanken  verständlich.  So 
kann  die  plastische  Nachbildung  des  gehörnten  Stierkopfs  (a  Fig.  26) 
bei  dem  Neapolitaner,  neben  ihrer  unmittelbaren  Bedeutung,  sym- 
bolisch die  „Stärke",  als  die  Haupteigenschaft  des  Stieres,  dann  die 
,,, Gefahr",  zunächst  die  vom  Anstürmen  eines  wütenden  Stieres 
drohende,  hierauf  die  Gefahr  überhaupt,  und  endlich  infolge  einer 
dritten  Übertragung  den  ,, Wunsch  vor  Gefahr  behütet  zu  werden" 
ausdrücken.  Hier  springt  alsbald  in  die  Augen,  wie  die  fortschreitende 
Zunahme  assoziativer  Zwischenglieder  die  symbolische  von  der  nach- 
bildenden Bedeutung  immer  weiter  entfernt. 

Geht  man  bei  der  Betrachtung  der  symbolischen  Gebärden  von 
dem  in  diesen  Beispielen  hervortretenden  Verhältnis  zu  den  nach- 
bildenden und  mitbezeichnenden  aus,  so  scheiden  sich  jene  in  zwei 
große  Gruppen,  je  nachdem  sie  in  einem  leicht  nachzuweisenden  Über- 
gang aus  andern  Gebärdeformen,  oder  aber  von  Anfang  an  in  sym- 
bolischer Bedeutung  entstanden  sind.  Wir  können  demnach  diese 
beiden  Gruppen  als  die  der  sekundären  und  der  primären  sym- 
boUschen  Gebärden  unterscheiden.  Von  ihnen  sind  jedoch  die  sekun- 
dären die  ursprünglicheren.    Erst  nachdem  überhaupt  auf  dem  Wege 


186  Die  Gebärdensprache. 


jener  allmähliclien  assoziativen  Verschiebung  der  Bedeutung,  die 
oben  geschildert  wurde,  andere  Formen  darstellender  Gebärden  sym- 
bolische Bedeutung  angenommen  haben,  wird  wahrscheinlich  eine 
primäre  Symbolik  möglich,  bei  der  ein  bestimmtes  Zeichen  von  An- 
fang an  nur  symbolisch  gemeint  ist.  Natürlich  schließt  dies  nicht  aus, 
daß  nicht  auch  dann  der  Gebärde  irgendein  nicht  symbolischer  Sinn 
untergeschoben  werden  kann;  ja  es  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  daß 
dies  immer  möglich  ist,  da  eben  das  Symbol  in  der  Übertragung  irgend- 
eines geistigen  Inhalts  in  eine  sinnliche  Form  besteht.  Diese  sinnliche 
Form  selbst  kann  darum  stets  als  die  unmittelbare  Bedeutung  des 
Symbols  angesehen  werden.  Nur  ist  bei  den  primären  Symbolen  der 
sinnliche  Ausdruck  so  weit  von  der  geistigen  Bedeutung  entfernt, 
daß  ohne  die  Kenntnis  des  wirklichen  Zusammenhangs  ein  Schluß 
von  jenem  auf  diese  niemals  möglich  sein  würde.  Dies  ist  dadurch 
bedingt,  daß  hier  der  Begriff  in  seiner  allgemeinen  Gestaltung  der 
in  der  Gebärde  für  ihn  gewählten  sinnlichen  Verkörperung  voraus- 
ging. Darum  sind  die  primären  symbolischen  Gebärden  durchweg 
solche,  die  abstrakten  Begriffen  entsprechen,  woraus  sich  ohne 
weiteres  ihre  spätere  Entstehung  erklärt.  Übrigens  ist  in  vielen  Fällen 
kaum  festzustellen,  ob  ein  gegebenes,  seit  langer  Zeit  ausschließlich 
in  symbolischem  Sinne  gebrauchtes  Zeichen  von  Anfang  an  diesen 
Charakter  hatte.  Nur  in  gewissen  Grenzfällen  kann  man  mit  zu- 
reichender Wahrscheinlichkeit  hierüber  entscheiden.  So  ist  es  wohl 
als  ein  sekundäres  Symbol  anzusehen,  wenn  der  Indianer,  um  den  Be- 
griff ,, Häuptling"  auszudrücken,  Arm  und  Hand  über  sein  Haupt 
erhebt:  die  einfach  sinnliche  Bedeutung  der  übertragenden  Körper- 
größe liegt  hier  noch  nahe  genug.  Wenn  dagegen  Indianer  wie  Taub- 
stumme die  ,,Lüge"  durch  eine  mit  dem  Zeigefinger  der  linken  Hand 
vom  Mund  aus  nach  links  und  abwärts  gerichtete  Bewegung  andeuten, 
gleichsam  als  eine  „schiefe,  links  gerichtete  Rede",  so  haben  wir  allen 
Grund,  hierin  ein  primäres  Symbol  zu  sehen.  Denn  es  läßt  sich  denken, 
daß  für  den  Begriff  Lüge,  nachdem  er  vorhanden  war,  dieses  sinn^ 
liehe  Zeichen  gewählt  wurde;  aber  dem  Zeichen  selbst  läßt  sich  ab- 
gesehen von  jenem  Begriff  keine  der  unmittelbaren  Anschauung  ent- 
sprechende Bedeutung  zuschreiben.  Anderseits  ist  es  natürlich  un- 
möglich,  festzustellen,   ob   etwa   die   Gebärde   des  Eselskopfs  früher 


Symbolische  Gebärden.  187 


für  das  wirkliche  Tier  oder  zur  Verspottung  eines  Dummkopfs  gebraucht 
wurde.  In  noch  andern  Fällen  mag  ein  Teil  der  Gebärde  eine  sekun- 
däre, ein  anderer  eine  primäre  Symbolik  enthalten:  so  z.  B.  die  Ge- 
bärde der  Indianer  für  ,, Frieden^',  die  in  der  Andeutung  einer  Pfeife 
und  in  der  Hinzufügung  irgendeiner  Gruß-  oder  Freundschafts- 
gebärde, wie  der  ineinander  verschlungenen  Hände  oder  der  umeinan- 
der geschlungenen  Zeigefinger  (Fig.  32  l),  besteht.  Hier  ist  die  Pfeife 
ein  der  Sitte  entstammendes  sekundäres,  das  Freundschaftszeichen 
dagegen  offenbar  ein  primäres  Symbol.  Wegen  dieses  mannigfachen 
Ineinandergreifens  von  Gebärden  verschiedenen  Ursprungs  mid  der 
oft  zweifelhaften  Stellung  anderer  würde  eine  Klassifikation  der  sym- 
bohschen  Gebärden  auf  dieser  Grundlage  kaum  durchzuführen  sein. 
Die  Unterscheidung  bleibt  aber  deshalb  wichtig,  weil  uns  die  Existenz 
der  sekundären  Symbole  den  Weg  andeutet^  auf  dem  ursprünglich 
überhaupt  ein  Symbolik  entstehen  konnte,  ob  diese  nun  der  Gebärden- 
oder der  Lautsprache  oder,  wie  in  der  Bilderschrift,  den  Anfängen 
bildender  Kunst  angehören  mag. 

Der  genetische  Zusammenhang  der  symbolischen  mit  den  un- 
mittelbar nachbildenden  Gebärden  ist  schließlich  auch  daraus  zu 
erkennen,  daß  die  hier  unterschiedenen  beiden  Klassen  zeichnender, 
rasch  vorübergehender  und  plastischer,  dauernder  Zeichen  bei  den 
symbolischen  Gebärden  ebenfalls  wiederkehren.  So  ist  die  oben  er- 
wähnte Bewegung  des  Zeigefingers  vom  Mund  aus  in  schräger  Rich- 
tung für  ,,Lüge",  in  geradliniger  für  ,, Wahrheit"  eine  zeichnende 
Gebärde;  ebenso,  wenn  bei  den  Indianern  die  Erhebung  der  Hand 
über  das  Haupt  den  ,, Häuptling",  die  Umrißzeichnung  der  Pfeife 
den  „Frieden"  bedeutet.  Nicht  minder  gehört  hierher  die  weitere 
indianische  Gebärde  der  Bewegung  des  Zeigefingers  vom  Auge  des 
Redenden  zu  dem  eines  andern  oder  vom  Herzen  zum  Herzen,  um 
Übereinstimmung  der  Anschammgen  und  der  Gesinnungen  auszu- 
drücken, sowie  die  auch  bei  den  Zisterziensern  vorkommende  Ge- 
bärde für  „Zorn":  die  Bewegung  beider  Hände  von  der  Herzgrube 
aus,  das  Überwallen  oder  Ausströmen  des  Herzens  andeutend.  Die 
weit  verbreiteten  Gebärden  der  Bejahung,  der  Verneinung,  des  Zweifels, 
der  Zustimmung,  der  Unterwürfigkeit,  der  Zuneigung,  die  aus  den 
die  Rede  begleitenden  Ausdrucksbewegungen  der  Affekte  in  die  selb- 


Igg  Die  Gebärdensprache. 


ständige  Gebärdensprache  übergegangen  sind,  können  ebenfalls  dabin 
gerechnet  werden.  Die  Modifikationen,  die  bei  ihnen  beobachtet 
werden,  bieten  zugleich  gute  Beispiele  für  die  Veränderungen,  deren 
eine  bestimmte  Gebärde  fähig  ist.  Gerade  die  symbolischen  Gebärden 
bieten  solchen  Variationen  einen  weiten  Spielraum.  In  Anbetracht 
dieses  Spielraums  ist  sogar  die  vorhandene  Übereinstimmung  in  vielen 
symbolischen  Gebärden  und  so  vor  allem  auch  in  diesen  allgemeinen 
eine  überraschend  große.  Bei  der  Bejahung  und  Verneinung  ist  das 
allerdings  bestritten  worden,  und  man  hat  es  als  einen  Beweis  für  den 
Mangel  jedes  inneren  Zusammenhangs  zwischen  dem  Gestus  und 
seiner  Bedeutung  bezeichnet,  daß  die  bejahende  und  verneinende 
Gebärde  im  Orient  fast  im  geraden  Gegenteil  derjenigen  Kopf- 
bewegungen  bestehe,  die  wir  im  Abendland  anwenden^).  Will  der 
moderne  Araber  etwas  bejahen,  so  schüttelt  er  den  Kopf;  zum  Zeichen 
der  Verneinung  wirft  er  den  Kopf  nach  rückwärts  und  schnalzt  zu- 
gleich mit  der  Zunge.  Schon  dies  ist  nun  freilich  kein  voller  Gegen- 
satz. Was  hier  als  Zeichen  der  Verneinung  geschildert  wird,  ist  eine 
Gebärde,  die  mit  einer  in  Süditalien  im  Sinne  der  Abweisung  oder 
Geringschätzung  gebrauchten  die  größte  Verwandtschaft  hat.  Diese 
besteht  darin,  daß  zuerst  die  Hand  unter  das  Kinn  gelegt  und  dann 
gegen  den  Angeredeten  bewegt  wird,  während  der  Kopf  sich  etwas 
rückwärts  wendet^).  Mit  ihr  ist  dann  wieder  die  weit  verbreitete 
des  ,, Schnippchenschiagens",  bei  der  Mittelfinger  und  Daumen  zu- 
erst gegeneinander  gestemmt  und  hierauf  gegen  den  Angeredeten 
losgeschnellt  werden,  nahe  verwandt.  In  diesen  drei  Fällen  ist  die 
nämliche  abweisende  und  durch  die  Art  der  Ausführung  zugleich 
die  Geringfügigkeit  des  Gegenstandes  andeutende  Bewegung  nur 
verschiedenen  Organen  zugewiesen.  Denn  das  Schlagen  des  ,, Schnipp- 
chens" besteht  eigentlich  in  einer  Übertragung  der  von  dem  Orien- 
talen geübten  Bewegung  der  Zunge  auf  die  beiden  Finger;  und  noch 
unmittelbarer  wiederholt  sich  weithin  sichtbar  die  nämliche  Bewegung 
in  der  neapolitanischen  Gebärde,  bei  der  auch  die  begleitende  Rück- 
wärtsbewegung des  Kopfes  beibehalten  ist.     Befremdlicher  ist  aller- 


1)  Goldziher,  Zeitschr.  für  Völkerpsych.     Bd.  16,  S.  377. 

2)  A.  de  Jorio  a.  a.  0.  Taf.  21,  Fig.  2. 


Symbolische  Gebärden.  189 


dings  das  Schütteln  des  Hauptes  als  Zeicben  der  Bejahung.  Wie  es 
scheint,  ist  dies  aber  eine  moderne  Gebärde,  die  aus  irgendwelchen 
unbekannten  Ursachen  aus  einer  älteren,  mit  der  unserigen  über- 
einstimmenden hervorging,  da  die  mohammedanische  Tradition  aus 
der  Zeit  des  Propheten  Vorwärts-  und  Kückwärtsbeugung  des  Kopfes 
als  die  allgemeingültigen  Zeichen  der  Bejahung  und  Verneinung  an- 
führt^). Daneben  wird  auch  Schütteln  des  Gewandes  mit  der  Hand 
oder  eine  andere  ähnliche,  das  Abschütteln  von  Staub  andeutende 
Gebärde  als  orientalisches  Zeichen  der  Verneinung  erwähnt;  und 
ebenso  sind  noch  sonst,  z.  B.  bei  den  Eingeborenen  Amerikas,  ana- 
loge Zeichen  der  Zustimmung  und  der  Ablehnung,  wie  sie  der  Euro- 
päer mit  dem  Kopf  ausführt,  der  Hand  zugeteilt.  Die  Bejahung  wird 
dann  durch  eine  Bewegung  der  rechten  Hand  von  der  Brust  nach 
vorn  angedeutet,  bei  der  zuletzt  die  Hand  mit  der  Volarseite  nach 
oben  geöffnet  ist,  die  Verneinung  durch  eine  in  ihrem  Anfang  über- 
einstimmende Bewegung,  die  aber  in  eine  rasche  Seitwärts-  und  Ab- 
wärtswendung übergeht^).  Alles  dies  bestätigt,  daß  es  sich  hier  über- 
all um  Symbole  handelt,  die  unabhängig  entstanden  und  darum  ver- 
schiedener äußerer  Gestaltungen  fähig,  jedoch  in  ihrem  Grundcharakter 
verwandt  sind. 

Ähnlich  verhält  es  sich  mit  den  mannigfachen  Gebärden  des 
Grußes,  der  Freundschaft,  der  Zuneigung.  Hier  ist  z.  B.  das  Verhält- 
nis der  orientalischen  Grußgebärden  zu  den  abendländischen  ein 
solches,  daß  jene  als  gesteigerte,  diese  als  abgeschwächte  Gestaltungen 
einer  und  derselben  Grundform  betrachtet  werden  können.  Dabei 
haben  sich  jedoch  begleitende  Gebärden  hinzugesellt,  die  gelegentlich 
jene  hauptsächlich  in  der  Neigung  des  Körpers,  besonders  des  Hauptes 
bestehende  Grundform  zum  Teil  verdrängen  konnten:  so  die  moham- 
medanische Kreuzung  der  Arme  über  der  Brust,  die  mit  den  begleiten- 
den Gebetsworten  zusammenhängt,  oder  die  spezifisch  abendländische 
Entblößung  des  Hauptes,  die  wohl  darauf  zurückzuführen  ist,  daß 
bei  Römern  wie  Germanen  der  Helm  oder  Hut  als  Symbol  der  Frei- 


1)  Goldziher  a.  a.  0.  S.  378. 

2)  Reise  des  Prinzen  Wied  II,   S.   648,   Nr.   34,   35.      Mallery    a.   a.    O. 
S.  454  ff. 


J^90  I^iß  Gebärdensprache. 


heit  galt,  wodurch  dann  die  Abnahme  desselben  zum  Symbol  der 
Unterwerfung  wurde  ^).  Ähnlich  ist  der  Kuß  eine,  wie  es  scheint, 
auf  die  Kulturvölker  der  Alten  Welt  beschränkte  Sitte.  Doch  überall, 
wo  er  fehlt,  finden  sich  andere  ursprüngliche  Ausdrucksformen  von 
gleicher  Bedeutung,  wie  das  Reiben  der  Nasenspitzen  aneinander, 
das  Reiben  oder  Klopfen  der  Arme,  der  Brust  oder  anderer  Körper- 
teile, in  denen  sich  der  Trieb  nach  engster  Verbindung  mit  dem  Gegen- 
stand der  Liebe  ausspricht^).  Auch  der  Handschlag  ist  als  Zeichen 
der  freundschaftlichen  Begrüßung  außerhalb  der  Grenzen  abend- 
ländischer Zivilisation  unbekannt.  Bei  den  nordamerikanischen  In- 
dianern war  er  einst  nur  als  Symbol  des  Friedens  heimisch  —  eine 
Bedeutung,  die  wohl  überall  die  ursprüngliche  ist.  Als  solches  der 
Freundschaft  wird  er  von  ihnen  noch  jetzt  fast  nur  im  Verkehr  mit 
Weißen  gebraucht.  Unter  ihnen  selbst  ersetzen  ihn  in  dieser  Beziehung 
die  sonstigen  Symbole  der  Liebe  und  Zuneigung,  die  Umarmung  oder 
das  Reiben  der  Brust  und  der  Arme  aneinander^). 

Die  angeführten  Beispiele  bieten  so  in  ihren  verschiedenen  Formen 
deutliche  Belege  für  die  abweichende  psychologische  Entstehung 
symbolischer  Gebärden.  Die  Zeichen  für  Wahrheit  und  Lüge,  oder 
die  für  Übereinstimmung  der  Ansichten  und  Gesinnungen  durch  Hin- 
weisung auf  Auge  und  Herz  sind  nur  im  Zusammenhang  der  eigent- 
lichen Gebärdensprache  möglich.  Es  ist  nicht  denkbar,  daß  sie  anders 
als  aus  dem  Trieb  der  Mitteilung  heraus  entstanden  seien.  Dagegen 
sind  die  einfache  Bejahung  und  Verneinung  sowie  die  verschiedenen 
Gebärden,  die  Zuneigung,  Freundschaft,  Hochachtung  und  ähnliche 


^)  Grimm,  Deutsche  Rechtsaltertümer,  ^  S.  152. 

2)  Darwin,  Ausdruck  der  Gemütsbewegungen,  S.  218.  R.  Andree, 
Ethnographische  Parallelen  und  Vergleiche,  II,  1889,  S.  223  ff.  Der  Nasen- 
gruß, für  den  Andree  ganz  bestimmte  Verbreitungsbezirke  nachweist, 
könnte,  wie  dieser  Autor  vermutet,  aus  dem  Beriechen  hervorgegangen 
sein,  das,  mit  der  feineren  Ausbildung  des  Geruchssinns  beim  Natur- 
menschen zusammenhängend,  in  einem  primitiven  Zustand  die  Unter- 
scheidung von  Stammesgenossen  und  Stammesfrqmden  vermittelt  haben 
mag.  Dann  würde  er  übrigens  zugleich  eine  sekundäre  symbolische  Ge- 
bärde sein. 

3)  Mallery  a.  a.  0.  S.  385. 


Symbolische  Gebärden.  191 


Gefühle  ausdrücken,  zum  Teil  jedenfalls  aus  natürlichen  Ausdrucks- 
bewegungen hervorgegangen,  die  ursprünglich  nur  dem  subjektiven 
Zustand  Befriedigung  schafften  und  erst  sekundär  die  Kundgebung 
der  Affekte  selbst  und  dann  endlich  auch  die  Mitteilung  von  Vor- 
stellungen bezweckten.  Hierbei  wurden  sie  allmählich  zu  bloßen  An- 
deutungen der  einstigen  Ausdrucksbewegungen  abgeschwächt.  Außer- 
dem erfuhren  sie  in  der  Regel  Bedeutungsänderungen:  so  z.  B.  beim 
Übergang  des  Handschlags  als  Friedens-  in  ein  Freundschaftssymbol, 
oder  der  Entblößung  des  Hauptes  als  Zeichen  der  Unterwerfung  in 
eine  bloße  Achtungsbezeigung.  Wie  die  erste  Entstehung  solcher 
symbolischer  Gebärden  aus  Ausdrucksbewegungen,  so  sind  aber  auch 
die  Metamorphosen  ihrer  Bedeutung  Prozesse,  die  sich  aus  dem  stetigen 
Wandel  der  psychischen  Zustände  von  selbst  ergeben.  Dagegen  be- 
sitzen jene  Symbole,  die,  wie  die  Zeichen  für  Wahrheit  und  Lüge, 
von  Anfang  an  in  der  Absicht  der  Mitteilung  entstanden  sind,  in  höherem 
Grade  den  Charakter  willkürlicher  Schöpfungen  und  gelegentlich 
sogar  absichtlicher  Erfindungen.  Dies  schließt  natürlich  nicht  aus, 
daß  die  Bedingungen  ihrer  Entstehung  trotzdem  in  allgemeingültigen 
psychischen  Eigenschaften  und  Anlagen  begründet  sein  können.  In 
der  Tat  ist  es  nur  aus  solchen  zu  erklären,  daß  uns  auch  die  Gebärden 
dieser  Art  trotz  ihrer  scheinbaren  Willkürlichkeit  vielfach  in  gleichen 
oder  mindestens  in  analogen  Gestaltungen  unabhängig  voneinander 
begegnen. 

Trifft  auf  diese  Weise  für  die  der  zeichnenden  Gebärde  sich  an- 
schließenden Symbole  das  Merkmal  einer  gewissen  Allgemeingültig- 
keit zu,  die  allerdings  mannigfache  Variationen  nicht  ausschließt, 
so  nehmen  auch  hier  wieder  die  plastischen  Gebärden  eine  etwas 
abweichende  Stellung  ein.  Sie  finden  sich  abermals  vorzugsweise 
in  solchen  Entwicklungsformen  der  Gebärdensprache,  die  eine  längere 
Vergangenheit  hinter  sich  haben.  Viele  von  ihnen  sind  daher  innerhalb 
bestimmter  Gebiete  konventionell  geworden.  Da  sich  zu  diesen  Be- 
dingungen lokaler  Beschränkung  auch  noch  die  Unbestimmtheit 
und  Vieldeutigkeit  aller  Symbolik  hinzugesellt,  so  fehlt  vor  allem  den 
plastischen  Gebärden  von  symbolischer  Bedeutung  in  vielen  Fällen 
jene  unmittelbare  Verständlichkeit,  die  sonst  der  Gebärdensprache 
eigen  ist.    Nach  den  bei  ihnen  zur  Verwendung  kommenden  äußeren 


192 


Die  Gebärdensprache. 


Hilfsmitteln  lassen  sie  sich  übrigens  in  zwei  Gruppen  ordnen:  in  solche, 
bei  denen  Angesicht  und  Hand  zusammenwirken,  und  in  andere,  bei 
denen  die  Hände  ausschließlich  die  plastische  Form  darbieten.  Die 
erste  dieser  Gruppen  schließt  sich  jenen  plastisch -mimischen  Gebärden 
an,  die  durch  den  mimischen  Ausdruck  einer  Gemütsbewegung  die 
Vorstellung  derselben  erwecken,  indes  die  Hand  zur  näheren  Bestim- 
mung der  Vorstellung  mithilft  (Fig.  29).  Auch  bei  den  symbolischen 
Gebärden,  die  hierher  gehören,  ist  der  mimische  Ausdruck  für  das 
Verständnis  der  Gebärde  entscheidend.  Er  gibt  den  allgemeinen  Ge- 
fühlston an,  unter  dem  die  begleitende  Handgebärde  aufgefaßt  wer- 


Fig.  30.    Mimische  Zeichen  der  Neapolitaner. 


den  soll.  Diese  bringt  dann  die  entsprechenden  Vorstellungen  hinzu. 
So  ist  in  Fig.  30  das  erste  Bild  (d)  die  in  Neapel  übliche  Gebärde  des 
Mißtrauens.  Zunächst  dient  sie  der  Warnung,  in  welcher  Bedeutung 
sie  sofort  leicht  verständlich  ist.  Die  linke  Hand  zieht  das  untere 
Augenlid  herab,  um  der  Person,  auf  die  der  Blick  gerichtet  ist,  zu 
sagen,  sie  solle  das  Auge  offen  halten.  Der  Ausdruck  aufmerksamer 
Spannung  im   Gesicht,   der  durch  den  emporgehobenen  Zeigefinger 


Symbolische  Gebärden.  193 


der  rechten  Hand  unterstützt  werden  kann,  verstärkt  diesen  Ein- 
druck, während  ein  leise  lächelnder  Zug  den  der  Schlauheit  hinzu- 
fügt. Eine  sehr  merkwürdige  Gebärde  zeigt  das  zweite  Bild  (e).  Es 
ist  der  in  Neapel  geläufige  Ausdruck  für  ,,Lüge"  oder  ,, Betrug",  zu- 
nächst ebenfalls  im  Sinne  der  Warnung  gebraucht.  Der  Blick  ist  mit 
einem  ähnlichen,  noch  etwas  gesteigerten  Grade  der  Aufmerksam- 
keit und  Schlauheit  wie  vorhin  auf  den  Gewarnten  gerichtet.  Die 
linke  Hand,  zwischen  Krawatte  und  Hals  gesteckt,  scheint  einem  allzu 
starken  Bissen,  der  verschluckt  werden  muß,  den  erforderlichen  Platz 
schaffen  zu  sollen.  Ausdrücke  wie  ,,eine  Lüge  verschlucken"  oder 
„ein  starker  Bissen"  für  die  Zumutung,  eine  unwahrscheinliche  Sache 
zu  glauben,  verdeutlichen  die  sinnliche  Grundlage  dieses  Symbols. 
Die  in  /  dargestellte  Gebärde  endlich  wird  für  ,, Schlauheit",  jjFalsch- 
heit"  gebraucht.  In  Sprichwort  wie  Gebärde  ist  ja  die  Nase  das  Sinnes- 
organ, das  als  spezifische  Verkörperung  feiner  Empfindlichkeit,  scharfen 
Spürsinns,  dann  aber  auch  der  Schlauheit,  die  sich  nach  außen  betätigt, 
gebraucht  wird.  Das  deuten  hier  Daumen  und  Zeigefinger  an,  indem 
sie  die  Nase  umfassen,  während  die  geöffneten  Augen  Wachsamkeit 
ausdrücken.  Noch  bei  einer  andern,  als  Verspottung  sehr  verbreiteten 
Gebärde,  bei  der  die  Hand  mit  dem  Daumen  an  die  Nase  angesetzt 
und  der  kleine  Finger  gegen  die  verspottete  Person  ausgestreckt  wird, 
spielt  die  Nase  die  Hauptrolle.  Diese  Gebärde  ist  aber  sicherlich  nur 
die  Übersetzung  der  Redensart  ,, einem  eine  Nase  drehen"  aus  dem 
Bild  in  die  Gebärde.  Da  dieser  Redensart  wahrscheinlich  die  wächserne 
Nase  zugrunde  liegt,  die  man  sich  bald  als  Maskenscherz  selbst  auf- 
setzte, bald  als  verunstaltende  Verspottung  von  andern  aufgesetzt 
bekam  1),  so  kann  die  gedrehte  Nase  als  Gebärde  ebensogut  eine  ur- 
sprünglich mimisch  gemeinte  Verunstaltung  des  Gesichts  wie  eine 
mimische  Nachahmung  des  Gegenstandes  sein.  Dieser  ähnlich  nach 
Form  und  Bedeutung  ist  die  Gebärde  des  ,, Eselbohrens",  nur  daß 
hier  der  Daumen  an  das  Ohr  angesetzt,  und  wieder  der  kleine  Finger 
gegen  den  Verspotteten  ausgestreckt  wird.  Beide  Gebärden  scheinen 
bloß  bei  den  europäischen  Völkern  vorzukommen.  In  Japan  findet 
sich  als  Ausdruck  der  Verspottung  teils  das  Ausstrecken   der  Zunge, 


^)  Grimm,  Deutsches  Wörterbuch  VII  (Lexer),  S.  407. 
Wandt,  Völkerpsychologie.    I.    4.  Aufl.  ^^ 


194  I^i®  Gebärdensprache. 


das,  als  natürliche  Ausdrucksbewegung  des  Widerwillens,  über  alle 
Teile  der  Erde  verbreitet  zu  sein  scheint.  Außerdem  besitzen  die 
Japaner  als  Zeichen  verspottender  Geringschätzung  das  auch  im 
Abendlande  gelegentlich  vorkommende  Klatschen  mit  der  flachen 
Hand  auf  den  etwas  vorgeneigten  Hinterteil  des  Körpers,  eine  Ge- 
bärde, die  wohl  mit  der  bekannten  Aufforderung,  diesen  Teil  mit  dem 
Angesicht  zu  verwechseln,  zusammenhängt.  Der  Spott  über  den  Hoch- 
mut oder  das  Selbstlob  eines  andern  wird  endlich  in  Japan  ausgedrückt, 
indem  man  die  Nase  durch  die  angesetzte  Faust  verlängert  und  nach 
oben  kehrt,  was  in  seiner  Bedeutung  einigermaßen  mit  unserer  Redens- 
art ,, seine  Nase  hoch  tragen"  zusammenfällt^). 

Sehr  viel  mannigfaltiger  noch  als  diese  halb  mimischen  Gebärden 
von  symbolischer  Bedeutung  sind  diejenigen,  die  durch  die  plastischen 
Formungen  der  Hände  zustande  kommen.  Hier  stellt  die  Fig.  31  eine 
Reihe  neapolitanischer  Beispiele,  die  Fig.  32  einige  von  nordameri- 
kanischen Indianern  dar.  Viele  dieser  Formen,  die  mit  natürlichen 
Ausdrucksbewegungen  oder  mit  zeichnenden  Gebärden  zusammen- 
hängen, sind  übrigens  weiter  verbreitet.  Dahin  gehört  vor  allem  die 
Gebärde  a  (Fig.  31),  als  Aufforderung  zur  Ruhe  auch  bei  uns  viel 
gebraucht.  Sie  versinnlicht  das  abnehmende  Geräusch  räumlich  durch 
die  gesenkte,  mit  der  Hohlfläche  nach  abwärts  gekehrte  Hand.  Ver- 
bunden mit  einer  leisen  Auswärtswendung,  wie  in  h  (Fig.  32),  geht 
sie  in  die  ablehnende  Gebärde  über,  die  irgendeinen  Vorschlag,  eine 
gehörte  Meinung  u.  dgl.  zurückweist,  daher  sie  bei  den  Indianern 
auch  allgemein  als  Zeichen  der  Verneinung  vorkommt.  Den  Gegen- 
satz zu  diesen  Symbolen  der  Ruhe  und  der  Ablehnung  bildet  die  in 
Fig.  32  i  wiedergegebene  Indianergebärde,  bei  der  die  Handfläche 
nach  oben  gekehrt  ist.  Ahnlich  wie  die  vorige  ist  auch  sie  allgemeiner 
verbreitet  und  kann  je  nach  leisen  Modifikationen  und  begleitenden 
Mienen  die  Aufforderung  zu  reden,  also  eine  Frage,  dann  bei  ener- 


^)  Nach  Mitteilungen  des  Herrn  J.  Irie  in  Sendai.  Die  oben  angeführten 
symbolischen  Gebärden  der  Neapolitaner  sind  A.  de  Jorio  entnommen,  a.  a.  0. 
Taf.  21.  Die  Gebärden  d  und  e  (Fig.  30)  erwähnt  übrigens  schon  J.  J.  Engel  in 
seinen  „Ideen  zu  einer  Mimik"  als  in  Italien  vorkommend.  Er  meint,  beide, 
und  namentlich  die  zweite,  seien  unerklärlich.  (Engel,  Fig.  1  und  2,  I, 
S.  92  ff.) 


Symbolische  Gebärden. 


195 


gischer  Ausführung  Zustimmung,  Gewährung  einer  Bitte  9-usdrücken. 
Eine  andere  weitverbreitete  Gebärde  ist  der  aufgehobene  Zeigefinger 
(Fig.  31  b),  der  zunächst  den  Befehl,  aufmerksam  zu  sein,  und  dann 
allgemein  den  Begriff  ,, Aufmerksamkeit"  bezeichnet.  Daran  schließen 
sich  je  nach  der  begleitenden  Mimik  und  sonstigen  Modifikationen 
der  Bewegung  mehrere  abgeleitete  Bedeutungen.  So  ist  uns  die  Ge- 
bärde in  Verbindung  mit  dem  fest  geschlossenen  Munde  bereits  oben 


Fig.  31.    Symbolische  Handgebärden  der  Neapolitaner. 


als  Aufforderung  zur  Stille  begegnet  (Fig.  29  a).  Verbunden  mit  dem 
drohenden  Blick  bedeutet  sie  eine  Warnung.  Losgelöst  von  allen 
Affektäußerungen  kann  sie  die  Einheit  bezeichnen.  Dann  als  eine 
Verallgemeinerung  dieser  Bedeutung  den  Begriff  des  Zählens.  Sie 
läßt  sich  hier  als  eine  generalisierende  Form  zu  allen  weiteren  Zahl- 
gebärden betrachten,  die  durch  Hinzunahme  der  übrigen  Finger  ent- 
stehen. Diese  sind,  vom  Zeigefinger  als  der  Eins  anfangend,  bis  zum 
kleinen  Finger  fortschreitend  und  dann  den  Daumen  zu  Hilfe  nehmend, 

Id* 


196  I^iß  Gebärdensprache. 


Symbole  der  Einlieiten.  Die  ganze  Hand  wird  so  zum  S}Tnbol  der 
,,Fünf",  die  beiden  Hände  zusammen  versinnlichen  die  „Zehn".  Diesen 
Zahlgebärden  kann  man  eine  andere,  für  den  unbestimmten  Quan- 
titätsbegriff „wenig"  gebrauchte  Ausdrucksform  anschließen:  Daumen 
und  Zeigefinger  werden  aufwärts  gekehrt  und  gegeneinander  gepreßt, 
als  wollten  sie  eine  kleine  Menge  eines  winzigen  Gegenstandes  fest- 
halten (Fig.  31  c).  Auch  dieses  Zeichen  ist  sehr  verbreitet.  Es  ist 
eine  plastische  Umbildung  der  zeichnenden  Gebärde  für  ,, streuen", 
,, Pulver",  ,,Salz"  und  ähnliches,  aus  der  es  hervorgeht,  wenn  die 
beiden  genannten  Finger  nach  oben  statt  nach  unten  gekehrt  und  in 
ihrer  Stellung  fixiert  werden.  Für  ,,viel"  gibt  es  keine  plastische  Ge- 
bärde, sondern  dieser  Begriff  wird  überall,  wie  es  scheint,  durch  Be- 
wegungen ausgedrückt,  die  der  Vorstellung  einer  Aufsammlung  vieler 
Dinge  oder  einer  Anhäufung  von  Gegenständen  entsprechen.  So 
werden  bei  mehreren  Indianerstämmen  beide  Hände  mit  ausgestreckten 
Fingern  in  der  Höhe  der  Hüften  nach  außen  gehalten  und  dann  gegen- 
einander und  zugleich  in  die  Höhe  bewegt,  eine  Anhäufung  übereinander 
getürmter  Massen  darstellend.  Taubstumme  pflegen  mit  beiden  Hän- 
den geschäftig  und  oft  nacheinander  dahin  und  dorthin  zu  greifen. 
Alle  diese  Zeichen  für  Quantitätsbegriffe  stehen  auf  der  Grenze  zwischen 
nachbildenden  und  symbolischen  Gebärden.  Sie  fallen  einerseits 
noch  in  den  Bereich  jener  konkreten  Versinnlichung  der  Vorstellungen 
durch  einzelne  Beispiele,  welche  die  unmittelbar  nachbildenden  Ge- 
bärden kennzeichnet;  anderseits  ist  die  Vorstellung,  die  auf  solche 
Weise  dargestellt  wird,  schon  so  allgemeiner  Art,  daß  die  Versinn- 
lichung den  Charakter  eines  Beispiels  verliert  und  als  eine  Umwand- 
lung des  allgemeinen  Begriffs  in  eine  repräsentative  Vorstellung,  also 
eben  als  ein  Symbol  erscheint.  Gerade  diese  Grenzfälle  zeigen  das. 
Symbolische  gewissermaßen  in  seinem  Entstehungsmoment. 

AVeit  mehr  als  eigentliche  Symbole  sind  einige  andere  plastische 
Ausdrucksformen  anzusehen,  die  verschiedene  Weiterentwicklungen 
der  Gebärde  des  emporgehaltenen  Zeigefingers  (Fig.  31  6)  zu  sein 
scheinen.  So  haben  die  Zeigefinger  beider  Hände  dicht  nebeneinander 
gehalten  bei  den  Indianern  wie  bei  unsern  Taubstummen  zunächst 
die  allgemeine  Bedeutung  ,, zweier  Gefährten".  Von  da  aus  geht  die 
Gebärde  in  ,, Geschwister"  und  ,, Gatten"  über.   In  den  beiden  letzteren 


Symbolische  Gebärden. 


197 


Fällen  werden  aber  auch  zuweilen  Zeige-  und  Mittelfinger  oder  auch 
Zeigefinger  und  Daumen  gebraucht.  Hier  steht  dann  mit  diesen  Ge- 
bärden ein  in  Neapel  viel  gebrauchtes  Zeichen  (Fig.  31  /)  in  naher 
Beziehung,  welches,  der  ,,Kuß  des  Daumens  und  des  Zeigefingers" 
genannt,  die  „Liebe",  die  „Ehe"  oder  die  „Ehegatten"  bedeutet. 
Tritt  bei  der  vorangegangenen  Gebärde  zu  der  in  der  Vereinigung  der 
beiden  Finger  gelegenen  Symbolik  der  engen  Gemeinschaft  noch  durch 


Fig.  32.    Symbolische  Handgebärden  der  Nordamerikaner. 


den  Gebrauch  verschiedener  Finger  die  Andeutung  eines  Wertunter- 
schieds, so  gewinnt  nun  dieser  letztere  seinen  besonderen  Einfluß 
in  den  mannigfachen  Verwendungen,  welche  die  Gebärdensymbolik 
von  dem  Gegensatze  des  Daumens  und  des  kleinen  Fingers  macht. 
,, Stark"  und  ,, schwach",  ,,gut"  und  ,,böse",  und  dann  in  einer  weiteren 
Übertragung  das  starke  und  das  schwache  Geschlecht,  also  ,,Mann" 
und  „Frau",  oder  „Bruder"  und  „Schwester",  werden  so  durch  den 
stärksten  und  den  schwächsten  Finger  ausgedrückt. 

Neben   diesen    Gebärdensymbolen,   die,   weil   sie   auf  allgemein- 
gültigen   Assoziations-    und    Apperzeptionsbedingungen    beruhen,    in 


198  Die  Gebärdensprache. 


ähnlichen  oder  verwandten  Gestaltungen  weitverbreitet  vorkommen, 
gibt  es  aber  noch  andere,  die  aus  besonderen  Anschauungen  hervor- 
gegangen sind.  Ein  charakteristisches  Beispiel  hierfür  ist  das  neapoli- 
tanische Zeichen  für  ,, Gerechtigkeit"  (Fig.  31  e),  das  in  der  Finger- 
stellung besteht,  mit  der  man,  um  die  freie  Bewegung  der  Wagebalken 
nicht  zu  hindern,  eine  Wage  zu  halten  pflegt.  Man  hat  in  dieser  Ge- 
bärde offenbar  nichts  anderes  als  eine  pantomimische  Nachahmung 
der  symbolischen  Darstellungen  der  Justitia  in  der  bildenden  Kunst 
zu  sehen.  Eine  andere  neapolitanische  Gebärde  (Fig.  31  ^)  erinnert 
an  die  oben  erwähnte  symbolische  Bedeutung  des  kleinen  Fingers: 
so  verbreitet  diese,  so  singulär  ist  aber  wohl  jene  Anwendung,  bei  der 
die  beiden  kleinen  Finger  umeinander  geschlungen  werden,  als  kon- 
ventionelles Zeichen  für  „Falschheit".  Wahrscheinlich  liegt  hier, 
abgesehen  von  der  allgemeinen  Symbolik  der  kleinen  Finger,  noch 
in  der  Verschlingung  derselben  eine  weitere,  das  Anschmiegen  des 
falschen  Freundes  versinnlichende  Gebärde.  In  dieser  Beziehung 
bildet  ein  indianisches  Zeichen  für  ,, Freundschaft",  das  in  der  ana- 
logen Verschlingung  der  beiden  Zeigefinger  besteht  (Fig.  32 1),  das 
genaue  Gegenbild:  wie  die  enge  Verbindung  der  Zeigefinger  hier  die 
wahre,  so  symbolisiert  dort  die  der  kleinen  Finger  die  falsche  Freund- 
schaft. Diese  Freundschaftsgebärde  in  l  ist  übrigens  nur  eine  Ver- 
stärkung des  oben  erwähnten  Symbols  der  nebeneinander  gehaltenen 
Zeigefinger,  von  der  eine  andere  Modifikation  eine  in  Je  mitgeteilte 
australische  Gebärde  für  Freundschaft  ist.  Als  Seitenstück  zur  Justitia 
mag  endlich  noch  der  ,, Diebstahl"  erwähnt  werden.  Als  plastische 
Gebärde,  gleichzeitig  das  Ergreifen  und  das  Verbergen  eines  Gegen- 
standes unnachahmlich  andeutend,  kommt  das  in  d  (Fig.  31)  wieder- 
gegebene Zeichen,  ähnlich  wie  das  obige  Falschheitssymbol,  wohl  nur 
in  dem  Hauptgebiet  des  plastischen  Gebärdenspiels,  im  Neapoli- 
tanischen, vor.  Anderwärts  wird  der  gleiche  Begriff,  wie  die  meisten, 
die  sich  auf  sinnlich  wahrnehmbare  Handlungen  beziehen,  durch 
zeichnende  Bewegungen  ausgedrückt:  so  bei  den  Taubstummen  durch 
di^  Bewegung  des  Wegnehmens  und  Einsteckens,  bei  den  Indianern 
durch  eine  Greifbewegung  mit  darauf  folgendem  Verschlusse  der 
rückwärts  bewegten  Hand,  ein  Symbol,  das  die  beiden  Vorstellungen 
des  Ergreifen s  und  Aneignens  wiederum  anschaulich  verbindet,  eben 


Symbolische  Gebärden.  199 


darum  aber  auch  mehr  den  unmittelbar  nachbildenden  als  den  sym- 
bolischen Gebärden  zugehört^).  Erst  die  Einschränkung  auf  die  Plastik 
der  Hand  gibt  der  Gebärde  d  Fig.  31,  da  sie  nur  einen  einzelnen  an 
und  für  sich  mannigfacher  Deutungen  fähigen  Zug  herausgreift,  einen 
symbolischen  und  gleichzeitig  konventionellen  Charakter.  Das  näm- 
liche gilt  in  noch  höherem  Maße\on  einigen  Indianerzeichen,  die  in 
m  und  n  der  Fig.  32  wiedergegeben  sind :  m  ist  das  bei  den  Eingeborenen 
Nordamerikas  weit  verbreitete  Zeichen  für  ,, Tausch  und  Handel". 
Man  könnte  geneigt  sein,  es,  etwa  ähnlich  wie  das  mit  den  beiden 
Zeigefingern  ausgeführte  Freundschaftssymbol  Z,  für  einen  ursprüng- 
lichen symbolischen  Bestandteil  der  Gebärdensprache  zu  halten. 
Aber  eine  andere  Interpretation  liegt  hier  näher.  Zwei  sich  kreuzende 
Striche  sind  in  der  Bilderschrift  der  Indianer  das  übliche  Zeichen 
für  ,, Tausch".  Da  die  Gebärde  m  wahrscheinlich  späten  Ursprungs 
ist,  so  darf  man  daher  vermuten,  daß  sie  in  einer  Übertragung  dieses 
Zeichens  in  die  Gebärdensprache  besteht^). 

Haben  sich  einmal  auf  solche  Weise,  sei.  es  durch  die  direkte  Ent- 
wicklung aus  nachbildenden  Gebärden,  sei  es,  wie  im  letzten  Bei- 
spiel, durch  die  Herübernahme  aus  der  Bilderschrift,  Symbole  von 
relativ  abstrakter  Bedeutung  entwickelt,  so  können  sich  nun  aber 
weiterhin  an  sie  andere  anschließen,  die  von  vornherein  symbolisch 
gemeint  sind.  Die  so  entstehenden  Zeichen  tragen  dann  freilich  auch 
stets  das  Gepräge  einer  willkürlichen  Erfindung,  nicht  einer  natür- 
lichen Entwicklung,  oder  diese  greift  doch  höchstens  insofern  ein, 
als  solche  künstliche  Gebärden  von  natürlich  entstandenen  auszu- 
gehen pflegen.  In  diesem  Sinne  ist  z.  B.  das  Zeichen  n  (Fig.  32)  auf- 
zufassen,  das  bei  den  Indianern  in  der  Bedeutung  von  ,,Kauf"  ge- 
braucht wird,  und  das  offenbar  eine  erfundene  Abänderung  der  Ge- 
bärde m  ist. 


1)  Mallery  a.  a.  0.  S.  293,  Fig.  75 

^)  Über  den   mutmaßlichen  Ursprung   des   Zeichens  in  der  Bilderschrift 
vgl.  unten  V,  2. 


200  Die  Gebärdensprache. 


III.  Vieldeutigkeit  und  Bedeutungswandel  der 

Gebärden. 

1.  Unbestimmtheit  der  Begriffskategorien. 

Nach  einer  oft  gemachten  Bemerkung  entbehrt  die  Gebärden- 
sprache aller  und  jeder  grammatischen  Kategorien.  Sie  hat  weder 
Wortbiegungen  noch  irgendwelche  Merkmale,  die  erkennen  lassen, 
ob  ein  bestimmtes  Zeichen  als  Substantivum,  Adjektivum  oder  Ver- 
bum  gebraucht  werde;  von  einer  Unterscheidung  der  Partikeln  kann 
schon  deshalb  nicht  die  Kede  sein,  weil  die  in  diesen  Wortformen 
ausgedrückten  abstrakteren  Begriffsbeziehungen  der  natürlichen  Ge- 
bärdensprache überhaupt  mangelten^). 

An  dieser  Behauptung  ist  jedenfalls  richtig,  daß  es  besondere 
formale  Kennzeichen  nicht  gibt,  durch  die  irgendeine  Gebärde  einer 
der  Wortkategorien  zugeordnet  würde,  die  uns  aus  den  entwickelteren 
Lautsprachen  geläufig  sind.  Aber  Steinthal  hat  schon  bemerkt,  daß 
jene  formale  Unterscheidung  auch  nicht  für  alle  Lautsprachen  zu- 
trifft, ohne  daß  darum  die  Unterscheidimg  der  Begriffe  selbst  fehlt. 
Vielmehr  ergibt  sich  in  solchen  Fällen  die  Stellung  dieser  im  allgemeinen 
unzweideutig  aus  dem  Zusammenhang  der  Kede.  Eben  weil  sie  dies 
tut,  konnte  sie  auch  bekanntlich  gewissen  Sprachen,  die  sie  einst 
besaßen,  wieder  verloren  gehen.  Hier  sind  also  die  logischen  Kate- 
gorien vorhanden;  dem  Worte  selbst  fehlen  aber  die  Merkmale,  an 
denen  seine  Zugehörigkeit  zu  einer  solchen  zu  erkennen  ist. 

Wenden  wir  nun  diese  Gesichtspunkte  auf  die  Gebärdensprache 
an,  so  kann  es  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  auch  in  ihr  gewisse 
logische  Kategorien  zur  Entwicklung  gelangen,  daß  aber  diese  nur 
selten  durch  Hilfsmittel,  die  den  grammatischen  Unterscheidungen 
analog  sind,  nämlich  durch  besondere  Modifikationen  der  Gebärden 
selbst  ausgedrückt  werden.  Dagegen  ergeben  sie  sich  durchweg  auch 
hier  aus  dem  Zusammenhang  und  der  Aufeinanderfolge  der  einzelnen 


1)  Steinthal,  Über  die  Sprache  der  Taubstummen  in  Prutz'  und  Wolf- 
sohns  Deutschem  Museum,  I,  1851,  S.  919  ff.  Tylor,  Forschungen  über  die  Ur- 
geschichte der  Menschheit,  S.  20  ff. 


Unbestimmtheit  der  Begriffskategorien.  201 

Zeichen.  Nur  erleidet  in  diesem  Falle  die  kategor iale  Unterscheidung 
dadurch  noch  eine  wesentliche  Einschränkung,  daß  sich  die  natür- 
liche Gebärdensprache  erstens  vorzugsweise  auf  Begriffe  mit  sinnlich 
anschaulichem  Inhalt,  und  daß  sie  sich  zweitens  ausschließlich  auf 
solche  Begriffe  erstreckt,  die  in  den  drei  logischen  Grundkategorien 
der  Gegenstands-,  Eigenschafts-  und  Zustandsbegriffe  ent- 
halten sind.  Hierbei  sind  übrigens  unter  dem  letzteren  Ausdruck 
nicht  bloß  dauernde,  sondern  auch  veränderliche  und  wechselnde  Zu- 
stände, also  Vorgänge  und  Handlungen,  zu  verstehen.  Wo  man  Be- 
griffe der  grammatischen  Hilfskategorien  nach  den  in  der  Lautsprache 
ausgebildeten  Wortformen,  also  Präpositionen,  Konjunktionen,  abstrakte 
Adverbien,  erwarten  müßte,  da  fehlen  aber  diese  vollständig,  oder 
vielmehr :  statt  ihrer  finden  sich  konkrete  Vorstellungen,  die  wiederum 
auf  jene  drei  Hauptkategorien  zurückgehen. 

Auch  die  drei  Begriffsformen  der  Gegenstände,  Eigenschaften 
und  Zustände  werden  nun  freilich  im  allgemeinen  nicht  durch  die 
Gebärde  als  solche  unterschieden.  Doch  ist  in  manchen  Fällen  schon 
.aus  der  Art,  wie  die  Gebärde  ausgeführt  wird,  ihr  allgemeiner  Begriffs- 
«charakter  zu  erkennen.  Deutlicher  geschieht  dies  noch  durch  beson- 
dere Hilfsgebärden,  die  den  Hauptgebärden  beigefügt  werden, 
und  die  man,  da  sie  nur  die  logische  Form  des  Begriffs,  zu  dem  sie 
hinzutreten,  andeuten,  immerhin  den  reinen  Formelementen  der 
Lautsprachen  vergleichen  könnte.  Sie  unterscheiden  sich  von  ihnen 
allerdings  dadurch,  daß  sie,  außer  in  dieser  bloß  formgebenden  Be- 
deutung, stets  als  selbständige  Zeichen  vorkommen.  Auch  können 
solche  Hilfsgebärden  die  verschiedensten  Grade  der  Selbständigkeit 
darbieten,  von  einer  bloß  leisen  Nuancierung  der  Hauptgebärde  an 
bis  zur  Verbindung  zweier  ursprünglich  selbständiger  Ausdrucks- 
formen, die  durch  ihre  momentane  Verbindung  zu  Zeichen  eines  ein- 
zigen Begriffs  werden.  So  kann  in  der  Gebärdensprache  des  Taub- 
stummen die  Berührung  eines  Zahnes  mit  dem  Zeigefinger  in  einer 
vierfachen  Bedeutung  vorkommen:  erstens  für  ,,Zahn"  selbst,  sodann 
für  einen  der  beiden  Eigenschaftsbegriffe  ,,weiß"  oder  ,,hart",  und 
endlich  für  einen  harten  Gegenstand  z.  B.  einen  ,, Stein".  Die  Artj 
wie  die  Gebärde  ausgeführt  oder  mit  determinierenden  Hilfsgebärden 
verknüpft   wird,    unterscheidet   alle   diese   Bedeutungen   leicht   von- 


202  Die  Gebärdensprache. 


einander.  Ist  der  ,,Zahn"  gemeint,  so  genügt  eine  leise  Berührung 
desselben.  Soll  die  gleiche  Bewegung  den  Begriff  ,,weiß''  ausdrücken, 
so  wird  möglichst  die  ganze  Reihe  der  Zähne  gezeigt  und  zugleich 
das  Auge  mit  strahlendem  Ausdruck  geöffnet,  um  den  hellen  Licht- 
eindruck anzudeuten.  Für  ,,hart"  besteht  die  Gebärde  in  einem  Klopfen 
des  Zeigefingers  gegen  einen  der  Schneidezähne.  Für  ,, Stein"  wird 
der  Bewegung  für  hart  die  des  Werfens  als  nähere  Bestimmung  bei- 
gefügt. Ähnlich  kann  die  Berührung  der  Lippe  sowohl  die  ,, Lippe" 
wie  die  Eigenschaft  ,,rot"  bedeuten.  Im  ersten  Fall  wird,  wenn  er- 
forderlich, nach  der  Ausführung  der  hinweisenden  Gebärde  die  Lippe 
selbst  noch  zwischen  Daumen  und  Zeigefinger  gefaßt.  Wird  die  Hand 
mit  aufwärts  gekehrter  Hohlhand  vom  Boden  her  nach  oben  bewegt,^ 
so  kann  dies  die  Tätigkeit  des  ,, Hebens"  oder  einen  gehobenen  Gegen- 
stand, ein  ,, Gewicht",  oder  auch  die  Eigenschaften  ,, leicht"  oder 
,, schwer"  bedeuten.  Wird  die  Tätigkeit  des  ,, Hebens*'  in  der  Regel 
durch  mehrere  aufeinander  folgende  Bewegungen  angezeigt,  so  genügt 
die  einmalige  Gebärde,  um  ,, Gewicht"  auszudrücken;  ,, leicht"  be- 
deutet die  Hebebewegung,  wenn  sie  rasch  und  mit  einem  heiteren 
Ausdruck,  ,, schwer",  wenn  sie  langsam  und  mit  dem  mimischen  Zug 
der  Anstrengung  ausgeführt  wird.  Eine  hinweisende  Bewegung  gegen 
den  Himmel  kann  den  ,, Himmel"  selbst  im  physischen,  oder  sie  kann 
ihn  im  übertragenen  religiösen  Sinne,  das  ,, Jenseits",  ausdrücken; 
sie  kann  dann  weiterhin  auf  ,,Gott"  bezogen  werden,  oder  endlich 
auch  bloß  die  Farbe  ,,blau"  bezeichnen.  Im  ersten  dieser  Fälle  wird 
die  Gebärde  im  allgemeinen  mit  einer  gleichgültigen  Miene  aus- 
geführt, im  zweiten  mit  dem  Ausdruck  der  Andacht,  im  dritten 
unter  Hinzufügung  der  Gebetsgebärde,  im  vierten  mit  dem  be- 
gleitenden mimischen  Ausdruck  der  Heiterkeit.  Verfolgt  man  in 
dieser  Weise  die  eine  gegebene  Gebärde  näher  determinierenden 
Ausdrucksbewegungen,  so  dürften  vielleicht  nur  wenige  Fälle  zurück- 
bleiben, wo  trotz  verschiedener  Bedeutungen  der  Ausdruck  ein  ganz 
übereinstimmender  ist. 

Am  häufigsten  bestehen  solche  Fälle  von  wirklicher  Vieldeutig- 
keit darin,  daß  Tätigkeiten  und  die  durch  sie  hervorgebrachten  Er- 
zeugnisse, Gegenstände  und  die  mit  ihnen  vorgenommenen  Hand- 
lungen nicht  unterschieden  werden.      So  bedeutet  die   Gebärde  des 


Unbestimmtheit  der  Begriffskategorien.  203 

* 

Ausstreuens  mit  Daumen  und  Zeigefinger  ebensowolil  diese  Hand- 
lung selbst  wie  ein  auszustreuendes  Pulver,  in  der  Regel  das  aus  dem 
täglichen  Gebraucli  bekannteste,  das  ,,Salz".  Die  Gebärde  des  Trinkens 
mit  der  ähnlich  einem  Becher  geschlossenen  Hand  bezeichnet  nicht 
nur  die  Handlung  ,, trinken'*,  sondern  auch  das  „Getränk",  nament- 
lich das  häufigste  der  Getränke,  das  ,, Wasser".  Werden  Gebärden 
aus  mehreren  zusammengesetzt,  dadurch,  daß  zu  einer  Hauptgebärde 
weitere,  näher  determinierende  hinzutreten,  so  steigert  sich  meist 
noch  ihre  Vieldeutigkeit.  Denn  ein  solcher  Zusammenhang  läßt  un- 
bestimmt, welche  Gebärde  der  eigentliche  Träger  der  logischen  Kate- 
gorie sei.  Führt  z.  B.  der  Taubstumme  zuerst  die  Bewegung  des 
Mahlens  an  einer  fingierten,  auf  dem  Schöße  gehaltenen  Kaffeemühle, 
und  dann  die  des  Trinkens  aus,  so  kann  entweder  das  ,, Mahlen  des 
Kaffees"  oder  das  „Trinken  von  Kaffee"  oder  auch  der  Kaffee  selbst 
gemeint  sein.  Im  ersten  dieser  Fälle  ruht  demnach  auf  der  ersten 
Gebärde  der  Hauptbegriff,  im  zweiten  auf  der  zweiten,  im  dritten 
haben  beide  Gebärden  eigentlich  einen  bloß  determinierenden  Charak- 
ter, während  der  Gegenstand  zu  den  Handlungen,  die  ihn  andeuten, 
hinzugedacht  wird.  Eine  ähnliche  vieldeutige  Zusammensetzung 
ist  die  folgende.  Wenn  der  Indianer  Eßbewegungen  und  gleichzeitig 
mit  dem  Zeigefinger  die  schneidende  Bewegung  eines  Messers  vor  dem 
Munde  nachahmt,  so  hängt  diese  Gebärde  mit  der  Sitte  der  Indianer 
zusammen,  den  zu  verschluckenden  Bissen  erst,  wenn  ihn  die  Zähne 
erfaßt  haben,  von  einem  größeren  Fleischstück  abzuschneiden.  Sie 
kann  demnach  entweder  die  durch  die  Bewegung  ausgedrückte  Hand- 
lung, das  ,, Abschneiden  des  Fleisches",  oder  sie  kann  „essen",  sie 
kann  aber  auch  ,, Fleisch"  und  eventuell  sogar  ,, Messer"  bedeuten. 
Diese  Beispiele  zeigen,  daß  es  im  allgemeinen  zwei  Momente  gibt, 
die  bei  solchen  Kombinationen  die  Mehrdeutigkeit  befördern.  Das 
erste  besteht  darin,  daß  eine  und  dieselbe  Gebärde  in  der  nämlichen 
Verbindung  einen  verschiedenen  logischen  Sinn  haben  kann,  indem 
sie  bald  Hauptbegriff,  bald  bloß  determinierendes  Begriffselement 
ist.  Das  andere  ist  dies,  daß  jede  Gebärde,  die  eine  Handlung  andeutet, 
in  fast  unbegrenzter  Weise  als  Stellvertreterin  für  Gegenstandsbegriffe 
gebraucht  wird,  die  mit  jener  Handlung  in  Beziehung  stehen.  Denn 
es  kommen  nicht  bloß  solche  Übergänge  vor,  bei  denen  zwar  die  lo- 


204  Diö  Gebärdensprache. 


gische  Kategorie  wechselt,  die  Grundbedeutung  der  Vorstellung  aber 
dieselbe  bleibt;  sondern,  wo  dies  irgend  durch  häufig  geübte  Asso- 
ziationen nahegelegt  ist,  da  kann  der  Übergang  möglicherweise  auf 
ganz  verschiedene  Gegenstandsbegriffe  erfolgen.  In  allen  solchen 
Fällen  ist  es  natürlich  nur  noch  der  Zusammenhang  der  Vorstellungen, 
der  die  wirklich  gemeinte   Bedeutung  feststellt. 

Bietet  diese  Übertragung  von  Gebärden,  die  an  sich  Handlungen 
oder  Zustände  ausdrücken,  auf  Gegenstandsbegriffe  eine  nicht  zu  ver- 
kennende Analogie  mit  dem  uns  aus  der  Lautsprache  geläufigen  Über- 
gang von  Verbalformen  in  substantivische  Bildungen,  nur  mit  dem 
Unterschied,  daß  die  Gebärdensprache  schrankenloser  und  nach  be- 
liebig   wechselnden    Assoziationen    solche    Übertragungen    ausführt, 
so  fehlt  es  ims  nun  auch,  ähnlich  wie  in  der  Lautsprache,  an  dem  um- 
gekehrten Übergang  nicht.      Während  aber  die  zeichnenden   Ge- 
bärden das  Gebiet  bilden,  auf  dem  sich  Übergänge  der  ersten  Art  ab- 
spielen, sind  es  durchgängig  die  plastischen,  die  eine  umgekehrt 
gerichtete  Verschiebung  der  Begriffe  vermitteln.    Dies  liegt,  wie  kaum 
bemerkt  zu  werden  braucht,  in  der  ursprünglichen  Natur  dieser  beiden 
Formen  begründet.      Die  natürlichste  Nachbildung  einer  Handlimg 
ist  selbst  eine  Handlung.    Sie  kann  also  in  adäquater  Weise  nur  durch 
eine  zeichnende  Gebärde  ausgeführt  werden,  die  eben  eine  vor  dem 
Auge  sich  vollziehende  Handlung  ist.    Der  Gegenstand  dagegen  läßt 
an  sich  eine  doppelte  Art  der  Nachbildung  zu:  einmal  eine  solche 
durch  die  Handlung,  die  ihn  hervorbringt,  also  wiederum  durch  die 
zeichnende  Gebärde;  dann  aber  durch  das  plastische  Bild,  das  seine 
ruhende  Form  zeigt.    Hierin  ist  unmittelbar  der  psychologische  Grund 
aufgedeckt,  der  den  Übergang  der  zuständlichen  in  die  gegenständ- 
liche Bedeutung  einer  Gebärde  zum  allgemeineren  macht.     Immer- 
hin läßt  die  fast  unbegrenzte  Assoziierbarkeit  der  Vorstellungen  auch 
die  umgekehrte  Übertragung  von  der  plastischen   Gebärde  aus  zu. 
Dabei  kann  unterstützend  mitwirken,  daß  gerade  hier  überkommene 
Tradition   und  konventionelle   Symbolik  eine  größere   Rolle  spielen, 
wobei  dann  zugleich  die  einzelne  Gebärde  einen  ganzen  Satz  andeuten 
kann.      So  gebraucht  der  Neapolitaner  die  mit  der  Hand  gebildete 
plastische  Gebärde  der  Flasche  {d  Fig.  26)  häufiger,  um  „trinken", 
als  um  ,,Wein"  oder  ,, Flasche"  auszudrücken.     Zumeist  aber  steht 


Unbestimmtheit  der  Begriffskategorien.  205 

sie  an  Stelle  des  Satzes  ,,icli  will  jetzt  trinken"  oder  der  Aufforderung 
,,laß  uns  trinken".  Das  Zeichen  für  Diebstahl  (d  Fig.  31)  kann  eben- 
sogut wie  den  ,,Dieb"  oder  den  ,, Diebstahl"  auch  die  Mitteilung  be- 
deuten, daß  gestohlen  worden  sei,  oder  daß  jemand  zu  stehlen  beab- 
sichtige. Ähnlich  verhält  es  sich  mit  vielen  Indianergebärden.  Nament- 
lich die  symbolischen  Zeichen  sind  auf  diese  Weise  in  der  Regel  viel- 
deutig, da  sie  oft  nur  den  Hauptbegriff  eines  Gedankens  enthalten, 
dessen  Nebenbestandteile  unausgesprochen  bleiben  und  dabei  mannig- 
fach variieren  können.  Hierin  kommt  übrigens  nur  in  gesteigertem 
Maß  eine  allgemeine  Eigenschaft  der  Gebärdensprache  zum  Aus- 
druck. Diese  ist  stets  eine  Art  Abbreviatursprache:  sie  eilt  über  alle 
die  Teile  des  Gedankens  hinweg,  die  sich  aus  dem  Zusammenhang 
von  selbst  ergeben,  während  sie  auf  der  andern  Seite  nicht  minder 
durch  Wiederholung  des  gleichen  Begriffs  in  verschiedener  Form  etwa 
möglichen  Mißverständnissen  zu  begegnen  sucht.  So  ist  sie  gleich- 
zeitig kürzer  und  weitläufiger  als  die  Lautsprache. 

Mit  diesen  Eigenschaften  hängt  noch  eine  andere  zusammen, 
durch  die  sich  die  natürliche  Gebärdensprache  von  den  meisten  Ver- 
suchen ihrer  künstlichen  Weiterbildung  scheidet.  Sie  besteht  in  der 
oben  erwähnten  Beschränkung  auf  die  drei  logischen  Haupt- 
kategorien. Alle  näheren  Bestimmungen  der  Gegenstands-,  Eigen- 
schafts- und  Zustandsbegriffe  bleiben  dahingestellt.  Die  Gebärden 
als  solche  bezeichnen  in  ihrer  Aufeinanderfolge  lediglich  eine  Reihe 
von  Vorstellungen,  deren  jede,  wie  sie  durch  ein  anschauliolies  Zeichen 
ausgedrückt  wird,  so  auch  schon  für  sich  allein  anschaulich  gedacht 
werden  kann.  In  welchen  logischen,  räumlichen  oder  zeitlichen  Be- 
ziehungen die  Vorstellungen  zueinander  stehen,  das  lassen  jene  Zeichen 
nicht  erkennen.  Solche  Beziehungen  können  nur  dem  Zusammen- 
hang entnommen  werden,  in  den  sie  durch  ihre  Aufeinanderfolge 
treten.  So  ist  die  Erzählung  eines  vergangenen  Ereignisses  von  der 
eines  gegenwärtigen  Geschehens  oder  von  der  Mitteilung  einer  bevor- 
stehenden Handlung  im  allgemeinen  nicht  zu  unterscheiden.  Nur 
wenn  derartige  Zeitbegriffe  selbständige  Gedankeninhalte  bilden, 
können  sie  durch  symbolische  Zeichen  ausgedrückt  werden,  indem 
dann  die  früher  erwähnten  räumlichen  Versinnlichungen  durch  hin- 
weisende Gebärden  für  sie  eintreten  (S.  169).    Davon  abgesehen  ver- 


206  Die  Gebärdensprache. 


wandelt  aber  die  Gebärdensprache  jedes  Ereignis  in  ein  unmittelbar 
gegenwärtiges.  Hierauf  beruht  zugleich  ihre  eigentümliche  Lebendig- 
keit. Sie  macht  den  Redenden  ebenso  wie  jeden  andern  gewisser- 
maßen zum  Miterlebenden  alles  dessen,  was  sie  ausdrückt.  Selbst 
da,  wo  die  drei  Zeitstufen  räumlich  symbolisiert  werden,  pflegt  sie 
daher  den  Begriff,  soweit  es  nur  immer  geschehen  kann,  konkret  zu 
gestalten,  indem  sie  durch  die  besondere  Art  der  Bewegungen  andeutet, 
ob  ein  Ereignis  in  naher  oder  ferner  Vergangenheit  liege,  ob  es  in  naher 
oder  ferner  Zukunft  geschehen  werde.  Der  Indianer  liebt  es  in  solchen 
Fällen  sogar,  die  Zahl  der  Tage,  Monate  oder  Jahre,  die  verflossen 
sind  oder  verfließen  sollen,  durch  besondere  Gebärden  anzugeben. 
Auf  diese  Weise  nähern  sich  diese  Ausdrucksformen  der  Zeitstufen 
selbst  schon  der  Darstellung  der  Arten  des  Zeitverlaufs,  die  eine 
überaus  charakteristische  Seite  dei  Gebärdenmitteilung  ausmacht. 
Will  der  Taubstumme  eine  Handlung  erzählen,  so  begnügt  er  sich 
nicht  zu  berichten,  daß  sie  geschehen  sei,  sondern  er  schildert  wie 
sie  geschehen  ist.  Die  mit  Zeigefinger  und  Mittelfmger  der  rechten 
Hand  auf  dem  linken  Vorderarm  nachgeahmten  Gehbewegungen, 
die  den  Begriff  des  Gehens  wiedergeben,  werden  also  entweder  schnell 
oder  langsam,  bald  mit  dem  mimischen  Ausdruck  der  Hast,  bald  mit 
dem  der  Bedächtigkeit  ausgeführt.  Oder  die  gleiche  Bewegung  wird 
mehrmals  wiederholt,  in  hin-  und  rückwärts  gekehrter  Richtung. 
Ebenso  verbinden  sich  mit  den  Gebärden  für  tragen,  fahren,  arbeiten, 
einsammele,  tauschen,  kaufen  und  andern  sehr  häufig  Modifikationen 
der  zeichnenden  Bewegung  selbst  oder  des  begleitenden  mimischen 
Ausdrucks,  die  ein  Bild  der  Art  des  geschilderten  Tuns  zu  geben 
suchen. 

Ähnlicher  sinnlicher  Ausdrucksmittel  bedient  sich  die  Gebärden- 
sprache für  diejenigen  Gedankenelemente,  die  unsern  abstrakten 
Partikeln  entsprechen.  So  wird  der  in  der  Präposition  liegende  Begriff, 
wenn  er  ein  räumliches  Verhältniß  einschließt,  durch  eine  hinweisende 
Bewegung  bezeichnet.  Ist  der  Gegenstand  selbst,  der  in  eine  räum- 
liche Beziehung  zu  einem  andern  gebracht  werden  soll,  im  Sehbereich 
anwesend,  so  drückt  dann  eine  und  dieselbe  Gebärde  beides  zugleich, 
den  Gegenstand  und  seine  Beziehung  aus.  So  kann  der  Taubstumme 
,,die  Katze  auf  dem  Dache"  möglicherweise  in  vierfacher  Form  wieder- 


Unbestimmtheit  der  Begriffskategorien.  207 

geben,  je  racMem  der  ganze  Inhalt  dieser  Verbindung  oder  nur  ein 
Teil  oder  gar  nichts  von  ihr  in  der  unmittelbaren  Anschauung  vor- 
handen ist.  Im  ersten  Fall  bezeichnet  die  hinweisende  Gebärde  den 
ganzen  Zusammenhang  mit  einem  Male.  Im  letzten  wiid  zuerst  die 
Katze  durch  irgendeine  mitbezeichnende  Gebärde  angedeutet,  z.  B. 
durch  Nachahmung  ihres  Schnauzbarts  am  eigenen  Munde  und  des 
Kratzens  mit  den  zu  Krallen  gekrümmten  Fingern,  dann  werden 
die  Umrisse  eines  Giebeldachs  in  der  Luft  beschrieben,  und  endlich 
wird  mit  dem  Zeigefinger  nach  oben  gezeigt,  gleichsam  ,, Katze  Dach 
oben".  Ebenso  können  die  andern  räumlichen  Beziehungen,  wie  sie 
den  Präpositionen  in,  aus,  durch,  von  u?  w.  innewohnen,  durch  hin- 
weisende Bewegungen  ausgedrückt  werden.  Aber  jene  wichtigen 
Begriffsmetamorphosen,  durch  die  unsere  Präpositionen  Ausdrucks- 
mi;;tel  der  mannigfaltigsten  logischen  Beziehungen  geworden  sind, 
macht  die  Gebärdensprache  nicht  mit.  Wo  logische  oder  kausale 
Beziehungen  überhaup:  vorkommen,  da  überläßt  sie  es  entweder 
dem  Zusammenhang  der  Vorstellungen,  sie  angemessen  zu  interpolieren, 
oder  sie  ersetzt  sie  durch  konkrete  Versinnlichungen.  In  der  Gebärden- 
sprache berichtet  man  nicht,  irgendeine  Person  sei  wegen  Diebstahls 
gehenkt  worden,  sondern  man  fügt  der  Bezeichnung  der  Person  die 
Gebärde  für  Dieb  oder  Stehlen  (z.  B.  Fig.  31  cZ)  und  die  der  Strangu- 
lation, die  Andeutung  eines  um  den  Hals  gelegten  Strickes,  bei.  In 
der  Gebärdensprache  heißt  es  nicht:  ,,er  starb,  weil  er  dem  Trunk 
ergeben  war",  sondern:  ,,er  trank,  er  trank,  er  starb",  oder  eigentlich, 
da  es  in  ihr  keine  Flexionsformen  des  Verbums  gibt:  „trinken,  trinken, 
sterben".  Die  Gebärde  des  Trinkens  wird  mehrmals  nacheinander 
ausgeführt,  dann  als  Zeichen  für  Tod  der  Kopf  mit  geschlossenen 
Augen  auf  die  rechte  Hand  gelegt  und  eine  hinweisende  Gebärde  nach 
dem  Boden  hinzugefügt:  ,, schlafen  da  unten".  Wo  endlich  in  der 
Lautsprache  abstrakte  Adverbien  zu  Verbalformen  hinzutreten,  um 
in  denkbar  kürzester  Weise  bestimmte  Veränderungen  des  Verbal- 
begriffs hervorzubringen,  da  löst,  ganz  im  Sinne  dieser  Ausdrucks- 
mittel für  die  Beziehungsformen  der  Begriffe,  die  Gebärdensprache 
entweder  die  Verdichtung  des  Gedankens  in  die  konkreten  Einzel- 
vorstellungen auf,  oder  sie  überläßt  wiederum  dem  Zusammenhang 
die  stillschweigende  logische  Ergänzung. 


208  Die  Gebärdensprache. 


2.  Begriffsübertragungen  und  Bedeutungswandel  der   Gebärden. 

Die  Bewunderer  der  natürliclien  Gebärdensprache,  wie  sie  vor 
allem  unter  den  Taubstummenlehrern  gefunden  werden,  pflegen  von 
ihr  zu  rühmen,  sie  sei  nicht  nur  eine  Universalsprache,  sondern  sie 
zeichne  sich  auch  ganz  besonders  durch  eine  jedes  Mißverständnis 
ausschließende  Eindeutigkeit  der  Begriffssymbole  aus.  Synonyma 
sollen  in  ihr  wegen  der  unmittelbaren  sinnlichen  Anschaulichkeit  und 
Verständlichkeit  der  Gebärden  völlig  ausgeschlossen  sein^).  Daß 
diese  Meinung  bei  der  Beobachtung  der  Taubstummen  überhaupt 
entstehen  konnte,  ist  für  den  eigentümlichen  Charakter  dieses  Zweiges 
der  Gebärdensprache  immerhin  bezeichnend.  Bei  solchen  Formen 
derselben,  die  sich,  wie  die  der  Neapolitaner  oder  der  nordamerika- 
nischen Indianer,  durch  viele  Generationen  hindurch  entwickelt  haben, 
würde  sie  jedenfalls  unmöglich  gewesen  sein.  Hier  fällt  die  ungeheure 
Vieldeutigkeit  vieler  Zeichen  sofort  in  die  Augen.  Besonders  von 
den  plastischen  Gebärden,  die  durchweg  meist  älteren  Ursprungs  sind 
und  zu  einer  konventionellen  Anwendung  hinneigen,  läßt  sich  wohl 
sagen,  daß  sie  im  allgemeinen  vieldeutiger  sind,  als  Worte  zu  sein 
pflegen. 

Man  erkennt  leicht,  daß  diese  Unterschiede  mit  der  verschiedenen 
psychologischen  Natur  der  Gebärden  zusammenhängen.  Am  wenigsten 
vieldeutig  sind  die  unmittelbar  nachbildenden,  vor  allem  die  zeich- 
nenden. Hier  ist  eine  Mehrdeutigkeit  nur  innerhalb  der  Grenzen  der 
oben  besprochenen  kategorialen  Verschiebungen  möglich.  Daß  für 
die  Gebärde  als  solche  Begriffe  wie  ,, geben"  und  „Gabe"  oder  wie 
,,Dieb",  ,, Diebstahl"  und  ,, stehlen"  und  ähnliche  zusammenfallen, 
das  ist  aber  in  Wahrheit  keine  Vieldeutigkeit  der  begrifflichen  Grund- 
bedeutung, sondern  eine  formale  Eigenschaft  der  Gebärdensprache, 
da  diese  Modifikationen  eines  Begriffs,  die  durch  seine  Verbindung 
mit  andern  Begriffen  zustande  kommen,  überhaupt  nicht  unterscheidet. 
Daß  dagegen  die  Grundbedeutung  einer  nachbildenden  Gebärde 
völlig  eindeutig  sein  muß,  wenn  das  Bild  die  Vorstellung,  die  es  zu 


^)  Einige  Äußerungen  dieser  Art  hat  Steinthal  zusammengestellt,  Prutz, 
und  Wolfsohns  Deutsches  Museum,  I,  S.  906. 


Begriffsübertragungen  und  Bedeutungswandel  der  Gebärden.  209 

erzeugen  strebt,  wirklich  hervorbringen  soll,  ist  einleuchtend. 
Mit  der  Umrißzeichnung  eines  Hauses  kann  immer  nur  ein 
Haus,  mit  dem  mimischen  Ausdrucke  des  Zornes  nur  die  Ge- 
mütsbewegung des  Zornes,  mit  der  nachahmenden  Bewegung 
des  Gehens  nur  die  Handlung  des  Gehens  gemeint  sein.  Da 
die  Gebärden  der  Taubstummen  ganz  vorzugsweise  zu  den 
zeichnenden  Gebärden  gehören,  so  erklärt  es  sich  also  hieraus, 
daß  gerade  bei  ihnen  die  angebliche  Eindeutigkeit  der  Gebärden 
gerühmt  wird.  Aber  schon  bei  der  plastischen  Unterform  der  nach- 
bildenden Zeichen  gilt  das  nicht  mehr  in  gleichem  Grade,  weil 
hier  die  Vorstellung  und  ihre  Bedeutung  viel  weiter  voneinander 
entfernt  liegen,  daher  denn  auch  in  diesem  Fall  eine  plastische  Hand- 
gebärde von  gleicher  Beschaffenheit  sehr  verschiedene  Bedeutungen 
haben  kann,  wie  ein  Blick  auf  die  Figg.  27  und  28  lehrt.  Eine  noch 
größere  Variation  der  Bedeutungen  ist  bei  den  mitbezeichnenden 
Gebärden  möglich.  Während  die  unmittelbar  nachbildenden  in  der 
Regel  nur  die  logische  und  grammatische  Kategorie  unbestimmt 
lassen,  in  der  ein  gewisses  Zeichen  gedacht  wird,  erstreckt  sich  bei 
den  mitbezeichnenden  die  Möglichkeit  des  Wechsels  schon  über  den 
ganzen  Umkreis  der  Vorstellungen,  die  in  irgendeiner  leicht  assoziier- 
baren psychologischen  Beziehung  zu  der  ausgedrückten  Eigenschaft 
oder  Handlung  stehen.  So  kann  die  Gebärde  des  Hutabnehmens 
einen  ,,Mann",  sie  kann  aber  auch  eine  ,, Begrüßung"  oder  in  einem 
etwas  abstrakteren  Sinne  die  ,, Höflichkeit"  bedeuten.  Die  Gebärde 
des  Riechens  an  einem  Gegenstande,  durch  die  Bewegung  von  Daumen 
und  Zeigefinger  in  der  Scellung,  in  der  man  einen  Blumenstengel 
zu  halten  pflegt,  gegen  die  Nase  hin  ausgeführt,  kann  „Blume", 
„Geruch",  oder  in  anderem  Zusammenhange  „Schnupftabak",  sie 
kann  aber  auch  als  unmittelbar  zeichnende  Bewegung  „riechen" 
ausdrücken   usw. 

Am  weitesten  reicht  endlich  der  Kreis  möglicher  Bedeutungen 
bei  den  symbolischen  Gebärden.  Hier  liegt  in  vielen  Fällen  eine 
Mehrdeutigkeit  schon  darin  begründet,  daß  die  nämliche  Gebärde 
auch  in  ihrem  ursprünglichen,  nicht  symbohschen  Sinne  gebraucht 
werden  kann.  Freilich  ist  das  nur  bei  den  sekundären  Formen  der 
Fall  (S.  186),  und  selbst  hier  ist  ein  solches  Schwanken  zwischen  un- 

Wun  dt,  Völkerpsychologie.    I.    4.  Aufl.  ^^ 


210  Die  Gebärdensprache. 


mittelbarer  Nachbildung  und  Symbol  im  ganzen  selten,  weil  meistens 
die  symbolische  Bedeutung  die  ursprüngliche  völlig  verdrängt  hat, 
wenn  auch  die  letztere  in  der  Form  einer  leisen  Assoziation  immer 
noch  nachklingt.  Man  denke  z.  B.  an  plastische  Gebärden  wie  die 
des  gehörnten  Kopfes  (Fig.  26  a),  des  Eselskopfs  (ebenda  b  und  c), 
an  die  pantomimische  Andeutung  der  Eselsohren  u.  dgl.  Weit  viel- 
gestaltiger ist  diejenige  Verzweigung  der  Bedeutungen,  die  entsteht, 
wenn  entweder  eine  und  dieselbe  Gebärde  von  Anfang  an  verschiedene 
symbolische  Anwendungen  nebeneinander  hat,  oder  wenn  sich  aus 
einer  bestimmten  symbolischen  Beziehung  eine  andere  entwickelt. 
Das  erstere  kommt  häufiger  bei  primären,  das  letztere  bei  sekundären 
Symbolen  vor.  Wenn  z.  B.  das  offenbar  primäre  Symbol  der  beiden 
aneinander  gelegten  Zeigefinger  ,,zwei  Gatten",  ,,zwei  Gefährten", 
,,zwei  Geschwister"  oder  endlich  ,,zwei  Gegenstände"  bedeuten  kann, 
so  läßt  sich  kaum  sagen,  ob  eine  dieser  Anwendungen  früher  gewesen 
sei  als  die  andere.  Wir  werden  höchstens  voraussetzen  dürfen,  da  im 
allgemeinen  die  konkreten  Begriffe  früher  sind  als  die  abstrakten, 
daß  die  Gebärde  als  Symbol  der  reinen  arithmetischen  ,,Zwei"  später 
ist  als  ihre  Anwendung  auf  irgend  zwei  einzelne,  zusammen  gedachte 
Objekte.  Dagegen  kann  man  in  vielen  andern  Fällen  nicht  zweifeln, 
daß  sich  eine  bestimmte  symbolische  Bedeutung  erst  aus  einer  früheren, 
ebenfalls  schon  symbolischen  entwickelt  hat.  Dies  trifft  am  häufigsten 
bei  sekundären  Symbolen  zu.  Denn  bei  ihnen  kann  in  der  Regel  auch 
dann,  nachdem  die  nachbildende  Bedeutung  ganz  verschwunden 
ist,  noch  eine  gewisse  Entwicklungsfolge  bemerkt  werden.  Ein  Krite- 
rium späterer  Entstehung  pflegt  in  solchem  Falle  dies  zu  sein,  daß 
eine  Bedeutung  aus  einer  bestimmten  andern  abgeleitet  werden  muß, 
die  selbst  nachweislich  sekundär  entstanden  ist.  So  kann  es  keinem 
Zweifel  unterliegen,  daß  die  Gebärde  e  Fig.  31  früher  symbolisch  für 
,, Gerechtigkeit"  als  für  „Strafe"  gebraucht  wurde,  weil  das  sinnliche 
Bild  der  Wage  direkt  zur  Gerechtigkeit,  deren  symboHsches  Attribut 
jene  ist,  aber  erst  indirekt,  nämlich  eben  durch  die  Gerechtigkeit  als 
Mittelglied,  zum  Begriff  der  Strafe  führt.  Das  von  den  Indianern 
als  Zeichen  der  Frage  gebrauchte  Symbol  (Fig.  32  i)  ist  offenbar  von 
der  Bedeutung  des  Gebens  als  der  unmittelbareren  ausgegangen: 
denn  jene  Bedeutung  wird  nur  durch  ihren  Ursprung  aus  der  an  einen 


Begriffsübertragungen  und  Bedeutungswandel  der  Gebärden.  211 

andern  gerichteten  Aufforderung  zu  geben,  mitzuteilen,  also  auch, 
von  Gegenständen  auf  Gedanken  übertragen,  seine  Gedanken  mit- 
zuteilen, verständlich.  Noch  augenfälliger  ist  der  spätere  Ursprung, 
falls  die  eine  Bedeutung  die  andere  unbedingt  voraussetzt.  So  wenn 
die  Gebärde  des  gehörnten  Kopfes  einerseits  eine  drohende  Gefahr, 
anderseits  aber  auch  Beschwörung  gegen  eine  solche  oder  Schutz  vor 
ihr  bezeichnet.  Hier  bilden  die  Begriffe :  Stärke,  Gefahr  (die  von  einer 
Gewalt  droht),  Schutz  gegen  Gefahr,  Bitte  um  solchen  Schutz  eine 
Begriffsreihe,  in  der  im  allgemeinen  jedes  folgende  Glied  das  voran- 
gegangene fordert,  und  die  sich  daher  nicht  wohl  anders  als  in  der 
angegebenen  Folge  entwickelt  haben  kann.  In  manchen  Fällen,  nament- 
lich bei  sekundären  Symbolen,  kann  es  freilich  auch  unsicher  bleiben, 
welche  von  zwei  Bedeutungen  früher  sei,  oder  ob  sie  sich  unabhängig 
aus  einer  und  derselben  Grundbedeutung  entwickelt  haben.  So  kann 
man  bei  jener  in  Neapel  in  so  mannigfaltigem  Sinn  gebrauchten  Ge- 
bärde des  gehörnten  Kopfes  wohl  zweifeln,  ob  von  den  Bedeutungen 
der  physischen  Stärke,  der  Drohung,  der  Gefahr  eine  früher  sei  als 
die  andere,  da  sie  alle  möglicherweise  unabhängig  voneinander  aus 
der  ursprünglichen  sinnlichen  Vorstellung  des  Stierkopfs  entstanden 
sein  können.  Wenn  endlich  dasselbe  Zeichen  als  Symbol  „ehelicher 
Untreue"  gebraucht  wird,  so  darf  man  dieses  wohl  als  eine  Über- 
tragung der  sprichwörtlichen  Redensart  ,, einem  Hörner  aufsetzen" 
in  die  Gebärde  oder  auch  als  die  pantomimische  Nachahmung  einer 
die  Untreue  symbolisierenden  Zeichnung  ansehen.  Die  Redensart 
selbst  soll  aber  aus  einem  Volksglauben  hervorgegangen  sein,  nach 
dem  die  Untreue  der  Frau  durch  ein  Hörn  angezeigt  werde,  das  ihrem 
Manne  aus  der  Stirn  wachse.  Da  der  Ursprung  dieses  Volksglaubens 
unsicher  ist  und  den  sonstigen  Anwendungen  der  gleichen  Gebärde 
wahrscheinlich  ganz  ferne  liegt,  so  läßt  sich  natürlich  nicht  entscheiden, 
welche  Bedeutung  die  ältere  sei^). 


1)  M.  Heyne  (Grimm,  Deutsches  Wörterbuch,  IV,  2,  Sp.,  1815)  führt  die 
erwähnte  Redensart  auf  eine  mittelalterliche  Legende  zurück.  Doch  hat  die 
Gebärde,  ebenso  wie  das  Sprichwort,  schon  im  Altertum  existiert.  Sittl  (Die 
Gebärden  der  Griechen  und  Römer,  S.  104)  deutet  jene  auf  die  Zweiheit  der 
Männer.  Eine  Nebenbeziehung  hierauf  mag  immerhin  vorhanden  sein,  wie  auch 
die  von  Sittl  zitierten  neapolitanischen  Sprichwörter  zu  zeigen  scheinen.     Aber 

14* 


212  Die  Gebärdensprache. 


Auf  diese  Weise  eröffnet  vor  allem  der  Übergang  nachbildender 
in  symbolische  Gebärden  und  die  daran  sich  schließende  weitere  Ent- 
wicklung die  Möglichkeit  zu  einer  wachsenden  Vieldeutigkeit.  Natür- 
lich muß  aber  diese  Zunahme  der  Bedeutungen  wesentlich  durch  die 
Veränderung  der  Bedingungen  unterstützt  werden,  die  bei  der  Tradi- 
tion bestimmter  Zeichen  durch  viele  Generationen  hindurch  eintritt. 
Darum  ist  die  Mannigfaltigkeit  der  Bedeutungen  sehr  viel  größer  bei 
den  überlieferten,  als  bei  den  neugebildeten  Formen  der  Gebärden- 
sprache. So  zählt  A.  de  Jorio  von  der  obenerwähnten  Gebärde  der 
„Mano  cornuta"  ungefähr  zwanzig  Bedeutungen  auf,  die  zum  größten 
Teil  symbolischer  Art  sind,  und  von  denen  die  meisten  wahrscheinlich 
bis  in  das  Altertum  zurückreichen^).  Indem  aber  hierbei  bestimmte 
Bedeutungen  zwar  nur  in  seltenen  Fällen  direkt,  um  so  häufiger  je- 
doch indirekt,  nach  den  vorhandenen  Abhängigkeitsverhältnissen 
der  Begriffe,  als  hervorgegangen  aus  gewissen  andern  nachgewiesen 
werden  können,  zeigt  sich  die  Gebärde  gerade  so  gut  wie  das  Wort 
einem  Bedeutungswandel  unterworfen.  Und  auch  hier  pflegt  der 
Übergang  auf  ferner  liegende  Begriffe  durch  Zwischenstufen  ver- 
mittelt zu  werden,  so  daß  der  ganze  Vorgang  als  eine  kontinuierliche 
Entwicklung  erscheint,  bei  der  die  Assoziationen,  durch  die  neue  Vor- 
stellungen mit  früheren  verbunden  werden,  den  Übergang  bewirken. 
Dabei  können  diese  Assoziationen  die  Vorstellungen  bald  durch  die 
ihnen  eigentümlichen  Inhalte,  bald  infolge  rein  äußerer,  zum  Teil 
zufälliger  Beziehungen  verbinden.  So  ist  es  sichtlich  eine  innere  Be- 
ziehung der  Vorstellungen,  wenn  die  Gebärde  der  gehörnten  Hand 
zunächst  durch  die  Assoziation  mit  der  Stärke  des  gehörnten  Tieres, 
des  Stieres,  die  physische  Stärke,  dann  durch  weitere  daran  geknüpfte 
Assoziationen  die  Gewalt  überhaupt,  die  Gefahr,  die  Bedrohung  durch 
Gefahr,  die  Beleidigung,  endlich  den  Schutz  vor  Gefahr  bedeutet. 
Dagegen  beruht  es  auf  einem  äußeren  und  darum  in  seinen  besonderen 
Wirkungen  kaum  zu  berechnenden  Spiel  von  Assoziationen,  wenn 
die  nämliche  Gebärde  durch  die  Anlehnung  an  den  Aberglauben  von 


diese  Beziehung  auf  die  Zweiheit  ist  vielleicht  selbst  eine  sekundäre,  die  erst 
aus  der  Gebärde  entstand. 

1)  A,  de  Jorio  a.  a.  O.  S.  90  ff. 


Begriffsübertragungen  und  Bedeutungswandel  der  Gebärden.  213 


der  Zeichnung  des  betrogenen  Ehegatten  durch  das  Hörn  in  das  Sym- 
bol der  ehelichen  Untreue  überging.  Darum  steht  nun  aber  auch  diese 
Bedeutung  wahrscheinlich  außerhalb  der  Keihe  der  sonstigen  Be- 
griffsentwicklungen der  gleichen  Gebärde,  falls  sie  nicht  etwa  doch 
ein  Seitensproß  aus  dem  Begriff  der  Bedrohung  sein  sollte,  der  zuerst 
in  Beschimpfung  überhaupt,  dann  in  diese  spezielle  Form  der  Be- 
schimpfung übergegangen  sein  könnte.  Doch  der  Zusammenhang 
mit  der  erwähnten  sprichwörtlichen  Redensart  macht  diese  Annahme 
wenig  wahrscheinlich.  Zugleich  zeigt  das  Beispiel,  wie  leicht  uns 
selbst  bei  der  Gebärdensprache  die  Spuren  verloren  gehen  können, 
die  den  Weg  einer  bestimmten  Bedeutungsentwicklung  sicher  erkennen 
lassen. 

Hiemach  entspricht  die  Gebärdensprache  auch  darin  dem  all- 
gemeinen Begriff  einer  Sprache,  daß  sie  keineswegs,  wie  die  von  ihr 
gerühmte  „Pasilalie"  vermuten  ließe,  überall  und  unverändert  immer 
dieselbe  bleibt.  Vielmehr  sind  Gebärden  wie  Worte  einer  Bedeutungs- 
entwicklung unterworfen,  vermöge  deren  sie  sich  den  wechselnden 
Bedürfnissen  des  Denkens  anpassen.  Es  muß  allerdings  zugestanden 
werden,  daß  auf  diesen  Bedeutungswandel  der  Gebärden  der  Besitz 
der  Lautsprache  nicht  ohne  Einfluß  ist.  Der  oben  berührte  Zusammen- 
hang gewisser  Gebärden  mit  sprichwörtlichen  Redeweisen  bietet 
dafür  einen  augenfälligen  Beleg.  Auch  ist  ja  die  Veränderung  der 
Begriffe  der  Natur  der  Sache  nach  bei  den  aus  einer  längeren  Über- 
lieferung hervorgegangenen  Formen  viel  eingreifender  als  bei  den  re- 
lativ neu  entstandenen.  Jene  sind  aber  infolge  ihrer  allgemeinen  Ent- 
wicklungsbedingungen immer  zugleich  mit  dem  Gebrauch  der  Laut- 
sprache verbunden.  Die  Annahme,  daß  in  solchen  Fällen  der  Bedeu- 
tungswandel nicht  bloß  durch  die  länger  dauernde  Tradition,  sondern 
nicht  minder  durch  die  Koexistenz  mit  der  Lautsprache  gefördert 
werde,  läßt  sich  also  nicht  abweisen.  Aber  in  beschränkterem  Um- 
fang vollziehen  sich  solche  Wandlungen  doch  auch  in  den  neuent- 
wickelten, dieses  Einflusses  fast  ganz  entbehrenden  Formen  der  Ge- 
bärdenmitteilung. Wenn  z.  B.,  wie  Tylor^)  berichtet,  in  einer  Ber- 
liner Taubstummenanstalt  einer  der  Lehrer  durch  die  Gebärde  des 


^)  Tylor,  Forschungen  über  die  Urgeschichte,  S.  29  ff. 


214  Die  Gebärdensprache. 


Armabhauens  bezeichnet  wurde,  weil  er  aus  Spandau  war,  und  eines 
der  Kinder  dort  einmal  einen  einarmigen  Menschen  gesehen  hatte, 
so  beruhte  das  offenbar  auf  einem  Bedeutungswandel,  der  zwei  Asso- 
ziationsglieder umfaßte:  erstens  war  die  nachbildende  Gebärde  für 
den  ,,Mann  mit  dem  abgehauenen  Arm"  zur  sekundären  symbolischen 
Gebärde  für  den  ,,Mann  aus  Spandau"  geworden,  und  dann  war  die 
Bedeutung  in  die  eines  „einzelnen  Mannes  aus  Spandau",  des  Lehrers, 
übergegangen.  Ähnlich,  wenn  in  der  gleichen  Anstalt  „Frankreich" 
durch  die  Gebärde  des  Kopfabschlagens  bezeichnet  wurde.  Hier  war 
—  eine  Reminiszens  aus  der  französischen  Revolutionsgeschichte  — 
der  Begriff  des  Köpfens  zuerst  auf  den  geköpften  König  Ludwig  XVL 
und  dann  von  diesem  auf  das  Land  übergegangen.  Ähnliche  Ent- 
wicklungen kommen  überall  in  der  Gebärdensprache  vor,  und  wo 
etwa  ein  und  dasselbe  Zeichen  in  mehreren  Bedeutungen  auftritt, 
da  läßt  sich  meist  auch  bei  den  Zeichen  der  Taubstummen  diese  Diver- 
genz als  die  Folge  eines  Bedeutungswandels  erkennen.  So  kann  sich 
die  Gebärde  der  über  das  Haupt  erhobenen  Hand  im  Sinne  eines  in 
geistiger  Beziehung  großen,  über  andere  hervorragenden  Mannes 
natürlich  nur  aus  der  sinnlichen  Bedeutung  des  körperlich  großen 
Mannes  entwickelt  haben.  Die  Gebärde  des  Taktschiagens  in  der 
Bedeutmig  von  Musik  oder  Gesang  kann  nur  aus  der  ursprünglicheren 
des  Taktschiagens  selbst  oder  des  den  Takt  angebenden  Dirigenten 
hervorgegangen  sein.  Ebenso  in  vielen  andern  Fällen.  Nur  umfaßt 
bei  der  neugebildeten  Gebärdensprache  der  Bedeutungswandel  be- 
greiflicherweise immer  bloß  wenige  Glieder,  während  sich  die  Erschei- 
nungen bei  den  überlieferten  Formen  weit  mehr  den  entsprechenden 
der  Lautsprache  nähern. 

Neben  der  allgemeinen  Übereinstimmung,  die  Gebärden-  und 
Lautsprache  in  diesen  Vorgängen  darbieten,  dürfen  nun  aber  auch 
die  wesentlichen  Unterschiede  nicht  übersehen  werden.  Zunächst 
ist  der  Bedeutungswandel  der  Gebärden,  sobald  er  nicht,  wie  in  den 
zuletzt  erwähnten  Beispielen,  neuesten  Ursprungs  und  einfachster 
Art  ist,  selten  direkt  in  der  Beobachtung  zu  verfolgen.  Eine  Ge- 
schichte der  Gebärden,  analog  der  Geschichte  der  Wörter,  besitzen 
wir  nicht,  da  es  auf  ihrem  Gebiet,  abgesehen  von  zufälligen  Über- 
lieferungen auf  Kunstdenkmälern   und   bei   früheren    Schriftstellern, 


Begriffsübertragungen  und  Bedeutungswandel  der  Gebärden.  215 

nichts  gibt,  was  der  literarischen  Überlieferung  entspricht.  Wo  sich 
etwa,  wie  bei  der  ,,Mano  cornuta",  mehrere  Begriffe  nebeneinander 
erhalten  haben,  da  ist  daher  im  allgemeinen  nur  nach  psychologischer 
Wahrscheinlichkeit  zu  entscheiden,  welcher  der  primäre,  und  welcher 
der  sekundäre  sei.  Sodann  ist  der  Bedeutungswandel,  so  mannig- 
fache Übertragungen  er  auch  in  einzelnen  Fällen  hervorgebracht 
hat,  doch  im  ganzen  genommen  von  beschränktem  Umfang,  und  ge- 
rade die  wichtigsten  imd  ursprünglichsten  Gebärdeformen,  die  hin- 
weisenden und  nachbildenden,  bleiben  ihm  fast  ganz  entzogen.  Ersteres 
erklärt  sich  aus  der  meist  kurzen  Lebensdauer  der  Gebärdensprache, 
letzteres  aus  dem  treuen  Festhalten  der  unmittelbar  sinnlichen  Be- 
deutung gerade  dieser  ursprünglicheren  Zeichen.  Aber  selbst  bei  den 
symbolischen  Gebärden,  die  dem  Bedeutungswandel  einen  weiteren 
Spielraum  eröffnen,  bedarf  es  offenbar  besonderer  Anlässe,  um  nach- 
einander und  nebeneinander  zahlreiche  Anwendungen  des  nämlichen 
Symbols  hervorzubringen.  So  hat  innerhalb  der  neapolitanischen 
Zeichensprache  die  gehörnte  Hand  (Fig.  26  a)  eine  sehr  viel  reichere 
Bedeutungsentwicklung  erfahren  als  die  plastische  Gebärde  des  Esels- 
kopfs (b  und  c  ebenda).  Dieser  Unterschied  ist  aber  sichtlich  davon 
abhängig,  daß  jene  schon  in  ihrer  ursprünglichen  Form,  als  der  gehörnte 
Kopf  überhaupt,  eine  umfassendere  Bedeutung  hat,  wozu  dann  spe- 
zielle kulturhistorische  Einflüsse  hinzutreten  mochten,  die  ihre  Wahl 
als  Droh-,  Spott-  und  Beschwörungsgebärde  begünstigten. 

Zu  diesen  Eigentümlichkeiten  des  Bedeutungswandels  der  Ge- 
bärden kommt  endlich  als  eine  letzte,  wohl  am  meisten  bezeichnende 
die,  daß  er  fast  überall  nicht  als  ein  bloßer  Wechsel,  sondern  als 
eine  Verzweigung  der  Bedeutungen  erscheint,  als  ein  Ansetzen 
neuer  Begriffe  an  einen  vorhandenen,  der  daneben  erhalten  bleibt. 
So  ist  von  den  zwanzig  und  mehr  Bedeutungen  der  süditalienischen 
„Mano  cornuta"  keine  einzige  erloschen.  Am  ehesten  noch  findet 
sich  die  Verdunklung  bestimmter,  dereinst  lebendig  gewesener  Vor- 
stellungen beim  Übergang  nachbildender  in  symbolische  Gebärden, 
indem  hier  die  sinnliche  Bedeutung  zur  selteneren,  manchmal  kaum 
mehr  gebrauchten  werden  kann.  Doch  pflegt  auch  in  diesen  Fällen 
die  erloschene  Bedeutung  aus  dem  Gebrauch,  aber  nicht  ganz  aus  dem 
Bewußtsein  zu  verschwinden.    So  kommt  die  Handgebärde  des  Esels- 


216  Die  Gebärdensprache. 

kopfs  (Fig.  26  h  und  c)  und  die  des  Eselsohrs  kaum  noch  in  anderem 
als  in  symbolischem  Sinne  vor;  aber  schwerlich  wird  sie  jemals  aus- 
geführt, ohne  daß  die  Vorstellung  an  den  wirklichen  Esel  im  Bewußt- 
sein anklingt.  Ja  selbst  in  den  Fällen,  wo  Beziehungen  auf  entschwun- 
dene Gebräuche  oder  unverständlich  gewordene  sprichwörtliche  Kede- 
weisen  zugrunde  liegen,  wie  bei  der  Gebärde  des  Nasendrehens,  des 
Verschluckens  einer  Lüge  (Fig.  30  e),  erhält  sich  immer  noch  die  Nei- 
gung, dem  konventionell  gewordenen  Zeichen  irgendeine  anschauliche 
Bedeutung  unterzulegen,  wenn  diese  auch  von  der  ursprünglichen 
abweichen  mag^). 


IV.  Syntax  der  Gebärdensprache. 

1.  Gebärdenfolge  der  Taubstummen. 

Man  hat  von  der  Gebärdensprache  gesagt,  sie  sei  ,,ohne  Satz, 
also  ohne  Grammatik".  Wenn  der  Taubstumme,  um  zu  sagen  ,,der 
Vater  gab  mir  einen  Apfel",  zuerst  das  Zeichen  für  „Apfel",  dann 
das  für  „Vater"  und  endlich  das  für  „ich"  mache,  ohne  ein  Zeichen 
für  „geben"  hinzuzufügen,  also:  ,, Apfel  Vater  ich",  so  sei  das  nichts 
weniger  als  ein  Satz;  denn  es  fehle  diesem  Ausdruck  eben  das,  was 
das  Wesen  des  Satzes  ausmache,  die  eigentliche  Aussage 2).  Nach 
dieser  Auffassung  würde,  da  die  einzelne  Gebärde  einem  Wort  äqui- 
valent ist,  eine  Gebärdenmitteilung  lediglich  in  einer  Summe  einzelner 
Wörter  bestehen ;  es  würde  ihr  aber  das  fehlen,  was  die  Sprache  eigent- 
lich erst  zur  Sprache  macht:  die  Verbindung  zu  einem  Ganzen,  in 
welchem  jeder  Begriff  in  einem  bestimmten  logischen  Verhältnisse 
zu  andern  Begriffen  steht. 


1)  Die  bei  dem  Bedeutungswandel  der  Gebärden  wirksamen  psychischen 
Elementarprozesse  sind  oben  nur  andeutend  berührt  worden.  Da  sie  vollständig 
mit  den  beim  Bedeutungswandel  der  Wörter  nachzuweisenden  übereinstimmen, 
so  wird  erst  bei  diesem,  der  uns  die  gleichen  Phänomene  in  viel  weiterem  Um- 
fang erkennen  läßt,  hierauf  einzugehen  sein.     (Vgl.  Kap.  VIII.) 

2)  Steinthal  in  Prutz'  und  Wolfsohns  Deutschem  Museum,  I,  S.  923. 


Gebärdenfolge  der  Taubstummen.  217 


Diese  Auffassung  von  der  ungrammatischen  Natur  der  Gebärden- 
sprache stützt  sich  teils  darauf,  daß  eine  dem  Verbalausdruck  ent- 
sprechende Gebärde  in  manchen  Fällen  hinwegbleiben  kann,  teils 
darauf,  daß  jene  formalen  Elemente,  welche  die  Subsumtion  unter 
grammatische  Kategorien  vermitteln,  hier  gänzlich  fehlen.  Der  erste 
dieser  Mängel  ist  jedoch  keineswegs  ein  allgemeiner;  er  hängt  mit 
der  Eigenschaft  der  Gebärdensprache  zusammen,  das  Selbstverständ- 
liche zu  übergehen,  und  vielleicht  fällt  der  Verbalbegriff  nicht  ein- 
mal häufiger  als  irgendein  anderer  Bestandteil  der  Rede  dieser  Lex 
parsimoniae  zum  Opfer.  Auch  in  dem  obigen  Beispiel  ,, Apfel  Vater 
ich"  wird  ein  dem  Verbum  entsprechender  Gebärdenausdruck  nicht 
immer  fehlen.  Wenn  es  eine  Bitte  enthält,  so  kann  diese  in  dem  mi- 
mischen Ausdruck  enthalten  sein,  der  die  Hinweisung  auf  das  Ich 
begleitet.  Die  Sätze  ,, Vater  gib  mir  einen  Apfel"  mid  „der  Vater  gab 
mir  einen  Apfel"  werden  also  in  diesem  Sinn  auch  bei  der  Gebärd en- 
mitteilmig  deutlich  unterschieden.  Wo  aber  je  einmal  Zweifel  über  den 
hinzuzudenkenden  Verbalbegriff  entstehen  sollten,  da  würde  der 
Taubstumme  schwerlich  versäumen,  die  Handlung  des  Gebens  selbst 
durch  eine  bezeichnende  Gebärde,  etwa  dadurch,  daß  er  mit  der  einen 
Hand  einen  imaginären,  zwischen  den  Fingern  gehaltenen  Gegenstand 
in  die  andere  legt,  auszudrücken.  Dementsprechend  hat  denn  auch 
die  Gebärdensprache  für  alle  die  Begriffe,  die  bestimmte,  die  verbalen 
Prädikate  der  Sätze  bildende  Handlungen  oder  Zustände  enthalten, 
wie  gehen,  tragen,  schlagen,  arbeiten,  lesen,  hören,  sehen  usw.,  durch- 
weg ihre  besonderen  Ausdrucksmittel.  Die  zweite  angeblich  die  Bildung 
eigentlicher  Sätze  verhindernde  Eigenschaft,  das  Fehlen  gramma- 
tischer Kategorien,  ist,  wie  wir  bereits  oben  (S.  200  f.)  gesehen  haben, 
nur  partiell  und  in  bedingter  Weise  anzuerkennen.  Partiell,  weil  ein 
absoluter  Mangel  nur  für  gewisse  abstrakte  Redeteile  zutrifft,  die 
entweder  ganz  hinwegfallen  oder  durch  konkrete  Versinnlichungen 
der  Begriffe  ersetzt  werden.  Das  mag  immerhin  eine  niedrige  Ent- 
wicklungsstufe bezeichnen;  eine  Eigenschaft,  durch  welche  die  Ge- 
bärdensprache der  Fähigkeit  zur  Satzbildung  beraubt  würde,  ist  es 
nicht.  Noch  weniger  gilt  dies  von  jenem  relativen  Mangel  grammatischer 
Unterscheidung,  wonach  die  einzelne  Gebärde  als  solche  nicht  er- 
kennen läßt,  welche  Stellung  sie  in  der  ganzen  Mitteilung  einnimmt. 


218  I^ie  Gebärdensprache. 


Denn  eben  hier  läßt  sich  die  logische  Kategorie,  der  das  einzelne  Zeichen 
zuzurechnen  ist,  aus  dem  Zusammenhang  unzweideutig  erkennen» 
Dabei  stellt  es  sich  aber  heraus,  daß  gerade  das,  was  der  Gebärden- 
sprache angeblich  fehlen  soll,  die  Verbindung  der  einzelnen  Vor- 
stellungen zu  einem  Satzganzen,  für  sie  das  Hilfsmittel  ist,  durch 
das  der  grammatische  Wert  der  einzelnen  Gebärden  bestimmt  wird. 
Hieraus  ergibt  sich  ohne  weiteres,  daß  von  einer  Syntax  der  Ge- 
bärdensprache mit  vollem  Recht  geredet  werden  kann,  insofern  eben 
S3mtaktische  Stellung  der  Wörter  und  Satz  zusammengehörige  Wechsel- 
begriffe sind.  Wo  ein  Satz  existiert,  da  muß  es  auch  bestimmte  Ge- 
setze der  Wortfügung  geben,  und  umgekehrt:  wo  diese  nachzuweisen 
sind,  da  ist  auch  der  Satz  vorhanden.  Man  muß  daher,  statt  aus  der 
indifferenten  Beschaffenheit  der  einzelnen  Gebärden  auf  das  Fehlen 
des  Satzes  zu  schließen,  vielmehr  aus  dem  Dasein  bestimmter  syn- 
taktischer Gesetze  folgern,  daß  auch  die  Gebärdensprache  nicht  bloß 
aus  einzelnen  Zeichen,  sondern  aus  Sätzen  besteht.  Ja  der  Satz  spielt 
in  ihr  sogar  eine  größere  Rolle,  insofern  er  es  ist,  der  erst  dem  einzelnen 
Zeichen  seine  grammatische  Bedeutung  verleiht.  Natürlich  lassen 
uns  aber  aus  dem  gleichen  Grunde  die  zumeist  in  der  Lautsprache 
dem  Wort  anhaftenden  Merkmale  seiner  syntaktischen  Stellung  im 
Stich,  und  wir  müssen  diese  vielmehr  aus  dem  ganzen  Zusammen- 
hang des  Gedankenausdrucks  erschließen.  Darum  kann  wohl  gelegent- 
lich die  syntaktische  Stellung  zweifelhaft  werden,  ähnlich  wie  dies 
übrigens  auch  in  der  Lautsprache  vorkommt,  namentlich  wenn  diese 
der  charakterisierenden  Flexionselemente  entbehrt.  Es  kann  z.  B. 
ungewiß  sein,  ob  ein  Gegenstandsbegriff  als  Subjekt  oder  als  Objekt 
des  Satzes,  ob  ein  verbaler  Prädikatbegriff  aktiv  oder  passiv  gedacht 
sei  u.  dgl.  Mag  nun  auch  diese  Mehrdeutigkeit  wegen  des  Mangels 
aller  Hilfsmittel  syntaktischer  Wortunterscheidung  hier  selbstverständ- 
lich größer  sein  als  in  der  Lautsprache,  so  werden  wir  doch  die  syn- 
taktischen Begriffe  der  letzteren  schon  deshalb  mit  vollem  Recht 
auch  auf  die  Gebärdensprache  übertragen  dürfen,  weil  jene  Mehr- 
deutigkeit höchstens  für  den,  an  den  sich  die  Mitteilung  richtet,  nie 
aber  für  den  Sprechenden  selbst  existiert^). 


^)  Abgesehen  von  der  hier  angedeuteten  Verwechslung  des  Redenden  und 


Gebärdenfolge  der  Taubstummen.  219 

Über  die  Aufeinanderfolge  der  Gebärden  in  der  natürlichen  Ge- 
bärdenspracbe  der  Taubstummen  besitzen  wir  nun  mehrere  Auf- 
zeichnungen von  Taubstummenlehrern  ^).  Sie  stimmen  darin  über- 
ein, daß  in  der  Regel  das  Subjekt  des  Satzes  zuerst  kommt,  entsprechend 
der  gewöhnlichen  Ordnung  in  der  Grammatik  der  Lautsprachen. 
Dagegen  trennt  sich  die  Gebärde  von  der  im  Deutschen,  Englischen, 
Französischen  und  andern  modernen  Sprachen  bevorzugten  Be- 
griffsfolge, indem  sie  das  Attribut,  sobald  es  ein  einfacher,  in  der  Sprache 
durch  ein  Adjektivum  auszudrückender  Eigenschaftsbegriff  ist,  hinter 
den  Gegenstandsbegriff  stellt,  zu  dem  es  gehört,  das  Objekt  vor  die 
Handlung,  auf  die  sie  sich  bezieht.  Von  diesen  syntaktischen  Regeln 
wird  bekanntlich  die  zweite  auch  im  Griechischen  und  Lateinischen 
befolgt,  wogegen  die  erste  hier  nicht  in  gleicher  Weise  gilt,  da  in  diesen 
Sprachen  sowohl  das  Substantivum  wie  das  Adjektivum  vorangehen 
kann,  je  nachdem  dieses  oder  jenes  stärker  betont  werden  soll.  Der 
Taubstumme  sagt  also  nicht  ,,ein  gewaltiger  Berg",  sondern  ,,ein 
Berg  ein  gewaltiger",  wo  im  Lateinischen  sowohl  mons  ingens  wie 
ingens  mons  stehen  könnte.  Und  er  sagt  nicht  ,,der  Lehrer  lobt  den 
Knaben",  sondern  ,,der  Lehrer  den  Knaben  lobt",  analog  dem  latei- 
nischen Magister  fuerum  laudat.  Einen  Satz  wie  diesen:  ,,der  zornige 
Mann  schlug  das  Kind",  würde  der  Taubstumme  folgendermaßen 
ausdrücken:  er  würde  zuerst  auf  die  Person,  die  geschlagen  hat,  hin- 


des  Zuschauers  wird  dieses  Verhältnis  zuweilen  auch  noch  durch  die  Annahme 
eines  von  dem  logischen  spezifisch  verschiedenen  psychologischen  Subjekt- 
begriff verdunkelt.  So  von  Sütterlin,  Das  Wesen  der  sprachlichen  Gebilde, 
1902,  S.  Iftf.  (Vgl.  dazu  die  Ausführungen  über  das  „psychologische  Subjekt" 
unten  Bd.  2,  Kap.  7,  III. )  Schwer  begreiflich  ist  auch  die  Behauptung  Delbrücks, 
eine  Syntax  der  Gebärdensprache  sei,  wo  sie  überhaupt  existiere,  von  der  Laut- 
sprache  aus  eingedrungen  (Grundfragen  der  Sprachforschung,  S.  69).  Die  Tat- 
sachen beweisen  genau  das  Gegenteil;  und  wenn  Delbrück  selbst  einmal  versucht 
hätte,  sich  in  der  Gebärdensprache  zu  üben  —  was  nicht  allzu  schwer  ist  — , 
so  würde  ihm  kaum  entgangen  sein,  daß  die  unten  (3)  zu  erörternden  psycholo- 
gischen Bedingungen  der  Aneinanderreihung  der  Gebärden  mit  unwidersteh- 
licher Gewalt  dieser  ihre  eignen,  von  der  Lautsprache  unabhängigen  Wege  an- 
weisen. Vgl.  hierzu  meine  Schrift:  Sprachgeschichte  und  Sprachpsychologie, 
S.  41  ff. 

^)  Schmalz,  Über  die  Taubstummen  und  ihre  Bildung,  ^  S.  266  ff.     Scott, 
The  Deaf  and  Dumb,   2  p.  134  ff. 


220  I^i®  Gebärdensprache. 


weisen,  oder  sie  auf  andere  Weise  andeuten,  dann  den  mimisclien 
Ausdruck  des  Zornes  annehmen,  hierauf  die  Gebärde  für  Kind  durch 
Wiegen  des  einen  Armes  auf  dem  andern  ausführen,  oder,  wenn  das 
Kind  anwesend  ist,  wiederum  auf  dasselbe  hinweisen,  und  endlich 
mit  der  Gebärde  des  Schiagens  den  Satz  beschließen,  also,  da  Tem- 
pora und  Kasus  durch  die  Gebärde  nicht  angegeben  werden:  ,,Mann 
zornig  Kind  schlagen".  Bezeichnen  wir  die  grammatischen  Kate- 
gorien des  Subjekts,  des  Objekts,  des  Adjektivums  und  Verbums 
durch  ihre  Anfangsbuchstaben,  und  deuten  wir  die  Verbindungen 
der  Begriffe  durch  verbindende  Bogenlinien  an,  so  ist  demnach  die 
Struktur  des  Satzes  in  der  Gebärdensprache  die  nachstehende: 

Sie  ist  in  der  Stellung  von  Subjekt  und  Prädikat  übereinstimmend, 
sonst  aber  in  jeder  Beziehung  entgegengesetzt  der  in  der  Grammatik 
der  modernen  Sprachen  befolgten  Ordnung: 

Treten  zu  dem  Verbum  noch  adverbiale  Bestimmungen,  so  folgt  die 
Gebärdensprache  der  nämlichen  Begel  wie  bei  dem  Substantiv:  der 
•adverbiale  Begriff  steht  hinter  dem  Verbum,  zu  dem  er  gehört,  wenn 
er  nicht,  was  gerade  bei  den  abstrakteren  Adverbien  nicht  selten  vor- 
kommt, unmittelbar  durch  die  den  Verbalausdruck  vertretende  Ge- 
bärde selbst  angedeutet  wird,  indem  die  Art  der  Ausführung  dieser 
ein  anschauliches  Ersatzmittel  des  Adverbs  ist.  So  wird  der  Aus- 
druck: ,,er  schlug  heftig"  durch  die  energische  Bewegung,  oder  der 
andere:  ,,er  schlug  oft"  durch  die  mehrmalige  Wiederholung  des 
Schiagens  wiedergegeben.  In  manchen  Fällen,  wenn  die  Handlung 
pantomimisch  durch  Arm  und  Hand,  die  nähere  Bestimmung  durch 
den  mimischen  Gesichtsausdruck  angedeutet  wird,  wie  in  den  Ver- 
bindungen: „er  schlug  ihn  zornig",  ,,er  winkte  ihm  freundlich",  können 
sich  verbaler  und  adverbialer  Begriff  vollkommen  simultan  begleiten; 


Gebärdenfolge  der  Taubstummen.  221 

und  das  ähnliche  kann  dann  natürlich  auch  bei  dem  Substantivum 
und  seinen  attributiven  Bestimmungen  stattfinden.  Einen  Satz  wie 
diesen:  „er  redete  laut"  oder  „seine  Stimme  verbreitete  sich  weit" 
würde  der  Taubstumme  so  ausdrücken,  daß  er  zuerst  die  Gebärde 
des  Sprechens,  dann  eine  Bewegung  vom  Munde  aus  nach  auswärts 
machte  und  hierauf  mit  beiden  Händen  einen  weiten  Kreis  beschriebe. 
Ein  vollständiger  Satz  der  Gebärdensprache  würde  also,  wenn  wir  außer 
den  oben  angewandten  Symbolen  noch  das  Zeichen  A'  für  adver- 
biale Bestimmungen  einführen,  folgendermaßen  gebaut  sein: 


S     Ä    0     V     A' 

Dieses  Schema  der  Hauptbestandteile  des  Satzes  verkürzt  sich 
natürlich,  wenn  einzelne  der  Unterglieder  hin  wegfallen.  Es  kann 
sich  aber  auch  erweitern,  wenn  etwa  mehrere  attributive  Bestim- 
mungen oder  mehrere  Objektbegriffe  die  Zusammensetzung  steigern. 
Von  besonderem  Interesse  ist  unter  diesen  Komplikationen  diejenige 
Verbindung  zweier  Gegenstandsbegriffe,  die  ein  Besitz-  oder  sonstiges 
Zugehörigkeitsverhältnis  bezeichnet,  wie  es  in  der  Lautsprache  durch 
den  Genitiv  ausgedrückt  wird.  Wo  eine  solche  Verbindung  vorkommt, 
da  folgt  zumeist  der  attributive  Gegenstandsbegriff  nicht,  wie  die 
Eigenschaft,  dem  Hauptbegriff  nach,  sondern  er  geht  ihm  voran. 
Der  Taubstumme  sagt  also  „Mann  zorniger",  aber  ,,der  Kirche  Turm", 
entsprechend  der  in  imserer  deutschen  Wortzusammensetzung  ein- 
getretenen Folge  „Kirchturm":  er  drückt  etwa  zuerst  durch  die  Zeich- 
nung eines  Daches  mit  darauf  gesetztem  Kreuz  die  Kirche,  und  dann 
durch  die  Erhebung  beider  Arme  mit  abermals  darüber  gezeichnetem 
Dache  den  Turm  aus.  Dabei  sind  alle  diese  Kegeln  offenbar  natür- 
liche Ergebnisse  der  Eigenart  der  Gebärdensprache,  nicht  im  geringsten 
konventionelle  Formen.  Sie  treten  überall  in  derselben  Weise  auf, 
wo  Taubstumme  untereinander  oder  mit  Hörenden  verkehren.  Sie 
befestigen  sich  aber  dann  allerdings  auch  durch  den  Gebrauch,  so  daß 
sie  der  Taubstumme,  der  in  der  Lautsprache  unterrichtet  wird,  nicht 
selten  auf  diese  überträgt,  ebenso  wie  er  noch  längere  Zeit  die  Neigung 
bewahrt,  auf  Flexionsformen  zu  verzichten  und  die  Umschreibungen, 


222  I^ie  Gebärdensprache. 


deren  die  Gebärdensprache  bedarf,  in  der  Lautspiache,  wo  sie  über- 
flüssig sind,  anzuwenden.  So  sagt  er  etwa  im  Anfang  des  Unterrichts: 
„Lehrer  Garten  gehen^'  statt:  ,,der  Lehrer  ist  in  den  Garten  gegangen", 
oder:  „Lehrer  klug,  schreiben,  lesen,  arbeiten"  statt  einfach:  „der 
Lehrer  ist  klug  und  fleißig".  Statt  „der  Regen  macht  das  Land  frucht- 
bar" schrieb  ein  Taubstummer:  ,,der  Regen  fällt,  die  Pflanzen  wachsen", 
statt  ,,ich  muß  meinen  Lehrer  lieben  und  achten"  ein  anderer  ,,ich 
schlage,  betrüge,  schimpfe  nicht  Lehrer,  ich  liebe  und  ehre".  Neben 
diesen  verdeutlichenden  Umschreibungen  ist  noch  lange  Zeit  der 
Mangel  der  Konjunktionen  und  des  Relativpronomens  bezeichnend. 
Die  blinde  und  taubstumme  Laura  Bridgman  schrieb,  als  sie  sich 
schon  des  Verbum  substantivum  bedienen  gelernt  hatte,  noch  die 
Definitionen  nieder:  ,, Witwe  ist  Frau,  Mann  tot  und  kalt",  ,, Jung- 
gesell nicht  haben  Weib".  Alle  diese  Erscheinungen  zeigen,  daß  sich 
in  dieser  Beziehung  die  Gebärdensprache  nicht  anders  verhält  wie 
jede  andere  Sprache.  Die  eingeübte  Sprachform  ist  nicht  bloß  ein 
äußeres  Gewand  des  Gedankens,  sondern  sie  beeinflußt  diesen  selbst, 
so  daß  sie  sich  zunächst  jede  neu  angeeignete  Sprachform  Untertan 
macht  1). 

Übrigens  können  in  der  Gebärdensprache  der  Taubstummen 
von  der  regelmäßigen  syntaktischen  Folge  auch  mannigfache  Ab- 
weichungen stattfinden.  Dies  gilt  schon  für  die  Stellung  der  Haupt- 
glieder des  Satzes,  Subjekt  und  Prädikat,  indem  die  Prädikatvor- 
stellung da,  wo  sie  sich  mit  besonderer  Intensität  dem  Bewußtsein 
aufdrängt,  auch  im  Ausdrucke  dem  Subjekt  vorangehen  kann.  Wünscht 
z.  B.  der  Stumme  Wasser  zu  trinken,  so  wird  er,  wenn  die  Begierde 
nach  dem  Trünke  sehr  lebendig  ist,  zuerst  das  Wasser  andeuten,  in- 
dem er  etwa  das  Pumpen  am  Brunnen  und  das  Vorhalten  eines  Gefäßes 
nachahmt,  dann  die  Gebärde  des  Trinkens  machen  und  zuletzt  auf 
sich  selbst  hinweisen:   ,, Wasser  trinken  ich",    also  in  Zeichen  aus- 


^)  Über  die  allmähliche  Aneignung  der  Formen  der  Lautsprache  durch 
Taubstumme  während  des  Unterrichts  hat  namentlich  der  selbst  taubstumme 
Kruse  eine  große  Zahl  von  Beobachtungen  gesammelt.  (Kruse,  Über  die  Taub- 
stummen, 1853,  S.  56  ff.  Vgl.  auch  Steinthal  a.  a.  O.  S.  923  ff.)  Über  die  Sprache 
der  blinden  Taubstummen  Laura  Bridgman  vgl.  W.  Jerusalem,  Laura  Bridgman, 
1890,  S.  41  ff. 


Gebärdenfolge  der  Indianer.  223 

gedrückt:  GVS,  nicht  S  0  V.  Augenscheinlich  hat  demnach  die  ge- 
wöhnliche Folge  nicht  die  Bedeutung  eines  unabänderlich  wirken- 
den Gesetzes,  sondern  sie  ordnet  sich  selbst  einem  allgemeineren  psy- 
chologischen Prinzip  unter,  nach  welchem  die  Vorstellung,  die  sich 
zuerst  zur  Apperzeption  drängt,  immer  auch  zuerst  durch  die  Ge- 
bärde ausgedrückt  wird.  Die  Folge  S  Ä  O  V  ist  aber  offenbar  die- 
jenige, die  diesem  Prinzipe  der  bevorzugten  Apperzeption  am  häufigsten 
entspricht. 


2.  Gebärdenfolge  der  Indianer. 

Diese  Folgerung  wird  durch  die  Tatsache  bestätigt,  daß  jene 
Form  der  Gebärdensprache,  die  allein  noch  in  bezug  auf  ihre  Syn- 
tax durch  die  Bemühungen  der  amerikanischen  Ethnologen  genauer 
bekannt  geworden  ist,  die  der  nordamerikanischen  Indianer,  der  Ge- 
bärdensprache der  Taubstummen  in  jenen  Eigenschaften  im  wesent- 
lichen gleicht.  Diese  Übereinstimmung  fällt  um  so  mehr  ins  Gewicht, 
da  die  Lautsprachen,  die  den  Verbreitungsgebieten  dieser  verschiedenen 
Entwicklungsformen  der  Gebärdensprache  angehören,  eine  völlig 
abweichende  Struktur  besitzen. 

Für  das  Studium  der  Syntax  der  indianischen  Gebärdensprache 
bietet  die  von  G.  Mallery  mitgeteilte  Sammlung  von  Redensarten, 
Unterredungen  und  Erzählungen  ein  reiches  Material,  aus  dem  hier 
nur  einige  kurze  Beispiele  angeführt  werden  sollen^).  Um  zu  fragen, 
,,wo  ist  deine  Mutter?"  macht  der  Indianer  zuerst  die  Gebärde  für 
„Mutter",  indem  er  den  Zeigefinger  der  linken  Hand  in  den  Mund 
steckt,  ein  Zeichen,  das  in  anderer  Verbindung  auch  „Kind"  be- 
deuten könnte,  dann  durch  Hinweisung  mit  dem  rechten  Zeigefinger 
auf  den  Angeredeten  das  Zeichen  für  „du".  Hierauf  hält  er  Zeige- 
und  Mittelfinger  ausgespreizt  vor  das  Auge  und  bewegt  sie  in  den 
Raum  hinaus,  für  ,, sehen".  Dann  macht  er  durch  eine  hinwegweisende 
Bewegung  mit  der  rechten  Hand  bei  abwärts  gekehrter  Handfläche 
das  Zeichen  für  „nicht",  und  endlich  blickt  er  fragend  den  Angeredeten 


1)  Mallery  a.  a.  0.  S.  479  ff. 


224  Die  Gebärdensprache. 


an,  indem  er  sicli  rings  umsieht:  ,, Mutter  deine  sehen  nicht  wo?" 
Der  Begriff  ,, Mutter"  ist  offenbar  Subjekt  dieses  Satzes.  Daß  wir 
das  Wort  bei  der  gewählten  Konstruktion  in  das  Objekt  verwandeln, 
ist  unwesentlich,  wir  könnten  dem  Satz  auch  die  Form  geben:  ,, deine 
Mutter  wird  nicht  von  mir  gesehen,  wo  ist  sie  V  Demnach  ist  >S  ^  V  A' 
die  Ordnung  der  Begriffe.  Zugleich  zeigt  dieses  Beispiel  deutlich, 
wie  bei  der  Gebärdensprache  wegen  der  größeren  Unbestimmtheit 
der  einzelnen  Zeichen  und  der  daraus  entstehenden  Gewohnheit,  eine 
Gebärde  wenn  nötig  durch  eine  andere  zu  erläutern,  das  einzelne 
Zeichen  zumeist  erst  durch  den  Zusammenhang  der  Rede  seinen  Be- 
griffsinhalt gewinnt.  So  erhält  die  erste  der  angeführten  Gebärden 
die  Bedeutung  ,, Mutter"  erst  durch  die  folgende  Hinweisung  auf 
den  Angeredeten;  in  anderm  Zusammenhang  könnte  sie  ebensogut 
heißen:  ,,als  du  ein  Kind  (eigentlich  ein  Säugling)  warst".  Die  Schluß- 
gebärde würde  in  anderem  Zusammenhang  auch  ,, überall"  bedeuten 
können:  durch  das  Vorangegangene  und  den  begleitenden  Gesichts- 
ausdruck verwandelt  sie  sich  in  die  Frage  ,,wo".  Den  Satz  ,,ich  will 
in  zwei  Tagen  nach  Hause  gehen"  drückte  ein  Indianer  folgender- 
maßen aus.  Zuerst  wurden  beide  Hände  mit  der  Handfläche  nach 
abwärts  in  der  Höhe  der  Ellbogen  horizontal  hin  und  her  bewegt  und 
dann  die  rechte  über  die  linke  gelegt:  Zeichen  für  ,, Nacht"  (eigentlich 
eine  Verbindung  der  Zeichen  für  „Himmel"  und  ,, Decke").  Hierauf 
wurden  Zeige-  und  Mittelfinger  in  die  Höhe  gehoben:  Zeichen  für 
,,zwei";  mit  dem  Zeigefinger  der  Rechten  gegen  die  eigene  Brust  ge- 
zeigt: „ich";  nun  wies  derselbe  Finger  ausgestreckt  auf  den  Weg  hin: 
,, gehen".  Endlich  wurde  die  geballte  rechte  Faust  gegen  den  Boden 
herabbewegt,  auf  dem  der  Redende  stand:  ,, Heimat".  Also  wört- 
Uch:  ,, Nacht  zwei  ich  gehen  Heimat".  Seinem  Sinne  nach  läßt  sich 
dieser  Satz  in  zwei  Sätze  zerlegen,  in  deren  erstem  das  Prädikat 
unterdrückt  worden  ist:  ,,zwei  Nächte  (werden  vergehen)" 
„(dann  werde)  ich  (in  meine)  Heimat  gehen",  mit  der  Begriffsfolge 
S  A  (7),  S  V  A'. 

Schließlich  mag  hier  als  ein  etwas  verwickelteres  Beispiel  noch 
ein  Satz  aus  einer  Erzählung  eines  Mescaleroindianers,  zum  Volke 
der  Apachen  gehörend,  angeführt  werden.  Der  Satz  lautet  in  der 
Übersetzung:  ,, Weiße  Soldaten,  die  von  einem  Offizier  von  hohem 


Gebärdenfolge  der  Indianer.  225 

Rang,  aber  geringer  Intelligenz  geführt  wurden,  nahmen  die  Mes- 
caleroindianer  gefangen."  Die  Aufeinanderfolge  der  Zeichen  ist  die 
folgende:  1.  „Soldaten":  die  Daumen  werden  an  die  beiden  Schläfen 
gesetzt,  die  Zeigefinger  vorwärts  gerichtet,  auf  der  Stirn  aneinander 
stoßend,  die  übrigen  Finger  geschlossen  (Nachahmung  eines  soldatischen 
Mützenschildes),  2.  „Haar":  Berührung  des  eigenen  Haares,  3.  „weiß": 
Berührung  der  Zähne,  4.  ,, Offizier":  Berührung  der  Spitze  der  Schulter 
(Andeutung  der  Achselstücke),  5.  „hochgestellt":  Erhebung  beider 
Hände  über  den  Kopf  (dieselbe  Gebärde  wie  für  Häuptling),  6. ,, töricht" : 
der  Zeigefinger  berührt  die  Stirn  und  wird  dann  um  Gesicht  und  Kopf 
herumgeführt  (das  übliche  Zeichen  für  närrisch  oder  dumm),  7.  ,,Mes- 
caleroindianer" :  die  Hände  werden  von  den  Schenkeln  zum  Körper 
hinaufgezogen,  dann  auf  die  eigene  Brust  gedeutet  (die  erste  Gebärde 
Andeutung  der  Mokassins,  der  eigentümlichen  Fußbekleidung  der 
Indianer,  die  zweite  auf  den  Stamm  des  Redenden  hinweisend), 
8.  ,, gefangen":  die  beiden  Hände  werden  einander  genähert,  mit  den 
Handflächen  einander  zugekehrt,  dann  beide  Daumen  und  Zeige- 
finger zu  einem  Kreise  geschlossen  (zeichnende  Gebärde  für  gefaßt 
und  eingeschlossen).  Also:  ,, Soldaten  (deren)  Haar  weiß  (unter  einem) 
Offizier  hochgestellt  (aber)  töricht  die  Mescaleroindianer  (nahmen) 
gefangen".  Dies  entspricht  genau  der  Folge:  S  Ä  O  V,  nur  zerfällt 
das  hier  mit  dem  Symbol  Ä  bezeichnete  Attribut  des  Subjektbegriffs  S 
in  mehrere  attributive  Bestimmungen  von  verschiedener  Ordnung, 
für  deren  Verbindung  wieder  im  wesentlichen  die  nämlichen  Regeln 
gelten  wie  für  die  Hauptbegriffe.  Das  nähere  Attribut  zu  S  (den  Sol- 
daten) ist  weißhaarig,  nach  der  Regel  S  A  (Haar  weiß)  zusammen- 
gesetzt; das  fernere  und  daher  nachfolgende  ist  der  Offizier,  zu  dem 
eine  entsprechende  Präposition  hinzuzudenken  ist  (unter  einem 
Offizier),  und  dem  wieder  zwei  Attribute  (hochgestellt,  töricht) 
nach  der  Regel  S  A  beigefügt  sind.  Aus  allem  diesem  erhellt, 
daß  die  Gebärdensprache  der  Indianer  in  der  Aufeinanderfolge 
der  einzelnen  Zeichen  durchaus  mit  der  Taubstummensprache 
übereinstimmt. 


Wund  t,  Völkerpsychologie,    I.    4.  Aufl.  15 


226  I^i®  Gebärdensprache. 


3.  Psychologische  Ursachen  der  Gebärdensyntax. 

Daß  eine  Regelmäßigkeit,  die  unter  so  abweichenden  Verhält- 
nissen wiederkehrt,  allgemeingültige  Ursachen  habe,  läßt  sich  nicht 
wohl  bezweifeln.  Auch  wird  man  von  vornherein  zugestehen,  daß 
diese  Ursachen  psychologische  sein  müssen,  mögen  sie  nun  als  solche 
mit  den  allgemeinen  Gesetzen  des  Vorstellungsverlaufs  zusammen- 
hängen, wie  man  das  bei  der  von  Laut-  wie  Gebärdensprache  bevor- 
zugten Voranstellung  des  Subjekts  vor  dem  Prädikat  wohl  vermuten 
wird,  oder  mögen  sie  aus  den  besonderen  Verhältnissen  der  Gebärden- 
mitteilung ihren  Ursprung  nehmen. 

Die  Syntax  der  Gebärden  läßt  sich  nun  zunächst,  wie  jede  Syn- 
tax, auf  drei  Prinzipien  zurückführen,  die  wir  kurz  als  die  Prinzipien 
der  logischen,  der  zeitlichen  und  der  räumlichen  Abhängig- 
keit bezeichnen  können.  Wirken  diese  drei  in  gleichem  Sinne,  so  ist 
damit  auch  die  Stellung  der  Begriffszeichen  unweigerlich  bestimmt. 
Wirken  sie  aber,  wie  es  häufig  vorkommt,  in  verschiedenem  Sinne, 
so  kann  bald  der  eine,  bald  der  andere  Einfluß  das  Übergewicht  ge- 
winnen. Hierbei  ist  es  nun  eine  charakteristische  Eigenschaft  der 
Gebärdensprache,  daß  bei  ihr  die  zeitliche  und  die  räumliche  Ab- 
hängigkeit, die  wir  beide  zusammen  auch  die  anschauliche  nennen 
können,  von  überwiegender  Wirkung  sind.  Diese  Eigenschaft  läßt 
sich  wieder  aus  zwei  andern  unschwer  begreifen.  Die  erste  besteht 
in  der  sinnlichen  Anschaulichkeit  und  unmittelbaren  Verständlich- 
keit der  einzelnen  Zeichen,  was  notwendig  auch  auf  ihre  Anordnung 
herüberwirken  muß;  die  zweite  in  der  im  Verhältnis  zur  Schnellig- 
keit der  Lautsprache  sehr  viel  langsameren  Aufeinanderfolge  der 
Zeichen,  eine  SchwerfäUigkeit  der  Bewegung,  die  noch  durch  die  oft 
sich  einstellende  Notwendigkeit  erläuternder  Hilfsgebärden  ver- 
größert wird. 

Diese  Bedingungen  bewirken  es,  daß  gerade  diejenige  syntaktische 
Regel,  die  am  meisten  die  logische  Abhängigkeit  der  Bestandteile 
des  Satzes  zur  Geltung  bringt,  die  Regel  des  voranstehenden  Sub- 
jekts, in  der  Gebärdensprache  zwar  im  allgemeinen  befolgt,  aber 
auch  am  leichtesten  verletzt  wird.  Dabei  kommt  zugleich  in  Betracht, 
daß  überall  da,  wo  das  Prädikat  ein  Objekt  enthält,  dieses  durch  eine 


Psychologische  Ursachen  der  Gebärdensyntax.  227 

nur  unerhebliche  Verschiebung  der  Vorstellungen  auch  als  Subjekt 
gedacht  werden  kann,  und  daß  eine  Gebärdenfolge,  die  einem  einzigen 
Satze  der  gesprochenen  Rede  äquivalent  ist,  nicht  selten  nach  dem 
Sinn  des  Gedankens  angemessener  als  eine  Aneinanderreihung  von 
zwei  oder  mehr  Sätzen  betrachtet  werden  muß.  Gerade  in  solchen 
Fällen,  wo  die  Stellung  des  Subjekts  zum  Prädikat  sich  umkehrt, 
wird  aber  meist  eine  solche  Zerlegung  gefordert.  So  kann  wohl  der 
Taubstumme  statt  der  Folge  „der  Mann  der  zornige  das  Kind  er  schlug" 
auch  die  andere  wählen:  „das  Kind  er  schlug  der  Mann  der  zornige". 
Aber  wir  können  hier  ebensogut  und  wahrscheinlich  im  Geiste  der 
Gebärdensprache  zutreffender  interpretieren:  „das  Kind  wurde  ge- 
schlagen, der  Mann  war  zornig".  Dem  entspricht  es  in  der  Tat,  daß 
solche  scheinbare  Umkehrungen  der  Stellung  von  Subjekt  und  Prädi- 
kat vorzugsweise  in  lebhafter,  affekterregter  Rede  vorkommen,  unter 
Bedingungen  also,  die  ebensowohl  zur  besonderen  Betonung  und  darum 
Voranstellung  der  Handlungen,  von  denen  berichtet  wird,  heraus- 
fordern, wie  zur  Zerlegung  der  Rede  in  kleinere  Teile,  deren  jeder 
ein  abgeschlossenes,  aber  rasch  vorübergehendes  Bild  vor  die  Seele 
ruft,  —  ganz  wie  die  einzelnen  Momente  des  Affekts  selbst  rasch  einan- 
der ablösen.  Daher  diese  beiden  Eigenschaften,  die  Voranstellung 
des  Prädikats  und  der  Abfluß  der  Rede  in  kleinen,  den  Zusammen- 
hang der  Gedanken  in  seine  einzelnen  Momente  zerlegenden  Sätzen, 
auch  in  der  Lautsprache  dem  Affekt  eigen  zu  sein  pflegen.  In  der 
Gebärdensprache  führt  aber,  da  ihr  eine  von  der  syntaktischen  Stellung 
unabhängige  grammatische  Charakteristik  der  einzelnen  Vorstellungs- 
zeichen fehlt,  die  Koexistenz  dieser  beiden  Eigenschaften  der  affekt- 
vollen Rede  notwendig  dazu,  daß  ein  Satz,  in  welchem  das  Objekt 
mit  dem  zugehörigen  verbalen  Prädikat  voransteht,  immer  als  eine 
Aufeinanderfolge  zweier  Sätze  mit  zwei  verschiedenen  Subjekten 
gedeutet  werden  kann.  Dazu  tritt  noch  eine  weitere  Tatsache  für 
diese  letztere  Deutung  entscheidend  ein:  die  Gebärdensprache  kennt 
die  Voranstellimg  des  Prädikats  nur  in  dem  Fall,  wo  dieses  neben 
dem  Verbal-  zugleich  einen  Objektbegriff  enthält,  der  eben  als  das 
Subjekt  zu  jenem  gedacht  wird.  Sie  kennt  jene  Voranstellung  nicht 
bei  rein  verbalen  Prädikaten.  So  würde  es  nicht  oder  doch  nur  unter 
besonderen,  durch  das  Vorangegangene  gerechtfertigten  Bedingungen 

15* 


228  Die  Gebärdensprache. 


möglich  sein,  zu  sagen  ,,es  schoß  der  Jäger"  statt  ,,der  Jäger  schoß", 
„es  weinte  das  Kind"  statt  ,,das  Kind  weinte".  Auch  erkennt  man 
leicht,  sobald  man  sich  nur  den  Ausdruck  eines  solchen  Satzes  in  Ge- 
bärden vergegenwärtigt,  den  Grund,  aus  dem  jene  in  der  Lautsprache 
immerhin  nicht  seltenen  Begriffsfolgen  in  der  Gebärdensprache  un- 
möglich sind.  Hier  ist  es  eben  das  Gebot  der  Anschaulichkeit,  das 
ihnen  um  so  mehr  widerstreitet,  je  mehr  jede  einzelne  Gebärde  durch 
die  Langsamkeit  der  Aufeinanderfolge  in  gewissem  Grad  als  eine 
selbständige  Vorstellung  aufgefaßt  werden  muß.  Die  Bewegungen 
des  Schießens,  des  Weinens  für  sich  ausgeführt,  noch  bevor  klar  ist, 
auf  wen  sie  bezogen  werden  sollen,  würden  gewissermaßen  in  der  Luft 
schweben.  Um  überhaupt  in  ihrem  Verhältnis  zum  Ganzen  des  Ge- 
dankens begriffen  zu  werden,  bedürfen  sie  der  Gegenstands vorstellmig, 
auf  die  sie  sofort  bezogen  werden  können,  und  die  ihnen  daher  auch 
in  der  äußeren  Folge  der  Gebärdezeichen  vorangeht. 

Wie  auf  solche  Weise  die  mit  der  logischen  Verbindung  der  Be- 
griffe übereinstimmende  Stellung  der  beiden  Hauptteile  des  Satzes 
im  allgemeinen  zugleich  den  Bedingungen  der  Anschaulichkeit  ent- 
spricht, so  ist  es  nun  auch  vor  allem  diese  letztere,  die  alle  andern 
syntaktischen  Erscheinungen  in  der  Gebärdensprache  beherrscht. 
Dabei  ist  das  Prinzip  der  zeitlichen  Anschaulichkeit  für  die  Auf- 
einanderfolge der  größeren  Zusammenhänge,  das  der  räumlichen 
für  die  engeren  Verbindimgen  innerhalb  eines  einzelnen  Satzes  vor- 
zugsweise bestimmend.  Die  Gebärdensprache  berichtet  Ereignisse 
genau  in  der  Folge,  in  der  sie  erlebt  wurden.  Sie  beschreibt  Gegen- 
stände genau  in  der  Ordnung,  in  der  sich  ihre  Teile  der  Beobachtung 
aufdrängen.  Darum  weiß  sie  in  der  Regel  nichts  von  jenen  Umstellungen, 
welche  die  ausgebildete  Lautsprache  um  bestimmter  logischer  Zwecke 
willen  vornimmt.  Schon  der  Umstand,  daß  ihr  die  abstrakten  Wort- 
formen, besonders  die  Konjunktionen  fehlen,  macht  es  für  sie  not- 
wendig, die  Zeitbestimmungen  durch  das  einfachste  und  zugleich 
anschaulichste  Hilfsmittel  auszudrücken:  dadurch,  daß  die  Zeitfolge 
der  Gebärden  eine  Nachbildung  der  Zeitfolge  der  Ereignisse  ist.  Zu 
dieser  Folge  wird  sie  aber  schon  deshalb  gedrängt,  weil  die  einzelnen 
Gebärden  in  ihren  wichtigsten  Formen  selbst  Nachbildungen  auf- 
einander folgender  Handlungen  sind.     So  überträgt  das  Prinzip  der 


Psychologische  Ursachen  der  Gebärdensyntax.  229 


zeitlichen  Anscliaulichkeit  nur  eine   Eigenschaft  der   einzelnen    Ge- 
bärden auf  deren  Zusammenhang. 

In  anderer  Weise  ist  dieses  Prinzip  für  die  Verbindung  der  attri- 
butiven Bestimmungen  mit  dem  Substantivbegriff  sowie  für  die  ana- 
loge Verbindung  der  Verbalvorstellung  mit  ihrem  Objekt  maßgebend. 
Hier  sind  die  zwei  zusammengehörigen  Begriffe  so  eng  aneinander 
gebunden,  daß  sie  in  der  wirklichen  Anschauung  überhaupt  niemals 
in  zeitlicher  Folge  apperzipiert  werden  können.  Das  Attribut  ist  im 
allgemeinen  gleichzeitig  mit  dem  Gegenstand;  denn  es  gehört  selbst 
zu  den  Merkmalen,  an  denen  dieser  erkannt  wird.  Das  Objekt  ist 
gleichzeitig  mit  der  Handlung,  von  der  es  leidet,  und  diese  ist  in  dem 
gegebenen  Zusammenhang  gar  nicht  ohne  das  Objekt  zu  denken. 
Nun  kann  aber  die  Gebärdensprache  noch  weniger  als  die  Lautsprache 
die  simultanen  Verbindungen  der  Begriffe  durch  einen  simultanen 
Ausdruck  darstellen.  Vielmehr  bleiben  gerade  bei  ihr  wegen  der  Lang- 
samkeit ihrer  Zeichenfolge  auch  die  zusammengehörigen  Begriffe 
zeitlich  weiter  getrennt.  Um  so  mehr  ist  es  daher  Bedingung  der  An- 
schaulichkeit, daß  diejenige  Vorstellung  vorangeht,  die  nötigenfalls 
ohne  die  andere  gedacht  werden  kann,  und  daß  diejenige  nachfolgt, 
die  in  der  gegebenen  Gedankenverbindung  der  andern  bedarf.  Alle 
diese  Beziehungen,  die  attributiven  wie  die  objektiven,  lassen  sich 
aber  in  eine  konstantere  selbständige  und  in  eine  variablere  abhängige 
Vorstellung  zerlegen.  So  ist  in  der  Verbindung  „ein  großes  Haus" 
das  Haus  die  festere  und  selbständige,  die  Größe  die  variablere  und 
abhängige  Vorstellung:  das  Haus  läßt  sich  noch  mit  vielen  andern 
Eigenschaften  denken,  die  Größe  ist  stets  an  einen  Gegenstand,  in 
diesem  Fall  an  das  Haus  gebunden.  Ebenso  ist  in  dem  Prädikat  des 
Satzes  ,,der  Baumeister  baut  das  Haus"  wiederum  das  Haus  eine 
selbständig  zu  denkende  Vorstellung,  doch  die  Handlung  des  Bauens 
kann  nicht  vorgestellt  werden  ohne  den  Gegenstand,  der  gebaut  wird. 
Auf  diese  Weise  sind  die  beiden  Regeln  der  Stellung  des  Adjektivs 
hinter  dem  Substantiv  und  des  Verbums  hinter  dem  Objekt  einer- 
seits einfache  Folgen  der  realen  Koexistenz  des  Gegenstandes  und 
seiner  Eigenschaften,  der  Handlung  und  ihres  Objekts.  Anderseits 
entspringen  sie  aus  der  relativen  Langsamkeit  der  Gebärdenfolge, 
welche  die  Forderung  mit  sich  führt,  jede  einzelne  Gebärde  sei  derart 


230  Die  Gebärdensprache. 


in  den  Zusammenhang  der  Rede  einzufügen,  daß  sie  für  sich  allein 
oder  in  ihrer  Beziehung  auf  vorangegangene  Gebärden  unmittelbar 
verständlich  ist.  Dies  verhält  sich  in  der  Lautsprache,  in  der  ein  Sub- 
stantiv und  sein  Attribut,  ein  Verbum  und  sein  Objekt  im  Fluß  der 
Rede  vollständig  zu  einer  Worteinheit  verbunden  sein  können,  wesent- 
lich anders.  Verbindungen  wie  mons  ingens  und  ingens  mons,  puerum 
laudat  und  laudat  puerum  sind  beide  für  unser  Denken  simultanen 
Verbindungen  äquivalent.  Bei  der  Gebärdensprache,  wo  sich  jeder 
Begriff  selbständiger  vom  andern  abhebt,  würde  eine  Gebärde,  die 
erst  durch  eine  folgende  ihre  Stellung  im  Satz  erhielte,  leicht  eine  un- 
erträgliche Hemmung  im  Flusse  der  Vorstellungen   erzeugen. 

Hiernach  lassen  sich  die  syntaktischen  Eigenschaften  der  Ge- 
bärdensprache auf  zwei  allgemeine  Bedingungen  zurückführen: 
erstens  auf  das  in  ihr  streng  festgehaltene  Prinzip,  daß  die  einzelnen 
Zeichen  in  der  Ordnung  einander  folgen,  in  der  sie  in  der  Anschauung 
voneinander  abhängig  sind;  und  zweitens  auf  die  verhältnismäßig 
langsame  Aufeinanderfolge  der  einzelnen  Zeichen,  welche  die  Forde- 
rung mit  sich  führt,  daß  ein  gegebenes  Symbol,  soweit  es  nicht  an 
sich  selbst  deutlich  ist,  durch  vorangehende,  nicht  erst  durch  nach- 
folgende Symbole  seine  Bedeutung  erhält.  Sobald  diese  beiden  Postu- 
late  erfüllt  sind,  kann  sich  auch  noch  ein  drittes  Moment  geltend  machen : 
das  Bedürfnis,  diejenigen  Vorstellungen  zuerst  auszudrücken,  die 
mehr  als  andere  affektbetont  sind.  Eine  wichtige  Hilfe,  diesem  Be- 
dürfnis zu  genügen,  ohne  die  Bedingungen  der  Anschaulichkeit  und 
der  Verständlichkeit  zu  verletzen,  besteht  aber  für  die  Gebärden- 
sprache darin,  daß  sie  einen  zusammenhängenden  Gedanken  in  mehrere 
einzelne  Sätze  gliedert.  Besonders  erreicht  sie  hierbei  einen  der  Voran- 
stellung des  Prädikats  äquivalenten  Erfolg  dadurch,  daß  sie  aus  dem 
verbalen  Prädikat  und  seinem  Objekt  einen  selbständigen  Satz  bildet, 
zu  dessen  Subjekt  nun  jenes  Objekt  wird.  Damit  hängt  zusammen, 
daß  überhaupt  in  der  Gebärdensprache  alle  solche  Unterscheidungen, 
die  auf  der  feineren  Gliederung  und  Periodisierung  der  Rede  beruhen, 
hinfällig  werden.  Ein  zusammengesetzter  Satz  wird  darum  in  ihr  stets 
zu  einer  Aufeinanderfolge  mehrerer  einfacher  Sätze. 


Urspining  der  Gebärdensprache  aus  den  Ausdrucksbewegungen.        231 

V.  Psychologische  Entwicklung   der  Gebärden- 
sprache. 

1.  Ursprung  der  Gebärdensprache  aus  den  Ausdrucks- 
bewegungen. 

Die  Gebärdensprache  ist  ein  natürliches  Entwicklungsprodukt 
der  Ausdrucksbewegungen;  und  sie  ist,  mindestens  in  dem  Umfang 
und  in  der  Ausbildung,  in  der  sie  den  Entwicklungsformen  der  Laut- 
sprache an  die  Seite  gestellt  werden  kann,  ein  spezifisch  mensch- 
liches Erzeugnis.  Die  höheren  Tiere  zeigen  zwar  eine  Fülle  charakte- 
ristischer Ausdrucksbewegungen,  die  denen  des  Menschen  in  ihren 
allgemeinsten  Eigenschaften  verwandt  sind.  Doch  von  allem  dem, 
was  die  menschliche  Gebärdensprache  erst  zu  einer  eigentlichen  Sprache 
macht,  von  der  Entwicklung  verschiedener  Grundformen  der  Gebärde, 
von  den  Übertragungen  der  Bedeutung  und  dem  Bedeutungswandel, 
endlich  von  einer  nach  bestimmten  Gesetzen  geregelten  syntaktischen 
Ordnung  kann  dort  nirgends  die  Rede  sein. 

Ein  Zeugnis  für  diese  niedrigere  Stufe  der  Gebärdenentwicklung 
bei  den  Tieren  liegt  schon  darin,  daß  diejenige  Gebärdeform,  die  beim 
Menschen  überall  als  die  urspünglichste  erscheint,  und  die  daher 
noch  beim  Kinde  am  frühesten  in  spontaner  Entstehung  beobachtet 
wird,  die  hinweisende,  beim  Tiere  kaum  vorkommt  oder  höchstens 
auf  einer  Art  Zwischenstufe  zwischen  der  ursprünglichen  Greifbewegung 
und  der  hinweisenden  Bewegung  stehen  geblieben  ist.  So  namentlich 
auch  bei  dem  durch  den  Bau  seiner  Hände  zu  Greifbewegungen  ganz 
besonders  veranlagten  Affen  ^). 

Ähnlich  verhält  es  sich  mit  der  Klasse  der  darstellenden  Ge- 
bärden. Sie  haben  in  den  nachahmenden  Ausdrucksbewegungen 
ihre  natürliche  Grundlage.  Aber  der  große  Schritt,  durch  den  jene 
allgemein  im  Tierreich  verbreiteten  imitativen  Bewegungen,  bei  denen 
ein  Wesen  die  Handlungen  eines  andern  ihm  ähnlichen  nachahmt, 
in  Nachahmungen  beliebiger  objektiver  Handlungen  über- 
gehen, ist  erst  innerhalb  der  menschlichen  Entwicklung  getan  worden ; 


1)  Vgl.  oben  Kap.  I,  S.  136  f. 


232  Die  Gebärdensprache. 


und  erst  aus  dieser  letzteren  Form  können  naturgemäß  die  in  der 
Gebärdensprache  vorkommenden  verscliiedenen  Arten  darstellender 
Gebärden  entspringen.  Unter  diesen  stehen  die  nachbildenden 
den  gewöhnlichen  nachahmenden  Affektäußerungen  am  nächsten. 
Was  sie  von  diesen  scheidet,  ist  nur  die  Entwicklung,  die  sie  unter 
dem  Einfluß  der  Wechselwirkung  der  Individuen  erfahren. 
Indem  die  Affektäußerung  von  dem,  an  den  sich  der  Affekt  richtet, 
auf  seinen  Urheber  zurückgeht,  verändert  sie  zugleich  ihren  Inhalt, 
und  indem  diese  Veränderung  auch  die  Vorstellungsinhalte  des  Affekts, 
ja  diese  wegen  der  größeren  Mannigfaltigkeit,  die  sie  innerhalb  einer 
und  derselben  Grundstimmung  zulassen,  ganz  besonders  trifft,  wird 
allmählich  jene  hin  und  her  gehende  Bewegung  des  Gebärdenspiels 
zu  einem  Austausch  der  im  Bewußtsein  der  Einzelnen  hervortreten- 
den Vorstellungen.  Zunächst  erheben  sich  noch  diese  Vorstellungen 
innerhalb  einer  und  derselben  Grundstimmung.  Dann  tragen  sie  durch 
die  Rückwirkung  des  Vorstellungswechsels  auf  die  Gefühle  die  Macht 
in  sich,  auch  den  Gefühlsinhalten  der  Affekte  eine  veränderte  Rich- 
tung zu  geben.  Der  ,, Mitteilungstrieb"  ist  daher  ebensowenig  eine 
einheitliche  psychische  Kraft  wie  der  ,, Nachahmungstrieb",  sondern 
ein  notwendiges  Produkt  des  Wechsel  Verkehrs  der  Individuen.  Asso- 
ziieren sich  bei  dem  Nachahmungstrieb  mit  den  Ausdrucksbewegungen 
des  einen  in  einem  andern  die  zugehörigen  Gefühle,  aus  denen  nun 
die  gleichen  Ausdrucksbewegungen  entstehen,  so  geht  der  ,,Mitteilungs- 
trieb"  unmittelbar  aus  der  Gefühlswirkung  hervor,  welche  die  Wahr- 
nehmung dieser  sympathischen  Affektwirkung  begleitet.  Denn  die 
Gefühlswirkung  wird  nun  zum  impulsiven  Motiv,  gleiche  Affekt- 
äußerungen des  andern  hervorzurufen;  und  damit  verbindet  sich 
dann  von  selbst  auch  die  Mitteilung  der  den  Affekt  begleitenden  Vor- 
stellungen. Bei  der  Wiederholung  des  Vorgangs  kann  diese  Mitteilung 
allmählich  selbst  zum  Motiv  werden.  Je  mehr  das  geschieht,  um  so 
mehr  gesellen  sich  aber,  wie  wir  vermuten  dürfen,  zu  den  hinweisenden 
nachahmende  Bewegungen.  Auf  solche  Weise  sind  die  letzteren  wahr- 
scheinlich ebensosehr  Produkte  der  entstehenden  Gebärdenmitteilung, 
wie  sie  anderseits  selbst  diese  erst  in  ihrer  vollkommeneren  Ausbildung 
möglich  machen.  So  geht  aus  der  absichtslos  dem  Affekt  entströmen- 
den Vorstellungsäußerung  im  Wechselverkehr  der  Einzelnen  die  trieb- 


Ursprung  der  Gebärdensprache  aus  den  Ausdrucksbewegungen.  233 

artige  Mitteilung  und  dann  aus  dieser,  indem  der  Handelnde  die  Er- 
folge seines  Tuns  auf  sich  wirken  läßt,  schließlicli  die  willkürliche 
Mitteilung  durch  Gebärden  hervor.  Dabei  bleibt  aber  die  Grenze 
zwischen  der  ursprünglichen,  sich  selbst  genügenden  Äußerung  und 
der  später  entstandenen,  von  dem  Willen  zur  Wirkung  auf  andere 
getragenen  fortan  eine  fließende.  Selbst  in  der  voll  entwickelten  Ge- 
bärdensprache ist  daher  die  willkürlich  nur  zum  Zweck  der  Mitteilung 
ausgeführte  Bewegung  auf  einzelne  Momente  beschränkt,  zwischen 
denen  sich  ganz  in  der  ursprünglichen  Weise  der  Affektäußerung 
die  Gebärden  nach  rein  gefühlsmäßigen  Impulsen  aneinander 
schließen. 

Mit  dem  Übergang  der  nachahmenden  Ausdrucksbewegungen 
in  Bestandteile  einer  zusammenhängenden  Gebärdenäußerung  ist 
nun  aber  auch  der  Anlaß  zur  Entwicklung  verschiedener  formen 
von  Gebärden  gegeben,  die  in  der  allgemeinen  Eigenschaft,  durch 
irgendein  dem  Gesichtssinn  wahrnehmbares  Bild  die  entsprechende 
Vorstellung  zu  erwecken,  den  ursprünglichen  nachahmenden  Bewegun- 
gen gleichen,  während  sie  doch  dem  wachsenden  Reichtum  der  Vor- 
stellungen und  ihrer  Verbindungen  sich  anpassen.  Unter  den  so  ent- 
standenen Gebärdeformen  stellt  die  zeichnende  die  direkte,  im  wesent- 
lichen unverändert  gebliebene  Fortsetzung  der  reinen  Nachahmungs- 
bewegung dar :  sie  hat  ganz  den  dieser  Ursprungsform  eigenen  Charakter 
rasch  vorübergehender  Bewegungen  beibehalten,  wie  sie  der  Natur 
des  Affekts  entspricht;  und  zugleich  deutet  sie  immittelbar  das  Ob- 
jekt oder  die  Handlung  selbst  an.  Von  dieser  Ursprungsform  aus 
divergiert  nun  die  Entwicklung  nach  zwei  Richtungen.  Auf  der 
einen  Seite  regt  sich,  indem  der  begleitende  Affekt  schwächer  wird, 
der  Trieb  nach  dauernderer  Festhaltung  einer  dem  Auge  einzuprägen- 
den Form.  Aus  diesem  Motiv  entspringt  die  plastische  Gebärde. 
Sie  setzt  unbedingt  voraus,  daß  sich  die  ursprüngliche  Affektgrund- 
lage der  Bewegungen  ermäßigt  hat.  Denn  der  Affekt  treibt  um  so 
mehr,  je  intensiver  er  ist,  zu  rasch  vorübergehenden  Bewegungen. 
Plastische  Gebärden  fordern  überdies  zumeist  eine  gewisse  Überlegung, 
und  sie  beruhen  darum  auch  viel  häufiger  als  die  zeichnenden  in  ihren 
eigentümlichen  Bedeutungen  auf  konventioneller  Geltung.  Auf  der 
andern  Seite  entwickelt  sich  aus  der  zeichnenden  die  mitbezeich- 


234  Die  Gebärdensprache. 


nende  Gebärde.  Sie  entstellt,  sobald  das  Bedürfnis  erwacht,  Gegen- 
stände oder  Handlungen  auszudrücken,  die  durch  eine  Umrißzeich- 
nung nicht  oder  nur  unsicher  festgehalten  werden  können,  während 
sich  bei  ihnen  charakteristische  Nebenmerkmale  der  zeichnenden 
Nachbildung  darbieten.  Die  mitbezeichnende  Gebärde  liegt  daher 
genetisch  der  nachahmenden  in  ihrer  ursprünglichen  Gestalt  wahr- 
scheinlich näher  als  die  plastische  Nachbildung.  Aber  in  der  isolieren- 
den Aufmerksamkeit  auf  einzelne  Eigenschaften,  die  sie  fordert,  in 
dem  Streben,  ein  zur  Verständigung  dienliches  Merkmal  herauszu- 
greifen, verrät  doch  auch  sie  eine  wachsende  Ermäßigung  des  Affekts 
und  einen  zunehmenden  Einfluß  der  Reflexion. 

Die  letzte  Stufe  der  Entwicklung  bezeichnen  endlich  die  sym- 
bolischen Gebärden.  Hierher  gehören  zunächst  die  früher  (S.  202  f.) 
erwähnten  ursprünglichsten  Fälle  assoziativer  Übertragung  von  einer 
sinnlichen  Vorstellung  auf  eine  andere.  Bei  ihrer  weiteren  Entwick- 
lung werden  dann  aber  die  symbolischen  Gebärden  für  Begriffe  an- 
gewandt, die  überhaupt  nicht  durch  ein  bestimmtes  Bild  darstellbar 
sind,  für  die  also  eine  zeichnende  oder  plastische  Bewegung  nur  noch 
die  Bedeutung  einer  stellvertretenden  Vorstellung  hat.  Eine 
solche  Stellvertretung  ist  im  Gebiet  der  natürlichen  Gebärdensprache 
nur  dadurch  möglich,  daß  eine  psychologische  Verwandtschaft  zwischen 
dem  Begriff  und  der  stellvertretenden  Vorstellung  besteht.  Dadurch 
unterscheiden  sich  zugleich  die  natürlichen  Symbole  von  den  künst- 
lich erfundenen,  bei  denen  jene  Beziehung  auf  willkürlicher  Überein- 
kunft beruht.  Indem  nun  die  symbolischen  Gebärden  auch  in  ihrer 
natürlichen  Form  bereits  auf  verwickeiteren  psychologischen  Be- 
dingungen beruhen,  ist  es  begreiflich,  daß  sich  in  vielen  Fällen  die 
Grenzen  zwischen  natürlicher  Entstehung  und  willkürlicher  Erfindung 
verwischen.  Im  allgemeinen  wird  es  aber  als  nächstes  Kriterium  natür- 
licher Entstehung  eines  Symbols  gelten  können,  wenn  sich  ein  be- 
stimmtes sinnliches  Bild  so  unmittelbar  für  einen  Begriff  bietet,  daß 
zunächst  überhaupt  kein  deutliches  Bewußtsein  der  Verschieden- 
heit von  Bild  und  Bedeutung  besteht.  In  zweiter  Linie  werden  dann 
noch  diejenigen  Symbole  als  natürlich  entstanden  zu  betrachten 
sein,  die  aus  solchen  primären  auf  dem  Weg  einer  einfachen  Bedeu- 
tungsentwicklung hervorgehen.     Hiernach  sind  primäre  symbolische 


Ursprung  der  Gebärdensprache  aus  den  Ausdrucksbewegungen.         235 

Gebärden  vor  allem  jene,  die  aus  hinweisenden  entstanden  sind,  wie 
die  Andeutung  der  Zeitformen  der  Vergangenheit,  Gegenwart  und 
Zukunft  durch  räumliche  Richtungen  (S.  169  f.).  Die  Assoziation 
ist  hier  um  so  inniger,  da  eigentlich  auch  das  Räumliche  ohne  beglei- 
tende zeitliche  Eigenschaften  nicht  vorgestellt  werden  kann.  Die 
hinweisende  Bewegung  bezeichnet  daher  in  ihrer  ursprünglichsten 
Bedeutung  immer  zugleich  ein  Gehen  in  der  angegebenen  Richtung, 
demnach  einen  zeitlich-räumlichen  Vorgang. 

Untei?  den  aus  nachbildenden  Gebärden  entstandenen  Sym- 
bolen stehen  diesen  einfachsten  Assoziationen  jene  am  nächsten, 
bei  denen  geistige  Eigenschaften,  wie  Herrschaft,  Mut,  durch  ent- 
sprechende physische,  wie  Körpergröße,  Muskelkraft  u.  dgl.,  aus- 
gedrückt werden.  Den  Häuptling  oder  Herrscher  als  den  großen  Mann, 
den  Mutigen  als  den  starken  zu  bezeichnen,  liegt  dem  Naturmenschen 
darum  nahe,  weil  der  Anführer  im  Kriege  wirklich  durch  Körpergröße 
hervorzuragen  pflegt,  und  weil  er  den  Mut  nur  verbunden  mit  phy- 
sischer Kraft  kennt.  Von  diesen  Assoziationen  aus  bilden  sich  dann 
andere,  bei  denen  zwischen  das  sinnliche  Zeichen  und  seine  Bedeutung 
mannigfache  Zwischenglieder  treten.  Wird  die  Wahrheit  durch  eine 
geradlinige,  die  Lüge  durch  eine  schräge  Bewegung  vom  Mund  aus 
bezeichnet,  so  scheint  die  Vorstellung  der  direkten  Bewegung  auf  das 
Ziel  und  der  Abbiegung  von  demselben  von  der  Handlung  des  Gehens 
auf  die  des  Redens  übertragen  zu  werden.  Aber  auch  hier  entspringt 
diese  Übertragung  wohl  aus  einer  direkten  Assoziation  der  Vorstellungen, 
und  sie  wird  darum  von  dem  naiven  Denken  zugleich  als  Wirklich- 
keit empfunden.  Der  Lügner,  wie  er  den  Blick  scheu  an  dem  Getäusch- 
ten vorübergehen  läßt,  wagt  auch  seine  Worte  diesem  nicht  direkt 
ins  Angesicht  zu  sprechen,  sondern  er  redet  an  ihm  vorbei.  Wenn 
ferner  die  Umfangsverhältnisse  der  Finger  auf  moralische  Qualitäten 
übertragen  werden,  der  Daumen  also  ,,gut",  der  kleine  Finger ,, schlecht" 
bedeutet,  so  muß  man  sich  erinnern,  daß  für  den  Naturmenschen 
überhaupt  physische  Stärke  und  moralische  Tüchtigkeit,  physische 
Schwäche  imd  niedrige  Gesinnung  zusammenfallen.  Ursprünglich 
liegt  also  hier  wiederum  die  Symbolik  nicht  sowohl  darin,  daß  die 
moralischen  durch  physische  Eigenschaften,  als  darin,  daß  über- 
haupt Personen  durch  emporgestreckte  Finger  versinnlicht  werden. 


236  Die  Gebärdensprache. 


Aber  auch  diese  weit  verbreitete  Symbolik  führt  auf  eine  einfachere, 
noch  nicht  symbolisch  empfundene  Assoziation  zurück.  Wie  der 
Zeigefinger  die  Person,  auf  die  er  hinweist,  unmittelbar  dadurch  an- 
deutet, daß  er  den  Blick  auf  sie  lenkt,  also  ein  Hilfsmittel  ist,  um  den 
Gegenstand  durch  sich  selbst  vertreten  zu  lassen,  so  kann,  wenn  be- 
begünstigende Bedingungen  hinzukommen,  auch  die  abwesende  Person 
noch  durch  den  ausgestreckten  Finger  bezeichnet  werden,  sobald 
die  Umstände  eine  ähnliche  Ergänzung  durch  die  Assoziation  mit 
dem  Erinnerungsbilde  bedingen.  Eine  häufige  Ursache  zur  Entstehung 
einer  solchen  Erinnerungsassoziation  liegt  in  der  Vorstellung  einer 
bestimmten  Anzahl  von  Personen,  wo  die  in  entsprechender  Anzahl 
emporgereckten  Finger  nun  die  erforderlichen  Assoziationen  erwecken 
und  zunächst  jeder  Finger  auf  eine  bestimmte  einzelne  Person  bezogen 
wird.  Indem  diese  hinzugedachten  Vorstellungen  allmählich  ver- 
blassen, werden  dann  die  Finger  zu  eigentlichen  Zahlsymbolen:  sie 
repräsentieren  jetzt  irgendwelche  zählbare  Gegenstände,  während 
sie  vorher  nur  regelmäßig  assoziierte  Hilfsvorstellungen  gewesen  waren, 
neben  denen  die  hinzugedachten  Gegenstände  selbst  ins  Bewußtsein 
traten.  Aus  dieser  Zeit,  wo  das  stellvertretende  Zeichen  noch  nicht 
von  seinem  Gegenstande  gesondert  war,  haben  sich  ohne  Zweifel 
die  besonderen  Beziehungen  erhalten,  die  den  verschiedenen  Fingern 
und  ihren  Kombinationen  in  der  ausgebildeten  SymboHk  der  Gebärden 
beigelegt  werden.  So  war  es,  nachdem  einmal  der  Zeigefinger  durch 
Assoziation  mit  einer  abwesenden  Person  für  diese  eine  repräsen- 
tative Bedeutung  erlangt  hatte,  nur  noch  ein  kleiner  Schritt  zur  Be- 
zeichnung zweier  regelmäßig  verbundener  Genossen,  Brüder,  Ehe- 
gatten oder  Kriegsgefährten,  durch  emporgereckten  Zeige-  und  Mittel- 
finger. Und  nachdem  dies  vollbracht  war,  konnte  dann  leicht  noch 
der  weitere  Schritt  geschehen,  die  Innigkeit  der  Verbindung  selbst 
durch  die  Verschlingung  der  zwei  Finger  auszudrücken  (l  Fig.  32, 
S.  197).  Auch  hier  darf  man  annehmen,  daß  für  die  ursprüngUche 
Anschauung  Symbol  und  Wirklichkeit  ineinander  flössen,  indem  zu 
der  Gebärde  die  sinnliche  Bedeutung,  die  sie  ausdrückte,  unmittel- 
bar assoziiert  wurde.  War  nun  aber  einmal,  wie  es  im  Laufe  der  Zeit 
geschehen  mußte,  jene  assoziierte  Vorstellung,  die  in  allen  diesen 
Fällen  das  in  der  Gebärde  sich  darstellende  Bild  zur  Wirklichkeit 


Ursprung  der  Gebärdensprache  aus  den  Ausdrucksbewegungen.         237 

erhob,  bis  zur  Unbestimmtlieit  verdunkelt,  dann  konnte  zwar  noch 
unter  günstigen  Umständen  der  einstige  Sinn  der  Gebärde  erfaßt 
werden,  um  so  mehr  mußte  sich  jedoch,  eben  weil  die  Assoziation 
zurücktrat,  der  Unterschied  zwischen  der  ursprünglichen  und  der 
neuen  Bedeutung  hervordrängen.  Damit  war  dann  der  Weg  von  der 
unter  Mithilfe  von  Assoziationen  indirekt  nachbildenden  zu  der  im 
engeren  Sinne  symbolischen  Gebärde  vollständig  zurückgelegt. 

Eine  weitere  Komplikation,  die  den  Übergang  der  vorbereiten- 
den Zwischenstufen  in  symbolische  Gebärden  wesentlich  begünstigt, 
besteht  darin,  daß  verschiedene  Symbole  aufeinander  einwirken  und 
auf  diese  Weise  gemischte  symbolische  Gebärden  erzeugen,  bei  denen 
infolge  der  Verbindung  der  Motive  die  Assoziation  mit  der  einstigen 
sinnlichen  Bedeutung  vollständig  verschwinden  kann.  Ein  charakte- 
ristisches Beispiel  dieser  Art  ist  die  Gebärde  für  „Falschheit"  (S.  195, 
Fig.  31  g),  die  sich  einerseits  aus  der  für  Freundschaft,  Vertrauen 
und  ähnliche  Begriffe  vorkommenden  (Fig.  32  l)  und  anderseits  aus 
der  Symbolisierung  entgegengesetzter  Wertbegriffe  durch  die  Größen- 
unterschiede der  Finger  erklärt.  Ebenso  fehlt  natürlich  die  unmittel- 
bare sinnliche  Anlehnung  in  solchen  Fällen,  wo  die  Gebärde  selbst 
nur  ein  anderwärts,  aus  der  bildlichen  Darstellung  oder  aus  der  Sitte 
entlehntes  Symbol  ist,  wie  bei  der  Drehung  einer  Nase  zum  Zweck 
der  Verhöhnung  (S.  194),  bei  dem  Symbol  der  „Gerechtigkeit"  (Fig.  31  e), 
bei  dem  Zeichen  der  Indianer  für  „Tausch"  oder  „Handel"  (Fig.  32  m) 
und  in  vielen  andern  Fällen. 

Der  Vorgang  der  Entwicklung  symbolischer  Gebärden  stellt 
sich  hiernach,  solang  er  sich  rein  im  Gebiet  der  Gebärdenmitteilung 
selber  vollzieht,  als  eine  durch  Assoziationen  vermittelte  Ver- 
schiebung der  Vorstellungen  dar,  die  durch  allmähliche 
Ausschaltung  einzelner  Assoziationsglieder  infolge  ihrer 
Verdunklung  im  Bewußtsein  eintritt.  Solange  hierbei  alle  wirk- 
samen Assoziationsglieder  einigermaßen  lebendig  sind,  bleibt  die 
Symbolik  eine  latente,  da  das  Symbol  und  seine  Bedeutung  noch 
vollständig  zusammenfallen  oder  so  eng  verbunden  sind,  daß  das 
symbolische  Zeichen  als  ein  Teil  der  Vorstellung  des  Gegenstandes 
selbst  betrachtet  wird.  Dagegen  wird  es  als  Symbol,  dabei  aber  als 
ein  natürliches,  dem  Gegenstand  durchaus  adäquates  aufgefaßt,  wenn 


238  I^i®  Gebärdensprache. 


einzelne  Assoziationsglieder  aus  dem  Bewußtsein  verschwunden  sind, 
wäkrend  das  Gefühl  der  Verbindung  und  die  entsprechende  Analogie 
der  Vorstellungen  noch  erhalten  blieben.  Der  Übergang  in  rein  kon- 
ventionelle Gebärdensymbole  kann  dann  von  hier  aus  entweder  durch 
weitere  Verdunklung  der  Assoziationsglieder  oder  durch  die  Verbin- 
dung verschiedener  Zeichen,  oder  endlich  durch  Aufnahme  von  außen 
als  Nachbildung  symbolischer  Gebräuche  sowie  gewisser  Zeichen 
der  Bilderschrift  erfolgen. 

2.  Die  Gebärde  und  die  Anfänge  der  bildenden  Kunst. 

Wie  die  Hände  als  Greiforgane  durch  die  im  Gefolge  der  psychi- 
schen Entwicklung  eingetretene  Abschwächung  einzelner  Greif - 
bewegungen  zu  Hilfsmitteln  hinweisender  Gebärden  geworden 
sind,  so  dürfen  wir  wohl  ihre  Beteiligung  an  den  verschiedenen  Formen 
darstellender  Gebärden  mit  jener  vollkommeneren  Tätigkeit  dieser 
Greif  Organe  in  Beziehung  bringen,  die  zur  Verfertigung  künst- 
licher Gegenstände  aus  Materialien  der  Umgebung  fortgeschritten 
ist.  Das  einmal  geschaffene  Werk  wird  dann  weiterhin  zum  Vorbild, 
das  zum  Nachschaffen  anregt.  Diese  nachbildende  Tätigkeit  be- 
schränkt sich  aber  allmählich  nicht  mehr  auf  die  Gegenstände  und 
Verrichtungen,  die  den  Lebensbedürfnissen  dienen,  sondern  sie  geht 
zur  Nachbildung  von  Gegenständen  der  Natur  selbst  über.  Jline  solche 
mag  gelegentlich  dadurch  entstanden  sein,  daß  planlos  in  Stein  oder 
Fels  gezeichnete  Striche  eine  zufällige,  durch  reproduktive  Assimi- 
lationen gesteigerte  Ähnlichkeit  mit  Gegenständen  annahmen,  worauf 
dann  erst  eine  spontanere  Nachahmung  einsetzte^).  In  andern  Fällen 
mag  wohl  auch  die  Erinnerung  an  das  Gesehene  unmittelbar  dessen 
Nachbildung  angeregt  haben.  Für  eine  solche  primäre  Nachbildung 
spricht,  daß  besonders  Höhlenzeichnungen  ohne  solche  Spuren  voraus- 
gegangener zufälliger  Motive  aufgefunden  worden  sind.  Hier  ist  das 
Halbdunkel  der  von  der  Außenwelt  abgeschiedenen  Höhle  vorzugs- 
weise geeignet,  Erinnerungs-  und  Phantasiebilder  wachzurufen,  die 
nun  auf  die  Wand  übertragen  werden.    Manche  dieser  Bilder  mögen 


^)  Th.  Koch- Grünberg,  Südamerikanische  Felszeichnungen,  1907i 


Die  Gebärde  und  die  Anfänge  der  bildenden  Kunst.  239 

eine  kultische  Bedeutung  besitzen;  andere  tragen,  indem  sie,  wie 
einzelne  Höhlenbilder  der  Buschmänner,  prägnante  Szenen  aus  dem 
Leben  darstellen,  offenbar  einen  primitiven  Denkmalscharakter  an 
sich.  Dafür  spricht  auch  die  Tatsache,  daß  solche  Höhlenzeichnungen 
bei  den  Buschleuten  geflissentlich  während  langer  Zeit  geschont 
werden^). 

Auf  diese  Weise  treten  die  verschiedenen  Formen  nachbildender 
Gebärden  in  enge  Beziehungen  zu  den  Anfängen  der  bildenden 
Kunst.  Ist  doch  die  zeichnende  Gebärde  gewissermaßen  eine  ur- 
sprünglichste Form  der  zeichnenden  Kunst,  welche  nicht  an  einem 
dauernden  Material  geübt  wird,  sondern  in  flüchtigen  Bewegungen 
besteht,  die  an  den  Gegenstand  erinnern,  indem  sie  ein  Bild  desselben 
in  dem  Zuschauer  hervorrufen.  Dabei  ist  freilich  der  Umkreis  der 
Zwecke  des  künstlerischen  Schaffens  von  Anfang  an  ein  ungleich 
weiterer.  Gerade  auf  primitiver  Stufe  verbindet  sich  mit  jener  Fixie- 
rung eines  Erinnerungsbildes  in  dauerndem  Material  überhaupt  noch 
nicht  die  Absicht  einer  Mitteilung  an  andere,  sondern  es  wirken  ent- 
weder bloß  der  Trieb,  das  im  Bewußtsein  festgehaltene  Bild  zu  ob- 
jektivieren, und  die  Lust  an  der  diesen  Trieb  befriedigenden  Tätig- 
keit; oder  es  verbinden  sich  damit  Motive  des  Zauberkultus:  dem  Gegen- 
stand werden  zauberische  Wirkungen  zugeschrieben,  die  sich  auf  das 
Bild  übertragen.  Auch  darin  besteht  eine  gewisse  Analogie  der  Ge- 
bärde mit  den  Erzeugnissen  der  bildenden  Kunst,  daß  Merkzeichen 
von  einfach  hinweisender  Bedeutung,  die  freilich  an  sich  noch  nicht 
dem  Gebiete  der  Kunst  angehören,  den  Objekten  der  bildenden  Kunst 
wahrscheinlich  lange  vorausgehen,  und  daß  unter  diesen  wieder  die 
Zeichnung  früher  ist  als  das  plastische  Kunstwerk,  ähnlich  wie  die 
zeichnende  erheblich  früher  als  die  plastische  Gebärde  ist.  Zugleich 
entfernen  sich  die  Erzeugnisse  der  primitiven  plastischen  Kunst  meist 
weiter  als  die  der  zeichnenden  von  der  Wirklichkeit,  ganz  wie  das  von 
der  plastischen  gegenüber  der  zeichnenden  Gebärde  gilt.  Diese  ent- 
wirft freilich  nur  ein  flüchtiges  und  unvollkommenes  Bild;  aber  sie 
bemüht  sich  doch,  die  Wirklichkeit  so  treu  wie  möglich  wiederzu- 


^)  Moszeik,  Die  Malereien  der  Buschmänner  in  Südafrika,  1910,  S.  15  ff. 
Vgl.  auch  Bd.  S^  (Kunst),  Kap.  II,  S.  178  ff. 


240  I^ie  Gebärdensprache. 


geben.  Die  plastische  dagegen  ist  in  ihrer  mimischen  Form  meist 
ein  absichtlich  übertreibender  Gesichtsausdruck;  und  wo  sie  in  der 
plastischen  Formung  der  Hände  besteht,  da  rechnet  sie  auf  die  Phan- 
tasie des  Beschauers,  woraus  sich  denn  auch  wohl  erklärt,  daß  die 
Mehrzahl  der  symbolischen  Gebärden  dieser  plastischen  Form  an- 
gehört. Ebenso  entspringt  bei  der  ursprünglichen  Zeichnung  die  Ab- 
weichung von  der  Wirklichkeit  in  der  Kegel  nur  aus  der  Un Vollkommen- 
heit der  Kunstübung,  nicht  aus  der  Absicht  etwas  zu  erzeugen,  was 
wirklich  von  der  Natur  verschieden  ist.  Das  plastische  Bild  dagegen 
regt  von  frühe  an  zu  übertreibenden  Umgestaltungen  oder  Kombi- 
nationen von  Natur  formen  an.  Dabei  mag  gelegentlich  das  verwendete 
Material,  der  Baumstumpf  oder  Felsblock,  aus  dem  die  Form  gebildet 
wird,  selbst  schon  gewisse  Ähnlichkeiten  mit  Menschen-  oder  Tier- 
formen bieten,  die  als  groteske  Umgestaltungen  erscheinen  und  so 
die  Phantasie  zu  weiteren  herausfordern.  Zudem  spielt  hier  wohl  der 
Zauberzweck,  dem  von  frühe  an  gerade  das  plastische  Werk  zu  dienen 
pflegt,  eine  bedeutsame  Rolle,  wie  dies  besonders  die  furchterregenden 
Gesichtsmasken  zeigen,  deren  sich  aller  Orten  die  Medizinmänner 
und  Schamanen  bedienen.  Naturgemäß  wird  dann  freilich  diese  phan- 
tastische Übertreibung  und  Umformung  auch  wiederum  von  der 
Plastik  auf  die  Zeichnung  übertragen.  Auf  einer  gewissen  Mittelstufe 
primitiver  Kultur,  wie  sie  etwa  in  der  Kunstübung  der  nordameri- 
kanischen Indianer  vertreten  ist,  findet  sich  so  in  den  Zeichnungen 
und  Malereien  eine  eigentümliche  Mischung  beider  Motive.  Auch 
ihr  entspricht  aber  wieder  der  Reichtum  an  symbolischen  Übertragungen 
in  der  Gebärdensprache  dieser  Stämme. 


3.  Gebärdensprache  und  Bilderschrift. 

Die  Schrift  in  der  engeren  Bedeutung  dieses  Wortes,  als  ein  System 
von  Gesichtszeichen,  welches  die  Lautgebilde  der  Sprache  festhält 
und  so  ihre  Mitteilung  in  unbestimmte  Fernen  des  Raumes  und  der 
Zeit  möglich  macht,  liegt  außerhalb  der  Grenzen,  die  hier  der  völker- 
psychologischen Betrachtung  gezogen  sind.  So  starke  Wirkungen 
auch  die  Schrift  auf  die  Sprache  der  Kulturvölker  ausgeübt  hat,  so 


Gebärdensprache  und  Bilderschrift.  241 

gehört  sie  selbst  doch  durchaus  dem  Umkreis  technischer  Erfindungen 
an,  die  in  dem  allgemeinen  Kulturmedium,  in  welchem  sich  die  spätere 
Entwicklung  der  Sprache  vollzieht,  einen  nicht  hinwegzudenkenden 
Wert  besitzen,  selbst  aber,  ebensogut  wie  die  geschichtlichen  Sonder- 
entwicklungen der  Kunst  und  Literatur,  der  Kleidung  und  Wohnung 
usw.,  über  die  Grenzen  des  rein  Psychologischen  in  die  Gebiete  der 
allgemeinen  Kultur-,  Kunst-  und  Literaturgeschichte  hineinreichen. 
Nur  in  einer  Beziehung  bleibt  hier,  ähnlich  wie  in  den  andern  zu  den 
historischen  und  philologischen  Sondergebieten  gehörenden  Erschei- 
nungen, eine  diesen  bis  zu  einem  gewissen  Grade  mit  der  Völker- 
psychologie gemeinsame  Aufgabe  in  den  Problemen  bestehen,  die 
dem  Übergang  der  allgemeingültigen  psychologischen  Motive  in  solche 
spezifische  Kulturgüter  angehören.  Ein  Grenzgebiet  dieser  Art  ist 
im  vorliegenden  Fall  die  unter  dem  Zusammenwirken  der  sprach- 
lichen Gedankenäußerung  und  der  primitiven  Kunstübung  entstehende 
Bilderschrift.  Zunächst  selbst  noch  zwischen  natürlichem  Aus 
druck  des  Denkens  und  willkürlicher  Kunstübmig  mitteninne  liegend, 
besitzt  sie  in  dem  Stadium,  in  welchem  sie  in  den  sprachlichen  Ver- 
kehr eingreift,  ähnlich  der  Gebärde,  einen  ungleich  allgemeingültigeren 
Charakter  als  die  spätere,  unter  dem  Einfluß  willkürlicher  Erfindung 
stehende  Schrift.  Zugleich  hat  sie  in  dieser  Beziehung  eine  vorbild- 
liche Bedeutung  für  alle  andern  in  ähnlicher  Weise  auf  der  Grund- 
lage allgemeiner  geistiger  Anlagen  und  Triebe  aus  der  erfinderischen 
Tätigkeit  Einzelner  hervorgegangenen  Kultur  er  Zeugnisse.  Sie  alle 
sind  auf  einer  natürlichen  Grundlage  erwachsen.  In  diesem  Sinne  ist 
die  Bilderschrift  ein  völkerpsychologisches,  die  Schrift  in  ihren  ein- 
zelnen, der  erweiterten  Mitteilung  durch  die  Lautsprache  dienenden 
Formen  ein  spezifisch  kulturhistorisches  Phänomen.  Als  ein  Produkt 
aus  sprachlichem  Mitteilungstrieb  und  primitivem  künstlerischem 
Schaffen  ist  sie  aber  der  Gebärdensprache  verwandt,  die  nur  ihrer 
allgemeinen  Bedeutung  nach  als  ein  noch  primitiverer,  in  ihren  frühesten 
Äußerungen  der  natürlichen  Ausdrucksbewegung  näherstehender  Er- 
satz der  Lautsprache  durch  sichtbare  Zeichen  betrachtet  werden 
kann. 

Diese  Beziehung  des  Bildzeichens  zur  Gebärde  spricht  sich  nun 
auch  darin  aus,  daß  dort  wie  hier  hinweisende  und  darstellende 

W  u  a  d  t ,  Völkerpsychologie.     I.    4.  Aufl.  ^" 


242  I^iö  Gebärdensprache. 


Zeichen  einander  gegenüberstehen.   Freilich  trennt  bei  den  Bildzeichen 
beide  Arten  der  Symbole  nicht  bloß  ein  wahrscheinlich  viel  längerer 
Zeitraum,  sondern  sie  weichen  auch  in  ihrer  qualitativen  Beschaffen- 
heit weit  mehr  voneinander  ab.   Zwar  sind  schon  bei  dem  Kinde  neben 
den   ursprünglichen    Greifbewegungen  sehr  früh  hinweisende  Hand- 
und  Fingergebärden  zu  beobachten,  während  malende  Zeichen  einer 
wesentlich  späteren  Zeit  angehören.      Aber  beide  stehen  hier  doch 
einander  näher,  so  daß  sie  sich  unmittelbar  miteinander  verbinden 
können.     So  drückt  das  Kind  etwa  den  Wunsch,  von  der  Wärterin 
aufgenommen  und  geschaukelt  zu  werden,  durch  wiederholtes  rhyth- 
misches Heben  und   Senken   seiner  gegen   sie  ausgestreckten  Arme 
aus.    Die  demonstrativen  Symbole  der  Naturvölker  dagegen,  die  als 
die  ersten  Vorläufer  der  Bilderschrift  gelten  können,  gehören  über- 
haupt einer  andern  Gattung  objektiver  Merkzeichen  an.       Ein  ge- 
knickter Zweig  deutet  etwa  dem  später  Kommenden  den  Weg  an, 
den  ein  Vorausgehender  eingeschlagen  hat,  oder  quer  über  den  Weg 
gelegt  warnt  er  vor  dem  Begehen  desselben.     Andere  Wegzeichen, 
die  sich  da  und  dort  noch  bis  in  unsere  Tage  erhalten  haben,  sind  in 
den  Weg  gelegte  Steine,  in  den  Sand  gezeichnete  oder  auf  Stein  ge- 
ritzte Pfeile  usw.  1).     Solche  Wegmarken  sind,  wie  Vierkandt  richtig 
bemerkt  hat,  offenbar  nicht  sowohl  Erfindungen  als  Nachbildungen 
zufällig  vorgefundener   Gegenstände,   die  der  Wandernde  zuerst  zu 
seiner  eigenen  Orientierung  benutzt  hat.    Ist  die  natürhche  Wegmarke 
erst  einmal  zum  Hilfsmittel  der  Mitteilung  an  andere  geworden,  so 
kann  sie  sich  dann  aber  gelegentlich  auch  schon  mit  einem  Bildzeichen 
verbinden.    So  kann  etwa  ein  in  den  Sand  gezeichneter  Fisch  als  Weg- 
marke dienen,  um  die  Genossen  auf  eine  zum  Fischfang  günstige  Stelle 
aufmerksam  zu  machen^).     Doch  die  planmäßigere  Verwendung  des 
gezeichneten  Bildes  zur  Mitteilung  knüpft  in  der  Regel  erst  an  jene 
fortgeschritteneren  Gebilde  zeichnender  Kunst  an,  welche  auf  Fels- 
wänden und  in  Felshöhlen,  die  als  Zufluchtsstätten  dienen,  zunächst 


1)  G.  Mallery,  First  Report  of  the  Ethnol.  Bureau,  Washington,  187&— 80. 
A.  Vierkandt,  Die  Stetigkeit  im  Kulturwandel,  1908,  S.  49. 

2)  K.  von  den  Steinen,  Unter  den  Naturvölkern  Zentralbrasiliens,   1897. 
S.  232. 


Gebärdensprache  und  Bilderschrift.  243 

ebenfalls  ohne  Absicht  der  Mitteilung  entstanden  sind,  aber  doch 
im  Gegensatz  zu  den  natürlichen  Wegmarken  von  hinweisender  Be- 
deutung bereits  eine  gewisse  Kunstübung  voraussetzen.  Eben  darum 
trennt  mm  aber  eine  ziemlich  weite  Strecke  der  Entwicklung  primi- 
tiver Kultur  jene  hinweisenden  Zeichen  von  den  Bildern,  die  als  Äqui- 
valente darstellender  Gebärden  dienen.  Auch  ist  der  Weg,  der  zwischen 
der  primitiven  Kunst  als  solcher  und  ihrer  Verwendung  zur  Mitteilung 
liegt,  offenbar  ein  weit  größerer  als  bei  den  zufällig  vorgefundenen 
Wegmarken.  Mag  nun  das  Bild  zunächst  noch  ganz  aus  dem  Trieb 
des  in  seiner  Felsklause  sitzenden  primitiven  Künstlers  entstanden 
sein,  sich  die  Tiere,  denen  er  als  Jäger  nachstellt,  oder  vor  denen  er 
Schutz  sucht,  lebendiger  zu  vergegenwärtigen,  als  es  das  bloße  Er- 
innerungsbild vermag,  oder  mag  sich  auf  einer  etwas  späteren  Stufe 
der  magische  Eindruck,  der  dem  Gegenstand  anhaftet,  auf  sein  Bild 
übertragen  und  dieses  zum  Objekt  eines  primitiven  Zauberkults  machen, 
beide  Motive  liegen  noch  weit  von  der  Bilderschrift  entfernt.  Eben- 
sowenig lassen  sich  aber  die  Produkte  dieser  zeichnenden  Kunst  als 
Erzeugnisse  eines  Spieles  der  Phantasie  betrachten,  das  nur  um  seiner 
erfreuenden  Wirkung  willen  geübt  werde.  Die  primitive  Kunstleistung 
mag  erfreuen,  nachdem  sie  da  ist,  aber  wo  sie  überhaupt  noch  nicht 
existiert,  da  kann  sie  auch  keine  lusterregende  Wirkung  ausüben. 
Was  ihr  dagegen  von  frühe  an  eigen  ist,  das  ist  der  Trieb,  die  Affekte 
in  ihren  natürlichen  Ausdrucksformen  der  mimischen  und  panto- 
mimischen Bewegungen  kundzugeben.  Hier  sind  es  insbesondere  die 
pantomimischen  Affektäußerungen,  die  belebend  und  verstärkend 
auf  die  Vorstellungsinhalte  der  Affekte  selbst  zurückwirken.  Wie 
der  primitive  Tiertanz  die  Bewegungen  der  Tiere  nachahmt,  weil  ihr 
Erinnerungsbild  die  gleichen  Affekte  wachruft,  die  das  Tier  selbst 
erregte,  so  ist  auch  die  Zeichnung  zunächst  nur  ein  Ausdruck  der 
lebendigen,  durch  pantomimische  Mitbewegungen  sich  verstärkenden 
Erinnerung  an  den  Gegenstand.  Und  wie  der  Tanz  erst  durch  das 
lebendige  Spiel  der  rhythmischen  Bewegungen  die  an  diese  gebun- 
denen Lustgefühle  erweckt,  so  kann  das  Wohlgefallen,  das  sich  an  die 
ersten  Übungen  der  zeichnenden  Kunst  knüpft,  nicht  die  Ursache 
ihrer  Entstehung,  sondern  nur  eine  Folgewirkung  sein,  die  dann  aller- 
dings, einmal  entstanden,  auf  ihre  Weiterbildung  fördernd  einwirkt. 

16* 


244  I^iß  Gebärdensprache. 


So  stehen  sicli  der  Tiertanz  und  die  Tierzeichnung  als  natürliche  Aus- 
drucksformen gegenüber,   in   denen   sich  das  Leben   des  primitiven 
Jägers  spiegelt:  beim  Tanz  in  der  Rückwirkung  des  erinnerten  Bildes 
auf  den  eigenen  Körper,  bei  der  Zeichnung  in  dem  Trieb  das  erinnerte 
Bild  in  der  Anschauung  festzuhalten.    Darum  ist  es  nicht  bedeutungs- 
los, daß  allem  Anscheine  nach  die  Felshöhle  die  früheste  Stätte  zeich- 
nender Kunst  ist.      Sie  macht  die  pantomimische  Selbstdarstellung 
des  innerlich  Geschauten  am  eigenen  Körper  unmöglich;  um  so  mehr 
drängt  sie  dazu,  das  durch  die  Pantomime  in  die  Luft  gezeichnete 
flüchtige  Bild  auf  dauerndem  Material  zu  fixieren.     Danach  ist  jene 
primitive  Form  der  Pantomime,  die  Tiernachahmung,  der  entsprechenden 
Form  der  Zeichnung,  dem  Tierbild,  lange  vorangegangen,  und  zwischen 
diesem  und   seinem  Übergang   in   einer  Bilderschrift    liegt  abermals 
ein  großer,  wahrscheinlich  durch  verschiedene  Stufen  eines  sukzessiven 
Bedeutungswandels   vermittelter   Zeitraum.      Das   gezeichnete   Bild, 
zunächst   wohl   ohne   die   Absicht  dauernder  Erhaltung   entstanden, 
wird  durch  seine  Dauer  von  selbst  in  doppeltem  Sinne  zu  einem  Er- 
innerungsmal:  es  erinnert  den,  der  es  geschaffen,  an  früher  Gesehenes 
und  Erlebtes,  und  es  erinnert,  wo  es  von  besonderer  Kunstfertigkeit 
Zeugnis  gibt,  an  seinen  Urheber.     So  wird  von  den  Buschmännern  ' 
berichtet,  daß  sie  sich  scheuen,  die  Malereien  der  Felshöhlen  zu  über- 
malen, solange  sie  sich  ihrer  Urheber  erinnern^).    In  dem  Augenblick, 
wo  diese  primitive  Kunst  von  der  Nachbildung  einzelner  Tier-  oder 
Menschengestalten  zur  Darstellung  ganzer  Szenen  überging,  in  denen 
sich  der  primitive  Künstler  selbst  ein  eindrucksvolles  Erlebnis  ver- 
gegenwärtigte,  mußte  nun   dieses  Erinnerungsmal  eine  von   seinem 
Schöpfer  imabhängige  objektive  Bedeutung  gewinnen.    Es  wurde  zum 
Denkmal,  das  die  Erinnerung  an  ein  Ereignis  länger,  als  es  die  bloße 
mündliche  Überlieferung  vermochte,  festhielt^).   Aber  auch  dem  Denk- 
mal auf  dieser  Grenze  zwischen  unabsichtlich  entstandenem  und  will- 
kürlich  geschaffenem   Erinnerungsmal   fehlt   zum    Übergang   in    die 
Bilderschrift  noch  eins:  die  Absicht  der  Mitteilung.     Gewiß  ist  auch 


^)  Moszeik,  Die  Malereien  der  Buschmänner,  S.  27. 

2)  Über  Buschmannszeichnungen,  die  hierher  gehören,  vgl.  Bd.  3  ^,  Kap.  II> 


S.  187. 


Gebärdensprache  und  Bilderschrift.  245 

sie  gewissermaßen  latent  schon  vorhanden.  Der  primitive  Künstler 
wünscht,  je  stolzer  er  auf  die  Produkte  seiner  Kunst  sein  darf,  um 
so  mehr,  daß  sie  auch  von  andern  gesehen  werden.  Aber  noch  mangelt 
in  diesem  Stadium  der  Zweck  einer  bestimmten  Mitteilung,  die 
in  der  Zeichnung  zur  Darstellung  gelangt,  und  durch  die  sich  die  letz- 
tere von  selbst,  ebenso  wie  der  Gedanke,  den  sie  ausdrückt,  in  einzelne 
zueinander  in  Beziehung  gesetzte  Teile  gliedert.  Diesen  Übergang 
vermittelt  dann  sichtlich  zumeist  der  Hinzutritt  von  Linien,  die, 
zwischen  den  einzelnen  Teilen  des  Bildes  gezogen,  solche  Beziehungen 
andeuten,  ähnlich  wie  in  der  Gebärdensprache  zwischen  den  zeich- 
nenden hinweisende  Gebärden  in  interpretierendem  Sinne  eingeschaltet 
werden.  Gerade  dieser  letzte  Schritt  ist  wahrscheinlich  der  größte 
in  dieser  ganzen  Entwicklung,  und  die  ausgebildete  Bilderschrift, 
zu  der  er  erst  geführt  hat,  liegt  daher  schon  auf  der  Schwelle  von  der 
primitiven  zu  einer  entwickelten  Kultur.  Die  Bilderschrift  selbst 
wird  aber  dadurch  zu  einer  transitorischen  Erscheinung.  Denn  je 
zusammengesetzter  die  Mitteilungen  werden,  um  so  mehr  drängt  dies 
zur  Abkürzung  der  Bilder  und  zum  Gebrauch  symbolischer,  nicht 
ohne  weiteres  verständlicher  Zeichen,  damit  aber  auch  zu  einer  künst- 
lichen Begriffschrift,  wie  sie  uns  die  ältere  Hieroglyphik  der 
Ägypter  und  die  Zeichensysteme  der  süd-  und  zentralamerikanischen 
Kulturvölker  vor  Augen  führen. 

Innerhalb  jener  Übergangszone,  wo  die  Bilderschrift  noch  Bild 
und  Schrift  zugleich  ist,  Bild  in  ihrer  unmittelbar  anschaulichen  Be- 
deutung, Schrift  durch  den  Zweck  der  Mitteilung,  greifen  nun  zugleich 
Gebärdensprache  und  Bilderschrift  in  ihrer  Entwicklung  deutlich 
erkennbar  ineinander  ein.  Dieser  Zusammenhang  spricht  sich  auch 
darin  aus,  daß  es  hier  in  manchen  Fällen  zweifelhaft  sein  kann,  ob  ein 
gegebenes  Zeichen  der  Bilderschrift  eine  im  Bild  fixierte  Gebärde, 
oder  ob  umgekehrt  eine  Gebärde  die  flüchtige  Nachahmung  eines 
Bildes  ist.  Bei  beiden  Übergängen  bedarf  es  wiederum  keiner  beson- 
deren Erfindung,  sondern  nur  der  von  selbst  sich  bildenden  Assoziation 
mit  jenen  längst  gebrauchten  Merkzeichen,  wie  sie  etwa  einzuschlagende 
oder  zu  vermeidende  Wege  andeuten.  In  dem  AugenbUck,  wo  sich 
diese  Assoziation  vollzieht,  wird  dann  aber  auch  jenes  hinweisende 
Merkzeichen  in  die  Bilderschrift  herübergenommen,  wo  es  sich  nun 


246 


Die  Gebärdensprache. 


in  eine  der  Zeiclinung  zugefügte  Richtlinie  oder  in  eine  Mehrheit  solcher 
Richtlinien  umwandelt,  die  dem  Beschauer  deutlich  machen,  wie  die 
einzelnen  Teile  des  durch  die  Zeichnung  dargestellten  Gedankens 
zusammenhängen.  Damit  erst  ist  die  eigentliche  Bilderschrift  ins 
Leben  getreten,  und  durch  diese  Verbindung  von  Bildern  mit  richtung- 
gebenden Linien  wird  die  Analogie  mit  den  darstellenden  und  hin- 
weisenden Zeichen  der  Gebärdensprache  zu  einer  vollständigen.  Da- 
mit ist  aber  dann  zugleich  jener  Wechselwirkung  zwischen  beiden 
Formen  der  Mitteilung  Raum  gegeben,  bei  der  einerseits  Gebärden 
direkt  unter  die  Zeichen  der  Bilderschrift  aufgenommen  werden,  an- 


Fig.  33.    Brief  eines  Indianerhäuptlings  in  Bilderschrift. 


der  sei  ts  aber  auch  umgekehrt  diese  auf  jene  zurückwirken.  Da  ims 
über  die  Entstehung  solcher  Zeichen  eine  historische  Tradition  nicht 
zu  Gebote  steht,  so  kann  freilich  hier  nur  aus  der  Beschaffenheit  der 
Symbole  selbst  eine  gewisse  Wahrscheinlichkeit  für  die  eine  oder  die 
andere  jener  Möglichkeiten  gewonnen  werden.  Doch  gibt  es  beson- 
ders in  der  Bilderschrift  Zeichen,  denen  man  auf  den  ersten  Blick 
ansieht,  daß  sie  eigentlich  nur  Andeutungen  von  Gebärden  sind; 
und  nicht  minder  scheinen  andere  auf  ein  nachträglich  erst  durch  eine 
Gebärde  nachgeahmtes  symbolisches  Bild  hinzuweisen. 

Einen  Fall  der  ersten  Art  und  zugleich  ein  typisches  Beispiel 
ursprünglicher  Bilderschrift  bietet  die  Fig.  33.  Sie  ist  die  verkleinerte 
Kopie  eines  aus  der  Gegend  des  oberen  Sees  in  Michigan  stammen- 
den, farbig  auf  Pergament  ausgeführten  Dokuments  in  Bilderschrift, 


Gebärdensprache  und  Bilderschrift.  247 

welches  die  Botschaft  eines  Häuptlings  aus  dem  Adlertotem  (1)  an 
den  Präsidenten  der  Vereinigten  Staaten  (8)  enthält.  Die  Andeutung 
des  letzteren  tritt  in  dem  farbigen  Original  durch  die  weiße  Farbe  des 
Hauses  und  des  Gesichts  der  Figur  noch  deutlicher  hervor  („der  weiße 
Mann  im  weißen  Hause").  Der  Inhalt  der  in  dem  Bilde  ausgedrückten 
Botschaft  ist  etwa  der  folgende^):  „Ich  (1)  und  einige  meiner  Krieger 
(2 — 5)  nebst  einigen  andern  mächtigeren  Häuptlingen  anderer  Totems 
(6,  9)  sind  versammelt  und  bieten  dir  durch  mich  Freundschaft.  Wir 
sind  alle  gleicher  Ansicht  mit  dir.  Drei  Abteilungen  meines  Stammes 
(3,  4,  5)  wollen  von  nun  an  in  Häusern  leben  (7)."  Der  Totem,  dem 
die  Versammelten  angehören,  ist  durch  die  Tiergestalten  (1 — 5  Adler- 
totem, 6  Fischtotem,  9  unbestimmt)  angedeutet.  Die  Häuptlingswürde 
wird  durch  vom  Kopf  aufsteigende  Linien  ausgedrückt:  nach  der 
Zahl  dieser  Linien  ist  zugleich  die  Macht  des  Häuptlings  zu  bemessen. 
Der  Brief  sehr  eiber  (1)  stellt  also  seine  eigene  Macht  —  sei  es  wahr- 
heitsgemäß, sei  es  aus  Höflichkeit  gegen  seine  Gäste  —  weit  niedriger 
als  die  von  6  und  9.  Das  Anerbieten  von  Friede  und  Freundschaft 
wird  durch  die  ausgestreckte  Hand,  die  Übereinstimmung  der  An- 
sichten durch  die  Linien  symbolisiert,  welche  die  Augen  aller  an  der 
Botschaft  Beteiligten  mit  dem  rechten  Auge  des  Präsidenten  ver- 
binden. Der  Wille  der  drei  Stammesgenossen  (3,  4,  5),  sich  häuslich 
niederzulassen,  also  das  Jägerleben  aufzugeben,  wird  durch  drei  unter 
ihnen  gezeichnete  Häuser  angedeutet  (7).  Dabei  dürfte  das  größere 
Haus  unter  dem  größeren  Vogel  wieder  die  bedeutendere  Macht  dieses 
Kriegers  im  Vergleiche  mit  den  beiden  andern  ver sinnlichen.  Man 
muß  gestehen,  daß  ein  Brief  in  gewöhnlicher  Schrift  und  Sprache 
eine  derartige  Botschaft  kaum  kürzer  auszudrücken  vermöchte,  und 
daß  er  diese  jedenfalls  nicht  in  so  anschaulicher  Weise  wiedergeben 
würde.  Die  einzelnen  Zeichen,  die  das  Schriftstück  zusammensetzen, 
sind  teils  nachbildende,  wie  der  Präsident  in  seinem  Hause  (8)  und 
die  drei  Häuser  unter  den  Kriegern  (7),    teils    halbsymbolische:    so 


^)  Die  farbige  Kopie  nebst  Erklärung  siehe  bei  Schoolcraft,  Ethnological 
Researches  resp.  the  Red  Man  of  America,  1851,  I,  PI.  62,  p.  418  f.  Die  bei  School- 
craft dem  Original  nahekommende  Größe  ist  in  Fig.  33  auf  die  Hälfte 
verkleinert. 


248  Die  Gebärdensprache. 


die  Totemf iguren ;  teils  sind  sie  ganz  symbolisclie :  so  die  Bezeich- 
nungen der  Häuptlingswürde,  die  Freundschaftsversicherung  und 
der  Ausdruck  der  Übereinstimmung.  Die  Bilder  der  ersten  Art  sind 
möglicherweise  der  Bilderschrift  ursprünglich  eigen.  Wo  sie  gleich- 
zeitig als  Gebärden  vorkommen,  wie  die  Andeutung  eines  Hauses 
durch  seine  in  die  Luft  gezeichneten  Begrenzungslinien,  da  kann  dies 
ebensogut  Nachahmung  eines  wirklichen  Hauses  wie  die  eines  Bildes 
sein.  Insofern  sich  Gebärde  und  Bild  in  gewissem  Sinne  wie  Skizze 
und  Ausführung  verhalten,  mögen  sie  wie  diese  in  Wechselbeziehung 
zueinander  entstanden  sein.  Anders  ist  das  mit  den  ganz  symbolischen 
Gebärden,  die  eigentlich  den  Hauptinhalt  der  Mitteilung  in  dem  obigen 
Beispiel  ausmachen.  Hier  kann  zunächst  nicht  zweifelhaft  sein,  daß 
die  ausgestreckte  Hand  die  unmittelbare  Nachahmung  der  entsprechen- 
den Gebärde  ist.  Bemerkenswert  noch  ist  aber  die  Übertragung 
der  Gebärde  in  die  Bilderschrift,  wo  diese  zugleich  Veränderungen 
mit  sich  bringt,  die  in  der  abweichenden  Ausführung  ihren  Grund 
haben.  Dahin  gehören  in  erster  Linie  in  Fig.  33  die  an  den  Köpfen 
der  Figuren  1,  6  und  9  nach  oben  gerichteten  Striche,  welche  die 
Häuptlingswürds  andeuten.  Diese  symbolischen  Striche  werden  uns 
sofort  verständlich,  wenn  wir  uns  des  Zeichens  erinnern,  das  in  der 
Gebärdensprache  der  Indianer  einen  Häuptling  andeutet,  und  das 
in  der  Bewegung  beider  Hände  vom  Kopfe  an  aufwärts  besteht  (S.  186). 
Die  beiden  Linien,  die  wir  über  dem  Kopf  der  Fig.  1  bemerken,  sind 
augenscheinlich  nichts  anderes  als  Andeutungen  dieser  Gebärde.  Es 
mag  dann  aber  allerdings  eine  selbständige  Weiterbildung  dieses  Zeichens 
in  der  Bilderschrift  sein,  wenn  wir,  um  die  noch  höhere  Würde  und 
Macht  anzudeuten,  die  Zahl  der  Linien  über  dem  Haupt  in  der  Fig.  6 
auf  fünf,  und  in  der  Fig.  9  auf  sieben  gesteigert  sehen.  Übrigens  zeigt 
diese  Steigerung,  wie  sehr  die  noch  in  unserer  heutigen  Kultur  lebendig 
gebliebenen  Symbole  adeligen  Geschlechts  und  königlicher  Würde 
bis  zu  dieser  einfachen  Symbolik  ursprünglicher  Bilderschrift  und  durch 
sie  sogar  bis  zur  Gebärdensprache  zurückreichen.  Denn  in  dem  Augen- 
blick, wo  sich  die  zwei  Linien  zu  5  oder  gar  7  vermehren,  wird  die  Re- 
miniszenz an  die  Gebärde  zum  primitiven  Bild  einer  Krone;  und  das 
heraldische  Merkmal,  an  dem  sich  heute  noch  die  verschiedenen  Stufen 
adeliger    Geburt   unterscheiden,    scheint   so   in   direkter   Deszendenz 


Gebärdensprache  und  Bilderschrift.  249 


von  der  einfachen  Symbolik  herzukommen,  durch  die  bereits  die  Bilder- 
schrift der  Wilden  das  primitive  Zeichen  der  Macht  zu  Weigern  sucht. 
Ein  ebenfalls  der  Gebärdensprache  entnommenes,  aber  nach  den 
Forderungen  der  Bilderschrift  umgemodeltes  Symbol  tritt  uns  endlich 
in  den  Linien  entgegen,  welche  die  Augen  der  sämtlichen  symbolischen 
Repräsentanten  der  Personen  verbinden.  Übereinstimmung  der  An- 
sichten drückt  die  Gebärdensprache  anschaulich  durch  hinweisende 
Bewegungen  aus,  die  von  Auge  zu  Auge  gehen,  ähnlich  wie  die  Über- 
einstimmung der  Gefühle  durch  Hinweisung  zuerst  auf  das  eigene  Herz, 
dann  auf  das  des  Angeredeten,  oder  Austausch  der  Meinungen  in 
Rede  und  Gegenrede  durch  eine  den  eigenen  Mund  mit  dem  Munde 
des  andern  verbindende  Bewegung.  Die  Bilderschrift  der  Indianer 
hat  nun  alle  diese  Zeichen  aufgenommen,  indem  sie  die  Bewegung  der 
Hand  oder  des  Zeigefingers  in  einer  bestimmten  Richtung  jedesmal 
durch  eine  verbindende  Linie  ersetzt.  Ähnlich  der  in  Fig.  33  dar- 
gestellten Vereinigung  der  Augen  finden  sich  so  in  andern  Dokumenten 
namentlich  Verbindungslinien  zwischen  den  in  den  Körperumriß  ein- 
gezeichneten Herzen  sehr  häufig.  Diese  Herzen  sieht  man  ohne  solche 
Linien  auch  an  den  beiden  Figuren  6  und  8  der  Fig.  33.  In  einzelnen 
Fällen  indianischer  Bilderschrift  erstrecken  sich,  um  die  Überein- 
stimmung der  Ansichten  und  Gefühle  mit  besonderer  Emphase  her- 
vorzuheben, die  Verbindungslinien  gleichzeitig  zwischen  den  Augen 
und  den  Herzen^).  Auf  andern  wird  eine  Unterredung  dadurch  sym- 
bolisiert, daß  die  die  Lippen  verbindenden  Linien  unterbrochen,  oder 
daß  statt  ihrer  einzelne  fingerähnliche  Körperchen,  die  von  Mund  zu 
Mund  zu  fliegen  scheinen,  gezeichnet  sind 2),  ähnlich  jenen  naiven 
Madonnen-  und  Heiligenbildern  der  älteren  deutschen  Meister,  aus 
deren  Munde  auf  langen  Streifen  die  Worte  hervorquellen.  Es  mag 
dahingestellt  bleiben,  ob  hierdurch  nur  die  Gliederung  der  Rede  in 
Worte  angedeutet  werden  soll,  oder  ob  darin  noch  eine  unmittelbare 
Beziehung  auf  die  Hin-  und  Herbewegung  des  Zeigefingers  enthalten 
ist.  Wie  es  sich  aber  damit  verhalten  mag,  jedenfalls  führen  alle  diese 
symbolischen  Zeichen  auf  Entlehnungen  aus  der  Gebärdensprache  zurück, 


1)  Schoolcraft  a.  a.  0.  PL  60,  p.  416. 

2)  Mallery,  Sign  Language,  Fig.  192—194,  p.  374  ff . 


250  I^iß  Gebärdensprache. 


wenn  sie  auch  von  dieser  losgelöst  eine  Art  selbständigen  Daseins 
führen  können. 

Diesen  Fällen,  in  denen  die  Bilderschrift  gewisse  Zeichen  ursprüng- 
lich der  Gebärdensprache  entnommen  hat,  stehen  jedoch  andere  gegen- 
über, wo  die  umgekehrte  Wanderung  wahrscheinlich  ist.  Namentlich 
die  Klasse  der  symbolischen  Gebärden  bietet  hier  wieder  Beispiele. 
So  kann,  wie  früher  bemerkt  wurde,  das  Gebärdensymbol  der  Gerech- 
tigkeit (Fig.  31  e,  S.  195)  nur  als  Nachbildung  der  bekannten  plastischen 
Darstellungen  der  Justitia  verstanden  werden.  Aber  selbst  unter  den 
Symbolen  der  primitiven  Bilderschrift  fehlen  solche  nicht,  die  wahr- 


Fig.  34.    Handelsbrief  eines  Indianers  in  Bilderschrift. 

scheinlich  erst  aus  ihr  in  die  Gebärdensprache  übergegangen  sind. 
Ein  Beispiel  dieser  Art  enthält  ein  vom  Prinzen  Wied  mitgeteilter, 
in  Fig.  34  wiedergegebener  Brief  eines  Mandan -Indianers  an  einen 
Pelzhändler  ^).  Eechts  ist  ein  Bison,  eine  Fischotter  und  ein  Fischer 
(Mustela  canadensis)  abgebildet,  links  eine  Flinte,  ein  Biber  und  hinter 
diesem  30  Striche.  Zwischen  beiden  Gruppen  findet  sich  ein  Kreuz, 
das  in  der  Bilderschrift  der  Indianer  das  Zeichen  des  Tausches  ist. 
Dementsprechend  ist  der  Sinn  des  Briefes  dieser:  „Ich  biete  dir  die 
Felle  eines  Bisons,  einer  Fischotter  und  eines  Fischers  gegen  eine  Flinte 
und  dreißig  Biberfelle  an."  Nun  haben  wir  gesehen,  daß  das  Kreuz 
in  der  Form  zweier  gekreuzter  Zeigefinger  auch  als  symbolische  Ge- 


^)  Reise  in  das  innere  Nordamerika,  II,  S.  657,  Beilage  B. 


Gebärdensprache  und  Bilderschrift.  251 

bärde  für  Tausch  vorkommt  (Fig.  32  m).  Man  könnte  daher  vermuten, 
auch  hier  sei  die  Gebärde  in  die  Bilderschrift  übergegangen.  Dem 
steht  aber  entgegen,  daß  unter  dieser  Voraussetzung  die  Entstehung 
der  Gebärde  selbst  dunkel  bleibt.  Verkehr  und  Tausch  durch  Kreuzung 
der  Finger  zu  bezeichnen,  würde  mindestens  eine  sehr  weit  her- 
geholte Symbolik  sein.  Dagegen  liegt  der  Gebrauch  des  Kreuzes  als 
Bild  in  diesem  Fall  ziemlich  nahe,  sobald  man  sich  der  ursprüng- 
lichen Bedingungen  erinnert,  unter  denen  der  Tauschverkehr  bei 
Völkern  primitiver  Kultur  entsteht.  Überall,  wo  sich  das  Bedürfnis 
eines  solchen  mit  einer  gewissen  Regelmäßigkeit  einstellt,  da  pflegt 
nämlich  dieser  Orte  zu  wählen,  an  denen  sich  die  von  verschiedenen 
Siedelungen  und  Jagdgebieten  kommenden  Wege  kreuzen.  Noch 
auf  einer  erheblich  höheren  Verkehrsstufe,  in  der  Wirtschaftsent- 
wicklung des  deutschen  Mittelalters,  hat  sich  daher  an  den  Kreuzweg 
der  Markt  und  an  den  Ort  des  Marktes  mit  den  ihm  erteilten  öffent- 
lichen Gerechtsamen  der  Anfang  eines  städtischen  Gemeinwesens 
angeschlossen^).  Auch  wenn  noch  keine  festen  Pfade  durch  das  Ge- 
filde gelegt  sind,  bilden  sich  durch  den  Zug  der  Gebirge,  der  Täler 
und  Flußläufe  und  infolge  der  Verbreitung  verschiedener  Horden 
über  bestimmte  Territorien  solche  Kreuzimgspunkte  des  Verkehrs 
aus,  die  zu  natürlichen  Tauschplätzen  werden,  sei  es,  daß  die  Tauschen- 
den persönlich  zusammentreffen,  sei  es,  daß  sie  an  diesen  Orten  die 
Gegenstände,  die  sie  auszutauschen  wünschen,  niederlegen.  Demnach 
ist  jenes  Symbol  der  Bilderschrift  ohne  weiteres  erklärlich,  wenn  man 
es  als  die  Andeutung  eines  solchen  dem  primitiven  Tauschverkehr 
dienenden  Ortes  auffaßt.  Dann  ist  aber  das  Zeichen  der  Kreuzung 
der  Finger  für  „Tausch"  offenbar  aus  der  Bilderschrift  in  die  Ge- 
bärdensprache hinübergewandert. 

Ähnliche  Wechselwirkungen  zwischen  Gebärde  und  Schrift  be- 
gegnen uns  schließlich  bei  jener  eigenartigen  Bilderschrift,  die,  in- 
mitten unserer  Kulturwelt  entstanden,  trotzdem  eine  natürliche  Ähn- 
lichkeit mit  den  primitiven  Bilderschriften  der  Naturvölker  bewahrt: 
in  den  schon  oben  (S.  161,  Anm.  1)  erwähnten  „Zinken"  der  Gauner. 
So  wird  bei  ihnen,  wie  bei  den  Indianern,  die  Nacht  durch  eine  ge- 


^)  Vgl.  Lamprecht,  Deutsche  Geschichte,  III,  S.  32  ff. 


252  Die  Gebärdensprache. 


wölbte  Decke,  die  Freude  oder  ein  freudiges  Ereignis  durch  ein  Herz 
bezeichnet.  Zwei  dachähnlich  sich  aneinander  lehnende  schräge  Linien, 
die  dem  Indianer  ein  Zelt  oder  Haus  bedeuten,  sind  Zeichen  des  Ge- 
fängnisses. Wird  damit  noch  das  gleiche  Zeichen  in  umgekehrter 
Stellung  kombiniert,  so  ist  dies  das  Symbol  der  ,, Enthaftung".  Eine 
große  Rolle  spielen  aber  besonders  die  symbolischen  Zeichen:  so  be- 
zeichnet eine  aufrecht  stehende  gerade  Linie  ,, standhaftes  Leugnen", 
eine  horizontale  Linie  dagegen  ,, Eingeständnis"  usw.  ^).  Die  Über- 
einstimmungen mit  der  Bilderschrift  der  Naturvölker  ist  augenfällig, 
wenn  auch  im  Hinblick  auf  den  spezifischen  Interessenkreis  und  auf 
den  Umstand,  daß  die  Zeichen  der  Gauner  den  Charakter  einer  Ge- 
heimschrift besitzen,  Unterschiede  nicht  fehlen. 


4.  Psychologischer  Charakter  der  Gebärdensprache. 

Die  im  Eingange  dieses  Kapitels  berührte  Frage,  ob  die  Gebär- 
densprache erfunden  sei,  oder  ob  sie  sich  aus  allgemeingültigen  Be- 
dingungen der  psychophysischen  Organisation  des  Menschen  nach 
bestimmten,  überall  wiederkehrenden  psychologischen  Gesetzen  ent- 
wickelt habe,  kann  wohl  nach  den  vorangegangenen  Ergebnissen 
für  erledigt  gelten.  Die  natürliche  Gebärdensprache,  die  sich  unter 
ähnlichen  Bedingungen  immer  wieder  spontan  in  ähnlichen  Formen 
entwickelt,  trägt  eben  in  dieser  Übereinstimmung  der  Bedingungen 
und  ihrer  Wirkungen  die  zuverlässigste  Bürgschaft  ihrer  von  äußerem 
Zwang  und  willkürlicher  Erfindung  gleich  unabhängigen  psycholo- 
gischen Gesetzmäßigkeit  in  sich.  Aber  diese  Gesetzmäßigkeit  schließt 
willkürliche  Einflüsse  Einzelner  und  künstliche  Erfindungen,  die  an 
der  Vervollkommnung  der  Gebärdenmitteilung  im  Interesse  beson- 
derer durch  sie  zu  erreichender  Zwecke  arbeiten,  keineswegs  aus. 
Solche  Einflüsse  springen  in  einzelnen  Fällen  deutUch  genug  in  die 
Augen.     Sie  sind  an  den  Umdeutungen  der  Zeichen  zu  erkennen,  die 


^)  Hanns  Gross,  Handbuch  für  Untersuchungsrichter  3,  1899,  S.  261,  275  ff. 
Archiv  für  Kriminalanthropologie  und  Kriminalstatistik,  II,  S.  1,  33  ff.  (Dazu 
Taf.  20  ff.) 


Psychologischer  Charakter  der  Gebärdensprache.  253 


der  Absiclit,  die  Gebärdensprache  zu  einer  Gebeimsprache  zu  machen, 
entstammen,  wie  bei  manchen  der  neapolitanischen  Symbole.  Eben- 
so weisen  die  sichtbaren  Entlehnungen  aus  der  Bilderschrift  und  deren 
weitere  symbolische  Umgestaltungen  auf  ähnliche  Einflüsse  hin.  Man 
erinnere  sich  z.  B.  der  verschiedenen  Umdeutungen  des  Symbols  der 
Gerechtigkeit  (Fig.  31  e,  S.  195)  und  an  das  Tauschsymbol  mit  seinen 
Weiterbildungen  (Fig.  32  m  und  w,  S.  197).  Motive,  die  solche  künst- 
liche Übertragungen  hervorbringen,  und  die  aller  Wahrscheinlichkeit 
nach  auf  willkürliche  Einfälle  Einzelner  zurückgehen,  begleiten  von 
Anfang  an  die  Entwicklung  der  Gebärdensprache,  und  es  erhebt  sich 
daher  unabweislich  die  Erage  nach  dem  Verhältnis  dieser  Momente 
natürlicher  Entstehung  und  künstlicher  Umbildung  überhaupt.  Diese 
Frage  hängt  aber  wieder  auf  das  engste  mit  der  andern  zusammen, 
welches  in  beiden  Fällen  die  psychischen  Vorgänge  sind,  aus  denen 
die  äußeren  Wirkungen  entspringen,  und  in  welchen  Beziehungen 
hier  die  generellen,  auf  allgemeingültigen  psychischen  Gesetzen  be- 
ruhenden Prozesse  zu  den  individuellen,  ursprünglich  auf  ein  einzelnes 
Bewußtsein  beschränkten  Motiven  stehen. 

Für  die  Beantwortung  beider  Fragen  bildet  der  Ursprung  der 
Gebärden  aus  den  Ausdrucksbewegungen  die  feste  Grundlage^ 
von  der  die  psychologische  Analyse  ausgehen  muß.  Dieses  Ursprungs- 
gesetz führt  mit  Notwendigkeit  zu  der  Voraussetzung,  daß  die  pri- 
märe Ursache  einer  natürlichen  Gebärde  nicht  in  dem  Motiv  der  Mit- 
teilung einer  Vorstellung,  sondern  in  dem  des  Ausdrucks  einer 
Gemütsbewegung  liegt.  Die  Gebärde  ist  zunächst  und  ursprüng- 
lich Affektäußerung.  So  wesentlich  es  für  die  Gebärdensprache 
ist,  daß  sie  sich  über  diese  Stufe  allmählich  erhebt,  so  würde  sie  selbst 
doch  ohne  ursprüngliche  Affektmotive  niemals  entstehen  können. 
Nur  sekundär,  insofern  jeder  Affekt  gefühlsstarke  Vorstellungen  ent- 
hält, wird  die  Gebärde  zugleich  Vor  Stellungsäußerung.  In  den  weiteren 
psychischen  Wirkungen,  die  sich  an  diesen  Nebenbestandteil  der 
Affektäußerung  knüpfen,  liegt  aber  die  Ursache  für  die  ganze  Weiter- 
entwicklung zur  eigentlichen  Gebärdensprache.  Als  Vorstellungs- 
äußerung vor  allem  vermag  die  Ausdrucksbewegung  in  andern  die 
gleichen  Affekte  wachzurufen,  indem  durch  die  Einwirkung  überein- 
stimmender  Vorstellungen   erst   eine   Übereinstimmimg   der   Affekte 


254  I)ie  Gebärdensprache. 


entstehen  kann.      Die   Gefühlsäußerungen  vermögen  immer  nur  die 
gleichen  Grundrichtungen  der  Gemütsbewegung  anzugeben  und  wieder- 
zuerzeugen.     Einen  sichern  Anhalt  gewinnt,  wie  der  Affekt  selbst, 
so  auch  seine  Wiederentstehung  im  andern  durch  die  Vorstellungs- 
inhalte   und    durch    die    Bewegungen,    in    denen    sich    diese   nach 
außen    kundgeben.       Mit    der    Wiedererzeugung    des    Affekts    geht 
aber    noch    ein    anderer    Einfluß    der   Vorstellungsäußerung   Hand 
in  Hand.    Indem  diese  der  in  dem  Genossen  entstandenen  Wieder- 
spiegelung   der  Gemütsbewegung    ein    festeres    Substrat    gibt,    regt 
sie    weitere    Vorstellungen   an,    die    mit   den    durch    die    Gebärden 
mitgeteilten    in    Beziehung    stehen,     sie    weiterführen     oder    auch, 
wenn  sich  widerstrebende  Affekte  regen,   zu  ihnen  in  einen  Gegen- 
satz treten.      Jetzt  ist  daher  die    Gebärde   des  Zweiten  nicht  mehr 
ein    bloßer    Reflex    der    Bewegung    des    Ersten,    sondern    aus    der 
Mitbewegung  ist  eine  Antwortbewegung  geworden.     Mögen  zu- 
nächst die  Grenzen  zwischen  dieser  und  jener  noch  ineinanderfließen, 
allmählich    müssen    sie    sich,    je    reger    die    Vorstellungsbewegungen 
im  individuellen  Bewußtsein  werden,   weiter  und  weiter  entfernen. 
War  die  Antwort  zuerst  wenig  mehr  als  eine  Nacherzeugung  desselben 
Vorstellungsinhalts,  so  tritt  im  weiteren  Verlaufe  die  Wiederholung 
des  Wahrgenommenen  hinter  den  neu  angesponnenen  Vorstellungs- 
inhalten zurück.    Auf  diese  Weise  ist  der  individuelle  in  einen  gemein- 
samen, unter  der  fortwirkenden  Hin-  und  Herbewegung  der  Gebärden 
sich  fortan  verändernden  Affekt  übergegangen.      Indem  sich  dann 
noch  durch  die  überwiegende  Betonung  der  Vorstellungsinhalte  die 
Gefühlselemente  der  Affekte  und  dadurch  die  Affekte  selbst  ermäßigen, 
wird  endlich  der  gemeinsam  erlebte,  mit  der  Gebärdenäußerung  hin- 
und  herwogende  Affekt  zum  gemeinsamen,  im  Wechselverkehre 
der    Gebärdenäußerung  sich   betätigenden   Denken. 

Ihrem  psychologischen  Charakter  nach  sind  somit  die  Bewegungen, 
aus  denen  sich  die  ursprünglichen  Gebärden  und  ihre  Übergänge  in 
eine  mehr  und  mehr  sich  regelnde  Gebärdenmitteilung  zusammen- 
setzen, Triebhandlungen,  d.  h.  Willenshandlungen,  die  auf  ein 
einziges  Motiv  erfolgen  und  diesem  Motiv  angepaßt  sind,  aber  ohne 
einen  irgend  merklichen  Zusammenstoß  desselben  mit  weiteren  Mo- 
tiven zu  verraten  (vgl.  S.  44  ff.).    Insofern  nun  ein  Motiv  stets  in  einem 


Psychologischer  Charakter  der  Gebärdensprache.  255 

Gefühl  mit  entsprechendem  Vorstellungsinhalt  oder,  wie  wir  es  bei 
etwaigem  Übergewicht  des  letzteren  ausdrücken  können,  in  einer 
gefühlsstarken  Vorstellung  besteht,  wird  auch  bei  der  Triebhandlung 
der  Effekt  in  dem  Vorstellungsinhalt  des  Motivs  antizipiert.  Die 
Hinweisung  auf  die  Objekte  oder  bei  stärkerer  Affekterregung  deren 
Nachbildung  durch  die  eigene  Bewegung  ist  daher  Affektsymptom 
und  Motivsymptom  zugleich:  die  Gebärde  ist  unmittelbarer  Ausdruck 
derjenigen  Vorstellungen,  die  den  Affekt  im  Augenblicke  beherrscht. 
Bei  der  ursprünglichen  Ausbreitung  von  Affektäußerungen  ist  es  das- 
selbe Motiv,  das  in  einem  Ersten  die  Gebärde  erzeugt,  und  das  dann 
in  einem  Zweiten  wieder  anklingt,  um  den  nämlichen  äußeren  Erfolg 
herbeizuführen.  Indem  aber  jenes  Motiv  in  dem  Zweiten  allmählich 
noch  weitere  Motive  hervorruft,  ändert  sich  entsprechend  die  Ge- 
bärdenäußerung. Auf  diese  Weise  vollzieht  sich,  immer  noch  in  den 
Grenzen  bloßer  Triebhandlungen,  der  Übergang  der  Mitbewegung 
in  die  Antwortbewegung,  der  der  eigentliche  Geburtsmoment  der 
Gebärdensprache  ist.  Doch  liegen  allerdings  in  eben  jenen  Verände- 
rungen, aus  denen  der  Wechsel  der  Motive  und  ihrer  äußeren  Wir- 
kungen bei  der  Hin-  und  Herbewegung  der  Gebärden  entsteht,  zu- 
gleich die  Bedingungen  für  ein  allmählich  hervortretendes  willkür- 
liches Handeln,  das  nun  an  entscheidenden  Stellen  in  den  Verlauf 
der  Triebbewegungen  einzugreifen  und  seine  weitere  Richtung  zu 
bestimmen  pflegt.  Denn  sobald  die  von  außen  aufgenommene  Vor- 
stellung andere  Vorstellungen  wachruft,  müssen  diese  nach  den  be- 
sonderen Vorbedingungen  des  individuellen  Bewußtseins  variieren. 
Zudem  können  sich  jetzt  mehrere  Assoziationswirkungen  gleichzeitig 
geltend  machen,  indem  der  Eindruck  nach  verschiedenen  Richtungen 
hin  assoziative  Beziehungen  darbietet.  So  wiederholen  sich  hier  die 
nämlichen  Momente,  welche  die  Willensentwicklung  überall  zeigt. 
Zuerst  entsteht  ein  passiv  erlebter  Kampf  der  Motive,  der  mit  dem 
Übergewicht  eines  bestimmten  Motivs  endigt.  Dieser  Kampf  gestaltet 
sich  dann,  indem  in  wachsendem  Maße  die  Vorerlebnisse  auf  den  gerade 
ablaufenden  Prozeß  einwirken,  zu  einem  Vorgang  der  Wahl  oder 
der  aktiven  Bevorzugung  des  herrschend  gewordenen  Motivs,  der 
sich  von  jenem  passiv  erlebten  Kampf  der  Motive  subjektiv  nur  durch 
die  stärkere  Beteiligung  von  Aufmerksamkeitsvorgängen  und  Tätig- 


256  I^ie  Gebärdensprache. 


keitsgefühlen  unterscheidet.  In  gleichem  Maße  beginnen  sich  dann 
die  Assoziationen  zu  deutlichen  intellektuellen  Prozessen  zu  ordnen: 
bewußte  Beziehungen  und  Vergleichungen  treten  hervor.  Es 
gestaltet  sich  so  allmählich  aus  der  triebartigen  Aufnahme,  Wieder- 
holung und  Umänderung  der  Gebärden  eine  reflektierende  und  in 
entscheidenden  Momenten  erfinderische  Verwendung  und  Umwand- 
lung derselben. 

So  kann  man  denn  schon  von  der  Gebärdensprache,  dieser  un- 
vollkommensten, aber  eben  wegen  ihrer  Un Vollkommenheit  für  die 
allgemeinsten  Probleme  vielleicht  lehrreichsten  Form  der  Sprache, 
sagen,  sie  repräsentiere  in  ihrer  Bildung  alle  Entv/icklungsstufen, 
die  das  geistige  Leben  des  Menschen  überhaupt  zurücklegt.  Darum 
ist  es  aber  auch  nicht  möglich,  sie  auf  eine  einfache  psychologische 
Formel  zurückzuführen.  Die  Sprache,  und  so  bereits  die  Gebärden- 
sprache, ist  ein  treuer  Abdruck  des  Menschen  in  der  Gesamtheit  seiner 
psychischen  Leistungen.  Das  Grundgesetz  aller  geistigen  Entwick- 
lung, wonach  das  Folgende  ganz  und  gar  aus  dem  Vorangegangenen 
entsteht  und  dennoch  ihm  gegenüber  als  eine  neue  Schöpfung  erscheint, 
dieses  Gesetz  der  ,, psychischen  Resultanten''  oder  der  ,, schöpferischen 
Synthese"  bewährt  sich  Schritt  für  Schritt  auch  in  der  Aufeinander- 
folge der  seelischen  Vorgänge,  aus  denen  sich  die  Entwicklung  der 
Gebärdensprache  zusammensetzt.  Jede  Stufe  dieser  Entwicklung 
ist  im  Keime  schon  in  der  vorangegangenen  enthalten  und  ist  doch 
ihr  gegenüber  ein  Neues.  So  ist  die  Antwortgebärde  ein  gewaltiger 
Schritt  nach  vorwärts  gegenüber  der  bloßen  Nachahmung,  und  doch 
ist  sie,  wie  wir  annehmen  dürfen,  aus  dieser  ohne  irgendein  Herein- 
tragen fremdartiger  Kräfte,  rein  durch  die  Steigerung  der  dort  schon 
wirksamen  elementaren  psychischen  Bedingungen  entstanden.  Nicht 
anders  leitet  die  triebartige  Reaktion  auf  äußeye  Eindrücke  in  ein 
willkürliches,  besonnenes  Handeln,  und  dieses  endlich  in  das  Gebiet 
erfinderischer  Leistungen  über.  Hierbei  greifen  nur  mehr  und  mehr 
wegen  der  sich  steigernden  Mannigfaltigkeit  singulärer  Bedingungen 
auch  die  Handlungen  Einzelner  maßgebend  in  das  Getriebe  der  all- 
gemeinen psychischen  Wirkungen  ein.  In  dieser  ganzen  Entwicklung 
erblicken  wir  überall  nur  ein  den  Ereignissen  selbst  immanentes  Fort- 
schreiten  über   die   erreichten    Grenzen,    nirgends   ein   Hineingreifen 


Psychologischer  Charakter  der  Gebärdensprache.  257 

äußerer  fremdartiger  Kräfte,  nirgends  ein  Hervortreten  neuer  spezi- 
fischer „Seelen vermögen".  Was  wir  besonnene  Walil  zwischen  ver- 
schiedenen Motiven  und  erfinderische  Tätigkeit  nennen,  das  ist  eben 
selbst  nur  die  höchste  Steigerung  und  zugleich  der  notwendige  End- 
erfolg der  Wirkung  ursprünglichster  einfacher  Triebe  und  der  zu  diesen 
hinzukommenden,  vor  allem  durch  das  gemeinsame  Leben  gebotenen 
Bedingungen.  In  diesem  naturnotwendigen  und  doch  durch  und  durch 
zwecktätigen,  von  den  vorhandenen  zu  neuen  und  vollkommeneren 
Zwecken  aufsteigenden  Fortschritt  liefert  die  Gebärdensprache  ein 
Beispiel  der  Sprachentwicklung  überhaupt,  ausgezeichnet  durch'  die 
Einfachheit  und  Durchsichtigkeit  der  Erscheinungen. 


Wnndt,  Völkerpsychologie.   I.    4.  Aufl.  1» 


Drittes  Kapitel. 

Die  Sprachlaute. 

I.  Stimmlaute  im  Tierreich. 

1.  Stimmlaute  als  Ausdrucksbewegungen. 

Der  Sprachlaut  ist  psychologisch  betrachtet  eine  Ausdrucks- 
bewegung, vor  andern  ausgezeichnet  durch  die  Beteiligung  der  mus- 
kulösen Tonapparate  des  Kehlkopfes  und  der  Mundhöhle  sowie  der 
respiratorischen  Muskeln,  die  das  Anblasen  dieser  Tonapparate  ver- 
mitteln. Die  besonderen  Muskelwirkungen,  die  dem  so  erzeugten 
Schall  jene  mannigfaltigen  Klang-  und  Geräuschqualitäten  verleihen, 
durch  die  er  seine  Eigentümlichkeit  als  Sprachlaut  gewinnt,  gehören 
im  weiteren  Sinne  dem  Gebiet  der  mimischen  Bewegungen  an.  Vor 
den  stummen  Gefühlssymptomen,  deren  Hauptsitz  die  Mimik  des 
Angesichts  ist,  zeichnen  sich  diese  die  Sprachlaute  begleitenden  mi- 
mischen Bewegungen  nur  dadurch  aus,  daß  an  ihnen  neben  den  äußeren 
innere  Bewegungen  der  in  Mundhöhle  und  Rachen  gelegenen  Muskeln 
beteiligt  sind,  allen  voran  das  durch  feinste  Beweglichkeit  und  Tast- 
empfindlichkeit ausgezeichnete  muskulöse  Organ:  die  Zunge.  Die 
Beziehung  ihrer  Stellungen  und  Bewegungen  zu  den  verschiedenen 
Sprachlauten  hat  sich  der  Beobachtung  so  frühe  schon  aufgedrängt, 
daß  in  vielen  Sprachen  die  Bezeichnung  der  Zunge  ohne  weiteres 
auf  die  Sprache  selbst  übergegangen  ist  (lingita,  yXaiaaa,  hebr. 
laschon  usw.). 

Als  die  Vorstufen  der  Sprachlaute  sind  hiernach  alle  jene  tie- 
rischen Lautäußerungen  anzusehen,  die  durch  ähnliche  respiratorisch 
erregte  Tonwerkzeuge  hervorgebracht  werden  und  die  psychophysische 
Bedeutung  von  Ausdrucksbewegungen  besitzen.     So  die  Schreie  und 


Stimmlaute  ak  Ausdrucksbewegungen.  259 

Lockrufe  vieler  Tiere  aus  der  Klasse  der  Amphibien,  wie  der  Frösche, 
Kröten,  Krokodile,  Schildkröten,  namentlich  aber  der  Vögel  Und 
Säugetiere,  während  andere  Geräuschbildungen  im  Tierreich,  wie 
das  Geräusch  der  Klapperschlangen,  die  Laute  mancher  Fische,  die 
das  Ausströmen  der  Luft  aus  der  Schwimmblase  begleiten,  endlich 
die  Geräusche  vieler  Insekten,  die  durch  die  schwingenden  Bewegungen 
der  Flügel  oder  durch  das  Aneinanderreihen  horniger  Teile  des  Haut- 
skeletts entstehen,  weder  nach  ihren  physiologischen  Bedingungen 
noch  wahrscheinlich  nach  ihrer  psychologischen  Funktion  hierher 
gehören.  Denn  dies  kennzeichnet  alle  mit  respiratorischen  Tonappa- 
raten erzeugten  Schreie  und  Rufe  der  Tiere  und  läßt  sie  als  Vorstufen 
der  Sprachlaute  erscheinen,  daß  sie  unmittelbare  Ausdrucks- 
mittel psychischer  Zustände  sind.  Als  solche  sind  sie  durch  die 
doppelte  Eigenschaft  ausgezeichnet,  daß  die  erzeugten  Laute  durch 
den  Eindruck  auf  das  Gehör  des  rufenden  Tieres  eine  energischere 
Entladung  der  Gefühle  bewirken,  und  daß  sie  in  andern  Tieren  der 
gleichen  Art  ähnliche  Gefühle  erwecken  können.  Dabei  gilt  für  sie 
dasselbe,  was  für  die  Ausdrucksbewegungen  überhaupt  gilt:  nicht 
die  objektive  Bedeutung  ist  die  primäre,  sondern  die  subjektive.  Da 
die  respiratorischen  Symptome  bei  den  heftigeren  Affekten  an  und 
für  sich  schon  stärker  hervortreten,  so  ist  die  Lautäußerung  zunächst 
nur  eine  weitere  Steigerung  der  allgemeinen  Affektwirkung;  und  da 
in  allen  Fällen  die  Empfindungen,  welche  die  Ausdrucksbewegungen 
begleiten,  durch  ihren  unmittelbaren  sinnlichen  Gefühlston  die  Affekte 
selbst  verstärken,  so  liegt  auch  die  Lautwirkung  auf  das  eigene  Ohr 
noch  innerhalb  der  Grenzen  der  allgemeingültigen  Affektvorgänge. 
Nur  gewinnt  dieser  sonst  zurücktretende  Bestandteil  hier  sofort  eine 
vorherrschende  Bedeutung. 

Jene  subjektiven  Motive  der  Affekte  und  ihrer  Ausdrucksformen 
finden  nun  aber  in  dem  Zusammenleben  der  Tiere  weitere  Bedingungen 
vor,  die  auf  die  ursprünglichen  Gefühlsmotive  verändernd  und  ar- 
weiternd  zurückwirken.  Wie  die  Ausdrucksbewegung  überhaupt 
zuerst  ein  triebartig,  dann  aber  in  einzelnen  Momenten  willkürlich 
gebrauchtes  Ausdrucksmittel  ist,  so  entwickelt  sich  der  ursprüng- 
liche Gefühlslaut  zum  Ruf  laut  und  Locklaut.  Auch  diese  bleiben 
fortan  vorherrschend  Gefühlsäußerungen.     Die  Hilfe-  und  Lockrufe 

17* 


260  I^ie  Sprachlaute. 


der  Tiere  entstehen  nicht  bloß  ursprünglich  ohne  Bewußtsein  der 
Zwecke,  denen  sie  künftig  dienen  können,  sondern  sie  werden  auch, 
nachdem  sie  zu  Hilfsmittehi  der  Mitteilung  geworden  sind,  immer 
noch  in  vielen  Fällen,  ganz  wie  andere  Ausdrucksbewegungen,  ohne 
einen  solchen  Zweck  hervorgebracht.  Die  primären  Gefühlsäußerungen 
durch  die  Stimme  sind  daher  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  rein  sub- 
jektive Gefühlslaute,  die  nur  auf  die  stärksten,  schmerzerregenden 
Sinnesreize  eintreten.  Unter  diesen  sind  im  wilden  Zustand  der  Tiere 
die  mit  heftigstem  Unlustgefühl  verbundenen  Hungerempfindungen 
die  häufigsten;  und  an  das  den  Hunger  ausdrückende  Wehgeheul 
schließen  sich  dann  in  natürlicher  Assoziation  Lautäußerungen  an, 
die  die  Verfolgung  und  Bewältigung  der  Beutetiere,  endlich  solche, 
die  den  Kampf  um  die  Beute  begleiten,  —  Übertragungen,  bei  denen 
sich  die  Art  der  Laute  nach  den  veränderten  Bedingungen,  die  für 
die  Gefühle  und  ihre  Äußerungen  entstehen,  von  selbst  modifiziert. 
Der  Schmerzensschrei  und  der  Wutschrei  werden  aber  auch  um 
deswillen  als  die  ursprünglichsten  Stimmäußerungen  gelten  müssen, 
weil  sie  noch  jetzt  die  allgemeinsten  sind.  Viele  Nagetiere,  wie  der 
Hase,  der  Maulwurf,  das  Eichhörnchen,  verhalten  sich  in  der  Regel 
stumm,  nur  heftige  Sinnesreize  oder  die  äußerste  Angst  entlocken 
ihnen  einen  durchdringenden  Schmerzensschrei.  Dazu  gesellt  sich 
namentlich  bei  den  wild  lebenden  Karnivoren,  als  eine  eigentümliche 
Dauerform  des  Schmerzensschreies,  das  Wehgeheul  des  Hungers, 
und  endlich,  wahrscheinlich  aus  diesem  entstanden,  der  Wutschrei. 
Mit  der  Ermäßigung  der  Affekte  mildern  sich  auch  hier  die  Affekt- 
äußerungen, und  es  gewinnen  so  die  Stimmlaute  feinere  Nuancen, 
durch  die  sie  mannigfaltigere  Lust-  wie  Unlustgefühle  verraten.  Unter 
ihnen  werden  jene  Gefühlslaute,  die  die  Liebeswerbung  begleiten, 
sichtlich  in  vielen  Fällen  für  die  reichere  Entwicklung  der  Lautäußerun- 
gen von  hervorragender  Bedeutung.  Dies  zeigen  vor  allem  die  Be- 
dingungen, unter  denen  die  Singvögel  ihre  Lockrufe  ertönen  lassen, 
wie  denn  auch  die  Tatsache,  daß  vorzugsweise  die  männlichen  Vögel 
mit  Gesangsmitteln  ausgestattet  sind,  deutlich  auf  diesen  Zusammen- 
hang hinweist^).     Doch  ist  der  Vogelgesang  schon  eine  verhältnis- 

^)  Darwin,  Abstammung  des  Menschen.     Deutsch  von  J.  V.  Carus,  1871, 
II,  S.  43  ff. 


Stimmlaute  als  Ausdrucksbewegungen.  261 

mäßig  hochstehende,  auf  eine  kleine  Gruppe  von  Tieren  beschränkte 
Gefühlsäußerung,  und  die  Bedingungen  seines  Vorkommens  machen 
es  wahrscheinlich,  daß  er  sich  aus  roheren  Formen  der  Lautäußerung, 
vielleicht  aus  dem  Wutgeschrei  der  in  der  Paarungszeit  miteinander 
kämpfenden  männlichen  Tiere,  entwickelt  hat.  Nachdem  jene  Form 
der  Ausdruckslaute  entstanden  war,  mußte  sie  sich  aber,  gemäß  dem 
allgemeinen  Prinzip  der  Übertragung  der  Ausdrucksbewegungen, 
alsbald  auf  andere  Affekte  von  verwandtem  Gefühlston  ausbreiten. 
Mag  darum  der  Gesang  des  männlichen  Singvogels  in  vielen  Fällen 
Lockruf  bleiben,  seine  allgemeine  Bedeutung  ist  dies  jedenfalls  nicht 
mehr,  sondern  er  ist,  ähnlich  den  fortwährenden  zwecklosen  Flug- 
und  sonstigen  Körperbewegungen  der  meisten  kleineren  Vögel,  zu 
einem  allgemeinen  Ausdrucksmittel  von  Gefühlen  meist  heiteren 
Charakters  geworden.  Bei  dieser  ganzen  Entwicklung  spielen  objek- 
tive Zweckmotive,  wie  sie  von  Anfang  an  fehlen,  so  auch  im  weiteren 
Fortgang  keine  wesentliche  Rolle.  Vielleicht  sind  die  subjektiven, 
ohne  Absicht  hervorgebrachten  Gefühlslaute,  wie  die  verbreite tsten, 
so  überall  die  ursprünglichsten,  und  sie  behalten  fortwährend  das 
Übergewicht,  wenn  sie  auch  allmählich  in  einzelnen  Fällen  von  will- 
kürlichen Handlungen  abgelöst  werden,  die  sich  dieser  Ausdrucks- 
mittel bemächtigen.  Doch  mußten  diese  bereits  vorhanden  sein,  ehe 
sie  in  den  Dienst  der  geselligen  Triebe  treten  konnten.  Und  noch  jetzt 
sind  in  der  Tierreihe  das  heftige  Schmerzgefühl  und  der  Affekt  der 
Wut  die  beiden  Seelenzustände,  die  sich  allgemein  und  mit  unwider- 
stehlicher Gewalt  in  Lauten  äußern.  Infolge  der  Differenzierung 
der  Gefühle,  die  mit  zunehmender  psychischer  Entwicklimg  eintrat, 
sind  aber  diese  Lautäußerungen  allmählich  auf  andere  Gemütszu- 
stände übergegangen.  Dabei  wurden  sie  dann  teils  abgeschwächt, 
teils  abgeändert,  teils  verbanden  sie  sich  mit  den  mannigfachen  Vor- 
stellungsinhalten und  Willensrichtungen,  so  daß  schließlich  die  voll- 
kommeneren dieser  Ausdruckslaute,  die  Hilfe-  und  Lockrufe,  bereits 
als  eine  Art  Vorstufe  der  Sprache  betrachtet  werden  können.  Übrigens 
sind  hier  unter  Hilfe-  und  Lockrufen  nur  solche  Laute  zu  verstehen, 
die  unmittelbare  Äußerimgen  sozialer  Triebe  sind,  und  mit  denen  sich 
daher  direkt  das  Begehren  nach  Hilfe  oder  nach  Herbeilockung  an- 
derer,  namentlich  der  weiblichen  Tiere  verbindet.      Diese   Grenzen 


262  Die  Sprachlaute. 


pflegt  man,  wie  überall  bei  der  Beurteilung  tierischer  Lebensäußerungen, 
nicht  immer  einzuhalten,  sondern  man  ist  geneigt,  jeder  Handlung, 
die  geeignet  ist,  einen  bestimmten  Erfolg  herbeizuführen,  auch  so- 
fort die  Vorstellung  dieses  Erfolges  unterzuschieben. 

2.  Allgemeine  Entwicklung  der  Ausdruckslaute. 

Der  Ausgangspunkt  aller  Äußerung  tierischer  Stimmlaute  ist, 
wie  oben  bemerkt,  der  Schrei,  der  in  seiner  Qualität  wie  Intensität 
nur  unerhebliche  Modifikationen  bietet.  Denn  Schmerz  und  Wut, 
die  beiden  einzigen  Affekte,  die  sich  auf  dieser  ersten  Stufe  mit  Laut- 
äußerungen verbinden,  sind  beide  heftige  Unlustregungen.  Der  so 
unter  stärkstem  Exspirationsdruck  in  den  gespannten  Stimmbändern 
erzeugte,  dem  weit  geöffneten  Kachen  entweichende  Schrei  ist  nach 
seinem  musikalischen  Charakter  ein  von  starken  dissonanten  Neben- 
tönen begleiteter,  also  geräuschähnlicher  Klang.  Er  ist  je  nach  den 
Dimensionen  des  Stimmorgans  von  verschiedener,  aber  bei  einem 
und  demselben  Tiere  nahezu  gleichbleibender  Tonlage.  Diese  variiert 
nur  etwas  nach  der  Intensität  des  Affekts,  da  der  stärkere  Affekt 
eine  Steigerung  des  Atemdrucks  und  der  Stimmbänderspannung  und 
dadurch  eine  Erhöhung  der  Tonlage  bewirkt.  Gemäß  den  allgemeinen 
Gesetzen  des  Verlaufs  der  Affekte  steigt  dabei  die  Tonhöhe  zuerst 
mehr  oder  weniger  rasch  an,  um  dann  wieder  abzufallen.  Außerdem 
zeigt  sie  zuweilen,  namentlich  bei  den  Zorn-  und  Wutaffekten,  einen 
intermittierenden,  mehrmals  auf-  und  absteigenden  Rhythmus.  So 
spiegelt  sich  der  Verlauf  des  Affekts  genau  in  den  Veränderungen  der 
Tonhöhe  und  Tonstärke  oder  in  dem  abwechselnden  crescendo  und 
decrescendo  der  Lautäußerungen.  Der  Stimmlaut  selbst  aber  bleibt 
lediglich  ein  Symptom  der  Entladung  starker  Gefühle^). 

Dies  wird  anders  auf  der  zweiten  dieser  Stufen.  Zu  dem  Schmerz- 
und  Wutschrei  treten  nun  Lautäußerungen  mäßiger  Affekte. 
Der  Übergang  zu  ihnen  hängt  nicht  oder  wenigstens  nicht  in  erster 
Linie  von  der  zunehmenden  psychischen  Entwicklung,  sondern  haupt- 


1)  Über  den  intermittierenden  Charakter  dieser  Affekte  vgl.  Physiologische 
Psychologie,  III«,  S.  193  f. 


Allgemeine  Entwicklung  der  Ausdruckslaute.  263 

sächlich,  wie  es  scheint,  von  der  Lebensweise  der  Tiere  ab,  da  bei 
den  in  Schwärmen  oder  Familien  lebenden  diese  Weiterbildung  eher 
als  bei  den  solitär  lebenden  beobachtet  wird.  Schon  dies  spricht  dafür, 
daß  es  die  unter  dem  Einfluß  des  Zusammenlebens  erfolgende 
Ermäßigung  der  Schmerz-  und  Wutlaute  zu  Hilfe-  und  Lockrufen  ist, 
die  den  Übergang  vermittelt.  Dabei  zeigt  sich  aber  zugleich,  daß 
diese  Ermäßigung,  einmal  eingetreten,  nicht  auf  die  sie  zuerst  hervor- 
bringenden Triebäußerungen  beschränkt  bleibt,  sondern  daß  nun 
teils  schwächere  Unlustaffekte,  die  auf  der  ersten  Stufe  noch 
keine  Stimmreaktionen  zur  Folge  haben,  teils  Lustaffekte  mannig- 
fachen Inhalts  zu  Grundlagen  der  Lustäußerungen  werden  können. 
Hier  hängt  es  dann  ganz  von  dem  Temperament  der  Tiere  ab,  ob  die 
eine  oder  andere  Affektrichtung  mehr  hervortritt.  In  vielen  Fällen 
bestehen  die  Lautreaktionen  schwacher  Affekte  in  einer  einfachen 
Abnahme  der  ursprünglichen  Schreilaute.  Bei  schwächerem  Respi- 
rationsdruck und  geringerer  Spannung  der  Stimmbänder  werden 
Laute  erzeugt,  die  sich  im  wesentlichen  nur  durch  ihre  verminderte 
Intensität  und  durch  ihre  tiefere  Tonlage  unterscheiden.  Unterstützt 
wird  diese  Veränderung  des  Klangcharakters  außerdem  dadurch,  daß 
die  Mundhöhle  weniger  geöffnet  wird,  weshalb  die  in  dem  Stimmton 
enthaltenen  hohen,  scharf  dissonierenden  Obertöne  geschwächt  wer- 
den, zugleich  jedoch  gewisse  Verschlußgeräusche  im  Ansatzrohr  des 
Stimmorgans  entstehen  können,  die  den  Laut  ebenfalls  qualitativ 
abändern.  Charakteristische  und  bekannte  Beispiele  dieser  Klang- 
modifikationen sind  das  Blöken  der  Schafe,  das  Grunzen  der  Schweine, 
das  Schnattern  der  Gänse,  das  Gackern  der  Hühner  usw.  Zugleich 
bemerkt  man  in  den  meisten  dieser  Fälle  eine  Veränderung  des  zeit- 
lichen Verlaufs  der  Lautäußerungen.  Da  schwache  Affekte,  nament- 
lich Lustaffekte,  durchweg  mehr  den  Charakter  dauernder  Stim- 
mungen als  momentaner  Affektanfälle  haben,  so  verteilen  sich  auch 
die  Lautäußerungen  über  eine  längere  Zeit:  sie  bestehen  in  der  Regel 
in  mehreren  rhythmisch  sich  wiederholenden  Tonstößen,  in  deren 
Tempo  sich  zumeist  das  stationäre  Temperament  der  Tiere,  zuweilen 
aber  auch  in  einem  gewissen  Grade  die  momentane  Temperaments- 
lage spiegelt.  Vergleicht  man  z.  B.  das  imruhig  hastige  Gackern  der 
Hühner  mit  dem  phlegmatischen  Blöken  der  Schafe  oder  dem  lang 


264  I^ie  Sprachlaute. 


gezogenen,  in  großen  Pausen  sich  wiederholenden  Brüllen  einer  Kuh- 
herde, so  fallen  diese  Unterscliiede  sofort  auf.  Auch  zeigt  sich  hierbei, 
daß  es  besonders  die  temperamentvolleren  Tiere  sind,  bei  dejien  inner- 
halb der  Lautäußerungen  der  Lustaffekte  mannigfachere  Abstufungen 
vorkommen.  Die  ruhig  zufriedene  Stimmung  äußert  sich  in  einem 
langsameren  Rhythmus  und  in  gedämpfteren  Lauten,  als  die  auf- 
geregte Freude  oder  das  heftige  Verlangen.  So  entwickeln  sich  in 
einzelnen  Fällen  besondere  intensive  Freudelaute,  die  entweder  bloß 
durch  eigentümliche  Nuancen  des  Ausdrucks  von  den  Schmerz-  und 
Wutausbrüchen  der  gleichen  Tiere  verschieden  sind,  wie  das  ver- 
gnügte Bellen  des  Hundes,  das  freudige  Greschnatter  einer  auf  ihr 
Futter  losstürzenden  Entenschar,  oder  die  sich  zu  besonderen  lauten 
Rufformen  ausbilden,  wie  das  Krähen  des  Hahnes. 

Diese  Erscheinimgen  stehen  bereits  auf  der  Schwelle  zu  den 
Lautäußerungen  der  dritten  Stufe.  Sie  ist  dadurch  gekennzeichnet, 
daß  sich  zwei  völlig  verschiedene  Arten  von  Stimmlauten 
ausbilden,  von  denen  die  eine  den  Schreilauten  der  ersten  Stufe  ent- 
spricht und  gleich  diesen  als  Ausdrucksmittel  stärkster  Affekte  er- 
halten bleibt,  während  die  zweite,  höhere  Form  zum  feiner  nuancierten 
Ausdruck  schwächerer  Gefühle  wird.  Dabei  überwiegen  unter  diesen 
die  Lustgefühle,  daher  mäßige  Unluststimmungen  sogar  in  der  Regel 
nur  daran  kenntlich  sind,  daß  die  gewohnheitsmäßige  Lustäußerung 
auf  einen  gedämpfteren  Ton  und  auf  ein  langsameres  Tempo  herab- 
gestimmt ist.  Bezeichnen  wir  um  der  Unterscheidung  willen  sowie  mit 
Rücksicht  darauf,  daß  diese  feiner  nuancierten  Lautäußerungen  im 
allgemeinen  in  höherem  Grade  den  Toncharakter  an  sich  tragen,  die 
Ausdruckslaute  der  ersten  und  zweiten  Stufe  als  Schreilaute,  die 
der  dritten  als  Tonlaute,  so  sind  demnach  die  Schreilaute  das  Ur- 
sprüngliche und  zugleich  das  Bleibende;  die  Tonlaute  sind  das  höher 
Entwickelte  und  Vollkommenere,  das  nicht  nur  von  einer  Spezies 
zur  andern,  sondern  selbst  von  einem  Individium  zum  andern  und  von 
einem  Affekt  zum  andern  variiert.  Dieser  höheren  Stufe  entspricht 
es,  daß  die  Tonlaute  wieder  in  zwei  verschiedenen  Formen  vorkommen: 
als  Tonmodulation  und  als  Lautartikulation.  Beide  weichen 
sowohl  in  den  physiologischen  Hilfsmitteln  ihrer  Bildung  wie  in  ihrer 
subjektiven    und    objektiven    psychophysischen    Wirkung    wesentlich 


Tonmodulationen  als  Ausdrucksfonnen  bei  Tieren.  265 


voneinander  ab.  Dennoch  sind  sie  Ausdrucksmittel,  die  im  allgemeinen 
einander  begleiten.  Namentlich  ist,  wo  die  Ausbildung  der  feineren 
Oefühlssprache  in  der  Richtung  der  Lautartikulation  erfolgt  ist,  mit 
dieser  stets  auch  eine  Tonmodulation  verbunden.  Darin  dokumen- 
tiert sich  unter  diesen  beiden  Formen  wieder  die  der  Lautartikulation 
als  die  höhere  Stufe. 


3.  Tonmodulationen  als  Ausdrucksformen  bei  Tieren. 

Die  Tonmodulation  der  Stimmlaute  ist,  wenn  man  die  unvoll- 
kommeneren Anfänge  und  die  Übergänge  zwischen  Schrei  und  Ton- 
laut hinzunimmt,  weit  verbreitet  im  Tierreich.  Beschränkt  man  sich 
-aber  auf  die  deutlicheren  Tonbildungen,  so  lassen  sich  namentlich 
manche  Ausdruckslaute  unserer  intelligenteren  Haustiere  hierher 
zählen.  Man  denke  z.  B.  an  die  mannigfachen  Modulationen  im  Bellen 
und  Heulen  des  Hundes,  an  das  zornige  und  das  fröhliche  Bellen  oder, 
bei  mäßigeren  Affekten,  an  das  unmutige  und  das  heitere,  von  ein- 
zelnen jauchzenden  Gefühlsausbrüchen  unterbrochene  Knurren,  ferner 
an  das  laute  Schmerzgeheul  und  das  manchmal  ganz  in  melodischen 
Tongefällen  sich  bewegende  wehmutsvolle  Heulen  beim  Anhören 
von  Musik.  Ebenso  verfügen  manche  Affenarten,  besonders  der  Gibbon 
xmd  der  amerikanische  Brüllaffe  (Mycetes),  über  eine  verhältnismäßig 
reiche  Tonmodulation;  doch  scheint  es  nicht,  daß  sich  gerade  bei 
diesen  menschenähnlichen  Tieren  eine  solche  in  regelmäßigen  musi- 
kalischen Intervallen  bewegt^).  Weit  in  den  Schatten  gestellt  werden 
aber  diese  Erscheinungen  durch  die  Stimmlaute  der  Singvögel. 
Bei  ihnen  sitzt  der  im  übrigen  dem  Kehlkopf  der  Säugetiere  analog 
gebaute  Tonapparat  an  der  Stelle,  wo  sich  die  Luftröhre  in  die  beiden 
Bronchien  gabelt  (im  unteren  Kehlkopf),  eine  Einrichtung,  die  mit 
dem  spezifisch  musikalischen  Charakter  des  Singtons  der  Vögel  zu- 


^)  Letzteres  ist  allerdings  speziell  vom  Gibbon  behauptet  worden.  Die 
nicht  auf  eigene  Beobachtung  gegründete  Nachricht  Darwins  (Abstammung 
des  Menschen,  II,  S.  291)  über  den  Gesang  dieses  Affen  erweist  sich  jedoch  bei 
näherer  Nachforschung  als  unzuverlässig.  (Vgl.  darüber:  Sprachgeschichte  und 
Sprachpsychologie,  S.  96  f.) 


266  Die  Sprachlaute. 


sammenhängt.  Indem  liier  nämlich  die  Luftröhre  ein  Ansatzrohr  von 
regelmäßigen  und  unveränderlichen  Dimensionen  bildet,  analog  wie 
bei  unseren  Blasinstrumenten  mit  konstantem  Ansatzrohr,  hat  der 
Stimmapparat  eine  vorwaltend  musikalische,  zur  Erzeugung  von  Ton- 
modulationen geeignete  Beschaffenheit,  während  bei  dem  Stimm- 
organ des  Menschen  und  der  Säugetiere  die  Rachen-  und  Mundhöhle 
ein  Ansatzrohr  von  sehr  veränderlichen  Dimensionen  darstellt,  das 
eben  deshalb  in  hohem  Grade  der  Bildung  von  Lautartikulationen 
fähig  ist.  Der  Ausbildung  der  äußeren  Tonapparate  in  der  Klasse  der 
Vögel  geht  offenbar  die  der  zentralen  Gebiete  des  Gehörsinns  und  der 
mit  ihnen  zusammenhängenden  Innervationsherde  der  Stimmbewegun- 
gen parallel.  Sie  äußert  sich  in  der  Neigung  vieler  Vögel,  gehörte 
Laute  nachzuahmen,  besonders  aber  in  der  Eigenschaft  mancher 
Singvögel,  die  Singtöne  in  annähernd  harmonischen  Intervallen  an- 
einanderzureihen. Die  erste  dieser  Erscheinungen,  die  Nachahmung 
von  Lauten,  kommt  wieder  in  doppelter  Form  vor :  in  der  Nachahmung, 
der  Tonmodulationen  anderer  Vögel,  und  in  der  Nachahmung  von 
Lautartikulationen,  besonders  auch  menschlicher  Sprachlaute,  bei 
den  Papageien,  Staren,  Krähen,  Drosseln  u.  a.  Bei  einzelnen  dieser 
Tiere,  wie  der  Drossel,  sind  beide  Nachahmungstalente  in  einem  ge- 
wissen Grade  vereinigt.  Im  allgemeinen  sind  es  jedoch  vorzugsweise 
Sehr  ei  Vögel  mit  sehr  geringer  Fähigkeit  der  Tonmodulation,  die  es 
zu  einer  artikulierten  Sprache  bringen. 

Die  musikalische  Anlage  der  Singvögel  ist  hauptsächlich  in  der 
zweiten  der  obenerwähnten  Eigenschaften,  in  der  Verbindung  der 
Töne  zu  harmonischen  Tonfolgen  zu  erkennen.  Da  Tonmodulation 
und  Lautartikulation  immer  verbunden  sind,  so  lassen  sie  sich  auch 
bei  dem  Anhören  der  Singweise  irgendeines  Vogels  stets  nebeneinander 
wahrnehmen.  Zwischen  dem  menschlichen  Kunstgesang  und  dem 
natürlichen  Vogelgesang  besteht  in  dieser  Beziehung,  wenn  man  von 
der  sprachlichen  Bedeutung  der  menschlichen  Laute  absieht,  der 
Unterschied  bloß  darin,  daß  der  Vogel  über  eine  geringere  Zahl  von 
Lauten  verfügt,  und  daß  sich  diese  in  einer  höchst  einförmigen  Weise 
wiederholen.  Auch  ist  die  Lautartikulation  meist  sehr  viel  undeut- 
licher, ein  Umstand,  der  es  unmöglich  macht,  sie  in  unseren  Laut- 
zeichen genau  wiederzugeben;  nicht  bloß  deshalb,  weil  die  gehörten 


Tonmodulationen  als  Ausdrucksformen  bei  Tieren.  267 

Laute  nur  selten  mit  den  Lautbedeutungen  unserer  Zeichen  überein- 
stimmen, sondern  mebr  noch,  weil  wir  überall  geneigt  sind,  in  das  un- 
deutlich Gehörte  irgendwelche  geläufige  Laute  hineinzuhören.  Gerade 
die  Auffassung  des  Vogelgesangs  bietet  daher  einen  auffallenden  Beleg 
für  jenes  Spiel  psychischer  Assimilationen,  das  wir  auch  bei  den  Laut- 
assimilationen der  Sprache  kennen  lernen  werden^).  Man  kann  sich 
davon  leicht  überzeugen,  wenn  man  sich  vornimmt,  in  den  Schlag 
eines  und  desselben  Singvogels  verschiedene  Laute  hineinzuhören, 
ein  Versuch,  der  in  ziemlich  weitem  Umfange  zu  gelingen  pflegt.  Wo 
eigentliche  Singvögel,  wie  die  Drossel  oder  gar  der  Kanarienvogel, 
sprechen  lernen,  da  beruht  darum  auch  die  Nachahmung  weniger 
auf  einer  wirklichen  Ähnlichkeit  der  Lautartikulationen,  als  auf  einer 
solchen  der  Tonmodulationen  der  menschlichen  Stimme,  und  selbst 
bei  dem  eigentlichen  Sprechvogel,  dem  Papagei,  spielt  dieses  Moment 
eine  erhebliche  Rolle.  Hauptsächlich  hierauf  und  weniger  auf  Ver- 
schiedenheiten der  individuellen  Lautbildungen  ist  es  wohl  zurück- 
zuführen, wenn  die  Angaben  der  Beobachter  über  den  Schlag  ver- 
schiedener Singvögel  nicht  wenig  voneinander  abweichen.  Demnach 
ist  es  nur  als  eine  sehr  ungefähre  Andeutung  solcher  Laute  anzu- 
sehen, wenn  man  den  Schlag  der  Nachtigall  durch  tiu  tiu  tiu  tio  tio  tio 

qutio  qutio  qutio  tzü  tzü  tzü ,  den  der  Lerche  durch  tiri  tiri  tiri  tiri 

,  des  Sperlings  durch  schilf  schuf  schuf  ti  ti  ti  ti  ti usw. 

wiedergibt^). 

Weit  deutlicher  ausgeprägt  ist  derjenige  Bestandteil  des  Vogel- 
gesangs, zu  dem  jene  Lautartikulationen  nur  den  unentbehrlichen 
Text  bilden:  die  Tonmodulation.  Das  Merkmal,  das  sie  von  den 
unvollkommeneren  Tonmodulationen  tierischer  Schreie  wesentlich 
unterscheidet,  ist  der  nicht  bloß  den  einzelnen  Tönen,  sondern  bei 


1)  Vgl.  unten  Nr.  II,  5  und  Kap.  IV. 

2)  Versuche,  die  Lautbildungen  der  Vögel,  namentlich  der  Singvögel,  auf- 
zuzeichnen, sind  von  Beobachtern  des  Lebens  der  Vögel  mehrfach  gemacht  wor- 
den. Besonders  in  dem  umfangreichen  Werke  von  J.  A.  Naumann,  Naturgeschichte 
der  Vögel  Deutschlands,  herausgeg.  von  seinem  Sohne  J.  F.  Naumann,  6  Bde. 
1822 — 33,  ist  diesem  Punkte  große  Sorgfalt  gewidmet,  wogegen  von  den  Ver- 
fassern dieses  Werkes  leider  kein  Versuch  gemacht  wurde,  auch  die  Tonmodu- 
lationen in  Noten  aufzuzeichnen. 


268  Die  Sprächlaute. 


den  besseren  Sängern  auch  den  Tonfolgen  eigene  musikalische  Cha- 
rakter. Terzen  und  Quintsn,  daneben  zuweilen  Oktaven  und  ganze 
Töne  bilden  hier  die  regelmäßigen  Aufeinanderfolgen,  neben  denen 
es  freilich  auch  an  unharmonischen  Abweichungen  nicht  fehlt.  Weniger 
ist  der  Rhythmus  ausgebildet.  Er  fehlt  zwar  nicht  völlig,  ist  aber 
doch  nur  in  den  allem  Vogelgesang  eigenen  Wiederholungen  des 
gleichen  Tones,  sowie  in  der  gleichförmigen  Aufeinanderfolge  der  Triller 
oder  gewisser,  immer  wiederkehrender  Tonläufe  zu  finden,  nicht 
in  wirklichen  rhyhmischen  Melodien.  Im  ganzen  läßt  hiernach 
die  musikalische  Anlage  der  Singvögel  zwei  Stufen  unterscheiden, 
die  durch  Übergänge  verbunden  sind.  Die  niedrigere  Form  besteht 
in  einer  nur  wenig  durch  melodische  Kadenzen  unterbrochenen  ein- 
fachen oder  trillernden  Wiederholung  des  gleichen  Tones.  Diesen 
Typus  einfacher  Ton  Wiederholungen  zeigt  z.  B.  die  ganze  Familie  der 
Finken,  wie  Buchfink,  Stieglitz,  Sperling  usw.  Ein  Beispiel  gibt  das 
folgende,  dem  Sperling  nachgeschriebene  Motiv  ^): 


Sperling 


Die    zweite    vollkommenere    Form    der    Tonmodulation    besteht 
darin,  daß,   meist  rasch  nacheinander  und  nicht  selten  durch  Ton- 


^)  Ich  entnehme  dies  und  die  folgenden  Notenbeispiele  der  Arbeit  von 
Xenos  Clark,  Animal  Musik,  in  the  American  Naturalist,  Vol.  XIII,  Nr.  4,  1879. 
Die  Genauigkeit  des  musikalischen  Gehörs  vieler  Singvögel  ergibt  sich  übrigens 
auch  aus  der  Fähigkeit  derselben,  andere  Vogelstimmen  und  Vogelmelodien 
oft  täuschend  nachzuahmen.  Über  einige  auffallende  Beispiele  solcher  Art  be- 
richtet B.  Placzek,  Der  Vogelgesang  nach  seiner  Tendenz  und  Entwicklung  (Ver- 
handl.  des  naturforsch.  Vereins  in  Brunn  XVII,  S.   19,  34  f.). 

2)  Die  Bezeichnung  „guttural"  soll  einen  Kehllaut  anzeigen,  der  musi- 
kalisch aus  einem  raschen  Triller  zwischen  dem  tiefen  Ton  und  seinen  höhereu 
Oktaven  zu  bestehen  schemt.  Auf  die  Exaktheit  der  Taktgliederung,  die  wohl 
in  der  Niederschrift  nur  im  Anschluß  an  die  musikalische  Übung  gewählt 
ist,  darf  man  sich  natürlich  bei  allen  diesen  Beispielen  nicht  verlassen, 
wie  aus  dem,  was  oben  über  den  Rhythmus  der  Vogelmelodien  gesagt  wurde, 
hervorgeht. 


Tonmodulationen  als  Aiisdrucksformen  bei  Tieren.  269 


Wiederholungen  unterbrochen,  Tonläufe  zwischen  zwei  oder  drei  zu- 
einander harmonischen  Tönen  eintreten.  Indem  diese  ebenfalls  in 
der  Regel  mehrmajs  sich  wiederholen,  geben  sie  sich  als  eine  höhere 
Entwicklung  der  einfachen  Ton  Wiederholungen  zu  erkennen.  Denn 
man  darf  vielleicht  annehmen,  daß  diese  durch  den  Triller  allmäh- 
lich in  den  Tonlauf  übergegangen  ist.  Ein  Beispiel  dieses  zweiten 
Typus  zeigt  das  folgende,  dem  Schlag  der  Nachtigall  nachgeschriebene 
Motiv : 


Nachtigall 


iprjirv»jr-^^jiirv-iJ5]J5]^:iJg:^ 


Die  ersten  zweigliedrigen  Tonläufe  springen  in  der  Oktave  von 
d  zu  d,  und  die  folgenden  dreigliedrigen  Kadenzen  bilden  einen  c?-Dur- 
akkord,  von  dem  aus  die  Melodie  wieder  in  die  Tonika  d  übergeht. 
Eine  so  große  musikalische  Regelmäßigkeit  mag  immerhin  zufällig 
und  selten  sein.  Im  ganzen  ist  aber  nicht  zu  bezweifeln,  daß  beson- 
ders bei  diesem  zweiten  Typus  regelmäßige  Wiederholungen  annähernd 
harmonischer  Tonfolgen  vorkommen. 

Je  abwechslungsreicher  die  Tonmodulation  wird,  um  so  mehr 
kann  sie  natürlich  variieren.  Unter  diesen  Variationen  sind  diejenigen 
von  besonderem  Interesse,  die  bei  einem  und  demselben  Individuum 
je  nach  der  Gemütslage  stattfinden.  Wir  können  sie  namentlich  bei 
unseren  Zimmervögeln  häufig  beobachten,  wenn  es  auch  als  Regel 
gilt,  daß,  sobald  die  Gemütsstimmung  imter  ein  gewisses  Niveau  sinkt, 
der  Vogel  überhaupt  zu  singen  aufhört.  Die  in  dieser  Beziehung  be- 
obachteten Schwankungen  betreffen  daher  meist  bloß  die  Gefühls- 
richtungen der  größeren  oder  geringeren  Erregung  und  Spannung, 
letzteres  z.  B.  bei  der  Neugier,  zu  der  manche  Vögel  in  hohem  Grade 
geneigt  sind.  In  der  Dimension  der  Lust-  und  Unlustgefühle  begegnen 
uns  dagegen  in  den  Gesangweisen  der  Vögel  im  allgemeinen  nur  solche 
Schwankungen,  die  noch  innerhalb  der  Lustrichtung  liegen;  die  An- 
näherung an  Unluststimmungen  kündet  sich  bloß  durch  verlang- 
samtes Tempo,  abnehmende  Tonstärke  und  Tonhöhe  an.  Bei  Schreck, 
Furcht,  Zorn  und  andern  wirklichen  Unlustaffekten  gehen  aber  die 


270 


Die  Sprachlaute. 


Tonmodulationen  regelmäßig  in  Schreilaute  über,  die  dann  mit  ent- 
spreclienden  Veränderungen,  der  Artikulationslaute  verbunden  sind. 
Die  drei  folgenden  Beispiele,  Modifikationen  der  in  der  ersten  der 
obigen  Notierungen  nachgebildeten  Sperlingsmelodie,  geben  ein  Bild 
dieser,  im  Verhältnis  zu  den  uns  geläufigen  musikalischen  Ausdrucks- 
mitteln freilich  sehr  dürftigen,  aber  in  den  elementaren  Grundlagen 
doch  übereinstimmenden  Veränderungen: 


Freude 


Niedergeschlagenheit 


Heftige  Erregung       |gf  fTT 


Darwin  meint,  es  bleibe  ein  Rätsel,  warum  beim  Menschen  und 
bei  den  Tieren  in  gewissen  Gemütsbewegungen  hohe  und  in  andern 
tiefe  Töne  verwendet  werden,  und  keine  der  über  den  Ursprung  des 
musikalischen  Ausdrucks  aufgestellten  Theorien  sei  imstande,  dieses 
Rätsel  zu  lösen  ^).  Nach  den  in  Kap.  I  erörterten  Tatsachen  wird 
man  diesem  Ausspruch  kaum  beipflichten  können.  Zunächst  ordnen 
sich  hier  die  Stimmbewegungen  dem  allgemeinen  Prinzip  der  Affekt- 
äußerungen unter,  wonach  die  größere  oder  geringere  Schnellkraft 
und  Energie  der  Bewegungen  mit  den  Gefühlsrichtungen  der  Affekte, 
und  zwar  zunächst  und  direkt  mit  den  Erregungs-  und  Spannungs- 
gefühlen, dann  infolge  der  Verbindungen  derselben  auch  mit  den  Lust- 
und  Unlustgefühlen  eng  zusammenhängt.  Die  Ausdrucksbewegungen 
sind  nun  nicht  bloß  eine  natürliche  Wirkung  der  diese  Gefühle  beglei- 
tenden Innervationszustände,  sondern  sie  entsprechen  auch  in  ihren 
eigenen  sinnlichen  Gefühlswirkungen  wiederum  den  primären  Ge- 
fühlen, mit  denen  sie  daher  verschmelzen,  und  die  sie  verstärken. 
Das  nämliche  gilt  aber  auch  von  den  Bewegungsempfindungen  der 


^)  Darwin,  Abstammung  des  Menschen,  II,  S.  295,  Anm. 


Tonmodulationen    als  Ausdrucksformen  bei  Tieren.  271 

Stimmorgane  und  den  an  sie  gebundenen  Gefühlen.  Nur  kommt 
bei  ihnen  noch  eine  Folgewirkung  hinzu,  die  bei  den  andern  Ausdrucks- 
formen fehlt:  der  Stimmlaut,  der  ebenfalls  Veränderungen  erfährt, 
die  sich  mit  der  wechselnden  Energie  und  Schnelligkeit  der  Bewegungen 
von  selbst  einstellen.  Er  hat  zugleich  in  noch  ganz  anderem  Maß  als 
die  an  sonstige  Bewegungen  gebundene  innere  Tastempfindung  die 
Eigenschaft,  selbst  wiederum  Gefühle  zu  erregen,  die  nach  Qualität 
und  Stärke  den  ursprünglichen,  zu  deren  Ausdruck  die  Laute  dienen, 
verwandt  sind.  Durch  diese  stärkere  Eindrucksfähigkeit  eignen  sich 
daher  die  Stimmlaute  in  besonderem  Grade  dazu,  diejenigen  Wir- 
kungen herbeizuführen,  die  bei  allen  Ausdrucksformen  als  erhaltende 
und  modifizierende  Bedingungen  mitspielen:  die  Entladung  des 
Affekts,  und  die  durch  sie  nach  der  ersten  konsensuellen  Verstärkung 
allmählich  eintretende  Lösung  desselben.  Gleichwohl  würde  es  noch 
nicht  gerechtfertigt  sein,  deshalb  die  Wirkung  hoher  und  tiefer,  starker 
und  schwacher  Töne  oder  selbst  die  der  schnellen  und  langsamen 
Rhythmen  bloß  aus  den  äußeren  Körperbewegungen  und  den  sie  be- 
gleitenden Empfindungen  ableiten  zu  wollen.  Die  Tatsache,  daß  die 
Gefühlsfärbungen  verschiedener  Empfindungen  einander  verwandt 
sind  und  sich  daher  bei  ihrer  Verbindung  steigern,  müssen  wir  viel- 
mehr als  eine  ursprüngliche,  nicht  weiter  abzuleitende  anerkennen. 
Denn  diese  Beziehung  begegnet  uns  ja  auch  da,  wo  zu  einer  Verbindung 
des  Sinneseindrucks  mit  bestimmt  modifizierten  Ausdrucksbewegungen 
kein  Anlaß  gegeben  ist,  z.  B.  bei  den  Gefühlseigenschaften  der  ver- 
schiedenen Farben.  Die  ursprüngliche  psychologische  Verwandt- 
schaft bestimmter  Gefühle  und  die  Verbindung,  in  die  sie  außerdem 
infolge  der  Bedingungen  ihrer  subjektiven  Entstehung  zueinander 
treten  können,  schließen  sich  aber  nicht  im  geringsten  aus.  Das  Zu- 
sammentreffen dieser  Motive  zu  übereinstimmender  Wirkung  ent- 
spricht vielmehr  ganz  dem  allgemeinen  Zusammenhang  und  der  wechsel- 
seitigen Anpassung  der  Funktionen.  Die  Rückwirkung  der  Funktion 
auf  ihre  Entstehungsbedingungen,  im  vorliegenden  Fall  also  der  Stimm- 
laute auf  die  Gefühle,  deren  Ausdruck  sie  sind,  bildet  nun  zugleich 
den  Hauptantrieb  in  der  Entwicklung  der  Gefühlsäußerungen  durch 
Stimmlaute.  Zwischen  dem  unmelodischen  und  unartikulierten 
Schmerzensschrei  und  den  schon  eine  reiche  Skala  von  Gefühlen  um- 


272  I>ie  Sprachlaute. 


fassenden  Tonmodulationen  des  Singvogels  liegt  sicherlicli  eine  weite 
Kluft.  Dennoch  bleibt  die  Mannigfaltigkeit  der  Äußerungsformen 
auch  hier  noch  eine  beschränkte.  Denn  eine  Schranke  des  Ausdrucks- 
mittels der  Tonmodulation  ist  es  immer,  daß  diese  sich  niemals  über 
eine  reine  Gefühlssprache  erheben  kann.  Die  Gefühle  selbst  bedürfen 
aber  zu  ihrer  reicheren  Entwicklung  einer  reicheren  Vorstellungs- 
welt. Da  eine  solche  nur  mit  Hilfe  der  artikulierten  Sprache 
möglich  ist,  so  wird  daraus  auch  der  ungeheure  Abstand  be- 
greiflich, der  den  menschlichen  Kunstgesang  und  die  aus  ihm 
hervorgegangene  Kunst  der  Musik  von  dem  natürlichen  Gesang  des 
Vogels  scheidet. 


4.  Tonmodulation  und  Lautartikulation  beim  Menschen. 

Der  menschliche  Gesang  bildet  den  einzigen  sicher  bezeugten 
Fall,  wo  sich  die  beiden  in  der  Entwicklung  der  Stimmlaute  neben- 
einander hergehenden  Momente,  Lautartikulation  und  Tonmodu- 
lation, in  vollkommnerer  Ausbildung  vereinigt  haben.  Im  allgemeinen 
sind  darum  wohl  beide  als  zwei  ursprünglich  aus  dem  intensivsten 
Gefühlslaut,  dem  Schrei,  hervorgegangene  divergierende  Ent- 
wicklungen anzusehen,  während  doch  jede  dieser  Ausdrucksformen 
immer  auch  bis  zu  einem  gewissen  Grade  die  Mitwirkung  der  andern 
voraussetzt.  Denn  es  gibt  ebensowenig  eine  Lautartikulation  ohne 
einen  gewissen  Grad  von  Tonmodulation,  wie  diese  ohne  jene  möglich 
ist.  Nun  scheint  die  menschliche  Sprache  ursprünglich  mit  den 
Stimmlauten  anderer  mit  Lautartikulation  begabter  Wesen  auf  gleicher 
^tufe  zu  stehen.  So  ungewöhnlich  mannigfaltig  die  artikulierten  Laute 
der  menschlichen  Stimme  sind,  ihrer  Tonmodulation  fehlt  der  musi- 
kalische Charakter.  Schon  in  einer  sehr  frühen  Lebenszeit  bringt  zwar 
das  menschliche  Kind  bedeutungslose  artikulierte  Laute  hervor, 
die  zugleich  eine  deutliche  Tonmodulation  erkennen  lassen.  Aber 
diese  ist  unmusikalisch,  sie  entbehrt  durchaus  des  regelmäßigen  Ton- 
falls. Diesen  eignet  sich  das  Kind  erst  viel  später  an,  indem  es  vor- 
gesungene Melodien  nachahmt,  ungefähr  in  derselben  Zeit,  in  der  es 
zuerst  auch  seine  artikulierten  Laute  verbindet,  um  bestimmte  Worte 


Tonmodulation  und  Lautartikulation  beim  Menschen.  273 

nachzuahmen.  Hiermit  scheinen  die  Tatsachen  der  generellen  Ent- 
wicklung übereinzustimmen,  soweit  uns  diese  heute  noch  einigermaßen 
zugänglich  sind.  Obwohl  Tonmodulation  und  wechselnde  Lautstärke 
überall  miteinander  verbundene  Faktoren  des  sprachlichen  Aus- 
drucks sind,  so  bilden  doch  sichtlich  beide  relativ  unabhängige  Bestand- 
teile, die  aus  verschiedenen  Motiven  entspringen.  Die  Tonmodulation 
ist,  wie  ihr  charakteristischer  Wechsel  bei  Frage,  Ausruf,  Bekräftigung 
einer  Aussage  usw.  zeigt,  vor  allem  Ausdruck  der  die  Rede  begleiten- 
den Gefühlslage.  Der  Wechsel  der  Lautstärke  dagegen  oder  der 
exspira torische  Akzent  ist  Ausdruck  wie  Ursache  der  rhythmischen 
Bewegung  der  Rede,  mag  er  nun  aus  dem  rhythmischen  Gefühl 
selbst  entstehen,  oder  mag  er  aus  der  Hebung  gewisser  Hauptbestand- 
teile des  Gedankens  hervorgehen.  Dabei  ist  diese  Rhythmik  der  ge- 
sprochenen Rede  von  der  Tonmodulation  an  sich  unabhängig.  Beide 
repräsentieren  eben  ganz  verschiedene  Motive  des  sprachlichen  Aus- 
drucks: die  Tonmodulation  die  qualitative  Gefühlsstimmung,  der 
Akzent  den  Rhythmus  der  Artikulationsbewegungen,  der  als  solcher 
einen  Bestandteil  der  allgemeinen  rhythmischen  Körperbewegungen 
bildet.  Darum  ist  die  übliche  Unterscheidung  von  ,, Tonakzent"  und 
,, dynamischem  Akzent"  irreführend.  Es  gibt  nur  einen  eigentlichen 
Akzent,  das  ist  der  dynamische  oder  exspira  torische.  Beide  können 
einander  nicht  ersetzen;  wohl  aber  kann  der  eine  den  andern  ver- 
drängen, und  dies  scheint  in  der  Tat  durchweg  in  dem  Sinne  geschehen 
zu  sein,  daß  die  Tonmodulation  in  der  gewöhnlichen  Rede  durch  den 
dynamischen  Akzent  zurückgedrängt  wurde,  um  dann  erst  im  Kunst- 
gesang wieder  das  Übergewicht  über  diesen  zu  erlangen.  Denn  in 
allen  Sprachen,  in  denen  die  Tonmodulation  vorherrscht,  tritt  der 
exspira  torische  Akzent  zurück ;  und  nachweislich  ist  in  vielen  Sprachen 
im  Laufe  ihrer  Entwicklung  die  Tonmodulation  durch  den  Akzent 
zurückgedrängt  worden^).  Zugleich  scheint  sich  bei  Völkern  mit 
überwiegender    Tonmodulation    der    Gesang    von    der    gewöhnlichen 


^)  Belehrende  Beispiele  bieten  hier  vor  allem  die  afrikanischen  Sprachen 
(Meinhof,  Archiv  für  Anthropologie,  N.  F.  Bd.  IX,  1910,  S.  188  ff.).  Doch  werden 
wir  auch  auf  germanischem  Sprachgebiet  hierher  gehörige  Erscheinungen  kennen 
lernen.     (Vgl.  unten  Kap.  IV,  Nr.  VI.) 

Wun  dt,  Völkerpsychologie.    I.    4.  Anfl.  1^ 


274  1^6  Sprachlaute. 


Rede  weniger  zu  entfernen.  Er  bleibt,  ebenso  wie  die  Musik,  ein- 
förmiger und  ist  weniger  harmoniscli  ausgebildet  als  da,  wo  durch 
die  Herrschaft  des  rhythmischen  Akzents  die  gewöhnliche  Rede  und 
der  Gesang  schärfer  sich  sondern^). 

Alle  diese  Erscheinungen  deuten  bereits  die  Richtung  an,  in  der 
die  Antwort  auf  die  alte  Frage  nach  dem  Verhältnis  von  Gesang  und 
Sprache  gesucht  werden  muß.  Sicherlich  kann  man  sich  nicht  mit 
Lucrez  den  Gesang  des  Menschen  aus  dem  der  Singvögel  durch  Nach- 
ahmung entstanden  denken^).  Nicht  minder  unhaltbar  ist  die  Meinung 
Darwins,  Mensch  und  Vogel  seien  zwar  unabhängig  voneinander, 
aber  durch  die  gleichen  ursprünglichen  Motive  zu  Gesangslauten  ge- 
langt, indem  diese  sexuelle  Lockrufe  gewesen  seien,  durch  die  einst- 
mals der  Mann  um  das  Weib  nicht  anders  geworben  habe,  als  wie 
es  noch  heute  in  der  Paarungszeit  die  männlichen  Vögel  um  ihre 
Weibchen  tun^).  Abgesehen  von  den  unzulänglichen  Analogien  aus 
dem  Tierreich  fehlt  die  Hauptsache:  ein  Unterschied  der  Geschlechter 


^)  Eine  hochausgebildete  Tonmodulation  mit  sehr  schwacher  dynamischer 
Akzentuierung  findet  sich  in  den  ostasiatischen  Sprachen,  dem  Chinesischen, 
Japanischen,  Siamesischen.  Die  lange  Abgeschlossenheit  dieser  ostasiatischen 
Kultur  hat  hier  wohl  konservierend  auf  diesen  an  sich  ursprünglicheren  Zustand 
gewirkt.  Über  die  Beziehungen  des  Akzents  und  der  Tonmodulation  zur  Satz- 
fügung  siehe  Bd.  2,  Kap.  VII. 

Ein  gutes  Beispiel  für  die  verdrängende  Wirkung  der  dynamischen  Akzen- 
tuierung auf  die.  Tonmodulation  bietet  übrigens  die  Übung  unserer  Kinder  in 
der  poetischen  Rezitation  von  Gedichten.  Zuerst,  bei  dem  bekannten  Herunter- 
leiern des  Auswendiggelernten,  herrscht  durchaus  eine  einförmig  über  wenige 
Tonstufen  sich  erstreckende  Tonmodulation.  Wird  die  Rezitation  ausdrucks- 
voller, so  gewinnt  dann  mehr  und  mehr  der  dynamische  Akzent  und  mit 
ihm  die  den  Gedanken  sich  anschmiegende  Rhythmisierung  die  Ober- 
hand. 

*)  „At  liquidas  avium  voces  imitarier  ore 

ante  fuit  multo  quam  levia  carmina  cantu 
concelebrare  homines  possent  aurisque  juvare." 

(T.  Lucretii  Cari  De  rerum  natura,  V,  1366.) 
Über  eine  an  diese  Vorstellungen  zum  Teil  wieder  anknüpfende,  auch  von  B.  Del- 
brück gebilligte  Theorie  von  O.   Jespersen  vgl.   Sprachgeschichte   und  Sprach- 
psychologie, S.  92  ff.,  und  unten  Bd.  2,  Kap.  IX. 

3)  Darwin,  Abstammung  des  Menschen,  II,  S.  290  ff. 


Tonmodulation  und  Lautartikulation  beim  Menschen.  275 


in  der  Anlage  zum  Gesang  ist  beim  Menschen  nicht  nachzuweisen^). 
Ist  der  menschliche  Gesang,  wie  die  Tatsachen  der  generellen  und  der 
individuellen  Entwicklung  wahrscheinlich  machen,  ein  Erwerb  der 
Kultur,  so  ist  er  —  das  scheidet  ihn  von  dem,  was  wir  bei  den  Ton- 
modulationen  des  Vogels  Gesang  nennen  —  von  Anfang  an  das  Er- 
zeugnis einer,  wenn  auch  noch  so  primitiven,  Kunst.  Darum  kann 
man  zwar  von  natürlichen  Tonmodulationen  der  menschlichen  Stimm- 
laute, aber  man  kann  nicht  von  einer  ,, na  türlichen  Musik"  der  Sprache 
im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  reden,  um  dann  mit  Herbert  Spencer 
aus  der  "Weiterentwicklung  derselben,  wie  sie  besonders  durch  die 
leidenschaftlich  erregte  Rede  nahegelegt  werde,  die  Entstehung  har- 
monischer Kadenzen  abzuleiten^).  Auch  diese  Hypothese  trägt  den 
Stempel  der  Willkür.  Rhythmus  und  Tonbewegung  in  harmonischen 
Intervallen  bilden  die  unveräußerlichen  Merkmale  des  Gesangs.  Es 
kann  vorkommen,  daß  der  Rhythmus  wenig  ausgebildet  ist,  oder  daß 
umgekehrt  ein  bestimmter  Rhythmus  besteht,  aber  die  Tonintervalle 
nur  annähernd  einen  musikalischen  Charakter  besitzen.  Niemals 
jedoch  kann  die  Tonmodulation  als  solche,  ohne  Rhythmus  und  ohne 
harmonische  Ton  Verhältnisse,  Gesang  genannt  werden.  Vollends  im 
gesteigerten  Affekt  besitzt  die  Sprache  am  wenigsten  musikalische 
Eigenschaften:  denn  hier  besonders  fallen  die  Laute  leicht  in  die  pri- 
mitive Form  disharmonischer  Schreilaute  zurück,  und  es  bewegt  sich 
die  Rede  unter  dem  Einfluß  des  starken  und  irregulären  Wechsels 
der  Gefühle  in  völlig  unrhythmischen  Formen^). 

Mehr  trifft  mit  diesen  Bedingungen  eine  andere  Ansicht  zusammen, 
die,  im  Gegensatz  zu  diesen  Versuchen  einer  Ableitung  aus  Ursprung- 


^)  Darwin  beruft  sich  hier  allerdings  auf  zwei  Zeugnisse.  Diese  wider- 
sprechen sich  aber  eigentlich  wechselseitig.  Erstens  sollen  die  Männchen  einiger 
Quadrumanen  entwickeltere  Stimmorgane  besitzen  als  die  Weibchen.  Zweitens 
werde  allgemein  angenommen,  daß  die  Frauen  angenehmere  Stimmen  be- 
säßen als  die  Männer,  was  als  Fingerzeig  dienen  könne,  „daß  sie  zuerst 
musikalische  Kräfte  erlangten,  um  das  andere  Geschlecht  anzuziehen" 
(S.  295  f.). 

2)  Herbert  Spencer,  The  Origin  and  Function  of  Music,  in  Essays  political 
and  speculative.     1858. 

^)  Über  die  Bedeutung  von  Rhythmus  und  Tonmodulation  für  die  Gliede- 
rung der  Rede  vgl.  unten  Kap.  VII,  Nr.  VIL 

18* 


276  Die  Sprachlaute. 


liehen  Naturbedingungen,  in  der  Kunst  selbst,  und  zwar  in  der  bereits 
entwickelten  Dichtkunst,  die  Quelle  des  musikalischen  Ausdrucks 
sieht.  ,,Aus  betonter,  gemessener  Rezitation  der  Worte  entsprang", 
wie  Jacob  Grimm  sich  ausdrückt,  ,, Gesang  und  Lied,  aus  dem  Lied 
die  andere  Dichtkunst,  aus  dem  Gesang  durch  gesteigerte  Abstrak- 
tion alle  übrige  Musik"  ^).  Diese  Erklärung  hat  nur  den  einen  Fehler, 
daß  sie  gegenüber  der  vorangegangenen  in  das  entgegengesetzte  Ex- 
trem verfällt.  Der  Rezitator,  der  die  Taten  der  Helden  preist,  oder  der 
Priester,  der  den  Opferkultus  mit  Gebeten  begleitet,  sie  sind  Erschei- 
nungen einer  bereits  fortgeschrittenen  Kultur.  Daß  das  Epos  und  das 
Kultusgebet  nicht  von  Anfang  an  Lied  und  Gesang,  also  von  Rhyth- 
mus und  melodischer  Tonfolge  begleitet  gewesen  seien,  erscheint 
mindestens  unwahrscheinlich.  Die  Kunst  des  wandernden  Sängers 
und  der  religiöse  Kultgesang  mögen  daher  immerhin  für  die  Weiter- 
entwicklung des  musikalischen  Ausdrucks  ihre  Bedeutung  haben, 
als  Beginn  desselben  können  sie  ebensowenig  gelten,  wie  das  Ho- 
merische Epos  ein  Urzustand  der  Poesie  oder  die  Homerische  Götter- 
welt eine  primitive  Mythologie  ist.  So  gewinnt  denn  auch  die  Hypo- 
these Jacob  Grimms  ihr  Recht,  wenn  wir  sie  aus  der  vermeintlichen 
Urzeit  der  Homerischen  Welt  in  die  wirkliche  Urzeit  der  Kultur  zurück- 
verlegen, soweit  uns  diese  in  dem  Leben  der  heutigen  primitiven  Völker 
erreichbar  ist.  Nicht  der  epische  Gesang,  sondern  der  Tanz,  begleitet 
von  einem  monotonen  und  oft  bedeutungslosen  Gesang,  bildet  hier 
überall  die  ursprünglichste  und  trotz  dieser  Ursprünglichkeit  hoch 
ausgebildete  Kunst  ^).  Mag  er  als  Kulttanz  oder  als  reine,  dem  Genuß 
der  eigenen  rhythmischen  Körperbewegimgen  hingegebene  Affekt- 
äußerung auftreten,  er  beherrscht  so  sehr  das  Leben  des  Naturmenschen, 


^)  Jacob  Grimm,  Über  den  Ursprung  der  Sprache,  ^  1858,  Ö.  54.  Eine 
ähnliche  Ansicht  hat  auch  Herbert  Spencer  in  seiner  Soziologie  vorgetragen, 
indem  er  teils  aus  den  lobpreisenden  Triumph-  und  Siegesgesängen,  die  einem 
sieghaften  Häuptling  dargebracht  wurden,  teils  aus  religiösen  Zeremonial-  und 
Opfergesängen  die  Kunstformen  der  Poesie  und  Musik  hervorgehen  läßt.  Da- 
neben nimmt  er  aber  auch  hier  noch  im  Sinne  seiner  obenerwähnten  älteren 
Theorie  an,  daß  schon  in  den  gewöhnlichen,  namentlich  leidenschaftlichen  Äuße- 
rungen eine  Hinneigung  zum  musikalischen  Ausdruck  liege.  (Soziologie,  deutsche 
Ausg.   IV,  Kap.   III,   S.    141  ff.,  255.) 

2)  Vgl.  hierzu  Bd.  3  3  (Kunst),  S.  470  ff. 


Tonmodulation  und  Lautartikulation  beim  Menschen.  277 


daß  sich  ihm  alle  andern  Kunstformen  unterordnen.  Ist  er  doch  selbst 
gewissermaßen  die  primitive  bildende  Kunst,  die  hier  noch  ganz  in 
der  Selbstdarstellung  der  menschlichen  Gestalt  in  der  Mannigfaltig- 
keit ihrer  dem  jedesmaligen  Affekt  folgenden  Bewegungen  aufgeht. 
Das  primitive  Lied  und  die  primitive  Musik,  die,  dieser  Herrschaft 
des  Rhythmus  über  die  Melodie  folgend,  mehr  über  Lärmwerkzeuge 
als  über  musikalische  Instrumente  gebietet,  ordnen  sich  völlig  dieser 
rein  rhythmischen  Kunst  unter.  Vor  allem  bei  den  die  überwiegende 
Zahl  der  primitiven  Tänze  bildenden  Nachahmungen  der  Tiere  bildet 
nun  aber  die  Verbindung  einer  treuen  Nachbildung  der  an  sich  meist 
unregelmäßigen  Bewegungen  des  Tieres  mit  der  Unterordnung  unter 
die  streng  festgehaltene  rhythmische  Form  einen  besonderen  Antrieb 
zur  Entwicklung  einer  komplizierten  Technik.  Während  Alte  und 
Junge,  Männer  und  Frauen,  wo  beide  am  Tanze  teilnehmen,  in  der 
Raschheit  und  Gewandtheit  ihrer  Bewegungen  mannigfach  abweichen, 
werden  sie  doch  durch  den  gleichen  Rhythmus  zusammengehalten. 
So  entstehen  von  selbst  kunstvolle  Tanzformen,  die  man,  vom  Rhyth- 
mischen in  das  Melodische  übersetzt,  den  polyphonen  Leistungen  eines 
aus  verschiedenen  Instrumenten  zusammengesetzten  Orchesters  ver- 
gleichen könnte,  und  zu  denen  die  monotone  und  zuweilen  nur  in 
unartikulierten  oder  traditionellen,  nicht  mehr  verstandenen  Wörtern 
bestehende  Stimmbegleitung  in  starkem  Kontrast  steht.  Nun  ist 
es  sicherlich  kein  zufälliges  Zusammentreffen,  daß  bei  den  gleichen 
Naturvölkern,  bei  denen  sich  der  Rhythmus  der  Körperbewegungen 
so  reich  entwickelt  hat,  nicht  bloß  die  Gesangsmelodie  höchst  unvoll- 
kommen geblieben  ist,  sondern  daß  auch  die  gewöhnliche  Sprache 
eine  ähnlich  gleichförmige  Tonmodulation  zeigt,  während  eine  dy- 
namische Akzentuierung  der  Rede  fast  ganz  fehlt.  Mit  andern  Worten : 
Gesang  und  gewöhnliche  Sprache  sind  wenig  geschieden  und  ent- 
sprechend nehmen  die  Artikulationsorgane  an  dem  allgemeinen  Rhyth- 
mus der  Körperbewegungen  noch  fast  gar  keinen  Anteil.  Dies  äußert 
sich  natürlich  besonders  in  der  spezifisch  rhythmischen  Kunstform, 
im  Tanze;  aber  es  gilt  doch  für  die  Beziehungen  der  Körper-  zu  den 
Stimmbewegungen  überhaupt. 

So  begreift  es  sich,  daß  Tonmodulation  und  Akzent  in  ihren  aus- 
geprägten Formen  bis  zu  einem  gewissen   Grade  sich  ausschließen, 


278  I>ie  Sprachlaute. 


daß  sie  aber  nicht  im  mindesten  Erscheinungen  sind,  die  einander 
vertreten  können.  Die  Tonmodulation  ist  Ausdruck  qualitativer 
Nuancen  der  Rede,  wie  wir  das  auch  in  den  sonst  vom  dynamischen 
Akzent  beherrschten  Sprachen  noch  deutlich  bemerken  können,  wo 
sie  für  besondere  Modifikationen  der  Bedeutung  stehen  geblieben 
ist :  so  in  der  Erhöhung  des  Tones  bei  der  Frage,  in  der  etwas  geringeren, 
aber  mit  Tonverstärkung  verbundenen  Tonerhöhung  beim  Ausruf, 
endlich  in  der  Vertiefung  des  Tones  am  Ende  einer  Aussage^).  Sie 
sind  neben  bedeutungslos  gewordenen  dialektischen  und  individuellen 
Modulationen  des  Tones  die  letzten  Spuren  einer  Qualifikation  der 
Bedeutung  durch  den  Tonfall,  wie  sie  in  ausgeprägterer,  auf  den  ge- 
samten Begriffsinhalt  des  Wortes  übergreifender  Form  die  ostasia- 
tischen Sprachen  bieten.  Kann  doch  auch  für  uns  noch  in  gewissen 
Fällen  ein  und  dasselbe  Wort,  wie  das  ,,ja  ?"  der  Frage  oder  des  Zweifels 
und  das  ,,3a!"  der  Verwunderung  oder  der  Versicherung,  im  Zusammen- 
hang der  Gedanken  wesentlich  verschiedene  Bedeutungen  besitzen^). 
Demgegenüber  besitzt  der  exspiratorische  Akzent,  der  auf  ein  ein- 
faches Wort  oder  auf  einen  Wortbestandteil  gelegt  wird,  an  sich  nur 
den  Wert  einer  quantitativen  Steigerung.  Darum  ist  er  zunächst 
nur  Ausdruck  der  Affektstärke,  während  die  Gefühlsqualität  des  Affekts, 
die  an  den  sonstigen  Bedeutungsinhalt  gebunden  ist,  vom  exspira- 
torischen  Akzent  unberührt  bleibt.  Dagegen  ist  dieser  ein  Teil  der 
gesamten  Ausdrucksbewegungen,  und  er  hat  hier,  wie  seine  allmäh- 
liche Entwicklung  in  vielen  Sprachen  lehrt,  zugleich  die  Bedeutung 
eines  komplementären  Ausdrucksmittels.  Je  mehr  die  äußeren  pan- 
tomimischen Ausdrucksbewegungen  zurücktreten,  ein  um  so  größeres 
Gewicht  gewinnt  die  an  den  entscheidenden  Stellen  eintretende  Laut- 
steigerung durch  den  Affekt.  Beispiele  eines  so  sich  entwickelnden 
Gegensatzes  begegnen  uns  heute  noch  deutlich  in  der  Sprechweise 
der  uns  bekannten  Kulturvölker.  Das  Französische  hat  sich  unter 
den  romanischen  Sprachen  wohl  am  meisten  die  Tonmodulation  be- 
wahrt, neben  der  auch  in  ihm  der  dynamische  Akzent  zurücktritt. 
Dafür  besitzt  der  Franzose  ein  um  so  wirksameres  Mittel  des  Affekt- 


^ )  Meinhof,  Die  moderne  Sprachforschung  in  Afrika,  S.  68  ff. 
2)  Vgl.  Bd.  2,  Kap.  VII. 


Tonmodulation  und  Lautartikulation  beim  Menschen.  279 

ausdrucks  in  dem  Gebärdenspiel,  das  seine  Rede  begleitet.  Der  eng- 
lische Redner  bleibt  äußerlich  unbewegt,  und  seine  Worte  bewegen 
sieb  nur  innerhalb  eines  ausnehmend  geringen  Umfangs  der  Ton- 
modidation ;  aber  er  verfügt  über  einen  sehr  umfangreichen  und  wechseln- 
den dynamischen  Akzent.  Erscheinungen  wie  diese  bei  sonst  in  der 
Kultur  einander  nahestehenden  Völkern  können  uns  wohl  auch  am 
ehesten  über  die  Ursachen  der  allmählichen  Verdrängung  der  Ton- 
modulation durch  den  dynamischen  Akzent  Aufschluß  geben.  Sicht- 
lich ist  diese  Verdrängung  nicht  direkt  erfolgt,  sondern  das  Anwachsen 
der  exspiratorischen  Betonung  ist  selbst  allem  Anscheine  nach  erst 
die  Wirkung  der  allmählich  infolge  besonderer  nationaler  Anlagen, 
die  sich  unter  dem  Zusammenfluß  für  uns  im  einzelnen  nicht  mehr 
nachzuweisender  Faktoren  entwickelt  haben,  eingetretenen  Unter- 
drückung des  äußeren,  die  Rede  begleitenden  Gestus.  Dieser  hat 
sich  aber,  da  der  Affekt  fortan  sich  Luft  machen  muß,  um  so  ener- 
gischer auf  die  Artikulationsbewegungen  selbst  geworfen.  Hier 
unterdrückt  er  seinerseits  wieder  jede  ausgiebigere  Tonmodulation, 
wie  uns  das  die  Vergleichung  der  gesprochenen  Rede  mit  dem 
Gesang  vor  Augen  führt.  Denn  auch  hier  muß  der  letztere 
eben  deshalb  auf  die  stärksten  dynamischen  Akzente  verzichten, 
weil  ein  übermäßiger  Exspirationsdruck  die  feineren  Tonunterschiede 
zurückdrängt. 

Dagegen  bewegt  sich  der  dynamische  Akzent  der  gewöhnlichen 
Sprache  selbst  wieder  zwischen  zwei  wesentlich  abweichenden  Mo- 
tiven, einem  rhythmischen,  bei  dem  die  Lautfolge  als  solche,  ohne 
Rücksicht  auf  die  Beziehung  der  Laute  zum  Bedeutungsinhalt  des 
Wortes  für  die  Betonung  entscheidend  ist,  und  einem  logischen,  das 
umgekehrt  auf  den  Bedeutungswert  des  Lautes  das  Schwergewicht 
legt.  Ausgeprägte  Beispiele  für  die  Vorherrschaft  des  ersten,  rhyth- 
mischen Motivs  bieten  hier  das  Griechische  und  Lateinische  auf  der 
einen  Seite,  in  denen  sich  die  Betonung  nach  der  Stellung  der  betonten 
Silbe  richtet,  und  das  Germanische  auf  der  andern,  wo  die  Stamm- 
silbe, also  derjenige  Lautbestandteil,  der  dem  Wort  seinen  wesent- 
lichen Bedeutungsinhalt  verleiht,  den  Akzent  trägt.  Dort,  bei  der 
Betonung  nach  der  Position,  bewirkt  der  Wechsel  der  Klangstärke 
einen  rhythmischen   Abfluß   der  Laute,   indem   in   beiden    Sprachen 


280  Die  Sprachlaute. 


die  Stellung  des  Akzents  im  allgemeinen  eine  solche  ist,  daß  ein  auf- 
und  abwogender  Rhythmus  entsteht,  ähnlich  wie  er,  nur  strenger 
gebunden,  die  musikalische  Methode  beherrscht.  So  ist  denn  auch 
diese  rhythmische  Form  der  dynamischen  Betonung  noch  mit  einer 
ausgiebigeren  Tonmodulation  vereinbar,  wie  unter  den  neueren 
Sprachen  wieder  besonders  das  Französische  zeigt.  Ganz  anders  in 
den  germanischen  Sprachen,  wo  das  logische  Prinzip  der  dynamischen 
Akzentuierung  zur  Herrschaft  gelangte.  Ohne  Rücksicht  auf  rhyth- 
mischen Aufbau  der  Worte  schreitet  hier  die  Rede  fort.  Indem  sich 
■aber  gleichzeitig  die  den  Affekt  widerspiegelnde  äußere  Körper- 
bewegung ermäßigt  hat  und  der  Respirationsdruck  an  ihre  Stelle 
getreten  ist,  erhält  der  Satzakzent,  der  die  durch  den  Affekt  ge- 
hobenen Stellen  der  Rede  scharf  hervortreten  läßt,  die  Vorherrschaft 
über  den  Wortakzent,  und  die  Sprache  gewinnt  jenen  rhythmischen 
Tonfall,  den  sie  im  einzelnen  Wort  verloren,  im  Satze  wieder.  Doch 
die  Tonmodulation,  die  an  den  melodischen  Wortklang  gebunden  ist, 
tritt  jetzt  um  so  mehr  in  der  in  ihrem  gesamten  Aufbau  von  der  ex- 
spiratorischen  Betonung  beherrschten  Rede  zurück.  Nach  allem  dem 
läßt  sich  die  rhythmische  Form  des  dynamischen  Wortakzents  wohl 
auch  einerseits  als  eine  Zwischenstufe  betrachten  zwischen  einem 
früheren  Zustand  mit  herrschender  Tonmodulation  und  einem  späteren 
mit  vorwaltend  dynamischer  Betonung,  anderseits  aber  zugleich  als 
eine  solche  zwischen  einem  Stadium,  wo  das  einzelne  Wort  nach  Klang 
wie  Betonung  einen  relativ  veränderlichen  Wert  hat,  und  einem  an- 
dern, in  dem  es  innerhalb  des  vom  dynamischen  Satzakzent  beherrschten 
Ganzen  des  Gedankens  einer  verschiedenen  Abstufung  fähig  ist.  Da- 
bei sind  übrigens  diese  Verhältnisse  durchaus  nicht  maßgebend  für 
die  Ausbildung  der  Sprache  überhaupt.  Eine  Sprache  mit  fast  reiner 
Tonmodulation  und  sehr  geringem  dynamischen  Akzent  wie  das  Chi- 
nesische verfügt  vermöge  dieser  einseitigen  Ausbildung  über  Mittel, 
die  unseren  europäischen  Kultursprachen  nicht  zu  Gebote  stehen. 
Eine  andere,  die,  wie  das  Französische,  durch  die  Verbindung  von  Ton- 
abstufung und  rhythmischer  Akzentuierung  einen  den  feineren  Ge- 
fühlsnuancen des  Ausdrucks  sich  anschmiegenden  musikalischen 
Charakter  bewahrt  hat,  besitzt  hierin  einen  Vorzug,  welcher  den  nur 
über    logische    Wort-    und     affektbetonte    Satzakzente    verfügenden 


Tonniodulation  und  Lautartikulation  beim  Menschen.  281 


Sprachen  abgeht.  Denn  während  diese  ihrerseits  die  den  Gedanken 
tragenden  Hauptbegriffe  mehr  zu  Gehör  bringen,  steht  ihnen  als  Aus- 
druck subjektiver  Stimmung  lediglich  die  Stärke  der  Betonung  in 
ihrer  bloß  intensiven  Steigerung  zu  Gebote.  Auch  hier  macht  sich 
eben  im  Gebiet  der  Sprache  die  allgemeine  psychologische  Tatsache 
geltend,  daß  in  den  Ausdrucksbewegungen  der  Affekte  hinter  den 
Intensitätsäußerungen  die  sonstigen,  namentlich  also  die  qualitativen 
Gefühlsnuancen  zurücktreten^).  In  allem  dem  bieten  uns  aber  noch 
die  Sprachen  der  heutigen  Kulturvölker  nicht  bloß  letzte  Spuren 
einer  allgemeinen  in  Betonung  und  Sprechmelodie  in  gesetzmäßiger 
Weise  die  ganze  Geschichte  der  Sprache  begleitenden  Entwicklung, 
sondern  auch  deutliche  Wirkungen  einer  Differenzierung  dieser 
Entwicklung,  in  der  Melodie  und  Rhythmus  der  Rede,  mit 
ihren  subjektiven  psychischen  Korrelaten,  qualitativer  Nuan- 
cierung der  Gefühle  und  intensiver  Affekterregung,  miteinander 
konkurrieren. 

In  diesen  Eigenschaften  der  Tonmodulation  und  des  Rhythmus 
liegt  nun  auch  das  Verhältnis  von  Sprache  und  Gesang  begründet. 
Ist  hier  zweifellos  die  Sprache  das  Frühere,  so  begleiten  sich  doch 
beide,  so  weit  wir  in  der  Entwicklung  der  Menschheit  zurückgehen 
können,  und  sie  nähern  sich  zugleich  um  so  mehr,  auf  einer  je  ur- 
sprünglicheren Stufe  wir  sie  antreffen:  in  der  Sprache  überwiegt  die 
Tonmodulation,  und  der  Gesang  entfernt  sich  noch  wenig  von  der 
gewöhnlichen  Rede.  Dabei  wirkt  aber  die  Kunst  auf  beide  in  einer 
primitiveren  Form  ein,  nämlich  in  dem  eine  ursprüngliche  Einheit 
bildender  und  musischer  Kunst  repräsentierenden  Tanz.  In  der  Be- 
gleitung zum  Tanz  erhebt  sich  zuerst  die  gesprochene  Rede  zum  Lied 
und  dieses  wirkt  dann  seinerseits  wieder  auf  die  Sprache  zurück.  Es 
bringt  strengeren  Rhythmus  in  die  Rede,  und  es  schafft  reichere  Ton- 
modulationen. In  beiden  Eigenschaften,  in  der  Steigerung  des  rhyth- 
mischen und  des  melodischen  Faktors  scheidet  sich  so  mehr  und  mehr 
der  Gesang  von  der  gesprochenen  Rede.  In  diese  Entwicklung  tritt 
endlich  die  Differenziermig  des  Liedes  ein.    Dieses  wird  schon  inner- 


M  Vgl.  Physiol.  Psychol.  III»,  S.  199  ff.,  260  ff.   Über  das  Verhältms  von 
Wort-  und  Satzakzent  siehe  unten  Kap.  VIL 


282  I^ie  Sprachlaute. 


halb  eines  primitiven  Zauberkultus  zum  Kultlied,  das  in  seinen 
Anfängen  wohl  stets  mit  dem  Tanz  verbunden  ist,  der  weiterhin  in 
dem  Kulttanz  verwickeitere,  von  einem  strengen  Zeremoniell  geregelte 
Formen  annimmt,  während  er  in  der  langsamen  Feierlichkeit  vieler 
derselben  der  Ausbildung  des  melodischen  Faktors  fördernd  entgegen- 
kommt. Anderseits  greift  nun  aber  auch  die  rhythmisierte  Rede  über 
das  Gebiet  des  Tanzes  und  des  unter  seiner  Mitwirkung  entstandenen 
Kultlieds  in  das  profane  Leben  und  dessen  alltägliche,  nicht  weniger 
wie  der  Tanz  durch  die  Organisation  der  Bewegungswerkzeuge  sich 
mit  rhythmischer  Gliederung  verbindenden  Beschäftigungen  hinüber. 
So  sind  die  Arbeiten  des  Schmiedens,  des  Holzfällens,  des  Säens,  dann 
die  Tret-  und  Schlagbewegungen,  die  dem  Enthülsen  des  Getreides 
dienen,  das  Spinnen,  das  Weben,  das  Flechten  usw.  entweder  von 
selbst  an  regelmäßige  rhythmische  Körperbewegungen  gebunden, 
oder  sie  werden  mindestens  in  hohem  Grade  durch  eine  der  Natur  der 
Arbeit  sich  anpassende  Rhythmik  der  Bewegungen  erleichtert,  so 
daß  die  Arbeit  selbst  in  ein  erfreuendes  Spiel  sich  verwandeln  kann. 
Diese  erleichternde  Wirkung  des  Rhythmus  auf  den  Vollzug  der  Be- 
wegungen findet  ihren  psychologischen  Ausdruck  in  den  wechselnden 
Spannungs-,  Lösungs-  und  Lustgefühlen,  die  die  Arbeit  begleiten. 
So  regt  sich  der  Trieb,  diesen  lusterregenden  Wechsel  der  Gefühle 
mit  Lauten  zu  begleiten,  die  durch  die  hinzukommenden  Artikula- 
tions-  und  Gehörsempfindungen  das  rhythmische  Gefühl  verstärken 
und  regulierend  und  fördernd  auf  die  Arbeitsbewegungen  zurück- 
wirken. Diese  begleitenden  Laute  lassen  ferner,  wo  sich  zu  der  gleichen 
Arbeit  mehrere  vereinigen,  diese  in  übereinstimmendem  Rh5rthmu& 
die  Bewegungen  ausführen.  Arbeitsgesänge  gehören  daher,  wie 
K.  Bücher  gezeigt  hat,  wahrscheinlich  zu  den  frühesten  Gattungen 
der  Poesie  und  des  musikalischen  Ausdrucks^).  Bisweilen  enthalten 
sie  nichts  als  sinnlose  artikulierte  Laute,  die  dem  Rhythmus  der  ge- 
leisteten Arbeit  angepaßt  sind.  Reste  solcher  Lautbildungen  mögen 
sich  noch  in  den  Refrainzeilen  mancher  Volkslieder  finden  2).     Dann 


1)  Karl  Bücher,  Arbeit  und  Rhythmus,   *  1908. 

2)  Ein  Beispiel  bei  Bücher  a.  a.  O.  S.  271. 


Stadien  der  Lautbildung  beim  Kinde.  283 


füllen  sich  allmälilich  die  Takte  mit  sprachlichem  Inhalt,  der  sich 
bald  auf  die  Arbeit  selbst,  bald  auf  andere  Begegnisse  des  täglichen 
Lebens  bezieht,  und  der  zunächst  durch  Improvisation  entsteht,  ehe 
er  sich  zu  bestimmten,  bei  der  gleichen  Arbeit  regelmäßig  wieder- 
holten Liedern  fixiert^).  Nach  einer  andern  Seite  entwickeln  sich 
aus  dem  Kulttanz,  ursprünglich  als  spezifische  Formen  desselben, 
der  Jagd-  und  der  Kriegstanz;  und  in  weiterer  Rückwirkung  über- 
trägt sich  der  Rhythmus  dieser  Tänze  durch  begleitende  Lärm-  und 
Musikinstrumente  auf  den  Anmarsch  zum  Kampfe  und  auf  die  Wieder- 
holung in  Spiel  und  Waffentanz.  So  entsteht  der  Kampf gesang  und, 
auf  ihn  zurückgehend,  das  Lied  des  Sängers,  der  die  Taten  der  Helden 
feiert^). 


IL  Sprachlaute   des  Kindes. 

1.  Stadien  der  Lautbildung  beim  Kinde. 

Die  Entwicklung  der  kindlichen  Stimmlaute  läßt  sich  deutlich 
in  drei  Stadien  unterscheiden.  Das  erste,  das  in  der  Regel  bis  in  die 
sechste  Lebenswoche  herabreicht,  ist  das  der  Schreilaute.  Das 
zweite,  von  der  siebenten  Woche  bis  zum  Ende  des  ersten,  manch- 
mal auch  bei  noch  normalen  Kindern  bis  gegen  Ende  des  zweiten 
Lebensjahrs  sich  erstreckend,  ist  das  der  artikulierten  sinnlosen 
Laute.  Das  dritte  beginnt  mit  der  Hervorbringung  artikulierter 
Laute,  denen  die  bestimmte  Absicht  der  Benennung  beiwohnt: 
das  Stadium  der  eigentlichen  Sprachbildung,  es  umfaßt  die 
folgenden  Lebensjahre.  Man  kann,  freilich  etwas  willkürlich,  seine 
obere  Grenze  da  annehmen,  wo  das  Kind  seine  Vorstellungen  und 
Willensakte  durchweg  in  regelmäßig  geordneten  Sätzen  ausdrückt. 
Zur  Sprachentwicklung  im  weiteren  Sinne  gehören  natürlich  alle  drei 


1)  Ebenda  S.  252  ff. 

2)  Vgl.  hierzu  Bd.  3»  (Die  Kunst),  Kap.  III. 


284  •  Die  Sprachlaute. 


Stadien;  denn  jede  vorausgehende  Stufe  bildet  die  psychophysische 
Vorbedingung  der  folgenden.  Den  Anfang  der  eigentlichen  Sprach- 
bildung wird  man  aber  erst  ansetzen  können,  wo  das  Kind  wirk- 
lich, wenn  auch  noch  so  unvollkommen,  willkürlich  Gegenstände 
und  Vorgänge  seiner  Umgebung  mit  artikulierten  Lauten  zu  be- 
zeichnen beginnt.  In  diesen  Verlauf  schieben  sich  dann  außer- 
dem Zwischenstufen  ein,  die  den  Übergang  vermitteln,  und  die 
namentlich  zwischen  den  beiden  letzten  Stadien  von  psychologischem 
Interesse  sind^). 

Die  erste  Lautreaktion  des  neugeborenen  Kindes  ist  bekannt- 
lich der  Schmerzensschrei.  Kälte  und  Hunger  scheinen  die  Reize 
zu  sein,  die  diese  Reaktion  auslösen.  Sie  besteht  in  unartikulierten,  meist 
bei  weit  geöffnetem  Munde  vorgebrachten  Lauten  von  vokalischem 
Klangcharakter,  wie  a,  a,  u,  uä.  Schon  in  der  ersten  Lebensw^oche 
pflegt  sich  der  Gebrauch  dieser  Schreilaute  zu  erweitern,  indem  sich 
nicht  bloß  Schmerz,  sondern  auch  sonstige,  z.  B.  durch  eine  ungewohnte 
Lage  oder  durch  die  plötzliche  Entziehung  der  Nahrung  hervorgerufene 
Unluststimmungen  durch  ein  ähnliches  Geschrei  kundgeben,  das 
nun  in  seinem  äußersten  Grade  den  Charakter  des  Wutschreies 
annimmt.  Wie  der  Schmerz-  und  der  Wutschrei  die  allgemeinen  Aus- 
gangspunkte des  Ausdrucks  der  Gemütsbewegungen  durch  Stimm- 
laute im  Tierreich  sind,  so  ordnet  sich  demnach  auch  ihre  individuelle 
Entstehung  beim  Kinde  dieser  generellen  Entwicklung  unter.  Der 
Hauptfortschritt,  der  sich  dann  um  das  Ende  des  ersten  mid  den  An- 
fang des  zweiten  Lebensmonats  vollzieht,  besteht  darin,  daß  allmäh- 
lich auch  schwächere  Gefühle  von  Lautäußerungen  begleitet 
werden:  so  die  geringeren  Grade  des  Unbehagens,  der  Ungeduld,  des 
Verdrusses,  und  in  leisen  Anfängen  schon  gewisse  Lustgefühle,  die 
letzteren  freilich  zunächst  in  der  mehr  negativen  als  positiven  Form 


1)  Die  folgenden  Angaben  stützen  sich  zumeist  auf  Beobachtungen,  die  ich 
selbst  an  zweien  meiner  Kinder  ausgeführt  habe.  Sorgfältige  Aufzeichnungen 
über  die  Sprachentwicklung  des  Kindes  geben  außerdem  W.  Preyer  (Die  Seele 
des  Kindes,  *  S.  364  ff.)  und  besonders  Clara  und  WUliam  Stern,  Die  Kinder- 
sprache, 1907,  zugleich  mit  einer  ausführlichen  Übersicht  über  die  reiche 
Literatur. 


Stadien  der  Lautbildung  beim  Kinde.  285 


des  nachlassenden  Mißvergnügens,  denen  aber  bald  Laute  der  Be- 
friedigung, des  Behagens  nachfolgen.  In  gleichem  Maße  nehmen  die 
Lustäußerungen  ermäßigte  Formen  an,  und  neben  den  eigentlichen 
Schreilauten  treten  moderierte  Ausdruckslaute  auf.  Infolge  der  hier- 
bei vorhandenen  geringeren  und  wechselnderen  Spannung  der  Stimm- 
bänder wird  die  Tonmodulation  der  Laute  eine  mannigfaltigere;  und 
durch  die  gleichzeitig  sich  einstellenden  wechselnderen  Formungen 
der  Teile  der  Mundhöhle  wächst,  wenn  auch  noch  in  beschränktem 
Maße,  die  Anzahl  der  Lautartikulationen.  Die  Vokalklänge  vermehren 
sich  daher,  und  teilweise  verbinden  sie  sich  mit  Verschluß-  und  Re- 
sonanzlauten: Lautbildungen  wie  ör,  rö,  ra,  ta,  am,  hu  treten  zu  den 
früheren  hinzu.  Sowohl  nach  dem  Charakter  dieser  halbartikulierten 
Laute  wie  nach  den  Anlässen,  bei  denen  sie  hervorgebracht  werden, 
bildet  so  diese  Zeit  bereits  eine  Zwischenstufe  zu  dem  folgenden  Sta- 
dium. 

Dieses  zweite  Stadium  selbst  ist  zunächst  durch  die  rasch  wach- 
sende Zahl  der  Lautartikulationen  gekennzeichnet.  Sie  kommt,  ab- 
gesehen von  der  zunehmenden  Beweglichkeit  der  Mund-  und  Rachen- 
teile, hauptsächlich  auf  Rechnung  der  in  der  Regel  im  7.  bis  8.  Monate 
hervorbrechenden  Schneidezähne.  Gleichzeitig  wächst  aber  sichtlich 
auch  der  Reichtum  der  Gemütsstimmungen,  namentlich  der  Lust- 
affekte  und  der  an  sie  sich  anschließenden  Affekte  der  Neugier,  Er- 
wartung, Verwunderung,  indes  sich  die  Unlustaffekte  noch  auf  lange 
hinaus  weder  nach  ihren  psychologischen  Anlässen  noch  in  ihren  phy- 
sischen Symptomen  wesentlich  zu  ändern  pflegen.  Während  sich 
daher  Schmerz  und  Zorn  ganz  wie  früher  durch  lautes  unartikuliertes 
Geschrei  kundgeben,  nehmen  mehr  und  mehr  die  Perioden  zu,  wo  das 
Rind,  in  zufriedener  Stimmung,  fast  ununterbrochen  artikulierte  Laute 
ausstößt.  Gerade  die  deutlicheren  Artikulationen,  wie  am,  ah,  ora, 
ra,  da,  an,  na,  hu,  hu,  Verbindungen  also  von  Resonanz-  und  Lippen- 
verschlußlauten mit  Vokalen,  unter  welchen  letzteren  nur  das  i  zu- 
nächst noch  zurücktritt,  sind  augenscheinlich  Äußerungen  dauernder, 
aber  schwacher  Lusterregungen.  Stärkere  Lustaffekte  künden  sich 
in  derselben  Zeit  gewöhnlich  durch  in  lautes  krähendes  Geschrei 
an,  das  sich  von  dem  Wehgeschrei  durch  seine  kürzere  Dauer  und 
seine  hohe  Tonlage  unterscheidet.    Dabei  muß  freilich  ein  für  allemal 


286  Die  Sprachlaute. 


bemerkt  werden,  daß  es  sich  bei  Angaben  über  die  artikulierten  Laute 
des  Kindes  in  dieser  Lebenszeit  stets  nur  um  eine  annähernde  Wieder- 
gabe der  häufiger  vorkommenden  Laute  handeln  kann.  Eine  den 
Ansprüchen  der  Lautphysiologie  genügende  Charakterisierung  ist 
unmöglich,  weil  man  fast  ganz  auf  die  Beurteilung  des  akustischen 
Eindrucks  angewiesen  bleibt.  Die  wirklich  hervorgebrachten  Laute 
sind  zudem,  wenn  man  die  Übergänge  und  die  in  unseren  konven- 
tionellen Symbolen  kaum  darstellbaren  Laute  hinzunimmt,  geradezu 
unübersehbar  in  ihrer  Mannigfaltigkeit. 

Li  dem  geschilderten  Verhalten  ändert  sich  im  Laufe  der  folgen- 
den Monate  nur  wenig,  abgesehen  davon,  daß  die  Lautartikulationen 
zahlreicher  werden,  indem  sich  zunächst  die  Vokale,  dann  auch  die 
Konsonanten  durch  mannigfaltigere  Abstufung  der  Lippen  Verschluß- 
laute  und   durch  den  Hinzutritt  der   Zungenlippenlaute,   überhaupt 
aber  durch  die  immer  größer  werdende  Beweglichkeit  der  Zunge  ver- 
vollständigen.    So  beobachtet  man  als  häufiger  auftretende  neue  Ar- 
tikulationen Laute  wie  oi,  eg,  ge,  ai,  ja,  eh,  br,  ta,  ga,  ha  und  ähnliche. 
Damit  ist  schon  ungefähr  zu  Ende  des  ersten  Lebensjahrs  ein  zureichen- 
des Material  für  die  Lautgebilde  der   Sprache  vorhanden.     Nichts- 
destoweniger haben  diese  Laute  noch  nicht  im  mindesten  den  Charakter 
wirklicher   Sprachlaute,   sondern  ihr  einziger  psychologischer  Unter- 
schied von  den  primitiven  Schreilauten  liegt  darin,  daß  sie  Ausdrucks- 
mittel einer  ganz  andern  Kategorie  von  Gefühlen  sind,  nämlich  eben 
jener  mäßigen  Lust-,  Spannungs-  und  Erregungsgefühle,  die  allmählich 
durch   die   eingetretene   psychische   Entwicklung   entstanden.      Ganz 
diesem  Stadium  reiner  Gefühlsäußerungen  gehört  auch  noch  die  Bildmig 
der  Lautwiederholungen  an,  die  in  der  Regel  in  die  zweite  Hälfte 
des  ersten  Lebensjahrs  fällt,  also  dem  Auftreten  der  ersten  artiku- 
lierten Laute  erst  nach  geraumer  Zeit  folgt.    Lautlich  scheint  sie  an 
den  zunehmenden   Gebrauch  der  Dental-   und  Lippen  Verschlußlaute 
gebunden  zu  sein.      Zunächst  bilden  sich   meist  mehrfache  Wieder- 
holungen,   wie   da-da-da-da,   ba-ha-ha-ba,   ma-ma-tna-ma.      Das   Kind 
scheint  sich  bei  ihrer  Hervorbringung  besonders  behaglich  zu  fühlen. 
Auch  kommen  bei  ihnen  gelegentlich  Tonmodulationen  von  freilich 
durchaus   unharmonischer  Art   vor.      Doch  bedingen   diese  Wieder- 
holungsformen zum  erstenmal  eine  gewisse  zeitliche  Regelmäßigkeit 


Stadien  der  Lautbildung  beim  Kinde.  287 


der  aufeinander  folgenden  Laute,  in  der  sich  Spuren  eines  rhyth- 
mischen Gefühls  und  eines  Wohlgefallens  an  rhythmischen  Eindrücken 
verraten.  Allerdings  ist  dieses  Gefühl  noch  von  einfachster  Art,  da 
sich  der  Rhythmus  auch  hier,  analog  wie  bei  den  offenbar  psycho- 
logisch verwandten  einfachsten  Formen  der  Tonmodulation  bei  den 
Vögeln  (S.  268),  auf  die  Einhaltung  einer  annähernden  Zeitgleichheit 
der  einzelnen  Laute  beschränkt.  So  können  denn  auch  diese  Laut- 
wiederholungen weder  als  Nachahmungen  der  eigenen  vorangegangenen 
Lautbildungen,  wie  man  sie  genannt  hat,  noch  als  Vorübungen  zur 
eigentlichen  Sprache  gedeutet  werden,  sondern  sie  beruhen,  ähnlich 
wie  die  analogen  Erscheinungen  bei  Tieren,  lediglich  auf  allgemeinen 
psychophysischen  Anlagen  bestimmter  Bewegungsorgane  zu  rhyth- 
mischer Funktion.  Neben  den  Organen  der  Lokomotion  sind  es  be- 
sonders auch  die  der  Stimmbildung,  denen  diese  Anlage  eigen  ist. 
Man  kann  wohl  vermuten,  daß  sie  im  Laufe  der  generellen  Entwick- 
lung  erworben  wurde.  Im  individuellen  Leben  entstehen  aber 
diese  rhythmischen  Bewegungen  automatisch,  und  die  Lustgefühle, 
die  sie  erwecken,  sind  ihre  Wirkungen,  nicht  ihre  Ursachen. 
Nachdem  die  Lautwiederholungen  entstanden  sind,  bilden  sie 
ein  günstiges  Material  für  die  Sprachentwicklung;  ihrer  eigenen 
Entstehung  liegt  aber  jede  auch  nur  triebartige  Richtung  auf 
diesen  Zweck  fern. 

Bald  nach  dem  Hervortreten  der  Wiederholungslaute,  in  der 
Regel  gegen  das  Ende  des  ersten  Lebensjahrs,  bietet  sich  nun  noch 
eine  andere  Erscheinung  dar,  in  der  zum  erstenmal  die  selbständige 
Lautbildung  des  Kindes  mit  den  Einflüssen  der  Umgebung  in  Be- 
ziehung tritt.  Das  Kind  beginnt  nämlich  äußere  Laute,  manchmal 
beliebige  zufällige  Geräusche,  namentlich  aber  Sprachlaute,  die  ihm 
vorgesagt  werden,  nachzuahmen.  Die  Neigung  zu  dieser  ,,Echo- 
sprache"  ist  bei  verschiedenen  Kindern  in  ungleichem  Maße  vor- 
handen. Die  Erscheinung  selbst  besteht  aber  in  einem  völlig  verständ- 
nislosen Nachahmen  der  Laute,  ähnlich  der  bei  geistigen  Schwäche- 
zuständen vorkommenden  Echosprache,  die  in  den  Fällen  von  an- 
geborenem Idiotismus  eine  auf  dieser  Stufe  stehen  gebliebene  Kinder- 
sprache ist.  Sie  ist  Teilerscheinung  anderer  Nachahmungsbewegungen 
besonders   der   Nachahmung   von    Gebärden,    welche   letztere   zuerst 


288  I>ie  Sprachlaute. 


als  unwillkürliche  Nachbildung  mimischer  Ausdrucksformen  und  dann, 
auf  einer  etwas  fortgeschritteneren  Stufe,  als  solche  von  hinweisenden 
und  nachahmenden  Handbewegungen  vorzukommen  pflegt.  In  etwa 
derselben  Zeit  beginnt  sich  dann  auch  ein  Verständnis  gesehener  Ge- 
bärden und  gehörter  Wörter  zu  regen.  Allem  andern  geht  in  dieser 
Beziehung  ein  instinktives  Verstehen  mimischer  Ausdrucksbewegungen 
voran,  das  schon  in  den  ersten  Lebensmonaten  deutlich  an  der  Rück- 
w^irkung  auf  die  eigenen  Gemütsbewegungen  des  Kindes  zu  bemerken 
ist.  Darauf  folgt  einige  Monate  später  das  Verstehen  hinweisender 
Gebärden  und  diesem  wieder,  meist  erst  gegen  Ende  des  ersten  Lebens- 
jahrs, das  Verstehen  einzelner  Wörter,  das  sich  darin  verrät,  daß  das 
Kind  nach  dem  Gegenstand  oder  der  Person,  die  genannt  werden, 
blickt.  Doch  ist  es  bemerkenswert,  daß  zwischen  diesem  Verstehen 
gehörter  Wörter  und  der  eigenen  Anwendung  derselben  zum  Zweck 
der  Benennung  immer  noch  eine  geraume  Zeit  liegt;  daher  es 
in  dieser  Entwicklung  eine  kurze  Periode  geben  kann,  in  der 
das  Kind  einerseits  verständnislos  AVörter  nachspricht,  ander- 
seits solche  versteht,  gleichwohl  aber  selbst  noch  nicht  im 
eigentlichen  Sinne  spricht,  das  heißt  Worte  in  der  Absicht  der 
Benennung  gebraucht. 

Der  Eintritt  in  dieses  letzte  Stadium,  in  das  der  eigentlichen 
Sprachbildung,  ist  demnach  durch  das  Zusammentreffen  zweier 
Momente  bestimmt:  der  Lautnachahmung,  wie  sie  in  der  Echo- 
sprache ihren  Ausdruck  findet,  und  des  Verstehens  gehörter  artiku- 
lierter Laute,  das  sich  an  das  Verstehen  mimischer  und  pantomimischer 
Bewegungen  als  ein  letzter  Vorgang  anschließt.  Mit  diesem  fällt  je- 
doch der  verständnisvolle  Gebrauch  der  Worte  zeitlich  noch  nicht 
zusammen;  sondern  erst,  nachdem  Nachahmung  und  Verständnis, 
beide  unabhängig  voneinander  eine  Zeitlang  geübt  worden  sind,  treten 
die  ersten  mit  der  Absicht  der  Mitteilung  gebrauchten  sprachlichen 
Benennungen  auf.  Zunächst  sind  es  Personen  und  Vorkommnisse  der 
täglichen  Umgebung,  die  das  Kind  zur  Benennxmg  anregen  oder  es 
veranlassen,  ihm  vorgesprochene  Wörter  in  gleicher  Bedeutung  nach- 
zusprechen: so  in  den  bekannten  Lallwörtern  Mama,  Pa^pa,  ferner 
atta  für  das  Fortgehen  einer  Person,  mimi  für  die  Milchflasche  und 
dergleichen  mehr.  Diesen  Erscheinungen,  die  in  der  Regel  in  die  Wende 


Stadien  der  Lautbildung  beim  Kinde.  289 

des  ersten  und  zweiten  oder  in  die  ersten  Monate  des  zweiten  Lebens- 
jahrs fallen,  folgen  dann  die  weiteren  Wortbildungen  der  Kinder- 
sprache meist  so  rasch,  daß  schon  in  der  zweiten  Hälfte  des  zweiten 
Lebensjahrs  für  die  das  Interesse  erregenden  Gegenstände  der  Um- 
gebung zureichende  Bezeichnungen  vorhanden  sind.  Bei  einem  Mädchen, 
dessen  erste  mit  dem  Zweck  der  Benennung  gebrauchte  Sprachlaute 
genau  in  den  12.  Monat  fielen,  zählte  ich  im  19.  Monat  bereits  66  Wörter, 
die  sich  einen  Monat  später  abermals  um  12  vermehrt  hatten.  Bei- 
spiele dieser  Wortbildungen  sind:  Oggo  Onkel,  Dada  Tante,  Opapa, 
Omama  Großpapa,  Großmama,  Eje  Marie,  Wida  Friedrich,  Mann 
Mann,  Mne  Junge,  Pipi  Vogel,  Wauwau  Hund,  Hotto  Pferd,  Mi  Katze, 
Mu  Kuh,  Wa  Wagen,  Ägga  Auge,  Mon  Mond,  Muni  guten  Morgen, 
Nan  gute  Nacht,  U  Hütchen,  Gag  Kleid,  Jüja  Schleier,  Aga  Jacke, 
üa  Schuh,  Bo  Boden,  Bat  Band,  Bu  Buch,  Mia  Finger,  Miawut  Finger- 
hut, Guga  Kuchen,  Dida  (Tiktak)  Uhr,  Aga  Kaffee,  Joj  Schoß,  adda 
spazieren  gehen,  teail  aufstehen  usw.  Erst  nach  dieser  Zeit  der  ersten 
Wortbildungen  vermehren  sich  auch  die  häufiger  gebrauchten  artiku- 
lierten Gefühlslaute.  So  sind  von  der  zweiten  Hälfte  des  zweiten 
Lebensjahrs  an  Laute  wie  chi,  up,  id,  ol,  tschi,  pu,  Jcch,  mp,  schi,  klu 
u.  a.  zu  hören.  Gegen  die  Mitte  des  dritten  Lebensjahrs  pflegen  die 
sämtlichen  in  der  Sprache  der  Umgebung  vorkommenden  Laute  auch 
in  der  Sprache  des  Kindes  und  in  den  bloßen  Gefühlsartikulationen, 
die  längere  Zeit  neben  der  eigentlichen  Sprache  fortbestehen,  eine 
Rolle  zu  spielen.  Dabei  werden  freilich  noch  verschiedene  Laute  mit- 
einander verwechselt,  eine  Erscheinung,  die  aber  nur  zum  allergeringsten 
Teil  in  einer  wirklichen  Unfähigkeit  der  Artikulation,  sondern  zumeist 
in  ganz  andern  Bedingungen  ihren  Grund  hat,  auf  die  wir  unten  noch 
zurückkommen  werden. 


Wandt,  Völkerpsychologie.    I.    4.  Anfl.  * 


290  I^ie  Sprachlaute. 


2.  Angebliche  Worterfindung  des  Kindes. 

Bei  Müttern  und  Ammen  herrscht  weitverbreitet  die  Ansicht, 
das  Kind  erfinde  sich  seine  Sprache  selber,  und  von  frühe  an  wende 
es  diesem  Zwecke  seine  Aufmerksamkeit  und  Überlegung  zu.     Die 
Entstehung  dieser  Ansicht  ist  begreiflich  genug.     Das  Kind  bringt 
seine  ersten,  noch  bedeutungslosen  artikulierten  Laute  spontan  her- 
vor; und  wenn  es  dann  später  diese  Laute  zu  wirklichen  Wörtern 
verbindet,  so  läßt  sich  zwar  der  Einfluß  des  Vorsprechens  nicht  ganz 
übersehen,  aber  in  vielen  Fällen  liegt  er  doch  nicht  ohne  weiteres  zu- 
tage.     Dazu  kommt  der  eigenartige  Charakter  der  Kindersprache. 
Auffallend  ist  es  übrigens,  daß  die  nämliche  Ansicht  fast  ausnahms- 
los auch  noch  von  den  pädagogischen  Beobachtern  der  Kindersprache 
und  von  vielen  Psychologen  geteilt  wird.     Dies  läßt  sich  wohl  nur 
daraus  erklären,  daß  in  der  Psychologie  jener  Mütter  und  Ammen, 
die  von  der  wunderbaren  Erfindungskraft  des  Kindes  erfüllt  sind, 
ein  Vorurteil  vorkommt,  das  sich  mit  merkwürdiger  Beharrlichkeit 
auch  in  der  Psychologie  der  Gelehrten  behauptet  hat:  das  Vorurteil, 
daß  der  Mensch  von  Haus  aus  ein  Wesen  sei,  das  in  seinen  Hand- 
lungen von  logischen  Reflexionen  bestimmt  werde.     Diese  Psycho- 
logen zweifeln  z.  B.  nicht  daran,  daß  jede  Empfindung,  etwa  die  Emp- 
findung blau,  die  uns  der  blaue  Himmel  verschafft,  ein  ,, Urteil"  sei, 
oder  sich  mit  einem  solchen  verbinde,  weil  diese  Empfindung  irgend- 
einen, wenn  auch  noch  so  primitiven,  „Denkakt"  ausmache^).    Eben- 
so wird  in  dem  Gefühl  der  Lust  oder  Unlust  nicht    selten  eine  Be- 
ziehung zur  Güte  oder  Schlechtigkeit,  Nützlichkeit  oder  Schädlich- 
keit der  Reize  gesehen.    Und  daß  vollends  jede  Willenshandlung  aus 
einer  Vergleichung  und  Bevorzugung  der  gewollten  Handlung  her- 
vorgehe,   ist    noch    heute    eine    weitverbreitete    Überzeugung.      Ich 
glaube    nicht,    daß    in   allen    diesen    Fällen,    wenn    man    sich    auf 
die     unbefangene    Auffassung     der     Tatsachen     selbst    beschränkt, 
ohne  ihnen  nachträgliche  Reflexionen  über  sie  unterzuschieben,   im 


^)  Vgl.  z.  B.  Franz  Brentano,  Psychologie  vom  empirischen  Standpunkte, 
I,  1874,  S.  182. 


Angebliche  Worterfindung  des  Bandes.  291 

Ernst  von  einer  Nachweisung   solcher  logischer  Vorgänge  die  Rede 
sein  kann^). 

In  der  Anwendung  auf  die  Psychologie  des  Kindes  äußert  sich 
nun  jener  Standpunkt  der  Reflexionspsychologie  vor  allem  darin, 
daß  er  auf  jede  Frage,  die  das  Verhalten  des  Kindes  stellen  mag,  von 
vornherein  und  ohne  jede  Kontrolle  des  Beobachteten  die  Antwort 
bereit  hat.  Da  alle  psychischen  Vorgänge  logische  Denkakte  sein 
sollen,  so  erscheinen  hier  die  Handlungen  des  Kindes  im  allgemeinen 
als  eindeutige  Symptome.  Wenn  z.  B.  das  neugeborene  Kind  auf 
süße  und  bittere  Geschmacksreize  in  verschiedener  Weise  den  Mund 
verzieht,  gerade  so  wie  dies  der  Erwachsene  tut,  so  wird  das  als  ein 
Zeugnis  dafür  betrachtet,  daß  jenes  ebenso  wie  dieser  Abscheu  oder 
Wohlgefallen  empfinde.  Wenn  das  Kind  sein  Auge  einem  äußeren 
Lichte  zuwendet,  so  soll  es  dadurch  seine  Aufmerksamkeit  kundgeben; 
starrt  es  das  Licht  lange  und  auffallend  an,  so  wird  dies  als  ein  Zeichen 
der  Verwunderung  oder  vielleicht  gar  des  Nachdenkens  betrachtet. 
Daß  es  alles  dies  möglicherweise  sein  könnte,  sofern  man  die  Sym- 
ptome für  sich,  ohne  alle  Rücksicht  auf  die  sie  begleitenden  Bedingungen 
ins  Auge  faßt,  ist  natürlich  nicht  zu  bestreiten.  Gewiß  ist  aber,  daß 
die  genannten  Erscheinungen  eine  solche  Deutimg  noch  nicht  recht- 
fertigen, sondern  daß  andere,  unzweideutige  Merkmale  gegeben  sein 
müssen,  ehe  wir  über  den  Charakter  der  zugrunde  liegenden  psychi- 
schen Vorgänge  oder  auch  nur  darüber  entscheiden  können,  ob  es  sich 
wirklich  um  psychische  Vorgänge  handelt.  Denn  in  Wahrheit  sind 
alle  jene  Erscheinungen  vieldeutiger  Art,  und  bei  dem  Ungeheuern 
Einfluß,  den  vererbte  Organisationsbedingungen,  wie  sie  in  besonders 
verwickelter  Form  in  den  Nervenzentren  vorauszusetzen  sind,  auf 
die  Lebensäußerungen  ausüben,  ist  die  bloße  Analogie  gewisser  Be- 
wegungen mit  unseren  eigenen  willkürlichen  Handlungen  für  die 
psychologische  Natur  der  Prozesse  selbst  durchaus  nicht  entscheidend. 
Hier  bietet  nun  aber  gerade  die  Sprache  den  großen  Vorzug,  daß 
sie  uns  eine  genauere  Einsicht  in  die  Bedingungen  ihrer  Entstehung 
imd  eine  vollkommenere  Beherrschung  dieser  Bedingungen  gestattet 


2)  Vgl.  hierzu  die  Bemerkungen  der  Einleitung,  S.  19  ff. 

19* 


292  Die  Sprachlaute. 


als  die  meisten  andern  Vorgänge  der  psycMschen  Entwicklung.  In- 
dem nämlich  die  Sprache  von  Anfang  an  im  Verkehr  mit  der  Um- 
gebung sich  bildet,  wird  ihre  Entwicklung  in  viel  höherem  Grad  als 
die  der  sonstigen  psychischen  oder  psychophysischen  Funktionen 
der  Kontrolle  durch  die  objektive  Beobachtung  zugänglich.  Denn 
jener  Verkehr  ist  ein  äußerer  Vorgang,  den  wir  bei  zureichender  Sorg- 
falt wenigstens  in  dem  Sinne  vollkommen  zu  beherrschen  vermögen, 
daß  sich  nichts  in  ihm  ereignet,  was  wir  nicht  sofort  in  seiner  äußeren 
Entstehungsweise  und  seinen  objektiven  Rückwirkungen  verfolgen 
können.  Freilich  bedarf  es  dazu  einer  täglichen,  ja  stündlichen  Beobach- 
tung des  Kindes  und  womöglich  einer  verständnisvollen  Mitwirkung 
aller  Personen,  die  mit  dem  Kinde  verkehren,  damit  jede  neu  auf- 
tretende Erscheinung  in  ihrem  Entstehungsmoment  registriert  und 
auf  ihre  Bedingungen  zurückgeführt  werden  könne.  Wenn  daher 
manche  zweifellos  sonst  sorgfältige  Beobachter  zu  Schlüssen  gelangt 
sind,  die  sich  bei  Einhaltung  der  angedeuteten  Vorsichtsmaßregeln 
nicht  bestätigen,  so  trägt  daran,  wie  ich  glaube,  lediglich  jene  logische 
Interpretation  der  Vulgärpsychologie  die  Schuld,  die  sie  von  vorn- 
herein geneigt  macht,  die  Sprache  im  wesentlichen  als  eine  „Erfindung'* 
des  Kindes  anzusehen,  und  von  der  beherrscht  sie  begreiflicherweise 
vor  allem  bemüht  sein  muß,  den  Spuren  dieser  erfinderischen  Tätig- 
keit nachzugehen.  Auf  die  Nachweisung  der  äußeren  Einflüsse,  die 
hierbei  mitwirken,  wird  dann  natürlich  nicht  die  gleiche  Sorgfalt  ver- 
wendet. 

Schon  die  Auffassung  des  allerersten  Stadiums  der  Sprachent- 
wicklung, jener  meist  von  der  siebenten  Lebenswoche  an  allmählich 
auftretenden  artikulierten  Laute,  die  noch  keine  Sprache  sind,  aber 
sie  vorbereiten,  leidet  unter  der  Geltendmachung  dieses  logischen 
Gesichtspunkts.  Die  populäre  Meinung  sieht  in  ihnen  ,, Vorübungen", 
in  denen  sich  das  Kind  nicht  ganz  ohne  eigene  Absicht  auf  das  künf- 
tige Geschäft  des  Sprechenlernens  vorbereite;  und  dieser  Meinung 
nähern  sich  auch  die  Schilderungen  wissenschaftlicher  Beobachter 
gelegentlich  in  bedenklichem  Grade.  Mindestens  erachtet  man  es  für 
eine  ,, zweckmäßige  Einrichtung  der  Natur",  daß  das  Kind  alle  die 
Laute,  deren  es  später  bedürfe,  selbsttätig  erzeuge  und  sich  durch 
ihre  Wiederholung  in  deren  Bildung  vervollkommne.    Nun  kann  man 


Angebliche  Worterfindung  des  Kindes.  293 

es  gewiß  in  retrospektiver  Betraclitung  für  zweckmäßig  halten,  daß 
das  Kind  in  dem  Augenblick,  wo  es  zu  sprechen  anfängt,  bereits  über 
das  Lautmaterial  verfügt,  dessen  es  bedarf.  Aber  objektiv  ist  das  nicht 
bloß  zweckmäßig,  sondern  notwendig;  denn  es  würde  gar  nicht  ein- 
zusehen sein,  wie  eine  Nachahmung  von  Sprachlauten  möglich  sein 
sollte,  ehe  die  dabei  vorkommenden  Lautartikulationen  schon  vor- 
handen sind.  Subjektiv  kann  aber  von  Zweckmäßigkeit  nicht  geredet 
werden,  weil  das  Kind  mit  seinen  der  Sprache  vorausgehenden  Lauten 
überhaupt  keinerlei  Absicht,  am  allerwenigsten  die,  künftig  sprechen 
zu  wollen,  verbindet.  Diese  Laute  sind  reine  Gefühlslaute,  gerade 
so  gut  wie  die  in  einem  noch  früheren  Stadium  auftretenden  Schrei- 
laute. Sie  unterscheiden  sich  von  letzteren  nur  dadurch,  daß  sie  an 
mildere  Gefühle,  namentlich  an  mäßige  Lustgefühle,  gebunden  sind. 
Psychologisch  sind  sie  also  jedenfalls  nur  als  Gefühlssymptome  zu 
deuten,  und  wenn  sie  späterhin  außerdem  das  Material  abgeben,  aus 
dem  eigentliche  Sprachlaute  gebildet  werden,  so  ist  das  kein  anderer 
Zusammenhang  zwischen  dem  Vorausgehenden  und  Nachfolgen- 
den, als  wie  er  uns  auch  sonst  überall  in  der  Entwicklung  psychischer 
Funktionen  begegnet. 

Mehr  als  diese  der  Sprache  vorausgehenden  Lautartikulationen 
haben  nun  aber  die  den  Eintritt  in  die  eigentliche  Sprachentwick- 
lung bezeichnenden  Wortbildungen  des  Kindes  die  Aufmerksam- 
keit psychologischer  Beobachter  gefesselt.  Dabei  konnte  freilich  nicht 
verborgen  bleiben,  daß  das  Kind  viele  Worte  von  seiner  Umgebung 
aufnimmt  imd  nachspricht.  Doch  ist  es  bezeichnend,  wie  sehr  selbst 
diese  bekannte  Tatsache  nicht  selten  durch  den  Begriff  der  „Erfin- 
dung" in  ein  Licht  gerückt  wird,  das  auch  diese  nachgebildeten  Sprach- 
laute zur  Hälfte  als  eigene  Erfindungen  erscheinen  läßt.  Das  Nach- 
sprechen des  Kindes  wird  nämlich  unmittelbar  mit  seiner  Neigung 
zu  onomatopoetischen  Wortbildungen  in  Verbindung  gebracht.  Echo- 
sprache und  onomatopoetische  Worterfindung  sollen  daher  im  wesent- 
lichen Vorgänge  gleicher  Art  sein.  Von  den  onomatopoetischen  Bil- 
dungen bezeichnet  z.  B.  Taine  die  Laute  hoho  für  das  Huhn,  oua-oiM 
für  den  Hund  entschieden  als  selbsterfundene,  durch  welche  das  Kind 
diese  Tiere  absichtlich  nachgeahmt  habe.  Als  weitere  Worterfindungen, 
die  mehr  in  das  Gebiet  der  interjektionsartigen  Ausdruckslaute  fallen 


294  Die  Sprachlaute. 


würden,  führt  er  ham  für  „ich  will  essen",  tem  im  Sinn  eines  Demon- 
strativs für  „gib,  nimm,  sieh"  an^).  In  Darwins  Beobachtungen  be- 
schränkte sich  die  angeblich  ,, selbständige"  Erfindung  auf  den  Laut 
mum,  den  das  Kind  in  ähnlichem  Sinne  wie  das  von  Taine  bemerkte 
ham  anwandte,  für  den  Wunsch  zu  essen  oder  auch  für  das  Substan- 
tivum  ,, Essen",  daher  es  später  diesen  Laut  sogar  in  Zusammen- 
setzungen gebrauchte,  z.  B.  shu-mum  im  Zucker,  blacJc-shu-mum  für 
Lakritzen  ^).  Sully  beobachtete  bei  einem  8  Monate  alten  Knaben, 
also  in  einer  Zeit,  die  früher  liegt  als  die  eigentliche  Sprachbildung, 
die  Laute  ma-ma  als  Zeichen  der  Trauer,  da-da  als  Zeichen  der  Freude. 
Ferner  hält  er  da  für  einen  bei  englischen  und  deutschen  Kindern 
instinktiv  gebrauchten  Demonstrativlaut,  und  ata  oder  tata  für  ein 
Lautzeichen,  welches  den  Abgang  einer  Person  bedeute  usw.^).  Ein 
noch  reicheres  Vokabular  angeblich  selbstgeschaffener  Wörter  geben 
einige  amerikanische  Beobachter*). 

Natürlich  ist  es  völlig  unmöglich,  bei  diesen  Berichten  nach- 
träglich festzustellen,  was  wirklich  eigene  Tat  des  Kindes,  und  was 
ihm  etwa  aus  seiner  Umgebung  unbemerkt  überliefert  worden  ist. 
Aber  so  viel  ist  ohne  weiteres  ersichtlich,  daß  zahlreiche,  der  an- 
gegebenen Wortschöpfungen  entweder  gewissen  Wörtern  aus  der 
Sprache  der  Erwachsenen  »o  ähnlich  oder  in  der  traditionellen  Kinder- 
sprache seit  alter  Zeit  so  heimisch  sind,  daß  sie  von  vornherein  als 
der  Entlehnung  dringend  verdächtig  angesehen  werden  müssen. 
Dahin  gehören  das  koko  des  französischen  Kindes  für  das  Huhn,  das  mit 
coque,  tem  für  nimm,  das  mit  tiens  zusammenhängt,  u.  a.  Die  von 
Sully  schon  im  8.  Monat  beobachteten  Laute  ma-ma  und  da-da  fallen 
noch  in  die  Zeit  der  reinen  artikulierten  Gefühlslaute,  wo  der  erste 
Laut   der   gewöhnliche    Begleiter    der   natürlichen   Weinbewegungen 


^)  Taine,  Revue  philos.,  I,  1876,  p.  5.    Über  den  Verstand,  deutsch  von 
L.  Siegfried,  1880,  I,  S.  287  ff. 

2)  Darwin,  Mind,  Vol.  II.  1876,  p.  293. 

3)  Sully,    Untersuchungen    über    die    Kindheit,    deutsche    Ausg.     1892, 
S.  130  f. 

*)  Vgl.  besonders  Moore,  Psychological  Review,  1896,  Suppl.  Nr.  3.    Steven- 
son, Science,  21,  1893.     Hun,  Monthly  Joum.  of  psych.  Med.,  1886. 


Angebliche  Worterfindung  des  Kindes.  295 

ist,  während  der  zweite  zu  denen  gehört,  die  das  Kind  neben  andern 
bei  behaglicher  Gemütsstimmung  hervorbringt.  Das  demonstrative 
da  des  deutschen  und  englischen  steht  aber  ebenso  wie  das  tem  des 
französischen  Kindes  imter  dem  Verdacht  der  Entstehung  aus  den 
bekannten  Demonstrativwörtem  da,  das,  engl,  ihat,  und  ata  oder  lata 
für  die  Entfernung  einer  Person  gehört  ebensogut  wie  die  onomato- 
poetischen Tierlaute  zu  dem  alten  Inventar  der  Kindersprache.  Was 
Laute  wie  mum  und  ham  für  „essen"  betrifft,  so  berichtet  schon  Sa- 
muel Heinicke,  ein  19 jähriger  Taubstummer  habe  neben  andern  ge- 
wohnheitsmäßig für  gewisse  Gegenstände  gebrauchten  Ausdrucks- 
lauten auch  das  Wort  mum  in  der  Bedeutung  ,, essen"  gebraucht^). 
Auch  kann  wohl  die  später  zu  erwähnende  Tatsache,  daß  in  zahl- 
reichen Sprachen  zur  Bezeichnimg  der  Funktionen  der  Artikulations- 
organe Laute  Verwendung  finden,  bei  denen  diese  Funktionen  selbst 
mitwirken,  in  diesem  Fall  als  ein  Zeugnis  für  eine  natürliche  Ent- 
stehung der  Laute  angeführt  werden  2).  Eine  andere  Frage  ist  es  aber, 
ob  diese  Laute  nicht,  ebenso  wie  die  mancherlei  onomatopoetischen 
Tiemamen,  dem  Kinde  von  seiner  Umgebung  mitgeteilt  wurden.  Ist 
es  doch  eine  beliebte  Gebärde  der  Mütter  und  Wärterinnen,  ehe  sie 
dem  Kind  etwas  zu  essen  geben,  die  Eßbewegungen  nachzuahmen. 
Dem  entspricht,  daß  mum  in  der  Bedeutung  „still"  ein  englisches 
Wort  ist,  das  offenbar  aus  der  gleichen  Ausdrucksbewegung  entstand. 
Über  die  Herkunft  anderer  angebhch  selbständiger  Worterfindungen 
läßt  sich  natürlich  nichts  vermuten.  Doch  lehren  Beobachtungen 
über  die  Entstehung  ähnlicher  scheinbar  ganz  willkürlicher  Bezeich- 
nungen, wie  vorsichtig  man  in  dieser  Beziehung  sein  muß.  So  erinnere 
ich  mich,  daß  ich  bei  der  Beobachtung  eines  meiner  Kinder  mehrere 
Tage  von  der  Frage  beunruhigt  wurde,  wie  das  Kind  dazu  kam,  einen 
Stuhl  guTc  zu  nennen,  bis  ich  ermittelte,  daß  das  Kindermädchen  mehr- 
mals eine  künstliche  Katze  auf  den  Stuhl  gesetzt  hatte  und  mit  einer 
hinweisenden  Gebärde  auf  diese  dem  Kinde  zurief  „guch\  guckV  (von 
gucken  provinziell  =  sehen)  —  die  gewohnte  Art,  in  der  sie  das  Kind 
aufforderte,  nach  einem   Gegenstand  hinzusehen.      Das  Kind  hatte 


^)  Heinicke,  Beobachtungen  über  Stumme,  S.  137. 
2)  Vgl.  unten  III,  2. 


296  I>iö  Sprachlaute. 


aber  diese  Aufforderung  nicht  auf  das  Sehen  bezogen,  sondern  zu- 
nächst als  eine  Benennung  des  Stuhles,  und  dann  in  zweiter  Linie 
auch  als  eine  solche  der  Katze  aufgefaßt.  Aus  dieser  Erfahrung  läßt 
sich  die  Lehre  entnehmen,  daß  ein  neues  und  nicht  ohne  weiteres 
erklärbares  Wort  im  Mund  eines  Kindes  darum  noch  lange  keine  eigene 
Erfindung  sein  muß,  da  bei  der  ersten  Assoziation  eines  Lautes  mit 
einem  Gegenstand  oft  der  seltsamste  Zufall  mitspielen  kann.  Höchstens 
durch  eine  fortwährende  sorgfältige  Kontrolle  aller  Einflüsse,  wie 
sie  außerordentlich  schwer  auszuführen  ist,  kann  man  hier  hoffen, 
in  jedem  einzelnen  Falle  dem  Ursprung  eines  neu  beobachteten  Wortes 
auf  die  Spur  zu  kommen. 

Unter  diesen  Umständen  ist  es  nun  um  so  bemerkenswerter, 
daß  in  einer  Anzahl  streng  unter  Anwendung  der  gebotenen  Vor- 
sichtsmaßregeln ausgeführter  Beobachtungen  nicht  ein  einziges 
Wort  als  von  dem  Kinde  selbständig  erfunden  nach- 
gewiesen werden  konnte.  Hierher  gehört  in  erster  Linie  die 
Beobachtungsreihe  Preyers  ,,über  die  Urlaute  und  Sprachanfänge 
eines  während  der  ersten  drei  Jahre  täglich  beobachteten  Kindes", 
jedenfalls  die  eingehendste  und  sorgfältigste,  die  wir  besitzen.  Sie 
führte  in  der  Frage  der  Worterfindung  zu  dem  Ergebnis,  daß  das 
einzige  Wort,  das  möglicherweise  das  Kind  selbständig  erfunden  haben 
konnte,  ein  schon  zu  Ende  des  11.  Monats  beobachtetes  atta  oder 
hatta,  hötta  war,  das  vorkam,  wenn  jemand  das  Zimmer  verließ,  oder 
wenn  das  Licht  ausgelöscht  wurde.  Aber  Preyer  selbst  läßt  dahin- 
gestellt, ob  nicht  auch  dieses  Wort  ein  nachgesprochenes  sei;  und 
da  atta  in  dem  Sinne,  in  dem  es  hier  gebraucht  wurde,  ein  bekanntes 
Wort  der  konventionellen  Kindersprache  ist,  so  hat  diese  Ver- 
mutung offenbar  die  größte  Wahrscheinlichkeit  für  sich^).  Dies 
Ergebnis  Preyers  ist  übrigens  um  so  bemerkenswerter,  weil 
dieser  Beobachter  selbst  sich  jener  Art  logischer  Interpretation 
psychischer  Vorgänge,  aus  der  die  Annahme  der  ,, Erfindung"  der 
Sprache  durch  das  Kind  hervorgegangen  ist,  durchweg  zuneigt. 
Er    würde   also   von  vornherein   schwerlich  abgeneigt  gewesen   sein, 


1)  Preyer  a.  a.  0.  S.  372. 


Angebliche  Worterfindung  des  Kindes.  297 

eine  solche  Erfindung  zu  konstatieren,  wenn  sie  sich  nur  hätte 
nachweisen  lassen. 

Ich  selbst  habe  in  zwei  Fällen  die  Entwicklung  der  Sprache  in 
der  Weise  verfolgt,  daß  ich  über  jedes  neu  auftretende  Wort  und  seine 
Bedeutung  sorgfältig  Buch  führte  und  sofort  seinen  Ursprung  zu  er- 
mitteln suchte,  während  zugleich  alle  Personen  der  Umgebung  an- 
gewiesen waren,  auf  die  in  Betracht  kommenden  Erscheinungen  zu 
achten.  Als  Kesultat  ergab  sich,  daß  bei  dem  einen  dieser  Kinder 
kein  einziges  Wort,  das  in  der  Zeit  der  eigentlichen  Sprachbildung 
mit  dem  ersichtlichen  Zweck  der  Benennung  entstand,  ursprüng- 
liches Eigentum  des  Kindes  war.  Die  Beobachtungen  bei  dem  andern 
Kinde  führten  zu  dem  gleichen  Ergebnis,  mit  der  Ausnahme,  daß 
für  eine  einzige  Benennung  die  selbständige  Lautbildung  nicht  als 
absolut  ausgeschlossen  gelten  konnte.  Dieser  Ausnahmefall  betraf 
aber  nicht  eigentlich  ein  "Wort,  sondern  ein  Geräusch,  das  von  dem 
Kinde,  wie  es  schien,  nachgeahmt  wurde.  Wenn  man  nämlich  einen 
Schlüsselbund  vor  ihm  schüttelte,  so  brachte  es  mit  der  Zunge  den 
vibrierenden  Laut  l-l-l-l-l-  hervor,  und  es  gebrauchte  dann  diesen 
Laut  auch  beim  Anblick  eines  einzelnen  Schlüssels.  Aber  in  diesem 
Fall  ist  es  wieder  sehr  wohl  möglich,  daß  das  von  dem  Kinde  gehörte 
Wort  „Schlüssel"  auf  jenen  Laut  eingewirkt  hatte.  Zu  dem  gleichen 
negativen  Resultat  kamen  Clara  und  William  Stern  sowie  E.  Meu- 
mann  in  ihren  sorgfältig  durchgeführten  Beobachtungen^).  Natür- 
lich bezieht  sich  dies  nur  auf  die  Zeit  der  ursprünglichen  Sprach- 
bildung, wogegen  später,  etwa  vom  5.  Lebensjahr  an,  auch  schon  beim 
Kinde  willkürliche  Benennungen,  analog  den  scherzhaften  Wort- 
erfindungen des  Erwachsenen,  gelegentlich  vorkommen. 

Dieses  Resultat  bestätigt  vollkommen,  was  sich  eigentlich  schon 
aus  dem  S.  287  geschilderten  Verhältnis  der  ersten  Sprachäußerungen 


1)  Cl.  und  W.  Stern  a.  a.  0.  S.  327  ff.  E.  Meumann,  Die  Entstehung  der 
ersten  Wortbedeutungen  beim  Kinde,  ^  1908,  S.  89  ff.  Auch  Meringer,  (Aus 
dem  Leben  der  Sprache,  1906,  S.  206  ff.)  schließt  sich  dem  an.  Ähnhch  wer- 
den wohl  mehrere  andere  angeblich  „erfundene''  Wörter  zu  deuten  sein,  die 
Ament  (Die  Entwicklung  von  Sprechen  und  Denken,  1899,  S.  63)  von  verschie- 
denen Beobachtern  anführt,  z.  B.  Hbu  für  Vogel  (Piepvogel  ?),  adi  für  Kuchen 
(essen?)  u.  a. 


298  Di©  Sprachlaute. 


zu  gewissen  andern  in  die  gleiche  Periode  fallenden  Erscheinungen 
erschließen  läßt.  Die  eine  dieser  Erscheinungen  ist  die  Echo  spräche, 
die  zweite  das  Auftreten  von  Grebärden,  die  deutlich  ein  eingetretenes 
Wortverständnis  verraten,  wie  das  Hinblicken  nach  Personen  oder 
Gegenständen,  deren  Namen  genannt  werden.  Daß  beide  Erschei- 
nungen dem  spontanen  Gebrauch  der  Sprache  vorauszugehen 
pflegen,  ist  für  die  Motive  der  ersten  Wortbildung  überaus  bezeichnend. 
Das  Kind  spricht  verständnislos  Wörter  nach,  und  es  versteht  ein- 
zelne der  von  seiner  Umgebung  gebrauchten  Wörter,  ehe  es  selbst 
ein  Wort  zur  Bezeichnung  irgendeines  Gegenstandes  anwendet.  Daraus 
geht  hervor,  daß  in  dem  Augenblick,  wo  dies  geschieht,  die  Bedingungen 
einer  nachahmenden  Wortbezeichnung  vollkommen  im  Kinde 
bereit  liegen.  Es  braucht  nur  noch  die  beiden  bisher  getrennt  geübten 
Funktionen,  Wortwahrnehmung  und  Wortverständnis,  miteinander 
zu  verbinden,  um  sich  die  Wortsprache  anzueignen.  Jede  unbefangene 
Beobachtung  bestätigt,  daß  dies  der  wirkliche  Weg  der  Entwicklung 
ist,  und  daß  die  entgegenstehende  Annahme  teils  auf  unzulänglicher 
Beobachtung,  teils  und  hauptsächlich  auf  der  Fälschung  des  wirklich 
Beobachteten  durch  die  Einmengung  vulgärpsychologischer  Vor- 
urteile und  Reflexionen  beruht.  Dieser  letztere  Fehler  wurzelt  um  so 
tiefer,  als  er  noch  über  die  Periode  der  ersten  Wortbildung  hinaus  die 
Beurteilung  über  das  Verhalten  des  Kindes  zu  bestimmen  pflegt. 
So  bemerkt  Preyer,  die  ,, Begriffsbildung"  sei  von  den  ersten  An- 
fängen der  Wortbildung  an  da  und  gestatte  dem  Kinde,  Wörter,  die 
man  ihm  mitgeteilt,  beliebig  in  ihrer  begrifflichen  Bedeutung  zu  er- 
weitern oder  auf  neue  Begriffe  zu  übertragen^);  und  Taine  meint, 
in  vielen  Fällen,  wo  dem  Kind  ein  Wort  mitgeteilt  werde,  sei  es  erst 
das  Kind  selbst,  das  seine  Bedeutung  bestimme:  „wir  haben  ihm  den 
Ton  gegeben,  es  hat  den  Sinn  dazu  erfunden".  Im  großen  und  ganzen 
,, erlerne  es  daher  die  fertige  Sprache  wie  ein  wahrer  Musiker  den  Kontra- 
punkt, ein  wahrer  Dichter  die  Prosodie".  Worterfindung  und  An- 
eignung mit  willkürlicher  Umformung  der  Begriffe  sollen  auf  diese 
Weise  fortwährend  ineinander  greifen.  Das  von  Taine  beobachtete 
Kind  gebrauchte  z.  B.  das  Wort  he  he  anfänglich  nur  für  das  kleine  Jesus- 


^)  Preyer,  Seele  des  Kindes,   *  S.  380,  und  an  andern  Stellen. 


Angebliche  Worterfindung  des  Kindes.  299 

kind,  das  man  ilim  auf  einem  bestimmten  Gemälde  gezeigt  hatte. 
Dann  zeigte  man  ihm  andere  Kinder  und  endlich  sein  eigenes  Bild 
im  Spiegel,  indem  man  dasselbe  Wort  ,bebe*  sagte.  „Hiervon  aus- 
gehend hat  das  Kind  den  Sinn  des  Wortes  erweitert;  „bebe"  nennt 
es  nun  alle  kleinen  Figuren,  z.  B.  die  halbgroßen  Gipsfiguren  auf  der 
Treppe"  usw.  ^). 

Es  scheint  mir,  der  Fehler,  den  die  Reflexionspsychologie  bei 
der  Beurteilung  der  von  dem  Kinde  herbeigeführten  Wortübertragungen 
begeht,  läßt  sich  nicht  deutlicher  kenntlich  machen,  als  es  durch  dieses 
Beispiel  geschieht.  Wenn  wir  nachträglich  die  verschiedenen  Be- 
deutungen, die  das  Kind  einem  und  demselben  Wort  im  Verlauf  der 
Zeit  gibt,  auf  ihr  logisches  Verhältnis  prüfen,  so  ergeben  sich  natür- 
lich Verallgemeinerungen,  Verengerungen  und  sonstige  Umwand- 
lungen der  Begriffe.  Diese  Begriffsoperationen  verlegt  man  nun  in 
das  Kind  selber.  Man  nimmt  an,  dieses  ändere  den  Sinn  eines  Wortes 
willkürlich  nach  seinen  Bedürfnissen  und  womöglich  infolge  einer 
Überlegung.  Aber  nicht  nur  erklären  sich  alle  jene  Erfolge  vollkommen 
zureichend  aus  naheliegenden  Assoziationswirkungen,  sondern  sie 
sind  auch  gelegentlich  von  Erscheinungen  begleitet,  die  direkt  auf 
bestimmte  Wahrnehmungsassoziationen  hinweisen,  während  sie  jeder 
Art  logischer  Reflexion  widersprechen.  Wenn  das  Kind  Taines  das 
Wort  hebe  von  dem  Jesuskind  des  einzelnen  Gemäldes  allmählich 
auf  alle  möglichen  kleinen  Menschengestalten  übertrug,  so  ist  das  um 
so  weniger  zu  verwundern,  weil  man  es  schon  gelehrt  hatte,  das  Wort 
auf  sehr  verschiedene  analoge  Fälle  anzuwenden.  Die  Assoziation 
ähnlicher  Vorstellungen  hätte  also  bei  ihm  eine  merkwürdig  unent- 
wickelte sein  müssen,  wenn  es  nicht  zu  den  vielen  Fällen  der  ihm  ge- 


^)  Taine  a.  a.  O.  S.  286  ff.  Wenn  auch  nicht  alle  psychologischen  und  päda- 
gogischen Beobachter  des  Kindes  so  weit  gehen,  wie  hier  von  Taine  und  andern 
Vertretern  der  „Erfindungstheorie"  geschieht,  so  huldigen  doch  die  meisten 
insofern  einer  ähnlichen  Interpretationsweise,  als  sie  in  reinen  Assoziations- 
wirkungen, wie  den  oben  geschilderten,  bald  Umfangserweiterungen  der  Be- 
griffe, bald  Urteile  oder  Schlüsse  erblicken.  Vgl.  z.  B.  Ament,  Die  Entwicklung 
von  Sprechen  und  Denken  beim  Kinde,  1889,  S.  148  ff.,  Begriff  und  Begriffe 
in  der  Kindersprache,  1902,  S.  142  ff.  Compayre,  Die  Entwicklung  der  Kindes - 
Seele,  übers,  von  Ufer,  1900,  Bd.  I,  S.  310  ff.  u.  a. 


300  r>ie  Sprachlaute. 


zeigten  Anwendung  auch  noch  einige  andere  von  ähnlicher  Beschaffen- 
heit hinzugefügt  hätte.  Das  letztere  wird  dem  Kind  um  so  leichter, 
je  unbestimmter  vielfach  die  Vorstellungen  sind,  die  es  sich  bildet, 
weshalb  man  auch  bei  ihm  Ähnlichkeitsassoziationen  zwischen  Gegen- 
ständen beobachten  kann,  zwischen  denen  wir  selbst  nimmermehr 
solche  bilden  würden.  Besonders  spielen  dabei  die  unvollkommenen 
Tiefenvorstellungen  des  Kindes,  mit  denen  wieder  seine  höchst  schwan- 
kenden Größenvorstellungen  zusammenhängen,  eine  Rolle.  So  kann 
man  leicht  sogar  in  einem  schon  vorgerückteren  Stadium  beobachten, 
daß  ein  Kind  etwa  eine  kleine  Wasserpfütze  und  einen  See  für  gleiche 
oder  ähnliche  Dinge  hält,  oder  daß  es  für  den  Unterschied  des  von 
ihm  aus  dem  Material  seines  Baukastens  gebauten  und  eines  wirk- 
lichen Hauses  kein  rechtes  Maß  hat.  Helmholtz  erzählt,  als  kleiner 
Knabe  habe  er,  auf  dem  Arm  seiner  Mutter  sitzend,  von  dieser  ver- 
langt, sie  solle  ihm  die  Dachdecker  vom  nächsten  Turm,  die  er  für 
kleine  Puppen  hielt,  herabholen  ^).  Wenn  demnach  das  Kind  meist 
in  viel  weiterem  Umfang  Ähnlichkeitsassoziationen  ausführt  als  der 
Erwachsene,  so  beruht  das  nicht  auf  einer  umfassenderen  Tätigkeit 
der  „Vergleichung",  sondern  umgekehrt  darauf,  daß  es  leichter  Gegen- 
stände verwechselt,  die  nur  eine  entfernte  Ähnlichkeit  haben,  und  daß 
bei  ihm  namentlich  Größen-  und  Entfernungsunterschiede  noch  fast 
gar  keine  Rolle  spielen.  Dagegen  kann  man  nicht  minder  beobachten, 
daß  es  zu  solchen  Assoziationen,  bei  denen  Reflexionsmomente  zu 
assoziativen  Wirkungen  verdichtet  sind,  und  die  sich  bei  uns  ohne 
weiteres  vollziehen,  nicht  oder  erst  dann  gelangt,  wenn  es  durch  den 
übereinstimmenden  Namen  zu  einer  Assoziation  veranlaßt  wird. 
Diese  bleibt  aber  dann  zunächst  eine  reine  Wortassoziation.  So  wurde 
es  einem  Kinde,  nachdem  es  einen  Stuhl  von  einer  bestimmten  Form 
tül  genannt  hatte,  zuerst  schwer,  dasselbe  Wort  auf  Stühle  von  ganz 
anderer  Form  zu  übertragen.  Es  zeigte  also  in  dieser  Beziehung  immer 
noch  eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  dem  Hunde,  dem  man  durch  asso- 
ziative Übung  das  Kunststück  beigebracht  hat,  eine  bestimmte  Tür 
zuzuschlagen,  der  aber  nicht  sofort  veranlaßt  werden  kann,  die  näm- 


^)  Helmholtz,  Physiologische  Optik,  2  S.  770. 


Angebliche  Worterfindung  des  Kindes.  301 

liehe  Leistung  auch,  an  einer  andern  zu  wiederholen^).  Ein  anderes 
Kind  übertrug  dagegen  das  Wort  dül  sofort  von  einem  Stuhl  auf  ein 
Sofa^).  Sicherlich  wird  man  diesen  Unterschied  nicht  darauf  zurück- 
führen können,  daß  das  erste  dieser  Kinder  nur  Begriffe  von  beschränk- 
tem, das  andere  solche  von  weitestem  Umfang  gebildet  habe,  sondern 
eben  nur  darauf,  daß  dort  die  Assoziation  zufällig  an  einem  Merkmal 
haften  blieb,  das  bloß  dem  einen  StuhLzukam,  etwa  an  seiner  Stellung 
im  Zimmer,  während  sie  hier  offenbar  von  der  sich  häufiger  wieder- 
holenden Vorstellung  des  Sitzens  gelenkt  wurde.  In  der  Tat  lassen 
sich  in  der  Periode  der  Sprachentwicklung,  um  die  es  sich  hier  handelt, 
durchaus  keine  Merkmale  nachweisen,  die  über  die  Absicht,  jedesmal 
nur  den  einzelnen  konkreten  Gegenstand  zu  benennen,  hinausgehen. 
Auch  das  Kind,  das  ein  Sofa  als  Stuhl  bezeichnet,  will  damit  keinen 
alle  Sitzgelegenheiten  umfassenden  Allgemeinbegriff  ausdrücken,  son- 
der eben  nur  das  eine  Objekt,  auf  das  es  den  Namen  durch  Asso- 
ziation übertragen  hat.  Eine  solche  Assoziation  tritt  aber  ein,  sobald 
irgendeine  Ähnlichkeit  oder  eine  äußere  Beziehung  gegeben  ist,  welche 
zureicht,  um  bei  dem  Anblick  des  neuen  Gegenstandes  das  nämliche 
Wort  zu  reproduzieren,  das  sich  mit  dem  Anblick  des  früheren  kompli- 
ziert hatte.  Nun  setzen  natürlich  alle  Begriffe  Assoziationen  voraus; 
doch  von  einer  wirklich  eingetretenen  Begriffsbildung  können  wir 
nur  dann  reden,  wenn  zwischen  den  Vorstellungen  Beziehungen  ent- 
stehen, die  in  Urteilen  ihren  Ausdruck  finden.  Eine  Subsumtion  der 
mit  dem  gleichen  Wort  benannten  Gegenstände  unter  eine  und  die- 
selbe Gattung  kann  vollends  erst  stattfinden,  wenn  Vergleichungen 
zwischen  den  Gegenständen  ausgeführt  werden,  auf  Grund  deren 
ein  allgemeinerer,  ihnen  übergeordneter  Begriff  entsteht.  Gewiß 
kommen  Anfänge  solcher  Begriffsbildung  auch  beim  Kinde  vor. 
Aber  sie  gehören  einer  weit  späteren  Periode  an,  in  der  ihm  die 
Sprache  schon  ein  verhältnismäßig  geläufiges  Werkzeug  gewor- 
den ist. 

Deutliche    Belege   für    diesen   rein    assoziativen    Charakter   der 
ursprünglichen   Namenübertragungen   bieten   sich  insbesondere  auch 


1)  Vgl.  meine  Vorlesungen  über  die  Menschen-  und  Tierseele,   *    S.  458. 

2)  Nach  einer  Beobachtung  von  Prof,  K.  Brugmann. 


302  Die  Sprachlaute. 


bei  solclien  Benennungen,  die  aus  melir  oder  minder  zufälligen  äußeren 
Berülirungsassoziationen  entstanden  sind.  Hierher  gehört  der  oben 
berichtete  Fall,  wo  ein  Kind  das  Wort  guck,  durch  das  es  auf  eine 
künstliche  Katze,  die  auf  einem  Stuhl  stand,  aufmerksam  gemacht 
werden  sollte,  zunächst  auf  den  Stuhl  bezog,  dann  aber  auch  auf  die 
Katze  selbst,  so  daß  nun  das  gleiche  Wort  zwei  gänzlich  verschiedene 
Bedeutungen  angenommen  hatte.  Einen  ähnlichen  Fall  erzählt  Ro- 
manes  nach  einer  Beobachtung  Darwins  an  dessen  Enkelkinde.  Das 
Kind  gebrauchte  das  Wort  quah  nicht  bloß  zur  Bezeichnung  der  Enten, 
in  welcher  Bedeutung  es  ihm  mitgeteilt  worden  war,  sondern  auch 
zu  der  des  Wassers,  und  von  da  aus  übertrug  es  dann  das  gleiche 
Wort  einerseits  auf  alle  Vögel  und  fliegenden  Insekten,  und  anderseits 
auf  alle  möglichen  fließenden  Substanzen^).  Man  wird  schwerlich 
fehlgehen,  wenn  man  nach  Analogie  mit  dem  vorigen  Fall  annimmt, 
daß  hier  der  Laut,  der  mit  der  hinweisenden  Gebärde  auf  eine  im  Wasser 
schwimmende  Ente  verbunden  war,  gelegentlich  einmal  mit  der  Ente 
und  bei  einer  andern  Gelegenheit  mit  dem  Wasser  assoziiert  wurde, 
worauf  sich  dann  alles  Weitere  vermöge  der  oben  erörterten  Ähnlich- 
keitsassoziationen von  selbst  entwickelte.  Oft  bildet  gerade  die  Ver- 
schiedenheit der  mit  dem  gleichen  Wort  bezeichneten  Gegenstände 
einen  sprechenden  Beleg  für  die  bloß  nach  irgendeiner  zufälligen  Ähn- 
lichkeit gebildete  Assoziation.  So  übertrug  ein  17  Monate  altes  Kind 
das  Wort  eijebapp  für  die  Eisenbahn,  die  es  als  Spielzeug  besaß,  ohne 
weiteres  auf  das  Bild  mehrerer  in  gleichen  Abständen  hintereinander 
gehender  Hunde  2). 

Darf  man  nun  aus  allen  diesen  Beobachtungen  noch  nicht  schließen, 
daß  das  Kind  auch  späterhin  auf  bloße  Assoziationsbildungen  be- 
schränkt bleibe,  sondern  eben  nur  dies,  daß  die  eigentliche  Begriffs- 
bildung einem  späteren  Stadium  angehört  und  mit  der  ersten  An- 


^)  Romanes,  Die  geistige  Entwicklung  des  Menschen.  Deutsche  Ausgabe 
S.  283. 

2)  Das  nämliche  Kind  hatte,  im  13.  Monat  stehend,  das  Wort  ein  bißchen 
(für  „behutsam"),  das  ihm  zugerufen  wurde,  als  es  nach  der  Brille  seines  Vaters 
griff,  auf  die  Brille  übertragen,  nach  der  es  jedesmal  griff,  wenn  das  Wort  in  ganz 
anderem  Zusammenhang  vorkam.      (Mitteilung  von  Prof.   Brugmann.) 


Angebliche  Worterfindung  des  Kindes.  303 

eignung  der  Sprache  nichts  zu  tun  hat,  so  gilt  dies  auch  für  den  Ur- 
sprung der  Sprache  selbst.  Daß  das  Kind  unter  den  normalen  Ver- 
hältnissen seiner  Entwicklung  die  Sprache  nicht  selbsttätig  erzeugt, 
sondern  daß  sie  ihm  von  seiner  Umgebung  mitgeteilt  wird,  ist  zweifel- 
los. Dies  schließt  aber  natürlich  nicht  aus,  daß  es  irgendeine  Sprache, 
irgendeine  Art  und  Weise,  seine  Vorstellungen  und  Gefühle  durch 
Laute  kundzugeben,  —  nicht  „erfinden"  würde,  denn  dieser  Aus- 
druck ist  kein  adäquater  Begriff  für  die  hier  stattfindenden  Vorgänge 
—  wohl  aber  selbständig  erzeugen  und  ausbilden  würde,  wenn  nicht 
die  ihm  von  außen  mitgeteilte  Sprache  dem  zuvorkäme.  Wäre  es 
möglich,  Kinder,  ohne  ein  Wort  vor  ihnen  auszusprechen,  aufwachsen 
zu  lassen,  so  würde  vermutlich  neben  der  natürlichen  Gebärden- 
sprache auch  eine  natürliche,  wenngleich  vielleicht  sehr  unvollkommene 
Lautsprache  bei  ihnen  entstehen.  Aber  dies  würde  nach  allem,  was 
wir  bei  der  Sprachentwicklung  des  Kindes  beobachten,  in  einer  andern 
Weise,  und  es  würde  sicherlich  sehr  viel  später  geschehen^).  Die 
Sprachbildung  unserer  Kinder  ist,  weil  sie  unter  dem  Einflüsse  der 
redenden  Umgebung  stattfindet,  eine  verfrühte  Entwicklung. 
Sie  wird  hervorgerufen,  lange  bevor  sie  spontan  erfolgen  würde.  Es 
verhält  sich  mit  ihr  nicht  anders  als  mit  allen  ihr  nachfol- 
genden Formen  geistiger  Entwicklung.  Was  sich  die  Gattung 
in  allmählichem  Fortschritt  durch  die  Arbeit  zahlloser  Gene- 
rationen erringen  mußte,  das  ist  für  den  Einzelnen  von  früh  an  ein 
überlieferter  Besitz. 


^)  Einige  namentlich  in  der  älteren  Literatur  vorkommende  Angaben 
über  Kinder,  die  sich,  zusammen  aufwachsend,  eine  eigene  Sprache  gebildet 
haben  sollen,  sind  wohl  ein  für  allemal  in  das  Gebiet  der  Fabel  zu  verweisen. 
Da  genauere  Angaben  über  jene  eigenartige  Sprache  fehlen,  so  liegt  mög- 
licherweise eine  Verwechselung  mit  den  gewöhnlichen  artikulierten  Gefühls- 
lauten vor. 


304  Die  Sprachlaute. 


3.  Psychophysische  Bedingungen  der  individuellen 
Sprachentwicklung. 

Unter  den  Ergebnissen,  die  wir  der  Beobachtung  der  Sprach- 
entwicklung des  Kindes  entnehmen  können,  steht  die  Tatsache  oben- 
an, daß  die  ursprüngliche  Entstehung  artikulierter  Laute  und  die 
Anwendung  dieser  Laute  zur  Benennung  von  Gegenständen  zwei 
nach  ihren  inneren  und  äußeren  Bedingungen  völlig  auseinander- 
fallende Vorgänge  sind.  Die  ursprünglichen  artikulierten  Laute  sind 
reine  Gefühlsäußerungen.  Als  solche  sind  sie  psychische  Symptome, 
so  gut  wie  die  Wortbildungen.  Aber  sie  sind  im  Unterschied  von 
diesen  keiner  andern  Beschränkung  unterworfen  als  der,  daß  sie,  im 
Gegensatz  zu  den  Schreilauten,  mäßige  Gemütsbewegungen 
begleiten.  Irgendeine  speziellere  Beziehung  zwischen  der  Art  der 
Gefühlserregung  und  der  Beschaffenheit  der  Laute  läßt  sich  hier  ge- 
rade so  wenig  wie  bei  den  analogen  Gefühlsäußerungen  vieler  Tiere 
auffinden.  Demnach  müssen  sie  wohl,  gleich  diesen,  auf  eine  phy- 
siologische Anlage  zurückgeführt  werden,  vermöge  deren  das  Kind 
ebenso  auf  Gefühlserregungen  mit  artikulierten  Lauten  reagiert,  wie 
es  etwa  auf  süße,  saure  und  bittere  Geschmacksreize  mit  den  ent- 
sprechenden mimischen  Bewegungen  antwortet.  Der  Unterschied 
beider  Fälle  ist  nur  der,  daß  die  ursprünglichen  Geschmacksreaktionen 
wahrscheinlich  rein  physiologische  Reflexe  in  niederen  Nervenzentren 
sind,  da  sie  bereits  von  der  Geburt  an  beobachtet  werden,  während 
die  artikulierten  Lautreaktionen  Lustgefühle  voraussetzen,  die  in 
der  frühesten  Lebenszeit  noch  nicht  vorkommen  und  physiologisch 
wahrscheinlich  erst  auf  Grund  einer  umfänglicheren  Entwicklung 
der  Leitungsbahnen  des  Großhirns  möglich  sind.  In  der  Tat  lassen 
sich  die  erwähnten  Lautartikulationen  nach  Ursprung  wie  Wirkung 
durchaus  den  mimischen  Ausdrucksbewegungen  an  die  Seite  stellen, 
mit  dem  einen  Unterschied,  daß  jene  bald  sehr  viel  mannigfaltiger 
werden.  Daß  das  menschliche  Kind  schon  in  sehr  früher  Zeit  über  ein 
so  reiches  Register  von  Lautreaktionen  verfügt,  die  nach  ihrer  psy- 
chischen Bedeutung  schwerlich  in  gleichem  Grade  nuanciert  sind, 
dies  kann  aber  nur  auf  einer  vererbten  physiologischen  Anlage  be- 
ruhen.   Das  Kind  bringt  —  so  werden  wir  annehmen  können  —  in- 


Psychophysische  Bedingungen  der  individuellen  Sprachentwicklung.     305 

folge  seiner  Abstammung  von  einer  mizählbaren  Reihe  von  Ahnen, 
die  alle  schon  im  Besitz  der  Sprache  gewesen  sind,  die  Anlage  zu  zahl- 
reichen, schon  in  den  ersten  Lebenswochen  sich  ausbildenden  zentralen 
Leitimgen  zur  Welt  mit,  so  daß  sich  seine  Gefühle,  sobald  diese  Ent- 
wicklung vollendet  ist,  außer  in  mimischen  Bewegungen  auch  in  Laut- 
artikulationen äußern.  Dabei  sind  die  zentralen  Verbindungen,  von 
denen  die  Innervation  der  Stimmorgane  abhängt,  von  vornherein 
so  mannigfaltig,  daß  der  einzelne  Laut  ohne  merkliche  Änderung  der 
Gefühlsqualität  in  weitem  Umfang  wechseln  kann.  Die  artikulierten 
Laute  des  Kindes  sind  somit  Ausdrucksbewegungen,  die  in  ihrer  Viel- 
gestaltigkeit weit  über  das  nächste  Bedürfnis,  dem  sie  dienen,  hinaus- 
gehen, weil  sie  eben  Produkte  vererbter  Anlagen  sind,  auf  welche  die 
verwickeitere  Funktion,  die  später  auch  im  individuellen  Leben  aus 
ihnen  hervorgeht,  in  der  generellen  Entwicklung  bereits  einge- 
wirkt hat. 

Diese  nahe  Beziehung  der  Lautartikulationen  zu  den  sonstigen 
Ausdrucksbewegungen  läßt  sich  nun  auch  daraus  erkennen,  daß  sich 
bei  jenen,  ebenso  wie  bei  diesen,  sehr  früh  schon  gewisse  individuelle 
Nuancen  ausprägen,  die  allmählich  zunehmen,  und  aus  denen  sich 
später  die  Sprechweise  des  einzelnen  Menschen  entwickelt.  Noch 
größere  Unterschiede  zeigen  in  dieser  Beziehung  die  verschiedenen 
Nationen.  Wie  sehr  Lautartikulation  imd  Tonmodulation  bei  dem 
Deutschen,  Engländer,  Franzosen,  Italiener  abweichen,  ist  ja  all- 
bekannt. Daß  aber  diese  Unterschiede  nicht  bloß  von  den  Anforde- 
rungen, die  der  Lautcharakter  der  Sprache  an  die  Sprachorgane  stellt, 
sondern  bis  zu  einem  gewissen  Grad  auch  von  Rassenverschieden- 
heiten in  der  physischen  Bildung  der  Artikulationswerkzeuge  ab- 
hängen, lehren  die  bekannten  Erfahrungen  über  die  Aneignung  frem- 
der Sprachen,  nach  denen  selbst  bei  vollkommener  Übung  in  der  Regel 
noch  die  Artikulationsweise  der  Muttersprache  ihren  Einfluß  aus- 
übt. Natürlich  stehen  diese  beiden  Momente  in  Wechselwirkung: 
die  Eigenschaften  der  Lautorgane  wirken  auf  die  Sprache,  imd  diese 
wirkt  wieder  auf  jene  zurück.  Durch  Umgewöhnung  und  Übung 
können  daher  schließlich  auch  solche  Stellungen  und  Bewegungen 
entstehen,  die  dem  individuellen  Sprachorgan  ursprünglich  nicht 
eigen  waren.    Deshalb  ist  es  nicht  leicht,  mit  Sicherheit  festzustellen, 

Wu  n  dt,  Yölterpsychologie.    I.    4.  Aufl.  ^0 


306  ^i®  Sprachlaute. 


ob  diese  Anpassung  des  Organs  an  die  Sprache  bloß  die  Wirkung  in- 
dividueller Einübung,  oder  ob  sie  in  irgendeinem  Grade  in  der  an- 
geborenen Organisation  bereits  vorgebildet  ist.  Bedenkt  man,  wie 
sehr  der  Artikulationsmechanismus  mit  den  mimischen  Bewegungen 
und  durch  diese  mit  der  dauernden  Gesichtsbildmig  zusammenhängt, 
so  ist  von  vornherein  ein  gewisser  Grad  angeborener  Anlage  auch  hier 
nicht  ausgeschlossen.  Sind  doch  bekanntlich  einzelne  rassenphysio- 
gnomische  Merkmale  zuweilen  selbst  bei  stammverwandten  Nationen, 
z.  B.  Deutschen  und  Engländern,  bereits  in  sehr  früher  Lebenszeit 
zu  erkennen.  Auch  scheinen  schon  in  den  Lallsilben  der  Säuglinge 
Rassenunterschiede  vorzukommen,  wenn  die  folgende  Zusammen- 
stellung der  von  Frey  er  und  K.  C.  Moore  mitgeteilten  Laute  einen 
Schluß  zuläßt.  Als  Zeitpunkt  ist  in  beiden  Fällen  die  12.  bis  14.  Lebens- 
woche gewählt^). 

Deutsches  Kind.  Kind  englischer  Zunge, 

am,  ma,  ör,  rö,  ar,  ra,  hu,  ua,  om,  in,  eng,  gr-r-r-r,  bo-wo,  ang,  diddle,  ing, 

ab,  la,  ho, .  mö,  nä,  na,  an,  mg,  mb,  bow-wow,  th,  udn,  pop-pä-pä-bä,  udu, 

gr,  ha,  bu,  me,  nt.  bob-bä,  um-go,  good,  momä. 

Nun  mag  man  dem  Spiele  des  Zufalls  einen  noch  so  großen  Ein- 
fluß einräumen  und  zugeben,  daß  große  Verschiedenheiten  in  ähn- 
lichem Sinn  auch  bei  Kindern  gleicher  Rasse  nicht  fehlen;  dennoch 
erscheint  der  Unterschied  bedeutend  genug  und  auch  im  allgemeinen 
dem  Lautcharakter  der  beiden  Sprachen  angemessen.  Werden  der- 
gestalt wahrscheinlich  selbst  die  Anlagen  zu  der  besonderen  Nuan- 
cierung der  Lautbildungen,  wie  sie  den  verschiedenen  Sprachen  eigen- 
tümlich sind,  in  gewissem  Grade  vererbt,  so  ist  aber  um  so  mehr  an- 
zunehmen, daß  jene  Fülle  artikulierter  Gefühlsäußerungen,  der  wir 
vom  zweiten  Lebensmonat  an  beim  Kinde  begegnen,  mit  der  all- 
gemeinen  Erwerbung   der    Sprache   durch   die    Gattung   zusammen- 


^)  Ich  habe  aus  der  Tabelle  von  K.  C.  Moore  die  Schreilaute,  sowie  einige 
Laute,  die  annähernde  Wiederholungen  der  bereits  notierten  sind,  aus  der  Auf- 
zeichnung Preyers  die  reinen  Vokallaute,  weil  für  die  Artikulation  minder  cha- 
rakteristisch, hinweggelassen.  Vgl.  die  Originaltabellen  bei  Preyer  a.  a.  0.  S.  344, 
Moore  S.  116. 


Psychophysische  Bedingungen  der  individuellen   Sprachentwicklung.     307 

hängt.  Da  in  den  vorsprachlichen  Artikulationslauten  des  Kindes 
neben  den  häufiger  gebrauchten,  den  späteren  Sprachlauten  einiger- 
maßen ähnlichen  immer  gelegentlich  auch  andere,  ganz  abweichende 
vorkommen,  so  liegt  übrigens  in  dieser  großen  Mannigfaltigkeit  von 
Bildungen  wohl  zugleich  die  Erklärung  dafür,  daß  sich  das  Kind, 
sobald  es  in  die  Periode  der  eigentlichen  Sprache  eingetreten  ist,  leicht 
ein  völlig  fremdes  Lautsystem  aneignen  kann,  dessen  Bewältigung 
dem  Erwachsenen  weit  schwerer  wird.  Die  kindlichen  Sprachorgane 
können  sich  eben  in  dieser  Zeit  noch,  unbeschadet  der  etwa  vorhan- 
denen vererbten  Anlage,  jedem  möglichen  Lautsystem,  das  ihnen 
durch  die  Umgebung  dargeboten  wird,  anpassen^). 

Für  die  individuelle  Sprachentwicklung  ist  es  nun  offenbar  von 
größter  Bedeutung,  daß  die  Reize,  durch  die  jene  vererbten  Anlagen 
zur  Funktion  erregt  werden,  selber  nicht  dem  Vorgange  der  Sprach- 
bildung angehören.  Nur  hierdurch  wird  es  möglich,  daß  die  Aneignung 
der  Sprache  in  eine  Periode  des  individuellen  Lebens  fällt,  in  der  die 
Fähigkeit  zur  spontanen  Erzeugung  derselben  noch  lange  nicht  vor- 
handen sein  würde.  Denn  diese  Aneignung  besteht  eben  lediglich 
darin,  daß  das  Kind  die  Laute,  die  es  bis  dahin  als  bloße  Gefühls- 
äußerungen hervorbrachte,  unter  dem  Einflüsse  des  erwachenden 
Nachahmungstriebes  nach  den  von  den  Personen  der  Umgebung 
vorgesprochenen  Lauten  umbildet.  Auch  die  ersten  Lautnach- 
ahmungen geschehen  daher  in  jener  behaglichen  Luststimmung,  die 
das  Kind  überhaupt  zur  Lautbildung  anregt,  und  sie  beruhen  offenbar 
darauf,  daß  die  Art  der  Gefühlsäußerung  direkt  durch  den  vorge- 
sprochenen Laut  bestimmt  wird.  So  entsteht  in  der  Regel  zuerst  jene 
verständnislose  ,, Echosprache",  die  die  eigentliche  Sprache  vor- 
bereitet. In  diesem  Stadium  wird  demnach  zu  dem  gehörten  Wort 
und  der  gesehenen  Lautartikulation  eines  der  bereits  eingeübten  Laut- 
gebilde, das  einen  ähnlichen  Schalleindruck  hervorbringt,  assoziiert. 
Dies  ist  eine  Gleichheitsassoziation,  die  sich  im  Gebiet  des  Gehörs- 
sinns abspielt,  aber  teils  durch  die  objektive  Komplikation  mit  dem 


^)  So  hat  man  mehrfach  beobachtet,  daß  Kinder  europäischer  Missionare 
Sprachlaute,  die  ihren  Eltern  unüberwindliche  Schwierigkeiten  bereiteten,  z.  B. 
die  Schnalzlaute  der  Hottentotten,  spielend  erlernten. 

20* 


308  I>i©  Sprachlaute. 


Gesichtsbilde,  teils  durcli  die  subjektive  mit  den  Bewegungsempfin- 
dungen  des  Spracblauts  vervollständigt  wird.  Der  Bildung  dieser 
assoziativen  Nachabmung  liegt  daber  allerdings  bereits  eine  Funktion 
der  Aufmerksamkeit  zugrunde,  in  der  sieb  das  erste  Erwacben  intellek- 
tueller Tätigkeit  ankündigt.  Aber  diese  Funktion  bestebt  nocb  nicbt 
in  der  Nacbabmung  selbst,  die  sieb  durcb  reine  Assoziation  vollzieht, 
sondern  vielmehr  in  der  erleichterten  Apperzeption  äußerer  Keize, 
die  sich  in  solcher  Assoziation  verrät.  Dem  gebt  dann  unter  der  Wirkung 
dieser  zunehmenden  Aufmerksamkeit  auf  Sinnesreize  eine  zweite  Asso- 
ziation zur  Seite:  das  ist  die  durch  die  Gebärden  und  Blicke  der  Per- 
sonen der  Umgebung  vermittelte  bestimmter  Worte  mit  den  Gegen- 
ständen. Erst  wenn  beide  Assoziationen  gebildet  sind,  ist  der  weitere 
Schritt  ihrer  Verbindung  mögUch.  Diese  ist  demnach  eine  Verbindung 
zweiter  Stufe.  Als  solche,  nicht  als  direkte  Beziehung  des  selbst- 
erzeugten Wortes  auf  das  Objekt,  charakterisiert  sie  sich  schon  da- 
durch, daß  jene  beiden  Assoziationen  eine  Zeitlang  unabhängig  neben- 
einander bestehen,  ehe  sie  sich  zu  dieser  Resultante  vereinigen.  Ab- 
gesehen von  der  stärkeren  Spannung  der  Aufmerksamkeit,  welche 
die  Vereinigung  der  zwei  unabhängig  entstandenen  Verbindungen 
erfordert  erweist  sich  aber  auch  hier  der  Prozeß  als  ein  rein  asso- 
ziativer. Als  solcher  läßt  er  sich  seinen  Hauptbestandteilen  nach 
in  die  Gleichheitsassoziationen  des  gehörten  Wortes  mit  dem  selbst- 
erzeugten Sprachlaut  und  in  die  Berührungsassoziation  mit  der  hin- 
weisenden Gebärde  und  mit  dem  durcb  sie  bezeichneten  Gegenstande 
zerlegen,  wozu  als  komplikatives  Mittelglied  noch  die  Empfindung 
der  eigenen  Artikulationsbewegungen  hinzukommt. 

Eine  wichtige  Rolle  bei  dieser  Entwicklung  spielt  endlich  die 
Gebärde.  Sie  ist  es,  die  am  frühesten  von  dem  Kinde  „verstanden", 
das  heißt  als  eine  Andeutung  davon  aufgefaßt  wird,  daß  mit  dem 
Worte  der  gezeigte  Gegenstand  gemeint  sei.  Diese  Auffassung  ist 
aber  freilich  nicht  ohne  weiteres  vorhanden,  sondern  sie  entsteht  bei 
den  ersten  Benennungen  infolge  wiederholter  hinweisender  Gebärden. 
Auch  hier  wird  man  daher  annehmen  dürfen,  daß  zunächst  die  Wahr- 
nehmung der  Gebärde  mit  der  des  Gegenstandes  ein  Ganzes  bildet, 
das  mit  dem  Wort  assoziiert  wird,  worauf  dann  erst  die  Gebärde  durch 
ihre  relativ  gleichförmige  Wiederholung  hinter  dem  gezeigten  Objekt 


Psychophysische  Bedingungen  der  individuellen  Sprachentwicklung.     309 

zurücktritt.  Auf  diese  Weise  ist  es  gewissermaßen  eine  Verbindung 
von^  Gebärdensprache  und  Lautspracbe,  die  dem  Kind  allmählich 
die  freie  Verfügung  über  die  mitgeteilten  Wörter  verschafft,  und  die 
den  Übergang  von  den  vorwiegend  durch  äußere  Verbindungen  der 
Eindrücke  erweckten  Assoziationen  zu  den  apperzeptiven  Verbin- 
dungen vermittelt^). 

Die  allmähliche  Entwicklung  der  apperzeptiven  Funktionen 
aus  den  Assoziationen  tritt  in  diesem  Fall  augenfällig  darin  zutage, 
daß  die  nächste  Verbindung,  die  wegen  der  elektiven  Wirkung  der 
Aufmerksamkeit  als  eine  apperzeptive  betrachtet  werden  muß,  zu- 
gleich ein  unmittelbares  Ergebnis  der  vorausgehenden  Assoziationen 
ist.  Aus  der  Assoziation  zwischen  Sprachlaut,  Gebärde  und  Gegen- 
stand sondern  sich  für  die  Apperzeption  Sprachlaut  und  Gegenstand 
als  die  beiden  zusammengehörigen  Bestandteile.  Dies  kann  aber  nur 
geschehen,  weil  die  das  Mittelglied  bildende  Gebärde  durch  die  Be- 
dingungen der  Assoziation  selbst  schon  zurückgedrängt  wird.  Ist 
einmal  erst  irgendein  Wort  durch  jene  assoziative  Auslese  ohne  die 
Gebärde  und  ohne  sonstige  ursprünglich  begleitende  Nebenvorstellungen 
als  Zeichen  eines  bestimmten  Gegenstandes  apperzipiert  worden, 
so  bedarf  es  nun  in  künftigen  Fällen  jener  assoziativen  Eliminations- 
prozesse nicht  mehr,  sondern  bei  jedem  andern  Gegenstande  wird 
das  gleichzeitig  ausgesprochene  Wort  ohne  weiteres  als  das  ihm  zu- 
gehörige Zeichen  aufgefaßt.  Die  zuerst  nur  durch  den  Mechanismus 
der  Assoziationen  entstandene  Auslese  ist  so  zu  einer  gewollten 
geworden.  Bestand  bei  der  ursprünglichen  Nachahmung  der  Sprach- 
laute der  Willensvorgang  nur  in  der  Kichtung  der  Aufmerksamkeit 
auf  den  gehörten  Laut  und  auf  das  durch  die  Gebärde  gezeigte  Ob- 
jekt, so  betätigt  er  sich  nun  auch  darin,  daß  er  unter  allen  den  Ein- 
drücken, die  in  einem  Moment  zusammentreffen,  gerade  diese  zwei, 


^)  Die  große  Bedeutung  der  Gebärde  für  die  Sprachentwicklung  des  Kindes 
ist  sehr  deutlich  auch  daran  zu  beobachten,  daß  das  Band  selbst  sehr  häufig  Ge- 
bärden früher  als  Sprachlaute  zur  Bezeichnung  von  Gegenständen  anwendet, 
wobei  es  diese  Gebärden  nur  mit  beliebigen  Gefühlslauten  begleitet.  Bei  der 
Gebärde,  namentlich  der  hinweisenden,  ist  eben  die  Beziehung  zu  dem  Gegen- 
stand eine  unmittelbare,  während  sie  bei  dem  Wort  erst  durch  die  assoziative 
Einübung  entstehen  muß. 


310  Die  Sprachlaute. 


den  Sprachlaut  und  den  zu  ilim  gehörigen  Gegenstand,  als  zusammen- 
gehörige herausgreift.  Damit  ist  aber  die  Apperzeption  des  einzelnen 
Eindrucks  in  eine  apperzeptive  Verbindung  übergegangen. 


4.  Psychologische  Eigenschaften  der  kindlichen  Sprache. 

Wenn  in  solcher  Weise  im  allgemeinen  jedes  Wort  der  kind- 
lichen Sprache  eine  bloße  Nachahmung  eines  vorgesprochenen  Wortes 
ist,  wie  erklären  sich  dann  aber  die  Eigenschaften  dieser  Sprache? 
Bekanntlich  haben  besonders  die  onomatopoetischen  Wörter  die  An- 
nahme veranlaßt,  das  Wort  werde  mindestens  in  vielen  Fällen  von 
dem  Kinde  selbst  ,, erfunden".  Denn  diese  Lautnachahmungen  er- 
scheinen nicht  bloß  an  sich  als  natürliche,  der  Auffassungsstufe  des 
Kindes  entsprechende  Bildungen,  sondern  sie  sind  auch  in  gewissem 
Grade,  analog  wie  die  Gebärden,  eine  Art  Universalsprache.  Aller- 
dings fehlt  es  in  dieser  nicht  an  dialektischen  Unterschieden,  in  denen 
sich  die  Spuren  des  Einflusses  der  allgemeinen  Sprache  der  Umgebung 
verraten:  so  wenn  das  deutsche  Kind  den  Hund  wau-wau,  das  fran- 
zösische oua-oua,  das  niederländische  waf-waf,  oder  wenn  das  deutsche 
das  Huhn  gluh-gluk  oder  tuh-tuk,  das  französische  koh-koh  nennt  u.  dgl. 
Der  bemerkenswerteste  Unterschied  ist  aber  wohl  der,  daß  die  Neigung 
zu  onomatopoetischen  Wortbildungen  außerordentlich  variiert. 
Während  sie  sich  bei  den  europäischen  Nationen  im  wesentlichen 
auf  einige  Tiemamen  und  wenige  Vorgänge  des  täglichen  Lebens, 
wie  das  Essen,  das  Klingeln  der  Hausglocke  u.  dgl.,  beschränkt,  sind 
z.  B.  die  japanische  und  die  chinesische  Kindersprache  überaus  reich 
an  solchen  Formen^).    Viele  dieser  Formen  sind  in  die  tägliche  Um- 


1)  Die  folgende  kleine  Tabelle  ist  ein  Auszug  aus  einer  im  ganzen  53  ono- 
matopoetische Wörter  umfassenden  Sammlung  der  japanischen  Kindersprache, 
die  ich  der  Güte  des  Herrn  J.  Jrie  in  Sendai  verdanke:  dö-dö  Pferd  mö-mö  Kuh, 
wan-wan  Hund,  nya-nya  Katze,  ziu-ziu  Maus,  ka-ka  Krähe,  kokko  Huhn,  ho- 
kekio  Nachtigall,  po-po  Taube,  zion-zion  Sperling,  gizzion  Heimchen,  bun-bun 
Biene,  pi-pi  Flöte,  sian-sian  oder  gon-gon  große  Glocke,  zirin-zirin  kleine  Glocke, 
don-don  Trommel,  gara-gara  Wagen,  goro-goro  Donner,  kon-kon  Husten,  mon- 
mon  Buchstabe   (Nachahmung  der  Lippenbewegungen),   /w-/u  Feuer  (von  der 


Psychologische  Eigenschaften  der  kindlichen  Sprache.  311 

gangssprache  übergegangen,  wie  sicli  denn  namentlich  das  Japanisclie, 
ähnlich  den  malaio-polynesischen  Sprachen,  durch  den  reichen  Ge- 
brauch von  Verdoppelungsformen  auszeichnet,  von  denen  manche 
ursprünglich  der  Kindersprache  entlehnt  sein  mögen.  Anderseits 
ist  es  aber  doch  wahrscheinlich,  daß  die  Motive,  die  allge- 
mein als  psychologische  Ursachen  der  Lautwiederholung  vor- 
kommen, in  jenen  Sprachen  überhaupt  sehr  viel  wirksamer  ge- 
wesen sind,  so  daß  nun  diese  Eigenschaft  auch  wieder  die 
Kindersprache  beeinflußte^). 

Demnach  ist  der  internationale,  hierin  der  Gebärdenmitteilung 
verwandte  Charakter  der  Kindersprache  zwar  ein  Zeugnis  für  die 
unmittelbare  Verständlichkeit  ihrer  onomatopoetischen  Lautbil- 
dungen, ohne  daß  diese  darum  ein  ursprüngliches  Eigentum  des  Kin- 
des selbst  zu  sein  brauchen.  Wohl  aber  werden  wir,  gemäß  der  all- 
gemeinen Entstehungsweise  der  kindlichen  Wortbildungen,  schließen 
dürfen,  daß  es  besondere,  von  denen  der  sonstigen  Sprache  im  all- 
gemeinen abweichende  Motive  sind,  welche  die  Personen  der  Um- 
gebung im  Verkehr  mit  dem  Kinde  zu  jenen  eigentümlichen  Wort- 
bildungen veranlassen  —  oder  irgendeinmal  veranlaßt  haben,  denn 
eine  große  Anzahl  dieser  Wörter  ist  ja  ebenso  ein  überliefertes  Gut 
wie  die  sonstige  Sprache.  Doch  in  jedem  Falle  bleibt  es  die  Eigen- 
art solcher  Lautbildungen,  daß  sie  für  diesen  spezifischen  Zweck  über- 
liefert sind,  und  daß  bei  ihnen  die  Affinität  zwischen  Laut  und  Be- 
deutung, wenn  nicht  dem  Kinde,  so  mindestens  dem  Erwachseneu 
gegenwärtig  ist,  daher  er  denn  auch  leicht  den  überkommenen  Wort- 
schatz mit  analogen,  selbstgeschaffenen  Bildungen  vermehrt.  Eben 
deshalb  werden  wir  aber  annehmen  dürfen,  daß  die  nämlichen  psycho- 
logischen Bedingungen,  die  uns  bei  diesen  fortwährend  neu  entstehen- 
den Bestandteilen  begegnen,  bei  der  ursprünglichen  Bildung  jener 
Kindersprache  wirksam  waren.    Solcher  Motive  gibt  es  im  allgemeinen 


Mundbewegung  beim  Anblasen  desselben),  uma-uma  Essen  (Eßbewegungen), 
ita-ita  schmerzhaft,  auch  Messer  (Ausruf  bei  der  Schmerzempfindung),  pappa 
Tabak  (vom  ,, paffen*',  des  Rauchers). 

^)  Über    die    psychologischen    Ursachen    der    Verdoppelungserscheinungen 
im  allgemeinen  vgl.  unten  Kap.  V,  Nr.  V,  3. 


312  1^16  Sprachlaute. 


zwei.  Das  erste  bestellt  in  dem  Bestreben,  die  eigene  Wortbildung 
dem  leicht  verfügbaren  Lautvorrate  des  Kindes  und  den  in  den  vor- 
spracMiclien  artikulierten  Lautbildungen  am  häufigsten  auftreten- 
den Verbindungen  anzupassen;  das  zweite  in  dem  Triebe,  das  Wort 
so  zu  bilden,  daß  es  durch  sich  selbst  verständlich  werde.  Beide  Mo- 
tive entspringen  wieder  in  keiner  Weise  aus  irgendeiner  Reflexion 
über  Mittel  und  Zweck,  sondern  sie  bestehen  in  Trieben,  das  heißt 
in  einfachen,  durch  die  unmittelbare  Wahrnehmung  und  die  an  sie 
gebundenen  Gefühle  veranlaßten  Willenserregungen  und  Hand- 
lungen. Der  erste  dieser  Triebe  stimmt  mit  dem  Nachahmungstrieb 
des  Kindes,  wie  er  sich  in  der  Echosprache  äußert,  wesentlich  überein, 
und  er  wird  selbst  durch  die  Echosprache  stark  angeregt.  Kann  man 
doch,  wenn  erst  dieses  Stadium  eingetreten  ist,  nicht  selten  beobachten, 
daß  Mutter  und  Kind  einander  wiederholt  irgendein  Wort  zurufen, 
das  im  Grunde  für  beide  Teile  die  Bedeutung  eines  Echowortes  hat, 
weil  es  bloß  aus  der  Lust  an  der  Wiederholung  hervorgeht.  Bei  dem 
gewöhnlichen  Vorsprechen  kommt  zu  dieser  Äußerung  des  Nach- 
ahmungstriebs als  zweites  Motiv  die  Absicht,  einen  bestimmten  Gegen- 
stand durch  Laut  wie  Gebärde  dem  Kinde  deutlich  zu  machen.  Dies 
ist  kein  einfacher  Gefühlsimpuls  mehr,  sondern  meist  schon  ein  kom- 
plizierter Willensvorgang.  Immerhin  folgt  auch  er  nicht  selten  trieb- 
artig den  Motiven,  die  sich  aus  der  Situation  ergeben.  Demnach  wird 
die  Benennung  von  selbst  halb  Nachahmung  der  kindlichen  Lailaute, 
halb  Nachbildung  irgendeines  am  Gegenstande  wahrgenommenen 
Merkmals.  Das  Produkt  dieser  Mischung  der  Motive  ist  notwendig 
irgendeine  onomatopoetische  Wortbildung.  Da  das  Kind  gerade 
in  der  Periode,  die  der  eigentlichen  Sprachbildung  vorausgeht,  ohne- 
hin stark  zu  Lautwiederholungen  neigt,  an  denen  sich  sein  erwachen- 
des rhythmisches  Gefühl  erfreut,  so  erklärt  sich  schon  hieraus,  daß 
diese  Neigung  auch  der  Kindersprache  sich  mitteilt  oder  vielmehr 
instinktiv  von  der  Umgebung  des  Kindes  ihr  mitgeteilt  wird, 
indem  sich  dabei  nur  die  mehrfache  Wiederholimg  in  der 
Eegel  auf  die  einfache  Verdoppelung  einschränkt.  In  geringerem 
Grade  wirken  dann  gelegentlich  auch  die  von  den  Objekten 
selbst  hervorgebrachten  Laute  mit,  wie  bei  „wau-wau"  für  den 
Hund,  „hot-hot"  für  das  Pferd.     Aber  entscheidend  ist  dieses  Motiv 


Psychologische  Eigenschaften  der  kindlichen  Sprache.  313 

jedenfalls   niclit,    da   es  bei   andern  Namen,   wie  z.  B.  bei  „Papa" 
und  „Mama"  ganz  binwegfällt. 

Nach  allem  dem  ist  die  kindlicbe  Spracbe  ein  Erzeugnis  der  Um- 
gebung des  Kindes,  an  dem  das  Kind  selbst  wesentlich  nur  passiv 
mitwirkt.  Diese  Mitwirkung  besteht  hauptsächlich  darin,  daß  das 
Kind  die  Laute  am  leichtesten  nachahmt,  die  am  deut- 
lichsten von  ihm  gesehen  werden,  daher  diese  nun  auch  für 
den  Lautvorrat  der  Kindersprache  bestimmend  sind.  Dazu  kommt 
dann,  daß  der  Erwachsene,  der  mit  dem  Kinde  verkehrt,  instinktiv 
seine  Äußerungen  dem  wirklichen  oder  vermeintlichen  Anschau- 
imgskreise  des  Kindes  anpaßt,  indes  die  dem  Kinde  vermöge  natür- 
licher Gefühlsmotive  eigene  Neigung  zu  Lautwiederholungen  die  ono- 
matopoetische Gestaltung  der  Wörter  beeinflußt.  Eine  wesentliche 
Rolle  bei  der  Mitteilung  der  Bedeutungen  spielt  endlich  die  meist 
triebartig  mit  dem  Worte  verbundene  Gebärde,  die  durch  ihre  an- 
schauliche Beziehung  zu  dem  Gegenstand  dem  Kind  am  frühesten 
verständlich  ist  und  am  frühesten  und  selbständigsten  von  ihm  wieder- 
holt wird.  Für  das  Problem,  wie  die  Sprache  ursprünglich  entstanden 
ist,  bietet  somit  die  Analyse  der  kindlichen  Sprachentwicklung  keine 
unmittelbar  verwertbaren  Ergebnisse,  immerhin  aber  einige  indirekte 
Wegweiser  in  der  bei  ihr  so  augenfällig  hervortretenden  instinktiven 
Anpassung  des  Redenden  an  Anschauungen  und  Gefühle  des  An- 
geredeten, sowie  in  der  Bedeutung  der  Gebärde  für  die  erste  Verstän- 
digung durch  die  Lautsprache  ^). 


^)  Mit  dem  Ergebnis,  daß  die  kindliche  Sprache  nicht  von  dem  Kind  „er- 
funden'*, sondern  ihm  unter  den  oben  erörterten  Bedingungen  des  wechsel- 
seitigen Verkehrs  von  der  Umgebung  mitgeteilt  ist,  erledigt  sich  von  selbst  die 
in  verschiedenen  Schriften  über  die  Sprache  des  Kindes  wiederkehrende  Be- 
hauptung, die  Entwicklung  der  kindlichen  Sprache  sei  „eine  abgekürzte  Wieder- 
holung der  Sprachentwicklung  überhaupt".  (Ament,  Die  Entwicklung  von 
Sprechen  und  Denken,  S.  42.)  In  Wahrheit  ist  die  Entwicklung  der  kindlichen 
Stimmlaute  eine  annähernde  Wiederholung  der  allgemeinen  Entwicklung  der 
Stimmlaute  genau  bis  zu  dem  Zeitpunkt,  wo  die  Sprache  anfängt,  also  im 
Stadium  der  unartikulierten  Schreilaute  und  allenfalls  auch  noch  der  unartiku- 
lierten sinnlosen  Gefühlslaute;  darüber  hinaus  ist  sie  es  nicht  mehr.  Ähnlich- 
keiten mit  den  Lautsystemen  der  Naturvölker,  speziell  der  Polynesier,  die  H.  Gutz- 
mann  (Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie,  I,  1899,  S.  28  ff.)  als  beweisend 


314  Die  Sprachlaute. 


5.  Lautvertauschungen  und  Lautverstümmelungen 
in  der  Kindersprache. 

Sind  die  bisher  betrachteten  Eigenschaften  der  Kindersprache 
Wirkungen  des  Verkehrs  mit  der  Umgebung,  an  denen  diese  im  all' 
gemeinen  mehr  beteiligt  ist  als  das  Kind,  so  verhält  sich  dies  nun 
wesentlich  anders  bei  einer  letzten  Reihe  von  Erscheinungen,  die  so 
gut  wie  ausschließlich  in  dem  sprechenden  Kinde  selbst  ihre  Quelle 
haben:  das  sind  die  Lautvertauschungen  und  die  „Lautverstümme- 
lungen". Sie  sind  zugleich  diejenigen  Erscheinungen,  die  am  längsten 
andauern,  so  daß  ihre  letzten  Spuren  in  der  Regel  noch  zu  beobachten 
sind,  wenn  im  übrigen  eine  vollständige  Aneignung  der  Sprache  ein- 
getreten ist. 

Die  herrschende  Meinung  geht  dahin,  alle  diese  Lautverände- 
rungen seien  durch  das  Unvermögen  des  Kindes  bestimmte  Laute 
hervorzubringen  veranlaßt.  Das  Kind  substituiere  daher  regelmäßig 
dem  schwierigeren  Laut  einen  leichteren.  Fritz  Schnitze  suchte  das 
Prinzip  dieser  Substitution  auf  die  Regel  zurückzuführen,  für  den 
unaussprechbaren  Laut  setze  das  Kind  den  ihm  nächst  verwandten, 
mit  geringerer  physiologischer  Schwierigkeit  sprechbaren  ein,  und 
wenn  es  diesen  nicht  zu  beherrschen  vermöge,  so  lasse  es  den  Laut 


ansieht,  sind  dies  um  so  weniger,  als  die  Eigenschaften  und  die  genealogischen 
Zusammenhänge  der  polynesischen  Sprachen  annehmen  lassen,  daß  diese  dereinst 
ein  reicheres  Lautsystem  besaßen,  und  daß  sie  überhaupt  lautlich  sehr  starke 
Veränderungen  erfahren  haben.  (Fr.  Müller,  Expedition  der  Novara,  Linguistischer 
Teil,  1867,  S.  290.)  Auch  stehen  z.  B.  die  melanesischen  Sprachen  jedenfalls 
nicht  höher  in  ihrer  Entwicklung;  gleichwohl  sind  sie  verhältnismäßig  reich 
namentlich  auch  an  konsonantischen  Lauten.  (Vgl.  H.  C.  von  der  Gabelentz, 
Die  melanesischen  Sprachen,  I,  S.  253,  266.)  In  dem  lautgeschichtlich  am  zu- 
verlässigsten durchforschten  Gebiet  aber,  in  dem  der  indogermanischen  Sprachen, 
scheint  der  Lautbestand  der  uns  erreichbaren  Urzeit  nicht  ärmer,  sondern  reicher 
zu  sein  als  der  der  meisten  Sprachzweige,  die  aus  der  Ursprache  hervorgegangen 
sind.  Wenn  gewisse  Analogien  der  kindlichen  Sprache  mit  der  der  Naturvölker 
trotzdem  existieren,  so  liegen  sie,  wie  sich  später  zeigen  wird,  auf  einem 
ganz  andern  Gebiet:  auf  dem  der  Wort-  und  Satzfügung,  und  sie  lassen 
sich  nicht  aus  einem  „biogenetischen  Grundgesetz",  wohl  aber  aus  den 
allgemeinen  Eigenschaften  eines  unentwickelten  Bewußtseins  ableiten.  (Vgl. 
Kap.  VIL) 


Lautvertauschungen  und  Lautverstümmelungen  in  der  Kindersprache.   315 

ganz  weg^).  Dieser  Kegel  haben  andere  Beobachter  teils  zugestimmt, 
teils  widersprochen.  Im  ganzen  ist  aber  dabei  nicht  das  Prinzip  als 
solches,  sondern  nur  die  ihm  beigegebene  Eegel  beanstandet  worden^). 
Ich  bin  im  Gegenteil  geneigt,  dem  von  Schultze  aufgestellten  Satze, 
daß  bei  den  Lautumwandlungen  des  Kindes  die  Verschlußstelle  von 
hinten  nach  vorn  verlegt  wird,  von  den  gutturalen  und  palatalen  zu 
den  labialen  und  dentalen  Artikulationen,  eine  gewisse  Geltung  ein- 
zuräumen. Dagegen  glaube  ich,  daß  das  ziemlich  allgemein  angenom- 
mene Prinzip,  das  Kind  substituiere  überall  da  andere  Laute,  wo 
ihm  die  geforderten  unmöglich  oder  schwierig  sind,  nicht  aufrecht- 
erhalten werden  kann.  Diese  Annahme  wird,  wie  mir  scheint,  einfach 
dadurch  widerlegt,  daß  das  Kind  meistens  schon  in  den  Anfängen 
seiner  nachahmenden  Sprachbewegungen  im  vollen  Besitz  aller  der 
Artikulationen  ist,  die  zu  den  verschiedenen  Lautbildungen  erfordert 
werden,  indem  es  dieselben  fortwährend  in  den  der  eigentlichen  Sprache 
vorausgehenden  Gefühlslauten  verwendet.  Dazu  kommt,  daß  die 
gleichen  Laute  in  gewissen  Wörtern  vermieden  und  gleichzeitig  in 
andern  gebraucht  werden.  Das  nämliche  Kind,  welches  das  Kind 
,,Tind"  und  die  Pfeife  ,,Peipe"  nennt,  spricht  etwa  das  Wort  Gasse 
,,Gack"  und  Vater  ,,Faata''  aus.  Nicht  in  dem  Unvermögen,  die  Laute 
überhaupt  hervorzubringen,  sondern  in  andern  Bedingungen  müssen 
also  diese  Umwandlungen  ihren  Grund  haben.  In  der  Tat  ergibt  die 
Beobachtung  des  Kindes  selbst  und  die  nähere  Betrachtung  der  statt- 
findenden Lautumwandlungen  zwei  Bedingungen,  die  es  vollkommen 
begreiflich  machen,  daß  trotz  der  Fähigkeit,  die  geforderten  Laute 
zu  erzeugen,  mehr  oder  minder  eingreifende  Veränderungen  beim 
Nachsprechen  derselben  entstehen  müssen.  Die  erste  dieser  Be- 
dingungen besteht  in  der  unvollkommenen  akustischen  wie 
optischen  Apperzeption  der  Laute  und  Lautbewegungen, 
die  zweite  in  den  innerhalb  der  zusammenhängenden  Rede  ein- 
tretenden, beim  Kinde  wesentlich  gesteigerten  Kontaktwirkungen 
der  Laute. 


1)  Fritz  Schultze,  Die  Sprache  des  Kindes,  1880,  S.  34  ff. 
3)  So  besonders  von  Preyer,  Seele  des  Kindes,  3  S.  346,  434,  sowie  von 
W.  Ament,  Die  Entwicklung  von  Sprechen  und  Denken  usw.,  S.  65  ff. 


316  Die  Sprachlaute. 


Zunächst  wird  die  erste  Entstellung  nachalimender  Artikula- 
tionsbewegungen niclit  bloß  dadurch  bestimmt,  daß  die  Laute  gehört, 
sondern  wesentlich  auch  dadurch,  daß  die  Lautbewegungen  gesehen 
werden.  Blindgeborene  Kinder  beginnen  daher  viel  später  nachzu- 
sprechen als  sehende,  und  in  den  meisten  Fällen  sogenannter  „Hör- 
stummheit", bei  der  die  Entwicklung  der  Sprache  trotz  vorhandener 
Hörfähigkeit  und  anscheinend  zureichender  Intelligenz  ausbleibt, 
erweisen  sich  Defekte  des  Sehens  mindestens  als  mitbeteiligt^).  Solche 
Sehdefekte  hemmen  freilich  noch  aus  einem  andern  Grunde  die  Wort- 
nachahmung: sie  hindern  die  Assoziation  zwischen  Wort,  Gebärde 
und  Gegenstand.  Aber  eine  wichtige  Seite  dieses  hemmenden  Ein- 
flusses wird  man  immerhin  auch  darin  erblicken  müssen,  daß  der  von 
den  gesehenen  Artikulationsbewegungen  ausgehende  Antrieb  hin  weg- 
fällt. Beobachtet  man  doch  gerade  in  der  ersten  Zeit  der  Wortbildung, 
besonders  auch  bei  der  sogenannten  Echosprache,  daß  das  Kind  dem 
Sprechenden  aufmerksam  das  Wort  vom  Munde  abliest,  ehe  es  das- 
selbe wiederholt.  Es  ahmt  also  gleichzeitig  den  akustischen  und  den 
optischen  Eindruck  des  Wortes,  und  zunächst  sogar  vorzugsweise 
den  letzteren  nach,  da  die  gesehene  Artikulationsbewegung  einen  weit 
stärkeren  Impuls  zur  Mitbewegung  hervorbringt  als  der  gehörte  Laut. 
Hieraus  erklärt  sich  immittelbar  das  starke  Übergewicht  der  la- 
bialen und  dentalen  Laute  in  der  Kindersprache:  das  Kind 
ahmt  eben  vor  allem  diejenigen  Komponenten  der  Lautbewegungen 
nach,  die  es  sieht.  Erst  in  zweiter  Linie  steht  die  Ungenauigkeit  der 
Gehörswahrnehmung,  die  es  dann  freilich  mitbedingt,  daß  das  Kind 
lange  Zeit  bei  seinen  falschen  Artikulationen  verharrt.  In  dieser  Be- 
ziehung zeigt  sich  aber  beim  Kinde  nur  in  verstärktem  Maße,  was  wir 
fortwährend  auch  in  der  Kede  des  erwachsenen  Menschen  beobachten 
können,  wenn  dieser  Laute  nachbildet,  die  seinem  Sprachorgan  un- 
gewohnt sind.  Unsere  eingeübten  Wortvorstellungen  sind  Kompli- 
kationen   von    Lautempfindungen     und    Artikulationsempfindungen 


1)  A.  Liebmann,  Vorlesungen  über  Sprachstörungen,  Heft  3:  Hörstumm- 
heit, 1898,  S.  16.  Über  kindliche  Sprachstörungen  und  Sprachhemmungen  über- 
haupt vgl.  H.  Gutzmann,  Des  Kindes  Sprache  und  Sprachfehler,  1894.  Sprach- 
entwicklung des  ELindes  und  ihre  Hemmungen,   1902. 


Lautvertauschungen  und  Lautverstümmelungen  in  der   Kindersprache.    317 

und  die  Worteindrücke  werden  erst  von  dem  Augenblick  an  verhält- 
nismäßig treu  apperzipiert,  wo  ihnen  die  entsprechenden  Lautemp- 
findungen früherer  gleicher  Eindrücke  assimilierend  entgegenkommen, 
und  wo  sie  sich  zugleich  unmittelbar  mit  den  zu  ihnen  gehörigen  Ar- 
tikulationen assoziieren.  Darum  vermögen  wir  nur  solche  Sprach- 
laute vollkommen  richtig  zu  hören,  die  wir  auch  selbst  richtig  erzeugen 
können.  Wer  im  eigenen  Sprechen  das  linguale  mit  dem  gutturalen  r 
oder  die  Tenuis  mit  der  Media  verwechselt,  dem  entgehen  die  Unter- 
schiede meist  auch  beim  Hören  der  Laute.  Nicht  anders  verhält  es 
sich  bei  der  Aneignung  einer  fremden  Sprache,  die  darum  in  ihrem 
Lautcharakter  stets  nach  den  geläufigen  Lauten  der  eigenen  um- 
gemodelt wird.  Nun  sind  beim  Kinde  alle  diese  Assoziationen  von 
Laut-  und  Artikulationsempfindungen  noch  unausgebildet,  und  eben- 
so stehen  ihm  anfänglich  assimilierende  Wortgebilde  noch  nicht  oder 
nur  in  abgeänderter  Beschaffenheit  zu  Gebote.  Es  ist  daher  selbst- 
verständlich, daß  sich  die  Sprachlaute,  in  denen  es  die  unvollkommen 
gehörten  und  gesehenen  Laute  nachbildet,  nur  sehr  allmählich  mit 
der  Sprache  seiner  Umgebung  in  Einklang  setzen. 

Zu  den  abändernden  Einflüssen,  denen  der  einzelne  Laut  als 
solcher  unterworfen  ist,  kommen  aber  als  ein  zweites  die  Lautform 
wesentlich  bestimmendes  Moment  die  Kontaktwirkungen  der 
Laute,  die  durch  ihre  Verbindung  zu  zusammengesetzten  Wort- 
gebilden eintreten,  und  die  wiederum  nach  denselben  allgemein- 
gültigen Gesetzen  erfolgen,  nach  denen  wir  sie  überall  in  der  Sprache 
wirksam  finden,  denen  aber  allerdings  die  kindliche  Sprache  nicht 
nur  in  stärkerem  Grade,  sondern  auch  überwiegend  in  anderer  Rich- 
tung unterworfen  ist,  als  die  seiner  Umgebung.  Alle  diese  unter  den 
Bezeichnungen  der  „progressiven  und  regressiven  Assimilationen  und 
Dissimilationen"  bekannten  Wirkungen  werden  uns  als  normale  sprach- 
liche Erscheinungen  im  folgenden  Kapitel  näher  beschäftigen.  Hier 
sei  nur  soviel  bemerkt,  daß  sie  als  psychophysische,  gleichzeitig  auf 
Assoziationen  der  Lautvorstellungen  und  auf  mechanischen  Bedingungen 
der  Artikulationsbewegungen  beruhende  Vorgänge  zu  deuten  sind, 
die  sich  mit  der  Geschwindigkeit  des  Eedeflusses  steigern,  mit  der 
wachsenden  Übung  der  Artikulations-  und  der  ihnen  parallel  gehen- 
den Vorstellimgsbewegungen  aber  abnehmen.     Nun  besitzt  natürlich 


318  Die  Sprachlaute. 


das  Kind  diese  Übung  in  sehr  geringem  Maße,  und  auch  die  Vor- 
stellungsbewegung ist  bei  ihm  eine  verlangsamte  gegenüber  dem  nor- 
malen Bewußtsein.  Daraus  erklärt  sich,  daß  die  Sprache  des  Kindes 
geradezu  überfüllt  ist  mit  diesen  Kontaktwirkungen,  durch  welche 
die  Laute  einander  angeglichen  oder  durch  Dissimilation  gesondert 
oder  ganz  unterdrückt  werden.  Es  erklärt  sich  aber  aus  der  lang- 
sameren Vorstellungsbewegung  des  Kindes  insbesondere  auch  die 
andere  Tatsache,  daß  bei  ihm  die  progressiven  Assimilationen 
weitaus  überwiegen.  Aus  einer  großen  Zahl  hierher  gehöriger 
Beobachtungen  vermag  ich  nur  sehr  wenige  regressive  Assi- 
milationen anzuführen;  sie  sind  durchweg  zugleich  solche,  bei 
denen  ohnehin  die  Richtung  der  selbständigen  Lautvertauschung 
der  Veränderung  begünstigend  entgegenkommt.  So  wott  für 
fort,  Däthe  für  Käthe,  Nanone  für  Kanone.  Diesen  Bei- 
spielen steht  eine  große  Menge  progressiver  Assimilationen  teils 
für  sich  teils  mit  Lautvertauschungen  und  Dissimilationen 
vermischt  gegenüber,  z.  B.  Nana  für  Nase,  Tata  für  Tante,  Munn 
für  Mund,  Nann  für  Nacht,  Gag  für  Kleid,  Guga  für  Kuchen, 
Dedde  für  Decke,  Bebe  für  Besen,  Bübü  für  Bücher,  Bihhe  für  Bitte, 
Joj  für  Schoß,  Auau  für  Auge,  Mormor  für  Morgen,  Dodanana  für 
Promenade  usw.  Die  Assimilationen  sind,  wie  man  sieht,  bald  konso- 
nantische, bald  vokalische,  am  häufigsten  aber  beides  zugleich,  während 
nicht  selten  außerdem  Dissimilationen  mitspielen.  Letztere  kommen 
übrigens  auch  gelegentlich,  namentlich  bei  dem  Zusammentreffen 
von  Konsonanten,  für  sich  allein  vor:  so  in  Faata  für  Vater,  Aam  für 
Arm,  Baat  für  Bart.  Jenes  Überwiegen  der  progressiven  Assimilation 
ist  besonders  deshalb  bemerkenswert,  weil  in  allen  Kultursprachen 
indogermanischer  und  semitischer  Herkunft  überwiegend  die  um- 
gekehrte, regressive  Form  der  Assimilation  vorkommt,  während  in 
andern  Sprachen,  z.  B.  in  den  ural-altaischen,  ähnlich  wie  beim  Kinde, 
die  progressive,  und  zwar  vorzugsweise  die  vokalische  vorherrscht. 
Die  Erklärung  dieser  Erscheinungen  wird  uns  später  beschäftigen. 
Hier  mußten  sie  nur  als  diejenigen  Momente  hervorgehoben  werden, 
die  vor  allem  andern  die  Lautabweichungen  der  Kindersprache  be- 
dingen. Zugleich  sieht  man  unmittelbar  an  den  obigen  Beispielen, 
wie  sehr  diese  Erscheinungen  die  der  Kindersprache  eigenen  Laut- 


Primäre  und  sekundäre  Interjektionen.  319 

Wiederholungen  begünstigen.  Indem  die  vorangehende  Silbe  auf  die 
nachfolgende  assimilierend  einwirkt,  bringt  sie  eben  ohne  weiteres 
eine  Lautwiederholung  hervor. 


III.  Naturlaute  der  Sprache  und  ihre  Umbildungen. 

1.  Primäre  und  sekundäre  Interjektionen. 

„Naturlaute"  nennen  wir,  wenn  der  Begriff  im  Zusammenhange 
mit  dem  des  Sprachlauts  und  zugleich  im  Gegensatze  zu  diesem  ge- 
braucht wird,  alle  Stimmlaute  der  Tiere  und  des  Menschen,  die  der 
Wortsprache  vorausgehen  oder  als  Überlebnisse  eines  vorsprach- 
lichen Zustandes  in  sie  hineinreichen.  In  diesem  Sinne  sind  die  sämt- 
lichen natürlichen  Stimmlaute  der  Tiere  und  die  Lautäußerungen  des 
Kindes,  bevor  es  zu  sprechen  anfängt,  Naturlaute.  Das  Kind,  nach- 
dem es  sprechen  gelernt  hat,  fährt  fort,  seine  lebhafteren  Gefühle 
in  ihnen  zu  äußern.  Beim  entwickelten  Menschen  treten  sie  zurück: 
sie  werden  mehr  und  mehr  von  der  Sprache  verdrängt,  indem  auch 
die  lebhafteren  Gefühle  allmählich  in  sprachliche  Formen  eingekleidet 
werden.  Doch  ganz  verschwinden  sie  niemals.  Vielmehr  dauern  sie 
in  den  beiden  Gattungen  fort,  in  die  sie  sich  schon  bei  manchen  Tieren 
und  beim  Kinde  in  den  ersten  Lebenswochen  geschieden  haben:  als 
unartikulierte  Schreilaute,  die  sich  allerdings  beim  erwachsenen 
Menschen  durchgehends  auf  die  äußersten  Grade  des  Schmerzes  oder 
allenfalls  noch  der  Wut  oder  des  Jubels  einschränken,  und  als 
artikulierte  Gefühlslaute,  die  im  ganzen  mäßigere  Gefühle 
ausdrücken,  infolge  der  fortschreitenden  Ablösung  durch  die 
Sprache  aber  ebenfalls  seltener  und  auf  intensivere  Gefühle  zurück- 
gedrängt werden. 

Die  stehen  gebliebenen  Keste  dieser  reinen  Naturlaute  sind  die 
primären  Interjektionen.  „Primär'*  wollen  wir  sie  nennen,  weil 
sie  die  ursprünglichsten  sind,  und  weil  sie  den  Charakter  von  Natur- 
lauten vollständig  bewahrt  haben.  Mit  der  eigentlichen  Sprache  in 
gar  keiner  inneren  Verbindung  stehend,  bilden  sie  gleichsam  ver- 
einzelte Trümmer  einer  vorsprachlichen  Stufe,  die  den  Zusammen- 


320  Die  Sprachlaute. 


hang  der  Rede  unterbreclien.  Dahin  gehören  Laute  wie  im  Deutschen 
oA,  achy  ah,  au,  weh,  ha,  he,  ei,  juhe.  Rufe,  die  in  den  Sprachen  der 
modernen  Kulturvölker  nur  gering  an  Zahl  sind,  im  Griechischen 
und  Lateinischen  aber  in  mannigfaltigeren  Abstufungen  vorkommen 
und,  wie  es  scheint,  häufiger  gebraucht  wurden.  So  hat  das  Latei- 
nische als  Rufe  der  Freude  io,  iu,  ha,  euoe,  des  Schmerzes  vae,  heu, 
eheu,  ohe,  au,  der  Verwunderung  o,  en,  ecce,  hui,  hem,  vah,  des  Zurufs 
heus,  o,  eho,  froh,  die  sämtlich  in  die  Literatursprache,  namentlich 
der  Komödiendichter,  übergangen  sind,  und  wozu  gelegentlich  auch 
noch  andere,  mehr  zufällige  Gefühlslaute  kommen,  die  kein  festes 
Bürgerrecht  in  der  Sprache  erworben  haben.  Denn  gerade  dieses  Ge- 
biet ist  momentanen  Neubildungen  besonders  zugänglich.  Auch  die 
Sprachen  primitiver  Kulturvölker  sind  reich  an  primären  Interjek- 
tionen^). Dabei  tragen  alle  diese  Gefühlslaute  in  den  verschiedensten 
Sprachen  namentlich  insofern  einen  verwandten  Lautcharakter, 
als  die  Naturlaute  für  heftige  erregende  Affekte  die  hohen,  solche 
für  deprimierende  Gefühle  die  tieferen  Vokalklänge  enthalten.  Doch 
ist  es  sichtlich  nicht  sowohl  die  Kultur  an  sich,  die  diese  Zahl  all- 
mählich beschränkt,  als  vielmehr  die  von  der  Sitte  gebotene  Mäßigimg 
der  Affektäußerungen.  Der  antike  Mensch  gibt  seine  Freude  wie  seinen 
Schmerz  ungehemmter  in  Gebärden  wie  Lauten  kund.  So  werden 
bekanntlich  die  Helden  Homers  gelegentlich  schreiend  und  laut  jam- 
mernd geschildert,  wobei  es  freilich  der  epische  Dichter  meist  dem 
Hörer  überläßt,  sich  die  Laute  hinzuzudenken.  Auf  der  Bühne,  wo 
die  Handlung  nicht  bloß  erzählt,  sondern  unmittelbar  vorgeführt 
wird,  äußern  die  tragischen  Helden  ihren  Schmerz  in  Lauten,  die  zu 
einem  großen  Teil  dem  Gebiete  beliebig  wechselnder  primärer  Interjek- 


1)  In  W.  von  Humboldts  Werk  über  die  Kawi- Sprache  (ergänzt  von 
Buschmann,  HI,  S.  982)  sind  aus  dem  Tongischen  10,  aus  dem  Tahitischen  8 
primäre  Interjektionen  aufgeführt.  Ungefähr  die  gleiche  Zahl  erreicht 
Riggs  in  der  Dakota- Sprache  (Contributions  to  the  North  American  Ethnol. 
Vol.  IX,  1893,  p.  54),  wobei  es  freilich  im  letzteren  Falle  zweifelhaft  ist, 
ob  nicht  einige  von  sekundärer  Natur  darunter  sind.  Vgl.  auch  Steinthals  Ver- 
zeichnis der  Interjektionen  in  den  Mande-Negersprachen,  S.  132,  184, 
Leider  sind  in  den  meisten  neueren  Wörterverzeichnissen  und  Grammatiken 
von  Sprachen  der  Naturvölker  die  Interjektionen  wenig  oder  gar  nicht  berück- 
sichtigt. 


Primäre  und  sekundäre  Interjektionen.  321 


tionen  angehören,  wie:  «TrorTra?,  jfaTTaTCTtaTCaTCTta-TcaTCTTauajtocly  ho 
aTTazccl  usw.  (Sophokles,  Philoktet,  742 — 800).  Der  heutige  Über- 
setzer ist  nicht  mehr  imstande,  diese  Schmerzenslaute  treu  wieder- 
zugeben; er  sieht  sich  genötigt,  sie  teilweise  in  Sätze  zu  übertragen, 
wie:  „o  weh  mir  Armen",  ,,o  Schmerz"  u.  dgl.  Hierin  spiegelt  sich 
aber  ein  Vorgang,  der  wahrscheinlich,  solange  die  Sprache  besteht, 
wirksam  gewesen  ist:  der  allmähliche  Ersatz  der  primären  durch 
sekundäre  Interjektionen,  wobei  wir  mit  dem  letzteren  Namen 
diejenigen  reinen  Gefühlsäußerungen  bezeichnen  wollen,  die  in  andere 
sprachliche  Formen  eingekleidet  werden.  Dahin  gehören  also  Rufe 
wie:  ,^Z€v'\  ,,me  hercle",  ,,apage",  ,,mein  Gott",  ,,mein  Himmel", 
,, Jesus  Maria",  ,, Donnerwetter",  ,, Blitz"  usw.,  sowie  die  aus  solchen 
Wörtern  und  aus  primären  Interjektionen  zusammengesetzten  Gebilde 
wie:  ,,0  Himmel",  ,, potztausend",  ,,ach  Gott".  Wenn  wir  die  Sprache 
der  griechischen  und  römischen  mit  der  unserer  heutigen  Dramatiker, 
selbst  solcher  vergleichen,  die  beflissen  sind,  die  Redeweise  des  ge- 
wöhnlichen Lebens  so  naturgetreu  wie  möglich  abzuschildern,  so  ge- 
winnt man  den  Eindruck,  daß  sich  bei  dem  modernen  Menschen  der 
Naturlaut  des  Gefühls  durch  zunehmende  assoziative  Übertragung 
mehr  und  mehr  in  Worte  umgesetzt  hat.  Hierdurch  erklärt  es  sich, 
daß  in  den  modernen  Sprachen  die  Zahl  der  primären  Interjektionen 
eine  außerordentlich  spärliche  geworden,  daß  aber  die  der  sekundären 
um  so  mehr  gewachsen  ist.  Dieser  Prozeß  ist  vermutlich  noch  nicht 
abgeschlossen.  Denn  sollten  auch  die  primären  Interjektionen  etwa 
schon  auf  dem  für  sie  erreichbaren  Minimalstand  angelangt  sein,  so 
werden  doch  sekundäre  immer  wieder  neu  geschaffen,  und  jedes  Zeit- 
alter gibt  ihnen  sein  eigenes  Gepräge.  Das  Altertum  ruft  die  Götter 
an,  das  Mittelalter  setzt  die  Personen  der  heiligen  Familie  und  der 
Heiligen  an  deren  Stelle.  In  beiden  Fällen  sind  es  offenbare  Gebets- 
formeln, die  zuerst  zu  Flüchen  und  dann  zu  unbestimmteren  Inter- 
jektionen geworden  sind.  Bei  dem  modernen  Menschen  endlich  sind 
es  Wettererscheinungen  und  Zahlen  —  die  letzteren  natürlich  von 
Geldwerten  herstammend  —  die  für  sich  allein  oder  mit  Fragmenten 
der  früheren  Formeln  gemischt  die  Stelle  der  Götter  und  Heiligen 
einnehmen.  So  in  Ausdrücken  wie:  ,, Donnerwetter",  ,,alle  Hagel", 
,, potztausend",   „Kreuzdonnerwetter"   und  ähnlichen. 

Wundt,  Völkerpsychologie.    I.    4.  Aufl.  "^ 


322  I>ie  Sprachlaute. 


2.  Wortformen  mit  Affektbetonung:  Vokativ  und  Imperativ. 

An  die  sekundäre  Interjektion  schließt  sich,  gewissermaßen  als 
eine  auf  eine  bestimmte  Vorstellung  bezogene  Unterform  derselben, 
der  sprachliche  Ausdruck  des  Vokativs  an.    Mit  Recht  haben  schon 
die  alten  Grammatiker  ihn  für  keinen  echten  Kasus  gehalten.    Er  ist 
im  Grunde  nichts  anderes  als  der  interjektional  verwendete,  entweder 
mit  einem  interjektionalen  Zeichen  allgemeinerer  Art  versehene  oder 
auch   nur    von    der    entsprechenden    Betonung     begleitete   Nominal- 
stamm.   Wenn  ich  ,,Karr'  rufe,  um  entweder  einer  Person  mit  Namen 
Karl    meine    Verwunderung    oder    meine    Mißbilligung    oder    meinen 
Wunsch,  daß  sie  stillstehe,  auszudrücken,  so  ist  die  Bedeutung  des 
Wortes  keine  andere  als  die  der  Interjektionen  oh  oder  eh  oder  he, 
mit  dem  einen  Unterschiede,  daß  dort  die  Interjektion  gleichzeitig 
eindeutiger   und   vieldeutiger   geworden   ist:    eindeutiger   hinsichtlich 
der  Person,  auf  die  sie  sich  bezieht,  vieldeutiger  hinsichtlich  der  Ge- 
fühle, die  sie  ausdrückt.     Solange  wir  uns  der  allgemeinen  Interjek- 
tionen  bedienen,   wenden   wir   für   Freude,   Verwunderung,    Schmerz 
usw.  verschiedene  Laute  an.   Hier  dagegen  kann  das  eine  Wort  ,,Karr' 
alle  diese  Gefühle  ausdrücken.   Freilich  mindert  sich  auch  dieser  Unter- 
schied dadurch,  daß  die  Tonmodulation,  in  der  das  Wort  gesprochen 
wird,  jene  Anlässe  ziemlich  treu  widerspiegelt.     Wie  ein  Eigenname, 
so  können  dann  aber  auch  andere  Wörter,  die  irgendeine  das  Gefühl 
erregende  Vorstellung  bezeichnen,   die   Stelle  einer  Interjektion  ein- 
nehmen.   So  wenn  im  Kriege  der  Kuf  ,,der  Feind"  den  plötzlich  wahr- 
genommenen  Anmarsch   feindlicher   Truppen   ankündigt,   oder  wenn 
jemand  bei  den  entsprechenden  Anlässen  ,, Feuer' ',  ,, Diebe",  ,, Mörder" 
ruft.    So  trägt  denn  auch  der  Vokativ  überall  da,  wo  er  in  der  Sprache 
einen  besonderen  Ausdruck  gefunden  hat,  diesen  Charakter  einer  an 
eine  konkrete  Vorstellung  gebundenen  Interjektion  an  sich.     In  den 
indogermanischen    Sprachen   geschieht   dies   häufig   durch   das   Vor- 
rücken des  Akzents  auf  die  Anfangssilbe.    So  wird  jiaTiJQ  zu  jtclteq, 
altind.  JDiyäHS  (Zeug)  zu  Diyäus,  usw.     Umgekehrt  kann  aber  auch 
die  interjektionale  Betonung  dadurch  bewirkt  werden,  daß  die  letzte 
Silbe  verlängert  wird  oder  der  Akzent  auf  sie  rückt,  oder  auch  indem 


Wortformen  mit  Affektbetonung:  Vokativ  und  Imperativ.  323 

besondere  interjektionale  Elemente  dem  Wort  angehängt  oder  voran- 
gestellt werden^).  Manche  Sprachen,  wie  z.  B.  das  Litauische,  be- 
sitzen diese  letztere,  übrigens  auch  anderwärts  der  Volkserzählung 
zukommende  Eigenschaft  in  hohem  Maße.  Dabei  wird  dann  stets 
die  Interjektion  mit  einem  irgendeinen  Vorgang  schildernden  Verbum, 
als  eine  Gefühlsverstärkung  desselben,  verbunden  2).  Wenn  in  andern 
Fällen  solche  spezifische  Eufformen  keinen  besonderen  grammatischen 
Ausdruck  gefunden  haben,  so  ist  das  wahrscheinlich  nur  ein  schein- 
barer Mangel,  da  unwillkürlich  bald  die  Anfangs-,  bald  die  End- 
silbe oder  auch,  bei  einsilbigen  Wörtern,  das  ganze  Wort  stärker 
betont  wird.  Wir  rufen  Feuer,  Diebe,  Otto  oder  Otto,  Marie  oder 
Marie  usw. 

Man  hat  solche  E-ufformen  als  abgekürzte  Sätze  betrachtet,  bei 
denen  das  gerufene  Wort  Subjekt,  das  Prädikat  aber  aus  der  gesamten 
Situation  zu  ergänzen  sei.  Der  Euf  ,,Karr'  oder  ,, Feuer"  bedeute 
etwa  ,,Karl  komm  hierher"  oder  ,,es  ist  Feuer  ausgebrochen"  usw.^). 
Nun  mag  es  sein,  daß  jemand  mit  dem  Ruf  wirklich  einen  solchen 
Wunsch  verbindet.  Doch  selbst  in  diesen  Fällen  dürfen  wir  nicht  über- 
sehen, daß  die  Übertragung  in  einen  Satz  immer  eine  logische  Inter- 
pretation bleibt,  die  den  psychologischen  Zustand  des  Bewußtseins 
deshalb  nicht  getreu  wiedergibt,  weil  auch  dann,  wenn  die  Inter- 
pretation richtig  ist,  der  Satz  nicht  im  entwickelten,  sondern  im  un- 


1)  So  wurden  nach  den  Angaben  der  indischen  Grammatiker  die  Endungen 
-ä,  -äi,  -äu  im  Vokativ  auf  drei  Moren  gedehnt.  (Jak.  Wackernagel,  Altindische 
Grammatik,  I,  1896,  S.  297  ff.)  Auch  die  besonders  in  Personennamen 
häufig  vorkommende  Gemination  eines  Konsonanten  inmitten  des  Wortes 
ist  nach  Brugmanns  Vermutung  aus  einer  ursprünglich  nur  im  Vokativ 
vorhandenen  Lautverstärkung  zu  erklären,  die  dann  auf  die  übrigen  Kasus 
überging,  wie  in  griech.  <PiV,iog,  .lat.  Gracchus,  Varro,  Mummius,  ahd. 
Aggo,  Uta. 

2)  Leskien,  Indogermanische  Forschungen  herausgeg.  von  Brugmann 
und  Streitberg,  Bd.  13,  S.  165  ff.  In  gewissem  Grad  ist  diese  Unterbrechung 
durch  Interjektionen  eine  allgemein  verbreitete,  den  Ausdruck  belebende  Er- 
scheinung innerhalb  der  Volkserzählung,  z.  B.  „bums,  da  lag  er",  —  ,, patsch, 
da  war  er  gefangen"  u.  dgl.  Auch  darin  bewährt  sich  hier  die  Interjektion  als 
ein  Ausdruck  des  Affekts,  daß  sie  verschwindet,  sobald  die  Erzählung  einen 
ruhigen,  epischen  Stil  annimmt. 

3)  Paul,  Prinzipien  der  Sprachgeschichte,   *  S.   130. 

21* 


324  Die  Sprachlaute. 


entwickelten  Zustand  im  Bewußtsein  steht,  als  eine  Gesamtvorstellung, 
die  sich  nur  in  bezug  auf  die  im  Ruf  ausgedrückten  Bestandteile  ge- 
gliedert hat^).  Der  Ausdruck  dieser  Bestandteile  ist  aber  durch  den 
hinzutretenden  Affekt  bestimmt,  der  den  Ruf  zugleich  zu  einer  be- 
sonders gearteten  Interjektion  macht.  Als  solche  zeichnet  ihn  nur 
der  außerdem  vorhandene  Vorstellungsinhalt  aus,  durch  den  er  even- 
tuell in  einen  Satz  übergehen  kann,  ohne  darum  doch  selber  ein  Satz 
zu  sein. 

Eine  Strecke  näher  auf  dem  Wege  vom  Naturlaut  zum  Satze 
stehen  dem  letzteren  die  eigentlichen  Imperative,  zu  denen  unter 
den  obenerwähnten  Wortverbindungen  schon  diejenigen  gezählt 
werden  können,  die  irgendeiner  bestimmt  gerichteten  Aufforderung 
dienen.  Umgestaltungen  der  Lautform  von  interjektionalem  Charakter 
zeigt  allerdings  der  Imperativ  im  ganzen  seltener  als  der  Vokativ. 
Bald  kommen  bei  ihm  Lautverkürzungen,  bald  interjektionale  Präfixe 
oder  Suffixe  vor^).  Gleichwohl  nimmt  er  unter  den  Verbalformen 
eine  durchaus  analoge  Stellung  wie  der  Vokativ  unter  den  Nominal- 
bildungen ein.  Auch  er  ist  ein  Ausdruck  einer  interjektional  betonten 
konkreten  Vorstellung.  Doch  bringt  der  Charakter  der  Verbalbegriffe 
einen  gewissen  Unterschied  mit  sich.  Eine  gegenständliche  Vorstellung 
kann  im  allgemeinen  in  sehr  wechselnden  Gedankenverbindungen 
vorkommen.  Jene  nachträgliche  grammatische  Interpretation,  die 
zu  einem  interjektional  gebrauchten  Gegenstandsbegriff  einen  Satz 
ergänzt,  ist  daher  vieldeutig,  und  dem  entspricht  in  den  meisten  Fällen 
die  Bewußtseinslage  dessen,  der  die  nominal  geformte  Interjektion 
gebraucht.  Anders  bei  dem  Verbalbegriff.  Die  Handlung,  die  er  aus- 
drückt, ist  in  dem  Augenblick  der  Anwendung  des  Wortes  in  der  Regel 
eindeutiger  Art;  und  wo  die  Verbalvorstellung  ohne  alle  Zeitbeziehung, 
aber  versehen  mit  dem  interjektionalen  Akzent  auftritt,  da  ist  darum 


')  Vgl.  Kap.  VII,  Nr.  1,  5. 

■^)  So  noch  im  Deutschen,  z.  B.  bliuwä  herre  bliu  („schlag  zu,  o  Herr,  schlag 
zu'*),  wo  bliuwä  eine  Erweiterung  der  2.  Pers.  Sing,  durch  die  Interjektion  ä 
ist.  (Weinhold,  Mittelhochdeutsche  Grammatik,  2  1883,  S.  345.)  In  den  Sprachen 
der  Naturvölker  finden  sich  vielfach  analoge  Erscheinungen.  (Vgl.  z.  B.  Hum- 
boldt, Kawi- Sprache,  III,  S.  872  f.) 


Naturlaute  als  Grundbestandteile  von  Wortbildungen.  325 


auch  der  mit  ihr  im  Bewußtsein  des  Redenden  verbundene  weitere 
Vorstellungsinhalt  in  diesem  unmittelbarer  gegenwärtig  und  von 
dem  Hörenden  unzweideutiger  zu  ergänzen  als  im  vorigen  Falle.  Zu- 
rufe wie  „gib",  „komm",  „geh",  ,, bring",  ,,hilf"  usw.  pflegen  uns 
daher  schon  vollständig  als  Äquivalente  von  Sätzen  zu  gelten.  Sie 
sind  das  freilich  genau  genommen  auch  nicht.  Doch  in  dem  allmäh- 
lichen Übergange  von  der  reinen  Interjektion  zum  ausgebildeten  Satze 
bezeichnen  sie  immerhin  wegen  der  prädizier enden  Funktion,  die  dem 
Verbum  anhaftet,  eine  letzte  Stufe,  Den  verbalen  Imperativen  stehen 
dann  aber  gewisse  befehlend  gebrauchte  Adverbien  oder  adverbiale 
Nominal  Verbindungen  gleich,  denen  nach  ihrer  eigenen  Natur  oder 
vermöge  der  Situation,  in  der  sie  vorkommen,  der  ergänzende  Verbal- 
begriff eindeutig  zugeordnet  ist,  wie  ,,zu  Hilfe",  ,, herbei",  ,,fort", 
,, hinweg"  u.  a.  Ihrer  psychologischen  Bedeutung  nach  sind  alle  diese 
Redeformen  sekundäre  Interjektionen.  Als  solche  sind  sie  Glieder 
einer  Entwicklung,  die  in  dem  Moment  beginnt,  wo  der  in  der  Inter- 
jektion ursprünglich  ausgedrückte  Naturlaut  mit  der  Sprache  in  Wech- 
selwirkung tritt,  indem  er  Wörter  der  Sprache  in  Interjektionen  um- 
wandelt und  diese  dann  wiederum  allmählich  in  Sätze  einfügt.  Der 
Endpunkt  dieser  Entwicklung  ist  naturgemäß  da  gegeben,  wo  die 
Interjektion  auch  im  sprachlichen  Ausdruck  zu  einem  vollständigen 
Satze  geworden  ist. 


3.  Naturlaute  als  Grundbestandteile  von  Wortbildungen. 

Neben  dem  Übergange  der  Interjektion  aus  ihrer  primären  in 
diese  sekundären  Formen  gibt  es  noch  einen  zweiten  Weg,  auf  dem 
der  Naturlaut  Eingang  in  die  Sprache  finden  kann.  Er  besteht  darin, 
daß  ein  solcher  unmittelbar  von  der  Sprache  aufgenommen  und  in 
sprachliche  Formen  gekleidet  wird,  so  daß  er  wie  eine  Wurzel  erscheint, 
die  einer  Wortbildung  oder  einer  Reihe  von  Wortbildungen  zugrunde 
liegt.  Die  primäre  Interjektion  ist  demnach  Ausgangspunkt  zweier 
divergierender  Entwicklungen:  auf  der  einen  Seite  assimiliert  der 
natürliche  Gefühlslaut  vorhandene  Wörter  der  Sprache,  mit  denen  er 
sich  zuerst  verbindet,  um  dann  ganz  in  ihnen  unterzugehen;  auf  der 


326  I>ie  Sprachlaute. 


andern  Seite  geht  er  selbst  in  die  Sprache  über  und  wird  Anlaß  zu 
Wortbildungen,  die  in  ihrer  Bedeutung  den  an  die  Gefühlslaute  ge- 
bundenen Vorstellungen  entsprechen.  Im  ersten  Falle  wird  der  Natur- 
laut durch  das  Wort  verdrängt,  das  psychologisch  ihm  äquivalent 
geworden  ist;  im  zweiten  dringt  er  umgekehrt  in  das  Wort  ein  und 
verliert  dadurch  seinen  ursprünglichen  Gefühlswert,  um,  gleich  andern 
Wortbildungen,  eine  objektive,  begriffliche  Bedeutung  anzunehmen. 
Die  Zahl  der  so  an  der  Wortbildung  teilnehmenden  Naturlaute  scheint 
in  den  einzelnen  Sprachen  eine  sehr  verschiedene  zu  sein.  Am  all- 
gemeinsten ist  dieser  Übergang  bei  denjenigen  Interjektionen,  die 
lediglich  Ausdruckslaute  von  Gemütserregungen  sind,  wie  im  griech. 
oXoXvl^co  (heule),  aid^^o),  axofiai  (ächze),  ala?<.a^co  (schreie,  haupt- 
sächlich vom  Kampfgeschrei  gebraucht),  oder  im  lat.  ukilare  (heulen), 
jubilare  (jubeln),  ejulare  (jammern);  ebenso  im  Deutschen  die  Verba 
heulen,  ächzen,  das  Substantivum  Weh  mit  seinen  Ableitungen  (weh- 
klagen, Wehgeschrei  u.  a.).  Manche  dieser  Ableitungen  sind  alt,  wie 
das  deutsche  heulen  (ahd.  hiuwüdn,  eigtl.  ,, jubeln"),  und  es  kann  dann 
natürlich  die  Entstehung  aus  einer  Interjektion  einigermaßen  fraglich 
sein;  in  andern  Fällen,  wie  bei  ächzen  und  Weh,  handelt  es  sich  um 
neue  Wortbildungen,  denen  die  entsprechenden  Gefühlslaute  jeden- 
falls lange  vorausgegangen  sind.  In  noch  andern  kann  sich  die  Inter- 
jektion auf  einen  objektiven  Vorgang  beziehen  und  mit  einem  ono- 
matopoetischen Verbum  in  Zusammenhang  stehen,  wie  paff  mit 
paffen,  plumps  mit  plumpsen  u.  ä.  Auch  hier  ist,  da  es  sich  meist  um 
neue  Wortbildungen  handelt,  wohl  in  der  Regel  die  Interjektion  früher 
als  das  Verbum  i). 


1)  Einen  Beleg  für  diese  meist  anzunehmende  Priorität  der  Interjektion 
bildet  wohl  auch  die  Tatsache,  daß  z.  B.  das  Litauische,  das,  wie  oben  (S.  323) 
bemerkt,  in  der  Erzählung  die  interjektionalen  Zwischenrufe  oft  im  Übermaß 
zeigt,  besonders  reich  an  onomatopoetischen  Verben  ist.  Vgl.  das  Verzeichnis 
bei  Leskien,  a.  a.  O.  S.  183  ff.  Ein  Beispiel  aus  einem  weit  entfernten  Sprach- 
gebiet ist  ferner  das  Runa  simi  oder  Keshua  (Peru),  das  eine  Fülle  von  primären 
Interjektionen  besitzt,  aus  deren  jeder  mit  Hilfe  des  Verbums  niy  „sagen"  ein 
zusammengesetztes  Verbum  gebildet  werden  kann,  das  ,, jammern",  „überrascht 
sein"  usw.  ausdrückt  (Middendorf,  Das  Runa  simi  oder  die  Keshua -Sprache, 
1890,  S.  125  f.),  eine  Erscheinung,  in  der  sich  offenbar  eine  analoge  Verbindung, 
wie  wir  sie  in  unserm  Verbum  „wehklagen"  besitzen,  in  weiterer  Ausdehnung 
wiederholt. 


Naturlaute  als  Grundbestandteile  von  Wortbildungen.  327 

Abgesehen  von  der  immerhin  im  allgemeinen  beschränkten  An- 
zahl von  Wörtern,  die  mit  primären  Interjektionen  zusammenhängen, 
kann  nun  aber  die  Frage  entstehen,  ob  nicht  auch  solche  Gefühls- 
laute, die,  ohne  der  Klasse  der  allgemein  verbreiteten  Interjektionen 
anzugehören,  unter  besonderen  Bedingungen  als  Gefühlsäußerungen 
vorkommen,  auf  gewisse  Wortbildungen  eingewirkt  haben.  In  der 
Tat  gibt  es  ein  Wortpaar,  für  das  ein  solcher  Ursprung  mit  großer 
Wahrscheinlichkeit  angenommen  werden  kann:  das  ist  die  Benennung 
von  Vater  und  Mutter.  Hier  hat  schon  im  18.  Jahrhundert  de  la 
Condamine^)  auf  die  weite  Verbreitung  von  Namen,  die  unsem  Kin- 
derlauten Papa  und  Mama  ähnlich  sind,  hingewiesen.  Eine  umfassende 
Zusammenstellung  solcher  Namen  hat  dann  Buschmann  in  seiner 
Schrift  „Über  den  Naturlaut"  gegeben.  Sie  erstreckt  sich  über  eine 
große  Zahl  der  verschiedensten  Sprachen  von  Natur-  wie  Kultur- 
völkern^). Buschmann  unterscheidet  für  die  Benennung  des  Vaters 
die  vier  typischen  Laute:  fa,  ap,  ta,  at,  für  die  der  Mutter:  wm,  am, 
na,  an  —  Laute,  die  sich  in  den  Einzelsprachen  in  verschiedenen  Modi- 
fikationen finden,  wie  z.  B.  pa  in  den  Formen  ba,  ho,  fa,  hi,  hau  usw. 
Außerdem  können  sie  entweder  in  dem  Zustande  des  unveränderten 
Naturlauts  vorkommen,  wie  in  dem  Papa  und  Mama  unserer  Kinder- 
sprache, oder  sie  können  von  der  Sprache  assimiliert  sein,  wie  in  Vater 
und  Mutter.  Sicherlich  würde  sich  das  von  Buschmann  mitgeteilte, 
mehr  als  zweihundert  Einzelsprachen  umfassende  Verzeichnis  heute 
bedeutend  vervollständigen  und  teilweise  berichtigen  lassen;  das  all- 
gemeine Ergebnis  würde  dadurch  keine  nennenswerte  Veränderung 
erfahren.  Daß  man  in  einem  solchen  Zusammentreffen  ein  Werk  des 
Zufalls  vor  sich  habe,  ist  aber  ausgeschlossen.  Die  auf  Grund  der 
Theorie  der   Ableitung  aller  Wörter  aus   Begriffswurzeln   versuchte 


1)  Voyage  dans  Tlnt^rieur  de  l'Amerique  m6ridionale,  1745. 

2)  Über  den  Naturlaut.  Berlin  1853.  Über  die  Namen  für  Vater  und  Mutter 
in  den  indogermanischen  Sprachen  handelt  außerdem  Delbrück,  Abh.  der  sächs. 
Ges.  d.  Wiss.  Phil. -bist.  Kl.  Bd.  11,  S.  381  ff.  Eine  vergleichende  Zusammen- 
stellung aus  verschiedenen  Sprachgebieten  folgt  unten  (4  a).  Eine  nach 
Koelles  Polyglotta  Africana  und  andern  Quellen  verfaßte  Tabelle  teilt 
John  Lubbock  mit  (Die  Entstehung  der  Zivilisation,  deutsche  Ausg.  1875, 
S.  354  ff.). 


328  Die  Sprachlaute. 


Zurückführimg  unseres  Vater-  und  Mutternamens  auf  gewisse  all- 
gemeinere Begriffe,  wie  die  des  ,,Bescliützens"  und  des  ,,Ernährens", 
müßte  daher,  auch  wenn  sie  im  übrigen  psychologisch  haltbar  wäre, 
gegenüber  diesem  offenkundigen  Zusammenhang  mit  bestimmten 
Naturlauten  abgelehnt  werden^).  Die  Naturlaute,  um  die  es  sich 
hier  handelt,  unterscheiden  sich  aber  von  den  oben  betrachteten  pri- 
mären Interjektionen  wesentlich  dadurch,  daß  sie  im  Vergleich  mit 
diesen  in  ihrem  Gefühlscharakter  indifferent  sind.  Als  Interjektionen 
kommen  Laute  wie  fa,  ta,  ma  usw.  wohl  nur  ausnahmsweise  vor. 
Dagegen  gehören  sie  zu  den  frühesten  Lailauten  des  Kindes  in  dem 
die  eigentliche  Sprachbildung  vorbereitenden  Stadium  und  dabei 
zugleich  zu  denjenigen  Lauten,  die  das  Kind  aus  den  oben  (S.  315  f.) 
angeführten  Gründen  bei  der  Nachahmung  von  Lautartikulationen 
am  frühesten  verwendet.  Demnach  dürfen  wir  schließen,  daß,  wie 
überall,  so  auch  hier  diesen  Lauten  nicht  vom  Kinde  selbst, 
sondern  von  seiner  Umgebung  ihre  Bedeutung  angewiesen 
wurde.  Wie  die  ersten  Sprachlaute  des  Kindes  überhaupt  früher 
auf  Personen,  wegen  der  größeren  Aufmerksamkeit,  die  diese  erregen, 
als  auf  Gegenstände  bezogen  werden,  so  stehen  naturgemäß  unter 
diesen  Personen  die  nächsten,  die  Eltern,  wieder  im  Vordergrunde. 
Auf  sie  werden  daher  in  jenem  ersten  wechselseitigen  Nachsprechen, 
das  sich  aus  Anlaß  der  Echosprache  zwischen  dem  Kind  und  seiner 
Umgebung  entwickelt,  die  frühesten  artikulierten  Laute  bezogen. 
In  den  unentwickelteren  Sprachen  sind  dann  die  so  entstandenen 
Namen  auf  der  Stufe  einfacher  oder  durch  Verdoppelung  erweiterter 
Naturlaute,  wie  in  unserem  ,,Papa"  und  ,,Mama",  stehen  geblieben. 
In  den  Kultursprachen  hat  auch  hier,  ähnlich  wie  bei  den  aus  Inter- 
jektionen hervorgegangenen  Wortbildungen,  der  Naturlaut  nur  die 
Wurzel  abgegeben,  aus  der  ein  Wort  hervorging,  das  sich  im  übrigen 
an  die  sonstigen  typischen  Formen  der  Wortbildung  anlehnte.  „Vater" 
und  ,, Mutter"  unterscheiden  sich  daher  in  ihrer  formalen  Bildung 
nicht  mehr  von  andern   Wörtern,   wie   ,, Bruder"   und   ,, Schwester", 


1)  Über  diese  Ableitungen  aus  allgemeinen  Begriffswuizeln  sowie  über  die 
Wurzeltheorie  überhaupt  vgl.  unten  Kap.  V,  Nr.  III,  4. 


Schallnachahrnuiigeii  und  Lautbilder.  329 


die    völlig    unabhängig    von    irgendwelchen     Naturlauten     entstan- 
den sind. 


IV.  Lautnachahmungen  in  der  Sprache. 

1.  Schallnachahmungen  und  Lautbilder. 

In  allen  Sprachen  begegnen  uns  Wörter,  die  in  ihrer  Lautbildung 
eine  so  unmittelbare  Beziehung  zu  den  Gegenständen  oder  Merkmalen, 
die  sie  bedeuten,  erkennen  lassen,  daß  sie  gewöhnlich  als  ,, Lautnach- 
ahmungen" bezeichnet  werden.  Leicht  lassen  sich  diese  Wortbildungen 
in  zwei  Klassen  ordnen.  Die  erste  umfaßt  solche  Fälle,  wo  der  Sprach- 
laut einem  objektiven  Lautvorgang  ähnlich  ist.  So  bei  den  Tier- 
namen Rabe,  Krähe,  Kuckuck,  Uhu,  bei  denen,  analog  wie  bei  den 
onomatopoetischen  Tiernamen  der  Kindersprache,  die  von  den  Tieren 
hervorgebrachten  Laute  wahrscheinlich  auf  die  Wortbildung  einge- 
wirkt haben ;  ferner  bei  Wörtern  wie :  bellen,  donnern,  flüstern,  gackern, 
glucksen,  kichern,  klatschen,  klirren,  knistern,  knirschen,  krachen,  krähen, 
krächzen,  kreischen,  munkeln,  murren,  faffen,  pfeifen  (aus  lat.  pipare), 
prusten,  puffen,  rasseln,  räuspern,  stöhnen,  summen,  ticken,  zirpen, 
zischen,  zwitschern  u.  a.  ^).  Man  kann  sie,  weil  bei  ihnen  der  Sprach- 
laut Nachahmung  eines  äußeren  Schalles  ist,  speziell  als  Schall - 
nachahmungen  bezeichnen.  Außer  ihnen  umfaßt  aber  der  weitere 
Begriff  der  sogenannten  ,, Lautnachahmung"  noch  solche  Wörter, 
in  denen  irgendein  mit  keinerlei  Schallbildung  verbundener  Vorgang 
durch  einen  Laut  wiedergegeben  wird,  und  wo  demnach  mittels  einer 
Übertragung  des  Eindrucks  auf  einen  andern  Sinn,  meist  den  Ge- 
sichts- oder  Tastsinn,  in  eine  Lautform  diese  dem  äußeren  Vorgange 
nachgebildet  scheint.  Hierher  gehören  Wörter  wie:  bummeln,  baumeln, 
flimmern,  hätscheln,  krabbeln,  kribbeln,  pfuschen,  torkeln,  wimmeln 
u.  a.,    wozu  noch  manche  kommen,    bei  denen  es  zweifelhaft  ist,   ob 


^)  Eine  größere  Zahl  solcher  verhältnismäßig  junger  „Onomatopoetica-' 
aus  deutschem  Sprachgebiet  hat  H.  Paul,  Prinzipien,  ^  S.  180  f.  zusammen- 
gestellt.    Die  oben  ausgewählten  sind  nur  die  häufiger  gebrauchten. 


330  Die  Sprachlaute. 


bei  ihnen  nicht  Schallnachahmungen  mindestens  mitwirkten,  wie 
z.  B.  huschen,  lullen,  rempeln,  schlottern,  stolfern,  tätscheln  und  viele 
andere.  Wir  wollen  diese  Nachbildungen  äußerer  Vorgänge,  bei  denen 
eine  eigentliche  Schallnachahmung  entweder  ausgeschlossen  oder 
zweifelhaft  ist,  der  Kürze  wegen  Lautbilder  nennen.  Natürlich 
ist  die  Frage,  ob  eine  „Schallnachahmung"  vorliegt,  im  allgemeinen 
sicherer  zu  entscheiden  als  die,  ob  man  in  einem  gegebenen  Wort 
ein  ,, Lautbild"  zu  sehen  habe.  Li  der  Tat  hat  man  zuweilen  nicht 
bloß  Wörter  wie  die  oben  aufgeführten,  sondern  auch  solche  wie  ,,hart", 
,,süß",  ,, bitter",  oder  ,, Schmerz",  ,, Liebe",  ,,Zom",  ,,Haß"  und  an- 
dere für  sinnliche  Nachbildungen  der  Begriffe  gehalten,  und  ähnlich 
ist  sogar  schon  den  einfachen  Sprachlauten,  namentlich  den  Vokalen, 
ein  auf  ihrem  Klangcharakter  beruhender  Gefühls-  und  Bedeutungs- 
wert zugeschrieben  worden^).  Solche  Vermutungen  mögen  hier  ganz 
außer  Betracht  bleiben,  da  bei  ihnen  die  Gefahr  einer  nachträglichen 
und  umgekehrten  Assoziation  allzu  nahe  liegt.  Der  Begriff  hat  in 
diesem  Falle  möglicherweise  dem  Wort  seine  eigentümliche  Gefühls- 
färbung erst  mitgeteilt,  worauf  dann  diese  für  eine  ursprüngliche  Eigen- 
schaft des  Wortes  selbst  oder  einzelner  Lautelemente  desselben  gehalten 
wird.  Mag  übrigens  der  Kreis  der  unmittelbaren  Beziehungen  von 
Laut  und  Bedeutung  etwas  weiter  oder  enger  gezogen  werden,  sicher 
ist  jedenfalls,  daß  solche  Beziehungen  in  einer  Anzahl  von  Fällen 
existieren.  Sicher  ist  aber  allerdings  auch,  daß  alle  diese  Fälle,  selbst 
wenn  man  die  zweifelhaften  mitrechnen  wollte,  gegenüber  der  Un- 
geheuern Menge  anderer,  wo  gar  keine  Beziehung  nachzuweisen  ist, 
eine  verschwindende  Minderheit  bilden. 

Trotzdem  ist  es  nicht  gerechtfertigt,  wenn  man  wegen  dieser 
geringen  Anzahl  sogenannter  ,,Onomatopoetica"  auf  ihre  Existenz 
überhaupt  keinen  Wert  legt.  In  der  Sprache  ist  jede  Erscheinung, 
die  irgendeine  Affinität  zwischen  Laut  und  Bedeutung  erkennen  läßt, 
von  Interesse,  mag  sie  nun  oft  vorkommen  oder  nicht.  Ebenso  bildet 
der  Umstand,  daß  es  sich  hier  häufig  um  neue  Wortbildungen  handelt , 


1)  Vgl.  z.  B.  Jacob  Grimm,  Über  den  Ursprung  der  Sprache,  ^  1852,  S.  93  f. 
K.  W.  L.  Heyse,  System  der  Sprachwissenschaft,  1866,  S.  77  ff.  C.  L.  Merkel, 
Physiologie  der  menschlischen  Sprache,  1866,  S.  79  ff. 


Schallnachahmungen  und  Lautbilder.  331 

keinen  Grund  gegen  den  Wert  der  Erscheinung.  Diese  Argumente 
stehen  schon  unter  der  Voraussetzung,  alles,  was  sich  heute  im  Leben 
der  Sprache  ereignet,  lasse  auf  deren  frühere  Entwicklungszustände 
keine  Schlüsse  zu.  In  der  Tat  bemerkt  Lazarus  Geiger,  die  Worte 
besäßen  „erst  in  ziemlich  späten  Schichten  eine  gewisse  Neigung, 
den  Objekten  schildernd  nahezutreten".  Wörter  wie  Rabe^  Krähe, 
Kuckuck,  donnern,  schwirren  u.  a.  seien  zwar  im  Laufe  der  Zeit  zu 
Lautnachahmungen  geworden,  ihren  Wurzeln  liege  aber  eine  solche 
Beziehung  fern^).  Wird  hier  immerhin  noch  eine  sekundäre  Wirkung 
•  der  Vorstellung  auf  den  Laut  zugestanden,  so  sind  nun  manche  Sprach- 
forscher geneigt,  selbst  innerhalb  dieser  Grenzen  eine  solche  Affinität 
möglichst  zu  beschränken.  Sobald  diese  in  verwandten  Sprachen  oder 
in  älteren  Sprachformen  des  gleichen  Gebiets  nicht  existiert,  so  gilt 
sie  ihnen  als  eine  nichtssagende,  zufällige  Erscheinung  2). 

In  diesen  Anschauuügen  spiegelt  sich  deutlich  die  merkwürdige 
Mischung  von  Romantik  und  Skepsis,  die  in  der  heutigen  Sprach- 
wissenschaft als  das  natürliche  Produkt  ihres  Ursprungs  aus  der  ro- 
mantischen Geistesströmung  und  des  allmählichen  Hineinwachsens 
dieser  in  das  Zeitalter  des  positivistischen  Kleinbetriebs  hervorgegangen 
ist.  Max  Müller,  dessen  linguistische  wie  mythologische  Theorien 
im  einzelnen  längst  obsolet  geworden  sind,  ist  hier  immer  noch  der 
typische  Repräsentant  der  geltenden  Meinungen^).  Sie  lassen  sich 
in  bezug  auf  die  vorliegende  Frage  in  die  zwei  Sätze  zusammenfassen: 
1)  Wo  eine  Beziehung  zwischen  Laut  und  Bedeutung  nicht  in  den 
Urbestandteilen  einer  Sprache,  den  Wurzeln,  nachzuweisen  ist, 
da  existiert  sie  überhaupt  nicht.  2)  Jede  Lautänderung,  die 
im  Laufe  der  geschichtlichen  Entwicklung  der  Sprache  ein- 
getreten ist,  muß  auf  rein  lautgesetzliche  Vorgänge  zurück- 
geführt werden,  die  als  solche  mit  der  Bedeutung  der  Wörter  gar 
nichts  zu  tun  haben. 


1)  Lazarus  Geiger,  Ursprung  und  Entwicklung  der  menschlichen  Sprache 
und  Vernunft,  I,  1868,  S.  168.  Vgl.  a.  L.  Noir6,  Logos,  Ursprung  und  Wesen 
der  Begriffe,  1885,  S.  105. 

2)  Vgl.  z.  B.  Sütterlin,  Das  Wesen  der  sprachlichen  Gebilde,  S.  34. 

^)  Max  Müller,  Vorlesungen  über  die  Wissenschaft  der  Sprache,  Bd.  1, 
1863,  S.  307  ff.,  6,  Aufl.  (1892),  S.  455  ff. 


332  r>ie  Sprachlaute. 


Daß  die  „Wurzeln"  selbst,  wie  wir  später  sehen  werden,  Pro- 
dukte einer  grammatischen  Abstraktion  sind,  die  willkürlich  und 
im  Widerspruch  mit  allen  Erscheinungen  der  Sprache  zu  wirklichen 
Urwörtern  gemacht  wurden,  charakterisiert  die  romantische  Grund- 
lage dieser  Auffassung^).  Daß  dieses  Phantasiegebilde  einer  Ursprache 
zu  einem  von  allen  psychologischen  Einflüssen  unberührt  bleiben- 
den Objekt  einer  irgendwo  in  den  Wolken  schwebenden  historischen 
Gesetzmäßigkeit  erhoben  wird,  nach  deren  Bedingungen  man  nicht 
zu  fragen  habe,  charakterisiert  aber  jenen  historischen  Skeptizismus, 
wie  er  in  dieser  Form  wiederum  eigentlich  nur  auf  dem  Boden  der 
Romantik  möglich  war.  Nun  ist  freilich  die  Unhaltbarkeit  eines  solchen 
Standpunkts  bereits  allerorten  zutage  getreten.  Den  mannigfachen 
psychophysischen  Kontakt-  und  Assoziationswirkungen,  die  überall 
die  sprachlichen  Gebilde  nach  Laut  wie  Bedeutung  verändern,  hat 
die  Sprachwissenschaft  bereitwillig  ihre  Tore  öffnen  müssen.  Aber 
man  fügte  sich  doch  nur  notgedrungen,  wenn  ein  anderer  Ausweg 
schlechterdings  nicht  zu  finden  war,  der  Herbeiziehung  solcher  psycho- 
logischer und  psychophysischer  Einflüsse.  Diese  deckten  sich  nun 
im  wesentlichen  mit  dem  Gebiete  der  früheren  grammatischen  „Aus- 
nahmen''. Nur  hatte  sich  das  Verhältnis  zwischen  Regeln  und  Aus- 
nahmen dadurch  in  eigentümlicher  Weise  gestaltet,  daß  man  für  die 
Ausnahmen  plausible  psychologische  Gründe  geltend  machte,  während 
die  Regeln  in  dem  geheimnisvollen  Dunkel  einer  unerforschlichen 
historischen  Gesetzmäßigkeit  verblieben.  Für  die  regelmäßigen  sprach- 
lichen Bildungen  stehen  so  im  wesentlichen  noch  heute  die  beiden 
oben  formulierten  Dogmen  in  kaum  beschränkter  Geltung,  obgleich 
sie  nicht  bloß  willkürliche,  sondern  im  Grunde  sehr  unwahrschein- 
liche Annahmen  sind.  Denn  wenn  überhaupt  assoziative  Beziehungen 
irgendwelcher  Art  zwischen  dem  Lautcharakter  und  dem  Begriffs- 
inhalt eines  Wortes  entstehen,  so  wird  dies  wohl  zu  jeder  Zeit  geschehen 
können.  Nur  werden  solche  da,  wo  sie  einer  jüngeren  Zeit  angehören, 
selbstverständlich  leichter  nachweisbar  sein.  Vermögen  wir  doch 
absolut  nicht  zu  übersehen,  welche  Nebenmomente  der  Tonlage,  des 


2)  Vgl.  unten  Kap.  V,  Nr.  III. 


Schallnachahmungen  und  Lautbilder.  333 

Tonwechsels  und  der  sonstigen  nur  mangelliaft  durch  die  Tradition 
erhaltenen  Erscheinungen  in  einer  frühen  Zeit  wirksam  gewesen  sein 
mögen.  Die  Behauptung,  onomatopoetische  Beziehungen  seien  nur 
von  Wert,  wenn  sie  einer  ursprünglichen,  nicht  wenn  sie  einer  jüngeren 
Sprachstufe  angehören,  ist  daher  genau  in  ihr  Gegenteil  umzukehren. 
Für  die  assoziativen  Kräfte,  die  überhaupt  in  der  Sprache  wirken, 
sind  die  uns  näher  liegenden  Formen  die  wertvolleren,  weil  in  ihnen 
jene  Wechselwirkungen  am  wenigsten  durch  andere,  unserer  Nach- 
weisung entzogene  Einflüsse  getrübt  sind.  Wo  sich  aber  auf  einer 
früheren  Sprachstufe  analoge  Beziehungen,  wie  sie  sich  gelegentlich 
noch  heute  bilden,  auffinden  lassen,  da  ist  es  natürlich  vollends  un- 
zulässig, diese  für  zufällig  oder  bedeutungslos  zu  erklären,  weil  sie 
in  sonst  verwandten  Sprachen  nicht  existieren.  Wörter  wie  knirschen, 
kichern,  glucksen,  klatschen,  f  rüsten  und  viele  andere  hören  doch  darum 
nicht  auf  onomatopoetisch  zu  sein,  weil  sie  in  dieser  Form  dem  neu- 
hochdeutschen Sprachgebiet  ausschließlich  eigen  sind.  Und  warum 
sollten  z.  B.  analoge  Wortgebilde  im  Hebräischen  nicht  onomato- 
poetisch sein,  weil  sie  es  in  andern  semitischen  Sprachen  nicht  sind, 
oder  weil  die  zweisilbigen  Wortstämme,  mit  denen  hier  nicht  selten 
der  onomatopoetische  Charakter  zusammenhängt,  den  sonst  ver- 
wandten hami tischen  Sprachen  nicht  zukommen  ?  Es  ist  klar,  daß 
hier  nicht  dem  psychologischen  der  historische  Gesichtspunkt,  son- 
dern daß  dem  wirklichen  geschichtlichen  Werden  der  Sprache  eine 
hypothetische  Urgeschichte  substituiert  wird.  Mit  der  Unterschätzung 
der  lebendigen  Wirklichkeit  verbindet  sich  aber  zugleich  eine  ins 
äußerste  getriebene  Skepsis  gegenüber  allen  Erscheinungen,  in  denen 
gewisse  tatsächliche  Beziehungen  hervortreten,  sobald  diese  ge- 
schichtlich nicht  näher  zu  verfolgen  sind.  Ein  Beispiel  mag  genügen, 
diesen  extremen  Historismus  zu  kennzeichnen.  Oben  ist  schon  der 
Tatsache  gedacht  worden,  daß  gewisse  Lallaute  des  Kindes,  wie  fa, 
ha,  ma,  na  u.  a.,  vielfach  in  den  Namen  für  Vater  und  Mutter  vor- 
kommen, wobei  die  Explosivlaute  den  Vater-,  die  Resonanzlaute  den 
Mutternamen  kennzeichnen.  Da  diese  Beziehung  in  hunderten  von 
Sprachen  wiederkehrt,  so  ist  für  jeden,  der  die  Prinzipien  der  empi- 
rischen Wahrscheinlichkeit  nicht  für  eine  leere  Erfindung  der  Mathe- 
matiker ansieht,  der  Zufall  ausgeschlossen.     Dem  extremen  Sprach- 


334  I^iö  Sprachlaute. 


historiker  gilt  die  Frage  trotzdem  als  zweifelhaft.  Denn  es  kommen 
einige  Fälle  vor,  in  denen  sicli  das  gewöhnliclie  Verhältnis  umkehrt, 
indem  der  Vater  Mama  und  die  Mutter  Papa  oder  ähnlicli  genannt 
wird^).  Man  fordert  also  eine  absolute  Ausnahmslosigkeit.  Daß  diese 
in  solchem  Fall  einer  an  Unmöglichkeit  grenzenden  Unwahrschein - 
lichkeit  gleichkommen  würde,  bedenkt  man  nicht. 

Wie  das  erste,  so  ist  nun  aber  auch  das  zweite  der  oben  formu- 
lierten Dogmen  unhaltbar.  Zunächst  sind  ja  die  lautgesetzlichen 
Vorgänge  an  sich  nicht  sowohl  letzte  Erklärmigsgründe  als 
vielmehr  Probleme,  die  überall  der  physiologischen  oder  psycho- 
logischen Interpretation  bedürfen.  In  diesem  Sinne  gibt  es 
daher  eine  rein  historische  Erklärung  dieser  Vorgänge  überhaupt 
nicht,  sondern  das  historisch  Gewordene,  mag  es  so  umfassend 
oder  so  beschränkt  sein  wie  es  wolle,  fordert  stets  eine  Zurück- 
führung  auf  seine  Ursachen  und  Motive.  Nun  sind  aber  die 
geschichtlichen  Tatsachen  überall,  und  so  auch  im  Gebiet  der 
Sprachgeschichte,  höchst  komplexer  Art.  Selbst  da,  wo  eine  be- 
stimmte Lautbildung  auf  einen  lautgesetzlichen  Vorgang  von 
allgemeinerer  Verbreitung  zurückgeführt  werden  kann,  bleibt  daher 
erstens  die  Frage  nach  den  Bedingungen  jenes  Vorgangs  eine  offene, 
und  ist  zweitens  die  Mitwirkung  besonderer  Motive,  die  in  dem  spe- 
ziellen Fall  unterstützend  oder  modifizierend  in  ihn  eingreifen,  nicht 
ausgeschlossen.  Auch  das  mag  durch  ein  Beispiel  belegt  werden,  bei 
dem  sich,  weil  es  einer  neueren  Periode  der  Sprachgeschichte  an- 
gehört, die  Interferenz  der  Wirkungen  verhältnismäßig  sicher  nach- 
weisen läßt.  Wir  legen  heute  den  beiden  Wörtern  Rahe  und  Rappe 
eine  onomatopoetische  Färbung  bei:  in  dem  Raben  meinen  wir  das 
krächzende  Geschrei  des  Vogels  zu  hören,  bei  dem  Rappen  denken 
wir  an  das  trapp  trapp  des  Pferdes.  Nun  lehrt  aber  die  Sprachgeschichte, 
daß  die  Differenzierung  der  Wörter  Rahe  und  Rappe  erst  in  neuhoch- 
deutscher Zeit  und  wohl  gleichzeitig  mit  der  Übertragung  des  Namens 
von  dem  schwarzen  Vogel  auf  ein  schwarzes  Pferd  eingetreten  ist. 
Ursprünglich  war  das  Wort  nur  Vogelname  und  wurde  in  der  Regel 


1)  Sütteriin  a.  a.  0.  S.  31. 


Sohallnachahmungen  und  Lautbilder.  335 


in  Niederdeutschland  Rabe,  in  Oberdeutschland  Raffe  ausge- 
sprochen. Das  Neuhochdeutsche  hat  also  die  Wörter  differen- 
ziert, indem  es  die  Benennung  des  Vogels  dem  niederdeutschen, 
die  des  Pferdes  dem  oberdeutschen  Sprachgebiet  entnahm. 
Folglich  ist  —  so  schließt  man  vom  rein  historischen  Stand- 
punkt aus  —  diese  Differenzierung  eine  ,, zufällige",  und  eine 
onomatopoetische  Bedeutung  besitzen  die  Wörter  überhaupt  nicht  ^). 
Nun  würde  dieser  Schluß  offenbar  selbst  dann  nicht  bindend  sein, 
wenn  die  Differenzierung  auf  die  hochdeutsche  Schriftsprache  und 
Sprechweise  beschränkt  geblieben  wäre.  Denn  da  der  Zufall 
auch  für  die  Sprachgeschichte  kein  Begriff  von  erklärendem  Wert 
ist,  so  bleibt  immer  noch  die  Frage,  warum  das  Neuhochdeutsche 
überhaupt  diese  Scheidung  vorgenommen  hat,  und  warum  sie 
nicht  ,, zufällig"  in  entgegengesetzter  Richtung  erfolgt  ist.  Und 
hier  ist  dann  wohl  die  wahrscheinlichste  Interpretation  die,  daß  die 
Assoziation  mit  dem  Ruf  des  Vogels  einerseits  und  mit  dem  Pferde- 
getrappel anderseits  diese  Richtung  veranlaßt  hat.  Eine  solche  Deu- 
tung wird  in  der  Tat  dadurch  verstärkt,  daß,  wie  die  vorhandenen 
Dialektwörterbücher  lehren,  jene  Unterscheidung  auch  in  die  Dia- 
lekte eingedrungen  ist,  so  daß  heute  im  Niederdeutschen  das  schwarze 
Pferd  ebenfalls  Rappe,  nicht  Rabe,  und  im  Oberdeutschen  der  Vogel 
sehr  häufig  Rabe,  das  Pferd  aber  stets  Rappe  genannt  wird.  Offen- 
bar ist  in  diesem  Fall  die  historische  Verfolgung  des  Vorgangs  deshalb 
besonders  belehrend,  weil  sie  augenfällig  zeigt,  wie  sich  in  solchen  Ent- 
wicklungen die  rein  lautlichen  Differenzierungen  mit  den  psycho- 
logischen Assoziationen  zwischen  Laut  und  Bedeutung  durchkreuzen 
können,  und  wie  irrig  daher  der  so  oft  stillschweigend  oder  ausdrück- 
lich befolgte  Grundsatz  ist,  da,  wo  irgendein  Vorgang  auf  lautgeschicht- 
liche Bedingungen  zurückgeführt  sei,  werde  damit  die  Mitwirkung 
anderer  Momente  von  selbst  hinfällig.  Das  Gegenteil  ist  richtig: 
bei  einer  so  komplexen  Funktion  wie  der  Sprache  ist  eine 
komplexe  Beschaffenheit  der  Ursachen  von  vornherein 
wahrscheinlich. 


1)  Delbrück,   Grundfragen  der  Sprachforschung,  S.   155.     Vgl.   über  diese 
und  ähnliche  Erscheinungen  unten  Kap.  VIII,  Nr.  I,  2. 


336  Die  Sprachlaute. 


Hiernach  werden  wir  im  Gegensatze  zu  den  oben  formulierten 
Grundsätzen  eines  einseitigen  Historismus  die  folgenden  drei  Ge- 
sichtspunkte als  diejenigen  festhalten  dürfen,  die  unter  den 
obwaltenden  Bedingungen  brauchbare,  wenn  auch  bei  der  Un- 
sicherheit und  der  schwankenden  Natur  der  Erscheinungen  nicht 
immer  entscheidende  Kriterien  für  das  Vorhandensein  irgendwelcher 
psychologischer  Beziehungen  zwischen  Laut  und  Bedeutung  ab- 
geben können: 

1.  Wo  in  einer  Sprache  den  Variationen  der  Bedeutung  bestimmte 
Variationen  des  Lautes  in  einer  so  großen  Zahl  gleicher  oder  ana- 
loger Fälle  parallel  gehen,  daß  dadurch  die  Annahme  eines  Zufalls 
ausgeschlossen  ist,  und  wo  diese  Variationen  zugleich  einer  unmittel- 
bar wahrzunehmenden  Empfindungs-  und  Gefühlswirkung  der  Laute 
entsprechen,  da  darf  mit  Wahrscheinlichkeit  eine  Beziehung  zwischen 
Laut  und  Bedeutung  vermutet  werden. 

2.  Lautgesetzliche  Änderungen  und  psychisch  bedingte  Modi- 
fikationen der  Laute  schließen  sich  nicht  notwendig  aus,  da  den  kom- 
plexen Vorgängen  hier  wie  überall  im  allgemeinen  auch  komplexe 
Ursachen  zugrunde  liegen.  Dabei  können  die  psychischen  Bedingungen 
bald  die  lautgesetzlichen  Wirkungen  unterstützen,  bald  über  ihr  ur- 
sprüngliches Gebiet  ausdehnen,  bald  sich  mit  ihnen  zu  Differenzierungen 
der  Bedeutung  verbinden.  Wo  die  Vermutung  einer  solchen  Kompli- 
kation der  Ursachen  vorliegt,  da  bildet  dann  das  Vorkommen  analoger 
Erscheinungen  unter  ähnlichen,  einfacheren  Bedingungen  ein  Krite- 
rium ihrer  Wahrscheinlichkeit. 

3.  Beziehungen  zwischen  Laut  und  Bedeutung  werden  voraus- 
sichtlich vor  allem  da  unserem  psychologischen  Verständnis  näher 
zu  bringen  sein,  wo'  ihre  Entstehung  einer  verhältnismäßig  neuen 
Stufe  der  Sprachentwicklung  angehört,  weil  hier  die  unmittelbaren 
Wirkungen  der  Laute  unserer  Beobachtung  leichter  zugänglich,  und 
andere  unbekannte  Nebenwirkungen,  welche  die  psychologischen 
Beziehungen  der  Laute  komplizieren  könnten,  wie  abweichender 
Sprechrhythmus  und  Tonfall,  relativ  ausgeschlossen  sind.  Wo  sich 
aber  auf  älteren  Sprachstufen  Beziehungen  zwischen  Laut  und  Be- 
deutung überhaupt  finden,  da  sind  dieselben  nach  Analogie  der  Fälle 
zu  beurteilen,  die  in  der  lebenden  Sprache  vorkommen. 


Allgemeine  Bedeutung  der  Lautnachahmungen.  337 

Diese  Gesichtspunkte  stehen  in  vieler  Beziehung  im  Gegensatz 
zu  verbreiteten  Anschauungen.  Denn  in  der  Regel  legt  man  auf  jene 
bekannte  Anwendung  der  empirischen  Wahrscheinlichkeit,  welche 
die  allgemeine  Methodenlehre  als  das  „Prinzip  der  sich  begleitenden 
Veränderungen"  bezeichnet,  in  der  Sprachwissenschaft  nur  geringes 
Gewicht.  Dem  methodologischen  Grundsatze  aber,  daß  komplexe 
Erscheinungen  meist  auch  komplexe  Ursachen  voraussetzen,  sub- 
stituiert man  zumeist  den  andern:  wo  irgendeine  einzelne  Bedingung 
einer  Erscheinung  nachgewiesen  oder  wahrscheinlich  gemacht  sei, 
da  seien  mitwirkende  Ursachen  ausgeschlossen.  Endlich  pflegt  man 
selbst  da,  wo  es  sich  lediglich  um  Tatsachen  der  Erfahrung  handelt, 
noch  immer  zuweilen  den  Erscheinungen,  die  unserer  Beobachtung 
näher  liegen,  solche  vorzuziehen,  die  einer  entfernteren  Vergangen- 
heit oder  gar  der  mindestens  teilweise  hypothetischen  Vorgeschichte 
der  Sprache  angehören. 


2.  Allgemeine  Bedeutung  der  Lautnachahmung. 

Das  Wort  ,, Lautnachahmung"  kann  von  vornherein  in  doppeltem 
Sinne  verstanden  werden.  Man  kann  es  entweder  als  eine  ,, Nach- 
ahmung des  Lautes"  oder  als  eine  ,, Nachahmung  durch  den  Laut" 
interpretieren.  Nicht  selten  ist  ihm  ausschließlich  die  erste  Bedeutung 
gegeben  worden.  Damit  wird  dann  der  Begriff  auf  die  Gruppe  der 
oben  als  ,, Schallnachahmungen"  bezeichneten  Erscheinungen  ein- 
geschränkt. Während  die  Gegner  der  Onomatopöie  vorzugsweise 
diesen  engeren  Begriff  bekämpften,  steckten  deren  Anhänger  in  der 
Regel  das  Gebiet  viel  weiter  ab:  überall  wo  der  Laut  auch  nur  einen 
Gefühlston  anklingen  läßt,  der  durch  das  Objekt  erregt  zu  sein  scheint, 
waren   sie   geneigt,    eine    ,, Lautnachahmung"   anzunehmen^).      Nun 


1)  ,, Allen  Sinnen  liegt  Gefühl  zum  Grunde**,  sagt  Herder  in  seiner  Schrift 
über  den  Ursprung  der  Sprache,  ,,und  dies  gibt  den  verschiedenartigsten  Sen- 
sationen schon  ein  so  inniges,  starkes,  unaussprechliches  Band,  daß  aus  dieser 
Verbindung  die  sonderbarsten  Erscheinungen  entstehen.  .  .  .   Wir  sind  voll  solcher 

Wundt,   Yölkerpsychologie.    I.    4.  Aufl.  22 


338  I^iö  Sprachlaute. 


ist  ersichtlicli,  daß  es  zahlreiclie  Fälle  gibt,  in  denen  schon  deshalb 
von  einer  Nacbabmung  eines  Scballeindrucks  nicht  die  Rede  sein  kann, 
weil  der  benannte  Vorgang  oder  Gegenstand  keinen  Eindruck  auf 
unsern  Gehörssinn  macht,  während  gleichwohl  das  Wort  als  ein  ,, Laut- 
bild" gelten  muß.  Auch  handelt  es  sich  gerade  hier  meist  um  sprach- 
liche Neuschöpfungen,  bei  denen,  weil  irgendwelche  lautgeschicht- 
liche Bedingungen  gar  nicht  mitgewirkt  haben,  ein  im  weiteren  Sinn 
onomatopoetisches  Motiv  nicht  bezweifelt  werden  kann.  Wenn  aber 
Wörter  wie  bummeln,  baumeln,  krippeln,  torkeln,  pfuschen,  wimmeln 
gerade  so  gut  wie  donnern,  klirren,  knarren,  rasseln,  murren  als  Laut- 
nachahmungen empfunden  werden,  so  kann  die  allgemeine  Bedeutung 
solcher  offenbar  nur  darin  bestehen,  daß  sie  Nachahmungen  durch 
den  Laut,  nicht  oder  doch  nur  in  gewissen  Fällen  auch  Nach- 
ahmungen des  Lautes  sind.  Hierdurch  wird  jedoch  zugleich  der 
Zweifel  angeregt,  ob  selbst  da,  wo  für  unser  Ohr  das  Wort 
eine  Schallnachahmung  bedeutet,  der  Sprechende  selbst  damit  die 
Absicht  verbunden  habe,  den  gehörten  Schall  durch  einen  Sprach- 
laut nachzuahmen. 

Wird  die  Frage  so  gestellt,  so  kann  nun  in  der  Tat  die  Antwort 
kaum  zweifelhaft  sein.  Eine  absichtliche  Nachbildung  der  durch  einen 
äußeren  Vorgang  erregten  Schallempfindung  würde  nicht  bloß  mit 
der  Existenz  von  Lautbildern,  die  sich  auf  lautlose  Eindrücke  be- 
ziehen, schwer  zu  vereinigen  sein,  sondern  sie  würde  auch  psychische 
Vorgänge  voraussetzen,  die  im  gewöhnlichen  Verlauf  der  Sprach- 
äußerungen nicht  oder  nur  unter  Bedingungen  vorkommen,  die  in 
diesem  Fall  äußerst  unwahrscheinlich  sind.  Zuvörderst  ist  es  nämlich 
klar,  daß  der  Prozeß  der  Nachbildung  irgendwelcher  unhörbarer 
Vorgänge  durch  Laute,  wie  er  bei  den  oben  so  genannten  ,, Lautbildern" 
vorliegt,  an  und  für  sich  von  weit  allgemeinerer  Art  ist  als  das  Gebiet 
der  bloßen  ,, Schallnachahmung".  Denn  da  bei  dem  ersteren  Sinnes- 
eindrücke von  jeder  möglichen  Beschaffenheit  durch  Sprachlaute 
wiedergegeben  werden,  so  ist  nicht  einzusehen,  warum  dies  nicht 
auch  bei  den   Schalleindrücken   in  analoger  Weise  sollte  geschehen 


Verknüpfungen  der  verschiedensten  Sinne.*'     (Herders  sämtl.  Werke,  Ausgabe 
von  Suphan,  V,  S.  61.) 


Allgemeine  Bedeutung  der  Lautnachahmung.  339 


können.  Dann  ist  aber  die  „Schallnacliahmung"  nur  eine  beson- 
dere, durch  nichts  als  durch  den  Eindruck  auf  den  Gehörssinn  aus- 
gezeichnete Art  von  Lautbildern.  Dazu  kommt  das  noch  entscheiden- 
dere Bedenken,  daß  eine  „Schallnachahmung"  im  eigentlichen  Sinne, 
das  heißt  als  absichtliche  Nachahmung  eines  äußeren  Schalles  durch 
die  Sprachorgane,  tatsächlich  nur  unter  Bedingungen  vorkommt, 
die  im  allgemeinen  bei  der  Neubildung  von  Wörtern  nicht  voraus- 
zusetzen sind.  Wenn  wir  z.  B.  Tierlaute  oder  Sprachlaute  anderer 
Menschen  oder  sonstige  zufällige  Naturlaute  willkürlich  nachahmen, 
so  ist  die  Lage,  in  der  sich  bei  solchen  Gelegenheiten  unser  Bewußt- 
sein befindet,  sicherlich  nicht  diejenige,  die  bei  der  Bildung  wirklicher 
Wörter  angenommen  werden  kann.  Bei  der  willkürlichen  Nachahmung 
wird,  wo  sie  auch  vorkommen  mag,  unmittelbar  nur  die  Wiedergabe 
des  Lautes  selbst  bezweckt,  nicht  die  Bezeichnung  des  Gegenstandes. 
Wo  sich  etwa  die  letztere  Absicht  regt,  da  handelt  es  sich  um  einen 
selbständigen,  erst  zu  der  Nachahmung  hinzutretenden  Vorgang. 
Wir  mögen  also  willkürlich  hervorgebrachte  Lautnachahmungen 
unter  Umständen  nachträglich  benützen,  um  sie  zur  Namengebung 
zu  verwenden;  dagegen  läßt  sich  eine  Umkehrung  dieses  Prozesses, 
wie  sie  vorausgesetzt  wird,  wenn  man  den  Vorgang  onomatopoetischer 
Wortbildung  als  eine  Nachahmung  des  Lautes  auffaßt,  nirgends 
nachweisen.  So  ist  es  ja  auch  bei  der  Entwicklung  der  kindlichen 
Sprache  aus  der  „Echosprache"  nicht  die  Absicht  der  Mitteilung,  aus 
der  die  Nachahmung  entspringt.  Vielmehr  ist  umgekehrt  die  Nach- 
ahmung zunächst  da,  und  dann  erst  bemächtigt  sich  der  Trieb  nach 
Mitteilung  der  durch  jene  zur  Verfügung  gestellten  Bezeichnungen 
in  dem  angemessenen  Sinne.  Auch  die  Nachahmung  ist  aber  hier 
wiederum  keine  willkürliche,  sondern  triebartig  folgt  dem  gehörten 
Laute  die  Artikulationsbewegung,  die  dann  von  selbst  einen  analogen 
Laut  hervorbringt.  Direkt  wirkt  also  der  gehörte  Laut  nur  auf  die 
Artikulation  der  Sprachwerkzeuge,  erst  indirekt  auf  den  Sprachlaut 
selbst.  Die  Unhaltbarkeit  des  Begriffs  der  Lautnachahmung  in  dem 
vulgären  Sinn  einer  absichtlichen  Wortschöpfung,^  die  den  gehörten 
Schall  benutzt,  um  sein  akustisches  Bild  vor  dem  Hörer  zu  wieder- 
holen, liegt  demnach  darin,  daß  sie  in  die  Auffassung  der  sprach- 
bildenden Vorgänge  den  Begriff  der  Erfindung  hinüberträgt.     Nun 

22* 


340  Die  Sprachlaute. 


können  künstliche  Worterfindungen  und  sogar  ganze  künstliche 
Sprachen  bekanntlich  vorkommen;  auch  können  die  ersteren,  wie 
vor  allem  die  Geschichte  der  wissenschaftlichen  Terminologie  lehrt, 
in  die  allgemeine  Sprache  übergehen.  Doch  die  onomatopoetischen 
Wörter  sind  in  der  Regel  nicht  solche  Kunsterzeugnisse,  sondern  Ge- 
bilde der  natürlichen  Sprache.  Sie  tragen  so  in  jeder  Beziehung  die 
Merkmale  einer  aus  der  fortwirkenden  Macht  ursprünglicher  sprach- 
bildender Kräfte  entstandenen  Neuschöpfung  an  sich,  und  sie  sind 
als  solche  wohl  meist  überhaupt  nicht  individuellen  Ursprungs,  son- 
dern entstehen  gleichzeitig  in  zahlreichen  Mitgliedern  einer  Sprach- 
gemeinschaft, wobei  dann  erst  die  etwa  vorkommenden  individuellen 
Nuancen  des  Ausdrucks  durch  eine  unabsehbare  Summe  von  Wechsel- 
wirkungen zwischen  Sprechenden  und  Hörenden  allmählich  aus- 
geglichen werden. 

Das  Ergebnis,  daß  eine  onomatopoetische  Wortbildung  von  ab- 
sichtlicher Nachahmung  wie  von  direkter  Nachbildung  des  Schall- 
eindrucks gleicherweise  verschieden  ist,  legt  nun  eine  Annahme  nahe, 
die  besonders  von  Steinthal  näher  ausgeführt  wurde.  Entsteht  der 
Laut  als  eine  absichtliche  Reaktion  auf  den  Eindruck,  so  scheint  er 
zunächst  dem  Gebiet  der  Reflexe  verwandt  zu  sein.  Die  Beziehung 
zum  Gegenstand  würde  sich  dann  dem  allgemeinen  Prinzip  der  Re- 
flexbewegungen unterordnen,  nach  welchem  diese  vermöge  der  ver- 
erbten und  erworbenen  Anlagen  des  zentralen  Nervensystems  den 
Sinnesreizen  in  einer  dem  Ort  und  der  Art  des  Eindrucks  adäquaten 
Weise  mechanisch  zugeordnet  sind  (S.  47).  Ist  der  Laut  nur  bei  einer 
beschränkten  Anzahl  onomatopoetischer  Wortbildungen  eine  direkte 
Nachahmung  des  äußeren  Schalles,  so  scheint  ferner  der  nächste  Aus- 
weg, um  über  jene  allgemeinere  Beziehung  Rechenschaft  zu  geben, 
der  zu  sein,  daß  man  das  Gefühl  zu  Hilfe  nimmt,  das  durch  seine 
mannigfachen  Assoziationen  und  Analogien  bei  den  Empfindungen 
der  verschiedenen  Sinne  überall  geeignet  ist,  das  Mittelglied  zu  bilden, 
das  den  Eindruck  mit  dem  durch  ihn  ausgelösten  Laute  verbindet. 
Das  onomatopoetische  Lautgebilde,  mag  es  eigentliche  Schallnach- 
ahmung oder  bloßes  ,, Lautbild'*  im  Sinne  der  obigen  Unterscheidungen 
sein,  wird  daher  von  Steinthal  als  ein  ,, Reflex"  aufgefaßt,  der  in  seiner 
Form  von  der  Beschaffenheit  des  Objekts  abhänge,  und  dessen  Ver- 


Allgemeine  Bedeutung  der  Lautnachahmung.  341 


wandtschaft  mit  diesem  durch  die  analogen  Gefühle  vermittelt  sei, 
die  durch  den  Eindruck  des  Objekts  und  durch  den  des  Lautes  er- 
weckt werden.  Demnach  soll  jede  Lautnachahmung  einerseits  auf 
einem  gänzlich  willenlosen  Vorgang,  anderseits  aber  auf  einer  in- 
direkten, durch  das  begleitende  Gefühl  erzeugten  Assoziation  mit 
dem  Gegenstande  beruhen-^). 

Diese  Auffassung  begegnet  aber  schon  deshalb  Bedenken,  weil 
sie  den  Begriff  des  ,,Eeflexes"  in  einem  seiner  physiologischen  An- 
wendung widersprechenden  Sinne  verwendet.  Denn  sie  dehnt  dessen 
Geltungsbereich  auf  psychophysische  Vorgänge  aus,  die  er  nach  seinem 
ursprünglichen  Inhalt  ausschließt.  Auch  für  die  Psychologie  besteht 
nämlich  der  Wert  dieses  Begriffs  gerade  darin,  daß  er  eine  wohl  de- 
finierbare wichtige  Gruppe  rein  physiologisch  bedingter,  ohne  be- 
gleitende psychische  Vorgänge  verlaufender  Bewegungen  um- 
faßt. Sind  solche  Vorgänge  in  der  Form  von  Empfindungen  und  Ge- 
fühlen vorhanden,  so  nennen  wir  eben  die  eintretende  Handlung  nicht 
mehr  eine  Keflexbewegung,  sondern  eine  Trieb-  oder  einfache  Willens- 
handlung,  da  jener  gleichzeitige  Empfindungs-  und  Gefühlsinhalt 
psychologisch  durchaus  die  Rolle  eines  die  Handlung  bestimmenden 
Motivs  spielt,  dessen  Wirksamkeit  sich  von  derjenigen  der  Motive 
zusammengesetzter  Willenshandlungen  nur  dadurch  unterscheidet, 
daß  es  das  allein  vorhandene  und  darum  auch  das  allein  wirksame 
Motiv  ist^).  Liegt  demnach  zwischen  Reflex-  und  Triebbewegung 
das  unmittelbar  unterscheidende  Merkmal  nur  in  dem  begleitenden 
Bewußtseinsvorgang,  so  hängt  nun  damit  auch  der  weitere  Unter- 
schied zusammen,  daß  die  Bewegung,  wo  sie  rein  physisch  bedingt 
ist,  ohne  weitere  Folgewirkungen  abläuft,  während  Empfindung  und 
Gefühl  stets  Nachwirkungen  zurücklassen,  vermöge  deren  sich 
an  die  Triebhandlung  weitere  psychische  oder  psychophysische  Vor- 
gänge anschließen  können.  In  der  Tat  trifft  dies  ganz  besonders  da 
zu,  wo  die  Triebbewegung  in  einer  durch  den  Eindruck  eines  gesehenen 


1)  Steinthal,  Einleitung  in  die  Psychologie  und  Sprachwissenschaft,  1871, 
S.  376  ff.     Ursprung  der  Sprache,  *  1888,  S.  368  ff. 

2)  Vgl.  oben  Kap.  I,  S.  43  ff.,  und  Physiol.  Psychologie,  ^  III, 
S.  235  ff. 


342  Die  Sprachlaute. 


oder  betasteten  Objekts  ausgelösten  Lautäußerung  bestellt.  Denn 
indem  die  Gebörsempfindungen  mit  den  Eindrücken  der  andern  Sinne 
mannigfaltige  Komplikationen  bilden  können,  die  sich  durch  Wieder- 
holung befestigen,  wird  hier  der  Übergang  der  Lautäußerung  in  den 
Sprachlaut  unmittelbar  nahegelegt.  Tragen  auf  diese  Weise  die  ono- 
matopoetischen Lautbildungen  in  dem,  was  ihnen  ihre  Bedeutung 
in  der  Sprache  verleiht,  Eigenschaften  an  sich,  die  sie  von  den  eigent- 
lichen Keflexen  wesentlich  unterscheiden,  so  wird  demnach  der  Aus- 
druck ,, Sprachreflex"  in  diesem  Zusammenhang  zu  vermeiden  und 
durch  das  zu  ersetzen  sein,  was  die  Bewegung  wirklich  ist:  durch  den 
Begriff  einer  Triebbewegung,  die,  weil  sie  die  Sprachorgane  er- 
greift, von  selbst  mit  Lautbildung  verbunden  ist. 

Hieran  schließt  sich  dann  sofort  die  weitere  Frage,  was  dem  auf 
solche  Weise  hervorgebrachten  Laute  die  Eigenschaften  verleiht,  durch 
die  er  auch  dem  Hörer  als  ein  dem  objektiven  Eindruck  ähnlicher  oder 
sonst  irgendwie  angemessener  erscheint.  Erfolgt  die  Lautäußerung 
als  eine  einfache  Triebbewegung,  so  wird  damit  die  naive  Annahme, 
daß  sie  absichtliche  Nachahmung  eines  Schalleindrucks  oder  ab- 
sichtliche Übertragung  irgendeines  andern  Sinnesreizes  in  ein  Schall- 
bild sei,  von  selbst  hinfällig.  Denn  die  Beziehung  zwischen  Laut  und 
Bedeutung  kann  nun  keine  im  voraus  gewollte,  sondern  nur 
eine  nachträglich  entstandene  sein.  Der  Laut  wurde  nicht 
gebildet,  weil  er  eine  bestimmte  Ähnlichkeit  mit  dem  objektiven  Ein- 
druck besaß,  sondern  er  wurde  umgekehrt  dem  Eindruck  ähnlich, 
weil  die  Artikulationsbewegung,  aus  der  er  hervorging,  dies  notwendig 
so  mit  sich  führte.  Hierdurch  werden  wir  auf  das  hingewiesen,  was 
den  Laut  selber  erst  erzeugt:  auf  die  Lautbewegung  der  Sprach- 
organe. Unmittelbar  sind  es  ja  nicht  die  Laute,  sondern  die  Laut- 
bewegungen, die  durch  den  äußeren  Eindruck  triebartig  ausgelöst 
werden.  Hier  bieten  aber  offenbar  alle  Arten  sogenannter  „Laut- 
nachahmung" den  ausgezeichneten  Fall  dar,  daß  die  Artikulation 
der  Sprachorgane  eine  äußere  Bewegung  oder  die  Wirkung  einer  solchen, 
die  noch  deutlich  den  Bewegungsmodus  erkennen  läßt,  nachbildet. 
Daß  dies  willkürlich  geschehe,  ist  wiederum  durch  die  Natur  der  ur- 
sprünglichen Triebbewegungen  ausgeschlossen.  Wie  vielmehr  jeder 
lebhaft  erregte  Beobachter  einen   Bewegungsvorgang,   den  er  sieht, 


Allgemeine  Bedeutung  der  Lautnachahmung.  343 

mit  Mienen  und  Gebärden  begleitet,  so  und  nicht  anders  haben  wir 
uns  jene  Lautbewegungen  zu  denken:  als  Bewegungen,  die,  indem 
sie  die  durcb  den  Eindruck  erregten  subjektiven  Gefühle  ausdrücken, 
unwillkürlich  aucb  den  das  Gefühl  erregenden  Vorgang  selbst  nacb- 
bilden.  Diese  Mitbewegungen  sind  gerade  so  gut  wie  alle  andern  ur- 
sprünglichen Gebärden  unwillkürliche  Akte;  aber  sie  sind  nicht  bloße 
Reflexe,  sondern  Triebhandlungen,  in  denen  sich  die  vorhandene 
psychische  Erregung  äußert.  Nach  diesem  Zusammenhange  mit  den 
sonstigen  Gebärden  können  wir  eine  solche  nachahmende  oder  nach- 
bildende Bewegung  der  Artikulationsorgane  am  zutreffendsten  als 
eine  Lautgebärde  bezeichnen.  Die  Beziehung  zwischen  dem  ob- 
jektiven Eindruck  und  der  Lautnachahmung  besteht  dann  aber  darin, 
daß  diese  in  keiner  Weise  eine  Nachahmung  des  Lautes,  sondern 
eine  unwillkürliche  Nachbildung  des  äußeren  Vorgangs  durch  den 
Laut  ist,  die  in  der  Übereinstimmung  der  triebartig  entstehenden 
Lautgebärde  mit  dem  äußeren  Eindruck  ihre  eigentliche  Quelle  hat. 
Unter  ,, Lautgebärden"  können  wir  hiernach  mimische  Bewegungen 
der  Artikulationsorgane  verstehen,  die  zumeist  der  Kategorie  der 
nachbildenden  Gebärden  angehören,  und  die  sich  von  andern  Ge- 
bärden nur  dadurch  unterscheiden,  daß  sich  mit  ihnen  ein  den  be- 
gleitenden Affekt  ausdrückender  Stimmlaut  verbindet,  der  durch 
die  mimische  Bewegung  seine  eigentümliche  Artikulation  und  Mo- 
dulation erhält^). 

Das  aufgestellte  Prinzip  macht  nun  vor  allem  die  zweite  Klasse 
onomatopoetischer  Bildungen,  die  der  Lautbilder,  leicht  verständ- 
lich. Um  hier,  wo  von  einer  wirklichen  Nachahmung  des  Lautes  nicht 
die  Rede  sein  kann,  über  die  nicht  zu  verkennende  Beziehung  zwischen 
Laut  und  Bedeutung  Rechenschaft  zu  geben,  bezeichnet  man  in  der 


^)  Den  Ausdruck  „Lautgebärde*'  hat  bereits  Heyse  (System  der  Sprach- 
wissenschaft, S.  73),  aber  in  einem  wesentlich  andern,  engeren  Sinn  angewandt. 
Er  nennt  so  die  meist  von  Gebärden  begleiteten  interjektionalen  Zurufe,  wie 
stf  he,  holla;  synonym  gebraucht  er  daher  auch  für  sie  den  Ausdruck  „Begeh- 
rungslaute". Nach  den  oben  gewählten  Bezeichnungen  sind  diese  Interjektionen 
nicht  Lautgebärden  sondern  unmittelbare  Gefühlslaute,  die  nur  als  Begleiter 
anderer  Gebärden,  also  bloß  mittelbar,  eine  Beziehung  zu  dem  äußeren  Objekt 
gewinnen  können. 


344  Die  Sprachlaute. 


Regel  diese  Erscheinungen  unterschiedslos  als  „Lautmetaphern" 
oder  „Lautsymbole".  Der  irgendeinem  andern  Sinnesgebiet  angehörige 
Eindruck  soll  in  einen  verwandt  erscheinenden  Schalleindruck  über- 
tragen werden  1).  Nach  der  oben  gegebenen  Erläuterung  des  Vorgangs 
handelt  es  sich  jedoch  hier  offenbar  überhaupt  um  keine  Übertragung. 
Nicht  durch  den  Laut  selbst,  sondern  durch  die  Artikulationsbewegung 
wird  zunächst  der  äußere  Eindruck  nachgebildet.  Bei  dieser  mimischen 
Gebärde  bedarf  es  aber  keines  Übergangs  auf  ein  anderes  Sinnes- 
gebiet, sondern  die  äußere  Bewegung  oder  der  als  Bewegung  auf- 
gefaßte Eindruck  wird  unmittelbar  durch  die  Gebärde  wiedergegeben. 
Diese  nachbildende  Gebärde,  die  sich  dann  von  selbst  auch  dem  Laute 
mitteilt,  ist  es,  nicht  ein  als  Metapher  oder  Symbol  aufzufassendes 
Lautbild,  das  bei  Wörtern  wie  bummeln,  flimmern,  kribbeln,  torkeln, 
wimmeln  und  ähnlichen  den  Eindruck  einer  Nachahmung  der  Wirk- 
lichkeit hervorbringt.  Nicht  der  Laut  als  solcher  ist  also  die  Quelle 
dieses  Eindrucks,  sondern  die  Artikulationsbewegung,  namentlich 
die  fein  nuancierte  Bewegung  der  Zunge  und  der  Lippen.  Die  Wir- 
kung dieser  mimischen  Gebärde  auf  den  hervorgebrachten  Laut  muß 
dann  allerdings  auch  bei  solchen  durch  den  Laut  selbst  gar  nicht 
nachzubildenden,  weil  lautlosen  Eindrücken  die  Wirkung  der  Ge- 
bärde verstärken.  Denn  der  Laut  ist  wieder  innig  mit  der  Lautbewegung 
assoziiert,  so  daß  er  in  dem  Hörer  die  ähnliche  mimische  Bewegung 
hervorzubringen  strebt.  Doch  der  Satz,  daß  die  durch  einen  äußeren 
Eindruck  erweckten  Lautgebärden  in  erster  Linie  mimische  Bewegungen 
und  dann  erst  sekundär  zugleich  Laute  sind,  gilt  selbstverständlich 
auch  für  die  Schallnachahmungen.  Bei  Wörtern  wie  klatschen, 
knistern,  krachen,  stöhnen,  summen  usw.,  bei  denen  der  wahrgenommene 
Eindruck  selbst  ein  Laut  und  das  Wort  ein  ihm  ähnlicher  Laut  ist, 
wird  gleichwohl  der  gehörte  Schall  entweder  unmittelbar  von  einer 


1)  Heyse,  System  der  Sprachwissenschaft,  S.  93  ff.  Heyse  selbst  faßt 
übrigens  den  Begriff  der  „Lautmetapher"  ziemlich  weit,  da  er  Wörter  wie  „sanft", 
,, scharf",  „weich",  „hell",  „lind",  und  viele  andere  hierher  rechnet,  die  jeden- 
falls nicht  zu  den  „Lautgebärden"  in  dem  oben  begrenzten  Sinne  gehören,  und 
bei  denen  es  sehr  zweifelhaft  ist,  ob  die  vermeintliche  Lautnachahmung  nicht 
erst  auf  der  gewohnheitsmäßigen  Assoziation  des  Lautes  mit  dem  Begriff  beruht, 
(Siehe  oben  S.  330.) 


Lautgebärden  zur  Bezeichnung  der  Artikulationsorgane.  345 


Artikulationsbewegung  begleitet,  oder  diese  assoziiert  sich  ohne 
weiteres  mit  ihm.  Nur  die  Wirkung  des  mit  der  Lautgebärde  ver- 
bundenen Lautes  wird  in  diesem  Fall  voraussichtlich  eine  stärkere 
sein  als  vorhin,  weil  hier  der  Laut  als  solcher,  nicht  bloß  durch  die 
mimischen  Bewegungen,  die  er  anregt,  an  den  ursprünglichen  Ein- 
druck gebunden  ist  und  so  nachträglich  als  eine  unmittelbare  Wieder- 
gabe desselben  erscheint. 


3.  Lautgebärden  zur  Bezeichnung  der  Artikulationsorgane. 

Die  Zurückführung  der  Schallnachahmungen  wie  der  Lautbilder 
a-uf  Lautgebärden  macht  eine  Gruppe  von  Erscheinungen  sofort  ver- 
ständlich, auf  die  der  Begriff  der  ,, Lautnachahmung"  unter  keinen 
Umständen  anwendbar  ist,  von  denen  man  aber  sagen  könnte,  sie 
seien  ihrer  Natur  nach  in  eigentlicherem  Sinne  Lautgebärden  als 
alle  andern.  Diese  Erscheinungen  bestehen  darin,  daß  Organe  und 
Tätigkeiten,  die  zur  Bildung  der  Sprachlaute  in  Be- 
ziehung stehen,  sehr  häufig  mit  Wörtern  benannt  werden, 
bei  deren  Artikulation  die  gleichen  Organe  und  Tätig- 
keiten mitwirken.  Demnach  erinnern  diese  Wortbildungen  an 
gewisse  in  der  Kindersprache  vorkommende  Ausdruckslaute,  wie  z.  B. 
an  die  früher  erwähnten  Laute  für  ,, essen":  mum,  ham,  am  (S.  295). 
In  der  Tat  mag  es  sein,  daß  hier,  ähnlich  wie  bei  den  Namen  für  Vater 
und  Mutter,  eine  gewisse  Nachwirkung  der  kindlichen  Lallaute  nicht 
ausgeschlossen  ist.  Von  dem  Lautwandel  scheinen  ferner  auch  diese 
Erscheinungen  nicht  wesentlich  berührt  zu  werden,  da  bei  dem  durch 
ihn  bewirkten  Wechsel  der  Laute  diese  immerhin  in  derselben  Laut- 
klasse verbleiben,  so  daß  die  Beziehung  zu  dem  Artilmlationsorgan 
nicht  verloren  geht,  übrigens  ist  es  charakteristisch,  daß  sich  die 
hierher  gehörigen  Lautbilder  ausschließlich  auf  solche  Organe  und 
deren  Funktionen  beziehen,  die  der  Sitz  deutlicher  Artikulations- 
empfindungen sind:  so  in  erster  Linie  auf  Zunge  und  Mund,  dann 
aber  auch  auf  Nase  und  Zähne. 

So  enthält  vor  allem  der  Name  für  das  Hauptorgan  der  Laut- 
artikulation,  die   Zunge,   in   zahlreichen    Sprachen   einen   lingualen 


346  Die  Sprachlaute. 


oder  dentalen  Konsonanten  als  den  Hauptti'äger  des  Wortes.  Da 
diese  beiden  GeräuscUaute  in  gleicher  Weise  unter  ausgeprägter 
Mitwirkung  der  Zungenbewegung  entstellen,  so  liat  der  ünterscbied, 
ob  lingual  oder  dental,  sowie  der  Übergang  des  einen  Lautes  in  den 
andern  durch  eintretenden  Lautwandel  in  diesem  Fall  keine  Bedeutung. 
Äbnlicli  kebrt  in  den  Bezeicbnungen  des  Mundes  und  gewisser  mit 
ibm  zusammenhängender  Tätigkeiten,  wie  schließen  (griech.  ^vw), 
essen  (chin.  nam,  jav.  mangan),  still  sein  (hebr.  alam,  latein.  mutus), 
der  labiale  Resonanzlaut  wieder.  In  manchen  Sprachen  scheint  der 
vom  Ausatmungsstrom  begleitete  labiale  Explosivlaut  gleichzeitig 
dem  Begriff  des  Blasens  und  dem  des  Mundes  zugrunde  zu  liegen: 
so  im  hebr.  faah  blasen,  feh  Mund.  In  noch  andern  Sprachen,  be- 
sonders in  solchen  des  malaio-polynesischen  Gebiets,  ist  ein  Aus- 
druckslaut, der  vielleicht  mit  der  mimischen  Nachbildung  des  Vogel- 
schnabels zusammenhängt,  auf  die  Bezeichnung  des  menschlichen 
Mimdes  übergegangen:  so  gibt  es  im  Malaiischen  neben  einem  älteren 
Wort  mulut  für  Mund  auch  ein  neueres  chotok,  welches  ursprünglich 
Schnabel  bedeutet,  im  Javanischen  wird  aber  nur  das  Wort  chochot 
für  beide  Begriffe  gebraucht^).  Diese  Beziehungen  sind  keineswegs 
allgemeingültiger  Art.  In  vielen  Fällen  sind  die  Benennungen  der 
Sprachorgane  offenbar  ganz  andern,  für  ims  nicht  mehr  erkennbaren 
Ursprungs.  Doch  der  Zusammenhang  mit  Gebärdebewegungen  der 
Artikulationsorgane  ist  immerhin  häufig  genug,  um  einen  Zufall  aus- 
zuschließen. Übrigens  ist  derselbe  wieder  am  häufigsten  für  die  Zunge^. 
etwas  seltener  für  die  übrigen  Organe  und  ihre  Tätigkeit  nachzu- 
weisen^). 


1)  Vgl.     die     Worttafel     bei     W.    von    Humboldt,     Kawi-Sprache,     II, 
S.  250. 

2)  Zur  Veranschaulichung  des  oben  Bemerkten  lasse  ich  hier  eine  Zu-- 
sammenstellung  von  Wörtern  verschiedener  Sprachen  für  die  genannten  Or- 
gane und  Tätigkeiten  folgen,  die  ich  hauptsächlich  Humboldts  Kawi-Sprache, 
Koelles  Polyglotta  Africana  und  Adelung- Vaters  „Mithridates"  entnehme. 
Dieses  Material  entspricht  natürlich  in  vieler  Beziehung,  namentlich  was  die 
Schreibung  der  Laute  betrifft,  nicht  mehr  den  heutigen  Anforderungen.  Doch 
darf  man  wohl  voraussetzen,  daß  die  hier  allein  in  Betracht  kommenden  Haupt - 
unterschiede  der  Laute  dabei  hinreichend  zum  Ausdruck  kommen. 

Zunge:  Türk.   du,  Ungar,  hyelo.  Ja  van.  liüaty  Madec.   lela,  Polyn.  elelOy 


Laut  gebärden  zur  Bezeichnung  der  Artikulationsorgane.  347 

Im  Unterschied  von  den  gewöhnliclien  ,,Lautnaclialimungen", 
die  sich  in  sehr  vielen  Fällen  als  sprachliche  Neubildungen  erweisen, 
kommen  diese  unmittelbaren  Ausdruckslaute  der  Sprachorgane  gleicher- 
weise in  älteren  wie  in  neueren  Sprachformen  vor;  sie  scheinen  daher 
ebenso  zu  den  ursprünglichsten  wie  zu  den  unvergänglichsten  Er- 
scheinungen der  Sprache  zu  gehören.  Dies  erklärt  sich  wohl  aus  den 
Bedingungen  ihrer  Entstehung.  Können  wir  nämlich  die  ,, Schall- 
nachahmungen'* und  die  „Lautbilder"  als  nachbildende  Laut- 
gebärden von  übereinstimmendem  Charakter  auffassen,  die  sich 
erst  sekundär,  durch  die  Wirkung,  die  bei  der  ersteren  Form  der  ge- 
hörte Laut  auf  den  Redenden  wie  Hörenden  ausübte,  gesondert  haben, 
so  besitzen  die  Ausdruckslaute  für  die  Artikulationsorgane  und  ihre 
Bewegungen  die  Bedeutung  hinweisender  Lautgebärden.  Auf 
diese  Weise  ergibt  sich  eine  vollständige  Analogie  mit  den  beiden 
allgemeineren  Klassen  der  nachbildenden  und  der  hinweisenden  Ge- 
bärden. Zugleich  ist  aber  im  vorliegenden  Fall  der  Unterschied  beider 
Formen  ein  relativ  geringerer  als  sonst.  Denn  die  nachbildende  Laut- 
gebärde erscheint  lediglich  als  eine  Übertragung  der  demonstrativen 
Bewegungen  der  Sprachorgane  auf  äußere,  ebenfalls  durch  charakte- 


Mal.  leda,  Austral,  tullun,  Afrik.  (Bornu)  telam,  Südafr.  (Basünde)  ludtmi,  Mo- 
zamb.  limi. 

Mund:  Mongol.  am,  Samoj.  namo.  Mal.  mulut,  Afrik.  (Fulbe)  hüiom,  Süd- 
afr. (Ründa)  mülam,  Madec.  muluh. 

Essen:  Chines.  nanif  Ja  van.  mangan,  Tahit.  amw,  Madec.  human,  Surinam. 
njarriy  Austral.  nomang,  Südafr.  (Susu)  nimiu. 

Stille  sein:  Tahit.  namu,  Fidschi  hamu,  Peruan.  amu,  Mpongwe-Indian. 
imamUy  Hebr.  alam. 

Blasen:  Mal.  pupuf,  Tongan.  huhu,  Neuseel.  pupu%  Austral.  iohun,  Kafir. 
pupma,  Galla  lufa,  Peruan.  pumöni,  Finn.  puTckia,  Hebr.  päah,  Nhd. 
pusten. 

Für  die  relative  Häufigkeit  dieser  Ausdruckslaute  mag  es  ein  gewisses 
Maß  abgeben,  daß  unter  den  200  von  Koelle  (Polyglotta  Africana,  1854)  auf- 
geführten afrikanischen  Sprachen  nach  Ausscheidung  aller  irgend  zweifelhaften 
Formen  für  die  Zunge  etwa  100,  für  den  Mund  bloß  53  als  Lautgebärden  gedeutet 
werden  können.  Natürlich  kommt  dabei  in  Betracht,  daß  vielfach  Wörter 
gleicher  Abstammung  mehreren  Sprachen  gemeinsam  sind.  Da  dies  aber  auch 
für  die  abweichenden  Wortbildungen  gilt,  so  wird  man  jenes  Maß  immerhin  als 
ein  annäherndes  betrachten  dürfen. 


348  Di©  Sprachlaute. 


ristisclie  Bewegungen  sich  auszeichnende  Objekte,  so  daß  hier  die 
beiden  Arten  der  Lautgebärde  die  natürlichen  und  notwendigen  Modi- 
fikationen einer  und  derselben  Grundform  sind,  die  in  gewissem  Sinne 
nachbildend  und  hinweisend  zugleich  ist. 


4.  Natürliche  Lautmetaphern. 

Unter  einer  ,, Lautmetapher"  verstehen  wir  im  allgemeinen  eine 
Beziehung  des  Sprachlauts  zu  seiner  Bedeutung,  die  sich  dadurch 
dem  Bewußtsein  aufdrängt,  daß  der  Gefühlston  des  Lautes  dem  an 
die  bezeichnete  Vorstellung  gebundenen  Gefühl  verwandt  ist.  Solche 
Metaphern  sind  künstlich,  wenn  der  Dichter  oder  Eedner  die  Schall- 
färbung und  den  Ehythmus  seiner  Worte  so  wählt,  daß  sie  den  Gefühls- 
ton des  Gedankeninhalts  wiedergeben.  Dabei  kann  zugleich  die  Laut- 
metapher ohne  scharfe  Grenze  in  die  Lautnachahmung  übergehen. 
So  bleibt  der  homerische  Vers  (Od.  XI,  598):  avtig  emtxa  Ttidovöe 
Tivllvöevo  läccg  ävaiöijg  noch  im  wesentlichen  in  den  Grenzen  der 
Lautmetapher,  die  Übersetzung  von  Voß:  ,, Hurtig  mit  Donnergepolter 
entrollte  der  tückische  Marmor"  ist  aber  fast  vollständig  zur  Schall- 
nachahmung geworden.  In  dem  Schillerschen  Lied  von  der  Glocke 
nähern  sich  die  Verse  „Von  dem  Dome  schwer  und  bang  tönt  die 
Glocke  Grabgesang"  der  Schallnachahmung,  die  Schluß verse  ,, Ziehet, 
ziehet,  hebt,  sie  bewegt  sich,  schwebt"  enthalten  keine  Spur  einer 
solchen,  aber  sie  haben  den  allgemeinen  Charakter  der  Lautmetapher. 
Natürliche  Lautmetaphern  werden  wir  nun  nach  Analogie  dieser 
Beispiele  solche  Wortbildungen  nennen,  die  auf  dem  Wege  der  natür- 
lichen Sprachentwicklung  entstanden  sind  und  zugleich  eine  durch 
den  Gefühlston  des  Lautes  vermittelte  Beziehung  zwischen 
diesem  und  seiner  Bedeutung  erkennen  lassen.  Während  die  künst- 
liche Lautmetapher,  da  sie  ein  gegebenes  und  an  sich  im  allgemeinen 
nicht  metaphorisches  Lautmaterial  verwendet,  er^t  in  größeren  Wort- 
verbänden  und  Satzfügungen  zur  Geltung  kommt,  haftet  die  natür- 
liche dem  einzelnen  Worte  selbst  an.  Nun  braucht  auch  eine  dichte- 
rische Lautmetapher  kein  Erzeugnis  planmäßiger  Absicht  zu  sein, 


Natürliche  Lautmetaphern.  349 


sondern  sie  kann  sich  ungesucht  darbieten,  lediglicli  unter  der 
Wirkung  des  Triebes,  den  Ausdruck  adäquat  der  Vorstellung  zu 
gestalten.  Der  Gegensatz  des  ,, Künstlichen"  und  ,, Na  türlichen" 
bezieht  sich  also  hier  weniger  auf  die  Entstehung  der  Laut- 
metapher selbst  als  auf  die  der  Spracherzeugnisse,  in  denen  sie 
vorkommt.  Dieser  Unterschied  kann  dann  aber  freilich  zugleich 
den  andern  mit  sich  führen,  daß  die  künstliche  zu  einer  absicht- 
lichen wird,  wie  das  bei  dem  angeführten  Hexameter  von  Voß 
zweifellos  der  Fall  ist. 

Hat  schon  die  künstliche  Lautmetapher  infolge  der  Mannig- 
faltigkeit der  Gefühlsassoziationen  der  Klänge  eine  gewisse  Unbestimmt- 
heit und  Vieldeutigkeit,  so  gilt  dies  nun  in  noch  höherem  Grade  von 
der  natürlichen,  da  diese  dem  Laut  des  einzelnen  Wortes  an- 
haftet, so  daß  ihr  alle  die  Mittel  der  Klang  Verbindung  und  des  Rhyth- 
mus, deren  sich  poetische  Lautmetaphern  bedienen,  abgehen.  Statt 
dessen  kommt  bei  ihr  durchweg  ein  anderes  Moment  zur  Geltung, 
das  im  allgemeinen  zugleich  das  einzig  sichere  Kriterium  für  ihre  Unter- 
scheidung von  zufälligen  oder  auf  eingeübter  Assoziation  beruhen- 
den Beziehungen  zwischen  Laut  und  Bedeutung  bildet.  Es  besteht 
darin,  daß  die  natürliche  Lautmetapher  stets  ein  Glied  in  einer  Reihe 
zusammengehöriger  Erscheinungen  ist,  aus  deren  Vergleichung  erst 
der  metaphorische  Charakter  des  einzelnen  Lautes  erschlossen  werden 
kann.  ,, Na  türliche  Lautmetaphern"  setzen  also  korrelative  Ver- 
änderungen von  Laut  und  Bedeutung  voraus.  Die  Erscheinungen 
sind  aber  nur  dann  mit  einiger  Sicherheit  als  Lautmetaphern  aufzu- 
fassen, wenn  das  einzelne  Wort  nicht  einen  isolierten  Fall  bildet,  son- 
dern wenn  Wörter  von  etwas  abweichendem  Laut-  und  Bedeutungs- 
inhalt vorkommen,  und  die  Lautvariation,  die  dabei  beim  Übergang 
des  einen  Wortes  zum  andern  stattfindet,  mit  einem  entsprechen- 
den Wechsel  des  sinnlichen  Gefühlstons  der  Laute  verbunden  ist. 
Hierdurch  wird  sofort  eine  große  Zahl  von  Wörtern,  in  denen  man 
oft  mit  Vorliebe  Lautmetaphern  gesehen  hat,  von  diesem  Gebiet 
ausgeschlossen,  weil  bei  ihnen  jenes  Kriterium  korrelativer  Laut- 
äriderungen  fehlt.  Dahin  gehören  Wörter  wie  Liehe,  Schmerz,  lind, 
sanft,  hart  usw.  Von  andern  wie  süß,  bitter,  spitz,  stumpf  muß  es  wenig- 
stens dahingestellt  bleiben.   (Vg.  oben  S.  330.)  Auch  bei  diesen  zweifei- 


350  Die    Sprachlaute. 


haften  Beispielen  sind  es  aber  solche,  die,  wie  süß  und  hitter^  Gegen- 
sätze des  Gefühls  andeuten,  bei  denen  eine  Lautmetapher  noch  am 
wahrscheinlichsten  ist^). 

Beschränken  wir  uns  nun  auf  Fälle,  in  denen  das  angegebene 
Merkmal  zutrifft,  so  können  namentlich  folgende  Erscheinungen  mit 
Wahrscheinlichkeit  als  natürliche  Lautmetaphern  angesehen  werden: 
1)  die  Bezeichnungen  von  Vater  und  Mutter  mit  ihren  meist  den 
konsonantischen  Bestandteilen  dieser  Wörter  anhaftenden,  dem  Gegen- 
satz des  starken  und  des  schwachen  Geschlechts  entsprechenden  Laut- 
färbungen; 2)  die  Lautabstufungen  bei  Wörtern,  die  verschiedene 
räumliche  Entfernungen  entweder  direkt  ausdrücken,  wie  die 
Ortsadverbien,  oder  stillschweigend  enthalten,  wie  die  Demonstrativ- 
und  Personalpronomina,  indem  hier  in  vielen  Fällen  der  größeren 
Entfernung  der  stärkere  Laut  entspricht;  3)  die  Lautvariationen  bei 
Wörtern,  die  verschiedene  Modifikationen  einer  und  der- 
selben Tätigkeit  bezeichnen,  wobei  die  jedesmalige  Lautfärbung 
die  der  Bedeutungsmodifikation  entsprechende  Gefühlsfärbung 
wiedergibt. 

a.  Lautmetaphern    in  den  Wörtern  für  Vater  und  Mutter. 

Der  großen  Analogie  zahlreicher  und  zum  Teil  weit  entlegener 
Sprachen  in  den  Namen  für  Vater  und  Mutter  ist  schon  oben  als  eines 
Zeugnisses  für  den  Übergang  gewisser  Naturlaute  in  die  Sprache  ge- 
dacht worden  (S.  327  f.).  In  den  dort  erwähnten  je  vier  Typen,  fa, 
ap,  ta,  at  für  den  Vater,  ma,  am,  na,  an  für  die  Mutter  ist  aber  zu- 
gleich ein  Lautunterschied  ausgeprägt,  nach  welchem  dem  stärkeren 
Geschlecht  der  stärkere,  dem  schwächeren  der  schwächere  Laut  ent- 
spricht, insofern  wir  diese  Unterscheidungen  des  stärker  und  schwächer 
für  den  Gegensatz  der  labialen  oder  dentalen  Explosivlaute  f  und  t 
gegenüber  den  labialen  oder  nasalen  Kesonanzlauten  m  und  n  hier 
der  Kürze  wegen  anwenden  dürfen.  Denn  gewiß  sind  ja  diese  Bezeich- 
nungen auch  mit  Rücksicht  auf  den  Gefühlston  der  Laute  nicht  er- 


1)  Über  die  Wörter  für  süß  und  bitter  in  verschiedenen  Sprachen  vgl.  üb- 
rigens unten  Kap.  VIII,  Nr.  IV. 


Natürliche  Lautmetaphern. 


351 


schöpfend,  da  namentlich  die  längere  Dauer  und  der  klangartige  Cha- 
rakter der  Resonanzlaute  ihre  Gefühlswirkung  wesentlich  mitbedingt. 
Daß  diese  Regelmäßigkeit  eine  zufällige  sei,  ist  wieder  durch  die  Zahl 
der  Fälle  ausgeschlossen.  Auch  findet  sich  gelegentlich  ein  vokalischer 
Lautunterschied,  der  einen  ähnlichen  Gegensatz  auszudrücken  scheint, 
indem  der  stärkere  Vokal,  a  oder  u,  für  den  Vater,  der  schwächere  e 
oder  i,  für  die  Mutter  charakteristisch  ist^). 

Für  diese  Korrelation,  die  durch  die  Beschaffenheit  der  Laut- 
gebilde den  Gedanken  an  die  Lailaute  des  Kindes  unmittelbar  nahe- 
legt, sind  im  allgemeinen  drei  Erklärungen  gegeben  worden.  Erstens 
meint  man,  der  Laut  ma  sei  der  frühere  und  der  häufigere  unter  den 
vorsprachlichen  Artikulationen  des  Kindes,  darum  sei  er  für  die  Mutter 
gewählt  worden,  worauf  der  andere  fa  allein  für  den  Vater  übrig 
blieb ^).      Diese  Deutung    scheitert    jedoch  aus  mehreren   Gründen. 


1)  Einige  Beispiele  aus  Buschmanns  Tabellen  (a.  a.  0.  S.  14  ff.)  mögen 
diese  Verhältnisse  veranschaulichen.  Ich  wähle  die  Beispiele  so,  daß  möglichst 
die  verschiedenen  obenerwähnten  Fälle  in  ihnen  repräsentiert  sind. 


Semitisch 
Vater:       ab 
Mutter:      am 


Asiatisch-europäische   Sprachen: 

Türkisch       Mongolisch      Tungusisch      Finnisch  Baskisch 

ata,  aha            dba                    ami            oeta,  atya  aita 

ana                   ege                     aenni         enne  ama 


Afrikanische  Sprachen: 

Kosah   Bechuana    Mozambique    Suaheli    Kongo  Galla  Hottentottisch 

Vater:      vao  baato         tete,  tili  babe  lata  aba  iip 

Mutter:    mao         naacho      mama,  amao    amowo      mama  häda  mama 


Vater: 
Mutter: 


Amerikanische  Sprachen: 

Lummi-Ind.       Cataquina      Kuki      Khajin  Dakota  Cherokee 

man                 payu           fall        amay          atä  atoteh 

tan                   nayu           noh        iney  innan  atsing 


Malaio-polynesische  Sprachen: 
Javanisch     Bugi     Madecassisch     Tagalisch      Neuseeländisch 
bapa        ama         rai,  bdha  awa  matua  tane 

ma  ina  reni  ina  matua  wähina 

(Elter  Mann,  Elter  Frau). 

2)  Sütterlin,  Das  Wesen  der  sprachlichen  Gebilde,  S.  3L 


Malaisch 
Vater:  pa,  bdha 
Mutter:  ama 


352  Die  Sprachlaute. 


Zunächst  ist  es  überhaupt  nicht  richtig,  daß  der  ma-Laut  der  ur- 
sprünglichere und  der  häufigere  sei.  Wenigstens  gilt  das  nicht,  wenn 
man  an  die  Lallaute  des  Kindes  denkt,  unter  denen  ha  ha,  pa  pa,  da 
da  usw..  Laute,  die  den  Vater  zu  charakterisieren  pflegen,  weit  über- 
wiegen^). Sodann  müßte  nach  dieser  Theorie  notwendig  erwartet 
werden,  daß  der  ma-Laut  als  Muttername  der  frequentere,  der  pa- 
Laut  als  Vater name  der  seltenere  sei.  Wiederum  ist  aber,  wie  schon 
eine  flüchtige  Durchmusterung  der  Vokabularien  lehrt,  das  Gegen- 
teil richtig^).  Nach  einer  zweiten  Hypothese  soll  ebenfalls  der  Mutter- 
name der  Ausgangspunkt  der  Unterscheidung  gewesen  und  die  Be- 
zeichnung des  Vaters  daher  nur  als  eine  zufällige  Ergänzung  desselben 
entstanden  sein,  der  ma-Laut  für  die  Mutter  soll  aber  an  die  Saug- 
bewegungen des  Kindes  erinnern^).  Abgesehen  davon,  daß  die  vor- 
hin erwähnte  größere  Häufigkeit  des  2?a-Lautes  für  den  Vaternamen 
auch  mit  dieser  Interpretation  unvereinbar  ist,  dürfte  jedoch  die  Be- 
hauptung, das  bald  glucksende  bald  schmatzende  Geräusch  des  trinken- 
den Säuglings  erinnere  an  den  Laut  ma,  bei  jedem,  der  Säuglinge  be- 
obachtet hat,  erheblichen  Bedenken  begegnen.  Eher  ließe  sich,  wenn 
man  einmal  zufällige  und  einseitige  Assoziationen  zu  Hilfe  nehmen 
will,  an  die  Möglichkeit  denken,  daß  zwar  nicht  unter  den  zur  Zeit 
der  Wortbildung  vornehmlich  in  Betracht  kommenden  Lallworten 
des  Kindes,  wohl  aber  von  frühe  an  unter  den  Schreilauten  der  Laut 
ma  nicht  selten  vorkommt.  Da  könnte  dann  allenfalls  auf  die  Mutter, 
die  das  schreiende  Kind  beruhigt,  dieser  Schreilaut  übertragen  worden 


^)  Dies  lehren  nicht  bloß  meine  eigenen  Aufzeichnungen,  sondern  auch 
die  Mitteilungen  von  Preyer  u.  a.  Vgl.  z.  B.  Preyer,  Die  Seele  des  Kindes,  ^  S.  370  ff. 
424  ff.     Moore,  The  Child,  p.  116. 

2)  In  Koelles  Vokabularien  afrikanischer  Sprachen,  die,  wenn  sie  auch 
heutigen  lautphysiologischen  Ansprüchen  nicht  mehr  völlig  genügen,  für  die 
verhältnismäßig  rohen  Artikulationsunterschiede,  um  die  es  sich  hier  handelt, 
einen  vergleichenden  Maßstab  abgeben  können,  finde  ich  in  einer  Gesamtzahl 
von  200  Sprachen  158  Fälle  des  Typus  pa  oder  ta  für  Vater,  und  nur  99  Fälle 
des  Typus  ma  oder  na  für  Mutter.  Im  Mutternamen  spielt  eben  die  vo- 
kalische Dämpfung  eine  größere  Rolle,  und  sie  findet  sich  bei  sonst  ab- 
weichender Lautbildung  auch  da,  wo  der  Vatername  jenen  häufigsten  Typen 
folgt. 

3)  Delbrück,  Grundfragen  der  Sprachforschung,  S.  78. 


Natürliche  Lautmetaphem.  353 


sein.  Mag  man  das  nun  immerhin,  nach  dem  Prinzip  der  Kompli- 
kation der  Bedingungen,  als  eine  möglicherweise  mitwirkende  Ur- 
sache gelten  lassen,  für  die  Gesamtheit  der  Erscheinungen  würde  auch 
diese  Interpretation  unzulänglich  sein,  teils  wegen  des  schon  erwähnten 
Übergewichts  der  fa-  und  ^a-Laute  für  den  Vater,  teils  weil  sie  über- 
haupt für  alle  die  Fälle  nicht  zutrifft,  in  denen  die  Unterscheidung 
ganz  und  gar  dem  Gebiet  der  Vokalbildung  angehört,  hier  aber  nicht 
minder  in  einer  den  Zufall  ausschließenden  Kegelmäßigkeit  in  dem 
oben  angegebenen  Sinne  zu  beobachten  ist,  wie  vor  allem  im  Gebiet 
der  amerikanischen  und  zum  Teil  auch  der  ural-altaischen  Sprachen. 
Dies  führt  zugleich  auf  die  dritte  der  möglichen  Erklärungen,  die 
jedenfalls  den  Vorzug  hat,  daß  sie  alle  Erscheinungen  dieses  Gebiets 
zusammenfaßt  und  für  beide  Elternnamen  zutrifft,  nicht  den  einen, 
und  dazu  noch  den  konstanteren,  als  bloßes  Produkt  des  Zufalls  an- 
sieht. Ein  solcher  Zufall  wird  ohnehin  schon  dadurch  unwahrschein- 
lich, daß  hier  die  Lautgebilde  selbst  zumeist  in  einer  deutlich  erkenn- 
baren Korrelation  stehen.  Dabei  können  dann  diese  Lautbeziehungen 
äußerlich  von  sehr  verschiedener  Beschaffenheit  sein,  während  sie 
doch  in  dem  psychologischen  Charakter  der  Lautdifferenzierung  über- 
einstimmen. Lautgebilde  wie  yafa  und  mama  auf  der  einen,  ama 
und  ina  auf  der  andern  Seite  sind  ja  an  sich  außerordentlich  ver- 
schieden. Aber  in  einer  dem  zweiten  Wort  eigenen  Schwächung  des 
Lautes  stimmen  sie  überein.  Und  da  nun  diese  Form  sich  begleitender 
Veränderungen  nicht  auf  w^enige  Fälle  beschränkt  ist,  sondern  in  einer 
großen  Zahl  der  lebenden  Sprachen  wiederkehrt,  so  haben  wir  allen 
Anlaß,  einen  psychologischen  Grund  zu  vermuten.  Hierbei  isb  je- 
doch zu  bedenken,  daß  nicht  das  Kind,  sondern  die  erwachsene  Um- 
gebung im  Verkehr  mit  dem  Kinde  auch  diese  Lautdifferenzierung 
geschaffen  hat,  da  gerade  die  Namen  für  Vater  und  Mutter,  wie  schon 
Preyer  bemerkte,  nachweislich  immer  erst  von  außen  dem  Kinde 
dargeboten  und  von  ihm  meist  nur  allmählich  richtig  angewandt 
werden^).  Eben  darum  nehmen  nun  diese  Namen  an  jenem  allgemeinen 
Zug  zu  onomatopoetischen  Bildungen  teil,  die  weder  das  Kind  noch 


1)  Preyer,  Seele  des  Kindes,  3  S.  353.     Vgl.  oben  S.  288  ff. 

W  u  n  ä  t ,  VölterpBychologie.    1.    4.  AbA.  23 


354  I^iö  Sprachlaute. 


der  Erwachsene  für  sich  zustande  bringen  würde,  die  sich  aber  mit 
instinktivem  Zwang  als  eine  natürliche  Ausdrucksform  einstellen, 
wo  sich  die  Umgebung  des  Kindes  diesem  unter  Benutzung  seines 
Lautmaterials  verständlich  machen  will.  Wo  eine  eigentliche  Laut- 
nachahmung nicht  zu  Gebote  steht,  da  greift  dann  die  Mutter  oder 
Amme  zur  Lautmetapher,  das  heißt  zu  Lautbildern,  die  zu  den  Gegen- 
ständen selbst  keine  objektiven  Beziehungen  bieten,  denen  aber  eine 
dem  Unterschied  der  Objekte  entsprechende  Verschiedenheit  des 
Gefühlstons  eigen  ist.  Somit  ist  die  Entstehung  der  Bezeichnungen 
für  Vater  und  Mutter  kein  spezifischer  Ausnahmefall,  sondern  sie 
zeigt  nur  in  einer  stabil  gewordenen  Form  eine  Erscheinung,  die  sich 
in  einer  vergänglicheren  Weise  in  den  fortwährend  entstehenden  und 
verschwindenden  Lautmetaphern  der  Kinderstube  unter  unsern 
Augen  ereignet.  In  dem  Verkehr  zwischen  Mutter  und  Kind  hat  jeder 
Sprachlaut  seinen  Gefühlston,  mag  er  nun  in  die  vorgefundenen  Wörter 
hineingelegt  werden,  oder  mag  er  in  neuen  Lautbildungen  sich  Luft 
machen. 


b.    Lautmetaphern     in     Ortsadverbien     und     Pronominal- 
formen. 

Isc  die  vokalische  Lautabstufung  bei  der  Unterscheidung  von 
Vater  und  Mutter  eine  seltenere  Lautmetapher,  so  scheint  sie 
dagegen  bei  der  Unterscheidung  der  Ortsbegriffe  entschie- 
den vorzuwalten.  Sie  besteht  hier  in  einer  Korrelation 
zwischen  Lautsteigerung  und  Zunahme  des  Raumes. 
Besonders  die  Sprachen  der  primitiven  Kulturvölker  zeigen 
diese  Erscheinung  in  augenfälliger  Weise,  während  sie  z.  B.  in  den 
semitischen  und  indogermanischen  Sprachen  entweder  ganz  fehlt 
oder  sich  jedenfalls  der  sicheren  Nachweisung  entzieht.  Ahnlich 
den  Ortsadverbien  „hier"  und  ,,dort"  verhalten  sich  in  dieser 
Beziehung  die  Demonstrativpronomina  ,, dieser"  und  ,, jener". 
Wie  der  entferntere  Ort,  so  wird  die  entferntere  Person  durch 
Steigerung  des  Vokaltons  ausgedrückt,  wobei  durchweg  a,  o  und  u 
als  die  stärkeren,   e  und  i  als    die    schwächeren    Vokale    erscheinen. 


Natürliche  Lautmetaphem.  355 

Daneben    kommen    dann    auch    konsonantische    Lautverstäikungen 
vor^). 

Augenfällige  Zeugnisse  für  das  Vorkommen  natürlicher  Laut- 
metaphern in  diesen  Fällen  liefern  die  Sprachen  mancher  Natur- 
völker, namentlich  da,  wo  sich  in  ihnen  eine  mehrfache  Abstufung 
solcher  Unterschiede  ausgebildet  hat,  eine  Erscheinung,  die  nicht 
ganz  selten  vorkommt,  und  die  durchaus  der  konkreten  Form  des 
Denkens  in  diesen  Sprachen  gemäß  ist.  So  finden  sich  in  den  poly- 
nesischen  Sprachen  im  allgemeinen  drei  Ortsabstufungen  mit  den 
Stammsilben  ni,  nei,  na  und  m;  nur  in  einzelnen  dieser  Sprachen 
haben  sich  aber  alle  drei  Abstufungen  erhalten.  Ebenso  verhält  es 
sich  mit  dem  Demonstrativpronomen,  wo  das  Neuseeländische  die 
Steigerungsformen  tenei,  tena,  tera  (oder  enei,  ena,  era),  ,, dieser",  ,, jener 
hier",  ,, jener  dort",  besitzt,  die  wieder  nichts  anderes  als  pronominale 
ümwandlungsformen  der  drei  Ortsadverbien  nei,  na,  ra  sind  (,,hier", 
„dort",  „dort  in  der  Feme"  oder,  von  der  Zeit  gebraucht,  „damals"). 
Das  Tahiti  hat  dafür  die  drei  Stufen  teie  ,, dieser",  teienei  „dieser  dort" 


1)  Das  folgende  Verzeichnis  mag  diese  Sätze  veranschaulichen. 

Ortsadverbien 
Madecassisch      Tahitisch     Tagalisch      Japanisch    Dhimalisch  Ossetisch 


hier: 

io 

io  nei 

dito 

ko                 ita 

am 

dort: 

ao 

ia  na 

taon 

ka                  Uta 

um 

Suluanisch 

Sahaptinisch 

Mutsunisch 

Tarahumaranisch 

Vai 

hier: 

aya 

kina 

ne 

ihe 

nt 

dort: 

apo  . 

kuna 

nu 

ale 

nu 

Demonstrativpronomina: 

Javanisch  Neuseeländisch    Tagalisch    Tamulisch  Dhimalisch       Soso 

dieser:        iki  tinei  dini  i  iti  yo 

jener:         iku  tera  yari  a  uti  na 

Mande      Vai       Jorubanisch       Abchassisch       Magyarisch 

dieser:       nyin        me  na  dbri  ez 

jener:  wo  ke  ni  uhri  az 

23* 


356  I^ie  Sprachlaute. 


und  taua  ra  „jener*'  ^).   Der  Übergang  von  der  ersten  zur  zweiten  Stufe 
wird  also  meist  durch  Vokalsteigerung,  der  von  der  zweiten  zur  dritten 
durch  konsonantische  Verstärkung  vermittelt.     Ebenso  besitzen  die 
Sudan-  und  die  Bantusprachen  für  die  Abstufungen  der  Orts-  und  der 
Personenbezeichnung  zumeist  Vokalsteigerungen,  zuweilen  aber  auch 
Konsonantenverstärkungen:  z.  B.  für  ,, dieser"  und  ,, jener"  im  Soso 
yi  und  na,  im  Mande  nyin  und  wo,  dagegen  im  Vai  me  und  he;  für  ,,hier" 
und  ,,dort"  hat  das  letztere  wieder  verschiedene  Abstufungen,  näm- 
lich nie  und  nu,  oder  auch  nume,  nume  und  nuro^).    In  den  Bantu- 
sprachen hat  im  allgemeinen  das  Pronomen  der  ersten  Person  den  hohen, 
das  der  zweiten  den  tiefen  Ton  (m^  und  Jeu),  und  das  ähnliche  findet 
sich  meist  bei  dem  nach  drei  Entfernungen  abgestuften  Demonstrativ- 
pronomen; doch  werden  hier  die  Erscheinungen  zum  Teil  durch  Vor- 
gänge des  Lautwandels  modifiziert^).    Nicht  minder  ausgeprägt  finden 
sich  diese  Vokalabstufungen  in  den  hami tischen  Sprachen.     In  der 
Regel  bezeichnet  dabei  i  die  kleinste,  a  eine  mittlere  und  u  die  größte 
Entfernung*).    Wo  die  Tonmodulation  vorherrscht,  wie  in  den  Sudan- 
sprachen, kann  in  solchen  Fällen  der  Klangcharakter  des  Vokals  der 
gleiche  bleiben  und  nur  die  Tonhöhe  in  entsprechendem  Sinne  wechseln. 
Alle  diese  Erscheinungen  zeigen  freilich  zugleich,   daß  die   Gefühls- 
betonungen  der   Laute   keine   konstanten,   in   allen    Sprachen   über- 
einstimmenden Werte  sind.    Auch  können  sie  durch  Akzent  und  Dauer 
der  Laute  sowie  durch  die  sonstigen  Bedingungen  des  Lautwandels 
Abänderungen  erfahren.     Darum  kann  hier  immer  erst  eine  größere 
Zahl   parallel  gehender  Variationen   von   Laut  und   Bedeutung   eine 
entsprechende    Lautmetapher    wahrscheinlich    machen.       Auch    sind 
die  Lautabstufungen  des  Personalpronomens  wohl  ebenfalls  den  räum- 
lichen Entfernungsunterschieden  zuzuordnen.     Doch  dürfte  zuweilen 
noch   ein  anderes  Moment  mitwirken,   das  der  Lautmetapher  ihren 
eigenartigen  Charakter  verleiht.     Auffallend  häufig  kommen  nämlich 


1)  Buschmann  in  Humboldts  Kawi- Sprache,  III,  S.  819.   Fr.  Müller,  Grund- 
riß der  Sprachwissenschaft,  II,  2,  S.  29. 

2)  Steinthal,  Die  Mande- Negersprachen,  S.  81  ff. 

3)  Meinhof,  Grammatik  der  Bantusprachen,  1906,  S.  35  ff. 

*)  Meinhof,  Archiv  für  Anthropologie,  N.  F.,  Bd.  9,  1910,  S.  198. 


Natürliche  Lautmetaphern. 


357 


für  das  „Ich''  die  Resonanzlaute,  namentlich  der  labiale  m,  in 
sonst  gänzlich  stammesfremden  Sprachen  vor.  Da  schon  der  Natur- 
mensch nach  weitverbreiteten  animistischen  Vorstellungen  sein  Ich 
in  das  Innere  seines  Körpers  verlegt,  so  mag  der  bei  verschlossenen 
Lippen  hervorgebrachte  Laut  hier  als  eine  natürliche  Lautmetapher 
für  das  Ich  empfunden  werden.  In  einzelnen  Fällen,  wie  z.  B.  im 
Lateinischen,  Griechischen,  Deutschen,  ist  der  labiale  Resonanzlaut 
aus  der  Nominativform  verschwunden,  während  er  im  Akkusativ 
erhalten  blieb  (ego  —  me,  ich  —  mich).  Diese  Lautanalogien  haben 
bisweilen  einen  genealogischen  Zusammenhang  der  Sprachen  oder 
eine  äußere  Übertragung  vermuten  lassen.  Wenn  aber  die  Laut- 
abstufungen ma,  ta,  sa,  mit  denen  das  Sanskrit  das  Ich,  Du  und  Er 
bezeichnete,  mit  dem  Hebräischen  ani,  attu,  hu,  dem  mon,  ton,  son 
des  Lappen,  dem  an,  ad,  u  (ai)  des  Somali  und  mit  den  gleichen  Formen 
noch  vieler  anderer  Sprachen  analoge  Variationen  darbieten,  so  kann 
namentlich  in  den  letzteren  Fällen  weder  an  ursprüngliche  Verwandt- 
schaft noch  selbst  an  eine  frühe  Übertragung  gedacht  werden^).  Denn 
das  Ich  und  das  Du  (für  die  dritte  Person  tritt  zumeist  ein  Demon- 
strativpronomen ein)  gehören  überall  zu  den  frühesten  Bestandteilen 
der  Sprache.  Auch  ist  der  wirkliche  genealogische  Zusammenhang, 
wie  er  z.  B.  die  verschiedenen  indogermanischen  Sprachen  verbindet, 


1)  Die  folgende  Übersicht,  ein  kurzer  Auszug  aus  den  Paradigmen  in  Fr. 
Müllers  Grundriß  der  Sprachwissenschaft,  mag  dies  veranschaulichen. 

Sanskr.      Hebräisch     Somali     Lappisch     Türkisch     Mandschu    Mongolisch 

ma  {äham)  ani  an  mon  hen  hi  ben 

ta  {twam)        atta  ad  ton  sen  si  isehi 

sa  hu  u  {ai)  son  öl  tere  tere 


Tumelisch   Madecassisch   Hawaiisch    Javanisch    Südaustralisch  Loango  Kongo 

'iigi               ahu                 au             haku               ngai  i  meno 

ninna  u  nge 

pa  ha  oyandi 


ngo 

ano 

ko}> 

kowe 

ngu 

iza 

ja 

hiya 

Amakosa 

Mande 

Lenni-Lennape 

Sahaptin 

mina 

en 

ni 

in 

ivena 

i 

ki 

im 

Jena 

a 

neka 

ipi 

358  Die  Sprachlaute. 


von  der  wahrsclieinlicli  nur  durcli  übereinstimmende  Lautmetaphern 
vermittelten  Analogie  olme  weiteres  zu  unterscheiden.  Dort  tritt  uns 
eine  eigentliclie  Lautverwandtschaft,  hier  bloß  eine  analoge  Abstufung 
der  Laute  bei  im  übrigen  meist  völliger  Verscbiedenlieit  entgegen. 
Poch  ist  anzuerkennen,  daß  diese  Regel  der  Lautabstufung  beim  per- 
sönlichen im  ganzen  häufiger  als  beim  hinweisenden  Pronomen  von 
Ausnahmen  durchkreuzt  wird.  Dies  mag,  abgesehen  von  den  sonstigen, 
namentlich  im  Lautwechsel  gelegenen  Bedingungen,  teilweise  schon 
aus  der  soeben  berührten  Komplikation  verschiedener  Lautmetaphern 
zu  erklären  sein.  Vor  allem  aber  ist  zu  bedenken,  daß  die  hier  überall 
zugrunde  liegende  räumliche  Entfernungsanschauung  beim  Demon- 
strativum  eine  weit  unmittelbarere  ist  als  bei  dem  Personale,  bei  dem 
sie  wohl  erst  durch  eine  Assoziation  mit  jenem  zustande  kommt. 
Übrigens  muß  auch  hier  betont  werden,  daß  einzelne  Beispiele,  die 
sich  dem  Prinzip  der  Lautmetapher  nicht  fügen,  in  allen  diesen  Fällen 
nicht  als  Gegeninstanzen  gelten  können.  Eine  ausnahmslose  Über- 
einstimmung würde  angesichts  der  Komplikation  verschiedener  und 
zum  Teil  widerstreitender  Bedingungen  eine  absolute  Unmöglich- 
keit sein.  Wenn  im  Hebräischen  eine  sonst  weitverbreitete  Laut- 
metapher vorkommt,  die  das  Assyrische  nicht  hat,  so  hört  darum  jene 
nicht  auf,  eine  Lautmetapher  zu  sein;  gerade  so  wenig,  wie  für  uns 
das  Wort  donnern  aufhört  eine  Schallnachahmung  zu  sein,  weil  das 
stammverwandte  Wort  in  andern  indogermanischen  Sprachen  keine 
solche  ist.  Es  gibt  zweifellos  ursprüngliche,  und  es  gibt  ge- 
wordene Schallbilder  und  Lautmetaphern,  und  diese  gewordenen 
können  ebensogut  Neubildungen  wie  Ableitungen  aus  alten  Wort- 
stämmen sein,  in  denen  solche  Beziehungen  noch  nicht  vor- 
handen waren  ^). 


1)  Danach  kann  ich  auch  die  von  P.  W.  Schmidt  (Mitteilungen  der  An- 
thropologischen Gesellschaft  in  Wien,  Bd.  33,  1903,  S.  369)  beigebrachten  Gegen- 
beispiele nicht  als  richtig  anerkennen. 


Natürliche  Lautmetaphern.  359 

c.   Korrespondierende    Laut-    und    Bedeutungsvariationen 
bei  Eigenschafts-  und  Tätigkeitsbegriffen. 

Eine  dritte  Reihe  hierher  gehöriger  Erscheinungen  besteht  in 
Lautvariationen  stammverwandter  Wörter  bei  intensiven  oder  quali- 
tativen Abstufungen  von  Eigenschafts-  und  Tätigkeitsbegriffen. 
Dabei  ist  eine  Lautmetapher  an  dem  ursprünglichen  Wortstamm  in 
der  Regel  nicht  zu  erkennen.  Aber  die  von  dieser  anscheinend  in- 
differenten Grundlage  ausgehenden  Lautvariationen  lassen  sie  deut- 
lich hervortreten.  Belehrende  Beispiele  bietet  hier  das  Gebiet  der 
Sudansprachen,  und  wiederum  sind  es  die  Vokale,  die  je  nach  Klang- 
farbe oder  Tonhöhe  die  Bedeutung  in  ähnlichem  Sinn  modifizieren 
wie  beim  Demonstrativum.  So  bedeutet  im  Ewe  ein  Adjektiv  mit 
Tiefton  und  mit  verlängertem  Vokal  gesprochen  einen  großen,  im 
Hochton  und  mit  verkürztem  Vokal  einen  kleinen  Gegenstand^). 
Mit  Recht  hat  schon  Meinhof  darauf  hingewiesen,  daß  wir  uns  un- 
willkürlich der  gleichen  Lautvariation  bedienen,  wenn  wir  einem 
Kinde  Geschichten  erzählen,  in  denen  Riesen  oder  große  Tiere  und 
Zwerge  oder  kleine  Tiere  vorkommen.  Der  Naturmensch,  dessen 
Denken  überall  ein  anschauliches  und  in  diesem  Sinne  kindliches 
ist,  fixiert  ohne  weiteres  in  der  allgemeinen  Sprache,  was  wir  erst  in 
diesem  besonderen  Fall,  wo  wir  uns  der  kindlichen  Anschauung  an- 
passen wollen,  in  sie  hineinlegen.  Doch  wenn  Meinhof  diese  Laut- 
variation darauf  bezieht,  daß  große  Menschen  und  Tiere  ciefen,  kleine 
hohen  Stimmton  besitzen,  so  mag  das  wohl  als  schwache  Assoziation 
mitwirken,  —  der  Hauptsache  nach  wird  man  aber  auch  hier  den 
Wechsel  auf  den  kontrastierenden  Gefühlston  zurückführen  müssen, 
der  die  Vorstellungen  begleitet^).  Der  Menschenfresser  wird  weniger 
deshalb  mit  Tiefton  geschildert,  weil  er  ungewöhnlich  groß  ist  —  das 
braucht  er  nicht  einmal  notwendig  zu  sein  —  sondern  weil  er  Furcht 
erweckt,  und  von  den  Feen  und  Elfen  wird  im  Hochton  erzählt,  ohne 
daß  man  sie  sich  kleiner  als  andere  Frauen  denkt.  Auch  hat  man  bei 
diesem  Parallelgehen  des  Ausdrucks  für  groß  und  klein  mit  dem  für 


1)  B.  Westermaim,  Grammatik  der  Ewe- Sprache,  1907,  S.  44. 

2)  Meirihof,   Die  moderne  Sprachforschung  in  Afrika,  S.  8L 


360  Die  Sprachlaute, 


fern  und  nahe  wohl  eher  an  eine  unmittelbare  räumliche  Assoziation 
als  etwa  daran  zu  denken,  daß  die  Stimme  des  Riesen  erst  auf  seine 
Größe  und  dann  diese  auf  die  große  Raumentfernung  übertragen 
worden  sei.  Dieser  Beziehung  zum  Affekt  der  Furcht,  des  Grauens 
auf  der  einen,  des  Heitern  oder  Komischen  auf  der  andern  Seite  ent- 
spricht es  denn  auch,  daß  analoge  Lautvariationen  für  andere  gegen- 
sätzliche Eigenschaften,  wie  z.  B.  für  einen  angenehmen  und  einen 
unangenehmen  Geruch,  für  süß  und  bitter,  weich  und  hart  usw.,  nicht 
selten  sind,  und  daß  endlich,  wie  wir  sogleich  sehen  werden,  in  den 
gleichen  Sprachen  die  Gegensätze  hoher  und  tiefer  Töne  dem  Aus- 
druck der  Tätigkeit  und  des  Leidens  dienen  i).  In  der  Tat  bieten  die 
Verbalformen  in  den  verschiedenen  Bedeutungswandlungeri,  die  bei 
ihnen  ein  und  derselbe  Verbalstamm  erfahren  kann,  besonders  günstige 
Angriffspunkte  für  solche  einander  parallel  gehende  Variationen  von 
Laut  und  Bedeutung.  Sie  sind  hier  zuerst  auf  indogermanischem  Sprach- 
gebiet von  A.  F.  Pott  beobachtet  und  unter  dem  Namen  der  ,, Wurzel- 
variation" beschrieben  worden^).  Manche  dieser  Erscheinungen  reichen 
in  das  Gebiet  der  eigentlichen  Lautgebärden.  Doch  können  in  der 
nämlichen  Wortreihe  Variationen  vorkommen,  bei  denen  wohl  nur 
eine  natürliche  Lautmetapher  vorliegt.  So  gibt  es  eine  Anzahl  so- 
genannter indogermanischer  Wurzeln,  die  mit  dem  Laute  hr  beginnen 
und  sämtlich  den  Begriff  des  Geräusches  in  irgendeiner  Weise  mo- 
difiziert ausdrücken.  Kommt  noch  der  explosive  Auslaut  k  hinzu, 
so  wird  daraus  der  Begriff  des  lauten  Geräusches;  die  einzelnen 
Modifikationen  dieses  letzteren  werden  dann  durch  die  verschiedenen 
vokalischen  Inlaute  ausgedrückt:  krak  das  plötzliche  laute  Geräusch 
(z^a^w  krächzen),  krauk  den  dauernden,  dumpferen  lauten  Schall 
(y.Qavyri  Lärm),  krik  den  scharfen  eindringenden  Laut  {kqI^co  kreischen, 
schwirren).  Alle  diese  Formen  lassen  sich  zugleich  als  ,, Lautnach- 
ahmungen" deuten.  Sie  verhalten  sich  ähnlich  etwa  unseren  deutschen 
Wörtern  schnarren^  schnurren,  schwirren  u.  a.  Die  nämliche  Erschei- 
nung  begegnet   uns,    zugleich   in   ihren   mannigfachsten   Übergängen 


^)  Westermann,  a.  a.  O.,  S.  130. 

2)  Pott,  Etymologische  Forschungen,  1,2  S.  27,  169.    II,^  S.  22. 


Natürliche  Lautmetaphem.  361 


zwischen  direkter  Lautgebärde  und  Lautmetapher,  in  den  semi bischen 
Sprachen.  Die  Laut  Variation  besteht  hier  in  einem  Wechsel  des  Aus- 
lauts der  in  diesen  Sprachen  in  der  Regel  zweisilbigen  Wortstämme  ^). 
So  in  der  folgenden  Wortreihe:  "para  lösen,  parad  trennen,  parat  von 
sich  werfen,  param  teilen,  paras  zerstreuen,  paraz  ausbreiten,  parak 
brechen,  parar  spalten.  Die  Beziehung  zwischen  Laut-  und  Bedeu- 
tungsvariation ist  augenfällig;  aber  von  einer  eigentlichen  Laut- 
nachahmung läßt  sich  nur  selten  reden.  Höchstens  findet  sich  inso- 
fern eine  direkte  Beziehung,  als  die  dauerndere  Tätigkeit  durch  einen 
dauernderen,  die  intensivere  durch  einen  stärkeren  Laut  ver sinnlicht 
wird.  So  stehen  sich  z.  B.  parad  trennen  und  parak  brechen,  sarak 
ausbreiten  und  sarak  aussprengen,  parad  trennen  und  parar  spalten, 
^arab  rauh  sein  und  garar  schnarren,  gaal  wegwerfen  und  gaar  zurück- 
stoßen gegenüber.  Nun  läßt  sich  wohl  sagen,  das  explosive  k  im  Aus- 
laut mache  im  Vergleich  mit  andern  Lauten  den  Eindruck  des  Plötz- 
lichen, Gewaltsamen,  der  Zitterlaut  r  den  einer  intensiven,  dauernden 
oder  sich  wiederholenden  Tätigkeit.  Dennoch  handelt  es  sich  dabei 
offenbar  um  die  Übertragung  anderweitiger  Sinneseindrücke  in  die 
Lautform  oder  vielmehr  in  eine  Lautgebärde,  die  entsprechende  Modi- 
fikationen der  Lautform  hervorbringt.  Diese  Übertragung  beruht 
aber  in  erster  Linie  auf  der  Verwandtschaft  des  den  Eindruck  und  des 
die  Lautgebärde  und  den  Laut  begleitenden  Gefühlstons,  einer  Asso- 
ziation, die  wir  oben  als  die  wesentliche  Bedingung  der  natürlichen 
Lautmetapher  kennen  lernten  (S.  348). 

Neben  diesen,  der  indogermanischen  „Wurzelvariation"  an 
die  Seite  zu  stellenden  Variationen  des  Auslautes  besitzen  übrigens 
die  semitischen  Sprachen  noch  eine  zweite  mit  der  AVortflexion  ver- 
bundene Form  von  Laut  Variation,  die  teils  zu  den  Präfixbildungen, 


*)  Eingehend  hat  auf  diese  Gruppen  zusammengehöriger  Wortstämme 
Oesenius  hingewiesen  in  seinem  „Ausführlichen  Lehrgebäude  der  hebräischen 
Spräche'S  S.  183  ff.,  vgl.  Hebr.  Grammatik,  i*  S.  71.  In  jedem  hebräischen 
Lexikon  fallen  diese  zusammengehörigen  dreikonsonantigen  Wortstämme 
in  die  Augen.  Es  versteht  sich  übrigens  von  selbst,  daß  auch  hier 
der  onomatopoetische  Charakter  von  der  Frage  des  Ursprungs  ganz  unab- 
hängig ist. 


362  Die  Sprachlaute. 


teils  zu  den  Umlauterscheinungen  gehört,  während  sie  im  Hinblick 
auf  die  Kichtung  der  Lautänderungen  wohl  zugleich  den  Lautmeta- 
phern zugezählt  werden  kann:  es  sind  dies  jene  Konjugationsformen, 
welche  die  verschiedenen  Arten  einer  Handlung,  die  reflexive,  passive, 
kausative,  iterative,  bezeichnen.  Diese  Formen  des  sogenannten 
Niphal,  Fiel,  Pual,  Hiphil,  Hophal,  Hitpael  usw.  verraten  zum  großen 
Teil  schon  in  ihren  den  einzelnen  Flexionen  des  hebr.  Verbums  päal 
entnommenen  Benennungen  eine  metaphorische  Beziehung  zwischen 
Laut  und  Bedeutung;  und  wo  diese  bei  einzelnen  Formen  undeut- 
licher ist,  wird  sie  durch  deren  Einordnung  in  die  Keihe  wahrschein- 
lich. Zwei  direkt  auf  die  Veränderung  des  begleitenden  Gefühls  hin- 
weisende Mittel  sind  es  nämlich,  die  hier  zur  Anwendung  kommen: 
erstens  die  Erhöhung  und  Vertiefung  des  Vokaltons,  von  denen  jene 
einer  erregenden,  diese  einer  herabstimmenden  Gefühlswirkung  ent- 
spricht; und  zweitens  Verstärkungen  des  Anlauts  durch  Präfixe. 
Diese  drücken  im  allgemeinen  eine  verstärkende,  dabei  aber  je  nach 
der  Beschaffenheit  der  Verbindung  wechselnde  Modifikation  der  Be- 
deutung, namentlich  eine  reflexive  oder  kausative  oder  eine  Vereinigung 
beider,  aus.  Am  klarsten  tritt  hier  die  natürliche  Lautmetapher  in 
der  Erhöhung  und  Vertiefung  des  vokalischen  Inlauts  hervor,  während 
sich  bei  den  mit  Präfixen  versehenen  Formen  dazu  noch  eine  Art  hin- 
weisender Lautgebärde  zu  gesellen  scheint.  So  enthält  das  Piel  den 
reinen  Begriff  der  Verstärkung  und  Wiederholung  der  Handlung, 
z.  B.  schüal  bitten,  schiel  betteln;  im  Pual  ist  im  Gegensatze  dazu  der 
Begriff  des  Leidens  ausgeprägt:  käfal  schlagen,  kuttal  geschlagen  wer- 
den. Besonders  diese  das  Passivum  charakterisierende  Tonvertiefung 
ist  übrigens  w^eit  verbreitet  auch  in  den  hamitischen,  den  Bantu-  und 
Sudansprachen.  Sie  bildet  so  die  dritte  Parallele  zu  den  Gegensätzen 
des  Hoch-  und  Tieftons  und  ist  hier  am  nächsten  dem  Kontrast  des 
Furchtbaren,  Unheimlichen  und  des  Erfreulichen,  Heitern  verwandt^). 


1)  MeJnhof,  Archiv  der  Anthropologie,  N.  F.,  Bd.  9,  S.  189  f.  Ebenda 
Beispiele  von  Laut  Variationen  noch  für  weitere  Modifikationen  des  Verbal- 
begriffs. So  wird  im  Haussa  ein  i  an  ein  Verbum  actionis  angehängt,  wenn 
eine  Bewegung  vom  Redenden  weg,  ein  o,  wenn  sie  auf  ihn  zu  stattfindet, 
eine  Unterscheidung,  die  wiederum  auf  die  der  räumlichen  Entfernungen  durch 
die  gleichen  Vokale  zurückgeht. 


Natürliche  Lautmetaphem.  363 

Das  Niphal  stellt  an  dem  andern  Ende  dieser  Formenreihe :  es  ent- 
hält bloß  die  als  Präfix  hinzugefügte  Lautgebärde,  ohne  Änderung 
des  vokalischen  Inlauts:  satar  verhüllen,  nistar  sich  verbergen.  Eine 
Kombination  beider  Ausdrucksmittel  findet  sich  im  Hiphil  und  Hit- 
pael,  von  denen  das  erstere  im  allgemeinen  rein  kausativ  ist:  kadasch 
heilig  sein,  hikdisch  heiligen,  für  heilig  erklären;  das  zweite  reflexiv 
und  kausativ  zugleich:  hitkadesch  sich  heiligen.  Daneben  steht  die 
Form  des  Hophal,  die  wiederum  die  passive  Bedeutung  durch  die 
Vertiefung  des  Vokaltons  anzeigt:  hokdasch  geheiligt  werden.  Außer 
diesen  Formen,  in  denen  sich  Lautmetapher  und  Lautgebärde  direkt 
zu  verbinden  scheinen,  fehlt  es  endlich  nicht  an  solchen,  in  denen 
eine  reine  Lautnachahmung  hervortritt.  So  bei  gewissen  selteneren 
Konjugationen,  die  eigens  dem  Ausdruck  rasch  sich  wiederholender 
Bewegungen  dienen  und  daher  auch  nur  bei  den  zu  einer  solchen  Bil- 
dung herausfordernden  Verbalstämmen  vorkommen.  Hierher  gehören 
z.  B.  die  Formen  des  semitischen  Palpel:  von  zalal  klingen  zilzel 
klingeln,  von  gara  ziehen  (den  Atem)  gargar  gurgeln.  Diese  Erschei- 
nungen zeigen  deutlich,  daß  die  Einordnung  einer  Verbalform  in  ein 
allgemeingültiges  Flexionsschema  die  Mitwirkung  onomatopoetischer 
Motive  keineswegs  ausschließt,  sondern  daß  auch  hier  die  Geltung 
des  Prinzips  des  Zusammenwirkens  mehrfacher  Ursachen  bei  kom- 
plexen Wirkimgen  wahrscheinlicher  ist  als  das  Gegenteil.  So  könnte 
es  z.  B.  sehr  wohl  sein,  daß  das  hebr.  Pual  zunächst  durch  eine  rein 
äußere  Ursache  den  tiefen  Inlaut  gewonnen  hat^).  Aber  wenn  nun 
dieser  auch  auf  alle  andern  passiven  Formen  übergegangen  ist  (Hophal, 
Hotpael),  für  die  sich  eine  solche  äußere  Ursache  nicht  nachweisen 
läßt,  so  würde  immer  noch  ein  an  die  passive  Bedeutung  als  solche 
gebundener  Grund  dieser  Ausdehnung  wahrscheinlich  sein.  Ebenso 
kann  man  wohl  bezweifeln,  ob  garah  ziehen  an  und  für  sich  schon 
onomatopoetisch   sei;   daß   gargar  gurgeln   eine   w^irkliche  Lautnach- 


^)  In  der  Tat  wird  im  Ägyptischen  das  Passiv  durch  Suffigierung  von 
ut  oder  tu  gebildet,  woraus  möglicherweise  durch  Eindringen  des  u  in  den 
Wortkörper  die  Form  des  Pual  entstanden  sein  kann.  (Fr.  Müller,  Grund- 
riß, 111,2,  S.  271.  P.  W.  Schmidt,  Mitteilungen  der  Anthropol.  Ges.  in  Wien, 
Bd.  33,  1903,  S.  371.) 


264  Die  Sprachlaute. 


ahmung  ist,  wird  man  schwerlich  bestreiten.  Man  wird  demnach 
auch  annehmen  dürfen,  daß  das  psychologische  Motiv  zur  Entstehung 
der  Palpel-Yoim.  in  diesem  Fall  eben  die  onomatopoetische  Wirkmig 
selbst  gewesen  sei. 

Die  zuletzt  angeführten  Beispiele  bilden  zugleich  treffende  Be- 
lege für  den  allgemeinen  Zusammenhang  zwischen  den  natürlichen 
Lautmetaphern  und  den  eigentlichen  Lautnachahmungen  oder,  wie 
wir  sie  nach  dem  früher  Gesagten  besser  nennen,  zu  den  nachahmen- 
den und  hinweisenden  Lautgebärden.  Bei  den  Palpelformen 
des  Semitischen  sind  die  Bewegungen  der  Artikulationsorgane  so 
treue  Nachbildungen  der  gesehenen  und  gehörten  Schallbewegungen, 
daß  der  Laut  von  selbst  zur  Lautnachahmung  werden  kann.  Aber 
nur  selten  fordern  die  äußeren  Eindrücke  unmittelbar  zu  ihrer  Nach- 
bildung heraus.  Dann  bleibt  gleichwohl  eine  hinweisende  Laut- 
gebärde möglich,  und  sie  tritt  naturgemäß  auf,  sobald  die  Handlung 
durch  ihre  Beschaffenheit  zu  einem  Hinweis  anregt.  Diese  Bedingung 
ist  nun  in  besonderem  Grade  bei  den  reflexiven  und  kausativen  Formen, 
bei  denen  vorzugsweise  hinweisende  Präfixe  vorkommen,  erfüllt. 
Daß  z.  B.  die  Handlungen  des  Sichverbergens,  des  Heiligsprechens, 
in  ganz  anderem  Maß  einen  Hinweis  veranlassen,  als  die  des  Ver- 
hüllens,  des  Heiligseins,  ist  augenfällig.  Hierzu  kommen  endlich  noch 
Modifikationen  der  Bedeutung,  zu  deren  Ausdruck  weder  nachahmende 
noch  hinweisende  Lautgebärden  zur  Verfügung  stehen,  die  sich  aber 
um  so  entschiedener  durch  ihren  eigentümlichen  Gefühlston  aus- 
zeichnen. Dahin  gehört  namentlich  einerseits  die  Steigerung  einer 
Handlung,  wie  sie  entweder  unmittelbar  durch  intensivere  Aktion 
oder  mittelbar  durch  Wiederholung  der  nämlichen  Tätigkeit  hervor- 
gebracht werden  kann,  und  anderseits  die  Umkehrung  dieses  Vor- 
ganges, das  Leiden,  das  durch  das  Erdulden  einer  Handlung  entsteht. 
Hier  beginnt  das  Gebiet  der  reinen  natürlichen  Lautmetaphern,  die 
nun  durch  die  Gegensätze  der  Erhöhung  und  der  Vertiefung  des  Vo- 
kaltons ausgedrückt  werden  können.  Als  bloße  Empfindungen,  ohne 
Rücksicht  auf  das  begleitende  Gefühl  betrachtet,  haben  diese  Ver- 
änderimgen  gerade  so  wenig  eine  Beziehung  zu  den  entsprechenden 
Variationen  der  Bedeutung,  wie  hohe  Töne  zu  hellen  Farben  und 
tiefe  Töne  zu  dunkelm  Lichte.     Hier  wie  dort  wird  diese  Beziehunj; 


Natürliche  Lautmetaphern.  365 


erst  durch  die  Gefühle  vermittelt,  welche  die  Empfindungen  begleiten, 
und  in  beiden  Fällen  handelt  es  sich  in  der  Tat  um  die  gleichen  Gegen- 
sätze der  erregenden  und  deprimierenden  Gefühle.  Die  inten- 
sivere oder  wiederholte  Tätigkeit  wirkt  erregend,  der  Zustand  des 
Leidens  niederdrückend.  Beide  finden  so  in  Lautartikulationen  ihren 
natürlichen  Ausdruck,  die  sich  schon  im  Gebiet  der  ursprünglichen 
Naturlaute,  bei  den  primären  Interjektionen,  in  der  verschiedenen 
Vokalfärbung  kundgeben  (S.  319f.).  Wie  sich  der  Zuruf,  der  auf  einen 
starken  Sinneseindruck  reagiert  und  eventuell  die  Aufmerksamkeit 
eines  andern  auf  den  nämlichen  Eindruck  lenken  soll,  in  hohen  und 
hellen,  der  verhaltene  Schmerz  in  tiefen  und  dumpfen  Vokaltönen 
äußert,  so  wird,  wenn  auch  in  abgedämpfterem  Maße,  infolge  der 
nämlichen  Assoziationen  der  Gefühle  der  hohe  Vokalton  zum  Aus- 
druck des  Intensiven  und  Iterativen,  der  tiefe  zu  dem  des  Passiven. 
Diese  reinen  Gefühls änderungen  der  Laute  vermischen  sich  dann, 
ohne  daß  ein  Unterschied  zwischen  diesen  Ausdrucksmitteln  zum 
Bewußtsein  kommt,  mit  den  Lautgebärden,  wie  das  so  charakteristisch 
die  gemischten  Formen  des  Hiphil,  Hophal,  Hitpael  usw.  zeigen. 
Kommt  doch  auch  bei  ihnen  in  dem  Präfix,  das  als  Wirkung  einer 
demonstrativen  Lautgebärde  aufgefaßt  werden  kann,  neben  dem  Hin- 
weis noch  die  Steigerung  und  Vertiefung  des  Vokaltons  in  der  Unter- 
scheidung der  aktiven  und  passiven  Form  zur  Geltung.  So  müssen 
wir  uns  denn  überhaupt  vorstellen,  daß  alle  diese  Miotel  des  Ausdrucks, 
Lautgebärden  verschiedener  Art  und  Lautmetaphern,  nicht  in  der 
Wirklichkeic,  sondern  nur  in  unserer  unterscheidenden  psycholo- 
gischen Abstraktion  voneinander  zu  sondern  sind.  Wie  diese  Aus- 
drucksmittel ohne  Wahl  und  Überlegung,  rein  triebmäßig  zur  An- 
wendung kommen,  als  Reaktionen,  die  von  selbst  den  Eindrücken 
folgen,  weil  eine  natürliche  psychologische  Affinität  die  Ausdrucks- 
bewegungen mit  den  sie  erregenden  Reizen  verbindet,  so  kommt  es 
auch  in  dem  unmittelbaren  Bewußtsein  niemals  zu  einer  Unterschei- 
dung der  verschiedenen  psychologischen  Bedingungen,  unter  denen 
jene  Affinität  steht.  Vielmehr  erscheinen  Lautgebärden  und  natür- 
liche Lautmetaphern  gleicherweise  unmittelbar  als  adäquate  Reak- 
tionen auf  den  Eindruck.  Durch  dieses  Verhältnis  rechtfertigt  sich 
nun  auch  die  Bezeichnung  ,, natürliche  Lautmetaphern"  für  die  zu- 


366  Die  Sprachlaute. 


letzt  erörterte  Gruppe  von  Erscheinungen.  Dem  allgemeinen  Begriff 
der  ,, Metapher"  fügen  sie  sich  deshalb,  weil  sie  einerseits  durch  Gefühls- 
assoziationen vermittelte  Übertragungen  des  Eindrucks  auf  ein  an- 
deres Sinnesgebiet,  nämlich  direkt  auf  das  der  Artikulationsempfin- 
dungen, und  dann  weiterhin  indirekt  auf  das  der  Schallempfindungen 
sind,  und  weil  anderseits  durch  diese  Übertragung  die  Gefühlswirkung 
des  Eindrucks  verstärkt  wird  —  zwei  Merkmale,  die  der  Metapher 
auch  in  ihren  „künstlichen"  Formen  eigen  sind^).  ,, Natürlich"  ist 
aber  die  ursprüngliche  Lautmetapher  deshalb,  weil  sie  unter  der  un- 
mittelbaren Wirkung  der  natürlichen  Motive  der  Ausdrucksbewegungen 
entsteht,  indem  sie  die  Lautgebärde  je  nach  Umständen  ergänzt  oder 
verstärkt,  ohne  daß  ein  bestimmtes  Bewußtsein  ihres  Unterschieds 
von  dieser  und  der  stattfindenden  Übertragung  auf  ein  anderes  Sinnes - 
gebiet  besteht.  Diese  Bedingungen  bringen  es  dann  freilich  auch  mit 
sich,  daß  die  natürliche  Lautmetapher  Wirkungen  entfaltet,  die  von 
denen  der  poetischen  Metapher  weit  abliegen,  und  auf  denen  eben 
ihre  die  nachahmenden  und  hinweisenden  Gebärden  ergänzende  Be- 
deutung beruht.  Indem  sie  nicht  bloß,  wie  die  poetische  Metapher, 
der  intensiveren  Gefühlsbetonung  einer  im  allgemeinen  schon  ohne 
sie  vorhandenen  Vorstellung  dient,  sondern  als  unmittelbare  Reaktion 
auf  einen  Eindruck  entsteht,  erweckt  sie  durch  ihre  Assoziation  mit 
diesem  überhaupt  erst  die  Vorstellimg.  So  wird  sie  ein  natürliches 
Ausdrucksmittel,  nicht  bloß,  wie  die  poetische  Metapher,  ein  Ver- 
stärkimgsmittel  des  Denkens.  Als  ein  solches  Ausdrucksmittel  ver- 
mengt sie  sich  aber  imterschiedslos  mit  den  hinweisenden  und  nach- 
ahmenden Gebärden  der  Sprachorgane,  von  denen  sie  sich  eben  nur 
dadurch  unterscheidet,  daß  bei  ihr  die  Gefühlsassoziation  wegen  ihrer 
fast  unbeschränkten  Beziehungen  auch  für  solche  Vorstellungen  ad- 
äquate Ausdrucksformen  liefert;,  die  den  eigentlichen  Lautgebärden, 
den  hinweisenden  wie  den  nachahmenden,  unzugänglich  sind. 


1)  Vgl.  Kap.  VIII,  Nr.  V. 


Psychologische  Entstehung  der  Lautgebärden  und  Lautmetaphem.      367 


5.  Psychologische  Entstehung  der  Lautgebärden 
und  Lautmetaphern. 

Gegen  diese  Betrachtungen  bleiben,  wenn  man  von  der  offen- 
bar unwahrscheinliclien  Annahme  absieht,  daß  es  sich  hier  überall 
nur  um  Spiele  des  Zufalls  handle,  zwei  Einwände,  die  in  der  Tat 
in  den  Augen  vieler  gewichtig  genug  gewesen  sind,  um  dem  ganzen 
Gebiet  der  Naturlaute,  der  Lautnachahmungen  und  der  Lautmeta- 
phern zwar  ein  gewisses  Recht  einzuräumen,  dieses  aber  zugleich 
so  zu  beschränken,  daß  es  für  die  Probleme  der  Entstehung  und  Ent- 
wicklung der  Sprache  kaum  in  Betracht  kommt.  Der  erste  Einwand 
besteht  in  dem  verhältnismäßig  späten  und  darum  möglicherweise 
sekundären  Ursprung  mancher  dieser  Erscheinungen.  Der  zweite 
beruft  sich  auf  die  weit  überwiegende  Zahl  sprachlicher  Formen,  bei 
denen  irgendeine  Beziehung  zwischen  Laut  und  Bedeutung  über- 
haupt nicht  nachzuweisen  ist.  Daß  der  erste  Einwand  für  viele  Fälle 
zutrifft,  für  andere  wenigstens  nicht  unbedingt  zurückgewiesen  wer- 
den kann,  wurde  schon  hervor^hoben  (S.  330  f.).  Wortstämme, 
die  jetzt  für  uns  in  deutlicher  Lautaffinität  zueinander  stehen, 
können  diese  erst  durch  sekundäre  Veränderungen  erlangt  haben; 
und  andere  Erscheinungen  sind  zwar  alt,  aber  nicht  ursprünglich, 
da  sie  verwandten  Sprachen  fehlen.  Offenbar  handelt  es  sich 
also  hier  überall  um  sekundäre  Bildungen.  Gleichwohl  beruht 
dieser  ganze  Einwand  teils  auf  einer  Verkennung  der  wirklichen 
Natur  der  psychogenetischen  Sprachprobleme,  teils  auf  einer 
irrigen  Abschätzung  der  Bedeutung,  die  den  heute  oder  in 
näherer  geschichtlicher  Vergangenheit  nachweisbaren  Tatsachen  für 
die  Beurteilung  früherer,  unserer  Beobachtung  entzogener  Vor- 
gänge zukommt.  Die  Bedingungen,  von  denen  die  Beziehungen 
der  Laute  zu  ihren  Bedeutungen  abhängen,  lassen  sich  der  Natur 
der  Sache  nach  mit  einiger  Sicherheit  nur  an  den  lebenden 
oder  an  den  für  uns  in  zureichenden  Überlieferungen  lebendig  ge- 
bliebenen Sprachen  beobachten.  Wollen  wir  aber  über  Zustände, 
die    diesen    vorausgegangen    sind,     begründete    Vermutungen    auf- 


368  Die  Sprachlaute. 


stellen,  so  wird  zu  solchen  in  erster  Linie  die  gehören,  daß 
sich  die  allgemeinsten  Eigenschaften  des  Menschen  nicht  geändert 
haben,  seit  es  eine  Sprache  gibt.  Es  mag  darum  sein,  daß 
von  allem  dem,  was  ursprünglich  an  Lautgebärden  und  natür- 
lichen Lautmetaphern  in  menschlichen  Sprachen  vorhanden  war, 
heute  überhaupt  nichts  mehr  existiert.  Daß  aber  die  Sprache 
zu  irgendeiner  Zeit  jener  sinnlichen  Ausdrucksmittel  entbehrt 
habe,  die  sie  uns  heute  in  manchen  ihrer  Bestandteile  un- 
mittelbar verständlich  machen,  dies  ist  gerade  so  unwahr- 
scheinlich, wie  es  etwa  die  Annahme  sein  würde,  der  Unter- 
schied hoher  und  tiefer  Töne,  heller  und  dunkler  Farben  sei 
für  den  Urmenschen  von  absolut  andersartigen  Gefühlswirkungen 
begleitet  gewesen  als  für  den  heutigen,  oder  jener  habe  etwa  seine 
Freude  durch  stöhnende,  seinen  Schmerz  durch  jubelnde  Laute 
geäußert  u.  dgl. 

Schwerer  wiegt  auf  den  ersten  Blick  der  zweite  Einwand:  alle 
Lautgebärden  und  Lautmetaphern  seien  immer  nur  ein  verhältnis- 
mäßig kleiner  Teil  des  Lautbestandes  einer  Sprache.  Gleichwohl 
lassen  sich  hiergegen  zwei  Gesichtspunkte  geltend  machen. 
Erstens  kennen  wir  andere  Motive  für  eine  Beziehung  zwischen 
Laut  und  Bedeutung,  die  uns  den  Laut  als  einen  unmittelbar 
sich  darbietenden  und  verständlichen  Ausdruck  der  Vorstellung 
begreifen  ließe,  überhaupt  nicht.  Eine  ganz  willkürliche  oder 
zufällige  Assoziation  könnte  daher  zwar  als  eine  mögliche, 
keinesfalls  jedoch  als  eine  natürliche,  dem  Ausdruck  eines  be- 
stimmten seelischen  Vorgangs  adäquate  Beziehung  gelten.  Zwei- 
tens liegt  in  den  starken  Wandlungen,  denen  der  Lautbestand 
der  Wörter  im  Laufe  der  Zeit  unterworfen  ist,  ein  zureichender 
Grund  dafür,  daß  deuthche  Beziehungen  zwischen  Laut  und  Be- 
griff zu  den  relativ  seltenen,  und  daß  sie  zumeist  zu  den  jüngeren 
Erscheinungen  der  Sprache  gehören.  Denn  es  darf  hier  überall 
nicht  übersehen  werden,  daß,  so  wichtig  eine  solche  Affinität 
bei  der  ersten  Entstehung  eines  Wortes  sein  mag,  diese  für 
die  weitere  Erhaltung  desselben  in  der  Regel  nicht  von  Belang 
ist,  falls  nicht,  wie  bei  den  eigentlichen  Lautgebärden,  der 
Trieb    zur    Nachbildung    besonders    geweckt  wird.      Im  allgemeinen 


Psychologische  Entstehung  der  Lautgebärden  und  Lautmetaphem.      369 


erhält  sich  daher  die  Bedeutung  des  Wortes  in  der  Tat  nur 
durch  die  äußere  gewohnheitsmäßige  Assoziation  oder,  wenn 
die  Bedingungen  dazu  günstig  sind,  durch  neu  hinzutretende 
Assoziationen,  ohne  daß  dabei  der  Lautcharakter  des  Wortes  eine 
Rolle  spielt. 

Daß  jedoch  diese  Tatsache  mit  einer  ursprünglichen  Affinität 
zwischen  Laut  und  Bedeutung  sehr  wohl  vereinbar  sein  kann,  lehrt 
die  Gebärdensprache,  und  lehren  im  Grunde  alle  jene  Erschei- 
nungen, bei  denen  ein  analoger  Übergang  ursprünglich  psychisch 
vermittelter  Vorgänge  in  gewohnheitsmäßige  automatische  Ver- 
bindungen nachzuweisen  ist.  Auch  die  Gebärden  gehen  ja  in 
eingeübte  und  konventionelle  Zeichen  über.  Nur  liegt  bei  ihnen 
dieser  Übergang  wegen  der  fortwährenden  Neubildung  und  der 
sinnlichen  Anschaulichkeit  der  Gebärden  in  der  Regel  in  so 
naher  Vergangenheit,  daß  nur  bei  einer  kleinen  Zahl  die  ur- 
sprüngliche psychologische  Bedeutung  zweifelhaft  sein  kann.  Wenn 
sich  dieses  Verhältnis  bei  der  Lautsprache  umkehrt,  so  bleibt 
dies  auch  dann  noch  begreiflich,  wenn  wir  annehmen,  in  ihr 
sei  ursprünglich  alles  ein  ebenso  natürliches  und  psychologisch 
wohl  motiviertes  Ausdrucksmittel  gewesen.  Nun  würden  bei 
dieser  Annahme  kaum  andere  Beziehungen  zwischen  Laut  und 
Bedeutung  verständlich  sein  als  diejenigen,  die  uns  bei  den  hin- 
weisenden und  nachahmenden  Lautgebärden  sowie  bei  den  natür- 
lichen Lautmetaphern  begegnet  sind.  In  der  Tat  entsprechen 
aber  diese  drei  Formen  bedeutsamer  Lautbewegungen  durchaus 
den  drei  Arten  von  Gebärden,  die  wir  im  vorigen  Kapitel 
kennen  lernten:  den  hinweisenden,  nachbildenden  und  sym- 
bolischen, nur  daß  bei  der  letzteren  Gattung  in  Anbetracht 
der  willkürlichen  erfinderischen  Tätigkeit,  der  die  Gebärden- 
sprache in  höherem  Grade  unterworfen  ist,  der  Übergang  in 
das  eigentliche  Symbol  näher  liegt  als  bei  der  Lautsprache. 
Darum  können  wir  wohl  von  natürlichen  Metaphern,  nicht  aber 
berechtigterweise  von  ,, Lautsymbolen"  reden,  während  die  hier- 
her gehörigen  Gebärden  wirkliche  Symbole  sind.  Denn  das 
Symbol  liegt  dem  bezeichneten  Gegenstand  gleichzeitig  femer 
und    näher    als    die    Metapher:     ferner,    weil    sich    bei    ihm    eine 

Wnndt,    Völkerpsychologie.    I.    4.  Aufl.  24 


370  I^i©  Sprachlaute. 


zusammengesetzte  Vorstellung  zwischen  die  Ausdrucksbewegung 
und  ilire  Bedeutung  einschiebt,  näher,  weil  diese  Vorstellung  ge- 
rade infolge  ihrer  zusammengesetzten  Beschaffenheit  ein  deutlicheres 
Zeichen  des  Begriffs  sein  kann.  Die  natürliche  Lautmetapher 
besteht  demnach  lediglich  in  der  Übertragung  einer  Vorstellung 
in  eine  Ausdrucks-  und  Lautbewegung,  die  durch  die  Assoziation 
der  an  beide  gebundenen  übereinstimmenden  Gefühle  vermittelt 
wird.  Bei  der  symbolischen  Gebärde  wird  durch  diese  Gefühls- 
assoziation erst  noch  eine  zwischenliegende  Vorstellung  erweckt, 
die  durch  die  Verbindung  ihrer  Teile  nach  ihrem  allgemeinen  Gefühls- 
charakter dem  symbolisierten  Begriff  verwandt  erscheint.  In  diesem 
Sinn  ist  Erhöhung  und  Vertiefung  des  Lautes  für  den  Ausdruck 
der  intensiveren  Tätigkeit  und  des  Leidens  eine  Lautmetapher; 
die  gerade  und  die  schiefe  Bewegung  des  Zeigefingers  vom  Mund 
aus  für  die  Begriffe  der  Wahrheit  und  Lüge  sind  Gebärden- 
symbole. Aus  diesem  Verhältnis  erklärt  es  sich  zugleich,  daß  die 
Sprache  zwar  natürliche  Lautmetaphern  in  Fülle,  aber  natürliche 
Lautsymbole  nicht  besitzt.  Der  Laut  als  solcher  kann  immer 
nur  bestimmte  Gefühle  und,  insofern  an  den  Laut  eine  Vorstellung 
geknüpft  wird,  auch  eine  diesen  Gefühlen  entsprechende  Modifi- 
kation der  Vorstellung  erwecken.  Er  ist  aber  als  Bewegung 
wie  als  Laut  ein  zu  einfaches  sinnliches  Gebilde,  um  ohne  weiteres 
einen  nicht  in  der  unmittelbaren  Anschauung  vorhandenen  Begriff 
sinnlich  vertreten  zu  können.  Dazu  bedarf  es  hier  schon  der  aus 
Worten  zusammengesetzten  Rede,  die  erst  fähig  wird  ein  geglie- 
dertes Ganzes  der  Anschauung  im  Bewußtsein  wachzurufen.  Dies 
verhält  sich  anders  bei  der  Gebärde,  die  wegen  der  deutlichen 
Sichtbarkeit  ihrer  räumlichen  Erscheinungsweise  jenen  für  das  Sym- 
bol erforderlichen  Zusammenhang  immittelbar  zu  erzeugen  vermag. 
Hier  ist  also  die  Gebärde  dem  Sprachlaut  überlegen.  Freilich  ist  das 
nur  eine  Überlegenheit  der  unvollkommeneren  Entwicklungsstufe, 
mit  der  zugleich  die  Beschränkung  der  Gebärde  auf  Symbole  einfachster 
sinnlicher  Art  zusammenhängt. 

Wären  alle  Sprachlaute  auf  hinweisende  und  nachahmende 
Lautgebärden  und  auf  natürliche  Lautmetaphern  zurückzuführen, 
so  würde    die    Sprache    hinsichtlich    des  Lautmaterials,    aus    dem 


Phychologische  Entstehung  der  Lautgebärden  und  Lautmetaphern.      371 


sie  besteht,  vollständig  erklärt  sein,  ähnlich  wie  uns  die  Ge- 
bärdensprache in  ihrem  Aufbau  aus  einzelnen  ausdrucksvollen 
Gebärden  im  wesentlichen  vollständig  erkennbar  ist.  Auch  dann 
würde  aber  die  Lautsprache  sicherlich  nicht  jener  Mannig- 
faltigkeit der  Ausdrucksformen  für  den  gleichen  Begriff  er- 
mangeln, die  bei  dem  gegenwärtigen,  für  uns  zumeist  undurch- 
sichtigen Zustand  ihres  Lautmaterials  an  den  ungeheuren  Ver- 
schiedenheiten menschlicher  Sprachen  einen  wichtigen  Anteil  hat, 
imd  durch  die  sie  sich  von  der  gleichartigen  Beschaffenheit 
der  Gebärdensprache  unterscheidet.  Zu  einem  wesentlichen  Teile 
liegt  dies  jedenfalls  in  den  nämlichen  Ursachen  begründet,  die 
zwar  die  Gebärde,  jedoch  nicht  den  Laut  als  solchen  zum 
Symbol  werden  lassen,  sondern  ihn  auf  das  unbestimmtere 
Gebiet  natürlicher  Lautmetaphern  einschränken.  Denn  jene  Ur- 
sachen sind  auch  in  dem  Verhältnis  der  hinweisenden  und 
nachahmenden  Lautgebärden  zu  den  entsprechenden  Formen 
äußerer  Gebärden  erkennbar.  Wie  die  Lautmetapher,  so  ist  die 
Lautgebärde  vieldeutig.  Sogar  im  engsten  Umkreis  der  Ono- 
matopöie,  bei  der  eigentlichen  Schallnachahmung,  ist  die  Artiku- 
lationsbewegung nicht  bloß  von  dem  objektiven  Laut,  sondern 
von  der  Art,  wie  er  apperzipiert  wird,  abhängig.  Darum  können 
selbst  für  eine  und  dieselbe  Schall  vor  Stellung  die  nachbildenden 
Wörter  verschiedener  Sprachen  sehr  voneinander  abweichen.  Voll- 
ends wo  Gefühlsassoziationen  mit  ins  Spiel  kommen,  wie  bei 
den  Lautmetaphern,  da  können  bald  wechselnde  Gefühle  an  eine 
und  dieselbe  Vorstellung  geknüpft,  bald  übereinstimmende  in  sehr 
verschiedener  Weise  ausgedrückt  werden.  Was  die  eine  Sprache 
durch  die  Verstärkung  eines  konsonantischen  Lautes,  das  deutet 
die  andere  durch  eine  Erhöhung  des  Vokaltons,  wieder  eine  andere 
durch  ein  interjektionsartig  wirkendes  Prä-  oder  Suffix  an  usw., 
und  manche  dieser  Ausdrucksmittel,  namentlich  solche,  die  dem 
Gebiet  der  Tonmelodie  und  des  Sprechtakts  angehören,  sind  in 
den  uns  erhaltenen  Überlieferungen  älterer  Sprachformen  wahr- 
scheinlich unerkennbar  geworden.  Zu  jenem  Wechsel  der  psychi- 
schen Wirkungen  kommen  dann  noch  Abweichungen  der  physi- 
schen   Lautwerkzeuge,     die    selbst    dann,    wenn     die     psychischen 

24* 


372  Die  Sprachlaute. 


Motive  dieselben  bleiben,  den  Lautausdruck  verschieden  gestalten 
können.  Alle  diese  wechselnden  Eigenschaften  sind  aber  endlich 
infolge  der  Vorgänge  des  Lautwandels  in  einem  fortwährenden 
Flusse  begriffen.  Dieser  verändert  den  Lautbestand  der  Wörter 
unablässig,  und  er  kann  daher  die  ursprüngliche  Beziehung  zu 
dem  sinnlichen  Eindruck  unkenntlich  machen  oder  auch  umge- 
kehrt Beziehungen  hervorbringen,  die  dem  ursprünglichen  Sprach- 
laute   fehlten. 


Viertes  Kapitel. 

Der  Lautwandel. 

I.  Die  Lautgesetze  in  der  Sprachwissenschaft. 

1.  Das  Postulat  der  Ausnahmslosigkeit  der  Lautgesetze. 

Die  Erscheinungen  des  Lautwandels  verdanken  die  bevorzug fce 
Stelle,  die  sie  in  der  sprachwissenschaftliclien  Forschung  einnehmen, 
wohl  in  erster  Linie  dem  Umstände,  daß  sie  ein  Gebiet  büden,  auf 
dem  mehr  als  auf  irgendeinem  andern  eine  strenge  Gesetzmäßigkeit 
das  Leben  der  Sprache  zu  beherrschen  scheint.  Zwar  folgen  Wort- 
bildung und  Satzfügung  im  allgemeinen  nicht  minder  festen  Ge- 
setzen. Aber  da  es  sich  bei  ihnen  mehr  um  dauernde  Zustände  handelt, 
so  erwecken  sie  nicht  so  unmittelbar  wie  die  Veränderungen  der  Laute 
den  Eindruck  eines  kausalen  Zusammenhangs,  der  an  die  Regelmäßig- 
keit gewisser  Naturvorgänge  erinnert. 

Die  Beobachtung  dieser  Regelmäßigkeit  ist  es,  die  zu  dem  in 
der  neueren  Sprachwissenschaft  energisch  betonten  Postulat  der 
,, Ausnahmslosigkeit  der  Lautgesetze"  geführt  hat.  Ein  solches  Postu- 
lat konnte  natürlich  niemals  in  dem  Sinne  verstanden  werden,  daß 
man  Gesetze  annahm,  die  in  jedem  einzelnen  Fall  zur  Wirkung  ge- 
langten, sondern  nur  in  dem  andern,  daß  die  Lautgesetze,  gerade 
so  wie  die  Naturgesetze,  ausnahmslos  dann  wirken,  wenn  sie  nicht 
durch  andere  Gesetze  oder  durch  singulare  Ursachen,  die  ihnen  ent- 
gegenwirken,   aufgehoben    werden^).       Nicht   um    die   ausnahmslose 


1)  In  diesem  Sinne,  nämlich  mit  der  Voraussetzung,  daß  Ausnahmen  von 
den  Lautgesetzen  immer  nur  Fälle  bezeichnen  könnten,  in  denen  der  zu  erwartende 
Lautwandel  aus  bestimmten,  erkennbaren  Ursachen  nicht  eingetreten  ist,  inter- 
pretiert schon  A.  Leskien,  der  zuerst  den  Ausdruck  „Ausnahmslosigkeit"  in  diesem 


374  Der  Lautwandel. 


Geltung  irgendeines  einzelnen  Gesetzes  handelt  es  sicli  also  dabei, 
sondern  um  eine  ausnahmslose  Gesetzmäßigkeit,  das  heißt 
um  den  Grundsatz,  daß  für  jede  geschichtliche  Lautänderung  irgend- 
eine Ursache,  sei  es  nun  ein  in  weitem  Umfang  gültiges  Lautgesetz, 
sei  es  eine  beschränktere,  nur  für  eine  Reihe  von  Fällen  oder  vielleicht 
sogar  nur  für  einen  einzelnen  Fall  geltende  Bedingung  anzunehmen 
ist.  Die  in  diesem  Sinne  verstandene  ,,Ausnahmslosigkeit  der  Laut- 
gesetze'* kehrt  vor  allem  ihre  Spitze  gegen  die  Ausnahmen  der  alten 
Grammatik,  die  auf  der  Voraussetzung  beruhten,  daß  irgendeine 
Abweichung  von  einer  sonst  gültigen  Regel  als  ein  Spiel  des  Zufalls 
oder  einer  willkürlichen  Laune  anzusehen  sei.  Sieht  man  von  dieser 
polemischen  Spitze  ab,  so  würde  aber  der  Ausdruck  offenbar  zweck- 
mäßiger durch  den  andern  einer  „allgemeingültigen  Gesetzmäßig- 
keit des  Lautwandels"  ersetzt  werden.  Auch  die  Naturgesetze  gelten 
ja  nicht  ausnahmslos,  da  ihre  Wirkungen  im  einzelnen  Fall  durch 
hinzutretende  Bedingungen  abgeändert  oder  ganz  aufgehoben  wer- 
den können.  Wo  es  sich  um  sogenannte  ,, empirische  Gesetze"  handelt, 
da  ist  übrigens  eine  Nachweisung  kompensierender  Bedingungen 
häufig  nicht  möglich;  sondern  solche  empirische  Gesetze  gelten  ent- 
weder, oder  sie  gelten  nicht,  und  wenn  sie  nicht  gelten,  so  können 
wir  unter  günstigen  Bedingungen  die  Ursachen  nachweisen,  die  ihre 
Geltung  verhindern,  oder  die  anderweitigen  Gesetze,  die  für  sie  ein- 
treten; wir  sind  aber  nicht  imstande,  dem  nicht  zur  Anwendung 
kommenden  Gesetze  selbst  noch  irgendeine  Partialwirkung  innerhalb 
der  zusammengesetzten  Erscheinung  zuzuweisen.  Das  Gesetz  z.  B., 
daß  der  Kohlenstoff  ein  ,,vierwertiges"  Element  ist  bewährt  sich 
bei  einer  bestimmten  Kohlenstoff  Verbindung,  oder  es  bewährt  sich 
nicht;  das  sogenannte  Dovesche  ,, Drehungsgesetz  der  Winde"  trifft 
in  einem  bestimmten  Falle  zu,  oder  es  trifft  nicht  zu.  Der  Grund 
dieses  Verhaltens  ist  unschwer  einzusehen.  „Empirische  Gesetze" 
nennen  wir  im  allgemeinen  im  Gegensatz  zu  den  abstrakten  und  axio- 

Zusammenhange  gebraucht  hat,  jene  Forderung.  (Die  Deklination  im  Slavisch- 
Litauischen  und  Germanischen,  1875,  S.  2;  Preisschrift  der  Jablonowskischen 
Ges.  zu  Leipzig,  Nr.  XIX.)  Ähnlich  sprechen  sich  Osthoff  und  Brugmann  aus. 
(Morphologische  Untersuchungen  auf  dem  Gebiete  der  indogermanischen  Sprachen, 
I,  Vorwort,  S.  XIII.  ^ 


Das  Postulat  der  Ausnahmslosigkeit  der  Lautgesetze.  375 

matisch  angenommenen  Gesetzen  der  Mechanik  komplexe  Gleicli- 
förmigkeiten  des  Geschehens,  die  wir  nicht  oder  mindestens  nicht 
vollständig  in  die  Summe  der  Bedingungen  zerlegen  können,  die  ihnen 
zugrunde  liegen.  Ein  solches  Gesetz  gilt  daher  nur  solange,  als  die 
sämtlichen  zur  Erhaltung  jener  Gleichförmigkeit  erforderlichen  Be- 
dingungen vorhanden  sind.  Es  hört  auf  zu  gelten  in  dem  Augenblicke, 
wo  die  dem  Enderfolg  entgegenwirkenden  Bedingungen  überwiegen. 
Wenn  nun  vollends  auf  den  Inhalt  eines  empirischen  Gesetzes  psy- 
chologische Momente  von  mitbestimmendem  Einflüsse  sind,  wie  das 
bei  den  ,, Lautgesetzen"  von  vornherein  wahrscheinlich  ist,  da  wird 
es  zweifelhaft,  ob  überhaupt  auch  nur  für  die  einfachsten  Fälle  jene 
Voraussetzung  einer  Verbindung  an  sich  unaufhebbarer  Wirkimgen, 
wie  wir  es  dem  Schema  des  Kräfteparallelogramms  entnehmen,  zu- 
treffend sei.  Wo  z.  B.  dem  Bewußtsein  verschiedene  Assoziationen 
zur  Verfügung  stehen,  da  vollzieht  es  irgendeine  von  ihnen,  und  für 
diese  werden  gewiß  entscheidende  Gründe  wirken;  aber  die  andern 
beteiligen  sich  nicht  etwa  nach  Maßgabe  der  sie  in  das  Bewußtsein 
hebenden  Kräfte,  sondern  sie  beteiligen  sich  in  der  Regel  gar  nicht. 
Oder  wenn  wir  zwischen  verschiedenen  Motiven  des  Handelns  schwan- 
ken, so  kann  der  Kampf  der  Motive  ein  deutlich  in  unserem  Bewußt- 
sein verlaufender  Vorgang  sein;  doch  nachdem  die  Entscheidung 
erfolgt  ist,  pflegen  die  überwundenen  Motive  in  der  resultierenden 
Handlung  nicht  mehr  nachzuwirken.  Ob  diese  Fälle  auf  das  allge- 
meine Verhalten  sogenannter  empirischer  Gesetze  zurückzuführen 
seien,  oder  ob  bei  ihnen  besondere  Eigenschaften  der  psychischen 
Kausalität  in  Rechnung  kommen,  mag  hier  dahingestellt  bleiben, 
der  Erfolg  ist  jedenfalls  der  nämliche:  von  einer  ausnahmslosen  Geltung 
kann  unter  keinen  Umständen  die  Rede  sein.  Die  einzige  Bedeutung, 
die  diesem  Ausdruck  in  Anwendung  auf  die  Lautgesetze  beigelegt 
werden  kann,  ist  also  die,  daß  die  Veränderungen  der  Sprachlaute 
einer  strengen  Kausalität  unterworfen  sind,  die  teils  in  bestimmt 
formulierbaren  Gesetzen  von  weitverbreiteter  Geltung,  teils  in  nach- 
weisbaren einzelnen  Ursachen,  die  jene  Geltung  in  besonderen  Fällen 
aufheben,   ihren   Ausdruck  findet^). 


1)  Über  die   Anwendung   des    Gesetzesbegriffs   überhaupt   und   über   den 


376  Der  Lautwandel. 


2.  Teleologische  Hypothesen  über  die  Ursachen  der 

Lautänderungen. 

Indem  das  Postulat  der  ,,Ausnahmslosigkeit"  durch  die  ihm 
ausdrücklich  oder  stillschweigend  gegebene  Deutung  nicht  bloß  die 
Lautgesetze  selbst  mit  den  Naturgesetzen  in  Analogie  bringt,  son- 
dern auch  für  die  Ursachen,  welche  die  Wirksamkeit  dieser  Gesetze 
stören,  eine  Unterordnung  unter  gesetzmäßige  Bedingungen  fordert, 
richtet  nun  aber  jener  Begriff  seine  Spitze  nicht  allein  gegen  die  Aus- 
nahmen der  alten  Grammatik,  sondern  nicht  minder  gegen  eine  Inter- 
pretation sprachlicher  Vorgänge,  welche  diese  auf  gewisse  Zweck- 
mäßigkeitsmotive  zurückführt. 

Von  den  Vertretern  dieser  teleologischen  Erklärungsweise  wurde 
zwar  anerkannt,  Regeln  wie  Ausnahmen  seien  von  bestimmten  Ur- 
sachen abhängig;  aber  man  hielt  daran  fest,  die  Sprachforschung 
müsse,  wie  die  Naturforschung,  vor  allem  ,, normale  und  abnorme 
Erscheinungen  unterscheiden".  Dann  lasse  auch  das  Abnorme  ,, durch 
Zusammenstellung  verwandter  Abnormitäten  selbst  wieder  eine  ge- 
wisse  Ordnung  erkennen''^).  Durch  diese  Vergleichung  war,  da  das 
Pathologische  mit  dem  Physiologischen  in  den  allgemeinen  Eigen- 
schaften des  Lebens  übereinkommt,  eigentlich  schon  gefordert,  daß 
für  Regel  wie  Ausnahme  die  Ursachen  auf  dem  gleichen  Gebiete  zu 
suchen  seien.  In  der  Tat  bemühte  man  sich  daher,  alle  Lautänderungen 
auf  gewisse  ,, Triebe''  zurückzuführen,  denen  man  zwecktätig  wirkende 
psychische  Motive  unterlegte.  Ob  diese  Motive  zugleich  als  willkür- 
liche gedacht  waren,  mag  dahingestellt  bleiben;  es  genügt,  daß  man 
von  ihnen  nach  Analogie  bekannter  willkürlicher  Zweckmotive  Ge- 
brauch machte.  Solcher  Triebe  wurden  hauptsächlich  drei  ange- 
nommen: erstens  das  Streben  nach  Bequemlichkeit,  zweitens  das 
Streben  bedeutsame  Laute  zu  erhalten  oder  zum  Zwecke  der  Unter- 


Begriff  des  ,, empirischen  Gesetzes"  insbesondere  vgl.  togik,  III  ^  S.  123  ff. 
Über  gewisse  Grenzfälle  einer  wirklichen  oder  scheinbaren  „Ausnahmslosigkeit" 
der  Lautgesetze  vgl.  übrigens  unten  Nr.  VI,  5. 

1)  Curtius,  Grundzüge  der  griech.  Etymologie,  ^  S.  90. 


Teleologische  Hypothesen  über  die  Ursachen  der  Lautänderungen.    377 


Scheidung  der  Begriffe  zu  sondern,  und  drittens  der  Trieb  nach  Gleich- 
förmigkeit, der  unter  der  Wirkung  anderer  Wortformen  ,, falsche 
Analogien"  veranlasse,  das  heißt  Lautbildungen,  die  den  regelmäßigen 
Lautgesetzen  widersprechen.  Von  diesen  Trieben  sollen  die  beiden 
ersten,  der  nach  Bequemlichkeit  und  der  ihm  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  das  Gleichgewicht  haltende  nach  Unterscheddung,  die  nor- 
malen Eigenschaften  bestimmen,  worunter  man  die  regelmäßigen 
Lautgesetze  und  gewisse  wünschenswerte  Einschränkungen  derselben 
verstand.  Aus  ,, falschen  Analogiebildungen"  dagegen  sollte  ein  jenen 
regelmäßig  wirkenden  Kräften  entgegengesetztes,  abnormes  Ver- 
halten hervorgehen.  Demgemäß  nahm  man  an,  die  beiden  ersten 
Triebe  seien  in  den  älteren  Zeiten  der  Sprachentwicklung  fast  aus- 
schließlich herrschend  gewesen,  während  der  letzte,  abnorme  mehr 
den  späteren  Stadien  des  Verfalls  der  sprachlichen  Formen  an- 
gehöre^). 

Diese  Auffassung  verwickelte  sich  nun  schon  innerhalb  der  von 
ihr  gemachten  Voraussetzungen  mit  sich  selbst  in  einen  eigentüm- 
lichen psychologischen  AViderspruch.  Gerade  das,  was  sie  vorzugs- 
weise als  das  Normale  und  ursprüngliche  ansieht,  die  Lautgesetze, 
führt  sie  nämlich  auf  das  Streben  nach  ,, Bequemlichkeit"  zurück, 
also  auf  eine  Eigenschaft,  die  bereits  der  Grenze  des  abnormen  Ver- 
haltens nahekommt.  Damit  stimmt  überein,  daß  ,, Verwitterung" 
und  ,, lautlicher  Verfall"  der  Sprache,  ohne  Frage  pathologische  Zu- 
stände, als  das  Ergebnis  dieser  Kräfte  der  Sprachentwicklung  betrachtet 
werden.  Daß  eine  Verfallserscheinung  das  Normale  und  Gesetzmäßige 
sein  soll,  ist  aber  nicht  minder  widerspruchsvoll  wie  das   andere,  daß 


^)  Der  hier  kurz  gekennzeichnete  psychologische  Standpunkt  ist  von  einer 
Reihe  von  Forschern  festgehalten  worden,  die  dabei  zugleich  von  dem  Streben 
geleitet  waren,  willkürlichen  etymologischen  Versuchen  durch  strengere  Be- 
tonung der  Lautgesetze  zu  steuern.  Hierher  gehören  namentlich  G.  Curtius, 
A.  Schleicher,  Benfey,  Pott,  Max  Müller  u.  a.  Am  eingehendsten  wurden  diese 
Anschauungen,  besonders  auch  in  ihrer  psychologischen  Begründung,  von  Cur- 
tius vertreten  in  seiner  Griech.  Etymologie,  ^  S.  21  ff.,  409  ff  und  an  anderen 
Orten.  Vgl.  bes.  die  Streitschrift:  Zur  Kritik  der  neuesten  Sprachforschung, 
1885,  und  die  Erwiderung  K.  Brugmanns,  Zum  heutigen  Stand  der  Sprach- 
wissenschaft, 1885. 


378  Der  Lautwandel. 


der  ,, konservative  Trieb",  der  diesem  Verfalle  zum  Trotz  bedeut- 
same Unterschiede  bewahre,  auf  der  einen  Seite  als  ein  Zeichen  un- 
geschwächter Nachwirkung  der  sprachbildenden  Kräfte,  auf  der  an- 
dern aber  doch,  dem  ,, Gesetzmäßigen''  gegenüber,  das  ja  dem  unauf- 
haltsamen Verfall  entgegenftihrt,  als  etwas  Abnormes  angesehen  wird. 
Dazu  kommt,  daß  auch  der  ,, falschen  Analogie"  unter  Umständen 
ein  der  lautgesetzlichen  Zerstörung  entgegenwirkender  Einfluß  nicht 
abgesprochen  werden  kann.  So  ergibt  sich  ein  merkwürdiges  Resul- 
tat: am  Erfolge  gemessen  erscheint  das  Abnorme  zumeist  als  da& 
erhaltende  und  gesunde,  das  Normale  als  das  kranke  und  zerstörende 
Prinzip.  Dieses  paradoxe  Ergebnis  fällt  natürlich  vor  allen  Dingen 
auf  Rechnung  des  Umstandes,  daß  diese  Gegenüberstellungen  von 
,, normal"  und  ,, abnorm",  von  ,, physiologisch"  und  ,, pathologisch" 
selbst  ,, falsche  Analogien"  sind.  Das  nämliche  gilt  von  den  bildlichen 
Ausdrücken  ,, Verwitterung"  und  ,, Verfall".  Sie  erwecken  unver- 
meidlich die  Vorstellung  eines  rückläufigen  Zersetzungsprozesses. 
Nun  ist  aber  nicht  im  mindesten  einzusehen,  warum,  wenn  beispiels- 
weise eine  Aspirata  gh^  dh,  bh  im  Laufe  des  regelmäßigen  Lautwandel» 
in  eine  einfache  sogenannte  Media  g,  d,  h,  oder  wenn  diese  in  eine  Te- 
nnis k,  t,  f  übergeht,  solches  als  ,, Verwitterung"  oder  ,, Verfall"  zu 
deuten  sei.  Man  könnte  mit  demselben  Rechte  meinen,  der  Über- 
gang der  Media  in  die  Tennis  bezeichne  eine  Erhebung  der  Sprache 
zu  größerer  Kraft,  was  ungefähr  auf  das  Gegenteil  der  Verwitterungs- 
theorie  hinauskäme^).  Mit  welchem  Rechte  will  man  ferner  behaupten,, 
der  Übergang  eines  Vokals  a  in  e  oder  i,  oder  eines  a  in  o  oder  gar^ 
wie  z.  B.  im  Althochd.,  in  uo  sei  eine  Verfallserscheinung?  Ebenso- 
gut kann  man  sagen,  bei  der  Bildung  des  a  sei  die  Mundartikulation 
und  folglich  die  Innervation  verhältnismäßig  einfacher  als  bei  den 
andern  Vokalen,  demnach  bezeichneten  diese  eine  höhere  Stufe  der 
Lautentwicklung.  Natürlich  wird  man  am  besten  weder  das  eine  noch 
das  andere  tun,  sondern  daraus,  daß  solche  Lautänderungen  in  sehr 
verschiedener  Richtung  vor  sich  gehen,  schließen,  irgendeine  kon- 
stante Richtung  in  bezug  auf  Erleichterung  oder  Erschwerung  der 


1)  In  der  Tat  ist  diese  Auffassung  schon  von  Jakob  Grimm  und  dann  von 
G.  Curtius  selbst  in  einer  älteren  Abhandlung  (Kuhns  Zeitschr.  für  vergl.  Sprach- 
forschung II,  1853,  S.  331)  angedeutet  worden.     Vgl.  unten  Nr.  III,  6. 


Teleologische  Hypothesen  über  die  Ursachen  der  Lautänderungen,       379 

Artikulation  bestehe  überhaupt  nicht;  dies  um  so  mehr,  da  jene  Be- 
griffe selbst  wieder  relative  sind,  die  von  dem  jedesmaligen  Zustand 
der  Sprachorgane  abhängen.  Laute,  deren  Hervorbringung  bei  einem 
bestimmten  Zustande  ,, bequem"  ist,  können  möglicherweise  bei  einem 
andern  imbequem  werden. 

Leidet  so  die  Vergleichung  des  regelmäßigen  Lautwechsels  mit 
einem  Verwitterungsvorgang  unter  einem  falschen  Bilde,  das  selbst 
wieder  durch  eine  fehlerhafte  psychologische  Begriffsbildung,  den 
,, Bequemlichkeitstrieb",  veranlaßt  ist,  so  steht  nun  der  zur  Erklärung 
gewisser  Ausnahmeerscheinungen  herbeigezogene  ,, Erhaltungstrieb" 
ganz  imd  gar  unter  dem  Banne  der  alten  Erfindungstheorie.  Einen 
Trieb,  der  allgemein  auf  die  Erhaltung  der  sprachlichen  Laute  gerichtet 
wäre,  könnte  man  sich  ja  noch  als  eine  einfache  Betätigung  von  Ge- 
dächtnisassoziationen denken.  Aber  ein  Trieb,  dem  das  Gedächtnis 
nur  zu  Hilfe  kommt,  wo  es  sich  um  die  Erhaltung  ,, bedeutsamer 
Unterschiede"  handelt,  wäre  nur  als  die  Äußerung  einer  bedachtsam 
handelnden  Intelligenz  möglich,  die  wir  hier,  angesichts  der  bekannten 
Tatsache,  daß  die  Sprache  zufällige  Lautübereinstimmungen  bei  totaler 
Verschiedenheit  der  Bedeutungen  duldet,  billig  bezweifeln  dürfen. 

Gegenüber  dieser  Annahme  eines  Erhaltungstriebs  wurde  end- 
lich in  der  Anerkennung  sporadischer  ,, Analogiebildungen",  das 
heißt  solcher  Abweichungen  von  den  Lautgesetzen,  die  durch  das 
Walten  mehr  äußerlich  wirkender  Laut-  und  Begriffsassoziationen 
bedingt  seien,  auch  dem  Gebiet  der  unwillkürlichen  seelischen  Vor- 
gänge ein  gewisser  Spielraum  eingeräumt.  Es  ist  aber  bezeichnend, 
daß,  solange  man  den  angedeuteten  teleologischen  Standpunkt  fest- 
hielt, gerade  dieser  Einfluß  der  Assoziationen  eigentlich  nur  als  ein 
Notbehelf  zugelassen  war.  Schon  der  Ausdruck  „falsche  Analogien" 
ist  dafür  charakteristisch.  Der  konservative  Trieb,  obgleich  an  sich 
den  Lautgesetzen  gegenüber  etwas  Abnormes,  galt  doch  noch  als  eine 
berechtigte  Reaktion  gegen  die  allzu  zerstörende  Wirksamkeit  dieser 
Gesetze.  Die  falsche  Analogie  dagegen  erschien  als  etwas  absolut 
Unlogisches  und  zugleich  Zweckloses,  als  eine  ,, Mißbildung  und  Ver- 
irrung  gegenüber  der  gesunden  Bildung"^). 

^)  Curtius,  Zur  Kritik  dei  neueren  Sprachforschung,  S.  44. 


380  Der  Lautwandel. 


3.  Annahme  physischer  und  psychischer  Momente  der. 

Lautentwicklung. 

Bezeichnenderweise  war  es  zunächst  weniger  die  innere  Un- 
wahrscheinlichkeit  der  von  der  teleologischen  Erklärung  angenomme- 
nen „Triebe'',  als  das  Widerstreben  gegen  das  angeblich  planlose 
Abirren  der  durch  Analogie  beeinflußten  Lautänderungen,  was  den 
Widerspruch  herausforderte.  Sollte  überhaupt  die  Idee  einer  strengen 
Gesetzmäßigkeit  durchgeführt  werden,  so  war  das  Bild  eines  zu- 
fälligen ,, Mitlaufens  mit  einer  andern  Herde"  unmöglich  zu  dulden, 
sondern  man  fühlte  sich  gedrungen,  der  physischen  Notwendigkeit 
den  Zwang  absichtslos  wirkender  psychischer  Motive  gegenüberzu- 
stellen. Für  beide  Begriffe  boten  die  Lautgesetze  einerseits,  die  Ana- 
logiebildungen anderseits  die  Anhaltspunkte.  Das  Lautgesetz  re- 
präsentierte das  Prinzip  der  strengen  physischen  Gesetzmäßigkeit, 
die  Analogie  erschien  als  ein  Resultat  bewußtloser  psychischer  Kräfte, 
das  die  allgemeinere  Wirksamkeit  der  Lautgesetze  zuweilen  unter- 
breche, um  so  mehr  aber  mit  ihnen  zusammen  der  ,,Ausnahmslosig- 
keit"  der  Gesetze  überhaupt  als  Stütze  diene.  So  wurden  beide  als 
das  physiologische  und  das  psychologische  Moment  des  Laut- 
wechsels unterschieden  und  ihnen  die  Forderung  an  die  Seite  ge- 
stellt: sobald  eine  lautliche  Erscheinung  aus  den  physischen  Laut- 
gesetzen nicht  abzuleiten  sei,  müsse  man  sie  auf  den  psychischen  Me- 
chanismus der  Analogie  zurückzuführen  suchen.  Ein  letzter  Rest 
jener  Unterscheidung  des  Normalen  und  Abnormen  blieb  aber  auch 
hier  noch  in  dem  methodologischen  Prinzip  erhalten :  an  die  Erklärung 
einer  Erscheinung  durch  Analogiebildung  solle  immer  erst  dann  ge- 
dacht werden,  wenn  sich  alle  lautgesetzlichen  Interpretationen  als 
unmöglich  herausstellten^). 

Hiernach  ist  es  keineswegs  bloß  die  Betonung  der  strengen  Kau- 
salität des  Lautwechsels,  sondern  eigentlich  in  noch  höherem  Grade 


1)  H.  Paul  in  seinen  und  Braunes  Beiträgen  zur  Geschichte  der  deutschen 
Sprache  und  Literatur,  VI,  1879,  S.  1  ff.  Osthoff,  Das  physiologische  und  psy- 
chologische Moment  der  sprachlichen  Formenbildung,  1879.  Misteli,  Laut- 
gesetze und  Analogie,  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie,  XI,  1880,  S.  410. 


Annahme  physischer  und  psychischer  Momente  der  Lautentwicklung.    381 


die  Hervorhebung  der  ,, blind  waltenden  ''Gesetzmäßigkeit,  was  diese 
Auffassung  von  den  vorangegangenen  Anschauungen  scheidet.  Von 
einer  gewissen  Inkonsequenz  und  Willkür  war  aber  auch  sie  nicht 
frei.  Die  stärkste,  die  ihr  als  eine  Art  Erbstück  von  den  Regeln  und 
Ausnahmen  der  alten  Grammatik  noch  anhaftete,  die  nämlich,  daß 
die  ,, Analogie"  immer  nur  im  Notfall  und  ,,so  sparsam  wie  möglich" 
herbeigezogen  werden  solle,  wurde  allerdings  bald  überwunden.  In- 
dem das  ,, psychologische  Moment"  in  den  Vordergrund  trat,  war  man 
um  so  mehr  geneigt,  in  ihm  ein  wichtiges  neues  Erklärungsprinzip 
zu  sehen,  da  sich  hier  das  Merkwürdige  ergab,  daß  man  die  ,, Regel", 
nämlich  die  den  Lautgesetzen  folgenden  Veränderungen,  als  etv\^as 
zunächst  noch  ganz  Unerklärliches  hinnehmen  mußte,  während  man 
die  ,, Ausnahmen",  die  Analogiewirkungen,  als  psychologisch  begreif- 
liche Erscheinungen  betrachten  lernte.  So  konnte  es  nicht  ausbleiben, 
daß  das  Erkennbare  dem  Unerkennbaren  auch  in  der  AVertschätzung 
den  Rang  streitig  machte,  und  daß  man  allmählich  dazu  geführt  wurde, 
Analogien  und  Lautgesetze  einander  gleichzustellen^).  Immerhin 
blieb  auch  jetzt  noch  eine  qualitative  Unterscheidung,  zu  der  kein 
positiver  Rechtsgrund  vorlag,  weil  die  Ursachen  der  eigentlichen 
Lautgesetze  als  unerkennbar  angesehen  wurden.  Denn  sind  sie  dies, 
so  ist  offenbar  jene  Gegenüberstellung  des  ,, physiologischen"  oder 
,, mechanischen"  und  des  ,, psychologischen"  Moments  vorläufig  ganz 
hypothetisch.  In  der  Tat  läßt  es  sich  mindestens  ebensogut  denken, 
daß  psychische  Bedingungen  die  letzten  Ursachen  der  regelmäßigen 
Lautänderungen  seien,  als  daß  rein  äußere  Einflüsse,  etwa  solche 
des  Klimas,  der  Naturumgebung  oder  der  Ernährung,  eine  Umwand- 
lung der  physischen  Organisation  bewirkt  haben  sollten,  von  der 
die  Sprachorgane  mit  ergriffen  wurden.    Auch  wird  die  Art,  wie  Laut- 


1)  Bezeichnende  Äußerungen  vgl.  bei  Brugmann,  Zum  heutigen  Stand 
der  Sprachwissenschaft,  S.  81,  85  ff.  Sogar  eine  Bevorzugung  der  Analogie  in 
ihrem  Werte  für  die  Sprache  tritt  nicht  selten  hervor.  So  heißt  es  bei  Brugmann 
(S.  81  f.):  „Der  Lautwandel  beeinträchtigt  die  Gruppierung  (zusammengehöriger 
Wortgruppen),  lockert  die  Verbände,  indem  er  zwecklose  Unterschiede  zwischen 
zusammengehörigen  Formen  schafft.  '  Dagegen  „ist  ein  Mittel  zur  Reaktion  in 
der  Analogiebildung  gegeben.  Jede  Sprache  ist  unaufhörlich  damit  beschäftigt, 
unnütze  Ungleichmäßigkeiten  zu  beseitigen"  usw. 


382  Der  Lautwandel. 


gesetze  und  Analogiebildungen  fortwährend  ineinander  greifen,  offen- 
bar viel  verständlicher,  wenn  man  sie  nicht  als  disparate,  einander 
entgegenwirkende  Kräfte,  sondern  als  Bedingungen  auffaßt,  die 
schließlich  beide  irgendwie  in  der  psychophysischen  Natur  des  Menschen 
begründet  sind.  Damit  stimmt  überein,  daß  wir  einerseits  wegen 
der  gedächtnismäßigen  Reproduktion  lautgesetzlicher  Formen  not- 
wendig bei  diesen  eine  Mitwirkung  der  nämlichen  Assoziationen  voraus- 
setzen müssen,  die  man  zur  Erklärung  der  Analogiebildungen  heran- 
zieht, und  daß  anderseits  die  Assoziationen,  durch  Einübung  in  auto- 
matische Verbindungen  übergehen,  so  daß  diejenigen  Erscheinungen, 
die  zuerst  auf  die  Seite  der  psychischen  Momente  verlegt  werden, 
mit  der  Zeit  auf  die  der  physischen  zu  stehen  kommen. 


4.  Komplikation  der  Ursachen  des  Lautwandels. 

Machen  die  angedeuteten  Umstände  eine  strenge  Scheidung 
der  physiologischen  und  der  psychologischen  Faktoren  dieser  Vor- 
gänge überhaupt  unmöglich,  so  kommt  nun  noch  der  weitere  Um- 
stand hinzu,  daß  die  Annahme,  jeder  Lautwechsel  sei  entweder  auf 
allgemeine  Lautgesetze  oder  auf  Analogiebildungen  zurückzuführen, 
an  eine  Voraussetzung  geknüpft  ist,  die  in  der  Wirklichkeit  wahr- 
scheinlich niemals  vollständig  zutrifft.  Dies  ist  die  Voraussetzung, 
daß  die  Sprachgemeinschaft  eine  in  sich  geschlossene  sei,  also 
nicht  durch  äußeren  Verkehr  und  die  an  ihn  gebundenen  Sprach- 
mischungen beeinflußt  werde.  Man  pflegt  darum  die  Geltung  aller 
bei  jener  Zweiteilung  der  Erscheinungen  in  Frage  kommenden  Wir- 
kungen auf  einen  bestimmten  Dialekt  und  auf  eine  bestimmte  Periode 
der  Sprachentwicklung  zu  beschränken.  Nun  lassen  sich  aber  weder 
die  Grenzen  einer  Periode  noch  die  eines  Dialekts  fest  bestimmen, 
und  überdies  finden  sich  namentlich  in  einem  Kulturvolke  durch 
das  Zuströmen  einzelner  Individuen  aus  fremden  Dialekten  und  durch 
den  in  der  Literatur  vermittelten  Austausch  fortwährende  Abwei- 
chungen von  dem  angenommenen  Stabilitätszustande,  so  daß  dieser 
zu  einer  Abstraktion  wird,  zu  der  die  Wirklichkeit  immer  nur  An- 
näherungen bieten  kann. 


Komplikation  der  Ursachen  des  Lautwandels.  383 


Auch  da,  wo  derartige  äußere  Einflüsse  hinwegfallen  sollten, 
bildet  jedoch  das  „psychische"  so  wenig  wie  das  ,, physische"  Moment 
der  Lautentwicklung  einen  einheitlichen  Begriff,  sondern  dieser  zer- 
legt sich  jedesmal  in  eine  Vielheit  von  Bedingungen.  Mag  nun  gleich 
unter  den  psychischen  Bedingungen  die  „Analogie"  der  Interpreta- 
tion einen  sehr  weiten  Spielraum  bieten,  so  ist  doch  kaum  anzunehmen, 
daß  es  außer  ihr  keinerlei  psychologische  Ursachen  geben  könne,  die 
auf  die  Gestaltung  der  Laute  einwirken.  Legen  doch  schon  die  beim 
Zusammentreffen  gewisser  Laute  innerhalb  derselben  Wörter  oder 
benachbarter  Wörter  entstehenden  Lautänderungen  (das  ,,Sandhi" 
der  indischen  Grammatiker)  den  Zweifel  nahe,  ob  nicht  auch  hier 
psychische  Motive  wirksam  seien,  die  dann  jedenfalls  nicht  auf  ,, Ana- 
logien" zurückzuführen  sind.  Ferner  ist  der  ,, Nachahmungstrieb" 
oder  vielmehr  die  Summe  eigentümlicher  Assoziations-  und  Willens- 
motive, die  man  unter  diesem  Namen  zusammenfaßt,  und  die  in  der 
Gebärdensprache  eine  so  große  Rolle  spielen,  möglicherweise  auch 
bei  der  Lautsprache  von  nicht  zu  unterschätzendem  Einfluß.  Frei- 
lich wird  er  nur  dann  auf  weitere  Kreise  wirken  können,  wenn  ihm 
sonst  begünstigende  Bedingungen  entgegenkommen.  Welcher  Art 
aber  diese  seien,  das  läßt  sich  von  vornherein  kaum  bestimmen.  Zu- 
dem werden  die  Assoziationen,  die  den  Lautwandel  beeinflussen, 
nicht  allein  von  der  Sprache  selbst,  sondern  sie  können  ebenso  von 
irgendwelchen  andern  Lebensgebieten,  von  der  Sitte  und  von  den 
mythologischen  Vorstellungen  ausgehen  und  auf  die  Sprache  über- 
greifen. Man  denke  nur  an  die  bei  manchen  amerikanischen  Stämmen 
bestehende  Sitte,  beim  Sprechen  den  Mund  nicht  zu  schließen,  eine 
Gewohnheit,  durch  die  sich  das  ganze  Lautsystem  dieser  Sprachen 
verändert  hat.  Darf  man  nun  aber  vielleicht  auch  annehmen,  daß 
solche  Einflüsse  mehr  singulärer  Natur  sind,  so  bleibt  doch  schließ- 
lich eine  Gruppe  von  Tatsachen  übrig,  die  den  Lautgesetzen  so  wenig 
wie  den  „Analogiebildungen"  unterzuordnen  ist.  Sie  besteht  in  allen 
den  Erscheinungen,  die  auf  eine  Wechselwirkung  zwischen  Laut 
und  Bedeutung  hinweisen.  Ihnen  wird  man  um  so  weniger  die  Auf- 
nahme unter  die  allgemeinen  Ursachen  der  Lautänderungen  versagen 
können,  als  uns  schon  die  Untersuchung  der  Sprachlaute  eine  Menge 
solcher  Assoziationen  in  den  natürlichen   Lautgebärden   und  Laut- 


384  Der  Lautwandel. 

metapliern  kennen  lehrte.  So  gut  wie  die  Neuschöpfung  von  Wörtern, 
werden  sie  natürlich  auch  den  Lautwandel  beeinflussen.  Ähnliches 
wird  man  überall  da  annehmen  dürfen,  wo  sich  bestimmte  Laut- 
elemente mit  bestimmten  Begriffsmodifikationen  assoziiert  haben, 
wie  z.  B.  im  Griechischen  der  i-Laut  mit  der  Bedeutung  des  Optativs 
usw.  Daß  sich  solche  begriffliche  mit  andern,  rein  lautlichen  Asso- 
ziationen mannigfach  durchkreuzen,  deren  Wirkungen  verstärken 
oder  aufheben  hönnen,  scheint  unzweifelhaft.  Doch  muß  es  genügen, 
hier  auf  diesen  Punkt  hinzuweisen.  Denn  die  Frage  dieser  Wechsel- 
beziehungen hängt  so  eng  mit  den  allgemeinen  Erscheinungen  des 
Bedeutungswandels  zusammen,  daß  sie  uns  erst  bei  diesem  näher 
beschäftigen  kann^). 

Im  Hinblick  auf  diese  große  Mannigfaltigkeit  der  Umstände, 
die  bei  den  Vorgängen  des  Lautwandels  in  Betracht  kommen,  ist  es 
vielleicht  begreiflich,  daß  man  in  der  Sprachwissenschaft  nicht  selten 
nach  dem  Grundsatze  handelt:  sobald  für  eine  gegebene  Erscheinung 
eine  Ursache  nachgewiesen  sei,  so  werde  dadurch  von  selbst  die  Auf- 
suchung weiterer  Bedingungen  überflüssig.  Doch  kann  dieser  Grund- 
satz auf  sachliche  Richtigkeit  jedenfalls  keinen  Anspruch  erheben. 
Denn  dieses  Prinzip  der  Einheit  der  Ursache  hat  keinerlei  Wahr- 
scheinlichkeit für  sich.  Erscheinungen  von  so  verwickelter  Natur 
sind  in  der  Regel  weder  im  ganzen  noch  in  einem  einzelnen  Fall  durch 
eine  einzige  Bedingung  zu  erschöpfen.  Nicht  das  Prinzip  der  Einfach- 
heit, sondern  das  der  Komplikation  der  Ursachen  ist  daher  das- 
jenige, das  von  vornherein  der  Beurteilung  des  Tatbestandes  zugrunde 
gelegt  werden  sollte. 


^)  Vgl.  den  Abschnitt  über  die  Erscheinungen  des  korrelativen  Laut-  und 
Bedeutungswandels  in  Kap.  VIII,  Nr.  I. 


Lautwandel  und  Lautwechsel.  385 


IL  Individuelle  und  generelle  Formen  der 

Lautänderung, 

1.  Lautwandel  und  LautwechseL 

Wie  bei  allen  Erscheinungen,  die  zum  Gebiet  völkerpsyclio- 
logiscber  Betrachtungen  gehören,  das  Individuum  und  die  Gemein- 
schaft in  fortwährender  Wechselwirkung  stehen,  so  gilt  dies  natur- 
gemäß auch  von  den  Wandlungen  der  Sprachlaute.  Eine  generelle 
Geltung  kann  aber  im  allgemeinen  nur  eine  solche  Abweichung  er- 
langen, die  aus  Bedingungen  hervorgeht,  denen  zahlreiche  Mitglieder 
der  Sprachgemeinschaft  unterworfen  sind. 

Nun  bringen  es  die  physiologischen  Verhältnisse  der  Lautbildung 
mit  sich,  daß  der  individuelle  Ursprung  einer  Lautänderung  ein 
doppelter  sein  kann:  entweder  ein  allmählicher  und  stetiger, 
bei  dem  zwischen  dem  Ausgangs-  und  dem  Endlaut  möglicherweise 
eine  unendliche  Anzahl  von  Zwischenstufen  liegt,  oder  ein  plötz- 
licher und  sprungweiser,  bei  dem  mit  einem  Male  der  Anfangs- 
in  den  Endlaut  übergeht.  Man  pflegt  diese  beiden  Fälle  als  die  des 
stetigen  und  des  springenden  Lautwechsels  zu  bezeichnen  und 
demnach  wohl  auch,  da  der  Begriff  des  „Wandels"  die  Nebenbedeu- 
tung eines  stetigen  Vorgangs  angenommen  hat,  den  ersteren  einen 
„Lautwandel",  den  letzteren  einen  „Lautwechsel"  im  engeren  Sinne 
des  Wortes  zu  nennen^). 

Der  Gegensatz  dieser  beiden  Formen  hängt  mit  dem  physio- 
logischen Charakter  der  beiden  Laute,  die  als  Anfangs-  und  End- 
laut den  Prozeß  der  Veränderung  einschließen,  zusammen.  Ein 
stetiger  Lautwandel  kann  nur  zwischen  solchen  Lauten  stattfinden, 
die  durch  alle  möglichen  Übergangsstufen  ineinander  übergeführt 
werden  können.  Dagegen  ist  zwischen  Lauten,  bei  denen  ein  solcher 
Übergang  ausgeschlossen  ist,  nur  ein  springender  Wechsel  möglich. 
So  kann  z.  B.  a  in  e  oder  o,  o  in  u,  e  in  i,  oder  es  kann  d  einerseits  in 


1)  Sievers,  Grundzüge  der  Phonetik,  *  1983,  S.  246,  und  in  Pauls  Grund- 
riß der  germanischen  Philologie,  2  I,  1897,  S.  309. 

Wundt,  Völkerpsychologie.    I.    4.  Aufl.  25 


386  Der  Lautwandel. 


t,  anderseits  in  dh,  dz,  z  ganz  allmählich  durch  minimale  Veränderungen 
der  Mundstellungen  übergehen.  Dagegen  kann  f  m  q,  t  m.  f  oder  re 
in  er  nur  plötzlich  überspringen,  weil  es  zwischen  den  Artikulationen 
des  Anfangs-  und  des  Endlauts  keine  Zwischenstellungen  gibt,  die  eine 
Reihe  allmählicher  Übergänge  bilden  könnten.  Begegnet  man  in  der 
Sprache  Lautänderungen,  die  sich  individuell  durch  stetige  Abstufungen 
der  ersten  Art  hervorbringen  lassen,  so  pflegt  man  daher  anzunehmen, 
daß  sie  auch  generell  Erzeugnisse  eines  stetigen  Lautwandels  seien. 
So  wenn  mhd.  Hute  in  nhd.  Leute,  ahd.  gasti  in  gesti  „Gäste",  urgerm. 
^fad-er  (&  =  engl,  th)  ^)  in  nhd.  Vater,  lat.  ag-nus  in  ang-nus  übergegangen 
ist.  Begegnet  man  anderseits  solchen  Lautänderungen,  die  sich  in- 
dividuell nicht  stetig  erzeugen  lassen,  so  führt  man  sie  auf  den  springen- 
den Lautwechsel  zurück.  So  wenn  griech.  "^qoteros  in  jtotbqoq,  lat. 
^finque  in  quinque,  ahd.   hrestan  in  nhd.   bersten  überging. 

So  wichtig  nun  dieser  Unterschied  für  die  physiologische  Ent- 
stehungsweise des  Lautwechsels  sein  mag,  so  erweist  er  sich  doch 
in  doppeltem  Sinn  als  ein  fließender.  Erstens  ist  es  natürlich  nicht 
ausgeschlossen,  daß  auch  derjenige  Wechsel,  der  seiner  physiolo- 
gischen Natur  nach  ein  stetiger  sein  kann,  im  einzelnen  Fall  als  ein 
springender  vorkommt;  und  wahrscheinlich  würde  er  sich  um  so  mehr 
als  ein  solcher  darstellen,  je  mehr  man  auf  sein  individuelles  Vorkommen 
zurückzugehen  vermöchte.  Beim  Übergange  von  gasti  in  gesti  z.  B. 
wird  wohl  der  Einzelne  gelegentlich  einmal  mehr  nach  a,  ein  anderes 
Mal  mehr  nach  e  artikulieren,  doch  im  ganzen  wird  er  in  jedem  be- 
sonderen Falle  nicht  um  unendlich  kleine,  sondern  um  beliebige  end- 
liche Größen  seine  Mundstellung  ändern.  Ferner  muß  aber  umgekehrt 
auch  derjenige  Lautwechsel,  der  individuell  ein  springender  war,  bei 
seiner  generellen  Verbreitung  zu  einem  annähernd  stetigen  Vorgang 
werden.  Denn  wie  sich  schon  bei  dem  Einzelnen  der  Übergang  von 
der  alten  zur  neuen  Lautform  nicht  mit  einem  Mal  als  Regel  durch- 
setzt, sondern  zunächst  zeitweise  auftritt  und  dann  durch  Gewöhnung 
häufiger  und  häufiger  wird,  so  wird  vollends  nie  eine  Abweichung 


1)  Mit  einem  Sternchen  werden  hier  und  im  folgenden  überall,  nach  dem 
in  der  Sprachwissenschaft  eingeführten  Usus,  solche  Wörter  bezeichnet,  die  laut- 
gesetzlich  erschlossen,  aber  nicht  direkt  belegt  sind. 


Lautwandel  und  Lautwechsel.  387 

die  ganze  Sprachgemeinschaft  gleichzeitig  ergreifen,  sondern  all- 
mählich durch  eine  Periode  gemischten  Gebrauchs  sich  ausbreiten, 
um  schließlich  herrschend  zu  werden.  Auf  diese  Weise  kann  ein  noch 
so  allmählicher  Lautwechsel  im  individuellen  Sinn  als  ein  sprin- 
gender gelten,  wenn  er  nur  die  Eigenschaft  hat,  in  sehr  vielen  Ab- 
stufungen variieren  zu  können;  und  umgekehrt  kann  jeder  Laut- 
wechsel, wie  er  auch  individuell  beschaffen  sein  mag,  im  generellen 
Sinn  als  ein  allmählicher  und  annähernd  stetiger  Vorgang  angesehen 
werden. 

Mag  aber  gleich  jener  Unterschied  des  Stetigen  und  Plötzlichen, 
solange  man  allein  die  äußere  Erscheinungsweise  der  Lautänderungen 
ins  Auge  faßt,  nur  ein  relativer  sein,  so  verhält  es  sich  doch  anders, 
sobald  man  den  ursprünglichen  psychophysischen  Bedingungen 
der  Lautänderungen  nachgeht.  Da  diese  Bedingungen  notwendig 
mit  Einflüssen  zusammenhängen,  denen  die  individuellen  Sprach- 
organe unterworfen  sind,  so  tritt  darum  hier  der  Grundsatz  in  seine 
Rechte  ein,  daß  sich  kein  Wechsel  in  einer  redenden  Gemeinschaft 
vollziehen  kann,  der  nicht  in  den  Eigenschaften  der  Individuen 
und  in  den  Einwirkungen,  denen  sie  unterworfen  sind,  vorgebildet 
wäre.  Demnach  setzt  die  Analyse  der  generellen  eine  solche  der 
individuellen  Bedingungen  des  Lautwandels  voraus,  und  diese 
können  möglicherweise  je  nach  der  Beschaffenheit  der  Lautüber- 
gänge abweichen,  da  Unterschieden  der  physischen  Vorgänge  auch 
solche  ihrer  psychischen  Bedingungen  voraussichtlich  entsprechen 
werden. 

In  der  Tat  wird  diese  Voraussage  durch  die  Beobachtung  der 

unabhängig  von  allen  generellen  Lautänderungen  sich  darbietenden 

individuellen     Abweichungen     der     Lautbildung     durchaus 

bestätigt.      Solche  Abweichungen  treten  nämlich  erstens  dadurch 

ein,  daß  jedes  individuelle  Sprachorgan  für  jede  Artikulationsweise, 

die  ihm  möglich  ist,  einen  gewissen  Spielraum  der  Artikulation 

besitzt,   innerhalb   dessen   stetige   Veränderungen   möglich   sind,   die, 

sobald  irgendwelche  Einflüsse  eine  bestimmte  Richtung  begünstigen, 

die   Anlage   zur   Entstehung   eines   stetig   eintretenden   Lautwandels 

enthalten.   Zweitens  beobachten  wir,  daß  im  Verlaufe  der  Rede  durch 

fehlerhafte  Artikulation  ein  Überspringen  aus  einer  bestimmten 

25* 


388  Dei'  Lautwandel. 


Artikulationsform  in  eine  andere,  die  außerhalb  jenes  Spielraums 
der  normalen  Bewegungsamplitude  liegt,  eintreten  kann,  ein  springen- 
der Lautwechsel  also,  den  man  in  seinen  die  normale  Lautbildung 
beeinflussenden  Formen  je  nach  seinen  besonderen  Eigenschaften 
entweder  als  eine  Lautvermengung  oder  als  eine  Wortvermengung 
bezeichnet:  das  erstere  dann,  wenn  die  Abweichungen  unter  dem  Ein- 
flüsse nahe  benachbarter  Laute  entstehen,  das  letztere,  wenn  sie  in- 
folge von  Assoziationen  mit  andern,  durch  den  Inhalt  des  Gesprochenen 
lautlich  oder  begrifflich  nahegelegten  Wörtern  zustande  kommen. 
Zu  diesen  Abweichungen  kommt  endlich  noch  eine  dritte,  darin  be- 
stehend, daß  das  individuelle  Sprachorgan  die  Laute  einer  fremden 
Sprache  in  ihrem  Lautwerte  zu  verändern  pflegt,  auf  welche  Ver- 
änderungen teils  die  abweichende  physische  Anlage  des  Sprachorgans, 
teils  Assoziationen  mit  Wörtern  der  eigenen  Sprache  bestimmend 
einwirken.  Das  Studium  dieser  drei  Arten  individueller  Lautände- 
rungen, des  Spielraums  normaler  Artikulationen,  der  Laut-  und 
Wortvermengungen,  der  Sprachmischungen,  bildet  so  eine  notwen- 
dige Vorbereitung  zu  der  psychophysischen  Analyse  jedes  generellen 
Lautwandels. 


2.  Spielraum  der  normalen  Artikulationen. 

Der  Spielraum  der  normalen  Artikulationen  ist  bei  jedem  ein- 
zelnen Laut  ein  nicht  unbeträchtlicher.  Zugleich  kann  aber  diesem 
Begriff  eine  individuelle  und  eine  generelle  Bedeutung  gegeben  werden. 
Der  individuelle  Spielraum  äußert  sich  darin,  daß  der  nämliche 
Laut  in  verschiedenen  Fällen  innerhalb  einer  gewissen  Breite  variieren 
kann.  Dabei  sind  von  diesem  Begriff  des  individuellen  Spielraums 
diejenigen  Lautmodifikationen  auszuschließen,  die  von  wechselnden 
objektiven  Bedingungen,  namentlich  von  den  verschiedenen  Laut- 
verbindungen abhängen.  Denn  hier  handelt  es  sich  in  Wahrheit  gar 
nicht  um  denselben  Laut,  sondern  um  verschiedene  Laute,  die  wir 
nur  wegen  ihrer  Ähnlichkeit  gewöhnlich  mit  dem  gleichen  Zeichen 
schreiben.  Das  a  in  lachen  und  laden,  das  e  in  gehen  und  Pferd,  das  p 
in  Post  und  Pfeil,  vollends  das  betonte  und  das  tonlose  e  in  gehen, 
lehen  usw.  sind  wirklich  verschiedene  Laute,  die  in  jeder  strengeren 


Spielraum  der  normalen  Artikulationen.  389 

phonetisciieii  Schrift  unterschieden  werden  müssen,  wobei  dann  aber 
wiederum  wegen  der  unendlichen  Zahl  solcher  Abstufungen  eines 
Lautes  nur  die  größeren  Intervalle  berücksichtigt  werden  können. 
Doch  abgesehen  von  diesen  wirklichen  Unterschieden  gibt  es  für  einen 
und  denselben,  in  einem  bestimmten  Wort  und  unter  sonst  unver- 
ändert bleibenden  Bedingungen  vorkommenden  Sprachlaut  gerade 
so  gut  einen  gewissen  Spielraum  der  individuellen  Artikulation,  wie 
unsere  sonstigen  Bewegungen,  z.  B.  Größe,  Verlauf  und  Richtung 
der  Gehbewegungen,  variieren  können. 

Einen  noch  weiteren  Umfang  hat  der  Spielraum  in  der  zweiten, 
allgemeinen  Bedeutung,  wo  er  die  Breite  der  Abweichungen  der  ein- 
zelnen Individuen  einer  Sprachgemeinschaft  von  der  mittleren  durch- 
schnittlichen Artikulationsform  bezeichnet.  Denn  in  diesem  gene- 
rellen Spielraum  sind  alle  individuellen  Spielräume  enthalten, 
derart,  daß  die  häufigste  Artikulationsweise  des  Einzelnen  in  jenem 
eine  bestimmte  Stelle  einnimmt.  Hierdurch  entsteht,  zusammen 
mit  den  Eigentümlichkeiten  von  Tonfall  und  Rhythmus,  die  indivi- 
duelle Nuancierung  der  Sprache,  die  es  uns  möglich  macht,  eine  uns 
bekannte  Person  an  ihrer  Sprechweise  unter  Umständen  aus  tausend 
andern  Stimmen  heraus  zu  erkennen. 

In  den  beiden  Bedeutungen,  in  denen  hier  der  Begriff  des  Spiel- 
raums der  Artikulation  gebraucht  wurde,  repräsentiert  nun  aber 
dieser  Begriff  keine  einfache,  etwa  nur  nach  zwei  entgegengesetzten 
Richtungen  veränderliche  Größe,  sondern  er  läßt  sich  als  eine  ,, vier- 
fach ausgedehnte  Mannigfaltigkeit'^  auffassen,  insofern  er  sich  aus 
vier  Spielräumen  zusammensetzt:  aus  der  räumlichen  Variation 
der  Artikulationsstelle,  der  zeitlichen  der  Lautdauer,  der 
intensiven  der  Lautstärke  und  der  qualitativen  der  Tonhöhe. 
In  dem  ersten  dieser  Spielräume  bewegen  sich  die  hauptsächlichsten 
Veränderungen  des  Geräusch-  und  Klangcharakters,  die  den 
Sprachlaut  als  solchen  kennzeichnen.  Der  zweite  und  dritte  kommen 
vorzugsweise  in  dem  Zusammenhang  der  verschiedenen  Laute  zur 
Geltung,  indem  der  zweite  die  relative  Dauer,  der  dritte  den  relativen 
Grad  der  Betonung  bestimmt.  Das  nämliche  gilt  von  dem  vierten 
Spielräume,  dem  der  Tonhöhe.  Nur  kommt  bei  ihm  außerdem  in 
Betracht,  daß  er  bis  zu  einem  gewissen  Grade  von  dem  ersten  und 


390  Der  Lautwandel. 


dritten,  dem  Klangcliarakter  des  Lautes  und  der  Lautstärke,  abhängt, 
da  namentlicli  gewisse  Vokalklänge  höhere,  andere  tiefere  Teiltöne 
enthalten,  und  da  mit  der  Lautstärke  infolge  der  eintretenden  größeren 
Spannung  der  Stimmbänder  in  der  Regel  die  Tonhöhe  steigt.  Ab- 
gesehen vom  Gesang,  bilden  schon  in  der  gewöhnlichen  Rede  die  Va- 
riationen der  Tonhöhe  ein  selbständiges  Moment  (S.  359  f).  Durch 
die  innerhalb  jener  vier  Spielräume  möglichen  Variationen  sowie 
durch  die  Wirkungen,  die  diese  Schwankungen  wieder  aufeinander 
ausüben,  ist  aber  fortwährend  die  Möglichkeit  zu  allmählichen  Laut- 
änderungen gegeben.  In  der  Tat  sehen  wir  solche  regelmäßig  bereits 
während  des  individuellen  Lebens  eintreten,  namentlich  wenn  zu  den 
allgemeinen  Bedingungen  psychophysischer  Entwicklung  noch  be- 
sondere Einflüsse  hinzutreten,  wie  sie  Erziehung,  Bildung  und  Ver- 
kehr mit  sich  führen.  Selten  wird  daher  die  Sprache  eines  Menschen 
in  zwei  zeitlich  weit  auseinander  liegenden  Perioden  seines  Lebens 
genau  den  gleichen  Lautcharakter  besitzen.  Vielmehr  kann  sich  hier 
in  beschränktem  Umfang  ein  allmählicher  Lautwandel  vollziehen, 
der  sich  möglicherweise  von  einer  Generation  zur  andern  steigert. 
Darauf  scheinen  in  der  Tat  die  Unterschiede  der  Sprechweise  hinzu- 
weisen, die  wir  schon  bei  der  Vergleichung  der  Sprache  einer  älteren 
und  einer  jüngeren  Generation  des  gleichen  Volkes  meist  deutlich 
bemerken  ^). 


3.  Störungen  der  Lautbildung. 

Anderer  Art  ist  die  zweite  Klasse  der  obengenannten  Bedin- 
gungen möglicher  Artikulationsänderungen,  die  der  Artikulations- 
fehler.   Gröbere  Fehler  von  konstanter  Beschaffenheit  sind  Wirkimgen 


1)  So  konnte  Rousselot  (Les  modifications  phon^tiques  du  langage,  6tu- 
di^es  dans  le  patois  dune  famille  de  Cellefrouin  (Charente),  1901,  p.  200)  sogar 
innerhalb  einer  ziemlich  abgeschiedenen  Bevölkerung  schon  bei  der  Vergleichung 
zweier  Generationen,  die  nur  um  4 — 9  Jahre  voneinander  verschieden  waren, 
einen  Übergang  des  moullierten  l  in  /  feststellen.  Daß  er  bei  seiner  eigenen  Mutter, 
die  er  zehn  Jahre  hindurch  beobachtete,  keinerlei  Veränderung  wahrnahm,  bildet 
natürlich  keine  Gegeninstanz.  Auch  dürften  wohl  überhaupt  die  Perioden  merk- 
licher Änderungen,  abgesehen  von  einem  ausnahmsweise  raschen  Wechsel  der 
Lebensbedingungen,  in  der  Regel  größere  sein. 


Störungen  der  Lautbildung.  391 


pathologischer  Zustände,  die  als  solche  außerhalb  des  Kreises  normaler 
Lautänderungen  liegen,  aber  deshalb  hier  herbeigezogen  werden 
müssen,  weil  sie  gewissen  noch  in  die  Breite  des  Normalen  fallenden 
Erscheinungen  analog  sind.  Nach  ihren  Sjnnptomen  lassen  sich  die 
pathologischen  wie  die  normalen  Artikulationsfehler  in  drei  Klassen 
ordnen,  zwischen  denen  übrigens  mannigfache  Übergänge  vorkommen 
können:  in  die  Lauterschwerungen  (Dyslalien),  die  Lautver- 
mengungen  (Paralalien)  und  die  Wortvermengungen  (Onoma- 
tomixien).  Dabei  verstehen  wir  unter  den  ,,Lautvermengungen'' 
solche  Störungen  der  Lautbildung,  die  durch  die  Einwirkung  von 
Lauten  des  gleichen  Wortes  oder  dicht  aneinander  grenzender  Wörter 
entstehen,  während  wir  die  aus  der  Einwirkung  verschiedener,  nicht 
unmittelbar  verbundener  Wörter  hervorgehenden  Störungen  als 
Onomatomixien  bezeichnen.  Diese  dritte  Klasse  wird  von  der  zweiten 
in  der  Regel  nicht  geschieden.  Dennoch  ist  dies  ebensowohl  um  des 
verschiedenen  Charakters  der  Erscheinungen  willen,  wie  wegen  der 
Beziehungen,  die  sie  zu  wesentlich  abweichenden  Vorgängen  des  gene- 
rellen Lautwechsels  bieten,  erforderlich^). 

a.  Lauterschwerungen. 

Die  Lauterschwerungen  oder  Dyslalien  können  entweder 
auf  fehlerhafter  Bildung  der  peripheren  Sprachwerkzeuge  oder  auf 
zentralen  Innervationsstörungen  oder  endlich  auf  beiden  Momenten 
zugleich  beruhen.  Ihre  Symptome  bestehen  in  einer  Erschwerung 
der  Artikulation,  die  entweder  alle  Laute  oder  bloß  einzelne  treffen 
kann.  Ist  dabei  die  Fähigkeit  der  Erzeugung  der  Laute  vorhanden 
und  ihre  Hervorbringung  nur  durch  organische  Bedingungen  erschwert, 
so  entstehen  die  Erscheinungen  des  Stamm  eins  und  Silbenstol- 
perns.     Bei  ihnen  pflegen  sich  stets  mit  peripheren  Erschwerungen 


1)  Zusammenfassende  Darstellungen  der  pathologischen  Sprachstörungen 
geben  A.  Kußmaul,  Störungen  der  Sprache,  1877,  S.  186  ff.,  und  A.  Liebmann, 
Vorlesungen  über  Sprachstörungen,  Heft  1—4,  1898  bis  1900.  Die  „Aphasie" 
und  „Paraphasie"  werden  uns,  als  Symptome,  die  für  die  psychologischen  Be- 
dingungen der  Wortbildung  bedeutsam  sind,  erst  im  nächsten  Kapitel  beschäf- 
tigen. 


392  Der  Lautwandel. 


zentrale  Innervationsstörungen  zu  verbinden.  Als  der  mildeste  Fall 
gehört  hierher  der  Mangel  an  Übung  in  deutlicher  Artikulation,  wie 
er  als  Folge  fehlerhafter  Erziehung  und  Selbsterziehung  häufig  vor- 
kommt. Das  durch  periphere  Erschwerungen  oder  mangelnde  Sprach- 
übung entstehende  Stammeln  kann  ferner  durch  Angstgefühle,  die 
das  Sprechen  begleiten,  und  die  auch  mit  sonstigen  Störungen  der 
Koordination  der  Bewegungen  verbunden  sind,  erheblich  gesteigert 
werden.  Hier  grenzt  übrigens  das  Abnorme  oft  dicht  an  das  noch 
Normale.  Denn  jenes  besteht  eigentlich  nur  in  einer  schon  bei  gering- 
fügigen Anlässen  eintretenden  Erschwerung  des  Sprechens,  ähnlich 
derjenigen,  die  auch  dem  gesunden  Sprachorgan  unter  etwas  schwie- 
rigeren Bedingungen  widerfährt.  Mindestens  bedarf  es  einer  beson- 
deren Übung,  um  nicht  bei  dem  Versuche,  schwer  zu  artikulierende 
oder  ungewöhnlich  lange  Wörter  und  Phrasen  schnell  auszusprechen, 
dem  Stammeln  und  Silbenstolpern  anheimzufallen:  so  bei  dem  be- 
kannten ,, Fritz  frißt  frische  Fische"  usw. 

Wesentlich  verschieden  von  diesen  mit  den  Artikulations- 
erschwerungen der  normalen  Sprache  verwandten  Erscheinungen 
des  Stammeins  sind  die  des  Stottern s.  Sie  beruhen  auf  einer  teta- 
nischen  krampfhaften  Innervation  der  Artikulationsorgane,  sind 
also,  wie  aus  ihren  Symptomen  hervorgeht,  vorwiegend  zentralen 
Ursprungs,  wobei  jedoch  wiederum  periphere  Ursachen  ihren  Ein- 
tritt begünstigen  können.  Auch  der  auffallende  Einfluß  psychischer 
Bedingungen,  die  Verstärkung  des  Übels  durch  Angstgefühle,  seine 
Milderung  durch  methodische  Erziehung  und  vor  allem  durch  Übung 
in  willkürlicher  langsamer  Artikulation,  bestätigen  die  zentrale  Ent- 
stehungsweise. Auf  gemischte  Ursachen  sind  schließlich  die  auf 
einzelne  Laute  beschränkten  Artikulationsfehler  zurück- 
zuführen, insofern  bei  ihnen  ebenso  die  mangelnde  Beweglichkeit 
der  äußeren  Organe  auf  die  Innervation  wie  umgekehrt  die  mangelnde 
Übung  dieser  auf  die  Organe  zurückwirken  kann.  Die  beschränkten 
Artikulationsfehler  dieser  Art  führen  regelmäßig  zu  Lautvertretun- 
gen. Dabei  lassen  sich  zwei  verschiedene  Grade  der  letzteren  unter- 
scheiden. Der  stärkere  besteht  in  der  Substitution  eines  Lautes  von 
ganz  abweichender  Artikulationsform,  z.  B.  in 'der  Vertretung  der 
Oaumenlaute  durch  Resonanzlaute,  der  Lippenlaute  durch  Zungen- 


Störungen  der  Lautbildung.  393 

laute  oder  umgekehrt.  Dies  sind  Lautvertretungen,  wie  man  sie  auch 
beim  Kind  in  der  Zeit  des  Sprechenlernens  (S.  314  ff.),  sowie  bei  der 
Assimilation  der  Wörter  einer  Sprache  durch  eine  andere  von  abweichen- 
dem Lautsystem  beobachtet.  Der  schwächere  Grad  der  Lautver- 
tretung äußert  sich  in  der  Vertauschung  nahe  verwandter  Laute, 
wie  z.  B.  in  dem  Ersatz  des  Zungen-r  durch  das  Rachen-r,  der  Tenuis 
f,  h,  t  durch  die  Media  h,  g,  d  usw.,  Fälle,  die  bereits  durchaus  in  die 
Breite  normaler  Abweichungen  und  dialektischer  Unterschiede  hinüber- 
spielen. Abgesehen  hiervon  bilden  die  Dyslalien  denjenigen  Grenz- 
fall individueller  Lautstörungen,  wo  diese  ihrer  Natur  nach  indivi- 
duell bleiben.  Denn  indem  die  besonderen  zentralen  und  peripheren 
Momente,  die  eine  derartige  Erschwerung  der  Artikulation  herbei- 
führen, aus  singulären  Bedingungen  der  psychophysischen  Organi- 
sation entspringen,  verschwinden  sie  im  allgemeinen  mit  dem  Indi- 
viduum, bei  dem  sich  jene  Bedingungen  vorfanden.  Darin  unterschei- 
den sie  sich  wesentlich  von  den  folgenden  Lautstörungen,  bei  denen 
eine  jede  individuell  eintretende  Abweichung  in  vielen  andern  In- 
dividuen analoge  Bedingungen  vorfindet. 

b.  Lautvermengungen. 
Im  Unterschiede  von  der  Dyslalie  bleiben  bei  den  Lautver- 
mengungen oder  Paralalien  die  einzelnen  Lautbildungen  an  sich 
normal,  aber  ihre  Ordnung  in  der  Zusammenfügung  zum  Worte  wird 
gestört.  In  diesem  Symptom  liegt  schon  ausgesprochen,  daß  aus- 
schließlich zentrale  Ursachen,  und  zwar  solche,  die  den  höheren  Zen- 
tralgebieten angehören,  der  pathologischen  Paralalie  zugrunde  liegen. 
Während  uns  ferner  bei  den  Dyslalien,  soweit  sie  zentral  bedingt  sind, 
überall  nur  Störungen  der  Reflex-  oder  Koordinations  Verbindungen  be- 
gegnen, ohne  daß  diesen  physiologischen  Vorgängen,  die  sich  durchgängig 
in  den  niedrigeren  Nervenzentren  abspielen,  psychische  Abweichungen 
parallel  gehen,  sind  umgekehrt  bei  den  krankhaften  Formen  der  Para- 
lalie diese  in  der  Regel  vorhanden.  So  beobachtet  man  denn  auch  die  auf- 
fallendsten dieser  Lautvermengungen  in  der  Sprache  Geisteskranker^). 


1)  Über  die  Sprache  Geisteskranker  vgl.  Snell,  AUg.  Ztschr.  f.  Psychiatrie 
IX,  1852,  S.  11  ff.     Brosius,  ebenda  XIV,  1857,  S.  37  ff. 


394  Der  Lautwandel. 


Zu  den  noch  in  die  Breite  des  normalen  Lebens  fallenden 
,,Paralalien"  gehören  viele  Erscheinungen  des  sogenannten  Ver- 
sprechens. Sie  sind  ziemlich  regelmäßige  Begleitsymptome  der 
„Zerstreutheit",  können  aber  außerdem  durch  eine  ungewöhnliche 
Geschwindigkeit  des  Kedeflusses  unterstützt  werden^).  Hieraus  er- 
gibt sich,  daß  auch  diese  normalen  Artikulationsfehler  überwiegend 
infolge  psychischer  Ursachen  entstehen,  denen  gegenüber  periphere 
Bedingungen  nur  von  sekundärer  und  untergeordneter  Bedeutung 
sind.  Denn  der  Zustand  der  ,, Zerstreutheit"  pflegt  in  einer  Ablenkung 
der  Aufmerksamkeit  zu  bestehen,  die  ein  Abschweifen  auf  assoziierte, 
namentlich  auch  auf  die  unmittelbar  nachfolgenden  oder  voraus- 
gehenden Lautvorstellungen  möglich  macht. 

Suchen  wir  die  pathologischen  Paralalien  sowie  die  gewöhn- 
lichen Erscheinungen  des  ,, Versprechens",  soweit  sie  dem  Gebiete 
der  oben  definierten  eigentlichen  Lautvermengungen  angehören, 
nach  psychologischen  Gesichtspunkten  zu  ordnen,  so  lassen  sie  sich 
in  die  drei  Klassen  der  Einschaltungen,  der  Auslassungen  und 
der  Umstellungen  der  Laute  unterscheiden.  Die  erste  dieser  Er- 
scheinungen, die  Einschaltung,  findet  sich  in  pathologischen  Fällen 
außerordentlich  häufig.  Sie  kann  sich  hier  zu  Einfügungen  ganzer 
Wort-  und  Satzbildungen  erweitern  oder  auch  aus  völlig  sinnlosen 
Lautbildungen  bestehen.  In  allen  diesen  Fällen  sind  die  eingeschal- 
teten Laute  durch  ihre  häufige  Wiederholung  in  hohem  Grad  eingeübt, 


^)  Meringer  und  Mayer,  Versprechen  und  Verlesen.  Eine  psychologisch - 
linguistische  Studie,  1895.  R.  Meringer,  Aus  dem  Leben  der  Sprache.  1908. 
Viele  der  in  beiden  Schriften  sorgfältig  gesammelten  Beispiele  gehören  aller- 
dings nicht  hierher,  sondern  teils  zu  der  unten  zu  besprechenden  Wortvermengung 
(Onomatomixie),  teils  in  das  Gebiet  der  dem  nächsten  Kapitel  vorzubehalten- 
den Wortbildungsfehler  (Paraphasien).  Auch  dehnen  diese  Autoren  den  Begriff 
des  ,, Versprechens"  in  einigen  Fällen  auf  Redeformen  aus,  die  zwar  ungewöhn- 
lich, deshalb  aber  doch  nicht  den  Sprachstörungen  zuzurechnen  sind,  so  z.  B. 
auf  die  Vermischung  bildlicher  Ausdrücke  in  der  poetischen  Rede.  Shakespeares 
Worte  im  Hamlet  ,,0r  to  take  arms  against  a  sea  of  troubles  and  by  opposinge 
end  them"  halte  ich  nicht  mit  den  Verff.  für  eine  falsche  Kontamination  (S.  58), 
sondern  für  eine  sehr  schöne  Metapher.  Die  Verstärkung  des  Eindrucks  durch 
eine  Verbindung  der  Bilder  ist  eine  berechtigte  Eigentümlichkeit  der  Metapher. 
(Vgl.  unten  Kap.  VIII,  Nr.  V,  4.) 


Störungen  der  Lautbildung.  395 

SO  daß  sie  offenbar  meist  absichtslos  und  nur  dunkel  bewußt  auftreten. 
Sie  werden  vor  allem  da  in  den  Zusammenhang  der  Rede  eingefügt, 
wo  diese  aus  irgendeinem  Grunde  vorübergehend  stockt;  doch  können 
sie  sich  in  extremen  Fällen  auch  fortwährend  und  zwangsweise  der 
Artikulation  aufdrängen.  Das  Stocken  des  Gedankenflusses  bietet 
den  nächsten  Anlaß  zu  einer  unwillkürlichen  Ausfüllung  der  Pausen 
durch  Zwischenlaute,  die  dann  zur  Gewohnheit  wird,  so  daß  sie  auch 
da  eintritt,  wo  jene  ursprüngliche  Ursache  hinwegfällt.  Innerhalb 
längerer  Wörter  sind  Schaltlaute  als  Silbenwiederholungen,  z.  B. 
Indedeterminismus  für  Indeterminismus,  oder  als  einfache  Trennungen 
zweier  Laute,  z.  B.  netonatorum  für  neonatorum,  beim  gewöhnlichen 
Versprechen  nicht  ganz  selten.  Eine  besondere  Modifikation  der  Ein- 
schaltungsgewohnheiten ist  es,  wenn  manche  Personen  die  Schluß- 
worte der  Sätze  zu  wiederholen  pflegen.  Da  der  Satzschluß  in 
der  Regel  mit  einer  Pause  des  Vor stellungs Verlaufs  zusammen- 
fällt, so  ist  dies  nur  ein  spezieller  Fall  der  allgemeinen  Tat- 
sache, daß  die  Schaltlaute  vorzugsweise  in  derartigen  Zwischen- 
pausen auftreten. 

Die  zweite  Klasse  der  Paralalien  besteht  in  der  Auslassung 
von  Lauten.  Sie  geht  leicht  durch  Auslassung  ganzer  Wörter  in  die 
syntaktischen  Sprachfehler  über.  Bei  der  Lautfolge  im  einzelnen 
Worte  tritt  die  Auslassung  besonders  bei  längeren  Wörtern  ein,  und 
es  sind  hier  besonders  die  mittleren  Laute,  die  ausfallen:  die  Laut- 
bildung eilt  ihrem  Ende  zu.  So  in  der  Ideenflucht  der  Irren,  wo  leicht 
nicht  nur  Worte,  sondern  ganze  Satzteile  ausfallen  können;  aber  auch 
beim  gewöhnlichen  Versprechen,  namentlich  in  sehr  schneller  Rede: 
z.  B.  Substution  für  Substitution,  Charaktologie  für  Charakterologie, 
aller  Leute  für  allerlei  Leute  u.  ä.  Durch  die  schon  hier  bemerk- 
bare Antizipation  des  Folgenden,  die  die  Lautbewegungen  über- 
stürzt, geht  diese  Verkürzung  in  die  Erscheinungen  der  nächsten 
Klasse  über. 

Diese  dritte  Klasse  ist  die  der  Umstellungen.  Eine  Um- 
stellung von  Lauten  ist  in  doppelter  Weise  möglich.  Entweder  wird 
ein  späterer  Laut  vor  einem  andern,  der  ihm  vorausgehen  sollte,  ge- 
bildet; oder  ein  früherer  Laut  folgt  einem  andern  nach,  der  eigentlich 
später  kommen  sollte.    Wo  es  sich  um  eine  reine  Umstellung  handelt, 


396  Der  Lautwandel. 


da  sind  natürlich  beide  Fälle  immer  zugleich  vorhanden:  jede  Anti- 
zipation ist  für  den  Laut,  der  durch  den  vorausgenommenen  zurück- 
gedrängt wird,  eine  Postposition,  und  umgekehrt.  Doch  sind  die 
Störungen  von  verschiedenen  Nebensymptomen  begleitet,  die  bald 
auf  die  eine,  bald  auf  die  andere  Erscheinung  als  die  primäre  und  für 
beide  zugleich  auf  abweichende  Ursachen  hinweisen.  Die  Voraus- 
nahme besteht  nämlich  entweder  in  einer  einfachen  Umstellung, 
wobei  ein  einzelner  Laut  oder  ein  ganzer  Lautkomplex  mit  einem  fol- 
genden vertauscht  wird,  wie  z.  B.  bei  der  Umwandlung  von  hegleiten 
in  gehleiten,  von  Raum  und  Zeit  in  Zaum  und  Reit,  von  Rotkohl  in  Kohl- 
rot.  Oder  sie  ist  mit  lautlichen  Veränderungen  verbunden,  bei  denen 
sichtlich  die  ursprüngliche  Lautform  auf  die  veränderte  noch  ein- 
gewirkt hat,  wie  z.  B.  bei  dem  Übergang  von  Totschläger  in  Schlag- 
töter.  In  beiden  Fällen  kann  kein  Zweifel  daran  bestehen,  daß  die 
Vorausnahme  eines  im  regelmäßigen  Vorstellungsverlaufe  nach- 
folgenden Gliedes  die  Ursache,  und  die  eintretende  Veränderung  der 
wirklich  nachfolgenden  bloß  eine  Folge  jener  Antizipation  ist.  Diese 
selbst  beruht  aber  offenbar  darauf,  daß  die  Wortvorstellungen  samt 
den  an  sie  gebundenen  Artikulationsimpulsen  dem  Fluß  der  Rede 
vorauseilen.  Im  Verlaufe  der  normalen  Rede  ist  fortwährend  die 
Hemmungsfunktion  des  Willens  dahin  gerichtet,  Vorstellungsverlauf 
und  Artikulationsbewegung  miteinander  in  Einklang  zu  bringen. 
Wird  die  den  Vorstellungen  folgende  Ausdrucksbewegung  durch  me- 
chanische Ursachen  verlangsamt,  wie  beim  Schreiben  oder  aber  auch 
bei  der  Rede  des  Stammelnden,  so  treten  daher  solche  Antizipationen 
besonders  leicht  ein.  Wir  verschreiben  uns  schon  unter  normalen 
Verhältnissen  leichter  als  wir  uns  versprechen,  und  in  den  Schrift- 
stücken der  Idioten  und  paralytischen  Geisteskranken  ist,  neben 
der  Auslassung  von  Silben  oder  Buchstaben,  die  Vorausnahme  nach- 
folgender Schriftzeichen  eine  häufige  Erscheinung.  Bei  den  nämlichen 
Individuen  findet  man  aber  auch  nicht  selten  das  Symptom  des  so- 
genannten ,,Silbenstolperns",  das  eben  aus  solchen  Vorausnahmen 
der  Laute  und  den  ihnen  folgenden  Wirkungen  besteht.  Die  häufigste 
dieser  Wirkungen  ist  die,  daß  während  der  Antizipation  einer  folgen- 
den Wortvorstellung  auch  die  normale  Assoziation  der  Laute,  nament- 
lich wenn  diese  durch  mehrfache  Anwendung  eingeübt  ist,  auf  die 


Störungen  der  Lautbildung.  397 

momentane  Artikulation  einwirkt,  wodurch  sich  dann  diese  aus  beiden 
Wirkungen  zusammensetzt:  so  bei  der  Umkehrung  von  Totschläger 
in  Schlagtöter, 

Von  allen  diesen  Erscheinungen  imterscheiden  sich  durchaus 
diejenigen  Symptome,  die  entstehen,  wenn  ein  bestimmter  Laut  oder 
Laut  komplex  eine  verspätete  Wirkung  auf  das  Bewußtsein  ausübt. 
Eine  solche  kann  unabhängig  von  gleichzeitigen  Vorausnahmen,  die  dann 
stets  als  das  Primäre  anzusehen  sind,  nur  in  der  Form  einer  Nach- 
wirkung stattfinden,  bei  der  ein  vorangegangener  Laut  noch  als 
Vorstellung  im  Bewußtsein  bleibt,  während  sich  die  folgenden  Sprach- 
bewegungen bereits  abspielen.  Dadurch  entsteht  entweder  eine  Ver- 
mischung jenes  vorausgegangenen  mit  dem  augenblicklich  geforderten 
Laut  oder  eine  völlige  Verdrängung  des  letzteren  durch  jenen.  So 
in  Artrillerie  für  Artillerie,  Pomode  für  Pomade,  Rautenkraune  für 
Rautenkrone.  Besser  als  die  Ausdrücke  Antizipation  und  Postposition 
drücken  daher  die  andern  der  Vorausnahme  und  Nachwirkung 
das  Verhältnis  der  Vorgänge  aus.  Zugleich  machen  es  diese  Aus- 
drücke verständlich,  daß  die  durch  Vorausnahme  der  Artikulationen 
entstehenden  Sprachfehler  im  allgemeinen  häufiger  sind  als  die  aus 
der  Nachwirkung  der  Laute  entspringenden.  Daß  der  Vorstellungs- 
verlauf schneller  dahineilt  als  die  Sprachbewegungen,  ist  eben  eine 
sehr  leicht  vorkommende,  namentlich  aber  eine  jeden  Nachlaß  der 
normalen  Willenshemmung  begleitende  Erscheinung.  Darum  ver- 
sprechen wir  uns  in  dieser  Weise  so  leicht,  wenn  wir  ,, zerstreut"  sind. 
Dagegen  verschwindet  das  gesprochene  Wort  in  der  Regel  sehr  schnell 
aus  dem  Bewußtsein,  und  nur  ausnahmsweise,  wenn  aus  irgendwelchen 
Gründen  die  Vorstellungsbewegung  gehemmt  ist,  bleibt  es  noch, 
während  sich  schon  ein  neues  Wort  zur  Apperzeption  drängt.  Einen 
Fall  dieser  Art  haben  wir  bei  den  regelmäßig  progressiven  Laut- 
angleichungen der  kindlichen  Sprache  beobachtet,  wo  eben  offen- 
bar die  Schwerfälligkeit  der  Vorstellungsbewegung,  die  aus  dem 
Mangel  an  Übung  entspringt,  die  Quelle  der  Erscheinung  ist 
(S.  318).  Wegen  ihrer  wesentlich  verschiedenen  Bedingungen  kommen 
übrigens  die  Vorausnahme  und  die  Nachwirkung  der  Laute  selten 
nebeneinander,  und  namentlich  innerhalb  einer  und  derselben  Um- 
stellimg  fast  niemals  vor.    Nur  die  pathologischen  Fälle  bieten  hierzu 


398  Der  Lautwandel. 


gelegentliche  Beispiele,  wie  in  Rartrillerie  für  Artillerie.  Doch  mögen 
hier  noch  besondere  Ursachen,  in  diesem  Beispiel  wahrscheinlich  eine 
abnorme  Neigung  zur  Artikulation  des  r,  hinzukommen. 

c.  Wortvermengungen. 

Durch  ihre  dem  eigenen  Verlauf  der  Vorstellungen  und  Arti- 
kulationen entgegengesetzte  Richtung  nähern  sich  die  Nachwirkungen 
der  Laute  bereits  der  dritten  Klasse  individueller  Sprachstörungen, 
den  Wortvermengungen,  unter  denen  wir  hier  Artikulationsfehler 
verstehen,  die  infolge  von  Assoziationen  mit  andern  laut-  und  be- 
griff sverwandten  Wörtern  eintreten.  Von  den  Erscheinungen  des 
gewöhnlichen  Versprechens  gehört  hierher  wahrscheinlich  die  aus- 
nehmend häufige  Verwechselung  von  Fisch  und  Schiff,  wo  sowohl 
das  erste  für  das  zweite  wie  das  zweite  für  das  erste  Wort  eintreten 
kann.  Zwar  läßt  sich  dies  Beispiel  auch  als  eine  Vorausnahme  der 
Laute  deuten.  Doch  stehen  beide  Wörter  jedenfalls  unter  einer  wechsel- 
seitigen lautlichen  und  begrifflichen  Assoziationswirkung,  die  wohl 
zusammen  den  Austausch  vermitteln.  Häufiger  kommen  ähnliche 
Erscheinungen  in  der  Form  falscher  Wortzusammensetzungen  vor, 
wobei  die  Bestandteile  aus  verschiedenen  assoziativ  verbundenen 
Wörtern  bestehen,  z.  B.  Zwittellaut,  zusammengesetzt  aus  Mittellaut 
und  Zwitterlaut.  Namentlich  kurz  vorher  gesprochene  Laute  oder 
Wörter  assoziieren  sich  leicht  auf  diese  Weise  mit  den  nachfolgenden. 
Jemand  hat  z.  B.  eben  von  Gegenständen  gesprochen  und  redet  dann 
von  der  ,, Verschärfung  der  Gegenstände"  statt  der  ,, Verschärfung 
der  Gegensätze''.  Oder:  „erworbene  Körperveränderungen  enverhen 
sich  nicht"  statt  „vererben  sich  nicht",  konkret  und  kontrakt  statt  ab- 
strakt usw.  Auch  bei  Geisteskranken  sind  derartige  Phänomene  nicht 
selten.  Sie  kommen  hier  besonders  in  der  Form  der  Neubildung  von 
Wörtern  vor,  die  freilich  manchmal  ganz  willkürliche  oder  zufällig 
aufgegriffene  Lautgebilde  sein  können,  oft  aber  auch  aus  der  Asso- 
ziation zweier  irgendwie  lautlich  verwandter  oder  sonst  in  Beziehung 
stejiender  Wörter  hervorgehen,  wie  z.  B.  Idensität  aus  Identität  und 
Intensität,  Kontraktionskohäsion  durch  Lautassoziation  von  Kon- 
traktion und  Kohäsion  u.  a.       Mehr  als   in  solchen  einzelnen  Wort- 


Störungen  der  Lautbildung.  399 

bildungen  gibt  sich  aber  die  ungeheure  Macht  der  Lautasso- 
ziationen bei  der  Ideenflucht  der  Irren  in  den  Wortwiederholungen 
kund,  bei  denen  Laute,  die  ursprünglich  vielleicht  zufällig  zu- 
sammengeraten sind,  fortwährend  in  der  nämlichen  äußeren  Asso- 
ziation   wiederkehren. 

Abgesehen  von  diesen  Fällen  des  normalen  Zerstreutseins  oder 
der  pathologischen  Gedankenverwirrung,  die  beide  auf  die  gleiche 
Ursache,  auf  die  Vorherrschaft  loser  Assoziationen  bei  schweifender 
Aufmerksamkeit,  zurückführen,  kommt  die  Onomatomixie  aber  auch 
noch  unter  einer  wesentlich  andern  Bedingung  vor,  nämlich  bei  man- 
gelnder Übung  im  Gebrauch  der  Sprache  überhaupt  oder  gewisser 
in  dem  gegebenen  Zusammenhang  benutzter  Wörter,  an  deren  Stelle 
sich  dann  andere  irgendwie  lautverwandte  ganz  oder  teilweise  ein- 
schieben. So  nicht  selten  beim  Keden  in  einer  fremden  Sprache,  als 
Bestandteil  des  sogenannten  Radebrechens.  Dann  aber  auch  bei  der 
verwandten  Erscheinung  des  ,, Messingisch",  den  Vermischungen 
von  Dialekt  und  Schriftsprache  bei  solchen,  die  in  der  letzteren  un- 
geübt sind,  oder  endlich  oft  besonders  drastisch  in  der  Vermischung 
von  Fremdwörtern,  Fritz  Reuter  bietet  namentlich  in  der  ,,Strom- 
tid"  dafür  zahlreiche  Beispiele,  z.  B.  Element  statt  Eleve,  Gregorius 
für  Chirurgus,  Operamente  statt  Operationen  (Assoziation  mit  Sakra- 
mente) qualrfikaziert  statt  qualifiziert,  nach  Analogie  von  Qualifikation, 
,,ich  bin  dem  Herrn  Großherzog  sein  Fasan'',  statt  Vasall  usw.  In 
diesen  Fällen  ist  es  die  unzureichende  Festigkeit  der  Assoziation  zwischen 
dem  Begriff  und  dem  zugehörigen  Wort,  die  die  Vermengung  her- 
beiführt. 

Diesen  Erscheinungen  nahe  verwandt  sind  schließlich  die  falschen 
Wortbildungen  in  der  Sprache  des  Kindes,  die  in  den  der  vollen  Be- 
herrschung der  Sprache  unmittelbar  vorangehenden  Stadien  vor- 
kommen, am  meisten  in  der  Zeit  zwischen  dem  dritten  und  sechsten 
Lebensjahr,  aber  in  einzelnen  Fehlgriffen  auch  noch  darüber  hinaus. 
Vermengungen  der  Stammbestandteile  laut-  oder  begriffsverwandter 
Wörter  finden  sich  in  der  Kindersprache  selten;  augenscheinlich  weil 
der  Wortvorrat  überhaupt  noch  ein  beschränkter  ist.  Um  so  mehr 
wirken  die  Abwandlungsformen  des  gleichen  Wortes  oder  verschiedener 
Wörter  aufeinander   ein   und   erzeugen   dadurch   die   mannigfachsten 


400  Der  Lautwandel. 


Vermengungen  der  Wortformen.  So  bildete  ein  Kind  das  Substantiv 
Setz  statt  Sitz  durcb  Assoziation  mit  setzen,  zu  Ameise  einen  falschen 
Singular  Amaus  nach  Analogie  zu  Maus,  Mäuse.  Am  verbreitetsten 
sind  aber,  offenbar  wegen  ihrer  die  sichere  Einübung  erschwerenden 
Mannigfaltigkeit,  die  durch  Assoziationen  bewirkten  Abweichungen 
der  Verbalflexion.  Sie  können  in  den  verschiedensten  Eichtungen 
auftreten.  Besonders  das  deutsche  Praeteritum  mit  seinem  Wechsel 
zwischen  starker  und  schwacher  Form  und  seinen  verschiedenen  vo- 
kalischen Umlauten  innerhalb  der  ersteren  bietet  Anlaß  zu  außer- 
ordentlich häufigen  Vermengungen.  So  bildete  ein  von  mir  beobach- 
tetes Kind  schaß  zu  schießen,  offenbar  durch  Vermengmig  mit  aß 
zu  essen,  dagegen  iß  zu  essen  durch  Vermengung  mit  ließ  zu 
lassen.  Zugleich  ist  bei  allen  diesen  Vermengungen  verschiedener 
Wortformen  leicht  zu  bemerken,  daß  die  am  häufigsten  gebrauchten, 
weil  sie  eben  die  eingeübteren  sind,  am  leichtesten  Assoziationswir- 
kungen äußern.  Hieraus  erklärt  sich,  daß  die  anomalen,  aus  abweichen- 
den Wortstämmen  gebildeten  Formen  leicht  nach  Analogie  der  nor- 
malen Bildungen  umgewandelt  werden:  also  guter  statt  besser,  vieler 
statt  mehr,  „wir  hinnen''  statt  „wir  sind''  u.  dgl.  Auch  die  Erschei- 
nung, daß  das  Kind  beim  Gebrauch  der  Genera  das  Neutrum  be- 
vorzugt oder  allein  anwendet,  gehört  hierher.  Infolge  des  verschwen- 
derischen Gebrauchs  der  Diminutivbildungen  in  der  Kindersprache 
hat  in  dieser  das  Neutrum  von  vornherein  das  Übergewicht,  und  die 
Macht  der  Übung  verschafft  ihm  daher  in  zweifelhaften  Fällen  stets 
die  Vorherrschaft.  Endlich  wird  hierdurch  die  Tatsache  verständlich, 
daß  die  überwiegende  Richtung  der  Vertauschungen  im  Deutschen 
beim  Nomen  wie  Verbum  von  der  starken  zur  schwachen  Form  geht. 
Da  die  schwachen  Formen  an  und  für  sich  schon  die  Mehrheit  bilden 
und  außerdem  durch  die  übrigen  Formen  des  gleichen  Wortes  begünstigt 
werden,  so  erkennt  man  darin  wiederum  die  Wirkung  der  größeren 
assoziativen  Übung.  So  bildet  das  Kind  mit  Vorliebe  Formen  wie 
gebte,  gehte,  trinhte  für  gab,  ging,  trank  usw.  ^).    Zu  diesen  Wirkungen 


^)  Weitere  hierher  gehörige  Beispiele  vgl.  bei  Gust.  Lindner,  Aus  dem 
Naturgarten  der  Kindersprache,  1898,  S.  101  ff.,  und  W.  Ament,  Entwicklung 
von  Sprechen  und  Denken,  S.  166  ff.    Analoge  Beobachtungen  an  französischen 


Störungen  der  Lautbildung.  401 

der  assoziativen  Angleichung  anderer  Wortformen  an  die  häufigsten 
und  geübtesten  gehört  ohne  Zweifel  auch  die  in  die  früheste  Zeit  der 
Aneignung  der  Sprache  fallende  Ersetzung  aller  möglichen  andern 
Verbalformen  durch  den  Infinitiv.  Sie  ist  die  Folge  des  ausgedehnten 
Gebrauchs,  den  in  unseren  modernen  Sprachen  der  Infinitiv  in  seinen 
Verbindungen  mit  den  Hilfsverben  findet.  Indem  in  solchen  Ver- 
bindungen wie  ,,ich  will  gehen",  ,, werde  gehen",  ,,soll  gehen",  ,,muß 
gehen"  usw.  durch  alle  Personen  der  Einzahl  und  Mehrzahl  hindurch 
immer  das  Wort  ,, gehen"  als  konstanter  Bestandteil  wiederkehrt, 
wird  es  zu  derjenigen  Form,  die  zum  Ausdruck  aller  möglichen  Modi- 
fikationen des  Begriffs  dient,  solange  die  für  diese  in  der  Sprache 
vorhandenen  Ausdrucksformen  noch  nicht  geläufig  sind.  Auch  diese 
Erscheinung  ist  also  eine  Wirkung  der  Assoziationsübung,  die  nicht 
im  geringsten  etwa  mit  der  abstrakteren  Bedeutung  des  Infinitivs 
zusammenhängt,  für  die  das  Kind  in  dieser  Lebenszeit  überhaupt 
kein  Verständnis  hat.  Wie  andere  Sprachfehler,  so  kann  übrigens 
auch  dieser  bei  fortdauerndem  Mangel  an  Übung  in  begrifflicher  Son- 
derung der  Redeteile  aus  der  Kindheit  in  die  spätere  Lebenszeit  hin- 
übergenommen werden,  wo  er  dann  manchmal  irrtümlicherweise  für 
absichtlichen   Lakonismus  gehalten   wird. 

Diese  Erscheinungen  der  Kindersprache  gleichen  bereits  so  sehr 
den  in  der  normalen  Sprachentwicklung  vorkommenden  sogenannten 
,, Analogiebildungen",  daß  man  vielfach  nicht  nur  auf  ihre  unver- 
kennbare Verwandtschaft  hingewiesen,  sondern  sogar  vermutet  hat, 
die  ,, Analogiebildungen"  seien  ursprünglich  aus  der  Kindersprache 
in  die  allgemeine  Sprache  eingedrungen.  Dies  ist  aber  kaum  wahr- 
scheinlich. Einerseits  ist  nicht  einzusehen,  warum  nicht  dieselben 
Assoziationsmotive,  die  beim  Kinde  wirksam  sind,  auch  in  der  all- 
gemeinen Sprache  zur  Geltung  kommen  sollten.  Anderseits  weichen 
die  Veränderungen  dieser  durch  ihre  allmähliche  und  stetige  Ent- 
wicklung durchaus  ab  von  der  irregulären,  vielfach  von  Fall  zu  Fall 
wechselnden  Wortvermischung  des  Kindes.     Diese  unabhängige  Ent- 


Kindem  bei  E.  Egger,  Observations  et  r^flexions  sur  le  d^veloppement  de  l'in- 
telligence  et  du  langage  chez  les  enfants,  1879,  p.  40.  Compayre,  Entwicklung 
der  Kindesseele,  S.  316  ff. 

Wunät,    Völkerpsychologie.    I.    4.  Aufl.  ^^ 


402  I^er  Lautwandel. 


stehungsweise  ist  es  jedoch,  die  aucli  liier  die  individuellen  Erschei- 
nungen für  das  Studium  der  generellen  wertvoll  macht,  weil  wir  bei 
jenen  die  Vorgänge,  die  uns  hier  im  allgemeinen  nur  in  ihren  Kesul- 
taten  entgegentreten,  noch  in  ihrer  unmittelbaren  Entstehungsweise 
beobachten  können. 

Überblickt   man    die   gesamten    Laut-    und   Wort  vermengungen, 
wie  sie  in  der  Breite  des  normalen  Lebens  bald  infolge  schweifender 
Aufmerksamkeit,    bald    als    Wirkungen    sich    überstürzenden    Rede- 
flusses  oder,   wie  beim   Kind,   als   solche   mangelnder   Artikulations- 
übung beobachtet  werden, 'so  sind  es  offenbar  zwei  Punkte,  in  denen 
diese   Erscheinungen    übereinstimmen.      Erstens   vollziehen    sie   sich 
stets  absichtslos.     Die  Fehler  des  gewöhnlichen  Versprechens  wer- 
den entweder  von  dem  Redenden  selbst  gar  nicht  bemerkt  oder  ver- 
spätet, nachdem  das  falsche  Wort  ausgesprochen  ist.    Das  gilt  selbst 
von  den  auffallendsten  dieser  Sprechfehler,  von  den  Laut-  und  Wort- 
einschaltungen,   wie    sie    als    gewohnheitsmäßige    Ausfüllungen    der 
Redepausen   bei    Gesunden   und   besonders   bei    Geisteskranken   vor- 
kommen.     Auch  diese  fühlen  sich  widerstandslos  der  Macht  der  in 
ihrem   Bewußtsein   auftauchenden   und   die   Artikulationsorgane   zur 
Mitbewegung    hinreißenden    Laut  vor  Stellungen,    selbst    wenn    solche 
aus  ganzen  Wortgruppen  und  Sätzen  bestehen,  preisgegeben.    Zweitens 
spielen  bei  der  Erzeugung  dieser  Sprachfehler  gelegentlich  wohl  me- 
chanische Erschwerungen  der  Artikulation  eine  gewisse  Rolle.     Doch 
sind  sie  in  vielen  Fällen,  namentlich  bei  den  Lautversetzungen  und 
Wortvermengungen,  ganz  ausgeschlossen.    So  ist  gebleiten  nicht  leichter 
als  hegleiten,  Artrillerie  ist  schwieriger  als  Artillerie  usw.   Was  dagegen 
niemals  fehlt,  das  sind  gewisse  psychische  Einflüsse.    Dahin  gehört 
zunächst  als  positive  Bedingung  der  ungehemmte  Fluß  der  von  den 
gesprochenen  Lauten  angeregten  Laut-  und  Wortassoziationen. 
Ihm  tritt  der  Wegfall  oder  Nachlaß  der  diesen  Lauf  hemmenden  Wir- 
kungen des  Willens  und  der  Aufmerksamkeit  als  negatives  Moment 
zur  Seite.     Ob  jenes  Spiel  der  Assoziationen  darin  sich  äußert,  daß  ein 
kommender  Laut  antizipiert  oder  ein  vorausgegangener  reproduziert 
oder    ein    gewohnheitsmäßiger    zwischen    andere    eingeschaltet   wird, 
oder  endlich  darin,  daß  ganz  andere  Worte,  die  mit  den  gesprochenen 
Lauten  in  assoziativer  Beziehung  stehen,  auf  diese  herüberwirken,  — 


Störungen  der  Lautbildung.  403 

alles  dies  bezeichnet  nur  Unterschiede  in  der  Eichtung  und  allenfalls 
in  dem  Spielraum  der  stattfindenden  Assoziationen,  nicht  in  der  all- 
gemeinen Natur  derselben.  Auch  kann  es  in  manchen  Fällen  zweifel- 
haft sein,  welcher  Form  man  eine  bestimmte  Störung  zuzurechnen, 
oder  ob  man  sie  nicht  mit  größerem  Rechte,  nach  dem  Prinzip  der 
Komplikation  der  Ursachen,  auf  ein  Zusammentreffen  mehrerer  Mo- 
tive zurückzuführen  habe.  So  kann  die  Umwandlung  von  hegleiten 
in  gehleiten  auf  Vorausnahme:  sie  kann  aber  auch  auf  freier  Asso- 
ziation zahlreicher  Wörter  mit  der  Anfangssilbe  ge,  oder  sie  kann  end- 
lich auf  der  speziellen  Assoziation  mit  dem  begriffsverwandten  geleiten 
beruhen.  Netonatorum  kann  als  einfache  Einschaltung  eines  Lautes, 
es  kann  aber  auch  als  Vorausnahme  des  t  der  vorletzten  Silbe  gedeutet 
werden.  Pomode  ist  zunächst  wohl  eine  Lautnachwirkung,  doch  ist 
daneben  die  Assoziation  mit  Kommode  nicht  ausgeschlossen;  bei  Zauyn 
und  Reit  ist  die  Vorausnahme  wahrscheinlich  das  primäre  Moment, 
aber  die  Existenz  der  Wörter  Zaum  und  reiten  und  ihre  begriffliche 
Assoziation  mag  mitgewirkt  haben.  Übrigens  bilden  die  verschiedenen 
Formen  assoziativer  Einflüsse  insofern  eine  Stufenreihe  der  Symptome, 
als  infolge  der  natürlichen  Richtung  des  Redeflusses  die  Voraus- 
nahmen am  leichtesten  vorkommen,  die  Nachwirkungen  und  die 
Übergänge  auf  andere  Wortgebilde  dagegen  höhere  Grade  der  Stö- 
rung bezeichnen.  Darum  finden  sich  die  Vorausnahmen  in  den  ge- 
wöhnlich beobachteten  Fällen  des  Versprechens  am  häufigsten;  die 
Nachwirkungen  und  die  Vermengungen  disparater  Wörter  werden 
nur  bei  hohen  Graden  der  ,, Zerstreutheit",  außerdem  bei  noch  mangeln- 
der Redeübung,  oder  endlich  als  Symptome  geistiger  Paralyse  wahr- 
genommen. 

Alle  diese  Ergebnisse  stehen  im  vollen  Einklang  mit  bekannten 
experimentellen  Beobachtungen  über  Laut-  und  Wortassoziationen. 
Ermittelt  man  in  einer  großen  Zahl  von  Fällen  die  auf  ein  zugerufenes, 
vorher  nicht  erwartetes  Wort  im  Bewußtsein  aufsteigenden  Vor- 
stellungen, so  zeigt  sich,  daß  schon  beim  normalen  Menschen  solche 
Assoziationen  überwiegen,  bei  denen  das  Wort  ein  anderes  lediglich 
nach  der  Lautähnlichkeit  oder  nach  sonstigen  äußeren  Beziehungen, 
z.  B.  nach  häufiger  Verbindung,  wachruft.  Mit  dem  Nachlaß  hemmen- 
der  imd   regulierender  Willenseinflüsse  auf   den   Vorstellungsverlauf 

26* 


404  Der  Lautwandel. 


nimmt  nun  aber  namentlich  die  Menge  der  reinen  Lautassoziationen 
noch  erheblich  zu.  Diese  Zunahme  ist  daher  eine  der  gewöhnlichsten 
Erscheinungen  der  geistigen  Störung^). 


4.  Sprachmischungen  und  Mischsprachen. 

Mit  der  Betrachtung  des  Einflusses  der  Sprachmischungen  auf 
die  individuelle  Lautbildung  betreten  wir  bereits  ein  Gebiet,  auf  dem 
die  individuellen  in  generelle  Erscheinungen  des  Lautwechsels  über- 
gehen. Indem  der  Einzelne  aus  einer  fremden  Sprache  ein  Wort  auf- 
nimmt, ändert  er  dessen  Lautcharakter  nach  der  Anlage  seiner  Sprach- 
organe und  nach  den  besonderen  Laut-  und  Begriffsassoziationen, 
die  in  ihm  bereit  liegen.  Auf  diese  Weise  ist  die  entstehende  Laut- 
änderung zunächst  ein  individueller  Vorgang.  Aber  da  fast  überall, 
wo  sich  dieser  Vorgang  ereignet,  ähnliche  Bedingungen  bei  einer 
größeren  Zahl  von  Menschen  wiederkehren,  so  entsteht  aus  dieser 
individuellen  sofort  eine  generelle  Erscheinung,  bei  der  nun  die  Ein- 
zelnen in  eine  Wechselwirkung  treten,  infolge  deren  die  größeren  in- 
dividuellen Unterschiede  allmählich  sich  ausgleichen.  Die  Sprach- 
mischung kann  auf  diesem  Wege,  wenn  die  Zufuhr  fremden  Sprach- 
guts zunimmt,  die  der  Gemeinschaft  ursprünglich  eigentümliche 
Sprache  mehr  und  mehr  umgestalten  und  sie  in  eine  Mischsprache 
überführen^).  Der  Eintritt  eines  Einzelnen  mit  fremder  Muttersprache 
in  eine  bestimmte  Sprachgemeinschaft  pflegt  einen  Austausch  herbei- 
zuführen, der  sich  auf  alle  Bestandteile  einer  Sprache,  auf  Laute, 
Wörter  und  Satzfügungen,  erstrecken  kann.    Dieser  Austausch  steigert 


^)  Trautscholdt,  Philos.  Studien,  I,  1883,  S.  218.  Asehaffenburg,  Kraepe- 
lins  Psychologische  Arbeiten,  I,  1896,  S.  64,  72.  II,  1899,  S.  4  ff.,  14,  49  f.  C.  G. 
Jung  und   F.    Riklin,  Diagnostische  Assoziationsstudien,    1906. 

2)  Auf  die  Wichtigkeit  des  Studiums  der  Sprachmischungen  für  die  Laut- 
und  Begriffsseite  der  Sprache  hat  besonders  eindringlich  H.  Schuchardt  hin- 
gewiesen: Slawo-Deutsches  und  Slawo- Italienisches,  .1884,  und  Zeitschrift  für 
romanische  Philologie,  herausgeg.  von  G.  Gröber,  XII,  1888,  S.  242,  301  ff.. 
XIII,  1889,  S.  463  ff .  (Negerportugiesisch  und  Indoportugiesisch.)  Vgl.  a.  Win- 
disch, Zur  Theorie  der  Mischsprachen  und  Lehnwörter,  Ber.  der  sächs.  Ges.  der 
Wiss.  1897. 


Sprachmischungen  und  Mischsprachen.  405 


sich,  wenn  mehrere  mit  dem  gleichen  fremden  Idiom  in  dieselbe  Ge- 
meinschaft aufgenommen  werden,  und  mit  der  wachsenden  Zahl  nähert 
er  sich  der  Grenze,  wo  ein  annäherndes  Gleichgewicht  zwischen  Nehmen 
und  Geben  eintreten  kann.  Während  das  Idiom  des  einzelnen  Ein- 
wanderers in  der  Kegel  sehr  bald  spurlos  in  der  Masse  verschwindet, 
erhält  nun  aber  eine  zusammengehörige  Gruppe,  indem  sie  unter  sich 
die  alte  Muttersprache  pflegt,  diese  länger  und  entwickelt  einen  größeren 
Einfluß  auf  die  Umgebung^).  Das  Maß  dieses  Einflusses,  mit  dem 
die  eigene  Widerstandskraft  gegen  die  fremde  Sprache  gleichen  Schritt 
hält,  ist  von  verschiedenen  Faktoren  abhängig,  und  es  verteilt  sich 
auf  die  Bestandteile  der  Sprache  in  sehr  ungleichem  Grade.  So  ist 
der  Einfluß  kulturell  höher  stehender  Individuen  begreiflicherweise 
im  allgemeinen  größer,  und  infolge  dieses  Übergewichts  teilt  bei  Rassen- 
mischungen die  höhere  Rasse  leichter  der  niederen  ihre  Sprache  mit 
als  umgekehrt.  Ferner  ist  es  eine  Begleiterscheinung  dieser  über- 
wiegenden Wirkung,  daß  die  aufgenommene  fremde  Sprache 
relativ  wenig  verändert  wird,  während  die  Muttersprache 
derer,  die  sich  das  neue  Idiom  aneignen,  durch  Aufnahme 
fremder  Bestandteile  entartet^).  So  ist  das  allemannische 
Deutsch  der  Elsässer  durch  den  Einfluß  des  Französischen,  so  das 
Deutsch  der  in  Amerika  eingewanderten  Deutschen  unter  dem  Ein- 
fluß des  Englischen  zur  Mischsprache  geworden,  während  das  Fran- 
zösisch der  ersteren,  das  Englisch  der  letzteren  weit  weniger  von  ihrer 
ursprünglichen  deutschen  Muttersprache  beeinflußt  werden.  Dabei 
verhalten  sich  aber  die  einzelnen  Bestandteile  der  Sprache  in  diesem 
Wettkampf  der  Kulturen  wesentlich  verschieden.  Was  die  Sprache 
der  höheren  Kultur  in  die  der  niederen  überträgt,  das  ist  hauptsäch- 
lich ein  Teil  des  Wortschatzes.  Das  neue  Wort  als  Zeichen  eines  neuen 
Begriffs  wird  mit  diesem  selbst  aufgenommen.  Viel  widerstands- 
fähiger als  gegen  die  Einfuhr  fremder  Wörter  verhält  sich  eine  Sprache 


1)  Über  einzelne  Bedingungen  solcher  Ausbreitung  finden  sich  lehrreiche 
Ausführungen  mit  Bezug  auf  die  slawischen  Sprachmengungen  in  Österreich 
bei  Schuchardt,  Slawo-Deutsches  usw.,  S.  11  ff. 

2)  Vgl.  Schuchardt,  Slawo-Deutsches  usw.,  S.  35  f.  Windisch  a.  a.  O., 
S.  104. 


406  Der  Lautwandel. 


gegen  die  Aufnahme  fremder  Satzfügungen  und  Wortabwandlungen. 
Dies  ist  leicht  begreiflich,  da  diese  Formen  von  den  psychischen  Ge- 
setzen abhängen,  nach  denen  die  Vorstellungen  verbunden  werden. 
Diese  Gesetze  können  natürlich  beharren,  selbst  wenn  sich  ein  großer 
Teil  des  Wortschatzes  verändert  hat.  So  läßt  das  Judendeutsch  auch 
da,  wo  es  alle  hebräischen  Wortabkömmlinge  abgestreift  hat,  und 
wo  die,  die  es  reden,  vielleicht  keines  einzigen  hebräischen  Wortes 
mehr  kundig  sind,  dennoch  in  Satzkonstruktion  und  Rhythmus  deut- 
lich den  Einfluß  der  hebräischen  Sprache  erkennen. 

Ahnlich  ist  das  Lautmaterial,  aus  dem  die  Wörter  einer  Sprache 
bestehen,  sehr  viel  beharrlicher  und  widerstandsfähiger  gegen  in- 
dividuelle Einflüsse  als  der  Wortvorrat.  Dies  gibt  sich  daran  zu  er- 
kennen, daß  nicht  bloß  bei  der  Übertragung  einzelner  Lehnwörter, 
sondern  auch  bei  der  Aufnahme  ganzer  Wortverbindungen  und  bei 
der  Entstehung  wirklicher  Sprachmischungen  nicht  der  Laut- 
bestand der  aufnehmenden,  sondern  der  der  aufgenom- 
menen Sprache  die  wesentlichsten  Veränderungen  erfährt. 
Das  Lehnwort  wird  durch  Laut  Vertretungen  und  Lautangleichungen, 
aufgenommene  Phrasen  werden  außerdem  durch  Einschiebung  ge- 
läufiger Wortbildungen  aus  der  eigenen  Sprache  assimiliert.  Dabei 
ist  es  augenfällig,  daß  im  geraden  Gegensatz  zu  der  Aufnahme  der 
begrifflichen  Seite  des  Wortvorrats  diese  lautliche  Umbildung  um  so 
eingreifender,  die  Aneignung  also  um  so  vollständiger  zu  sein  pflegt, 
auf  einer  je  niedrigeren  Kulturstufe  sich  die  aufnehmende  Sprach- 
gemeinschaft befindet.  So  erfahren  die  Wörter  europäischer  Sprachen 
die  stärksten  Umwandlungen,  wenn  sie  in  die  Sprachen  der  Natur- 
völker übergehen^).  Diese  Umwandlungen  sind  denen  der  kindlichen 
Sprache  insofern  ähnlich,  als  die  Assimilation  des  Dargebotenen  an 
das  eigene  Lautmaterial  in  beiden  Fällen  eine  möglichst  vollstän- 
dige ist.  Hierin  liegt  zugleich  die  Erklärung  für  jenen  überwiegenden 
Einfluß,  den  bei  der  Sprachmischung  die  primitivere  Rasse  auf  das 
Lautmaterial  der  Sprache  ausübt.     Dieses  Übergewicht  beruht  hier 


1)  Vgl.  Beispiele  aus  dem  kreolischen  Romanisch  bei  Schuchardt,  Gröbers 
Zeitschrift,  XII,  S.  245  ff.,  XIII,  S.  467  ff.,  dazu  die  Lautumwandlungen  der 
Kindersprache,  oben  Kap.  III,  S.  314  ff. 


Sprachmischungen  und  Mischsprachen.  407 

nicht  sowohl  auf  einer  positiven  Einwirkung,  als  auf  dem  Unver- 
mögen, den  neu  sich  darbietenden  Lautgebilden  die  eigenen  Artiku- 
lationsbewegungen anzupassen. 

Abweichend  von  diesen  Erscheinungen  bei  der  Mischung  fremder 
Sprachen  verhalten  sich  in  mancher  Beziehung  die  allmählichen  Über- 
tragungen und  Ausgleichungen,  die  man  da  beobachtet,  wo  Dialekte 
einer   und  derselben    Sprache  miteinander  in  Berührung  treten. 
Diese   Vorgänge   sind   deshalb   von   besonderem   Interesse,   weil   sich 
dabei  in  gewissem   Grad  unter  unsern  Augen  Ereignisse  vollziehen, 
die   zweifellos   bei  allen   allmählich   imd   stetig    geschehenden   Laut- 
änderungen der  Sprache  wirksam  sind.    So  beobachtet  man,  daß  inner- 
halb   eines    Bezirks    mit    kleineren    dialektischen    Abweichungen    die 
größeren   Städte  die  ländliche  Bevölkerung,  aus  der  sie  namentlich 
die  jugendlichen,  neuen  Eindrücken  zugänglichsten  Lebensalter  an- 
ziehen, auch  in  der  Sprache  allmählich  sich  angleichen.   Mit  städtischen 
Lebensanschauungen  und   Sitten  bringt  der  Dienstbote  und  Fabrik- 
arbeiter die  städtische  Sprechweise  in  seine  alte  Heimat  mit^).    Noch 
schärfer  prägen  sich  diese  Erscheinungen  da  aus,  wo  abweichendere 
Dialekte  aneinander  grenzen.     Auch  in  diesem  Fall  pflegt  die  An- 
gleichung  die  Regel  einzuhalten,  daß  die  in  Wirtschaft  und  Verkehr 
zurückstehenden    Gebiete    vorwiegend    von    den    fortgeschritteneren 
beeinflußt  werden.     Dabei  schreitet  sie  in  bestimmten  Stadien  vor, 
indem  sie  von  solchen  Lautgebilden  ausgeht,  die  in  den  häufiger  ge- 
brauchten Wörtern  vorkommen,  um  von  da  aus  langsamer  auf  die 
Gesamtheit  der  Laute  überzugreifen^).     In  beiden  Fällen  ist  es  die 
jüngere  Generation,  bei  welcher  die  Veränderung  beginnt.     Zunächst 
ist  es  wahrscheinlich  das  fortgeschrittenere  Jugendalter,  das  fremde 
Laute  und  Worte  in  die  Heimat  einführt.     Dann  ist  es  das  Kindes- 
alter in  dem  Stadium  der  sich  vollendenden  Aneignung  der  Sprache, 
das  die  Neuerungen  bereitwillig  aufnimmt,  während  die  Generation 
der  Alten  auch  hier  noch  an  dem  Überkommenen  festhält.     So  ent- 


1)  Vgl.    einige   Beispiele   aus   deutschem    Sprachgebiet   bei   Otto  Bremer, 
Deutsche  Phonetik,  1893,  Vorwort  S.  X. 

2)  Rousselot,   Les  modifications   phon^tiques  du  langage  etc.,   p.    147  ff., 
348. 


408  Der  Lautwandel. 


springt  dieser  Einfluß  der  jüngeren  Generation  wohl  aus  zwei  inein- 
ander greifenden  Momenten:  aus  dem  lebhafteren  Verkehr,  der  die 
reifere  Jugend  beeinflußt,  und  aus  der  größeren  Anpassungsfähig- 
keit der  Sprachorgane,  an  der  mit  dieser  in  noch  höherem  Maße  das 
Kindesalter  teilnimmt.  In  einzelnen  dieser  Erscheinungen  hat  man 
eine  Stütze  für  die  Annahme  eines  individuellen  und  zufälligen  Ur- 
sprungs solcher  Veränderungen  gesehen.  Der  ländliche  Arbeiter  bringe 
etwa  eine  neue  Aussprache  aus  der  Stadt  in  seine  Dorfgemeinde,  weil 
ihm  jene  als  die  vornehmere  erscheine.  Nun  soll  gewiß  nicht  geleugnet 
werden,  daß  gelegentlich  einmal  etwas  Derartiges  vorkommt.  Aber 
diese  singulären  Fälle  willkürlicher  Nachahmung  sind  offenbar  auf 
die  regelmäßigen  Erscheinungen  der  Ausbreitung  und  Angleichung 
der  Lautformen  im  wesentlichen  ohne  Einfluß.  Der  individuelle  Fall 
verschwindet  wirkungslos,  wenn  er  einem  weiter  verbreiteten  Vor- 
gang sich  einreiht.  (Vgl.  oben  Einl.  S.  22  ff.)  So  können  wohl  auch 
einmal  Sprachfehler  Einzelner  nachgeahmt  werden.  Doch  der  Zwang, 
den  sie  den  Sprachorganen  aufnötigen,  läßt  sie  bald  spurlos  wieder 
verschwinden.  Die  dauernden  Wandlungen  der  Laute  verbreiten 
sich  aber  unwillkürlich,  und  ohne  daß  die  Beteiligten  selbst  davon 
ein  deutliches  Bewußtsein  besitzen,  indem  ihnen,  im  Gegensatze  zu 
jenen  gezwungenen  Nachahmungen,  die  Artikulation  willig  entgegen- 
kommt. Dafür  spricht  denn  auch,  daß  das  Jünglingsalter  bei  der 
ersten  Aufnahme  des  Fremden,  dagegen  das  frühere  Kindesalter  bei 
der  weiteren  Ausbreitung  die  Hauptrolle  spielt.  Der  individuelle 
Einfluß  gewinnt  eben  dann  erst  die  zureichende  Macht  zur  Hervor- 
bringung allgemeiner  Veränderungen,  wenn  er  durch  die  unabhängige 
Wiederholung  in  zahlreichen  Einzelfällen  zu  einem  generellen  wird, 
und  namentlich  dann,  wenn  ihm  in  der  Bevölkerung  selbst  schon 
allgemeine  Anlagen  förderlich  sind.  Die  Träger  dieser  Anlagen  sind 
aber  vornehmlich  die  Angehörigen  der  neuen  Generation  mit  ihren 
bildsameren  Organen  und  ihrer  höheren  Rezeptivität  für  neue  Ein- 
drücke^). 


1)  Auch  Rousselot  (a.  a.  O.,  p.  350,  352)  betont  diese  generelle  Natur  der 
sprachlichen  Veränderungen.  Wenn  freilich  seine  Vergleichung  des  Vorgangs 
mit  der  Ausbreitung  einer  Epidemie  zu  der  äußerst  problematischen  Hypothese 


Sprachmischungen  und  Mischsprachen.  409 


Bei  allen  jenen  Lautänderungen,  die  im  Gefolge  der  Spracli- 
Tind  Dialektmischung  eintreten,  sind  übrigens  sichtlich  zwei  phy- 
siologische Momente  wirksam:  ein  akustisches  und  ein  motorisches. 
Beide  sind  infolge  der  unmittelbaren  Verbindung  der  Sprachlaute 
und  Artikulationsempfindungen  fest  assoziiert.  Das  fremde  Wort 
wird  zunächst  als  Lautbild  geläufigen  Lauten  der  eigenen  Sprache 
angeglichen,  wobei  die  Veränderung,  die  es  erfährt,  mit  dem  Abstand 
der  abweichenden  Artikulationsgewohnheiten  zunimmt.  Dieser  Um- 
bildung des  akustischen  Eindrucks  entsprechend  werden  dann  bei 
der  Übertragung  des  gehörten  Lautes  in  eigene  Sprachbewegungen 
diese  noch  einmal  im  Sinne  der  eingeübten  Bewegungsformen  ver- 
schoben. Darum  pflegt  beim  Nachsprechen  eines  Fremdworts  dem 
Radebrechenden  selbst  die  Abweichung  seiner  Aussprache  nicht  ganz 
zu  entgehen;  aber  er  hält  doch  seine  Aussprache  da  schon  für  richtig, 
wo  sie  dies  in  Wahrheit  noch  lange  nicht  ist.  Worte,  die  ein  Mensch 
nicht  korrekt  aussprechen  kann,  vermag  er  wegen  der  mangelhaften 
Wirkung  der  Artikulationsempfindung  innerhalb  der  Wortkompli- 
kation auch  nicht  richtig  zu  hören  ^).  Er  überträgt  sie  daher  in  die 
nach  Laut  und  Bewegungsempfindung  nächsten  aus  dem  ihm  geläu- 
figen Vorrat,  wobei  jedoch  immerhin  der  gehörte  Laut  eine  gewisse 
Wirkung  im  Sinne  seiner  ursprünglichen  Artikulationsweise  ausübt. 
WT'as  die  Art  unterscheidet,  in  der  der  Gebildete  und  der  Mann  aus 
dem  Volk  ein  ihm  neues  Fremdwort  nachspricht,  das  ist  darum  vor 
allem  die  durch  die  mannigfaltigere  Übung  gesteigerte  Fähigkeit 
des  ersteren,  jener  von  dem  gehörten  Laut  ausgeübten  Wirkung  nach- 
zugeben und  auf  diese  Weise  akustisch  wie  motorisch  Sprachlaute 
zu  reproduzieren,  die  ursprünglich  außerhalb  des  Umfangs  der  ihm 
gewohnten  Artikulationen  lagen.     Ebenso  ist   dann  wieder  vermöge 


einer  mehr  oder  weniger  plötzlich  eintretenden  Blutänderung  führt,  die  das 
pneumogastrische  Nervensystem  affiziere,  für  die  er  die  geringe  Wider- 
standskraft des  Kindesalters  gegen  das  Neue  geltend  macht,  so  ist  er, 
wie  ich  glaube,  hier  an  den  näherliegenden  psychophysischen  Bedingungen  vorüber- 
gegangen. 

^)    Vgl.     die    Parallelerscheinungen    aus    der    Kindersprache,     Kap.    III, 
:S.  315  ff. 


410  Der  Lautwandel. 


der  oben  erörterten  Bedingungen  durchweg  bei  der  jüngeren  Gene- 
ration die  Anpassungsfähigkeit  größer  als  bei  der  älteren.  Wo  wirk- 
licbe  Sprachmiscliungen  eintreten,  wie  in  den  Grenzgebieten  ver- 
schiedener Nationen,  teilt  sich  dann  diese  Erweiterung  des  Laut-  und 
Artikulationsumfangs  größeren  Kreisen  der  Bevölkerung  mit.  Die 
Macht  der  ursprünglich  eingeübten  Bewegungsformen  ist  aber  auch 
in  solchen  Fällen  noch  daran  zu  erkennen,  daß  der  Lautcharakter 
der  aufgenommenen  fremden  Sprache  dann  am  wenigsten  gefälscht 
wird,  wenn  sie  ausschließlich  zur  Anwendung  kommt.  Hier  greift 
dann  die  für  den  Wortschatz  geltende  Regel,  daß  die  aufgenommene 
Fremdsprache  unverändert  bleibt,  mit  einer  gewissen  Annäherung, 
wenngleich  nicht  im  selben  Maß,  auch  für  die  Sprachlaute  Platz, 
Dies  trifft  aber  für  die  ursprüngliche  Muttersprache  nicht  mehr  zu, 
sondern  während  diese  durch  aufgenommene  Fremdwörter  verun- 
staltet wird,  gleichen  sich  die  letzteren  zugleich  dem  Lautcharakter 
der  Muttersprache  an.  So  kann  man  beobachten,  daß  die  Elsässer 
und  die  gleich  ihnen  in  manchen  Kantonen  stark  von  der  franzö- 
sischen Sprache  beeinflußten  Schweizer  das  Französische  auf  zwei 
verschiedene  Arten  aussprechen,  die  namentlich  bei  Ungebildeteren 
sehr  beträchtlich  abweichen  können:  als  ein  erträglich  reines  Fran- 
zösisch, wenn  sie  sich  französisch  unterhalten,  und  als  ein  sehr  stark 
durch  das  Alemannische  lautlich  verderbtes  Französisch  in  den  ein- 
zelnen französischen  Wörtern  und  Phrasen,  die  sie  in  ihre  deutsche 
Unterhaltung  einstreuen.  Ahnlich  verhält  es  sich  mit  den  Deutsch- 
amerikanern, wo  sie  in  größeren  Mengen  zusammen  wohnen.  Neben 
einem  verhältnismäßig  reinen  Englisch  herrscht  bei  ihnen  ein  Deutsch, 
das  durch  zahlreiche  englische  Wörter  verunstaltet  ist;  diese  eng- 
lischen Wörter  sind  aber  dialektisch  gänzlich  verderbt. 

Zum  Teil  erklärt  sich  diese  Erscheinung  wohl  daraus,  daß  ver- 
schiedene Sprachen  abweichende  Konfigurationen  der  Sprachwerk- 
zeuge erfordern,  die  in  dem  Fluß  der  Rede  nicht  plötzlich  gegeneinander 
ausgewechselt  werden  können.  Im  weiteren  Verlauf  wirkt  aber  wohl 
noch  mit,  daß  eine  solche  Mischsprache  ein  Idiom  für  sich  ist,  das  nicht 
bloß  als  Ganzes,  sondern  in  allen  seinen  Bestandteilen  von  der  an- 
geeigneten fremden  Sprache  unterschieden  wird.  Das  scheinbar 
gleiche  und  nur  lautlich  abweichende  Wort  in  beiden   Sprachen  ist 


Grundformen  des  generellen  Lautwandels.  411 

daher  in  Wahrheit  dennoch  nicht  völlig  das  gleiche  Wort.  Wesent- 
liche Bedingung  für  den  Eintritt  aller  dieser  Erscheinungen  bleibt 
es  aber  stets,  daß  der  eindringenden  fremden  Sprache  eine  einiger- 
maßen geschlossene  Gemeinschaft  oder  mindestens  eine  größere  Zahl 
von  Individuen,  die  durch  Verkehr  und  gemeinsame  Sprache  zu- 
sammengehalten werden,  gegenübersteht^). 

Auch  diese  Tatsachen  lehren,  daß  der  allgemeine  Lautcharakter 
einer  Sprache  eine  verhältnismäßig  stabile,  viel  weniger  individuell 
bestimmte  Eigenschaft  ist  als  ihr  begrifflicher  Wortvorrat.  Mag  der 
Einzelne  unter  günstigen  Umständen  durch  Worte  und  selbst  Satz- 
wendungen die  Sprache  dauernd  beeinflussen,  dem  überlieferten  Laut- 
bestand gegenüber  ist  das  Individuum  in  der  Regel  machtlos.  Im 
engsten  Kreise  kann  es  wohl  durch  seine  Sprechweise  auf  andere  ein- 
wirken. Solche  Einflüsse  äußern  aber  nur  dann  dauernde  Wirkungen, 
wenn  sie  in  einer  großen  Zahl  weiterer  Individuen  der  gleichen  Ab- 
änderungsrichtung begegnen,  wenn  sich  also  das  Individuelle  durch 
vielfache  Wiederholung  der  gleichen  Bedingungen  von  selbst  zum 
Generellen  erweitert. 


5.  Grundformen  des  generellen  Lautwandels. 

Von  zwei  verschiedenen  Gesichtspunkten  kann  man  bei  dem  Ver- 
such einer  Klassifikation  der  Erscheinungen  des  Lautwandels  aus- 
gehen: von  einem  ,, logischen"  und  einem  „psychophysischen".     Vom 


1)  Als  Beispiel  der  obenerwähnten  Wü-kung  auf  die  assimilierten  fremden 
Elemente  mögen  die  folgenden  Sätze  aus  dem  ,,Pennsylvania-Dutch"  dienen, 
die  ich  einer  von  M.  Grünbaum  (Mischsprachen  und  Sprachmischungen,  Vir- 
chows  und  Holtzendorffs  Vorträge,  1886,  S.  42)  mitgeteilten  Geschäftsreklame 
einer  pennsylvanischen  Zeitung  entnehme.  Die  zugrunde  liegende  Muttersprache 
ist  der  Pfälzer  Dialekt,  der  in  seinem  Lautcharakter  vollständig  erhalten  geblieben 
ist  und  diesen  den  aufgenommenen  englischen  Wörtern  mitgeteilt  hat.  ,,Sagt 
der  Pit  (Peter):  wann  sei  Lebtag  Leut  mich  geplihst  (to  please)  han,  so  warens 
de  zweh  Deutsche  .  .  .  Do  hab  ich  mir  von  denne  a  Suht  (suite)  kaft,  un  nau 
(now)  fihl  ich  mich  so  stolz  wie  e  General  .  .  .  Well,  loß  der  Stiem  raus  (let  the 
steam  out),  do  muß  ich  anne  .  .  .  wir  sind  determt  (determined)  Bissness  (business) 
zu  tun." 


412  Der  Lautwandel, 


logischen  Standpunkt  aus  ist  es  lediglich  der  Geltungsbereich  der 
die  einzelnen  Erscheinungen  beherrschenden  Lautgesetze,  ohne  jede 
Rücksicht  auf  den  eigentümlichen  Inhalt  derselben,  der  für  die  Gruppie- 
rung der  Tatsachen  in  Betracht  kommt.  Neben  diesem  Umfang  der 
Gültigkeit  kann  außerdem  noch  die  Eigenschaft  bestimmter  Gleich- 
förmigkeiten des  Geschehens,  daß  sie  stets  miteinander  verbunden 
vorkommen,  als  ein  formales  Merkmal  angesehen  werden,  so  daß  also 
z.  B.,  wenn  innerhalb  eines  Sprachgebiets  der  Übergang  der  Aspirata 
in  die  Media  und  derjenige  der  Media  in  die  Tenuis  sich  begleitende 
Veränderungen  sind,  diese  letzteren  als  der  Inhalt  eines  allgemeineren 
Lautgesetzes  gelten.  Nun  kann  es,  wie  oben  bemerkt  wurde  (S.  373), 
,, ausnahmslose  Lautgesetze"  höchstens  dann  geben,  wenn  die  Kon- 
kurrenz mit  andern  Gesetzen  nicht  verändernd  einwirkt.  Es  liegt 
aber  in  der  Natur  der  Sache,  daß  es  sich  dabei  in  der  Regel  um  ge- 
wisse Grenzfälle  handeln  wird,  bei  denen  zu  irgendwelchen  Ursachen 
bestimmter  Lautänderungen  spezielle  Bedingungen  hinzutreten, 
welche  die  Wirksamkeit  konkurrierender  Ursachen  ausschließen. 
So  kommt  es,  daß  diejenigen  Lautgesetze,  die  eine  solche  Ausnahms- 
losigkeit  für  sich  in  Anspruch  nehmen  können,  meist  nicht  allgemeinster, 
sondern  umgekehrt  speziellster  Art  sind,  und  daß  sie,  wenn  man  ihnen 
eine  allgemeine  Formulierung  zu  geben  sucht,  nicht  selten  den  Charakter 
von  Regeln  mit  Ausnahmen  oder  sogar  von  Ausnahmen  zu  allgemeineren 
Regeln  annehmen^).  Wohl  aber  gibt  es  Lautgesetze,  die  gegenüber 
andern  in  doppelter  Beziehung  eine  ausgezeichnete  Stellung  einnehmen : 
erstens  insofern  die  einzelnen  Tatsachen,  die  unter  sie  gehören,  an 
Zahl  besonders  groß  sind,  und  zweitens  insofern,  als  sie  eine  unge- 
wöhnlich große  Menge  regelmäßig  koexistierender  Vorgänge  um- 
fassen. Wir  wollen  den  durch  diese  beiden  Eigenschaften  formal  aus- 
gezeichneten Lautwandel  der  regulären,  und  die  für  ihn  geltenden 


1)  Dahin  gehören  z.  B.  die  von  Delbrück  (Grundfragen  der  Sprachforschung, 
8.  102)  angeführten  Fälle  „ausnahmsloser  Lautgesetze'*,  daß  im  Griechischen 
am  Ende  des  Wortes  t  und  d  abfallen  und  m  in  n  übergeht  (z.  B.  fiiki  aus  *(X6Xit, 
vgl.  Gen.  fisXiT-og,  &kXo6  aus  *aAAo  =  lat.  aliud,  "rniov  lat.  equum),  Beispiele, 
wo  eben  die  ausschließlich  für  das  Ende  des  Wortes  geltende  Erscheinung 
das  sogenannte  Gesetz  sofort  als  eine  Ausnahme  zu  der  sonst  bestehenden  Kon- 
stanz jener  Laute  kennzeichnet. 


Grundformen  des  generellen  Lautwandels.  413 

empirischen  Gesetze  die  „regulären  Lautgesetze"  nennen.  Alle  die- 
jenigen Veränderungen,  die  nur  einzelne  Tatsachen  der  Lautgeschichte 
oder  beschränkte  Gruppen  solcher  umfassen,  und  bei  denen  die  regel- 
mäßig begleitenden  Veränderungen  fehlen  oder  ebenfalls  von  be- 
schränktem Umfange  sind,  wird  man  dann  als  singulären  Laut- 
wandel bezeichnen  können. 

Nach  dem  zweiten,  dem  psychophysischen  Gesichtspunkte 
zerfallen  die  Erscheinungen  des  Lautwandels  gemäß  den  Bedingungen 
ihrer  individuellen  Entstehung  in  Formen  stetiger  und  in  solche 
sprungweiser  Änderungen.  Hierbei  sind  aber  diese  zeitlichen  Ver- 
schiedenheiten nur  äußere  Symptome  innerer  Unterschiede.  Phy- 
siologisch können  nämlich  die  stetigen  Lautänderungen  nur  zwischen 
Lauten  von  verwandter  Artikulationsform  vor  sich  gehen,  die  sich 
nach  den  früher  (S.  389)  erwähnten  vier  Richtungen  des  Artikulations- 
raumes, der  Lautdauer,  der  Tonhöhe  und  der  Lautstärke  verändern. 
Der  sprunghafte  Lautwechsel  dagegen  vollzieht  sich  zwischen  allen 
möglichen  an  sich  völlig  unverwandten  Lauten,  und  es  ist  bei  ihm 
nur  die  allgemeine  Veränderung  der  Artikulationsform  von  Bedeutung. 
Psychophysisch  beruht  demnach  der  stetige  Lautwandel  im  all- 
gemeinen auf  stetig  vor  sich  gehenden  Veränderungen  der  psycho- 
physischen Organisation,  da  nur  dann  die  Veränderungen  selbst  mehr 
oder  weniger  stetig  erfolgen  können.  Außerdem  kann  aber  bei  ihnen, 
wie  wir  voraussetzen  dürfen,  die  Komplikation  der  Bedingungen 
eine  größere  sein,  da  stetige  Änderungen  überall  leichter  und  darum 
unter  mannigfaltigeren  Einflüssen  eintreten  können  als  plötzliche. 
Darum  kann  auch  leicht  über  ihre  wirklichen  Ursachen  größere  Un- 
sicherheit herrschen.  Dem  gegenüber  werden  sich  die  springenden 
Lautänderungen  zwar  ebenfalls  nur  allmählich  über  eine  redende  Ge- 
meinschaft ausbreiten.  Da  sie  aber  von  dem  individuellen  Sprach- 
organ jedesmal  plötzlich  vollzogen  werden  müssen,  so  ist  hier  der  Um- 
fang der  stattfindenden  Abweichung  größer  und  augenfälliger,  während 
zugleich  ihre  Bedingungen  zumeist  die  Veränderungen  enger  begrenzen. 
Diese  Bedingungen  bestehen  in  der  Tat  durchweg  in  einzelnen  asso- 
ziativen Einwirkungen  verschiedener  Lautgebilde  aufeinander.  Dem- 
nach fällt  im  ganzen  die  psychophysische  Einteilung  mit  der  logischen 
in  dem   Sinne  zusammen,  daß  der  reguläre  Lautwandel  einerseits 


414  Der  Lautwandel. 


ein  stetiger  und  anderseits  ein  allgemeiner  ist,  wobei  sich  freilich 
sowohl  die  Geschwindigkeit  der  Veränderungen  wie  der  Umfang  des 
Sprachgebiets,  das  sie  ergreifen,  zwischen  weiten  Grenzen  bewegen 
kann,  während  der  singulare  in  den  besonderen  Wirkungen 
der  Lautbestandteile  einer  Sprache  aufeinander  seine 
konkreten  psychophysischen  Ursachen  hat. 

Weiterhin  lassen  sich  nun  aber  die  Formen  des  singulären 
Lautwandels  aus  dem  Verhältnis  ableiten,  in  dem  die  soziolo- 
gischen zu  den  individuellen  psychologischen  Bedingungen  stehen. 
Bezeichnen  nämlich  die  verschiedenen  Klassen  der  unter  normalen 
wie  abnormen  Verhältnissen  als  individuelle  Abweichungen  vor- 
kommenden Laut-  und  Wortvermengungen  die  überhaupt  möglichen 
Richtungen,  nach  denen  Lautänderungen  stattfinden,  so  sind  es  an- 
derseits soziologische  Bedingungen,  die  gewisse  Abweichungen 
in  bestimmte  Grenzen  einschränken  und  andern  einen  Vorrang  ver- 
schaffen. In  erster  Linie  steht  hier  das  Prinzip  der  Ausschaltung 
allzu  großer  Abweichungen.  Es  ist  ein  allgemein  für  das  Verhält- 
nis der  individuellen  zu  den  ihnen  entsprechenden  generellen  Verände- 
rungen gültiges  Gesetz,  das  wir  kurz  als  das  der  soziologischen 
Auslese  bezeichnen  können.  Durch  diese  Auslese  bleiben  nament- 
lich die  beiden  ersten  Arten  allgemeiner  Sprachfehler,  die  Einschal- 
tungen und  Auslassungen  von  Lauten,  in  ihrer  generellen  Ver- 
breitung durchaus  in  jene  Grenzen  eingeschränkt,  wo  sie  zugleich 
eine  physiologische  Erleichterung  der  Artikulation  bewirken.  Da  die 
Motive,  die  zu  einer  solchen  drängen,  wiederum  nahe  mit  allgemeinen 
Veränderungen  zusammenhängen,  so  sind  erleichternde  ,, Dissimila- 
tionen" sowie  die  der  beschleunigten  Artikulation  sich  fügenden  Laut- 
abschwächungen, die  allmählich  in  eine  völlige  Elimination  einzelner 
Laute  übergehen  können,  sehr  allgemeine  Begleiterscheinungen  des 
regulären  Lautwandels.  Eine  noch  größere  Bedeutung  besitzen  so- 
dann die  Vorausnahmen  und  die  Nachwirkungen  der  Laute. 
Für  beide  gilt  die  in  dem  Prinzip  der  soziologischen  Auslese  begründete 
Einschränkung,  daß,  im  Unterschiede  von  den  weit  umfangreicheren 
individuellen  Sprachfehlern  analoger  Art,  bei  dem  generellen  Laut- 
wechsel nur  benachbarte  Laute  solche  Einflüsse  äußern.  Wir 
können  daher  diese  Erscheinungen,  die  gewöhnlich  ,, regressive  und 


Grundformen  des  generellen  Lautwandels.  415 

progressive  Assimilationen"  genannt  werden,  als  assoziative  Kon- 
taktwirkungen  der  Laute  bezeiclinen.  Das  Attribut  „assoziativ" 
weist  darauf  hin,  daß,  wie  bereits  die  Betrachtung  der  entsprechenden 
individuellen  Artikulationsfehler  gezeigt  hat,  trotz  mithelfender  phy- 
siologischer Momente  das  hauptsächlich  wirksame  Motiv  in  Laut- 
assoziationen besteht.  Solche  sind  endlich  noch  bei  der  letzten  Gruppe 
von  Lautänderungen  anzutreffen,  die  den  „Wortvermengungen" 
parallel  gehen.  Wir  wollen  sie,  da  in  diesem  Falle  die  Assoziationen 
von  mehr  oder  minder  fern  liegenden  Lautgebilden  ausgehen,  die 
assoziativen  Fernewirkungen  der  Laute  nennen.  Bei  ihnen 
wird,  im  Vergleich  mit  den  außerordentlich  mannigfaltigen  indivi- 
duellen Sprachfehlern  von  gleichem  psychologischem  Charakter, 
wiederum  in  hohem  Grade  die  soziologische  Auslese  wirksam, 
da  hier  nur  gewisse  oft  wiederkehrende  Verbindungen,  die  durch 
grammatische  und  begriffliche  Beziehungen  nahegelegt  werden,  einen 
dauernden  Einfluß  auf  die  Sprache  gewinnen.  Die  große  Mehr- 
zahl zufälliger  individueller  Entgleisungen  dagegen  geht  spurlos  an 
ihr  vorüber. 

Während  die  bisher  unterschiedenen  Lautänderungen  Vorgänge 
sind,  die  sich  in  einer  geschlossenen  Sprachgemeinschaft  lediglich 
durch  die  in  der  Sprache  selbst  und  in  den  allgemeinen  Kulturein- 
flüssen gelegenen  Bedingungen  vollziehen  können,  tritt  diesen  end- 
lich eine  letzte  Gruppe  von  Erscheinungen  gegenüber,  an  denen  sich 
die  Einflüsse  fremder  Sprachgemeinschaften  oder  einzelner  ihnen 
entlehnter  Wortgebilde  verraten.  Hier  müssen  freilich  für  uns  die 
möglicherweise  sehr  umfangreichen  Sprachmischungen  ganz  außer 
Betracht  bleiben,  die,  einer  vorhistorischen  Zeit  angehörend,  vielleicht 
für  den  Lautbestand  der  uns  überlieferten  ,, Ursprachen"  bestimmend 
gewesen  sind.  Diese  Fragen  mögen  noch  einmal  Aufgaben  der  prä- 
historischen Sprachforschung  werden,  der  psychologischen  Unter- 
suchung bieten  sie  keinerlei  Angriffspunkte.  Wohl  aber  hat  diese 
diejenigen  Sprachmischungen,  die  als  Wirkungen  des  Völkerverkehrs 
fortwährend  in  die  Entwicklung  der  Sprache  eingreifen,  in  die  bei 
ihnen  wirksamen  psychischen  Vorgänge  zu  zerlegen.  Hierher  gehören 
die  Lautveränderungen  bei  der  Wortentlehnung.  Gegenüber  den  die 
ganze    Sprache    umgestaltenden    Sprachmischungen    bilden  übrigens 


416  Der  Lautwandel. 


die    Wortentlehnungen    einen    verhältnismäßig    zurücktretenden    Be- 
standteil der  Sprachentwicklung. 

Indem  die  hier  aufgezählten  Formen  des  Lautwandels,  abge- 
sehen von  noch  spezielleren  Ursachen,  die  sich  unserer  Nachweisung 
entziehen,  sowie  von  den  später  zu  erörternden  Wechselwirkungen 
von  Laut-  und  Bedeutungswandel,  fortwährend  nebeneinander  auf 
die  Sprache  einwirken,  ist  diese  von  einer  Fülle  sich  durchkreuzen- 
der Gesetze  beherrscht,  deren  jedes  naturgemäß  nur  gelten  kann, 
wenn  es  nicht  durch  andere,  im  gegebenen  Fall  zwingendere  Gesetze 
aufgehoben  wird.  Unter  diesen  treten  zunächst  die  des  regulären 
Lautwandels  den  mannigfachen  einzelnen  Kontakt-  und  Assoziations- 
wirkungen gegenüber,  die  wir  auf  singulare  Lautgesetze  zurückführen 
können.  Da  jene  im  ganzen  die  konstanteren,  diese  die  variableren 
sind,  so  erklärt  sich  daraus  hinreichend  die  verbreitete  Vorstellung, 
daß  der  reguläre  Lautwandel  die  eigentlichen,  im  engeren  Sinne  so 
zu  nennenden  ,, Lautgesetze"  in  sich  schließe,  deren  Geltung  nun  in 
einzelnen  Fällen  durch  spezielle  Bedingungen  aufgehoben  oder  modi- 
fiziert werde.  Da  ferner  der  reguläre  Lautwandel,  wie  das  seine  größere 
Regelmäßigkeit  schon  mit  sich  bringt,  im  allgemeinen  bei  sehr  wech- 
selnden Verbindungen  der  Laute  vorkommen  kann,  so  pflegt  man  ihn 
auch  den  ,, selbständigen"  zu  nennen  und  ihn  als  solchen  speziell  dem 
aus  Kontaktwirkungen  hervorgehenden  als  dem  ,, abhängigen"  oder 
,, kombinatorischen"  gegenüberzustellen.  Nun  ist  aber  klar,  daß  in 
dem  verbreiteteren  Vorkommen  an  und  für  sich  noch  keinerlei  Be- 
weisgrund für  die  Annahme  liegen  kann,  hier  sei  es  der  einzelne  Laut 
als  solcher,  der  eine  von  äußeren  Bedingungen  völlig  unabhängige 
Veränderung  erfahren  habe,  wie  dies  der  Ausdruck  ,, selbständig" 
andeutet.  Vielmehr  kann  es  sehr  wohl  sein,  daß  solche  äußere  Be- 
dingungen dabei  nur  in  einer  viel  größeren  Zahl  von  Fällen  und  unter 
sonst  mannigfach  variierenden  Umständen  auf  den  Laut  eingewirkt 
haben.  In  der  Tat  ist  ja  ein  im  strengen  Sinne  ,, selbständiger"  Laut- 
wandel schon  deshalb  ein  Ding  der  Unmöglichkeit,  weil  der  einzelne 
Sprachlaut  kein  isoliertes  Gebilde,  sondern  ein  aus  dem  Wortzu- 
sammenhang durch  Abstraktion  gewonnenes  Element  ist.  Wenn  aber 
der  einzelne  Laut  durchweg  in  Verbindung  mit  andern  Lauten  steht, 
so   kann   er  unmöglich   von   diesen   Verbindungen   unabhängige  Ver- 


Grundformen  des  generellen  Lautwandels.  417 

änderungen  erfahren.  In  Wirkliclikeit  bestätigen  das  auch,  wie  wir 
unten  sehen  werden,  die  Erscheinungen,  indem  sie  zeigen,  daß  die 
sogenannten  ,, Lautgesetze"  selbst  wiederum  nur  Abstraktionen  aus 
gewissen  durchschnittlichen  Lautänderungen  sind,  die  in  den  einzelnen 
Fällen  durch  den  Zusammenhang  mit  andern  Lauten  mannigfach 
bedingt  sind.  Demnach  wollen  wir  den  Ausdruck  ,, selbständiger" 
Lautwandel  um  so  mehr  vermeiden,  weil  er  zwischen  den  beiden  Klassen 
mehr  oder  minder  regulärer  und  relativ  singulärer  Lautänderungen 
eine  Kluft  errichtet,  die  tatsächlich  nirgends  existiert.  Indem  er  dazu 
verführt,  das  alte  Schema  der  grammatischen  Regel  und  ihrer  Aus- 
nahmen auf  die  Lautgesetze  zu  übertragen,  erweckt  er  überdies  von 
vornherein  die  Vorstellung,  die  eigentlichen  Lautgesetze  beruhten 
auf  spezifischen,  von  Kontakt-  und  Assoziationseinflüssen  gänzlich 
verschiedenen  Kräften.  Da  diese  auf  die  einzelnen  Laute  selbständig 
wirken  sollen,  so  liegt  es  dann  außerdem  nahe,  sie  wiederum  auf  eine 
einzige  allgemeine  Ursache  zurückzuführen,  über  die  man  sich  nun 
in  mancherlei  vagen  Vermutungen  ergeht.  Natürlich  sind  aber  alle 
diese  Voraussetzungen  von  vornherein  ebenso  unwahrscheinlich,  wie 
es  die  Annahme  eines  selbständigen  Lautwandels  überhaupt  ist.  Denn 
unter  je  mannigfaltigeren  Bedingungen  der  reguläre  Wechsel  vor- 
kommt, um  so  wahrscheinlicher  ist  es,  daß  er  sich  nicht  durch  die  Ein- 
fachheit, sondern  umgekehrt  durch  die  Komplikation  der  Ursachen 
unterscheidet;  und  bei  den  singulären  Lautänderungen  wird  die  Zu- 
rückführung  auf  bestimmte  einzelne  Bedingungen  eben  deshalb  leichter 
möglich,  weil  hier  diese  von  einfacherer  Natur  sind.  Das  für  die  nähere 
Untersuchung  maßgebende  Merkmal  ist  daher  nicht  dies,  daß  die 
regulären  Lautänderungen  strengeren  Gesetzen  folgen  als  die  singu- 
lären; mindestens  muß  dies  vorläufig  ganz  dahingestellt  bleiben. 
Noch  weniger  ist  es  zulässig,  von  vornherein  anzunehmen,  beidemal 
seien  die  Erscheinungen  auf  wesentlich  verschiedene  Ursachen  zurück- 
zuführen. Vielmehr  bleibt  der  einzige  Unterschied,  den  wir  ohne  vor- 
zugreifen machen  dürfen,  der,  daß  singulare  Veränderungen  durch- 
weg auf  bestimmte  einzelne  Bedingungen  zurückführbar  sind,  die 
wir  entweder  direkt  nachweisen  oder  mit  verhältnismäßiger  Sicher- 
heit aus  den  näheren  Umständen  erschließen  können,  während  sich 
die  Ursachen  des  regulären  Lautwandels  zunächst  unserem  Nach- 

W  n  n  d  t ,  Völkerpsychologie.    I.    4.  Aufl.  27 


418  Der  Lautwandel. 


weis  entzielien.  Damit  wird  aber  für  die  Untersuchung  beider  Gruppen 
eine  Maxime  maßgebend,  die  zu  der  gewöbnlich  befolgten  den  vollen 
Gegensatz  bildet.  Während  diese  unter  der  immer  noch  herrschenden 
Vorstellung  steht,  der  reguläre  Lautwandel  sei  eine  Art  allgemein- 
verbindlicher Norm,  der  die  singulären  Erscheinungen  infolge  irgend- 
welcher Ausnahmebedingungen  widerstreiten,  haben  wir  hier  ledig- 
lich der  Maxime  zu  folgen,  daß  man  bei  einer  Klasse  zusammengehöriger 
und  überall  einander  durchkreuzender  Erscheinungen  nicht  vom  Un- 
bekannteren und  darum  voraussichtlich  Verwickelteren  zum  Bekann- 
teren und  Einfacheren,  sondern  umgekehrt  von  diesem 'zu  jenem  über- 
zugehen hat.  Zunächst  werden  daher  die  Fälle  verhältnismäßig  leicht 
zu  durchschauender  Lautänderungen  zu  durchforschen  und  damit 
gewisse  unzweifelhaft  vorhandene  Ursachen  des  Lautwandels  fest- 
zustellen sein,  um  dann  erst  zur  Untersuchung  derjenigen  Erschei- 
nungen fortzuschreiten,  bei  denen  dies  bis  dahin  nicht  in  gleicher 
Weise  gelungen  ist.  Demnach  gehen  wir  aus  von  den  assoziativen 
Kontaktwirkungen  der  Laute.  Von  ihnen  führt  dann  die  Be- 
trachtung naturgemäß  zu  solchen  Veränderungen,  die  wir  als  die 
assoziativen  Fernewirkungen  der  Laute  zusammenfassen 
können.  An  diese  schließen  sich,  mehr  als  eine  besondere  Gruppe  denn 
als  eine  spezifische  Art  solcher  Fernewirkungen,  die  vorzugsweise  bei 
Wortentlehnungen  stattfindenden  Laut-  und  Begriffsassoziationen 
an.  Nachdem  wir  durch  die  Betrachtung  aller  dieser  Fälle  singulären 
Lautwandels  mit  den  Bedingungen  vertraut  geworden  sind,  unter 
denen  in  einzelnen,  durch  die  Gunst  der  Umstände  zugänglicheren 
Fällen  Lautänderungen  bedingt  werden,  wollen  wir  uns  schließlich 
den  Erscheinungen  des  regulären  Lautwandels  zuwenden,  bei 
denen  dies  im  allgemeinen  nicht  mehr  zutrifft,  die  aber  wegen  ihrer 
weitgreifenden  geschichtlichen  Zusammenhänge  ein  besonderes  Inter- 
esse in  Anspruch  nehmen. 


Regressive  und  progressive  Lautinduktion.  419 

IIL  Assoziative  Kontaktwirkungen  der  Laute. 

1.  Regressive  und  progressive  Lautinduktion. 

Als  Kontaktwirkungen  sollen  hier  alle  diejenigen  Lautände- 
rungen  bezeichnet  werden,  die  sich  unmittelbar  als  Folgen  der  Ein- 
wirkung eines  Lautes  auf  einen  andern,  der  sich  in  seiner  Nähe,  also 
in  der  Regel  in  unmittelbarer  Wortverbindung  mit  ihm  befindet, 
darstellen.  Für  die  Kontaktwirkungen  ist  es  demnach  kennzeichnend, 
daß  nicht  bloß  der  Lautwandel  selbst,  sondern  auch  der  ihn  herbei- 
führende äußere  Anlaß  direkt  unserer  Beobachtung  gegeben  ist. 
Übrigens  sind  auch  bei  den  Kontaktwirkungen  nur  die  äußeren  Be- 
dingungen der  Vorgänge  in  gewissen  die  Veränderung  bewirkenden 
Lauten  der  direkten  Beobachtung  zugänglich;  auf  die  Gründe,  aus 
denen  ein  einzelner  Laut  tatsächlich  auf  einen  andern  einwirkt,  läßt 
sich  erst  aus  der  Vergleichung  einer  größeren  Anzahl  analoger  Er- 
scheinungen und  aus  Beobachtungen  über  die  bei  dem  Kontakt  der 
Laute  obwaltenden  physischen  und  psychischen  Bedingungen  zurück- 
schließen. 

Bezeichnen  wir,  nach  dem  Vorbilde  der  für  gewisse  physikalische 
und  physiologische  Ferne-  und  Nahewirkungen  eingeführten  Namen, 
denjenigen  Laut,  von  dem  eine  verändernde  Wirkung  ausgeht,  als 
den  ,, induzierenden",  den,  der  die  Veränderung  erleidet,  als  den  ,, in- 
duzierten", so  können  nun  sowohl  bei  unmittelbarer  Berührung  beider, 
wie  bei  mittelbarer,  wo  sich  zwischen  sie  noch  andere  Lautelemente 
einschieben,  Kontakterscheinungen  stattfinden.  Immer  jedoch  be- 
steht die  Bedingung,  daß  beide  Laute  einander  nahe  genug  seien, 
um  sowohl  physisch  wie  psychisch  eine  direkte  Einwirkung  möglich 
zu  machen,  —  physisch,  insofern  die  beiden  Artikulationsbewegungen 
einander  schnell  genug  folgen;  psychisch,  insofern  vorausgesetzt 
werden  darf,  daß  sich  beide  Laute  während  einer  gewissen  Zeit  zu- 
sammen im  Bewußtsein  befinden.  Ferner  kann  die  Kontaktwirkung 
eine  einseitige  sein,  so  daß  von  den  zwei  in  Beziehung  tretenden  Lauten 
der  eine  der  induzierende,  der  andere  der  induzierte  ist;  oder  es  kann 
eine  Wechselwirkung  vorliegen,  wo  dann  jeder  Laut  induzierend  und 

27* 


420  I^er  Lautwandel. 


induziert  zugleich  ist.  Von  diesen  beiden  mögliclien  Fällen  ist  der 
erstere  jedenfalls  der  weitaus  häufigere:  die  Kontaktwirkungen  der 
Laute  sind  in  der  Regel  einseitiger  Art. 

Unter  den  in  dem  obigen  Sinne  zu  definierenden  Kontakterschei- 
nungen nehmen  nun  diejenigen  die  erste  Stelle  ein,  bei  denen  sich  die 
Wirkung  auf  die  Erzeugung  eines  qualitativen  Lautwechsels  beschränkt, 
ohne    daß    Lautverlust    und    Einschaltung    von    Lauten    stattfindet: 
die    sogenannten    ,, kombinatorischen    Lautänderungen".       Sie   lassen 
sich  in  verschiedene  Unterformen  scheiden.    Die  Lautinduktion  kann 
nämlich  hier  sowohl  in  qualitativ  wie  in  zeitlich  entgegengesetzten 
Richtungen    stattfinden.       Die    qualitativen    Gegensätze    bestehen 
darin,  daß  der  induzierende  Laut  entweder  den  induzierten  sich  ähn- 
lich, oder  aber  daß  er  ihn  sich  unähnlich  macht,  —  daß  er  also  im 
ersten  Fall  eine  qualitativ  attrahierende,  im  zweiten  eine  abstoßende 
Wirkung  ausübt.   Dort  pflegt  man  die  Erscheinung  als  ,, Assimilation", 
hier  als  „Dissimilation"  zu  bezeichnen.     In  jedem  dieser  Fälle  kann 
aber  außerdem  die  zeitliche  Richtung  der  Wirkung  eine  entgegen- 
gesetzte sein,  indem  ein  Laut  entweder  auf  einen  ihm  vorausgehenden 
oder  auf  einen  ihm  nachfolgenden  induzierend  einwirkt:   im  ersten 
Fall  nennt  man  die  Wirkung  eine  ,, regressive",  im  zweiten  eine  „pro- 
gressive".     Demnach   zerfallen    die   Erscheinungen   der   eigentlichen 
Lautinduktion  in  vier  Formen:  in  eine  regressive  und  progressive 
Assimilation,  und  in  eine  regressive  und  progressive  Dissi- 
milation.    Unter  ihnen  überwiegen  weitaus  die  Assimilationen  und 
ebenso  wiederum,   wenigstens  in   den   uns  näher  stehenden   Kultur- 
sprachen, die  regressiven  Wirkungen.     Die  häufigste  unter  den  ge- 
nannten Erscheinungen  ist  daher  überhaupt  die  ,, regressive  Assimi- 
lation" oder  diejenige  Kontaktwirkung,  bei  der  ein  bestimmter  Laut 
einen  ihm  in  der  Rede  vorausgehenden  in  solcher  Weise  induziert, 
daß  dieser  ihm  angeglichen  wird. 

Auf  die  abweichenden  Bedingungen  der  regressiven  und  der 
progressiven  Assimilation  weist  nun  schon  die  Tatsache  hin, 
daß  jede  in  der  Regel  auf  Laute  von  verschiedenem  Klangcharakter 
ihre  Wirkungen  ausübt.  Bei  der  gewöhnlichen  „regressiven  Assi- 
milation" gehören  die  aufeinander  einwirkenden  Laute  am  häufigsten 
der  Klasse  der  konsonantischen  Geräuschlaute  an;  der  ,, progressiven. 


Regressive  und  progressive  Lautinduktion.  421 

Assimilation"  unterliegen  öfter  die  Vokale  und  die  Halbvokale.  Wo 
die  Vokale  überhaupt  eine  assimilierende  Wirkung  äußern,  sei  es  eine 
regressive  oder  progressive,  da  geschieht  dies  außerdem  niemals  in 
unmittelbarer  Berührung,  wie  zumeist  bei  den  Konsonanten,  sondern 
über  zwischenliegende  Konsonanten  hinweg.  So  gehören  zu  den  ge- 
wöhnlichsten regressiven  Assimilationen  Übergänge  wie  adsimilare 
in  assimilare,  adferre  in  afferre,  adgredi  in  aggredi,  adtrahere  in  attra- 
here,  conligere  in  colligere  usw.,  ferner  von  agnus  in  angnus,  supmus 
in  summus,  sedla  in  sella,  oder  im  Italienischen  fiotto  aus  lat.  fluctus, 
fatto  aus  f actus,  im  Deutschen  hatte  aus  habte,  empfangen,  empfinden 
aus  entfangen,  entfinden,  griech.  e/ußdllco  aus  evßdlXco,  elleino)  aus 
evlelmo  usw.  Die  Kontaktwirkung  besteht  hier  teils  in  einer  völligen, 
teils  in  einer  bloß  partiellen  Angleichung,  in  einer  Annäherung  der 
Artikulation  des  vorangehenden  an  den  nachfolgenden  induzieren- 
den Laut:  erster  es  z.  B.  in  supmus — summus,  adsimilare — assimilare, 
habte — hatte,  letzteres  in  agnus — angnus,  entfangen — empfangen, 
h'ßalloj — ifißdllco.  Viel  seltener  ist  die  progressive  Assimilation 
konsonantischer  Laute,  wie  in  klimmen  aus  Mimben,  lat.  forfex  aus 
forpex,  Vulva  aus  vulba  u.  a.,  Fälle,  die  zugleich  an  Erscheinungen 
der  Dissimilation,  der  Elision  und  der  Umstellung  der  Laute,  mit 
denen  sie  im  Erfolg  zusammentreffen,  nahe  angrenzen^).  Umgekehrt 
ist  die  vokalische  Assimilation  in  regressiver  Richtung  eine  verhält- 
nismäßig seltene  Erscheinung.  Doch  gehören  hierher  wahrscheinlich 
Fälle  wie  im  lat.  similis  (simul),  facilis  (facultas),  wo  die  adjektivische 
Endung  auf  den  Stammvokal  zurückgewirkt  zu  haben  scheint,  femer 
der  Umlaut  im  Deutschen,  wie  der  Übergang  von  ahd.  gasti  in  gesti, 
mhd.  geste  ,, Gäste",  fallit  in  fellit  ,, fällt",  handi  in  hendi  „Hände", 
brüt  in  plur.  bruiti  ,, Bräute"  usw.,  in  welchen  Fällen  wieder  in  der 
Regel  eine  bloße  Annäherung  des  vorausgehenden  an  den  nachfolgen- 


1)  Eine  systematische  Übersicht  über  alle  diese,  hier  nicht  näher  zu  er- 
örternden, aber  in  den  wesentlichen  Motiven  mit  den  Formen  der  Assimilation 
und  Dissimilation  übereinstimmenden  Erscheinungen  für  das  indogermanische 
Gebiet  gibt  Brugmann,  Kurze  vergl.  Grammatik,  S.  225  ff.,  für  die  romanischen 
Sprachen  Meyer-Lübke,  Gramm,  der  romanischen  Sprachen,  Bd.  1,  S.  315  ff. 
Vgl.  auch  E.  Wechssler,  Gibt  es  Lautgesetze  ?     S.  140  ff. 


422  Der  Lautwandel. 


den  Vokal,  keine  völlige  Angleichung  zu  beobacliten  ist.  Um  so  häu- 
figer ist  progressive  Assimilation  der  Vokale.  So  lat.  fulguris  aus 
^fuLgoris  (vgl.  temporis),  aM.  hohona  aus  Jiöhana  „von  oben".  Vor 
allem  aber  geboren  hierher  die  Erscheinungen  der  sogenannten  ,, Vo- 
kalharmonie" in  den  ural-altaischen,  den  malaiischen  und  polyne- 
sischen  Sprachen.  In  den  beiden  letzteren  Sprachgruppen  hängt 
dieselbe  mit  den  hier  außerordentlich  verbreiteten  Verdoppelungs- 
erscheinungen zusammen,  die  es  bewirkt  haben,  daß  viele  Wörter 
dieser  Sprachen  überhaupt  nur  noch  als  Verdoppelungsformen  vor- 
kommen. Da  man  in  solchen  Fällen  meist  annehmen  darf,  daß  die 
einfache  Form  die  ursprüngliche  sei,  so  kann  diese  dann  zugleich  als 
der  induzierende  Laut  betrachtet  werden;  und  da  die  Betonung  auf 
dem  inlautenden  Vokal  liegt,  so  sind  hier  wahrscheinlich  ähnliche  assi- 
milierende Bedingungen  wie  bei  der  eigentlichen  Assimilation  wenigstens 
von  mitbestimmender  Wirkung.  In  der  Tat  zeigen  diese  Sprachen 
auch  da,  wo  keine  eigentliche  Wiederholung  vorliegt,  eine  große  Neigung 
zur  Bildung  zweisilbiger  Wörter  mit  gleichen,  durch  einen  konso- 
nantischen Laut  getrennten  Vokalen.  Noch  charakteristischer  äußert 
sich  die  progressive  Vokalassimilation  in  den  uralischen  und  altaischen 
Wortbildungen,  wo  dasselbe  Suffix  in  seinen  übrigen  Bestandteilen 
konstant  zu  bleiben,  in  seinen  vokalischen  Elementen  aber  derart 
zu  variieren  pflegt,  daß  diese  jedesmal  dem  vokalischen  Inlaut 
des  vorangehenden  Wortstamms  angeglichen  sind.  So  heißt  im 
Jakutischen  aga-lar  Väter,  äsä-lär  Bären,  ogo-lor  Kinder,  ebenso 
aga-ttan  vom  Vater,  äsä-ttän  vom  Bären,  ogo-tton  vom  Kinde. 
Ähnlich  im  Türkischen  sev-mek  lieben,  hak-mah  erblicken,  mä-niäk 
kennen  usw. 

Gegenüber  diesen  mannigfaltig  variierenden  Vorgängen  der  Assi- 
milation ist  die  Dissimilation  die  weit  seltenere  Erscheinung.  Aus- 
schließlich von  konsonantischen  Lauten  als  induzierenden  Elementen 
ausgehend,  erstrecken  sich  ihre  Wirkungen  in  der  Regel  ebenfalls  auf 
solche;  doch  können  auch  Vokale,  die  zwischen  Konsonanten  ein- 
geschaltet werden,  als  Erzeugnisse  der  Dissimilation  vorkommen. 
Die  regressive  Richtung  der  Wirkung  ist  wieder  die  vorwaltende, 
ohne  daß  die  progressive  ganz  fehlt.  In  beiden  Formen  scheint  die 
Dissimilation  auf  den  älteren  Entwicklungsstufen  der  indogermanischen 


Regressive  und  progressive  Lautinduktien.  423 

Sprachen  allgemeiner  gewesen  zu  sein,  was  zumeist  wohl  mit  dem 
häufigeren  Vorkommen  der  eine  solche  besonders  leicht  veranlassen- 
den echten  Aspiraten  zusammenhängt.  Denn  im  Sanskrit  und  Grie- 
chischen  werden  die  verbreitetsten  dieser  Erscheinungen  durch  das 
von  Graßmann  aufgestellte  „Gesetz  der  Hauchdissimilation"  beherrscht: 
,,Wenn  in  zwei  Konsonantengruppen  eines  Wortes,  die  durch  einen 
Vokal  getrennt  sind,  Aspiraten  vorkommen,  so  wird  eine  derselben, 
in  der  Kegel  die  erste,  ihrer  Hauchung  beraubt''^).  So  hat  sich  durch 
regressive  Dissimilation  ein  idg.  "^dhidheti  in  skr.  dadhäti,  gr.  rld-i^Gi, 
"^O^Qecpco  in  rgecpiu,  ^O^Qixog  (^(>*^)  in  tqixoq  umgewandelt.  Der 
Effekt  bleibt  derselbe,  wenn  bei  der  Wiederholung  gleicher  Laute 
der  vorangehende  in  eine  andere,  verwandte  Lautgruppe  überspringt, 
wie  beim  Übergang  von  gr.  d^rjQr]Tr]Q  in  ^i^lrjTJ^o,  vagva^  in  Xdgva'^, 
lat.  peregrinus  in  ital.  pellegrino,  venenum  in  veleno,  arhor  in  albero 
u.  a.^).  Progressive  Dissimilationen  kommen  vereinzelt  im  Lateinischen 
sowie  in  modernen  Sprachen,  in  den  letzteren  namentlich  bei  der 
Aufnahme  von  Fremdwörtern  vor.  So  schwankt  die  Endung  des 
lateinischen  Adjektivs  zwischen  -alis  und  -aris:  die  im  einzelnen  Falle 
übliche  Form  ist  aber  in  der  Regel  von  der  dissimilierenden  Wirkung 
des  vorausgehenden  Stammkonsonanten  abhängig.  Demnach  stehen 
sich  einerseits  pluralis,  ruralis,  muralis,  anderseits  singularis,  solaris, 
cappillaris  u.  a.  gegenüber^).  Progressive  Dissimilationen  bei  der 
Aufnahme  von  Fremdwörtern  sind  engl,  turtle  aus  turtur,  engl,  purple 
aus  purpura,  marble  aus  marmor  u.  a. 

Mit  der  Assimilation  und  Dissimilation  stehen  endlich  noch  ge- 
wisse andere  Veränderungen  der  Lautgestalt  der  Wörter,  nämlich 
die  Weglassung  und  Zufügung,  die  Umstellung  und  Zusammenziehung 
von  Lauten,  in  naher  Beziehung.  Unter  ihnen  sind  Weglassung,  Um- 
stellung imd  Zusammenziehung  offenbar  der  Assimilation,  und  zwar 
speziell  der  regressiven,   verwandt.     Denn  der  nämliche  Zusammen- 


1)  Graßmann,    Kuhns  Zeitschr.  für  vergl.   Sprachw.  XII,  1863,     S.   110  f. 

2)  Brugmann,   Kurze   vergl.    Grammatik  der  indogerm.    Sprachen,    1902, 
S.  39  ff.    M.  Grammont,  La  dissimilation  consonnantique  (Thöse  de  Paris),  1895. 

3)  Pott,  Etymologische  Forschungen,  2  II,  S.  96. 


424  Der  Lautwandel. 


hang  der  Rede,  der  auf  einen  gegebenen  Laut  einen  nachfolgenden 
einwirken  läßt,  wird  natürlich  auch  die  Ausstoßung  der  zwischen 
beiden  vorhandenen  Lautelemente  bewirken  können,  wobei  es  dann, 
da  das  einzelne  Wort  nicht  für  sich  allein  steht,  gleichgültig  ist,  ob 
die  ausgestoßenen  Teile  dem  Inlaut  oder  dem  An-  oder  Auslaut  an- 
gehören (Elision,  Aphäresis  und  Apokope  der  Grammatiker).  So 
ist  lat.  ne-unquam,  in  nunquam,  ante-ea  in  antea,  griech.  yevsQog  in 
yeveog,  xaglerat  in  xagLeoi,  im  Deutschen  tadelen  in  tadeln,  weralt 
in  werlt,  Welt,  oder  lat.  gnotus  in  notus,  historia  in  ital.  storia,  griech. 
ytQOVT  (Vokativ)  in  yegov ,  deutsch  herriro  in  herro,  herre,  Herr,  und 
ime,  ire  in  ihm,  ihr  übergegangen  usw.  Ähnlich  beruht  die  Umstellung 
(Metathesis)  auf  der  Antizipation  eines  folgenden  Lautes,  die  der  bei 
der  regressiven  Assimilation  beobachteten  analog  ist  imd  sich  nur 
durch  ihre  in  den  sonst  abweichenden  Bedingungen  begründete  Form 
der  Wirkung  unterscheidet:  so  in  den  Doppelformen  y-aQTSQog  und 
y.QareQog,  deutsch  Born  und  Bronn  ,, Brunnen",  ital.  formento  aus 
lat.  frumentum,  roman.  por,  pour  aus  lat.  pro.  Als  eine  Assimilation 
und  Elision  zugleich  läßt  sich  schließlich  die  Zusammenziehung  be- 
trachten, wie  rovvofxa.  aus  ib  ovof.ia,  nörunt  für  noverunt  usw.  Da- 
gegen ist  die  Zufügung  von  Lauten  nur  eine  modifizierte  Dissimi- 
lation: so  der  Übergang  von  griech.  'ÄaKXr]7Ti6g  in  lat.  Aesculapius, 
femer  die  Bildung  der  Formen  promptus,  sumptus  für  promtus,  sumtus 
usw.  Endlich  kann  auch  die  Elision  gleichzeitig  die  Bedeutung  einer 
Dissimilation  besitzen :  so  beim  Übergang  von  gr.  cpQarQia  in  (pargia, 
von  afu(pig)0Q6vg  in  ai^icpoQEvg,  wo  eben  durch  den  Wegfall  der  Laut- 
wiederholung die  dissimila torische  Wirkung  erzielt  wird. 


2.  Theorie  der  Kontaktwirkungen. 

a.    Ästhetische,     teleologische     und     psychologische 

Deutungen. 

So  klar  bei  allen  diesen  Erscheinungen,  bei  der  Assimilation, 
der  Dissimilation  und  den  ihnen  verwandten  Vorgängen  der  Aus- 
schaltung, Umstellung,  Kontraktion  und  Einfügung  von  Lauten  die 


Theorie  der  Kontaktwirkungen.  425 


äußeren  Bedingungen  der  Lautänderungen  in  Gestalt  bestimmter, 
unmittelbar  sich  berührender  oder  benachbarter  Laute  vor  Augen 
liegen,  so  wenig  hat  man  sich  bis  dahin  über  die  inneren,  physiolo- 
gischen oder  psychologischen  Ursachen  dieser  Erscheinungen  einigen 
können.  Die  alten  Grammatiker  sahen  den  Wohllaut  für  den  treiben- 
den Grund  an,  und  noch  heute  ist  diese  Meinung  nicht  ganz  verschwun- 
den, indem  man  euphonischen  oder  allgemeiner  ausgedrückt  ästhe- 
tischen Motiven  wenigstens  eine  mitwirkende  Bedeutung  zugesteht^). 
Diese  Annahme  ist  aber  nach  allem,  was  oben  über  die  Bedingungen 
des  Lautwandels  überhaupt  bemerkt  wurde,  unzulässig  (S.  376  ff.). 
Sie  ist  dies  nicht  deshalb,  weil  nicht  in  der  Tat  Sprachlaute  mehr 
oder  minder  wohlgefällige  Klang  Verbindungen  bilden  können,  son- 
dern weil  dies  eine  von  Bedingungen  objektiver  wie  subjektiver  Art 
abhängige  Nebenwirkung,  kaum  jemals  die  Ursache  des  Lautwechsels 
selbst  ist. 

Noch  länger  als  die  ästhetische  hat  sich  die  teleologische  Auf- 
fassung in  der  Form  der  ,, Bequemlichkeitstheorie"  erhalten  2).  Was 
oben  im  allgemeinen  von  ihrer  Anwendung'  auf  die  Erscheinungen 
des  Lautwandels  gesagt  wurde,  gilt  auch  hier  (S.  377  ff.).  Daß  die 
meisten  Assimilationen  und  Dissimilationen  eine  gewisse  ,, Erleichte- 
rung der  Artikulation"  mit  sich  führen,  ist  unbestreitbar.  Der  Fehler 
liegt  nur  darin,  daß  man  diesen  Erfolg  wieder  zur  Ursache  macht, 
was  er  unmöglich  sein  kann,  da  der  ,, Bequemlichkeitstrieb"  kein 
psychisches  Motiv  ist,  das  wir  als  solches  bei  den  sprachlichen  Vor- 
gängen eine  Rolle  spielen  sehen.  Entscheidend  sind  hier  vor  allem 
die  diesen  generellen  analogen  individuellen  Kontaktwirkungen, 
die  uns  bei  den  Erscheinungen  des  sogenannten  ,, Versprechens"  ent- 
gegentreten, und  die,  vollkommen  unwillkürlich  sich  einstellend, 
von  dem  Sprechenden  entweder  erst  nachträglich  oder  überhaupt 
nicht  bemerkt  werden  (S.  390  ff.).  Sind  diese  Erscheinungen  Wir- 
kungen eines  psychophysischen  Mechanismus,  bei  dem  von  zweck- 
tätigem Handeln  nicht  die  Rede  sein  kann,  so  muß  das  aber  auch 


1)  Vgl.  z.  B.  W.    Scherer,  Zur  Geschichte  der  deutschen  Sprache,  ^  S.  36. 

2)  Vgl.  z.  B.  G.  V.  d.  Gabelentz,  Die  Sprachwissenschaft,  1891,  S.  203  ff. 


426  Der  Lautwandel. 


von  dem  „kombinatorischen  Lautwandel"  der  Sprache  gelten,  der, 
abgesehen  davon,  daß  er  ein  genereller  ist,  offenbar  in  seinen  Ent- 
stehungsbedingungen mit  jenen  individuellen  Erscheinungen  zu- 
sammenfällt. Zudem  weist  unter  den  Tatsachen  der  sprachlichen 
Kontaktwirkungen  selbst  schon  das  auffallende  Übergewicht  der 
regressiven  Assimilation  oder  Dissimilation  in  den  uns  bekannten 
Kultursprachen  auf  solche  absichtslos  und  unbewußt  wirkende  Be- 
dingungen hin.  Denn  hier  liegt  es  überaus  nahe,  sich  der  Tatsache 
zu  erinnern,  daß  der  Fluß  unserer  Gedanken  meist  dem  Fluß  unserer 
Worte  vorauseilt.  Es  leuchtet  aber  ein,  daß  infolgedessen  eine  Artiku- 
lationsbewegung bereits  ausgeführt  oder  wenigstens  vorbereitet  wer- 
den kann,  ehe  sie  eigentlich  an  der  Reihe  ist-^). 

Da  nun  das  gleiche  Prinzip  auf  die  progressive  Assimilation  und 
Dissimilation  offenbar  keine  Anwendung  finden  kann,  so  griff  Stein- 
thal diesen  scheinbaren  Gegensatz  der  Erscheinungen  auf,  indem  er 
ihn  unmittelbar  auf  einen  Gegensatz  der  Bedingungen  selbst  bezog. 
War  es  ihm  auf  der  einen  Seite  unzweifelhaft,  daß  die  regressiven 
Kontaktwirkungen  auf  dem  der  Lautbewegung  vorauseilenden  Fluß 
der  Vorstellungen,  also  auf  einer  psychischen  Ursache  beruhten,  so 
glaubte  er  umgekehrt  schließen  zu  dürfen,  bei  allen  progressiven  sei 
eine  bloß  physische  Abhängigkeit  anzunehmen.  Demnach  unterschied 
er  zwischen  psychisch  und  physisch  bedingten  Vorgängen  der 
Lautattraktion.  Jenen  wies  er  die  regressiven,  diesen  die  progressiven 
Wirkungen  zu.  Indirekt  machte  er  für  die  letzteren  freilich  ebenfalls 
psychische  Motive  insofern  verantwortlich,  als  er,  der  hergebrachten 
„Bequemlichkeitstheorie"  sich  anschließend,  ,,Eile,  Nachlässigkeit 
und    Schlaffheit"    als    ihre    wesentlichsten    Ursachen    betrachtete^). 


^)  Der  erste,  der  in  diesem  Sinne  die  regressive  Assimilation  aufgefaßt 
hat,  scheint,  nach  einer  Bemerkung  W.  Scherers,  Th.  Jacobi  gewesen  zu  sein 
(Scherer,  Zur  Geschichte  der  deutschen  Sprache,^  S.  35).  Wie  sehr  er  sich  aber 
dabei  den  Vorgang  als  einen  rein  psychischen,  nicht  als  einen  psycho -physischen 
denkt,  erhellt  daraus,  daß  er  ihn  als  eine  „Antizipation  des  Ableitungs-  oder 
Endvokals  in  der  Vorstellung"  bezeichnet. 

2)  Steinthal,  Zeitschr.  für  Völkerpsychologie  und  Sprachwissenschaft, 
I,  1860,  S.  93  ff.     Vgl.  bes.  S.  125  f. 


Theorie  der  Kontakt  Wirkungen.  427 

Übrigens  scheinen  diese  Annahmen  noch  gegenwärtig  weit  verbreitet 
zu  sein^). 

Gleichwohl  läßt  sich  eine  solche  Gegenüberstellung  psychisch 
und  physisch  bedingter  Lautänderungen  nicht  aufrechterhalten. 
Gerade  hier  sind  die  normalen  und  pathologischen  ,,Lautvermen- 
gungen",  bei  denen  wir  uns  in  der  günstigen  Lage  befinden,  analoge 
Erscheinungen  in  ihrer  individuellen  Entstehung  verfolgen  zu  können, 
entscheidende  Belege  für  eine  andere  Auffassung  (vgl.  oben  S.  393  ff.). 
Nach  den  dort  gewonnenen  Ergebnissen  bildet  nämlich  nicht  nur  der 
dem  gesprochenen  Wort  vorauseilende  Verlauf  der  Vorstellungen 
ein  wesentliches  Moment  bei  der  Antizipation  von  Lauten,  sondern 
auch  dem  umgekehrten  Vorgang,  der  Einwirkung  vorausgehender 
auf  nachfolgende  Laute,  liegt  nicht  minder  ein  psychisches  Moment, 
eine  Nachwirkung  des  vorangegangenen  Klanges  im  Bewußtsein, 
zugrunde.  Ganz  besonders  die  auffallenden  Steigerungen  dieser  Nach- 
wirkung, wie  sie  in  pathologischen  Fällen  vorkommen,  bilden  hierfür 
überzeugende  Belege.  Freilich  ist  im  normalen  Bewußtsein  der  Kul- 
turvölker der  vorwärts  gerichtete  Drang  der  Vorstellungen  über- 
wiegend, und  die  Nachwirkungen  verschwinden  hier,  wenigstens 
beim  erwachsenen  Menschen,  verhältnismäßig  rasch.  Beim  Kinde 
aber  dauern  sie  weit  länger  an,  wie  das  starke  Übergewicht  progressiver 
Lautangleichungen  in  der  Kindersprache  zeigt  (S.  318).  Nicht  bloß 
bei  den  beiden  Formen  der  Assimilation,  sondern  auch  bei  der  Dissi- 
milation, sowie  bei  den  übrigen  hierher  gehörigen  Vorgängen  der  Ein- 
schaltung, Ausstoßung  und  Zusammenziehung  der  Laute  sind  nun 
assoziative  Einflüsse  als  notwendige  Bedingungen  vorauszusetzen. 
Bei  der  Ausstoßung  und  Zusammenziehung  ergibt  sich  das  schon 
aus  ihrer  engen  Beziehung  zur  regressiven  Assimilation.  Da  sie  eigent- 
lich nichts  anderes  sind  als  sehr  intensive  Wirkungen  der  nachfolgen- 


1)  Vgl.  z.  B.  Misteli  (Lautgesetz  und  Analogie,  Zeitschr.  f.  Völkerpsycho- 
logie usw.,  XI,  1880,  S.  388  ff.),  der  die  Möglichkeit  einer  merklichen  psychischen 
Tätigkeit  bei  der  progressiven  Assimilation  dadurch  für  widerlegt  hält,  daß 
dieselbe  entweder  einen  rückwärts  gekehrten  Ablauf  der  Lautbilder  oder 
ein  langsameres  Denken  als  Sprechen  voraussetzen  würde,  was  beides 
unmöglich  sei. 


428  Der  Lautwandel. 


den  Laute  auf  die  vorangehenden  (S.  395  ff.),  so  ist  natürlich  auch 
derselbe  Einfluß  der  vorauseilenden  Vorstellungsbewegung  nur  in 
höherem  Grade  anzunehmen.  Ebenso  setzt  die  Dissimilation  analoge 
psychische  Bedingungen  voraus.  Die  Wirkung  ist  hier  bloß  insofern 
verschieden,  als  sie  nicht  in  angleichendem,  sondern  in  differenzieren- 
dem Sinn  erfolgt.  Darum  ist  es  kein  wesentlich  anderer  Vorgang, 
der  supmits  in  summus,  agnus  in  angnus,  und  der  umgekehrt  sumtus 
in  sumptus  überführt,  oder  der  in  pluralis  und  singularis  die  gleiche 
Adjektivendung  jedesmal  in  abweichender  Richtung  gestaltet.  Man 
muß  sich  bei  allen  diesen  Erscheinungen  gegenwärtig  halten,  daß 
der  einzelne  Laut  nie  für  sich  allein,  sondern  immer  nur  in  dem  Zu- 
sammenhang einer  bestimmten  Lautfolge  im  Bewußtsein  existiert. 
Wie  der  rasche  Übergang  der  labialen  Tennis  in  den  entsprechenden 
Resonanzlaut  die  erstere  verschwinden  läßt  {supmus  in  summus), 
so  schiebt  sich  umgekehrt  bei  dem  Übergang  des  labialen  Resonanz- 
lauts in  die  dentale  Tennis  von  selbst,  und  um  so  leichter,  je  rascher 
der  Übergang  erfolgt,  zwischen  beide  die  labiale  Tennis  ein  (sumtus 
in  sumptus).  Ähnliche  Wirkungen  können  dann  aber  auch  über 
zwischenliegende  Laute  hinausreichen:  so  in  singularis,  pluralis,  mxirhle 
für  marmor  u.  dgl.,  wo  überall  der  Wechsel  zwischen  verwandten  und 
leicht  ineinander  übergehenden  Lauten  im  Vergleich  mit  der  Wieder- 
holung der  gleichen  Konsonanten  als  eine  bei  rascher  Artikulation 
unwillkürlich  sich  einstellende  Anpassung  an  den  Fluß  der  Rede  auf- 
tritt; daher  denn  auch  schon  bei  den  Erscheinungen  des  ,, Versprechens" 
und  ebenso  in  der  Kindersprache  solche  Dissimilationen  vermischt 
mit  Assimilationen,  Lautausstoßungen  und  -kontraktionen  vorkommen 
(S.  314  ff.). 

Der  Irrtum  Steinthals,  der  in  diesen  Fällen,  sobald  die  Wirkung 
regressiv  erfolgt,  einen  psychischen  Vorgang  sieht,  aber  in  progressiver 
Richtung  diesen  für  unmöglich  hält,  wurzelt  schließlich  in  einer  all- 
gemeineren psychologischen  Voraussetzung,  die  nach  allem,  was  wir 
aus  experimentellen  Ermittelungen  über  den  Verlauf  der  Bewußt- 
seinsvorgänge wissen,  falsch  ist:  in  der  Voraussetzung  nämlich,  daß 
in  einem  gegebenen  Augenblick  immer  nur  eine  einzige  Vorstellung 
im  Bewußtsein  anwesend  sei^).     Daraus  würde  sich  natürlich  eben- 


^)  Steinthal,  Einleitung  in  die  Psychol.  und  Sprachw.,  1871,  S.  134. 


Theorie  der  Kontaktwirkungen.  429 

sogut  die  Unmöglichkeit  einer  regressiven  wie  die  einer  progressiven 
Wirkung  folgern  lassen.  Denn  wäre  jeweils  nur  eine  Vorstellung 
möglicli,  so  würde  das  notwendig  der  im  Augenblick  ausgesprochene 
Laut  sein,  neben  dem  weder  ein  später  kommender  noch  ein  früher 
dagewesener  Platz  fände.  Steinthal  hatte  dieser  Folgerung  durch  seine 
Hypothese  der  „schwingenden  Vorstellungen"  zu  entgehen  versucht. 
Jeder  Satz  verläuft,  wie  er  meint,  ,, punktuell"  durch  unser  Bewußt- 
sein; aber  das  eben  gesprochene  Wort  kommt  nicht  sofort  mit  seinem 
Verschwinden  im  Unbewußten  zur  Ruhe,  sondern  es  befindet  sich 
noch  während  einer  gewissen  Zeit  im  erregten  Zustand.  Ebenso  seien 
die  kommenden  Worte  bereits  in  einer  gewissen  Bewegung  im  un- 
bewußten Hintergrund  der  Seele,  ehe  sie  ins  Bewußtsein  eintreten, 
so  daß  dadurch  auch  das  momentan  gesprochene  Wort  mit  dem  voraus- 
gehenden und  nachfolgenden  in  Verbindung  treten  könne  ^).  Dies 
würde  freilich  an  und  für  sich  wieder  ebensogut  eine  vorwärts  wie 
eine  rückwärts  gerichtete  Wirkung  erzeugen.  Aber  es  soll  dann  noch 
das  weitere  Moment  hinzukommen,  daß  der  psychische  Mechanismus 
der  Sprachorgane  bis  zu  einem  gewissen  Grade  selbständig  abläuft, 
wie  eine  aufgezogene  Uhr,  ohne  daß  er  in  jedem  Augenblick  mit  der 
Vorstellungsbewegung  gleichen  Schritt  halten  müßte.  Da  nun  die 
Gedanken  rascher  fließen  als  die  Worte,  so  soll  im  allgemeinen  der 
Vorstellungsverlauf,  für  dessen  Glieder  jener  Satz  von  der  punktuellen 
Ausdehnung  des  Bewußtseins  allein  gilt,  dem  Verlauf  der  Worte 
meist  um  eine  gewisse  Strecke  voraus  sein.  Dadurch  werde  dann  un- 
mittelbar die  regressive  Wirkung  als  eine  psychisch  bedingte  begreif- 
lich, wogegen  es  naheliege,  die  progressive  aus  eben  jener  Trägheit 
der  Artikulationsorgane  abzuleiten,  die  das  Vorauseilen  des  Gedanken- 
laufs möglich  mache  ^). 

Diese  ganze  Betrachtungsweise  steht  und  fällt,  wie  man  sieht, 
mit  der  Annahme  der  punktuellen  Enge  des  Bewußtseins.  Schon 
in  der  Hilfshypothese  der  ,, schwingenden  Vorstellungen"  liegt  aber 
eigentlich    das    Eingeständnis    der    Unhaltbarkeit    dieser    Annahme. 


1)  Ebenda  S.  237  ff.     Zeitschr.  für  Völkerpsych.  I,  S.  111. 

2)  Zeitschr.  f.  Völkerpsychol.  I,  S.  126  f. 


430  Der  Lautwandel. 


Denn  die  Tatsachen,  denen  zuliebe  sie  gemacht  ist,  beweisen  un- 
befangen betrachtet,  daß  es  eine  solche  punktuelle  Enge  nicht  gibt. 
Wie  ließe  es  sich  auch  sonst  begreifen,  daß  in  jedem  Augenblick  einer 
zusammenhängenden  Rede  die  Prägung  des  Gedankens  offenbar 
nicht  bloß  durch  die  momentan  ausgedrückte  Vorstellung,  sondern 
gleichzeitig  durch  die  vorangehenden  und  die  nachfolgenden  bestimmt 
wird  ?  Die  Lehre  von  den  „schwingenden  Vorstellungen"  ist  hier  nur 
ein  Notbehelf,  um  diese  Tatsache  mit  der  Hypothese,  der  sie  in  Wahr- 
heit widerspricht,  zu  vereinigen.  Denn  das  Wesen  dieser  ,, schwingen- 
den Vorstellungen"  besteht  eigentlich  darin,  daß  den  unbewußten 
Vorstellungen  die  bekannten  Wirkungen  der  bewußten  zugeschrieben 
werden.  Woher  wissen  wir  aber,  daß  sie  nicht  im  Bewußtsein  sind? 
Offenbar  bloß  daraus,  daß  wir  sie  nicht  ohne  weiteres  bemerken  können. 
Das  würde  aber  immer  nur  rechtfertigen,  sie  als  unbemerkte  zu 
bezeichnen,  das  heißt  anzunehmen,  neben  den  klarer  bewußten,  über 
die  wir  uns  deutliche  Rechenschaft  geben,  seien  auch  noch  andere, 
dunklere  vorhanden.  Daß  dies  im  Fluß  der  gesprochenen  Rede  in 
der  Regel  teils  diejenigen  Wort-  und  Begriffsvorstellungen  sein  wer- 
den, die  den  unmittelbar  deutlich  aufgefaßten  vorausgehen,  teils 
diejenigen,  die  ihnen  nachfolgen,  liegt  auf  der  Hand.  Auch  steht  dies 
mit  den  Beobachtungen,  die  wir  unter  den  zur  Entscheidung  dieser 
Frage  geeignetsten  experimentellen  Bedingungen  machen  können, 
im  Einklang.  Bei  momentaner  Einwirkung  einer  größeren  Anzahl 
von  Gesichtseindrücken  unterscheiden  wir  neben  dem  sehr  beschränkten 
Umfang  deutlich  apperzipierter  Reize  andere,  die  dunkler  aufgefaßt 
werden,  und  noch  andere,  bei  denen  wir  nur  noch  ein  unbestimmtes 
Dasein  im  Bewußtsein  konstatieren  können.  Lassen  wir  Taktschläge 
in  regelmäßigen  Zeitintervallen  einwirken,  so  läßt  sich  die  Grenze 
feststellen,  wo  plötzlich  eine  Zusammenfassung  der  vorhergegangenen 
mit  den  gegenwärtigen  nicht  mehr  möglich  ist,  weil  jene,  dunkler 
imd  dunkler  werdend,  schließlich  den  Umfang  des  Bewußtseins  über- 
schreiten ^).   Aber  nicht  bloß  diese  auf  ganz  anderem  Wege  gewonnenen 


^)  Grundriß   der   Psychologie/*    S.    254  ff.        Vgl.    auch    unten   Kap.  V, 
Nr.  n. 


Theorie  der  Kontaktwirkungen.  431 


Beobachtungen  beweisen  die  Undurchführbarkeit  der  Hypothese 
von  der  „punktuellen  Enge  des  Bewußtseins",  auch  die  Erscheinungen 
selbst,  die  der  Fluß  der  Rede  darbietet,  sind  unterstützende  Zeugnisse 
gegen  jene  offenbar  nicht  aus  Beobachtungen,  sondern  aus  der  meta- 
physischen Hypothese  einer  punktuellen  Unteilbarkeit  der  Seele 
herstammende  Voraussetzung.  In  dem  Augenblick,  in  dem  ich  einen 
Satz  auszusprechen  beginne,  steht  das  Ganze  des  Gedankens  schon 
in  allgemeinen  Umrissen,  mit  etwas  deutlicherer  Ausprägung  einzelner 
Hauptvorstellungen,  vor  mir;  und  in  dem  Augenblick,  in  dem  ich  den 
Satz  vollendet  habe,  überblicke  ich  meist  noch  einmal  dieses  Ganze, 
während  sich  oft  gleichzeitig  schon  der  folgende  Gedanke  unbestimmt 
ankündet  ^).  Dabei  ist  von  einem  Hin-  und  Herschwingen  abwechselnd 
über  die  Schwelle  des  Bewußtseins  tretender  und  wieder  unter  sie 
sinkender  Vorstellungen  absolut  nichts  zu  bemerken,  sondern  der 
ganze  Vorgang  spielt  sich  in  der  Regel  vollkommen  stetig  und  ruhig 
ab,  und  als  besonders  charakteristisches  Symptom  der  dunkler  be- 
wußten Inhalte  tritt  überall  nur  ihr  Einfluß  auf  die  Gefühlslage 
hervor. 


b.  Psychophysische    Theorie    der    Lautinduktion. 

Nach  allen  oben  erörterten  Tatsachen  kann  es  nicht  zweifelhaft 
sein,  daß  ein  im  Fluß  der  Rede  auftretender  Sprachlaut  einem  dop- 
pelten psychischen  Einfluß  ausgesetzt  ist:  einerseits  der  Wir- 
kung, welche  die  nachfolgenden,  teilweise  selbst  schon  in  sprachlicher 
Form  im  Bewußtsein  anklingenden  Vorstellungen  auf  ihn  ausüben, 
anderseits  aber  auch  der  Nachwirkung,  die  von  dem  gesprochenen 
Wort  im  Bewußtsein  zurückgeblieben  ist.  Welcher  dieser  beiden  Ein- 
flüsse überwiegt,  oder  ob  beide  in  gewissem  Grade  sich  mischen,  das 
hängt  natürlich  von  besonderen  Bedingungen  individueller  oder  ge- 
nereller Art  ab.  In  diesem  Sinn  ist  daher  die  Erscheinung,  daß  in 
bestimmten  Sprachen  die  regressive  und  in  andern  ebenso  ausgeprägt 
die  progressive  Richtung  der  Veränderungen  vorwaltet,  zu  beurteilen. 


1)  Weiteres  hierüber  in  Kap.  V,  Nr.  III,  5,  und  in  Kap.  VII. 


432  I^er  Lautwandel. 


Eigentlich  ist  dieser  Unterschied  selbst  schon  ein  Zeugnis  dafür,  daß 
auch  bei  der  progressiven  Form  psychische  Bedingungen  nicht  fehlen 
können.  Denn  ein  solcher  fast  zum  Gegensatze  sich  zuspitzender 
Unterschied  läßt  sich  doch  kaum  anders  als  aus  einer  verschiedenen 
psychischen  Anlage  begreifen.  Wo  die  regressive  Assimilation  vor- 
herrscht, wie  bei  den  Indogermanen,  da  wird  man  annehmen  müssen, 
daß  die  Gedankenbewegung  vorzugsweise  vorwärts,  den  kommenden 
Vorstellungen  zugewandt  sei.  Jene  Tendenz  nach  wachsender  Ge- 
schwindigkeit des  Kedeflusses,  wie  sie  sich  als  Produkt  der  intellek- 
tuellen Kultur  eingestellt  hat,  mußte  zugleich  die  vorwärts  eilende 
Richtung  erzeugen,  die  in  der  Rückwirkung  der  kommenden  Laute 
auf  die  vorangegangenen  ihren  Ausdruck  findet.  In  dieser  Hinsicht 
ist  es  bedeutsam,  daß  sich  in  den  älteren  Formen  der  indogermanischen 
Sprachen  noch  am  häufigsten  Erscheinungen  der  entgegengesetzten, 
progressiven  Wirkung  vorfinden  (S.  422  f.),  und  daß  diese  noch  heute 
in  der  Sprache  des  Kindes  fast  die  alleinherrschende  ist  (S.  318). 
Nicht  minder  ist  es  charakteristisch,  daß  sie  als  bleibende  Erscheinimg 
ganz  besonders  in  Sprachgebieten  vorkommt,  in  denen  überhaupt 
eine  Neigung  zu  Lautwiederholungen  besteht  (S.  422).  Die  progressive 
Wirkung  selbst  wird  man  daher  im  allgemeinen  als  die  ursprüng- 
lichere ansehen  dürfen.  Die  ,, Vokalharmonie'*  ist  eben  nur  ein  spe- 
zieller Fall  von  Lautwiederholung.  Nun  kann  man  die  letztere  in  ihren 
sonstigen,  bereits  in  das  Gebiet  der  Wortbildungsprozesse  herein- 
reichenden Formen  unmöglich  für  einen  bloß  „leiblich-mechanischen" 
Vorgang  halten.  Schon  durch  diesen  Zusammenhang  wird  also  eigent- 
lich die  Annahme  eines  rein  physischen  Ursprungs  der  vorwärts  ge- 
richteten Lautwirkungen  widerlegt^). 


1)  Eine  im  obigen  Sinne  psychologische,  in  einigen  Punkten  der  hier  ge- 
gebenen ähnliche  Erklärung  hat,  wie  ich  einer  Notiz  von  Sievers  (Grundzüge 
der  Phonetik,«  S.  252)  entnehme,  bereits  Böthlingk  (Jen.  Lit.-Ztg.  1874,  S.  767) 
von  der  verschiedenen  Richtung  der  Lautwirkungen  bei  dem  „kombinatorischen 
Lautwandel"  gegeben:  „Ein  indogermanisches  Wort",  sagt  er,  „ist  in  dem  Maß 
eine  wirkliche  Einheit,  daß  der  Sprechende  schon  beim  Hervorbringen  der  ersten 
Silbe  das  ganze  Wort  sozusagen  im  Geist  ausgesprochen  hat.  Nur  auf  diese  Weise 
ist  es  zu  erklären,  daß  zur  Erleichterung  der  Aussprache  einer  nachfolgenden 
Silbe  schon  die  vorangehende  modifiziert  wird.     Ein  Individuum  der  ural-al- 


Theorie  der  Kontaktwirkungen.  433 

Verfolgt  man  die  Assoziationswirkungen  in  ihren  einzelnen  For- 
men bei  den  verschiedenen  Kontakterscheinungen  der  Sprache,  so 
zeigen  sich  nun  aber  schließlich  doch  besonders  in  den  elementaren 
Prozessen,    welche    die    komplexen    Assoziationen    zusammensetzen, 


taischen  Völkergruppe  stößt,  unbekümmert  um  das  Schicksal  des  Wortes,  die 
erste  Silbe  desselben,  den  Träger  des  Haupt  begriff  s,  ohne  weiteres  heraus;  an 
diese  reiht  er  dann  die  weniger  bedeutsamen  Silben  in  etwas  roher  Weise  an, 
indem  er  gleichsam  erst  in  dem  Augenblick  an  Abhilfe  denkt,  wenn  er  nicht  mehr 
weiter  kann."  Zu  dem  ersten  Teil  dieser  Erklärung  bemerkt  Sievers  mit  Recht, 
daß  man  ihr  im  allgemeinen  zustimmen  könne,  jedoch  mit  der  Einschränkung, 
daß  von  einem  „Bestreben  nach  Erleichterung"  nicht  geredet  werden  sollte, 
da  wirklich  und  bewußt  die  Assimilationen  nicht  seien.  Auch  beschränkt  sich, 
wie  aus  den  oben  angeführten  Beobachtungen  hervorgeht,  das  Vorauseilen  der 
Vorstellungen  keineswegs  auf  die  Teile  des  nämlichen  Wortes.  Weiterhin  bedarf 
aber  diese  Schilderung  des  Bewußtseinszustandes  bei  der  progressiven  Assimi- 
lation insofern  der  Richtigstellung,  als  eine  „Abhilfe"  im  Augenblick  der  Aus- 
sprache nicht  vorliegt,  da  man  unter  dieser  doch  wiederum  nur  ein  willkürliches 
zwecktätiges  Handeln  verstehen  kann.  Bei  der  „Vokalharmonie"  stellt  sich 
vielmehr  ein  dem  vorangegangenen  gleicher  Klang  lediglich  deshalb  ein,  weil 
er  unmittelbarer  dem  Bewußtsein  gegenwärtig  ist  als  der  in  einem  andern  Laut- 
gebilde von  sonst  gleicher  Bedeutung  gebrauchte.  In  sev-mek  wird  also  z.  B. 
der  vokalische  Inlaut  des  Suffixes  unmittelbar  von  dem  vorangegangenen  Stamm- 
vokal attrahiert,  und  nur  die  konsonantischen  Bestandteile  folgen  der  ganzen 
Gruppe  übereinstimmender  Suffixe  von  gemeinsamer  Lautform,  wie  lak-maJc, 
mä-mäk  usw.  Es  würde  aber  unberechtigt  sein,  dies  auf  eine  besondere  Träg- 
heit des  Redenden  zurückzuführen.  Sie  beruht  darauf  jedenfalls  ebensowenig 
wie  die  verwandte  Eischeinimg  der  Wortwiederholung,  die  im  Gegenteil,  wie 
wir  sehen  werden,  meist  aus  einem  Trieb  nach  energischer  Betonung  der  Vor- 
stellungen hervorgeht.  Eher  wird  man  sagen  können,  die  progressive  Assimi- 
lation sei  die  natürliche  und  darum  ursprüngliche  Form  der  Lautwirkung,  so- 
lange nicht  durch  die  zunehmende  Schnelligkeit  der  Gedankenbewegung  eine 
relativ  stärkere  Wirkung  der  kommenden  Laute  auf  die  vorangehenden  ein- 
getreten ist.  Dafür  spricht  vor  allem  auch  ihr  Übergewicht  in  der  frühesten 
Kindersprache.  In  diesem  Sinne  würde  sie  also  in  ihrer  einseitigen  Ausbildung 
als  ein  Zeichen  primitiverer  geistiger  Kultur  zu  deuten  sein,  wobei  freilich  be- 
achtet werden  muß,  daß  von  einem  gewissen  Punkt  an  die  Sprache  stabiler  wird, 
so  daß  daher  der  Zustand  einer  Sprache  nicht  den  Zustand  der  heutigen  Kultur 
eines  Volkes,  sondern  denjenigen  spiegelt,  in  dem  jene  letzte  Stabilisierung  der 
Wortformen  eingetreten  ist.  Auch  ist  nicht  zu  vergessen,  daß  die  Ursachen  der 
progressiven  wie  der  regressiven  Attraktionserscheinungen  fortan  in  jedem  Sprach- 
bewußtsein nebeneinander  wirksam  bleiben,  daher  denn  beide  nebeneinander 
bestehen  können,  wobei  nur  eine  verschieden  starke  Neigung  in  der  einen  oder 
andern  Richtung  nachzuweisen  ist.     Ein  Zeugnis  hierfür  ist  das  Rumänische, 

Wandt,  Völkerpsychologie.    I.    4.  Aufl.  28 


434  Der  Lautwandel. 


charakteristische  Unterschiede  bei  den  Assimilationen  und  Dissimi- 
lationen einerseits,  bei  den  regressiven  und  progressiven  Lautinduk- 
tionen anderseits.  Bei  den  Assimilationen  ist  unter  allen  Umständen 
die  Assoziationswirkung  eine  direkte:  der  induzierende  Laut  ist 
in  dem  Augenblick,  wo  er  auf  den  induzierten  einwirkt,  im  Bewußt- 
sein derart  aktuell,  daß  er  sich  entweder  ganz  an  die  Stelle  des  ur- 
sprünglich vorhandenen  Lautes  drängt  oder  diesen  in  seinem  Laut- 
charakter sich  angleicht.  Die  assoziativen  Elementarwirkungen  sind 
also  hier  wesentlich  Gleichheitsassoziationen,  und  wo  eine  völlige 
Angleichung  nicht  zustande  kommt,  da  ist  dies  nur  darauf  zurück- 
zuführen, daß  der  ursprüngliche  Laut  noch  eine  partielle  Nebenwirkung 
geltend  macht,  —  zugleich  ein  Fall,  der  besonders  deutlich  die  Ent- 
stehung einer  solchen  ,,Ahnlichkeitsassoziation"  aus  einer  Mischung 
gleicher  und  verschiedener  Elementarwirkungen  verdeutlicht.  Dem- 
nach sind  die  Lautassimilationen  psychologisch  betrachtet  simul- 
tane Assoziationen.  Der  induzierende  Laut  verdrängt  den  indu- 
zierten ganz  oder  teilweise,  ohne  daß  in  dem  Moment,  wo  sich  die  Asso- 
ziation vollzieht,  etwas  anderes  als  die  vollendete  Wirkung  derselben 
im  Bewußtsein  ist:  der  Vorgang  ist  so  auch  im  psychologischen  Sinn 
eine  „Assimilation",  da  wir  mit  dem  letzteren  Namen  eben  eine 
solche  simultane  Assoziation  von  Elementen  eines  und  desselben 
Sinnesgebiets  verstehen^).  Nicht  ganz  so  einfach  liegen  die  Verhält- 
nisse bei  den  Dissimilationen.  Dies  hat  aber  offenbar  darin  seinen 
Grund,  daß  man  unter  diesem  Namen  überhaupt  ziemlich  verschieden- 
artige Erscheinungen  zusammenfaßt.  Vor  allem  lassen  sich  hier 
wohl  drei  Gruppen  solcher  Erscheinungen  unterscheiden,  je  nach- 
dem gleichzeitig  Lautverlust  oder  aber  Lautwechsel  ohne  Laut- 
verlust oder  endlich  Lautvermehrung  mit  oder  ohne  Lautwechsel 
stattfindet. 


in  welchem  die  Vokaiharmonie  in  beiden  Formen  ziemlich  häufig  ist  (Ad.  Storch, 
Vokalharmonie  im  Rumänischen,  Diss.  Leipzig  1899),  während  sie  in  andern 
romanischen  Sprachen  selten  und  nur  in  regressiver  Richtung  vorzukommen 
scheint  (Meyer-Lübke,  I,  S.  286  f.).  Daß  übrigens  bei  den  Rumänen  die  Nach- 
barschaft der  Türken  und  Magyaren  mit  ihrer  progressiven  Vokalassimilation 
eingewirkt  hat,  ist  wohl  nicht  zu  bezweifeln. 
1)  Grundriß  der  Psychologie,   i^  g.  274  ff. 


Theorie  der  Kontakt  Wirkungen.  435 

Der  erste  dieser  Fälle,  die  dissimilatorische  Elision,  nähert 
sich  in  seinen  Bedingungen  am  meisten  der  Assimilation.  Wie  bei 
der  letzteren  ein  vorangehender  und  ein  folgender  Laut  miteinander 
zu  einem  einheitlichen  Lautgebilde  verschmelzen,  so  verdrängt  bei 
jener  der  eine  den  andern  ganz  aus  dem  Bewußtsein,  indem  sich  unter 
der  Wirkung  des  vorandrängenden  Vorstellungsverlaufs  die  Artiku- 
lationsorgane auf  einen  folgenden  Lautkomplex  einstellen,  ehe  noch 
der  momentan  erzeugte  vollständig  hervorgebracht  ist.  Von  den 
sonstigen  im  raschen  Redefluß  entstehenden  Elisionen  unterscheidet 
sich  die  dissimilatorische  nur  dadurch,  daß  bei  ihr  der  Ausfall  durch 
die  folgende  Wiederholung  des  gleichen  Lautes  unterstützt  wird, 
wie  in  (pargla  für  cpqaTQiay  ai.iq)OQBVQ  für  a}-icpicpoQEvg,  semestris  für 
semimestris,  gratulari  für  gratitulari  usw.  Alle  diese  Fälle  reichen  in 
das  Gebiet  der  Wortbildung  durch  Wortzusammensetzung  hinüber. 
Indem  bei  dieser  die  Beschleunigung  des  Redeflusses  eine  wesent- 
liche Rolle  spielt,  erklärt  es  sich  zugleich,  daß  hier  die  Veränderung 
durchweg  in  regressiver  Form  erfolgt.  So  finden  sich  denn  zahlreiche 
Analoga  nicht  nur  in  den  Erscheinungen  des  Versprechens,  sondern 
auch  in  denen  des  Verschreibens,  wo  das  wiederholte  Vorkommen 
desselben  Buchstabens  eine  besonders  häufige  Ursache  von  Elisionen 
ist. 

Der  zweite  Fall  ist  die  eigentliche  Dissimilation,  eine  Laut- 
induktion, bei  der  von  zwei  gleichen  in  kurzem  Abstand  sich  wieder- 
holenden Lauten  der  eine  nach  einer  abweichenden,  aber  verwandten 
Lautgruppe  hin  verändert  wird,  wie  z.  B.  "^d^qacpto  in  TQscpco,  d^r]Qr]Ti]Q 
in  S^f]lrjT7]Q,  venenum  in  veleno,  turtur  in  turtle  usw.  Auch  hier  setzt 
die  Erscheinung,  ebenso  wie  die  Lautassimilation,  eine  assoziative 
Wechselwirkung  der  aufeinander  folgenden  Lautgebilde  voraus:  ohne 
diese  würde  ein  momentan  noch  nicht  ausgesprochener  Laut  ebenso- 
wenig dissimilativ  wie  assimilativ  wirken  können.  Während  er  aber 
bei  der  Assimilation  die  Artikulationsbewegung  unmittelbar  nach 
sich  zieht,  modifiziert  er  diese  bei  den  dissimila torischen  Lautänderungen 
im  Sinn  eines  erleichterten  Übergangs  auf  einen  andern  dominierend 
gewordenen  und  deshalb  der  Veränderung  widerstehenden  Laut.  Bei 
der  eigentlichen  Dissimilation  gewinnt  dann  die  relative  Asso- 
ziationskraft  der   in   Wechselwirkung   tretenden   Laute   den    ent- 

28» 


436  Der  Lautwandel. 


scheidenden  Einfluß:  der  durcli  Assoziationshilfen  widerstandskräf- 
tigere Laut  bleibt  bestehen,  der  schwächere  verändert  sich.  Hieraus 
ergibt  sich  meist  sofort  die  Kichtung  der  dissimilierenden  Wirkung. 
So  entsteht  einerseits  singularis  durch  Assoziation  mit  singuli,  an- 
derseits aber  pluralis  durch  Assoziation  mit  plures.  Natürlich  wird 
übrigens  dieser  Unterschied  der  assoziativen  Hebung  auch  bei  den 
dissimilatorischen  Elisionen  in  der  Regel  eine  mitwirkende  Rolle 
spielen.  So  wird  z.  B.  in  einem  Wort  wie  aixq)icpoQBvg  der  zweite 
Bestandteil  durch  die  gleichzeitige  Assoziation  von  Laut  und  Be- 
deutung mit  g)OQ€vg,  cpoga  usw.  gehoben.  Sobald  daher  das  zusammen- 
gesetzte Wort  zu  einer  neuen  Worteinheit  verschmolzen  ist,  kann  das 
Ganze  leicht  zu  cc/iKpoQevg,  unmöglich  aber  etwa  zu  ^df^q)iQSvg  ver- 
stümmelt werden.  Man  wird  demnach  den  Unterschied  der  Wirkungen 
zwischen  Assimilation  und  Dissimilation  auch  darauf  zurückführen 
können,  daß  bei  der  Assimilation  der  Einzellaut  als  solcher,  bei  der 
Dissimilation  der  ganze  Lautkomplex,  in  dem  jener  das  herrschende 
Element  bildet,  assoziativ  wirksam  wird.  Damit  stimmt  überein, 
daß  namentlich  die  konsonantischen  Assimilationen  häufiger  im  un- 
mittelbaren Kontakt  der  Laute,  die  entsprechenden  Dissimilationen 
aber  erst  auf  größere  Entfernungen  hin  zu  wirken  pflegen ;  und  hiermit 
hängt  offenbar  wieder  zusammen,  daß  eigentlich  nur  die  Assimila- 
tionen reine  Kontakterscheinungen  sind,  während  bei  den  Dissimila- 
tionen bereits  Fernewirkungen,  nämlich  Assoziationen  mit  andern 
Wortgebilden,  mitspielen^). 


1)  An  assoziative  Ferne  Wirkungen  hat  wohl  auch  Brugmann  gedacht, 
wenn  er  die  Dissimilation  darauf  zurückführt,  daß  ein  Sprachgebilde  „durch 
andere  mit  ihm  assoziierte  nicht  in  allen  Teilen  die  genügende  »etymologische'  " 
Belichtung  habe.  (Kurze  vergleichende  Grammatik  S.  40,  vgl.  auch  Ber.  der 
Sachs.  Ges.  d.  Wiss.,  Phil.-hist.  Kl.  1900,  S.  394  ff.,  und  Grundriß,  I,  S.  850  ff.). 
Analog  Grammont  (a.  a.  0.),  wenn  er  die  Dissimilation  „la  loi  du  plus  fort"  nennt. 
Vgl.  Wechssler,  Gibt  es  Lautgesetze  ?  S.  155  ff.  Psychologisch  scheint  es  mir 
auch  hier  geboten,  den  mögHcherweise  der  Mißdeutung  ausgesetzten  Begriff 
des  Etymologischen  ganz  aus  dem  Spiel  zu  lassen,  überdies  aber  die  Bedingungen 
der  stärkeren  Wirkung  positiv  auszudrücken:  dann  bestehen  diese  eben  darin, 
daß  die  eine  ,, Lautung"  gegenüber  der  andern  durch  Hilfsassoziationen  gehoben 
und  darum  zur  dominierenden  geworden  ist.  Dasselbe  gilt  natürlich  für  die  spär- 
lichen Fälle  rein  vokalischer  Dissimilationen:  so  wenn  z.  B.  societas  nicht  in  aso- 


Theorie  der  Kontaktwirkungen.  437 

Der  dritte  Fall,  die  dissimilatorische  Einschaltung,  kommt 
teils  im  unmittelbaren  Kontakt  der  Laute  in  der  Form  einer  dem 
natürlichen  Mechanismus  der  Bewegungen  folgenden  konsonantischen 
Übergangsartikulation  vor,  wie  in  sumptus  für  sumtus,  teils  in  der 
Form  vokalischer  Zwischenlaute  zwischen  zwei  Konsonanten,  wie 
in  lat.  Aesculapius  für  gr.  ÄGyi},r]7ri6g,  poljoies.  igolide  für  engl,  gold, 
franz.  canif  für  niederl.  knijf  (Messer),  lansequenet  für  deutsch  lands- 
knecht  u.  a.  ^).  Wie  diese  Beispiele  lehren,  finden  sich  solche  Laut- 
einschaltungen, ebenso  wie  die  ihnen  entgegengesetzten  Elisionen  und 
Lautverstümmelungen,  besonders  häufig  bei  der  Aufnahme  von 
Fremdwörtern,  wo  dann  neben  der  Anpassung  an  die  gewohnte  Ar- 
tikulationslage der  Sprachorgane  wohl  auch  noch  Assoziationen  mit 
geläufigen  Wortvorstellungen  der  eigenen  Sprache  einwirken  können, 
etwa  bei  Aesculapius  solche  mit  Wörtern  wie  aes,  aesculus  usw.  Auch 
die  Kindersprache  ist  reich  an  Einschaltungen,  die  durch  die  Ver- 
hältnisse ^  ihres  Vorkommens  sowie  durch  ihre  häufige  Verbindung 
mit  der  Elision  schon  darauf  hinweisen,  daß  bei  ihnen  die  rein  me- 
chanische Seite  der  Artikulation  die  Hauptrolle  spielt,  indes  die  ge- 
legentlich mitwirkende  assoziative  Angleichung  an  andere  Wörter 
auch  hier  die  Erscheinung  den  assoziativen  Fernewirkungen 
nähert. 

Während  so  die  Assimilation  und  Dissimilation  der  Laute  nur 
äußerlich  als  Gegensätze  erscheinen,  innerlich  aber,  nach  den  sie  be- 
stimmenden psychophysischen  Bedingungen,  einander  nahe  verwandt 
sind,  ist  dies  wesentlich  anders  bei  den  über  jene  beiden  sich  verteilen- 
den   Gruppen   regressiver   und    progressiver   Kontaktwirkungen. 


ciitas  (vgl.  novitas)  übergegangen  ist,  wo  die  Assoziation  mit  socius  erhaltend 
auf  das  erste  i  eingewirkt  haben  wird.  Übrigens  kommt,  wie  dieses  Beispiel  zeigt, 
die  vokalische  Dissimilation,  im  Gegensatze  zur  konsonantischen,  vorzugsweise 
im  unmittelbaren  Kontakt  der  Laute  vor,  wogegen  umgekehrt  die  vokalische 
Assimilation  (die  sogenannte  Vokalharmonie)  in  die  Entfernung,  die  konsonan- 
tische Assimilation  im  unmittelbaren  Kontakt  der  Laute  wirkt,  ein  doppelter 
Gegensatz,  der  aus  den  Bedingungen  der  Lautartikulation  in  beiden  Fällen  leicht 
erklärlich  ist. 

^)  Weitere  Beispiele  aus  romanischem  Sprachgebiet  s.  bei  Wechssler,  Gibt 
es  Lautgesetze  ?     S.  153  f. 


438  Der  Lautwandel. 


Indem  bei  den  ersteren  der  Laut  noch  nicht  als  akustischer  Eindruck 
vorhanden  ist,  wohl  aber  sich  die  ihm  entsprechende  Artikulations- 
bewegung bereits  stark  zum  Bewußtsein  drängt,  ist  bei  ihnen  die  Ar- 
tikulationsempfindung der  in  der  Lautkomplikation  dominierende 
Bestandteil,  neben  dem  zwar  der  akustische,  vermöge  seiner  innigen 
Assoziation  mit  jener  Empfindung,  nicht  fehlt,  aber  doch  verhält- 
nismäßig zurücktritt.  Umgekehrt  verhält  es  sich  bei  den  progressiven 
Erscheinungen.  Hier  wirkt  mehr  als  die  vorangegangene  Artikula- 
tionsempfindung des  induzierenden  Lautes  dieser  selbst  als  unmittel- 
barer akustischer  Eindruck  nach.  Daraus  erklärt  es  sich,  daß  die  re- 
gressive Wirkung  bei  den  Assimilationen  vorzugsweise  die  für  die 
Bewegungsempfindung  deutlichsten  Lautelemente,  die  Konsonanten, 
die  progressive  die  akustisch  wirksamsten,  die  Vokale,  trifft.  Wie 
aber  auf  diese  Weise  die  psychische  Wirkung  eines  Lautes  stets 
eine  zweiseitige  ist,  ebenso  hat  jeder  eine  rückwärts  und  eine  vorwärts 
gerichtete  physische  Wirkung,  die  von  der  Einübung  bestimmter 
Lautverbindungen  abhängt.  Auch  physiologisch  ist  ja  der  ein- 
zelne Sprachlaut  nichts  für  sich  allein  Bestehendes,  sondern,  wie  er 
nur  in  konkreten  Wortverbindungen  vorkommt,  so  wird  er  in  diesen 
Verbindungen  je  nach  ihrer  relativen  Häufigkeit  mehr  oder  minder 
fest  eingeübt.  Ganz  abgesehen  von  dem  Vorauseilen  der  Vorstellungen 
stellen  sich  also  schon  infolge  dieser  mechanischen  Einübung  oft  ver- 
bundener Bewegungen  die  Sprachorgane  bereits  auf  einen  kommen- 
den Laut  ein,  während  der  gegenwärtige  eben  erst  ausgesprochen 
wird.  Damit  tritt  dann  von  selbst  je  nach  Umscänden  eine  Angleichung 
des  gesprochenen  Lautes  an  einen  folgenden,  oder  die  völlige  Elimi- 
nation eines  solchen,  oder  endlich,  wenn  der  Übergang  der  Artiku- 
lationen einen  Wechsel  der  Lautbewegungen  begünstigt,  eine  Dissimi- 
lation ein.  Alle  Kontaktwirkungen  finden  auf  diese  Weise  in  dem 
Prinzip  der  mechanischen  Einübung  oft  verbundener 
Bewegungen  ihre  physiologische  Erklärung.  Eine  solche  Übung 
wird  aber  wieder  um  so  merklicher  sein,  je  redegeübter  im  allgemeinen 
ein  Volk,  und  je  mehr  es  zu  rascher  Verkettung  der  Laute  beanlagt 
ist.  So  begreift  sich  auch  von  dieser  Seite  aus  die  Bevorzugung  der 
regressiven    Veränderungen,    besonders    der    Assimilationen    in    den- 


Theorie  der  Kontaktwirkungen.  439 

jenigen  Sprachen,  deren  Entwicklungsgeschiclite  auf  eine  früli  er- 
rungene Kultur  hinweist.  Dieses  physische  und  das  oben  erwähnte 
psychische  Moment  werden  sich  nun  voraussichtlich  bei  allen  regressiven 
Kontaktwirkungen  als  parallel  laufende  Erscheinungen  verbinden, 
was  nicht  ausschließt,  daß  im  einzelnen  Fall  bald  mehr  das  eine,  bald 
mehr  das  andere  in  den  Vordergrund  tritt.  Dies  ist  darum  möglich, 
weil  die  mechanische  Einübung  dazu  führt,  daß  Artikulationen  zu- 
sammen eingeübt  und  infolgedessen  automatisch  verbunden  werden, 
ohne  daß  die  Lautvorstellung  stets  gleichen  Schritt  damit  hält.  Nament- 
lich werden  wir  daher  voraussetzen  dürfen,  daß  bei  den  Kontakt- 
wirkungen unmittelbar  aufeinander  folgender  Laute  dies  mechanische 
Moment  zur  Hervorbringung  des  Lautwechsels  genügt,  ohne  daß 
dasselbe  in  merklichem  Grade  von  einer  Vorausnahme  der  Laut- 
vorstellungen begleitet  zu  sem  braucht.  Wo  dagegen  eine  regressive 
Assimilation  oder  Dissimilation  über  zwischenliegende  Laute  hinaus 
stattfindet,  da  wird  im  allgemeinen  die  Wirkung  stets  als  eine  psy- 
cho physische  in  dem  Sinn  aufzufassen  sein,  daß  die  bloße  mecha- 
nische Einübung  immer  nur  direkt  aneinander  grenzende  Bewegungen 
zu  völliger  oder  teilweiser  Verschmelzung  bringen  kann,  während 
eine  rückläufige  Wirkung,  die  weitere  Strecken  umspannt,  nicht  ohne 
eine  gleichzeitige  Vorausnahme  der  Vorstellungen  möglich  ist.  Dazu 
können  dann  endlich  noch  Assoziationen  mit  außerhalb  stehenden, 
aber  laut-  oder  bedeutungsverwandten  Wortgebilden,  also  assoziative 
Fernewirkungen,  treten.  Sie  erweisen  sich  besonders  bei  den  dissimi- 
la torischen  Lautänderungen  wirksam,  indem  sie  hier  durch  die  Fixierung 
eines  dominierenden  Lautgebildes  für  die  Richtung  der  Dissimilation 
bestimmend  werden. 

Wie  bei  den  regressiven,  so  sind  nun  aber  auch  bei  den  progressiven 
Kontaktwirkungen  physische  Bedingungen  wohl  überall  von  mit- 
wirkender Bedeutung.  Ist  es  dort  die  Einübung  oft  verbundener 
Artikulationen,  so  kann  es  hier  die  Einstellung  auf  eine  soeben  aus- 
geführte Bewegung  sein,  die  den  Einfluß  ausübt.  So  schwierig  eine 
Lautbewegung  an  sich  sein  mag,  einmal  ausgeführt  kommt  sie  wesent- 
lich leichter  zustande.  Das  Symptom  unvollkommener  Übung  in 
irgendeiner  Klasse  mechanischer  Leistungen  pflegt  sich  daher  stets 


440  I^er  Lautwandel. 


in  der  Neigung  zur  Wiederholung  der  zuletzt  ausgeführten  Bewegungen 
zu  äußern.  Bis  zu  einem  gewissen  Grade  bleibt  natürlich  diese  Neigung 
auch  bei  fortgeschrittener  Übung  erhalten.  Demnach  übt  fortwährend 
auch  physisch  ein  vorangegangener  Laut  eine  Art  Attraktionswirkung 
auf  einen  nachfolgenden  aus.  Dies  zeigt  zugleich,  daß  die  progressiven 
Assimilationen  auch  vom  Gesichtspunkte  der  physischen  Einübung 
aus  die  primitiveren,  einer  ursprünglicheren  Stufe  sprachlicher  Übung 
entsprechenden  Formen  sind.  Die  allgemeinen  Anlagen  zu  ihnen 
bleiben  aber  fortan  bestehen,  so  daß  sie  nicht  sowohl  direkt  als  in- 
direkt, durch  den  wachsenden  Einfluß  der  Einübung  zusammen- 
gesetzter Artikulationsverbindungen,  in  den  Hintergrund  gedrängt 
werden. 

Hiernach  läßt  sich  das  Ergebnis  dieser  Analyse  dahin  zusammen- 
fassen, daß  bei  jeder  Art  dieser  Erscheinungen  psychische  und  phy- 
sische Ursachen  zusammenwirken.  Dabei  gehören  die  psychischen 
Ursachen  zu  jenen  elementaren  Assoziationswirkungen,  ver- 
möge deren  jeder  psychische  Vorgang  nach  zwei  Richtungen  hin 
in  assoziativen  Beziehungen  stehen  kann  und  in  der  Regel  auch  wirk- 
lich steht,  wenngleich  die  eine  Richtung  durch  das  Übergewicht  der 
andern  kompensiert  zu  werden  pflegt.  Die  physischen  Ursachen 
fallen  dagegen  in  das  Gebiet  der  Übungsvorgänge,  mid  zwar 
sind  die  regressiven  Erscheinungen  als  Folgen  der  Mit  Übung 
bestimmter  Artikulationsbewegungen  mit  andern,  mit  denen  sie 
oft  verbunden  waren,  die  progressiven  als  Folgen  jener  un- 
mittelbaren Übung  aufzufassen,  die  eine  Wiederholung  der  Be- 
wegung erleichtert. 


Allgemeine  Formen  assoziativer  Fernewirkung.  441 


IV.  Assoziative  Fernewirkungen  der  Laute. 

1.  Allgemeine  Formen  assoziativer  Ferne  Wirkung. 

Von  „Fernewirkungen  der  Laute"  werden  wir,  wenn  wir  diesen 
Begriff  im  Verhältnis  zu  den  Nahe-  oder  Kontaktwirkungen  be- 
stimmen, überall  da  reden  können,  wo  gewisse  Lautelemente  eines 
Wortes  nicht  durch  andere,  im  selben  oder  in  einem  angrenzenden 
Wort  vorkommende  Laute  beeinflußt  werden,  sondern  wo  sich  irgend- 
ein im  Augenblick  nicht  unmittelbar  gegebenes  Wort  oder  eine  ent- 
sprechende Wortsippe  als  der  Grund  der  Lautänderung  herausstellt. 
Auch  auf  die  Fernewirkungen  können  wir  daher,  um  die  Richtung 
derselben  anzugeben,  die  oben  gebrauchte  Unterscheidung  indu- 
zierender und  induzierter  Laute  anwenden.  Dabei  ist  aber,  wenn 
eine  solche  Fernewirkung  zwischen  zwei  Wörtern  oder  Wortgruppen 
annehmbar  sein  soll,  stets  erforderlich,  daß  dieselben  in  irgendeinem 
Verhältnis  stehen,  das  eine  Assoziation  zwischen  ihnen  ermöglicht. 
Denn  daß  eine  Lautinduktion  zwischen  Wörtern,  die  durch  den  un- 
mittelbaren Zusammenhang  der  Rede  gar  nicht  verbunden  sind,  an- 
ders als  durch  Vermittelung  bestimmter  psychischer  Assoziationen 
zustande  komme,  erschein u  hier  von  vornherein  ausgeschlossen.  Auch 
unter  dieser  Voraussetzung  kann  übrigens  die  Frage,  ob  eine  bestimmte 
assoziative  Beziehung  wirklich  stattgefunden  habe,  im  einzelnen  Falle 
zweifelhaft  bleiben,  weil  eben  hier  immer  nur  der  Effekt  einer  In- 
duktionswirkung gegeben  ist,  während  die  induzierenden  Momente 
selbst  bloß  erschlossen  werden  können.  Dieser  Schluß  kann  nun 
namentlich  deshalb  unsicher  sein,  weil  teils  mehrere  induzierende 
Momente,  teils  andere  verändernde  Bedingungen  möglicherweise  im 
gleichen  Sinne  wirken.  Schon  über  die  tatsächlichen  Beziehungen 
der  Erscheinungen,  die  einer  psychologischen  Interpretation  zugrunde 
zu  legen  sind,  bleiben  darum  hier  nur  mehr  oder  minder  wahrschein- 
liche Aufstellungen  möglich.  Diese  werden  sich  jedoch  um  so  mehr 
der  Grenze  der  Gewißheit  nähern,  je  zahlreichere  einander  ähnliche 
Fälle  für  eine  bestimmte  Form  der  Beziehung  aufgefunden  werden 
können,  und  je  größer  die  psychologische  Wahrscheinlichkeit  ist,  daß 


442  Der  Lautwandel. 


gewisse    Wörter,    zwisclien    denen    eine    Femewirkung    angenommen 
wird,  wirklicli  miteinander  assoziiert  werden. 

Die  Sprachwissenscliaft  hat  sämtliche  Erscheinungen  solcher 
assoziativer  Fernewirkungen  der  Laute  ,, Analogiebildungen"  genannt, 
ein  Ausdruck,  der  den  äußeren  Erfolg  der  Wirkung,  freilich  aber  auch 
nur  diesen,  vollkommen  treffend  bezeichnet.  Bei  jeder  Analogie- 
bildung wirkt  irgendein  Wort  so  auf  ein  anderes  ein,  daß  dieses  ihm 
in  seinem  Lautcharakter  analog  wird.  Besser  noch  als  ,, Analogie- 
bildung'' deutet  daher  auch  der  ebenfalls  oft  gebrauchte  Ausdruck 
„Angleichung"  die  äußere  Beschaffenheit  des  Vorgangs  an.  Zugleich 
weist  er  aber  darauf  hin,  daß  den  Analogiebildungen  unter  den  Kon- 
taktwirkungen die  ,, Assimilationen"  am  nächsten  stehen.  Wie  diese 
als  Angleichungen  benachbarter  Laute,  so  können  jene  als  ,,Angleichun- 
gen  durch  fernewirkende  Assoziation"  definiert  werden.  Der  Arten 
solcher  Angleichung  können  wir  dann  im  allgemeinen  zwei  unter- 
scheiden: die  eine  wollen  wir  als  ,, Angleichung  grammatischer  Formen" 
oder  kürzer  als  ,, grammatische  Angleichung",  die  andere  als  „An- 
gleichung nach  logischen  Beziehungen  der  Begriffe"  oder  als  ,, be- 
griff liehe  Angleichung"  bezeichnen.  Jede  dieser  Arten  läßt  sich  wieder 
in  zwei  Unterarten  zerlegen:  die  grammatische  Angleichung  in  die 
„Angleichung  verschiedener  grammatischer  Formen  desselben  Wortes", 
wir  wollen  sie  kurz  die  „innere  grammatische  Angleichung"  nennen, 
und  in  die  ,, Angleichung  übereinstimmender  grammatischer  Formen 
verschiedener  Wörter",  sie  sei  die  „äußere  grammatische  Angleichung" 
genannt.  Die  zweite  Hauptform,  die  ,, begriff  liehe  Angleichung", 
zerfällt  ebenfalls  in  zwei  Gruppen  von  Erscheinungen:  die  eine  wird 
durch  ,, Angleichung  an  Wörter  von  verwandter  Bedeutung",  die  an- 
dere durch  „Angleichung  an  Wörter  von  gegensätzlicher  Bedeutung" 
gebildet;  jene  mögen  abkürzend  „Angleichungen  durch  Ähnlichkeit", 
diese  ,, Angleichungen  durch  Kontrast"  genannt  werden^). 


1)  Von  den  genannten  Klassen  der  ,, Analogiebildung"  hat  ursprünglich 
die  erste  vorzugsweise  die  Aufmerksamkeit  der  Sprachforscher  auf  sich  gelenkt. 
Hier  hat  zuerst  H.  Paul  die  oben  erwähnten  beiden  Unterarten  scharf  geschieden. 
Die   Angleichung   verschiedener  grammatischer   Formen   desselben  Wortes  an- 


Grammatische  Angleichungen,  443 

2.  Grammatische  Angleichungen. 

a.  Innere  grammatische  Angleichungen. 

Unter  diesen  verschiedenen  Formen  von  Angleichungsvorgängen 
stehen  die  inneren  grammatischen  Angleichungen  offenbar 
den  im  unmittelbaren  Kontakt  der  Laute  erzeugten  Lautassimila- 
tionen am  nächsten.    Zwar  treffen  die  induzierend  aufeinander  wirken- 


einander  nennt  er  „Analogiebildung  durch  stoffliche  Ausgleichung'',  die  An- 
gleichung  übereinstimmender  grammatischer  Formen  verschiedener  Wörter 
„Analogiebildung  durch  formale  Ausgleichung",  weil  dort  der  Wortkörper  selbst 
eine  Ausgleichung  ursprünglicher  Lautunterschiede  zeige,  während  hier  bloß 
zwischen  formal  zusammengehörigen  Wörtern  verschiedenen  Stoffes  die  aus- 
gleichende Wirkung  stattfinde.  (Paul,  in  den  Beiträgen  zur  Geschichte  der 
deutschen  Sprache  und  Literatur,  herausgegeben  von  Paul  und  Braune,  VI, 
1879,  S.  7  ff.)  Wesentlich  auf  der  Grundlage  dieser  Panischen  Unterscheidung 
haben  dann  H.  Osthoff,  Das  physiologische  und  psychologische  Moment  in  der 
sprachlichen  Formenbildung,  1879,  S.  22  ff.,  und  Wheeler,  Analogy  and  the 
scope  of  its  application  in  language  (Cornell  University,  Studies  in  classical  Phi- 
lology),  1887,  p.  8  ff.,  die  Analogiebildungen  behandelt.  Ich  habe  es  vorgezogen, 
um  den  Unterschied  von  der  zweiten  Klasse  dieser  Erscheinungen  kenntlich  zu 
machen,  beide  Gruppen  unter  der  Benennung  der  „grammatischen  Angleichungen" 
zusammenzufassen.  Übrigens  sei  schon  hier  bemerkt,  daß  diese  Unterscheidung 
nur  eine  vorläufige  ist,  da,  wie  wir  unten  sehen  werden,  in  den  einzelnen  Fällen 
die  „inneren"  und  die  „äußeren"  Assoziationsmomente  stets  zusammenwirken, 
und  es  sich  also  höchstens  um  ein  Übergewicht  der  einen  oder  der  andern  Rich- 
tung handeln  kann.  Die  „begrifflichen  Angleichungen"  sind  in  ihrer  Bedeutung 
für  die  Lautentwicklung  besonders  von  K.  Brugmann  hervorgehoben  und  in 
die  beiden  Formen  der  ,,Angleichung  gegensätzlicher  Begriffe"  und  der  „An- 
gleichung  infolge  von  Begriffs  Verwandtschaft"  unterschieden  worden  (Brug- 
mann, Grundriß  der  vergleichenden  Grammatik  der  indogermanischen  Sprachen, 
1886  bis  1893,  vgl.  den  Sachindex  unter  ,,Angleichung"  und  die  dabei  angeführten 
einzelnen  Stellen  des  Textes).  Unter  den  gleichen  Gesichtspunkten  behandelt 
M.  Bloomfield  eine  Reihe  von  ihm  so  genannter  ,, Assimilationen  und  Adapta- 
tionen" (American  Journal  of  Philology,  XII,  1891,  p.  14  ff.,  XVI,  1895,  p.  420  ff.). 
Ebenso  W.  Meyer-Lübke  speziell  für  das  Gebiet  der  romanischen  Sprachen, 
Gramm,  der  rom.  Spr.,  I,  1890,  II,  1894:  siehe  die  Sachregister  unter  „Anbildung" 
und  ,,Angleichung".  Vom  experimentell-psychologischen  Standpunkte  aus  be- 
handeln diese  Erscheinungen  A.  Thumb  und  K.  Marbe,  Experimentelle  Unter- 
suchungen über  die  psychologischen  Grundlagen  der  sprachlichen  Analogie- 
bildungen, 1901,  und  A.  Thumb,  Psychologische  Studien  über  die  sprachlichen 


444  Der  Lautwandel. 


den  Laute  niclit  im  selben  Worte  zusammen,  aber  sie  geboren  Wörtern 
an,  die  als  Ableitungen  aus  einem  und  demselben  Wortstamm  einander 
so  nahe  stehen,  daß  die  Gelegenheit  zur  Assoziation  dieser  Wortformen 
fortwährend  geboten  ist,  daher  denn  auch  hier  verhältnismäßig  am 
wenigsten  ein  Zweifel  über  die  Existenz  und  Richtung  wirklicher 
Assoziationen  obwalten  kann.  Wenn  z.  B.  der  Plural  des  Präteritums 
von  sterben  aus  dem  noch  im  älteren  Neuhochdeutsch  vorkommen- 
den stürben  in  starben  übergegangen  ist,  so  hat  sichtlich  der  Singular 
starb  hier  eine  angleichende  Wirkung  ausgeübt.  Umgekehrt,  wenn 
im  Präteritum  zu  werden  die  ältere  Singularform  ward  gegenwärtig 
zwar  nicht  ganz  verschwimden,  aber  doch  durch  die  neue  Form  wurde 
zurückgedrängt  ist,  so  hat  hier  der  Plural  wurden  induzierend  gewirkt. 
Ähnliche  Umwandlungen  sind  ich  hörte,  aus  dem  mittelhochd.  ich 
horte  durch  Angleichung  an  das  Präsens  ich  höre  entstanden,  du  fliegst^ 
er  fliegt,  du  kriechst,  er  hriecht  aus  du  fleugst,  er  fleugt,  du  kreuchst,  er 
kreucht  durch  Angleichung  an  ich  fliege,  ich  krieche.  Oder  das  Adjek- 
tivum  rauh  statt  des  älteren  rauch  durch  Angleichung  an  den  Kom- 
parativ rauher  usw.  In  manchen  dieser  Fälle  sind  die  ursprünglichen 
Formen  nicht  vollständig  durch  die  neuen,  durch  Angleichung  gebil- 
deten verdrängt  worden,  sondern  sie  bestehen  für  gewisse  Nuancen 
des  Begriffs,  wie  ward  neben  wurde,  oder  in  der  poetischen  Redeweise, 
wie  fleugt  neben  fliegt,  noch  fort.  Nicht  selten  begegnen  wir  ferner 
solchen  Wortformen,  die  in  der  Art  ihres  Gebrauchs  derart  zwie- 
spältig sind,  daß  sich  bei  ihnen  die  induzierende  Wirkung  und  das 
Beharrungsvermögen  der  ursprünglichen  Form  die  Wage  zu  halten 
scheinen,  wie  in  gesendet  neben  gesandt,  gewendet  neben  gewandt  usw. 
Auf  früheren  Stufen  der  Sprachentwicklung  scheinen  die  inneren 
grammatischen  Angleichungen  namentlich  auch  bei  jener  allmäh- 
lichen Reduktion  der  Kasusformen  der  Nomina,  der   Genera,   Tem- 


Analogiebildungen,  Indogermanische  Forschungen,  Bd.  22,  1907,  S.  1  ff.  Der 
psychologische  Standpunkt  dieser  Arbeiten  weicht  von  dem  im  folgenden  zur 
Geltung  gebrachten  hauptsächlich  in  der  Auffassung  des  Assoziationsbegriffs 
ab,  den  die  genannten  Autoren  im  wesentlichen  in  seiner  hergebrachten,  wie 
ich  glaube  absolut  unhaltbar  gewordenen  Form  festhalten.  Vgl.  hierzu  Physiol. 
Psychol.  III,»  S.  502  ff.  und  Kleine  Schriften,  Bd.  2,  S.   182  ff. 


Grammatische  Angleichungen.  445 

pora  und  Modi  des  Verbums  beteiligt  zu  sein,  die  z.  B.  in  den  indo- 
germanischen Sprachen  einen  durchgehenden  Zug  bildet^).  Zuweilen 
ist  hier  wohl  die  Angleichung  der  Laute  verschiedener,  ursprünglich 
nach  Begriff  wie  Laut  abweichender  Formen  das  Primäre  gewesen. 
Nachdem  sich  erst  der  Lautunterschied  verwischt  hatte,  wurde  dann 
auch  der  begriffliche  Unterschied  allmählich  verdunkelt,  was  freilich 
nur  geschehen  konnte,  indem  an  die  Stelle  des  ursprünglich  durch 
die  Flexionsform  ausgedrückten  konkreten  Begriffsverhältnisses  ein 
allgemeineres  trat.  So  hat  mutmaßlich  diese  zunächst  den  äußeren 
Lautkörper  der  Worte  treffende  Assoziationswirkung  in  ihren  Folgen 
eine  indirekte  Wirkung  auch  auf  die  Entwicklung  der  Begriffe 
ausgeübt. 

b.  Äußere  grammatische  Angleichungen. 

Wesentlich  anders  verhält  es  sich  nach  Bedingungen  wie  Wir- 
kungen mit  den  äußeren  grammatischen  Angleichungen. 
Indem  bei  ihnen  nicht  verschiedene  Abwandlungsformen  eines  und 
desselben  Wortes,  sondern  umgekehrt  analoge  grammatische  Formen 
verschiedener  Wörter  zueinander  in  Beziehung  treten,  ist  die  indu- 
zierende Wirkung  an  und  für  sich  eine  entferntere,  kann  aber  dadurch 
verstärkt  werden,  daß  sie  von  einer  größeren  Zahl  von  Wörtern  aus- 
geht. So  hat  sich  im  Neuhochdeutschen  die  Genitivendung  -es  vom 
Gebiet  der  Nominalstämme  mit  ursprünglich  vokalischem  Auslaut 
zum  Teil  auf  das  der  konsonantischen  Stämme  ausgedehnt.  Nach 
Analogie  der  Formen  des  Tages,  des  Wolfes  usw.  sagen  wir  statt  des 
älteren  des  Vater,  des  Bruder  jetzt  des  Vaters,  des  Bruders;  ebenso 
haben  die  alten  Genitive  des  Hahnen,  des  Schwanen  den  neuen  des 
Hahnes,  des  Schwanes  Platz  gemacht.  Anderseits  freilich  fehlt  es  auch 
nicht  an  der  umgekehrten  Induktionswirkung,  wenn  sie  gleich  die 
seltenere  ist:  statt,  wie  im  älteren  Neuhochdeutschen,  des  Hirtes, 
des  Rabens  heißt  es  jetzt  des  Hirten,  des  Raben.  Vielleicht  ist  hier  zu- 
nächst die  Angleichung  an  andere  einen  Stand  oder  einen  Beruf  aus- 


1)  Vgl.  Kap.  VI,  Nr.  II  und  III. 


446  Der  Lautwandel. 


drückende  Wörter  der  schwachen  Deklination,  wie  des  Grafen,  des 
Boten,  wirksam  gewesen.  In  nicht  wenigen  Fällen  schwankt  übrigens 
auch  dann  wieder  die  Form  zwischen  verschiedenen  Wirkungen,  wie 
in  des  Nachbars  und  des  Nachbarn,  des  Bauers  und  des  Bauern,  des 
Bares  imd  des  Bären.  Eine  weitere  Angleichung  dieser  Art  besteht 
darin,  daß  der  in  gewissen  Fällen  regelmäßig  bestehende  Umlaut  des 
Plurals  auf  den  Plural  anderer  Nomina,  dem  er  ursprünglich  nicht 
zukommt,  eingewirkt  hat.  So  hatte  gast  ursprünglich  den  Plur.  gasti, 
was  durch  regressive  Assimilation  in  nhd.  Gäste  überging,  und  danach 
sind  dann  Plurale  wie  Wölfe,  Vögel,  Acker  gebildet  worden.  Nicht 
minder  zahlreich  sind  ähnliche  Angleichungsvorgänge  im  Gebiet 
verbaler  Formen.  Im  ganzen  ist  auch  hier  der  Übergang  der  sogenannten 
starken  in  die  schwachen  Formen  überwiegend.  So  sind  er  buk,  rnuhl, 
glomm,  boll  in  er  backte,  mahlte,  glimmte,  bellte  übergegangen.  Doch 
stehen  dem  auch  Angleichungen  umgekehrter  Richtungen  gegenüber 
wie  prieSf  statt  preiste,  frug  statt  fragte.  Des  öfteren  finden  sich  solche 
Übergänge  und  Mischformen  auch  in  Dialekten,  wie  gelitten  statt  ge- 
läutet, gewunken  statt  gewinkt.  In  den  meisten  dieser  Fälle  ist  es  augen- 
fällig, daß  ein  bestimmtes  Wort,  das  auf  ein  anderes  mutmaßlich  ein- 
gewirkt haben  könnte,  nicht  anzugeben  ist:  er  buk  kann  in  er  backte 
unter  der  Einwirkung  von  machte,  brachte  ebenso  wie  von  lebte,  legte 
usw.,  er  preiste  in  er  pries  unter  der  von  ließ  wie  von  gab,  ging,  stand 
usw.  übergegangen  sein.  Höchstens  wird  man  vermuten  dürfen,  daß 
den  im  Klang  ähnlicheren  Wörtern  eine  intensivere  Wirkung  zukam, 
daß  also  ließ  mehr  auf  pries  eingewirkt  haben  mag  als  gab  oder  stand, 
machte  mehr  auf  backte  als  lebte  oder  lobte.  Im  ganzen  aber  wird  in 
jedem  einzelnen  Falle  solch  äußerer  Angleichung  eine  von  unbestimmt 
vielen  Wörtern  ausgehende  Attraktion  anzunehmen  sein,  wobei  natür- 
lich die  Wirkung  bald  in  gleichem,  bald  in  entgegengesetztem  Sinne 
stattfinden  konnte.  Im  letzteren  Fall  kann  sie  dann  leicht  zur  Bildung 
von  Doppelformen  führen,  die  entweder  als  rein  lautliche  Schwan- 
kungen bestehen  bleiben  oder  sich  mit  einer  Differenzierung  dei  Be- 
griffe verbinden.  Da  solche  verschieden  gerichtete  Attraktionen  bei 
den  äußeren  grammatischen  Angleichungen  natürlich  ungleich  häufiger 
vorkommen  als  bei  den  inneren,  während  diese  leichter  zur  Reduktion 


Grammatische  Angleichungen.  447 

grammatischer  Formen  und  dadurch  zum  Zusammenfließen  gewisser 
Begriffsverhältnisse  führen,  so  hat  die  äußere  Angleichung  wohl  häufiger 
den  Erfolg  einer  Neubildung,  namentlich  in  den  älteren  Stadien 
der  Sprachentwicklung,  in  denen  solche  Prozesse  einen  weiteren  Spiel- 
raum einnehmen^). 

Erscheinen  nach  dieser  Richtung  der  Assoziationen  innere  und 
äußere  grammatische  Angleichung,  so  verwandt  sie  nach  der  Natur 
der  psychischen  Vorgänge  sind,  gewissermaßen  als  Gegensätze,  so 
werden  sie  nun  aber  dadurch  wieder  einander  näher  gerückt,  daß 
jeder  Vorgang  der  einen  Art,  z.  B.  jede  zwischen  den  Abwandlungen 
eines  und  desselben  Wortes  sich  bewegende  Assoziation,  auch  Vor- 
gänge der  andern  Art,  Assoziationen  mit  den  analogen  Abwandlungs- 
formen anderer  Wörter,  nahelegt,  und  ebenso  umgekehrt.  Hat  sich 
also  auch  der  Plural  stürben  zunächst  durch  Angleichung  an  den  Sin- 
gular starb  in  starben  umgewandelt,  so  können  immerhin  andere  im 
Inlaut  übereinstimmende  Singular-  und  Pluralformen  wie  gab — gaben, 
machte — machten,  legte — legten  usw.  als  äußere  Hilfskräfte  mitgewirkt 
haben.  Und  wenn  auf  der  andern  Seite  bei  der  äußeren  Angleichung 
auf  die  Umwandlung  von  Bildungen  wie  buJc,  muhl,  glomm  in  backte, 
mahlte,  glimmte  in  erster  Linie  die  analogen  Abwandlungsformen  anderer 
Wortstämme,  wie  machte,  brachte,  dachte  usw.  eingewirkt  haben  werden, 
so  läßt  sich  doch  die  Annahme  nicht  abweisen,  daß  nebenbei  auch  eine 
Art  innerer  Angleichung  stattgefunden  habe,  indem  die  Präsensformen 
backe,  mahle,  glimme  auf  jene  Formen  des  Präteritums  herüberwirkten 
und  zu  ihrem  allmählichen  Verschwinden  beitrugen.  Denn  psycho- 
logisch betrachtet  steht  jede  Wortform,  sobald  es  sich  überhaupt 
um  assoziative  Fernewirkungen  handelt,  unter  dem  Einfluß  unab- 
sehbar vieler  Attraktionskräfte,  die  von  den  zu  ihr  in  Beziehung  stehen- 
den Vorstellungsresiduen  ausgehen.  Daß  solche  assoziative  Beziehungen 
innere  wie  äußere  sein  können,  das  lehrt  gerade  die  Existenz  der  beiden 


^)  Zahlreiche  Beispiele  für  die  Reduktion  wie  Neubildung  grammatischer 
Formen  infolge  solcher  Assoziationen  vgl.  bei  Brugmann,  Grundriß,  unter  „Ana- 
logiebildung'* und  für  das  Englische  bei  Wheeler,  Analogy,  p.  12,  21  ff.,  für  diei^ 
romanischen  Sprachen  bei  Meyer-Lübke,  II,   S.   403  ff.,  426  ff. 


448  Der  Lautwandel. 


Hauptformen  sogenannter  „Analogiebildungen".  Da  aber  im  all- 
gemeinen bei  jeder  äußeren  Angleicbung  immer  zugleich  irgendwelche 
Motive  einer  inneren  und  ebenso  bei  jeder  inneren  solche  einer  äußeren 
tatsächlich  obwalten,  so  sind  wir  gezwungen  anzunehmen,  daß  beide 
assoziative  Fernewirkungen  immer  ineinander  eingreifen,  und 
daß  sich  im  einzelnen  Fall  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  nur  ihre 
relative  Stärke  unterscheidet,  während  bei  der  inneren  An- 
gleichung  die  äußere  und  bei  der  äußeren  die  innere  als 
Hilfswirkung  hinzukommt. 


3.  Begriffliche  Angleichungen. 

a.  Angleichung  durch  Begriffsverwandtschaft, 

Von  den  zumeist  vorzugsweise  unter  dem  Begriff  der  ,, Analogie- 
bildungen'' zusammengefaßten  Wirkungen  und  Wechselwirkungen 
der  grammatischen  Abwandlungsformen,  die  sich  deutlich  bis  in  das 
gegenwärtige  Leben  der  Sprache  herab  verfolgen  lassen,  unterscheiden 
sich  die  begrifflichen  Angleichungen  schon  äußerlich  dadurch, 
daß  ihre  Wirksamkeit  wohl  durchweg  entweder  in  eine  frühere  Zeit 
der  Sprachentwicklung  oder,  sofern  sie  einer  späteren  Periode  an- 
gehören, in  Zeiten  rascher  Umbildung  durch  Einwirkung  von  Volks- 
dialekten, Sprachmischungen  u.  dgl.  fällt.  Dies  begreift  sich  leicht, 
da  es  sich  hier  um  Lautumwandlungen  handelt,  die  zumeist  in  die 
Vorgänge  der  Wortbildung  selbst  eingreifen,  und  bei  denen  daher 
das  Wort  als  solches  gewissermaßen  noch  im  Flusse  der  Entwicklung 
begriffen  ist.  So  treten  uns  namentlich  Bezeichnungen  für  korrelative 
Begriffe  schon  in  früher  Zeit  oft  in  lautlich  verwandten  Formen  ent- 
gegen, die  wegen  dieses  Parallelismus  von  Laut  und  Begriff  mit  großer 
Wahrscheinlichkeit  auf  eine  ursprüngliche  Angleichung  durch 
Ähnlichkeit  der  Bedeutung  zurückgeführt  werden  können.  Als 
sicher  erwiesen  kann  aber  freilich  der  Angleichungsvorgang  nur  dann 
gelten,  wenn  das  eine  Glied  eines  solchen  Wortpaars  auf  einer  älteren 
Stufe  nachgewiesen  werden  kann,  wo  es  jene  Lautähnlichkeit  noch 
nicht  besaß,  und  namentlich  läßt  sich  auch  nur  in  diesem  Fall  die 


Begriffliche  Angleichungen.  449 

Richtung  bestimmen,  in  der  die  induzierende  Wirkung  stattfand. 
So  haben  sich  wahrscheinlich  schon  in  urindogermanischer  Vorzeit 
die  Endungen  der  Namen  für  Schwester  und  Bruder,  *su€sdr  und 
*hhraiör,  sowie  für  Vater  und  Mutter,  pater  und  tnater,  in  Angleichung 
aneinander  gebildet.  Ähnlich  scheinen  vielfach  die  Lautformen  der 
verschiedenen  Personalpronomina,  des  Ich,  Du,  Er,  einander  angeglichen 
zu  sein.  So  lassen  die  drei  Personen  in  den  ural-altaischen  Sprachen, 
wie  im  Lappischen  mon — ton — son,  im  Magyarischen  en — te — ö,  deut- 
lich eine  Angleichung  des  Vokalklangs  erkennen,  wobei  jedoch  die 
auf  den  konsonantischen  Lauten  ruhende  Verwandtschaft  der  ver- 
schiedenen Sprachen  älter  ist  als  die  im  allgemeinen  auf  eine  engere 
Sprachgruppe  beschränkte  Analogie  der  Vokalklänge.  In  den  indo- 
germanischen Sprachen  sind  bei  der  allmählichen  Reduktion  der 
Kasusformen  des  Nomens  neben  grammatischen  Lautangleichungen 
jedenfalls  auch  Assoziationen  nach  begrifflicher  Verwandtschaft  wirk- 
sam gewesen^).  Besonders  ausgeprägt,  namentlich  in  bezug  auf  die 
Richtung  der  stattgehabten  Angleichung,  erscheinen  die  Wirkungen 
dieser  Vorgänge  bei  gewissen  Verbal-  und  Nominalformen  von  ähn- 
licher Bedeutung,  aber  abweichender  Abstammung,  wenn  das  eine 
der  begriffsverwandten  Wörter  in  einer  Lautmodifikation  vorkommt, 
die  auf  die  angleichende  Wirkung  des  andern  zurückgeführt  werden 
kann.  So  hat  gr.  agvco  ,, schöpfe"  die  Nebenform  agvoatj,  die  unter 
der  Wirkung  von  aq)voGCü  ,, schöpfe"  entstanden  zu  sein  scheint.  So 
ist  ferner  (pdqvy^  für  ein  ursprüngliches  (fccQv^  „Schlund"  eingetreten, 
offenbar  durch  Angleichung  an  ^ctQvy^  ,, Kehlkopf".  So  hat  sich  ferner 
ital.  furneccio  ,, Diebstahl"  wahrscheinlich  nach  ladroneccio,  franz. 
rougeole  ,, Röteln"  nach  veröle  ,, Pocken"  gebildet  usw. 

b.  Angleichung  durch  Kontrast  der  Begriffe. 

Noch  häufiger  scheint  die  zweite  Form  begrifflicher  Angleichung 
zu  sein,  die  nach  Kontrast  der  Begriffe.  Sie  findet,  wie  das  die 
Natur  des  logischen  Gegensatzes  mit  sich  bringt,  regelmäßig  zwischen 
Gliedern  eines  Begriffspaars  statt,  was  bei  der  vorigen  Form  zwar 


1)   Vgl.  Kap.  VI,   Nr.   IL 

W  HD  dt,  Völkerpsychologie.    1.    4.  Aufl.  ^*^ 


450  I^er  Lautwandel. 


ebenfalls  vorkommen  kann,  aber  doch  nicht  überall  zutrifft.  Übrigens 
bildet  der  Kontrast  auch  hier  gelegentlich  nur  einen  Grenzfall  der 
Verwandtschaft,  insofern  eine  Angleichung  durch  Gegensatz  bloß 
stattfinden  kann,  wenn  sich  die  gegensätzlichen  Begriffe  als  die  End- 
glieder eines  und  desselben  Begriffskontinuums  betrachten  lassen, 
wie  groß  und  klein,  gut  und  schlecht,  schwer  und  leicht  usw.  So  ver- 
mutet man,  daß  in  den  Präpositionen  evg,  eig  ,,in",  ,, hinein"  das  g 
zu  der  einfacheren  lokalen  Präposition  ev  ,,in"  nach  Analogie  von  €§ 
„aus"  hinzugefügt  worden  sei,  so  daß  nun  die  begrifflichen  Gegen- 
sätze des  ,, herein"  und  ,, heraus"  durch  den  gleichen  Endlaut  zu- 
sammengehalten werden.  Ähnlich  ist  OTtioS-e  ,, hinten"  für  das  ältere 
OTtid^e  wahrscheinlich  durch  Angleichung  an  TtQoode  ,,vorn"  ge- 
bildet. Im  Lat.  entstand,  wie  man  annimmt,  aus  einem  ursprüng- 
lichen Neutrum  minius  ,,die  Minderheit"  das  Adjektivum  minor,  mi- 
nor is  durch  Angleichung  an  7najor,  majoris.  Das  altlat.  ningulus  statt 
nullus  ,, keiner"  scheint  eine  Angleichung  an  singulus  ,,ein  einziger" 
zu  sein.  So  wird  ferner  senecta  ,,das  Greisenalter"  nach  Analogie  von 
juventa  ,,die  Jugend",  aber  wohl  auch  umgekehrt  Juventus  nach  Ana- 
logie von  senectus,  senectutis  gebildet;  meridionalis  ist  an  die  Stelle 
des  regulär  gebildeten  meridialis  „mittäglich"  getreten,  nach  dem 
Vorbilde  von  septentrionalis  ,, mitternächtlich".  Im  ital.  greve  aus 
lat.  grave  ,, schwer"  ist  der  lautgesetzlich  nicht  begründete  Übergang 
des  a  in  e  mutmaßlich  in  Anlehnung  an  leve  ,, leicht"  aus  lat.  levis  er- 
folgt. Aus  lat.  reddere  ,, wiedergeben'  hat  sich,  wohl  durch  Einwirkung 
von  frendere  ,, nehmen",  ital.  rendere,  franz.  rendre  gebildet.  Im 
Deutschen  sind  Sommer  und  Winter,  ahd.  sumar,  wintar,  ein  Begriffs- 
paar, bei  dem  das  zweite  nach  dem  ersten  Worte  gebildet  zu  sein  scheint. 
Der  irreguläre  Genitiv  Nachts  ist  wahrscheinlich  durch  Angleichung 
an  Tags,  das  dialektisch  vorkommende  heute  Morgend  nach  Analogie 
von  heute  Abend  entstanden  usw.  ^). 


^)  Vgl.  über  diese  Erscheinungen  außer  Brugmann  a.  a.  O.  noch  Wheeler, 
Analogy,  p.   19  ff.  und  Meyer-Lübke,  I,  II  im  Register  unter  „Angleichung". 


Begriffliche  Angleichungen.  451 

c.  Komplikationen  der  Angleicliungsvorgänge. 

Die  verschiedenen  Formen  sogenannter  „Analogiebildung",  die 
grammatische  und  begriffliche  Angleichung  infolge  von  Verwandt- 
schaft und  Gegensatz,  sind  nun  keineswegs  überall  getrennt  von- 
einander vorkommende  Erscheinungen,  sondern  sie  können  in  der 
mannigfaltigsten  Weise  ineinander  eingreifen,  sich  unterstützen  oder 
entgegenwirken  und  sich  in  einzelnen  Fällen  wohl  auch  mit  den  oben 
behandelten  Nahewirkungen  der  Laute,  den  Assimilationen  und  Dissi- 
milationen, verbinden.  So  fügen  z.  B.  unsere  zahlreichen  deutschen 
Komposita  mit  genitivischer  Bildung  des  ersten  Wortbestandteils 
bekanntlich  an  dieses  nicht  selten  das  Genitivsuffix  -s  auch  dann 
an,  wenn  das  Wort  für  sich  allein  diese  Genitivendung  nicht  hat: 
wir  sagen  nicht  bloß  Kriegsgeschrei,  Ratsversammlung,  Berufswahl, 
sondern  auch  Regierungsrat,  Gründungsfest  usw.  Aber  diesen  stehen 
andere  Beispiele  gegenüber,  wo  die  gleiche  Endung  nicht  in  das  Kom- 
po  itum  eingedrungen  ist,  obgleich  das  Simplex  sie  hat,  wie  in  Hof- 
rat, Vaterhaus,  Jubeljahr  u.  a.  Hier  werden  wir  demnach  annehmen 
dürfen,  daß  die  echten  Genitivbildungen  von  Wörtern  wie  Ratsver- 
Sammlung,  Berufswahl  usw.  auf  die  andern  Komposita  angleichend 
eingewirkt  haben,  daß  dies  aber  hauptsächlich  in  solchen  Fällen  ge- 
schehen sei,  wo  der  Lautübergang  von  dem  ersten  zum  zweiten  Teile 
des  Kompositums  dies  begünstigte.  Wir  können  also  wohl  diese  Er- 
scheinung als  ein  Mischprodukt  aus  Angleichung  an  verwandte  gram- 
matische Formen  und  aus  dissimilierender  Kontaktwirkung  der  Laute 
betrachten.  Häufiger  noch  kommen  Komplikationen  der  verschie- 
denen Arten  begrifflicher  Angleichung  untereinander  sowie  mit  den 
grammatischen  Angleichungen  vor.  So  hatte  f,iala  „sehr"  ursprüng- 
lich wohl  zwei  Komparativformen:  (iiähov  {/.idhaTo)  und  "^fxilXov. 
Der  Übergang  dieses  "^f-UXlov  in  /.lällov  kann  dann  einerseits  aus 
der  grammatischen  Angleichung  an  f.tdla,  ^dhara,  anderseits  aus 
der  begrifflichen  Angleichung  an  Bildungen,  die  irgendwelche  andere 
Größenbestimmungen  ausdrücken,  wie  t«/«,  d-daoov  (raxt-ov),  r«/f(rra, 
eläaaov,  eldxiOTa,  abgeleitet  werden.  Bei  den  mannigfaltigen  asso- 
ziativen Beziehungen,  in  denen  das  einzelne  Wort  zu  andern  Wörtern 

29* 


452  Der  Lautwandel. 


steht,  ist  in  diesen  und  allen  ähnlichen  Fällen  in  der  Tat  die  Kompli- 
kation der  Motive  wahrscheinlicher  als  die  isolierte  Wirksamkeit 
eines  einzelnen.  Im  allgemeinen  werden  wir  daher  auch  hier  nach 
dem  Prinzip  der  „Komplikation  der  Bedingungen''  den  Lautcharakter, 
den  das  einzelne  Wort  im  Laufe  seiner  Entwicklung  annimmt,  als 
das  Erzeugnis  einer  Vielheit  mannigfach  interferierender  Ursachen 
ansehen  müssen,  die  sich  teils  unterstützen,  teils  auch  einander  ent- 
gegenwirken können,  so  daß  sich  in  bestimmten  Wörtern  gewisse 
Lautmetamorphosen  nicht  vollziehen,  die  in  andern,  sonst  ihnen  pa- 
rallel gehenden  eingetreten  sind.  So  ist  im  Präsens  des  Verbum  subst. 
eifiL  ,,ich  bin"  die  erste  Person  Plur.  aus  elfAtv  in  ea/uEv  übergegangen, 
augenscheinlich  durch  eine  von  den  Mehrheitsformen  der  zweiten 
Person  lotbvj  iore  ausgeübte  Attraktion,  die  gleichzeitig  als  eine 
grammatische  und  als  eine  begriffliche,  letztere  vermittelt  durch  die 
in  beiden  Fällen  vorhandene  Mehrheitsvorstellung,  betrachtet  werden 
kann.  Es  handelt  sich  also  hier  um  eine  Interferenz  gleich  gerichteter 
Einflüsse.  Dagegen  ist  im  Imperf.  des  gleichen  Verbums  die  analoge 
Angleichung  nicht  erfolgt:  neben  rjoroVy  rjaze  ist  hier  i^f.iev  stehen 
geblieben,  nicht  in  rjoinev  übergegangen.  Den  Grund  hierzu  kann 
man  aber  in  den  zahlreichen  andern  Verbalformen  mit  der  gleichen 
Pluralendung  finden,  wie  sYrjfASv,  eßrjf^eVf  eößr}f,iev,  eine  Wirkung, 
die  selbst  wieder  als  die  Verbindung  einer  äußeren  grammatischen 
Angleichung  mit  einer  durch  die  Mehrheitsvorstellung  vermittelten 
Begriffsassoziation  betrachtet  werden  kann,  durch  welche  die  an- 
gleichende Wirkung  der  Formen  ^atov,  fjore  paralysiert  wurde,  — 
also  in  diesem  Fall  eine  Interferenz  entgegengesetzt  gerichteter  Ein- 
flüsse, wobei  der  eine,  offenbar  derjenige  der  sich  aus  den  meisten 
Einzelkräften  zusammensetzt,  obsiegte^). 


^)  Vgl.  Brugmann,  Berichte  der  kgl.  sächs.   Ges.  d.  Wiss.,  Phil. -bist.  KL 
1897,  S.  185  ffi 


Psychologische  Theorie  der  assoziativen  Fernewirkungen.  453 


4.  Psychologische  Theorie  der  assoziativen  Fernewirkungen. 

a.  Entstellung  der  Fernewirkungen  aus  elementaren  Asso- 
ziationen. 

Greifen  auf  diese  Weise  die  vier  oben  unterschiedenen  Grund- 
formen psychischer  Angleichungsvorgänge  in  so  mannigfacher  Weise 
ineinander  ein,  daß  der  einzelne  Fall  wohl  zumeist  aus  einem  Zu- 
sammen- und  Gegenwirken  verschiedener  Bedingungen  hervorgegangen 
ist,  so  deutet  nun  schon  das  Wort  ,,Angleichung",  das  einen  für  alle 
Fälle  gemeinsamen  Begriff  bezeichnet,  auf  einen  im  ganzen  überein- 
stimmenden Charakter  aller  dieser  assoziativen  Femewirkungen  und 
zugleich  auf  Beziehungen  zu  den  oben  erörterten  Kontaktwirkungen 
hin.  Dies  bewährt  sich  auch  darin,  daß  beide,  die  Ferne-  wie  die  Nahe- 
wirkungen der  Laute,  in  den  Formen,  in  denen  sie  uns  in  der  Sprache 
begegnen,  an  individuelle  Abweichungen  erinnern,  die  auf  den 
nämlichen  physischen  und  psychischen  Bedingungen  beruhen.  Wie 
die  Lautveränderungen  infolge  von  Kontaktwirkungen  in  den  ver- 
schiedenen Lautvermengungen  (Paralalien)  ihre  Vorbilder  haben, 
so  finden  sich  solche  zu  den  mannigfaltigsten  ,, Analogiebildungen" 
vor  allem  in  jenen  Erscheinungen  der  Wortvermengung  (Onomato- 
mixie),  die  zusammen  mit  Paralalien  bei  dem  ,, Versprechen"  des 
Zerstreuten,  bei  dem  Gebrauch  einer  nicht  geläufigen  Sprache  oder 
einzelner  Wörter  einer  solchen  oder  endlich  bei  dem  Kind  in  der  Pe- 
riode der  Aneignung  der  Sprache  vorkommen  (S.  314  ff.).  Hierbei 
besteht  der  Unterschied  zwischen  den  Erscheinungen  des  Versprechens 
der  Redegeübten  und  den  Sprachfehlern  der  Sprechenlernenden  im 
wesentlichen  nur  darin,  daß  bei  jenen  irgendeine  ganz  zufällige  Wort- 
assoziation die  Abweichung  herbeiführt,  die  dann  bei  klarer  Besinnung 
leicht  als  Fehler  erkannt  wird,  während  bei  diesen  die  Abweichung 
von  dem  Sprachgesetz  ebensowenig  wie  die  Übereinstimmung  mit 
demselben  direkt  zum  Bewußtsein  kommt.  Hier  zeigen  aber  jene 
Wortvermengungen  des  gewöhnlichen  Versprechens  deutlich,  daß 
die  Ursachen  zu  solchen  Abweichungen  in  jedem  Bewußtsein  vor- 
handen sind.     Zugleich  wird  es  begreiflich,  daß  diese  die  bestimmte, 


454  Der  Lautwandel. 


vorzugsweise  den  Abwandlungsformen  der  Wörter  zugekehrte  Richtung 
nur  da  annehmen,  wo  die  eigentümlichen  Bedingungen  hinzutreten, 
die  bei  der  Aneignung  einer  Sprache  obwalten.  Nun  bleiben  diese 
Bedingungen  in  einem  gewissen  Grad  immer  bestehen.  Eine  jüngere 
Generation  eignet  sich  die  überlieferte  Sprache  von  neuem  an,  und 
in  geringerem  Umfange  bleibt  auch  der  Sprachgeübte  den  Wirkungen, 
die  verwandte  Wortbildungen  auf  die  Aussprache  des  einzelnen  Wortes 
ausüben,  fortan  ausgesetzt.  Auf  einer  je  früheren  Stufe  der  Kultur 
sich  die  Sprachgemeinschaft  befindet,  je  weniger  namentlich  die  Sprache 
durch  die  Literatur  fixiert  ist,  einen  um  so  größeren  Spielraum  müssen 
natürlich  solche  individuelle  Einflüsse  gewinnen.  So  führt  auch  hier, 
gerade  so  wie  bei  den  Kontaktwirkungen  der  Laute,  diese  Betrachtung 
zu  dem  Ergebnis,  daß  jede  in  der  Sprache  zur  Herrschaft  gelangte 
Abweichung  von  den  Laut-  und  Formgesetzen  infolge  grammatischer 
oder  begrifflicher  Angleichungen  ursprünglich  ein  individueller  Vor- 
gang war,  der,  während  eine  Menge  ähnlicher  individueller  Abwei- 
chungen spurlos  verschwand,  durch  begünstigende  Bedingungen  sich 
verbreitete,  bis  seine  Wirkung  schließlich  allgemein  wurde.  Damit 
ist  nicht  gesagt,  daß  eine  solche  Abweichung  nur  in  einem  ein- 
zigen Individuum  ihren  Ursprung  genommen  habe.  Vielmehr,  je 
günstigere  Bedingungen  der  Verbreitung  sie  vorfand,  um  so  mehr 
wird  auch  schon  ihre  Entstehung  erleichtert  gewesen  sein,  so  daß 
viele  Einzelne  unabhängig  voneinander  den  gleichen  Wirkungen 
unterlagen. 

Mit  diesem  individuellen  Ursprung  der  generellen  Erscheinungen 
ist  für  die  Natur  der  Prozesse  vor  allem  dies  sichergestellt,  daß  auch  hier 
von  einer  teleologischen,  Willkür  und  Absicht  zu  Hilfe  rufenden 
Interpretation  unmöglich  die  Rede  sein  kann.  Denn  alle  jene  indivi- 
duellen Erscheinungen  treten  ganz  von  selbst,  ungewollt  und  zunächst 
ohne  jedes  Bewußtsein  der  wirklich  stattfindenden  Abweichung  ein. 
Wie  die  individuelle,  so  kann  also  auch  die  generelle  Erscheinung  nur 
in  einem  psychischen  oder  physischen  Mechanismus  oder,  da  die 
Sprache  eine  doppelseitige  Funktion  ist,  in  einem  psychophysischen 
begründet  sein.  Hier  weisen  aber  in  psychologischer  Hinsicht  alle  diese 
Erscheinungen  so  zwingend  auf  Vorgänge  der  Assoziation  hin, 
daß    die    Ausdrücke    ,, Analogiebildungen''    und    ,, sprachliche    Asso- 


Psychologische  Theorie  der  assoziativen  Fernewirkungen.  455 

ziationen"  vielfach  schon  als  gleichbedeutend  gebraucht  worden  sind^). 
Doch  ist  auch  hier  mit  diesem  allgemeinen  Ausdruck  wenig  getan, 
solange  man  sich  nicht  nähere  Rechenschaft  darüber  gibt,  wie  die 
Assoziationen  beschaffen  sind.  Das  Wort  ,, Assoziation''  selbst  sagt 
nicht  mehr,  als  daß  infolge  irgendwelcher  Beziehungen  zwischen  psy- 
chischen Inhalten  lediglich  vermöge  der  Eigenschaften,  die  diese  selbst 
besitzen,  also  ohne  Zutun  unseres  Willens  oder  vermittelnder  intellek- 
tueller Vorgänge,  eine  Verbindung  zwischen  jenen  Inhalten  eingetreten 
sei.  Und  man  redet  von  einem  ,, Mechanismus  der  Assoziationen", 
um  anzudeuten,  daß  keine  außerhalb  der  assoziierten  Vorstellungen 
liegenden  psychologisch  nachweisbaren  Ursachen,  wie  z.  B.  Willens- 
handlungen oder  logische  Überlegungen,  die  Verbindung  erzeugt  haben. 
Aber  mit  diesem  in  seiner  Allgemeinheit  höchst  unbestimmten  Begriff 
ist  für  die  beschreibende  Analyse  des  Tatbestandes  selber  so  gut  wie 
nichts  gewonnen,  und  die  ohne  Rücksicht  auf  überlieferte  psycho- 
logische Begriffe  gebrauchten  Ausdrücke  ,, Analogiebildungen"  und 
,,Angleichungen"  sind  insofern  sogar  zutreffender,  als  sie  wenigstens 
das  jedesmalige  Endergebnis  des  sprachlichen  Vorgangs  deutlich  be- 
zeichnen. Ja,  nimmt  man  den  Begriff  der  „Assoziation"  in  dem- 
jenigen Sinn,  in  dem  ihn  die  sogenannte  ,, Assoziationspsychologie" 
des  18.  Jahrhunderts  ausgebildet  hat,  und  in  dem  er  von  vielen  Psy- 
chologen noch  gegenwärtig  festgehalten  imd  speziell  auch  auf  diese 
sprachlichen  Vorgänge  angewandt  wird,  so  muß  man  noch  einen  Schritt 
weiter  gehen,  —  dann  ist  jener  Ausdruck  nicht  nur  zu  unbestimmt, 
sondern  in  dieser  Anwendung  geradezu  falsch:  Assoziationen  in 
dem  hergebrachten  Sinne  sind  die  sogenannten  Analogie- 
bildungen und  Angleichungen  überhaupt  nicht.  Jenem 
Begriff  gemäß  soll  nämlich  die  Assoziation  ein  Vorgang  sein,  der  im 
allgemeinen  auf  zwei  Vorstellungen  Ä  und  B  sich  erstreckt,  von  denen 
die  eine  die  andere  in  das  Bewußtsein  hebe,  weil  sie  irgendwie  ähn- 
lich, oder  weil  sie  gewohnheitsmäßig  oft  mit  ihr  verbunden  gewesen 
sei.  Man  unterscheidet  danach  die  Ähnlichkeits-  und  die  Berührungs- 
assoziation, die  manche  Psychologen  auch  auf  eine  Form  zu  redu- 
zieren  suchen,   indem   sie   entweder   die   Berührung  auf  Ähnlichkeit 


1)  Vgl.  oben  S.  380  f. 


456  I^er  Lautwandel. 


oder  —  und  dies  wohl  häufiger  —  die  Ähnlichkeit  auf  Berührung  zu- 
rückführen^). Auch  bei  diesem  Streite  wird  jedoch  daran  festgehalten, 
daß  die  Assoziation  in  jedem  einzelnen  Fall  auf  einer  irgendwie  ent- 
standenen Affinität  zwischen  je  zwei  Vorstellungen  beruhe,  die  bei 
der  Anziehung,  die  sie  aufeinander  ausüben,  im  wesentlichen  unver- 
ändert bleiben.  Wenn  A  von  einem  direkten  Eindrucke  herstammt 
und  B  ein  dem  A  assoziiertes  Erinnerungsbild  ist,  so  soll  dieses  B  zwar 
manchmal,  gerade  so  gut  wie  der  Eindruck  A  selbst,  unvollständig 
oder  undeutlich  wahrgenommen  werden.  Aber  dies  soll  nicht  hindern, 
daß  in  einem  gegebenen  Assoziationsakt  jeweils  nur  ein  bestimmtes  A 
mit  einem  bestimmten  B  verbunden  werden  kann.  Kommt  irgend- 
eine dritte  Vorstellung  C  mit  ins  Spiel,  so  soll  das  eben  nur  in  einem 
neuen  Assoziationsakt  geschehen  können.  Dieser  Voraussetzung 
eines  von  Vorstellung  zu  Vorstellung  reichenden  Bandes  entspricht 
es  denn  auch  ganz,  daß  man  jede  Assoziation  als  einen  sukzessiven 
Vorgang  auffaßt,  weil  zuerst  das  eine  Glied  A  der  Verbindung  und 
dann  das  andere  B  im  Bewußtsein  auftrete.  Das  Schema,  nach  dem 
man  die  gewöhnlichen  Erinnerungsvorgänge  —  nicht  beobachtet, 
aber  mit  einem  gewissen  Schein  von  Wahrscheinlichkeit  logisch  ge- 
gliedert hatte,  wurde  hier  zum  Schema  der  Assoziation  und  Repro- 
duktion überhaupt.  Wenn  irgendein  Eindruck  an  ein  früheres  Er- 
lebnis erinnere,  dann  sei,  so  reflektierte  man,  zuerst  der  Eindruck 
da  und  hierauf  das  Gedächtnisbild;  ähnlich  schlinge  daher  überall 
die  Assoziation  ihre  Bande  zwischen  unsern  Vorstellungen.  Wie  der 
Eindruck  das  Erinnerungsbild,  so  könne  dieses  ein  anderes  Erinnerungs- 
bild emporheben.  Auf  solche  Weise  sollen  Assoziationsreihen  von  mehr 
oder  minder  großer  Ausdehnung  entstehen,  in  denen  die  folgenden 
Vorstellungen  immer  an  die  früheren  anknüpfen,  mögen  sie  nun  mit 
den  unmittelbar  vorangegangenen  Gliedern  der  Reihe  oder  mit  weiter 
zurückliegenden  verbunden  sein. 

Mißt  man  die  grammatischen  und  begrifflichen  Angleichungen 
der  Sprache  an  diesem  überlieferten  Schema  der  Assoziation,  so  kann 
es  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  beide  Begriffe  nicht  im  geringsten 


1)  Grundriß    der    Psychologie,  lo    S.    271  ff.      Kleine    Schriften,    Bd.    2» 
S.  182  ff. 


Psychologische  Theorie  der  assoziativen  Ferne  Wirkungen.  457 

sich  decken.  Erstens  ist  es  in  den  meisten  Fällen  nicht  ein  einzelnes 
Wort,  dem  ein  anderes  angeglichen  wird,  sondern  eine  Vielheit,  nicht 
selten  eine  mibestimmte  Vielheit  von  Wörtern.  Zweitens  wirkt,  wo 
je  einmal  die  vorwiegende  Assoziation  eines  bestimmten  Wortes  nach- 
weisbar ist,  dieses  nicht  als  ganzes,  sondern  in  irgendeinem  einzelnen 
Lautbestandteil,  während  seine  andern  Elemente  völlig  wirkungslos 
bleiben.  Drittens  kann  ein  und  dasselbe  Wort  verschiedenen,  von  ganz 
abweichenden  Wörtern  ausgehenden  Wirkungen  unterworfen  sein, 
—  Interferenzphänomene,  die  bald  Verstärkung,  bald  Komplikation 
der  Wirkungen,  bald  aber  auch  Kombinationen  verschiedener  neben- 
einander stattfindender  Lautinduktionen  erzeugen  können.  Viertens 
endlich  ist  von  einer  Sukzession  d-er  Vorstellungen  in  keinem  einzigen 
Beispiel  dieser  Angleichungsvorgänge,  mögen  sie  auf  eine  Mehrheit 
nebeneinander  hergehender  Wirkungen  oder  nur  auf  eine  einzige 
liin weisen,  irgend  etwas  wahrzunehmen.  Daß  das  induzierende  und 
das  induzierte  Wort  im  unmittelbaren  Zusammenhang  der  Kede  sich 
berühren,  ist  nur  ein  seltener  Ausnahmefall,  der  bereits  auf  der  Über- 
gangsstufe zur  Kontaktwirkimg  steht.  Freilich  ist  aber  auch  bei  dieser, 
wie  wir  sahen,  das  eigentliche  Motiv  der  Wirkung  nicht  eine  dem  üb- 
lichen Schema  entsprechende  „Reproduktion  und  Assoziation",  son- 
dern es  besteht  in  der  Vorausnahme  und  Nachwirkung  bestimmter 
Laute  und  Lautbewegungen,  die  sich  unwillkürlich  und  bei  den  Assi- 
milationen vollkommen  simultan  mit  dem  gesprochenen  Laute  ver- 
binden (S.  431  ff.). 

In  der  Tat  lassen  sich  daher  die  sämtlichen  Formen  der  An- 
gleichung,  der  grammatischen  wie  der  begrifflichen,  nur  als  simul- 
tane Assoziationen  oder,  wie  wir  diese  nennen,  wenn  es  sich  um  Ver- 
l^indungen  innerhalb  eines  und  desselben  Sinnesgebiets  handelt,  als 
psychische  Assimilationen  verstehen,  an  denen  aber  nicht,  wie 
die  alte  Assoziationstheorie  voraussetzt,  fest  begrenzte  fertige  Vor- 
stellungen, sondern  Vorstellungselemente  beteiligt  sind.  Das 
Produkt  dieser  elementaren  Verbindungen  steht  als  eine  einheitliche 
Vorstellung  im  Bewußtsein,  und  erst  durch  die  psychologische  Ana- 
lyse der  unmittelbaren  Bedingungen  und  der  entfernteren  Vorbe- 
dingungen, unter  denen  es  entstand,  kann  es  einigermaßen  in  seine 
Bestandteile   zerlegt   werden.      Solche   Assimilationen   begegnen   uns 


458  Der  Lautwandel. 


schon  im  Gebiet  der  normalen  Sinneswahrnehmung  überall.  Der 
Vorstellungsinhalt  irgendeiner  Wahrnehmung  erklärt  sich  im  all- 
gemeinen niemals  zureichend  aus  der  Zusammensetzung  des  Eindrucks, 
sondern  er  besteht  immer  zugleich  aus  Assoziationen  mit  den  Elementen 
vorangegangener  Vorstellungen,  mit  denen  sich  die  Elemente  de» 
wirklichen  Eindrucks  wechselseitig  assimiliert  haben.  Daium  nimmt, 
auch  abgesehen  von  der  verschiedenen  Beschaffenheit  der  Sinnes- 
organe und  dem  verschiedenen  Standpunkt  der  Betrachtung,  vermut- 
lich kein  Mensch  einen  Gegenstand  genau  ebenso  wie  ein  anderer  wahr» 
Jeder  bringt  zu  dem  Eindruck  wieder  andere  Bedingungen  hinzu, 
andere  Vorstellungselemente,  die  zu  dem  gegebenen  Objekt  in  irgend- 
welche Beziehungen  treten  können,  «ei  es  daß  sie  sich  angleichen  und 
dadurch  den  Eindruck  verstärken,  sei  es  daß  ihnen  aus  vorangegangenen 
Verbindungen  Elemente  anhaften,  die  dem  unmittelbaren  Eindruck 
fehlen.  Alle  diese  Bedingungen  treten  uns  am  deutlichsten  bei  jenen 
künstlichen  Steigerungen  und  willkürlichen  Variationen  der  Assi- 
milationswirkungen entgegen,  wie  sie  sich  bei  den  experimentell  er- 
zeugten Sinnestäuschungen  beobachten  lassen^).  Auf  diese  simul- 
tanen Assoziationen  den  von  Leibniz  in  wesentlich  anderem  Sinne 
geschaffenen  Begriff  der  ,, Apperzeption"  zu  übertragen,  ist  schon 
deshalb  unzulässig,  weil  dadurch  jene  simultanen  Vorgänge  von  der 
Gesamtheit  der  übrigen  Assoziationen,  mit  denen  sie  auf  das  engste 
zusammenhängen,  und  zu  denen  sie  die  mannigfachsten  Übergänge 
darbieten,  getrennt  werden,  so  daß  die  falsche  Vorstellung  einer  spe- 
zifischen Verschiedenheit  der  Vorgänge  selbst  erweckt  wird^). 


^)  Grundriß  der  Psychologie,  i*  S.  278  ff.  Grundzüge  der  physiol.  Psyehol.,^  II,, 
S.  575  ff.,  III,  S.  502  ff.   Phil.  Stud.  XIV,  S.  32  ff.   Kleine  Schriften  III,  S.  312  ff. 

2)  Es  ist  bezeichnend,  daß  dieser  von  Her  hart  eingeführte,  nach  unserer 
heutigen  Kenntnis  der  Assoziationen  unbrauchbar  gewordene  Begriff  der  „Apper- 
zeption" auch  heute  noch  hauptsächlich  von  Philosophen  angewandt  wird,  die 
in  bezug  auf  die  Assoziationen  selbst  an  dem  unzulänglichen  Schematismus 
der  Assoziationspsychologie  festhalten.  So  stützen  sich  hier  zwei  unhaltbare 
Begriffe  wechselseitig.  Daß  man  bei  dieser  irreführenden  Anwendung  des  Apper- 
zeptionsprinzips zugleich  einer  passenden  Bezeichnung  für  die  elementaren  Funk- 
tionen des  Willens  und  der  Aufmerksamkeit  verlustig  geht,  wird  sich,  abgesehen 
von  den  hierher  gehörigen  Tatsachen  der  Individualpsychologie,  auch  bei  den 
sprachlichen  Vorgängen  der  Wortbildung  und  Satzfügung  deutlich  ergeben. 
(Vgl.  Kap.  V  und  VII.) 


Psychologische  Theorie  der  assoziativen  Feme  Wirkungen.  459 

Wie  die  Erscheinungen  der  normalen  Illusionen  bei  der  Sinne^- 
wahrnelimung,  so  bilden  nun  die  Analogiebildungen  und  Angleichungen 
innerhalb  der  Sprache  ein  Gebiet,  auf  welchem  sich  die  völlig  passive, 
ohne  jede  Beteiligung  unseres  Wollens  und  Denkens  erfolgende  und 
dabei  doch  überaus  fruchtbare  und  schöpferische  Wirksamkeit  der 
Assimilationen  auf  das  klarste  entfaltet.  Zugleich  bilden  diese  Er- 
scheinungen ein  für  das  Studium  der  psychischen  Prozesse  höchst 
wertvolles  Beobachtungsmaterial,  einerseits  weil  uns  hier  die  Vor- 
gänge selbst  unter  wesentlich  andern  und  vorwickelteren  Bedingungen 
entgegentreten  als  bei  den  Sinneswahrnehmungen,  imd  anderseits 
weil  die  Zeugnisse  der  Sprachgeschichte  in  der  Regel  bestimmtere 
Hinweise  auf  die  Ursachen  der  Vorgänge  und  das  Verhältnis  der  in 
assimilative  Wechselwirkung  tretenden  Elemente  enthalten.  Dies 
zeigt  sich  auch  daran,  daß  in  diesem  Fall  die  Erscheinungen  schon 
für  die  äußere  Beobachtung  in  mehrere,  scharf  zu  unterscheidende 
Gruppen  auseinander  treten,  deren  Eigentümlichkeiten  jedesmal 
auf  Unterschiede  der  psychischen  Bedingungen  selbst  hinweisen. 
Hierdurch  bilden  diese  Assimilationsvorgänge  auf  dem  Gebiete  der 
Sprache  ganz  besonders  schlagende  Belege  für  das  sich  bei  allen  asso- 
ziativen Prozessen  bewährende  Prinzip,  daß  eine  Assoziation 
überhaupt  nicht  zwischen  Vorstellungen,  sondern  immer 
nur  zwischen  Vorstellungselementen  stattfindet,  indem 
gleiche  Elemente  mit  gleichen,  berührende  mit  berühren- 
den früherer  Vorstellungen  sich  zu  verbinden  streben. 
Da  nun  aber  solche  Elemente  niemals  in  isoliertem  Zustande,  sondern 
sowohl  vor  wie  nach  eingetretener  Assimilation  immer  nur  in  ihrer 
Verbindung  mit  andern  Bestandteilen  als  vorstellbare  psychische  In- 
halte vorkommen,  so  können  sie  überhaupt  nur  als  Dispositionen 
unserer  Seele  gedacht  werden,  denen  zugleich  irgendwelche  physische 
Dispositionen  in  den  Sinneszentren  entsprechen  werden.  Sie  gehen 
erst  in  dem  Moment  in  vorstellbare  psychische  Inhalte  über,  wo  sie 
sich  mit  weiteren  Elementen  verbinden,  mögen  nun  letztere  durch 
unmittelbare  Sinneseindrücke  erweckt  werden  oder  selbst  zu  den 
wieder  aktuell  gewordenen  Dispositionen  gehören.  Die  in  einem  ge- 
gebenen Augenblick  im  Bewußtsein  auftauchende,  aus  Elementen 
zahlreicher  und  zum  Teil  weit  abweichender  früherer  Eindrücke  auf- 


460  Der  Lautwandel. 


gebaute  Vorstellung  wird  daher  als  Ganzes  wie  in  allen  ihren  Teilen 
stets  nur  in  dem  Augenblick  zu  einer  wirklichen  Vorstellung,  wo  sich 
die  assimilative  Verbindung  vollzieht.  Vorher  sind  die  Elemente  bloß 
als  latente  psychische  Kräfte  vorhanden  gewesen,  die  sich  erso  in  ihrer 
nachherigen  Beteiligung  an  einer  gegebenen  Vorstellungswirkung  zu 
erkennen  geben.  Den  Dispositionen,  insofern  sie  in  dieser  Weise  zu- 
gleich latente  psychische  Kräfte  sind,  lassen  sich  nun  bildlich,  wenn 
wir  die  Verhältnisse  der  physischen  Kräfte  auf  sie  übertragen  denken, 
immer  attraktive  und  repulsive  Wirkungen  zuschreiben:  attraktive, 
die  gleiche  und  berührende  Elemente  iu  das  Bewußtsein  zu  heben  streben ; 
repulsive,  durch  die  sonstige  Elemente,  die  ihnen  widerstreiten,  unter 
der  Schwelle  des  Bewußtseins  gehalten  werden.  Gerade  für  dieses 
Wechselspiel  der  Attraktion  und  Repulsion  der  Vorstellungselemente, 
das  wir  gelegentlich  schon  bei  den  Wahrnehmungsvorgängen  beobach- 
ten, bieten  die  analogen  Erscheinungen  auf  dem  Gebiet  der  Sprache 
die  deutlichsten  Belege,  besonders  in  jenen  Fällen,  wo  zwei  Angleichungs- 
prozesse  miteinander  in  Wettstreit  geraten  und  der  Enderfolg  dann 
eine  Verbindimg  mehrerer  partieller  Angleichungen  aufweist.  Wenn 
z.  B.  */««UAov  nicht  in  */«^AAoj',  wie  die  Angleichung  an  verwandte 
Komparativformen  vermuten  ließe,  sondern  durch  eine  nebenher 
gehende  Angleichung  an  juala^  die  wahrscheinlich  noch  durch  eine 
von  analogen  Steigerungsbegriffen,  wie  ^äaGov,  släaoov  ausgehende 
Attraktion  unterstützt  wurde,  in  ixälXov  übergegangen  ist,  so  hat 
hier  die  von  dem  a-Laut  ausgeübte  angleichende  Wirkung  zugleich 
eine  Repulsion  auf  den  e-Laut  ausgeübt,  die  stärker  war  als  die  sonst 
diesem   zur   Seite   stehenden  attrahierenden   Kräfte. 

Um  die  Wirkungen,  aus  denen  solche  den  sprachlichen  Analogie- 
bildungen zugrunde  liegende  psychische  Assimilationen  hervor- 
gehen, richtig  zu  würdigen,  muß  man  bedenken,  daß  alle  jene  Er- 
scheinungen nur  einzelne  Fälle  sind,  in  denen  vermöge  besonderer, 
irgendeine  Abweichung  vom  normalen  Verhalten  herbeiführender 
Bedingungen  die  Attraktionen  und  Repulsionen  psychischer  Elemente 
deutlicher  hervortreten.  In  Wahrheit  besteht  aber  alles  Sprechen 
in  fortwährenden  Analogiebildungen  und  Angleichungen,  und  wir 
würden  niemals  zur  Beherrschung  einer  Sprache  gelangen,  wenn  nicht 
fort  und  fort  Dispositionen  zur  Assoziation  der  Vorstellungselemente 


Psychologische  Theorie  der  assoziativen  Femewirkungen.  461 

entstünden  und  sich  verstärkten.  Oline  Zaudern  bilden  wir  in  einer 
uns  geläufigen  Spraclie  die  Kasusformen  des  Substantivs,  die  Ab- 
wandlungen des  Verbums  oder  selbst  Wortzusammensetzimgen,  ohne 
sie  uns  im  einzelnen  Fall  direkt  angeeignet  zu  haben.  Wir  tragen  ge- 
wissermaßen paradigmatische  Vorstellungsreihen  als  latente  Kräfte 
in  uns,  deren  Latenz  aber  eben  darin  besteht,  daß  sie  uns  nicht,  wie 
die  Paradigmen  der  wirklichen  Grammatik,  in  Gestalt  bestimmter 
einzelner  Vorstellungen  gegeben  sind,  sondern  daß  sie  nur  in  der  Form 
elementarer  funktioneller  Anlagen  in  uns  liegen,  von  denen  jeweils 
diejenigen  aktuell  werden,  die  durch  die  gegebene  Bewußtseinslage 
begünstigt  sind.  Wenn  wir  eine  einzelne  grammatische  Form  bilden, 
so  werden  wir  uns  daher  nur  sehr  selten  und  unter  Ausnahmebedingimgen 
irgendeiner  anderen  Wortvorstellung  bewußt,  der  sie  analog  ist.  Viel- 
mehr wirken  die  zugehörigen  und  im  Augenblick  disponibeln  Elemente 
wie  eine  Totalkraft,  die  uns  bloß  in  ihrem  Effekt,  nicht  in  den  zahl- 
losen einzelnen  Komponenten  gegeben  ist,  aus  denen  sie  sich  zusammen- 
setzt. Ein  überraschendes  und  freilich  auch  nur  partiell  erhellendes 
Licht  fällt  auf  diese  Vorgänge  erst  da,  wo  sie  etwa  einmal  in  ungewöhn- 
licher Form  verlaufen,  wo  also  statt  der  erwarteten  andere  Attrak- 
tionswirkungen, sogenannte  ,, falsche  Analogien",  zustande  kommen. 
Sie  spielen  in  der  Tat  im  Gebiet  der  Sprache  etwa  dieselbe  Rolle  wie 
in  dem  der  Sinneswahrnehmung  die  „normalen  Sinnestäuschungen." 
In  Wirklichkeit  sind  diese  ebensowenig  Urteilsfehler,  als  die  man  sie 
früher  häufig  betrachtet  hat,  wie  die  sogenannten  falschen  Analogien 
Sprachfehler  sind.  Wie  vielmehr  jene  aus  den  schon  bei  der  normalen 
Sinneswahrnehmung  wirksamen  Gesetzen,  so  sind  auch  diese  aus  den 
Assoziationsgesetzen  hervorgegangen,  die  sich  überall  in  der  Sprache 
betätigen.  Nur  der  Umstand,  daß  die  Assoziationen  der  Elemente 
infolge  bestimmter  Bedingungen  ungewöhnlicher  Art  sind,  gibt  ihnen 
ihre  eigenartige  Stellung  und  zugleich  ihren  großen  heuristischen 
Wert.  Beide  Fälle  gehören  zu  jenen,  wo  die  Natur  für  uns  experimen- 
tiert, indem  sie  eine  Veränderung  der  Bedingungen  herbeiführt,  die 
einer  willkürlichen  Variation  derselben  gleichkommt. 


462  Der  Lautwandel. 


b.    Psychologische     Analyse     der     vier     Hauptformen     der 

Lautangleichung. 

Betrachtet  man  die  vier  oben  unterschiedenen  Gruppen  der  An- 
gleichung  sprachlicher  Formen  nach  den  durch  diese  Zurückführung 
auf  elementare  psychische  Assimilationen  geforderten  Gesichtspunkten, 
so  zeigt  sich  kein  wesentlicher  Unterschied  der  Elementarprozesse 
selbst.  Wohl  aber  führen  die  Erscheinungen  zur  Annahme  einer  ver- 
schiedenen und  für  jede  Gruppe  höchst  charakteristischen  Verteilungs- 
weise der  Elementarwirkungen.  Hierbei  ist,  wie  bei  allen  sprach- 
lichen Erscheinungen,  jede  Vorstellung  als  Komplikation  eines  begriff- 
lichen Inhalts  und  einer  zugehörigen  Lautvorstellung  aufzufassen. 
Wegen  der  Festigkeit  dieser  Komplikation  wird  im  allgemeinen  eine 
Assoziation  der  begrifflichen  immer  auch  eine  solche  der  lautlichen 
Elemente  herbeiführen;  es  wird  aber  auch  umgekehrt  die  Lautattrak- 
tion eine  Assoziation  der  Begriffe  veranlassen  können.  Zugleich'  bringt 
es  die  Verkettung  der  sprachlicnen  Komplikationen  mit  sich,  daß 
keine  der  erwähnten  Attraktionswirkungen  jemals  für  sich  allein  vor- 
kommt, sondern  daß  es  sich  überall  nur  um  vorwiegende  Kichtungen 
handeln  kann. 

In  einer  Hinsicht  stimmen  nun  trotz  sonstiger  Verschieden- 
heit der  Bedingungen  die  vier  Gruppen  der  Angleichungsprozesse 
überein.  Das  ist  die  allgemeine  Richtung,  in  der  die  lautändernden 
Kräfte  wirken.  Unterscheiden  wir  die  Lautelemente  eines  Wortes 
in  solche,  die  dem  in  dem  Worte  ruhenden,  relativ  konstant  bleiben- 
den Grundbegriff  angehören,  und  in  andere,  die  den  verschiedenen 
Modifikationen  entsprechen,  in  denen  jener  Grundbegriff  infolge  seiner 
Beziehung  zu  andern  Begriffen  vorkommt,  so  können  wir  die  Elemente 
der  ersten  Art  als  die  Grundelemente,  die  der  zweiten  als  die  Be- 
ziehungselemente des  Wortes  bezeichnen^).  Die  Unterscheidung 
dieser  Elemente  berührt  sich  zwar  mit  der  grammatischen  Unter- 
scheidung des  Wortstamms  und  der  Flexionsbestandteile,  aber  sie 
ist  von  allgemeinerer  Bedeutung.    Indem  wir  uns  nämlich  dabei  das 


^)  Näheres  über  die  Bedeutung  dieser  Elemente  für  die  Wortbildung  vgl. 
unten  Kap,  V,  Nr.  III. 


Psychologische  Theorie  der  assoziativen  Femewirkungen.  463 

Wort  nicht  in  einen  einzigen  konstanten  Grundbestandteil  und  in 
einen  oder  einige  Beziehungsbestandteile  zerlegt  denken,  sondern 
in  seine  Lautelemente,  die  je  nach  ihrer  Bedeutung  Grundelemente 
oder  Beziehungselemente  sein  können,  entspricht  es  dem  fließenden 
Charakter  der  in  der  Sprache  ausgedrückten  Begriffe  und  Begriffs- 
beziehungen, daß  auch  dieses  Verhältnis  zwischen  Grmidelementen 
und  Beziehungselementen  ein  fließendes  ist.  Gewisse  Elemente,  die 
sich  in  zahlreichen  Umwandlungsformen  als  Grundelemente  bewähren, 
können  in  andern  in  die  Reihe  der  Beziehungselemente  übertreten, 
während  bei  der  Stabilisierung  gewisser  Flexionsformen  und  bei  der 
Wortkomposition  umgekehrt  Beziehungselemente  zuweilen  zu  Grund- 
elementen werden  oder  auch  zu  selbständigen  Beziehungswörtern 
sich  verbinden.  Angesichts  des  nie  rastenden  Wirkens  der  sprach- 
bildenden Vorgänge  beanspruchen  daher  jene  Bezeichnungen  an  und 
für  sich  nur  eine  relative  Bedeutung:  Grundelemente  sind  überall 
nur  diejenigen  Lautelemente,  die  innerhalb  einer  Reihe  zusammen- 
gehöriger Laut-  und  Begriffsänderungen  konstant  bleiben  und  eben 
darum  für  den  Redenden  die  Träger  des  Grundbegriffs  sind;  Be- 
ziehungselemente diejenigen,  die  durch  ihr  Gebundensein  an  die  Be- 
ziehungen und  Verbindungen,  in  die  der  Begriff  tritt,  von  selbst  die 
Bedeutmig   variabler   Begriffsmodifikationen   annehmen. 

Fassen  wir  in  diesem  relativen,  aber  in  jedem  einzelnen  Fall  der 
Anwendung  doch  eindeutigen  Sinne  jenen  durch  die  natürliche  Stellung 
des  Wortes  in  der  Rede  gegebenen  Gegensatz  auf,  so  bilden  nun  die 
sämtlichen  oben  betrachteten  Angleichungen,  wenn  wir  für  sie  wieder 
den  Begriff  der  ,, Lautinduktion''  benutzen,  ein  Gebiet  von  Vorgängen, 
wo  die  induzierten  Lautbestandteile  durchaus  nur  den  jeweiligen 
Beziehungselementen  des  Wortes  angehören.  Dagegen  zerfallen 
sie  nach  der  Stellung  der  induzierenden  Bestandteile  von  vorn- 
herein in  zwei  Klassen:  in  der  einen  sind  diese  induzierenden  Bestand- 
teile ebenfalls  Beziehungselemente,  —  dies  bildet  den  Fall  der  ,, gram- 
matischen Angleichungen";  in  der  andern  sind  sie  Grundelemente, 
—  dies  ist  der  Fall  der  „begrifflichen  Angleichungen''.  Dabei  treten 
nun  aber  neben  diesen  dem  Vorgang  den  entscheidenden  Charakter 
aufprägenden  Assoziationen  stets  noch  andere  als  Hilfskräfte  auf, 
so  daß   ebensowohl  bei  den  grammatischen  Angleichungen  Attrak- 


464  Der  Lautwandel. 


tionen  von  Grundelementen  wie  bei  den  begrifflichen  Angleichungen 
solche  von  Beziehungselementen  mitwirken.  Diejenige  Wirkung, 
die  wir  in  einem  gegebenen  Fall  speziell  als  die  ,, induzierende*'  heraus- 
greifen, bezeichnet  daher  stets  nur  die  zunächst  der  Beobachtung 
sich  aufdrängende  Seite  der  Erscheinung,  niemals  den  ganzen  Kom- 
plex mannigfach  gerichteter  attraktiver  und  repulsiver  Kräfte,  die 
an  dieser  beteiligt  sind.  Hiernach  lassen  sich  im  ganzen  vier  typische 
Formen  assoziativer  Verbindungen  unterscheiden,  die  den  vier  oben 
betrachteten  symptomatischen  Gruppen  entsprechen.  Um  sie  mittels 
kurzer  symbolischer  Ausdrücke  zu  erläutern,  sollen  beliebige  Grund- 
elemente eines  Begriffs  durch  Buchstaben  der  ersten,  Beziehungs- 
elemente durch  solche  der  zweiten  Hälfte  des  Alphabets  angedeutet 
werden,  so  daß  also  Ä  B  M  N  und  E  F  S  T  zwei  Wörter  nebst  den 
an  sie  gebundenen  Begriffen  andeuten,  die  in  allen  ihren  Elementen 
abweichen,  A  B  M  N  und  A  B  S  T  solche,  die  in  ihren  Grundelementen 
übereinstimmen,  A  B  M  N  und  E  F  M  N  andere,  bei  denen  das 
gleiche  für  die  Beziehungselemente  gilt,  endlich  A  B  M  T  und  A  C  S  T, 
A  B  M  S  und  C  D  M  T  usw.  solche,  die  verschiedene  Arten  partieller 
Übereinstimmung  darbieten.  Nun  sind  an  sich  nur  zwischen  überein- 
stimmenden Elementen  assimilierende  Wirkungen  möglich.  Durch 
diese  können  dann  aber  nach  dem  Prinzip  der  Kontiguität  weitere, 
bloß  in  äußerer  Verbindung  stehende  in  das  Bewußtsein  gehoben 
oder  aber  vorhandene,  die  in  der  neu  gebildeten  Verbindung  keine 
Stelle  finden,  aus  ihm  verdrängt  werden.  Derartige  Wirkungen  können 
nach  mannigfachen  Erfahrungen,  die  sich  uns  im  Gebiet  der  Sprache 
bieten,  nicht  bloß  zwischen  den  Elementen  verschiedener,  sondern 
auch  zwischen  denen  der  gleichen  Vorstellungen,  insbesondere  also 
zwischen  den  Laut-  und  Begriffselementen  eines  Wortes  stattfinden. 
Wollen  wir  eine  schematische  Übersicht  über  die  verschiedenen  ty- 
pischen Formen  der  oben  behandelten  Angleichungs Vorgänge  ge- 
winnen, so  erscheint  es  daher  zweckmäßig,  für  die  Begriffselemente 
symbolische  Zeichen  zu  wählen,  die  je  nach  Bedürfnis  die  isolierte 
oder  die  vereinigte  Wirkung  der  einzelnen  Bestandteile  einer  Kompli- 
kation andeuten.  Wir  bezeichnen  daher  eine  Komplikation  aus  Laut- 
und  Begriffselementen,  wie  oben,  mit  großen  Buchstaben  und  wählen 
diese  Symbole  überall  da,  wo  eine  gleichzeitige  assoziative  Wirkung 


Psychologische  Theorie  der  assoziativen  Femewirkungen. 


465 


der  vereinigten  Laut-  und  Begriffselemente  anzunehmen  ist.  Da- 
gegen sollen  Lautelemente,  wo  sie  für  sich  allein  wirksam  sind,  durch 
die  kleinen  Buchstaben  des  lateinischen  Alphabets  a,  h,  c  .  .  .  oder 
m,  n,  o  .  .  .,  und  Begriffselemente,  sofern  sie  ohne  die  zugehörigen 
Lautelemente  wirken,  durch  die  griechischen  Buchstaben  or,  /?,/..  . 
angedeutet  werden.  Dabei  werden  im  letzteren  Fall  diese  Symbole 
nur  für  die  Grundelemente  des  Wortbegriffs  angewandt,  da,  wie  die 
Erscheinungen  begrifflicher  Angleichung,  bei  denen  eine  solche  selb- 
ständige Wirksamkeit  der  Begriffselemente  allein  in  Frage  kommt, 
zeigen,  Attraktionswirkungen,  die  vom  Lautwert  der  Worte  unab- 
hängig sind,  überhaupt  nur  den  Grundelementen  zukommen.  Weiter- 
hin soll  die  Hauptrichtung  der  Assoziationen  durch  ausgezogene,  die 
Neben-  und  Hilfswirkungen  sollen  durch  unterbrochene  Linien  an- 
gedeutet werden.  Solche  Elemente  endlich,  die  durch  die  begleitenden 
repulsiven  Wirkungen  verschwinden,  sind  in  eckige  Klammern  ein- 
geschlossen, und  die  Hauptrichtung  der  Induktion  wird  durch  einen 
Pfeil  angedeutet.  Jeder  symbolischen  Wortformel  ist  zur  Verdeut- 
lichung ein  Wortbeispiel  beigefügt. 


Typus  I.     (Innere  grammatische  Angleichung.) 

AB   S  {z.  B.  starb)  (gab  tat  machte 

j      I      I  gaben  taten  machten) 

A  B[M]T  (stürben)  h  d  S  e  f  S  g  h  S 


A  B   S     T  (starben) 


h  ä  S  T        e  f  S  T       g  h  S  T  usw. 

~r  ~r~  "T" 


Typus  IL     (Äußere  grammatische  Angleichung.) 
AB    S  {z.  B.  backe) 

A  ß[M]  (bück) 

A  B    S  T  (backte)  e  d  S  T      e  f  S  T       g  h  S  T 


(mache 

lache 

krache) 

(machte 

lachte 

krachte) 

c  d  S 

e  /  S 

9  h  S 

-^ 


Wniidt,  Völkerpsychologie. 


4.  Aufl. 


30 


466  I^er  Lautwandel. 


Typus  III.     (Allgleichung  durch  Begriffsverwandtschaft.) 

CC   ß    S     t[v]    (Z.    B.    (X(pV(JGM\ 

I    I    I    I  j  {(/QVG(T(jü  vvaao)  mvaGO)) 

a  c  s  (aQVcn))  /  (««  =  schöpfe) 

llll  I  efstghstikst  usw. 

a    C    S     t  (CCQVGGÜ))  ß  III 


Typus  IV.     (Angleichung  durch  Begriffsgegensatz.) 

a  ß  b  s  t  {z.  B.  it.  leve)  \ 

llll  I   Cf  /?  =  leicht  (brevis) 

a  y  d    [v]  (lat.  gravis)       ^ 


a  y  d  s  t  (it.  greve) 


Ja  y  =  schwer  c  e  s  t 


Aus  diesem  Schema  erhellt  zunächst,  daß  die  beiden  Formen 
grammatischer  Angleichung  (Typus  I  und  II),  solange  man  von  dem 
Verhältnis  der  Hauptrichtung  und  der  Nebenrichtungen  der  Assi- 
milation abstrahiert,  im  wesentlichen  übereinstimmen.  Der  Unter- 
schied beider  liegt  besonders  darin,  daß,  was  bei  der  einen  Form  Haupt- 
wirkung ist,  bei  der  andern  zur  Nebenwirkung  wird,  und  umgekehrt. 
Damit  hängt  der  weitere  in  dem  Schema  ausgedrückte  Unterschied 
zusammen,  daß  bei  dem  ersten  Typus  die  assoziative  Verbindung 
der  Grundelemente  eine  größere  Rolle  spielt,  wodurch  diese  Form 
den  begrifflichen  Angleichungsvorgängen  des  Typus  III  und  IV  näher 
steht.  Diese  beiden  Typen  selbst  sind  dann  wieder  von  im  ganzen 
übereinstimmendem  Charakter,  indem  bei  beiden  sogar  die  Richtung 
der  Hauptwirkung  die  nämliche  ist  und  nur  die  Beimischung  eines 
Kontrastfaktors  (ß  und  y)  zu  den  gleichen  Begriffselementen  a  einen 
Unterschied  begründet.  Damit  steht  in  Verbindung,  daß  die  An- 
gleichung durch  Kontrast  einen  Grenzfall  bildet,  wo  äußere  Hilfs- 
wirkungen verhältnismäßig  zurücktreten  und  oft  wohl  ganz  ver- 
schwinden können.  Dies  ist  durch  die  Natur  des  Kontrastes  bedingt, 
nach  der  ein  gegebener  Begriff  in  einem  bestimmten  Gedankenzu- 
sammenhang jeweils  einen  bestimmten  Gegenbegriff  fordert.  Übri- 
gens ist  es  für  beide  begriffliche  Angleichungsformen  charakteristisch, 


Physiologische  Einflüsse  bei  den  Lautangleichungen.  467 


daß,  wie  bei  ilinen  die  Hauptkräfte  von  Begriffselementen  ausgehen, 
die  unabhängig  von  ihren  Lautkomplikationen  wirken,  so  als  äußere 
Hilfskräfte  umgekehrt  reine  Lautwirkungen,  die  von  den  begriff- 
lichen Bedeutungen  der  Wörter  unabhängig  sind,  unterstützend  ein- 
greifen. 

5.  Physiologische  Einflüsse  bei  den  Lautangleichungen. 

Erscheint  nach  der  in  dem  obigen  Schema  gegebenen  Zerglie- 
derung der  Angleichungs Vorgänge  der  Ausdruck,  diese  seien  ,, psy- 
chisch bedingte  Formen  des  Lautwandels*',  gerechtfertigt,  insofern 
ja  eben  diese  Zergliederung  überall  auf  Verbindungen  elementarer 
Assoziationen  zurückführt,  so  schließt  das  nun  aber  keineswegs  aus, 
daß  nicht  auch  hier  den  Assoziationen  gewisse  physiologische  Be- 
dingungen zur  Seite  stehen.  In  der  Tat  wird  diese  Annahme  schon 
durch  die  allgemeine  Erwägung  nahegelegt,  daß  alle  Assoziationen 
ihrem  wesentlichen  Charakter  nach  mit  den  Übungsvorgängen  eng 
zusammenhängen,  daß  aber  diese  stets  entweder  rein  physische  oder 
aber  psychophysische  Funktionsänderungen  sind:  das  erstere  bei 
der  Funktionsübung  der  niederen  Nervenzentren  oder  der  peripheren 
Organe,  wie  der  Muskeln  und  Drüsen,  das  letztere  bei  den  mit  Ver- 
änderungen in  den  höheren  Zentralgebieten  vor  sich  gehenden  Pro- 
zessen. So  begreiflich  es  demnach  ist,  daß  wir  solche  Vorgänge  der 
Übung  und  Mitübung  auf  die  psychische  Seite  stellen,  solange  sie  sich 
uns  vorwiegend  in  psychischen  Symptomen  zu  erkennen  geben,  so 
kann  dies  doch  an  jener  prinzipiellen  Auffassung  nichts  ändern,  daß 
sie,  als  psychophysische  Vorgänge,  nur  die  verwickeltsten  und  höchsten 
Erscheinungsformen  der  alle  Lebensprozesse  beherrschenden  Gesetze 
der  Veränderung  der  Funktion  durch  die  wiederholte  Ausübung  der 
Funktion  selbst  sind.  Diese  prinzipielle  Auffassung  findet  aber  im 
vorliegenden  Fall  ihre  besondere  Rechtfertigung  noch  darin,  daß  die 
Sprache  mehr  als  irgendeine  andere  psychische  Leistung  die  Kenn- 
zeichen einer  psychophysischen  Funktion  an  sich  trägt,  die  von  den 
äußeren  motorischen  und  akustischen  Hilfsmitteln  der  Lauterzeugung 
an  bis  zu  den  Verbindungen  der  akustischen  Zentren  verschiedener 
Ordnung  auf  physischer  Grundlage  ruht.     Diese  Bedeutung  der  phy- 

30* 


468  Ber  Lautwandel, 


siologischen  Übung  tritt  nun  auch  in  einzelnen  die  assimilativen  Ferne- 
wirkungen begleitenden  Erscheinungen  selbständig  zutage.  Besonders 
gehören  hierher  zwei  Tatsachen.  Die  erste  besteht  in  der  überwiegen- 
den Wirkung  solcher  Lautverhältnisse,  die  von  vornherein  schon  durch 
ihre  größere  Häufigkeit  bevorzugt  sind.  So  verdrängen  bei  den  gram- 
matischen Angleichungen,  wo  nicht  besondere  Erhaltungsbedingungen 
mit  eingreifen,  die  häufigeren  Flexionsformen  allmählich  die  selteneren. 
So  sind  ferner  unter  den  begrifflichen  Angleichungen  die  durch  Kontrast 
den  durch  Ähnlichkeit  vermittelten  überlegen,  wahrscheinlich  des- 
halb, weil  im  selben  Maß,  als  der  Kontrast  das  wirksame  Begriffs- 
verhältnis auf  Korrelatbegriffe  einschränkt,  er  wegen  der  großen 
Häufigkeit  der  Verbindung  dieser  Begriffe  ein  Übergewicht  in  ihrer 
gemeinsamen  funktionellen  Einübung  behauptet.  Die  zweite  Tatsache 
besteht  in  dem  von  Anfang  an  unwillkürlichen  Eintritt  der  Verände- 
rungen. Diese  Art  der  Entstehung  erweckt  unmittelbar  den  Eindruck 
eines  psychischen  Mechanismus,  der  zugleich  ein  physischer  sein  muß, 
da  die  Lautbildung  als  solche  dem  Gebiet  physischer  Vorgänge  an- 
gehört. Gerade  bei  den  Sprachorganen  läßt  aber,  wie  auch  sonst  die 
Erfahrung  vielfach  zeigt,  die  Wiederholung  einer  bestimmten  Be- 
wegung diese  leicht  auch  da  entstehen,  wo  eigentlich  eine  andere  ge- 
wollt wurde,  lediglich  deshalb,  weil  die  Organe  nun  einmal  auf  eine 
bestimmte  Aufeinanderfolge  der  Artikulationsbewegungen  eingeübt 
sind.  Mag  es  z.  B.  noch  so  wahrscheinlich  sein,  daß  aQvoj,  als  es  sich 
in  agioocü  umwandelte,  zunächst  der  assoziativen  Wirkung  des  be- 
griff sverwandten  ctq)vootü  gefolgt  ist:  ohne  die  entsprechende  Ein- 
übung der  der  Endung  -vooco  eigenen  Lautbewegungen,  die  wieder 
halb  als  assoziatives,  halb  als  rein  mechanisches  Moment  infolge  der 
in  dieser  Abfolge  eingeübten  Bewegungen  die  Veränderung  erleich- 
terte, würde  der  Wandel  der  Laute  nicht  erfolgt  sein.  So  darf  durch- 
weg auch  für  diese  der  Wirksamkeit  der  psychischen  Assoziations- 
gesetze besonders  günstigen  Erscheinungen  assoziativer  Fernewir- 
kungen der  Satz  als  gültig  angesehen  werden,  daß  jeder  Lautwandel 
ein  psychophysischer  Vorgang  ist. 


Hauptformen  der  Wortentlehnung.  469 


V.  Laut-  und  Begriffsassoziationen  bei  Wort- 
entlehnungen, 

1.  Hauptformen  der  Wortentlehnung. 

Mit  den  soeben  betrachteten  assoziativen  Fernewirkungen  der 
Laute  berühren  sich  sehr  nahe  diejenigen  Erscheinungen,  die  infolge 
der  Einführung  eines  nach  Laut  wie  Bedeutung  fremden 
Wortes  in  eine  Sprache  eintreten.  Auch  hier  entstehen  naturgemäß 
Assoziationen  mit  andern,  bereits  geläufigen  Wörtern  von  ähnlichem 
Klangcharakter,  die  teils  als  bloße  Lautgebilde,  teils  auch  durch  ihren 
Begriffswert  auf  das  neuaufgenommene  Wort  herüberwirken.  Die 
Wortentlehnung  ist  demnach  ein  Produkt  der  Sprachmischung. 
Dabei  ist  aber  der  Begriff  der  letzteren  hier  im  weitesten  Sinne  zu 
nehmen.  Denn  die  Erscheinungen  der  Wortentlehnung  stellen  sich 
überall  da  ein,  wo  überhaupt  ein  unverstandenes  Wort  in  einer  Sprache 
Eingang  findet,  mag  es  nun  einer  fremden  Sprache  oder  einem  andern 
Dialekt  oder  vielleicht  auch  nur  einer  älteren  Periode  der  gleichen 
Sprache  angehören.  Diese  geschichtlichen  Bedingungen  ihrer  Ent- 
stehung bewirken  zugleich  psychologische  Eigentümlichkeiten,  durch 
die  sich  der  Prozeß  der  Wortentlehnung  von  den  gewöhnlichen  ,, Ana- 
logiebildungen*' wesentlich  unterscheidet. 

Geht  man  nämlich  von  den  vier  oben  unterschiedenen  Formen 
assoziativer  Fernewirkungen  aus,  so  umfassen  diese  nur  jene  näher 
zusammengehörigen  Vorgänge,  bei  denen  diejenigen  Lautbestand- 
teile eines  Wortes,  die  als  die  Träger  seiner  Grrundbedeutung  betrachtet 
werden  können,  während  des  Lautwechsels  unverändert  geblieben 
sind,  bei  denen  also  nur  seine  Beziehungselemente,  nicht  aber  die  Grund- 
elemente einer  von  andern  Wörtern  ausgehenden  assimilierenden 
Wirkung  unterlagen.  (Vgl.  das  Schema  auf  S.  465  f.)  Nun  ist  es 
unvermeidlich,  daß  die  Assoziations Wirkungen,  denen  alle  Bestand- 
teile der  Sprache  ausgesetzt  sind,  da  und  dort  über  diese  Grenze  hinaus- 
streben. In  Anbetracht  der  festen  Verbindung  von  Begriff  und  Wort 
sind  aber  die  Grundelemente  des  letzteren  unter  normalen  Bedingungen 
weit  stabiler  als  die  Beziehungselemente,  die  leicht,  ohne  daß  damit 
der  begriffliche  Wert  des  Wortes  selbst  oder   auch   nur   seiner  Ab- 


470  Der  Lautwandel. 


Wandlungsformen  alteriert  wird,   die  mannigfachsten   Veränderungen 
erfahren  können.     Diese  Verhältnisse  werden  jedoch  wesentlich  ab- 
weichende, sobald  ein  der  Sprache  bisher  fremdes  Wort  in  sie  eingeführt 
wird.     Ihm  gegenüber  existiert  jenes  der  Verbindung  von  Laut  und 
Bedeutung    anhaftende    sichere    Gefühl    des    Unterschieds    zwischen 
Grund-  und  Beziehungselementen  nicht   mehr.     Jetzt   ist   daher   das 
ganze  Wort  in  allen  seinen  Bestandteilen  gleichmäßig  den  verändern- 
den Wirkungen  der  von  außen  einwirkenden  Assoziationskräfte  aus- 
gesetzt.    Den  beiden  Hauptklassen  der  grammatischen  und  der  be- 
grifflichen   Angleichungen    schließen    sich    demnach    alle    Umwand- 
lungen, die  infolge  dieser  weiter  um  sich  greifenden  Wechselwirkungen 
entstehen  können,  als  eine  dritte  Klasse  an,  bei  der  weder  Beziehungs- 
auf Beziehungselemente,  wie  bei  der  ersten,  noch  Grundelemente  auf 
Beziehungselemente,   wie   bei   der  zweiten   Klasse,   sondern    Grund- 
elemente     auf     Grundelemente     assimilierend     einwirken. 
Auch    diese    Klasse    zerfällt    dann    aber    wieder    in    zwei    Gruppen 
von    Erscheinungen.       Bei    der    ersten    wirkt   ein   Wort    oder    eine 
Anzahl  von  Wörtern  auf  den  gesamten  Lautkörper  eines  gegebenen 
Wortes    ein,    um    ihn    eventuell   bis    zur   Unkenntlichkeit    zu    ver- 
ändern,  ohne  daß  dabei  der  Begriffswert    desselben    wesentlich  alte- 
riert wird:    dies  ist    der   Fall    der  Wortentlehnung    mit    reiner 
Lautassoziation    oder   der    gewöhnlich    so    genannten   ,, Wortassi- 
milation".       Bei    der    zweiten    Gruppe    wirkt    ein    einzelnes    Wort, 
seltener   eine   bestimmte    Gruppe   von  Wörtern    vermöge    der    Laut- 
assoziationen,   in    denen    sie    zu     einem    gegebenen    Worte    stehen, 
auf  dieses  ein,    indem  sie  es  sich  wiederum  in   erster  Linie   lautlich, 
dann  aber   auch   in  gewissem  Grade  begrifflich  assimilieren,   so   daß 
der    ursprüngliche    Begriff    des    Wortes    dadurch    zwar    nicht    ver- 
drängt   wird,    aber    eine    eigentümliche    Färbung    gewinnt,    die    ihm 
vor   dieser   Einwirkung   nicht   zukam:    dies  ist   der  Fall  der  Wort- 
entlehnung    mit    Begriffsassoziationen    oder  der   sogenannten 
„Volksetymologie".       Wir    können    demnach    unter     Benutzung    der 
gleichen  Symbole  beide  Gruppen  als  einen  Typus  V  und  VI  den  obigen 
vier  hinzufügen. 


Wortentlehnungen  mit  reiner  Lautassoziation.  471 

Typus  V.     (Wortentlehnung  mit  reiner  Lautassoziation.) 
a  ß  a  l  m  n  (z.  B.  fenestrum)  (Lager  ahd.  legar     Maser  ahd.  masar)^) 

a  ß  a  c  m  t    (Fenster  ahd.  venstar)       c  e  s  p  c  d  s  t  usw. 


Typus  VL     ( Worten tlehming  mit  Begriffsassoziationen.) 

(Arm)  (Brust) 

aß  a  l  ni  n  (z.-B.  arcuballista)  y  a  m  —    d  c  t 


a  ß  y  d  a  c  m  t    (Armbrust) 


<-'K 


2.  Wortentlehnungen  mit  reiner  Lautassoziation. 

Die  ,, Wortassimilation"  ist  die  einfachere  dieser  Erscheinungen. 
Sie  ist  diejenige,  bei  der  die  bloßen  Lautassoziationen  und  sie  be- 
gleitend die  physischen  Bedingungen  der  Lauterzeugung  vorwalten. 
Zugleich  verhält  sie  sich  aber,  wie  die  früher  (S.  404  ff.)  erwähnten 
Beobachtungen  bei  Sprachmischungen  begreiflich  machen,  wesent- 
lich abweichend  nach  der  Stufe  der  Kultur,  auf  der  sie  stattfindet. 
In  seiner  ursprünglichen,  Grund-  wie  Beziehungselemente  des  Wortes 
gleichmäßig  ergreifenden  Gestalt  vollzieht  sich  der  Vorgang  nur, 
wenn  die  Aufnahme  durch  die  mündliche  Rede  geschieht,  und  beson- 
ders wenn  sie  der  Ausbildung  einer  Schriftsprache  vorausgeht,  also 
in  einer  frühen  Kulturepoche  des  assimilierenden  Volksgeistes.  Je 
mehr  sich  dagegen  die  eigene  Sprache  gefestigt  und  die  Aufmerksam- 
keit auf  die  Eigentümlichkeit  des  Fremdworts  geschärft  hat,  um  so 


^)  Natürlich  sollen  diese  Beispiele  wieder,  ähnlich  wie  die  oben  (Typus 
I — IV)  bei  den  äußeren  Wirkungen  der  Assoziation  angeführten,  nicht  sagen, 
daß  speziell  von  den  Lautelementen  der  hier  angeführten  Wörter  eine  nachweis- 
bare Attraktion  ausgegangen  sei,  sondern  sie  sollen  nur  andeuten,  daß  zur  Zeit 
der  Assimilation  überhaupt  lautverwandte  Wörter  existierten,  die  attrahierend 
wirken  konnten. 


472  Der  Lautwandel. 


mehr  zieht  sich  der  Assimilationsprozeß  auf  die  Beziehungselemente 
zurück  und  läßt  den  eigentlichen  Wortkörper  selbst  unangetastet. 
Deutlich  erhellt  dieser  Unterschied  in  solchen  Fällen,  wo  eine  Sprache 
auf  verschiedenen  Stufen  ihrer  Entwicklung  aus  einer  und  derselben 
fremden  Sprache  das  gleiche  Wort  assimiliert  hat,  wie  bei  manchen 
dem  Lateinischen  und  Romanischen  entnommenen  deutschen  Lehn- 
wörtern. So  ist  schon  in  sehr  früher  Zeit  Vogt  (ahd.  ßgat)  aus  lat. 
vocatus,  dann  viel  später  im  mhd.  und  nhd.  Advokat  aus  dem  gleich- 
bedeutenden advocatus  gebildet  worden;  ferner  Speise  (ahd.  spisa), 
das  aus  dem  neulat.  spesa  =  spensa  eigentlich  ,,  Auf  wand''  entlehnt 
wurde,  während  aus  dem  gleichen  Wort  in  viel  späterer  Zeit  (17.  Jahrh.) 
das  der  ursprünglichen  Bedeutung  näher  liegende  Spese  (,, Geschäfts- 
spesen) in  den  kaufmännischen  Verkehr  Aufnahme  fand.  Ähnlich 
sind  zu  verschiedenen  Zeiten  Segen  und  Signal  aus  Signum,  Kreuz 
und  Kruzifix  aus  crux,  crucifixum  entstanden  usw.  ^). 

Wenn  man  diese  Unterschiede  der  Aneignung  fremden  Sprach- 
guts in  früherer  und  in  späterer  Zeit  in  der  Regel  darauf  zurückführt, 
daß  sich  die  Sprache  dort  noch  in  einem  ,, bildsameren"  Zustande 
befunden  habe  als  hier,  so  ist  das  natürlich  eine  nichtssagende  Rede- 
weise. Der  eigentliche  Grund  kann  allein  darin  liegen,  daß  die  phy- 
sischen und  psychischen  Bedingungen,  die  überhaupt  bei  der  Wort- 
assimilation eine  Rolle  spielen,  auf  einer  Stufe  primitiverer  Kultur 
intensiver  wirken,  während  sie  doch  ihrem  allgemeinen  Charakter 
nach,  wie  sich  aus  der  Übereinstimmung  der  Erscheinungen  schließen 
läßt,  hier  wie  dort  die  nämlichen  sind.  Die  physiologischen  Be- 
dingungen für  die  Umwandlung  eines  gehörten  Lautes  bei  seiner  Re- 
produktion durch  die  eigenen  Sprachorgane  sind  aber  doppelter  Art: 
sie  sind  sensorische,  insofern  der  akustische  Eindruck  innerhalb 
einer  gewissen  Breite  schwankt;  und  sie  sind  motorische,  insofern 
jedes  Sprachorgan  dem  Lautsystem  der  eigenen  Sprache  adaptiert  ist 
und  daher  vermöge  der  von  ihm  erworbenen  mechanischen  Übung 
fremde  Laute  bei  der  Reproduktion  im  Sinne  der  gewohnten  um- 
wandelt.    Infolge  jener  doppelseitigen  Natur  der   Sprachfunktionen, 


^)  Vgl.  F.  Kluges  Verzeichnis  lateinischer  Lehnwörter  in  den  altgermanischen 
Sprachen,  in  Pauls  Grundriß  der  german.  Philologie,^  I,  S.  333  ff. 


Wortentlehnungen  mit  reiner  Lautassoziation.  473 

nach  der  jedes  Denken  von  Worten  zum  leisen  Sprechen  zu  werden 
strebt,  und  nach  der  sich  jedes  Hören  von  Worten  mit  dem  Impuls 
zur  Nachbildung  der  Sprachlaute  verbindet,  greifen  nun  diese  akusti- 
schen und  motorischen  Umbildungen  fortwährend  ineinander  ein: 
der  Laut  wird  anders  gehört,  weil  er  anders  gesprochen  wird;  und  er 
wird  anders  gesprochen,  weil  er  anders  gehört  wird.  Schon  innerhalb 
der  verschiedenen  Dialekte  einer  und  derselben  Sprache  ist  diese 
AVechselwirkung  deutlich  zu  bemerken:  Lautunterschiede,  die  den 
Genossen  des  einen  Dialekts  im  Sprechen  wie  Hören  geläufig  sind, 
werden  von  denen  des  andern,  solange  sich  jene  Unterschiede  inner- 
halb enger  Grenzen  bewegen,  auch  akustisch  nicht  unterschieden. 
Hier  macht  sich  eben,  wie  schon  bei  den  individuellen  Wortassimila- 
tionen der  kindlichen  Sprache  (S.  314  ff.),  die  Tatsache  geltend,  daß 
jeder  Sprachlaut  eine  Komplikation  ist,  in  welche  die  eigene  Artiku- 
lationsempfindung mit  eingeht,  so  daß,  wenn  diese  unverändert  bleibt, 
auch  die  Änderungen  der  begleitenden  Gehörsempfindung  schwerer 
bemerkt  werden.  Zu  diesen  psychologischen  Momenten  kommt  dann 
noch  als  eine  weitere  wichtige  psychophysische  Bedingung,  daß  in 
der  Sprachgemeinschaft,  die  ein  Fremdwort  aufnimmt,  Vorstellungs- 
residuen besonderer  Art  zu  assimilativer  Wechselwirkung  mit  neuen 
Eindrücken  bereit  liegen.  In  eine  in  völlig  fremder  Sprache  gehörte 
Kede  ist  der  Hörende  fortwährend  geneigt,  die  ihm  vertrauten  Laute 
und  Worte  hineinzuhören,  ähnlich  wie  wir  auch  in  beliebige  unartiku- 
lierte Geräusche  oder  Naturlaute,  in  das  Klappern  der  Mühlräder,  das 
Ticken  des  Uhrpendels,  die  Stimmlaute  der  Tiere,  bekannte  Sprach- 
laute hineinhören  können.  Auf  diese  Weise  ist  jede  durch  einen  aku- 
stischen Eindruck  geweckte  Lautvorstellung  ein  Assimilationsprodukt, 
in  welchem  die  reproduktiven  Elemente,  die  dem  Schatz  geläufiger 
Wortvorstellungen  entstammen,  um  so  leichter  den  überwiegenden 
Bestandteil  bilden,  je  fremdartiger  die  gehörten  Laute  selbst  sind. 
Alle  diese  psychophysischen  Momente  zusammengenommen  verleihen 
der  Wortassimilation  ihren  eigenartigen  Charakter  und  unterscheiden 
sie  von  den  auf  die  formalen  Wortbestandteile  beschränkt  bleibenden 
Angleichungs  Vorgängen . 


474  Der  Lautwandel. 


3.  Wortentlehnungen  mit  Begriffsassoziationen. 

Die  sogenannten  ,, Volksetymologien"  sind  Erscheinungen,  die 
sich  in  allen  ihren  Eigenschaften  den  ursprünglichen  Wortassimi- 
lationen anschließen.  Doch  unterscheiden  sie  sich  dadurch,  daß  die 
bei  der  gewöhnlichen  Wortassimilation  ganz  im  Hintergrund  bleiben- 
den begrifflichen  Elemente  der  früheren  Wortvorstellungen  in  dop- 
pelter Weise  entscheidend  an  dem  Vorgang  teilnehmen.  Erstens  sind 
sie  es,  die  die  Auffassung  des  Wortes  und  dessen  Keproduktion  be- 
stimmen. Zweitens  verleihen  sie  dem  durch  das  assimilierte  Wort 
ausgedrückten  Begriff  selbst  eine  eigentümliche  Färbung,  die  ihn 
den  assimilierenden  Begriffselementen  nähert.  Diese  Verhältnisse 
finden  in  dem  auf  S.  471  dargestellten  Schema  (Typus  VI)  darin  ihren 
Ausdruck,  daß  das  neu  gebildete  Wort  nach  seinem  begrifflichen  Auf- 
bau aus  direkten,  ursprünglichen  Elementen  (a,  ß),  die  in  der  Regel 
das  Übergewicht  behalten,  und  aus  reproduktiven,  die  durch  die  Laut- 
assoziation geweckt  werden  (/,  d),  gemischt  ist.  Hiermit  verbindet 
sich  dann  von  selbst  die  diese  Klasse  von  Angleichungen  unterscheidende 
Eigenschaft,  daß  sich  bei  ihren  ausgeprägten  Formen  überhaupt  nicht 
mehr  Haupt-  und  Nebenwirkungen  unterscheiden  lassen,  sondern 
daß  an  jedem  Vorgang  zwei  Hauptwirkungen  beteiligt  sind  (bei 
Typus  VI  durch  die  zwei  Pfeile  angedeutet),  die  eben  durch  ihre  Ver- 
bindung das  Eigenartige  der  Erscheinung  ausmachen.  Genauer  läßt 
sich  demnach  die  ,, Volksetymologie"  als  eine  ,, Wortassimilation  mit 
begrifflicher  Umbildung  des  Wortes  durch  die  assimilierenden  Ele- 
mente" oder,  wenn  man  diese  Definition  in  einen  kurzen  Ausdruck 
zusammenfassen  will,  als  eine  ,, lautlich-begriffliche  Wortassimilation" 
bezeichnen,  im  Unterschiede  von  der  ,,rein  lautlichen"  des  Typus  V. 
Wie  bei  dieser,  so  stellt  sich  aber  auch  bei  jener,  und  zwar  wegen  des 
Übergreifens  der  Assoziation  auf  die  begrifflichen  Elemente  in  noch 
höherem  Grade,  der  Enderfolg  des  Prozesses  als  ein  Produkt  der 
Wechselwirkung  direkter  und  reproduktiver  Elemente  dar,  an 
dem  bald  die  einen  bald  die  andern  überwiegend,  bald  auch 
beide  ziemlich  gleichmäßig  beteiligt  sein  können.  Übrigens  ist  die 
„Volksetymologie"  insofern  eine  spezielle  Form  der  Wortassimilation, 


Wortentlehnmigen  mit  Begriffsassoziationen.  475 

als  sie  gleichfalls  das  Wort  als  Ganzes  ergreift.  Nur  hierdurch  ist  es 
möglich,  daß  sie  den  Begriffsinhalt  des  Wortes  in  mehr  oder  minder 
weitgehendem  Maße  verändert,  da  der  Begriffsinhalt  im  allgemeinen 
an  das  Wortganze  gebunden  ist.  Daß  diese  Vorgänge  durch  den  Aus- 
druck ,, Volksetymologie"  psychologisch  in  ein  falsches  Licht  gerückt 
werden,  ist  hiernach  einleuchtend.  Mit  der  reflektierenden  Wort- 
erklärung des  Etymologen  sind  sie  in  Wahrheit  absolut  unvergleich- 
bar. Sie  unterscheiden  sich  von  ihr  ebenso  nach  ihren  äußeren  wie 
nach  ihren  inneren  Merkmalen.  Die  wirkliche  Etymologie  sucht  das 
Wort  auf  ein  verloren  gegangenes  oder  wenigstens  aus  dem  Bewußt- 
sein verschwundenes  Stammwort  von  irgendwie  verwandter  Bedeu- 
tung zurückzuführen;  die  ,, Volksetymologie"  substituiert  umgekehrt 
ein  Wort  mit  bekannter  Bedeutung  einem  andern,  wodurch  dieses 
zugleich  mehr  oder  weniger  in  seiner  Bedeutung  verändert  wird.  Vor 
allem  aber  ist  die  sogenannte  Volksetymologie,  wie  die  Wortassimi- 
lation überhaupt,  ein  rein  assoziativer,  dem  psychophysischen  Mecha- 
nismus der  Sprachfunktionen  zugehöriger  Vorgang,  von  der  rein  laut- 
lichen Wortassimilation  eben  nur  dadurch  verschieden,  daß  mit  den 
Lauten  zugleich  begriffliche  Elemente  assoziativ  gehoben  werden 
und  infolgedessen  ihrerseits  wieder  auf  die  Lautassoziation  zurück- 
wirken können. 

Mit  Rücksicht  auf  ihr  Verhältnis  zu  den  lautlichen  Wortassi- 
milationen lassen  sich  nun  die  lautlich-begrifflichen  oder  die  ,, Volks- 
etymologien" wieder  in  zwei  Gruppen  sondern,  deren  eine  jenen  noch 
näher  steht,  während  bei  der  zweiten  das  begriffliche  Moment  der 
Assoziation  überwiegt.  Die  erste  können  wir  als  ,, Wortassimilationen 
mit  begrifflichen  Nebenwirkungen",  die  zweite  als  ,, Wortassimila- 
tionen mit  Begriffsumwandlungen"  bezeichnen^). 


^)  Eine  reiche  Sammlung  hierher  gehöriger  Erscheinungen  aus  dem  Gebiet 
der  deutschen  Sprachgeschichte  bietet  neben  zwei  Aufsätzen  von  W.  Förstemann, 
der  zuerst  den  Namen  „Volksetymologie"  eingeführt  hat  (in  Kuhns  Zeitschrift 
für  vergl.  Sprachforschung,  I,  1852,  S.  1  ff.,  XXIII,  1877,  S.  375  ff.),  das  Buch 
von  K.  G.  Andresen,  Über  deutsche  Volksetymologie,^  1889.  Vieles,  aber  nicht 
immer  Zuverlässiges  aus  dem  Gebiet  der  Sprichwörter  und  sprichwortähnlichen 
Redensarten  enthält  unter  anderm  auch  H.  Schrader,  Der  Bilderschmuck  der 
deutschen  Sprache  (o.  J.).    Eine  Übersicht  der  Hauptliteratur  über  den  Gegen- 


476  Der  Lautwandel. 


a.   Wortassimilationen   mit  begrifflichen   Neben- 
wirkungen. 

Bei  dieser  Gruppe  unterscheidet  sich  die  lautliche  Seite  des  Vor- 
gangs nicht  von  einer  gewöhnlichen  rein  lautlichen  Wortassimilation. 
Nur  entsteht  als  Nebenwirkung  infolge  der  partiellen  oder  totalen 
Übereinstimmung  des  assimilierten  Produkts  mit  einem  bekannten 
Wort  eine  nebenhergehende  Assoziation  mit  dem  an  dieses  Wort  ge- 
bundenen Begriff.  Doch  wirkt  diese  Assoziation  nicht  in  erheblicher 
Weise  auf  das  Lautgebilde  selbst  ein.  Die  begriffliche  Färbung,  die 
das  assimilierte  Wort  annimmt,  erscheint  daher  als  ein  zufälliges 
psychologisches  Nebenprodukt  der  Wortassimilation:  diese  würde 
eine  rein  lautliche  geblieben  sein,  hätte  sich  nicht  der  Gleichklang 
mit  einem  geläufigen  Wort  eingestellt.  Dabei  kann  natürlich  dieser 
assoziierte  Begriffsinhalt  von  dem  wirklichen  des  Wortes  sehr  weit 
abliegen,  und  es  pflegt  darum  bei  dieser  ersten  Gruppe  die  Neben- 
vorstellung selbst  nur  in  der  Form  einer  unbestimmten  Komplikation 
mit  dem  Hauptbegriff  vorzukommen,  die  je  nach  besonderen  Be- 
dingungen auch  ganz  verschwinden  kann,  wodurch  der  Vorgang  in 
eine  rein  lautliche  Wortassimilation  übergeht. 

Beispiele,  die  dieser  Gruppe  vorwiegend  lautlicher  Assimila- 
tionen angehören,  finden  sich  weit  verbreitet  in  der  Sprache.  So  in 
Wörtern  wie  Damhirsch  aus  lat.  dama  „Hirsch",  Leinwand  aus  mhd. 
linivdt  durch  Assoziation  mit  dem  etymologisch  unverwandten  Ge- 
wand, Kammertuch  urspr.  Tuch  von  Camhray,  deutsch  Kamerich, 
Maulesel  von  lat.  mulus  usw.  In  allen  diesen  Fällen  fehlt  zwar  nur 
dann  die  durch  die  Lautangleichung  des  Wortes  erweckte  Neben- 
vorstellung, wenn  ein  bestimmtes  Wort  durch  häufigen  Gebrauch 
so  geläufig  geworden  ist,  daß  es  sich  in  ein  einfaches  Begriffszeichen 
ohne  alle  Nebenvorstellungen  umgewandelt  hat.  Aber  auch  wo  dies 
nicht  zutrifft,  ist  die  Nebenvorstellung  nur  lose  mit  der  Hauptvor- 
stellung verknüpft.    Bei  dem  ,,Mauleser'  denkt  man  etwa  an  das  Maul 


stand  und  zugleich  eine  kurze  Darstellung  der  Entwicklung  der  theoretischen 
Anschauungen  über  denselben  gibt  J.  Kjederqvist,  in  Sievers'  Beiträgen  zur 
Geschichte  der  deutschen  Sprache,  Bd.  27,  1902,  S.  409  ff . 


Wortentlehnungen  mit  Begiiffsassoziationen.  477 


des  Esels,  bei  dem  ,,Kammertucli"  an  die  Kammer,  in  der  es  auf- 
bewahrt oder  in  der  es  gemacht  wird,  oder  man  empfindet  vielleicht 
auch  das  Wort,  analog  wie  in  ,, Kammerherr''  u.  dgl.,  als  eine  Art 
Wertprädikat.  Für  die  psychologische  Entstehung  solcher  Asso- 
ziationen bleibt  es  jedoch  bezeichnend,  daß  eine,  wenn  auch  noch  so 
unbestimmte  Verbindung  der  Vorstellungen  immerhin  möglich  sein 
muß,  wenn  diese  den  Inhalt  des  Begriffs  ergreifende  Angleichung 
überhaupt  eintreten  soll.  Wo  das  nicht  der  Fall  ist,  da  kann  sich  eine 
vollkommene  lautliche  Übereinstimmung  zweier  Wörter  herstellen, 
mag  sie  nun  auf  dem  Wege  sonstiger  lautgesetzlicher  Änderungen 
oder  auf  dem  einer  rein  lautlichen  Wortassimilation  entstehen,  ohne 
daß  an  irgendeinen  begrifflichen  Zusammenhang  gedacht  wird.  So 
empfinden  wir  zwischen  bedauern,  eigen tl.  belauern  (wie  noch  Lessing 
schreibt)  von  mhd.  türen,  und  dauern  ==  ,, beharren"  von  lat.  durare, 
oder  zwischen  befehlen y  empfehlen  von  mhd.  hevelen,  empfelen  und 
fehlen  =  mhd.  vaelen  lat.  f allere  nicht  den  geringsten  Zusammen- 
hang, gerade  so  wenig  wie  zwischen  Ton  =  Lehm  und  Ton  =  tonus 
(musikalischer  Ton),  zwischen  Tau  =  Strick  (Schiffstau)  und  Tau 
=  engl,  dew  (feuchter  Niederschlag),  Lehre  und  Leere  und  vielen  an- 
dern lautlich  entweder  ganz  oder  nahe  zusammenfallenden,  aber  be- 
grifflich auseinanderliegenden  Wörtern.  Es  muß  also  stets  eine  ge- 
wisse Assoziationsmöglichkeit  hinzukommen,  wenn  sich  mit  der  laut- 
lichen auch  noch  eine  begriffliche  Assoziation  verbinden  soll,  während 
es  zugleich  als  ein  begünstigendes  Moment  wirkt,  wenn  das  die  Asso- 
ziation anregende  Wort  von  seltenerem,  das  der  assoziierten  Neben- 
vorstellung entsprechende  von  häufigerem  Gebrauch  ist.  So  werden 
ja  Wörter  wie  Damm,  Kammer,  Maul  usw.  viel  mehr  verwendet, 
als  Damhirsch,  Kammertuch,  Maulesel.  Dieser  Einfluß  der  relativen 
Häufigkeit  entspricht  aber  durchaus  den  allgemeinen  Assoziations- 
bedingungen. Je  eingeübter  ein  Wort  ist,  um  so  mehr  ist  es  geneigt, 
bei  jedem  Anlaß  mit  seinen  lautlichen  wie  begrifflichen  Elementen 
deutlich  bewußt  zu  werden.  Ein  seltenes  Wort  dagegen  wirkt  zu- 
nächst nur  als  Lautgebilde,  und  es  bedarf  einer  gewissen  Zeit,  bis  der 
begleitende  begriffliche  Bestandteil  apperzipiert  wird.  Mittlerweile 
ist,  wenn  das  an  sich  seltene  Wort  einen  beweglicheren  Bestandteil 
hat,  dieser  als  selbständiger  Begriff  bereits  aktuell  geworden,  und  der 


478  D^i'  Lautwandel. 


Gesamtbegriff,  der  sich  nun  allmählich  ebenfalls  aufarbeitet,  findet 
jenen  bereits  vor,  mit  dem  er  sich  daher  alsbald  assoziiert.  Dies  kann 
aber  natürlich  nicht  geschehen,  wenn  die  begrifflichen  Elemente  beider 
Wörter  gleich  geläufig,  und  wenn  sie  überdies  zureichend  voneinander 
verschieden  sind.  Dann  wird  vielmehr  der  in  dem  gehörten  Worte 
liegende  Begriff  sofort  herrschend  und  läßt  den  durch  den  Gleich- 
klang etwa  assoziierbaren  gar  nicht  neben  sich  aufkommen.  Letz- 
teres geschieht  in  der  Tat  in  Wörtern  wie  befehlen,  empfehlen,  bedauern, 
die  uns  ungefähr  ebenso  geläufig  wie  fehlen  oder  dauern  geworden 
sind,  und  wo  trotz  der  Lautangleichung  an  diese  keine  Spur  einer  be- 
grifflichen Assoziation  zu  bemerken  ist. 

Hiermit  hängt  eng  zusammen,  daß  die  Bedingungen  für  laut- 
lich-begriffliche Wortassimilationen  am  günstigsten  dann  sind,  wenn 
das  gehörte  Wort  an  sich  der  begrifflichen  Beziehungen  für  den  Hören- 
den entbehrt,  wenn  es  also  z.  B.  einer  fremden  Sprache  oder  einer  zur 
Fremdsprache  gewordenen  älteren  Sprachstufe  angehört.  Hier  kommen 
dann  auch  am  ehesten  Assoziationen  mit  völlig  heterogenen,  ledig- 
lich durch  den  Wortklang  erweckten  Vorstellungen  vor,  die  nun  auf 
den  Lautcharakter  des  Wortes  stark  angleichend  zurückwirken  können. 
Dahin  gehört  z.  B.  die  populäre  Umgestaltung  des  unguentum  Neapo- 
litanum  in  umgewendeten  Napoleon,  des  Emplastrum  diachylon  in 
Diakonuspflaster,  der  Species  lignorum  in  spitze  Lenore,  des  Unguen- 
tum in  Umwand,  der  Morsellen  (von  Morsum  Bissen)  in  Mamsellen 
usw.  ^).  Ebenso  gewisse  aus  fremden  Sprachen  aufgenommene  sprich- 
wörtliche Redensarten  wie  ,,sein  Glück  in  die  Schanze  schlagen", 
wo  die  Chance  des  Spiels  in  eine  Schanze  (Festungsschanze)  verwandelt 
worden  ist,  oder  dialektische  Übertragungen  von  Redensarten,  wie 
blutjung  für  bluttjung,  blutt  dial.  ==  bloß,  also  ungefähr  so  viel  wie  ,,jung 
wie  ein  Vogel,  der  noch  nicht  flügge  ist",  pudelnaß  wahrscheinlich 
für  pfudelnaß,  pfudel  =  Pfütze,  also  eigentlich  ,,naß  wie  eine  Pfütze". 
In  allen  diesen  Fällen  besitzen  natürlich  die  Neben  vor  Stellungen,  die 
hier   das   Wort   selbst   umgeprägt   haben,   eine   verschiedene   Stärke. 


^)  Eine  ziemlich  reiche  Zusammenstellung  derartiger  volkstümlicher  Namen 
für  Arzneimittel  gibt  C.  Müller  (Dresden)  in  der  Zeitschrift  des  deutschen  Sprach- 
vereins, 11.  Jahrg.  Nr.  4,  1896. 


Wortentlehnungen  mit  Begriffsassoziationen.  479 

Sie  sind  am  schwäclisten  bei  dem  ,, umgewendeten  Napoleon"  und  ähn- 
lichen   anscheinend    durch    reine    Lautassoziation    entstehenden    Ge- 
bilden, bei  denen  nur  an  Stelle  einer  ursprünglich  schon  willkürlichen 
Benennung  eine  ebensolche  andere  getreten  ist^).    Tiefer  greift  dieser 
Einfluß  in  den  andern  Fällen,  wo  eine  dem  Gegenstand  inadäquate, 
aber  doch  irgendwie  mit  ihm  vereinbarte  Vorstellung  erweckt  wird. 
Hier  bleibt  der   Gedanke  in   einem  dem  ursprünglich  angenäherten 
Sinn  überhaupt  nur  dadurch  erhalten,  daß  die  so  verdrängte  Vor- 
stellung selbst  eine  bloße  Nebenvorstellung  war,  und  daß  daher  bei 
dem  ganzen  Prozeß  die  Hauptvorstellung  nach  Laut  wie  Begriff  un- 
verändert blieb.      Statt  „naß  wie  eine  Pfütze"  denkt  der  Redende 
nun  ,,naß  wie  ein  in  Wasser  gebadeter  Pudel";  statt  an  den  „blutten", 
noch  nicht  flügge  gewordenen  Vogel  denkt  er  etwa  an  die  roten  Wangen 
eines  gesunden  Kindes;  statt  an  die  ,, Chance"  des  Spieles  an  die  glück- 
liche Belagerung  einer  ,, Schanze",  falls  er  sich  überhaupt,  nachdem 
die  Redensarten  hinreichend  eingeübt  sind,    noch  an  die  Bedeutung 
des  Wortes  erinnert.     Denn  allerdings  wird  hier  die  inadäquate  Be- 
schaffenheit der  Vorstellungen  schon  darin  bemerkbar,  daß  sich  die 
syntaktische  Verbindung  durchaus  nicht  der  neuen  Nebenvorstellung 
angepaßt    hat.      Dies    ist  aber   zugleich    ein    Symptom    dafür,    daß 
diese   neue    Nebenvorstellung   überhaupt    nur    dunkler   im   Bewußt- 
sein  ist. 

b.  Wortassimilationen   mit   Begriffsumwandlungen. 

Durch  die  eingreifenden  Rückwirkungen,  die  in  Fällen  wie  den 
zuletzt  erwähnten  die   durch  die  Lautassimilation  erweckten,  eigent- 

^)  Daß  übrigens  auch  in  diesen  Fällen  gelegentlich  eine  Begriff sassoziation 
mitspielen  kann,  bemerkt  Kjederqvist.  Ein  Landapotheker  meinte,  wie  er  mit- 
teilt, die  Bauern  dächten  bei  dem  „umgewendeten  Napoleon"  an  die  Hemden 
und  Kleidungsstücke,  die  sie  zuerst  umwenden  müßten,  ehe  sie  dieselben  mit  der 
Salbe  bestrichen  (a.  a.  O.  S.  443).  Daß  die  Apotheken  die  reichsten  Fundstätten 
solcher  Umbildungen  sind,  hat  natürlich  seinen  guten  Grund  in  der  Fülle  un- 
bekannter Namen,  die  hier  dem  Kunden  aus  dem  Volke  entgegentreten.  Doch 
mag  auch  noch  eine  leise  Erinnerung  an  den  zum  Teil  sehr  seltsamen  Drogen- 
schatz der  vormaligen  Apotheken  mitwirken,  zu  denen  z.  B.  Eselspfoten,  Krebs - 
äugen,  die  Asche  alter  Schuhe  (cineres  calceorum  vetustorum)  und  ^äeles  ähnliche 
gehörten. 


480  D<?i'  Lautwandel. 


lieh  dem  Gegenstand  heterogenen  Vorstellungen  auf  den  begrifflichen 
Inhalt  eines  Wortes  ausüben,  nähern  sich  diese  Beispiele  schon  bedeu- 
tend der  zweiten  Gruppe  dieser  Erscheinungen,  den  Wortassimila- 
tionen mit  Begriffsumwandlungen.  Was  jene  Fälle  immer  noch 
von  dieser  Gruppe  scheidet,  ist  die  inadäquate  Beschaffenheit  der 
erweckten  Neben  Vorstellungen,  die  es  dort  zu  einer  festen  Assoziation 
mit  dem  ursprünglichen  Begriff  nicht  kommen  läßt.  Doch  finden 
sich  in  dieser  Beziehung  offenbar  wieder  die  verschiedensten  Ab- 
stufungen und  Übergänge:  ein  Wort  wie  ,, pudelnaß*'  z.  B.  steht  einer 
neu  gebildeten  Vorstellung  mit  fester  Assoziation  ihrer  Bestandteile 
schon  viel  näher  als  ,, blutjung"  oder  gar  als  die  ,, Schanze",  in  die 
das  Glück  geschlagen  wird.  Dies  ist  nun  aber  das  Wesentliche  bei 
den  wirklichen  Begriffsumwandlungen,  daß  der  lautliche  und  der 
begriffliche  Bestandteil  des  Wortes  zugleich  und  zum  Teil  jeder  durch 
den  andern  geändert  wird,  so  daß  sich  am  Ende  des  Prozesses  das 
durch  die  doppelte  Assimilation  veränderte  Wort  ebenso  als  ein  ein- 
heitliches Laut-  und  Begriffsgebilde  darstellt  wie  vorher.  So  ist  der 
Friedhof  in  unserer  heutigen  Sprache  ein  unmittelbar  die  Vorstellung 
des  Friedens  in  sich  schließender  Begriff  geworden,  verschieden  von 
dem  Freithof  mhd.  vrithof,  dem  ,, eingefriedigten  Hof",  der  er  einst 
war.  Ebenso  wird  die  Sündflut  heute  als  ein  echtes  Kompositum  zum 
Begriff  Sünde  verstanden,  obgleich  sie  erst  durch  eine  teils  lautliche 
teils  begriffliche  Angleichung  aus  der  sin-vluot,  der  ,, allgemeinen  Flut" 
(von  ahd.  mhd.  sin  ,, überall,  immer")  entstanden  ist.  Ahnliche  Bei- 
spiele sind  Liebstöckel  als  Verdeutschung  von  Levisticwn,  Pfeffermünze 
als  Umwandlung  von  Pfefferminze,  Beifuß  für  das  ältere  hihöz,  von 
hozen  stoßen,  also  wörtlich  ,,das  dazu  gestoßene"  (Kraut),  Fälle,  in 
denen  überall  Assoziationen  mit  dem  Stengel  oder  den  Blättern  oder 
der  Wurzel  der  Pflanze  mitgewirkt  haben  werden.  Weitere  Assimi- 
lationen dieser  Art  sind  Trampeltier  für  Dromedar  (von  ögofiag  Läufer), 
Maulwurf  für  moltwurfe,  von  mhd.  molte  ,, Staub",  also  ,,  Staub  werf  er", 
Murmeltier  für  mus  montanus  (Bergmaus),  Umwandlungen,  bei  deren 
erster  die  Vorstellung,  daß  der  Maulwurf  die  Erde  mit  dem  Mund 
aufwerfe,  wirksam  war,  während  die  zweite  auf  die  murmelnde  Stimme 
des  Tieres  bezogen  wird,  von  der  hier  dahingestellt  bleiben  mag,  ob 
sie  nicht  ebenfalls  bloß  in  der  Vorstellung  existiert.     Ähnliche  Bei- 


Beziehungen  d.  Wortentlehnungen  zu  d.  andern  assoziativen  Feme  Wirkungen.    481 

spiele,  deren  Entstehungsweise  hiernach  keiner  Interpretation  be- 
darf, sind  Höhenrauch  für  älteres  Heirauch  von  hei  ,,heiß,  trocken"  , 
Armbrust  aus  arcuhallista  von  arcus  „Bogen"  und  hallista  ,, Wurf- 
maschine", Hängematte,  das  zunächst  von  dem  holländischen  hangmat 
herstammt,  zu  dem  seinerseits  wieder  du  Ponceau  und  Pott  das  Ur- 
wort  in  dem  in  verschiedenen  amerikanischen  Sprachen  vorkommen- 
den Wort  für  ,,Bett"  (haynac,  amaca)  vermuten^).  Ganz  in  dieselbe 
Klasse  gehören  manche  neuere  Umbildungen,  wie  im  Schwedischen 
die  von  Stipendium  in  stöpeng  nach  stö'  =  stöd  (südschwedisch)  ,, Unter- 
stützung" und  peng  ,, Pfennig",  oder  niederd.  die  von  Odontine  (einem 
aus  England  eingeführten  Zahnmittel)  in  in  de  tene  ,,in  die  Zähne"  2), 
und  andere  dem  Beobachtungsgebiet  der  Landapotheke  entnommene 
Verdeutschungen,  wie  Tinctura  amara  in  Martertropfen,  Tinctura 
asae  foetidae  in  Aastropfen  und  ähnliche.  Auch  sprichwörtliche  Redens- 
arten gehören  hierher,  z.  B.  das  wütende  Heer  für  Wotans  {Wuotans) 
Heer,  ,, einem  den  Rang  ablaufen'^''  für  rank  ablaufen,  rank  =  ,, Neben- 
weg'', in  analoger  Bedeutung  wie  im  nhd.  Ranke  usw.  In  allen  diesen 
Fällen  läßt  sich  annehmen,  daß  lautliche  und  begriffliche  Assimi- 
lationen einander  vollkommen  parallel  gegangen  sind,  so  daß,  wenn 
auch  die  Lautumwandlung  zunächst  der  frühere  Prozeß  gewesen  sein 
wird,  doch  die  durch  sie  hervorgerufene  Begriffsumwandlung  alsbald 
wieder  auf  die  Lautgestalt  des  Wortes  zurückwirken  mußte. 


4.  Beziehungen  der  Wortentlehnungen  zu  den  andern 
assoziativen  Ferne  Wirkungen. 

Während  die  vorangegangenen,  ausschließlich  die  Beziehungs- 
elemente der  Wörter  ergreifenden  Wortentlehnungen  allgemeine, 
von  früh  an  in  allen  Sprachen  vorkommende  Erscheinungen  sind, 
gehören  die  lautlich-begrifflichen  Assoziationen  mehr  den  späteren 
Stadien  der  Sprachgeschichte  an.     Auch  scheinen  sie  ebenso  häufig 


1)  Pott,  Doppelung,   1862,   S.  81  ff.,  wo  noch  einige  weitere  Beispiele  er- 
läutert  sind. 

2)  Kjederqvist,  a.  a.  0.  S.  432  ff. 

Wundt,  Völkerpsychologie.    I.    4.  Aufl.  ^'- 


482  I^r  Lautwandel. 


Produkte  der  Dialektmischung  wie  der  eigentlichen  Sprachmischung 
zu  sein.  Auf  diese  mit  eigentümlichen  Bedingungen  der  Kulturent- 
wicklung zusammenhängenden  Momente  ist  es  wohl  zurückzuführen, 
daß  unter  den  neueren  Sprachen  die  deutsche  reicher  als  andere  an 
„Volksetymologien*'  zu  sein  scheint.  Bei  dem  ursprünglichen  Mangel 
an  Benennungen  für  die  Gegenstände,  mit  denen  der  Fortschritt  der 
Kultur  bekannt  machte,  war  die  deutsche  Sprache  darauf  angewiesen, 
teils  aus  dem  Lateinischen  und  aus  den  romanischen  Sprachen  Fremd- 
wörter aufzunehmen,  teils  sich  aus  eigenem  Vorrat  durch  Dialekt- 
übertragungen zu  ergänzen.  Immerhin  finden  sich  auch  auf  andern 
Sprachgebieten  zahlreiche  hierher  gehörige  Erscheinungen^).  Unter 
den  älteren  Sprachen  ist  besonders  das  Griechische  ziemlich  reich 
an  lautlich-begrifflichen  Assimilationen,  wie  schon  die  bekannten 
Umdeutungen  alter  mythologischer  Namen  lehren,  so  die  des  Hirten- 
gottes ndv  in  einen  ,, Allgott"  (vrav  ,, alles"),  des  Kgovog  in  ein  mytho- 
logisches Symbol  der  ,,Zeit"  (XQOt'og),  des  ^AitoXkuiv  Xvaelogy  des 
„leuchtenden"  (luceo  leuchte),  in  einen  „Wolfstöter"  kvycoxTovog,  des 
ägyptischen  Horpe  chrat  (,,Horus  das  Kind")  in  einen  ^AgTioAgdtr^g 
,, Herrn  der  Sichel"  (von  ccqjtt]  Sichel),  wobei  im  letzteren  Fall  auch 
noch  die  Auffassung  der  dem  Gott  auf  den  Bildwerken  beigegebenen 
Geißel  als  einer  Sichel  mitwirkte.  Diese  und  ähnliche  Beispiele  sprechen 
genugsam  für  die  Neigung  auch  des  griechischen  Volksgeistes,  das 
Unverständliche  oder  unverständlich  Gewordene  durch  Angleichung 
an  geläufige  Begriffe  und  Wörter  zu  assimilieren. 

Nach  allem  dem  dürfen  wir  wohl  die  lautlich-begrifflichen  An- 
gleichungen  als  ebenso  allgemeingültige  Erscheinungen  wie  die  übrigen 
Angleichungsvorgänge   ansehen.       Sie   bilden   aber   zugleich   insofern 


^)  Vgl.  für  das  Lateinische  und  Griechische  Otto  Keller,  Lateinische  Volks- 
etymologie und  Verwandtes,  1891  (Anhang:  Griechische  Volksetymol. ) ;  für  das 
Lidogermanische  überhaupt,  besonders  das  Griechische  Brugmann,  Grundriß 
der  vergl.  Grammatik,  an  den  im  Index  unter  „Volksetymologie'*  angeführten 
Stellen;  für  die  romanischen  Sprachen  Diez,  Etymologisches  Wörterbuch,^  1887, 
und  Meyer-Lübke,  Gramm,  der  roman.  Sprachen,  I,  1890,  im  Sachregister  unter 
„Volksetymologie".  Auch  Andresen  hat  in  der  Einleitung  zu  seiner  „Deutschen 
Volksetymologie*  einiges  aus  andern  Sprachgebieten  zusammengetragen,  a.  a.  0. 
S.  26  ff. 


Beziehungen  d.  Wortentlehnungen  ^u  d*  andern  assoziativen  Femewirkungen.  483 

die  letzte  Stufe  aller  assoziativen  Fernewirkungen,  als  bei  ihnen  die 
Vorgänge  selbst  ebenso  wie  die  Bedingungen,  unter  denen  sie  ent- 
stehen, am  verwickeltsten  sind.  In  dieser  Beziehung  bilden  alle  diese 
Prozesse,  von  den  einfachen  assoziativen  Wechselwirkungen  zwischen 
den  lautlichen  Beziehungselementen  der  Abwandlungen  eines  und 
desselben  Wortes  an  bis  zu  den  eventuell  alle  Laut-  und  Begriffs- 
elemente umfassenden  Umgestaltungen  der  Wörter  oder,  wie  sie  die 
populäre  Reflexionspsychologie  nennt,  den  ,, Volksetymologien",  eine 
Stufenreihe  von  Vorgängen,  in  der  jede  Form  assimilativer  Beziehung, 
die  aus  allgemeinen  psychologischen  Gründen  überhaupt  möglich 
ist,  auch  wirklich  vorkommt.  Dabei  ist  aber  diese  Stufenreihe  doch 
insofern  in  gewissem  Sinn  eine  stetige,  als  jene  Assoziation,  die  einer 
Form  ihr  eigentümliches  Gepräge  verleiht,  immer  nur  diejenige  Er- 
scheinung ist,  die  am  stärksten  an  den  Endprodukten  des  Prozesses 
hervortritt,  während  insbesondere  bei  den  einfacheren  dieser  Vor- 
gänge stets  Nebenwirkungen  vorkommen,  die  den  Übergang  zu  der 
nächsten  Stufe  vorbereiten.  So  verbindet  sich  jede  innere  mit  äußeren, 
freilich  aber  auch  jede  äußere  mit  inneren  grammatischen  Angleichungen, 
Begriffliche  und  grammatische  Angleichungen  greifen  mannigfach 
ineinander  ein,  und  in  den  begrifflichen  Angleichungen  der  Beziehungs- 
elemente bereiten  sich,  da  dabei  die  Grundelemente  des  Wortes  bereits 
als  assimilierende  Kräfte  auftreten,  die  lautlichen  und  lautlich-begriff- 
lichen Wortassimilationen  vor.  Das  seelische  Leben  ist  eben  auch 
hier  ein  Zusammenhang  ineinander  eingreifender  und  vielfach  in- 
einander fließender  Vorgänge,  die  leicht  über  die  Grenzen  hinaus- 
reichen, die  wir  ihnen  durch  die  Unterordnung  unter  gewisse  Be- 
griffe  ziehen. 


31* 


484  Der  Lautwandel. 


VI.  Regulärer  Lautwandel. 
1.  Allgemeine  Bedingungen  des  regulären  Lautwandels. 

Die  Frage,  warum  ein  Volk  den  Lautbestand  eines  Wortes  im 
Laufe    der    Jahrhunderte    scWießlicli    bis   zur    Unkenntlichkeit   ver- 
ändern kann,  läßt  sich  in  allgemeingültiger  Weise  unmöglich  beant- 
worten.   Wir  müßten,  um  dies  zu  leisten,  über  Art  und  Umfang  aller 
der  Wandlungen  Rechenschaft  geben,  die  durch  innere  Kultur  und 
äußere  Einflüsse  in   dem  ganzen   geistigen   und   körperlichen  Wesen 
der  redenden  Gemeinschaft  eingetreten  sind.     Wir  können  nur  fest- 
stellen,  daß   sich   solche  Wandlungen   unaufhaltsam   vollziehen,   und 
daß  sie  schon  in  Zeiträumen  eintreten,  in  denen  man  ihnen  in  der 
Regel  nur  wenig  Beachtung  schenkt.    Wie  die  deutsche  Sprache  noch 
zu  Leibniz'  Zeit  für  den  Ausdruck  von   Stimmungen  wie  Begriffen 
im  Vergleich  mit  der  italienischen,  französischen,  englischen  ein  un* 
gefüges  Werkzeug  war,  so  erscheint  sie  uns  in  ihrem  Lautcharakter, 
soweit  wir  auf  diesen  aus  den  Literaturdenkmalen  jener  Zeit  zurück- 
schließen können,  roher,   schwerfälliger.      Leider  ist  der  Phonoauto- 
graph  erst  eine  moderne  Erfindung.    In  der  Zukunft  mag  es  möglich 
sein,  Aussprache,  Betonung,   Schnelligkeit  imd  Rhythmus  der  Rede, 
wie  sie  innerhalb  einer  bestimmten  Epoche  gewesen  sind,  künftigen 
Generationen  aufzubewahren.      Uns   entgeht  dieses  Hilfsmittel,   das 
für  die   Aufnahme  fremder   Idiome,   namentlich   solcher  der  Natur- 
völker,  bereits  vielversprechende  Dienste  leistet.      Wir  können  uns 
keine  Vorstellung  davon  machen,  wie  Friedrich  der   Große  wirklich 
gesprochen  hat,  oder  wie  zu  seiner  Zeit  im  allgemeinen  gesprochen 
worden  ist.      Geschwindigkeit,   Rhythmus    und   Tonbewegung  lassen 
sich  durch  keine  schriftliche  Aufzeichnung  mit  vollkommener    Sicher- 
heit festhalten,    und  selbst  die  Laute  einer  Sprache  lassen  sich  in  den 
uns  geläufigen  Zeichen,   auch  wenn  sie  noch  so  sehr  mit  Hilfe  von  be- 
sonderen  Transkriptionszeichen   vermehrt   werden,   nur   in   sehr   ent- 
fernter Annäherung  wiedergeben.      Vor  allem  gilt  das  natürlich  für 
Sprachen  oder  für  Zustände  noch  heute  lebender  Sprachen,  die  der 
geschichtlichen  Vergangenheit  angehören.     Wo  mehrere  Generationen 
nebeneinander  leben,   da  vernehmen  wir  aber  zuweilen  noch  letzte 


Allgemeine  Bedingungen  des  regulären  Lautwandels.  485 

Andeutungen  solcher  Wandlungen  in  der  Sprechweise  der  Alten  und 
Jungen. 

Welches  sind  nun  die  Ursachen  dieser  wahrscheinlich  bald  schneller 
bald  langsamer  sich  vollziehenden  Veränderungen  ?  Ganz  im  all- 
gemeinen pflegt  man  wohl  drei  solcher  Ursachen  anzunehmen:  erstens 
den  Einfluß  der  äußeren  Naturumgebung,  zweitens  die  Ver- 
mischung von  Völkern  und  Rassen  verschiedener  Abstammung, 
und  drittens  den  Einfluß  der  Kultur,  wenn  wir  unter  diesem  Be- 
griff alles  zusammenfassen,  was  innerhalb  einer  Sprachgemeinschaft 
unabhängig  von  jenen  beiden  Bedingungen  eine  Veränderung  in  dem 
physischen  wie  in  dem  geistigen  Charakter  der  einzelnen  herbei- 
führen kann.  Bei  der  Würdigung  dieser  Einflüsse  wie  der  Faktoren, 
in  die  sie  sich  zerlegen  lassen,  sind  dann  vor  allem  zwei  Gesichts- 
punkte zu  beachten,  die  bei  den  analogen  Entwicklungsproblemen 
der  Naturwissenschaft  bereits  ihre  Fruchtbarkeit  bewährt  haben. 
Der  erste  besteht  darin,  daß  aus  der  allmählichen  Anhäufung  kleiner 
Wirkungen  große  Veränderungen  entstehen  können.  Der  zweite  läßt 
sich  in  die  schon  bei  den  Beziehungen  zwischen  Laut  und  Bedeutung 
erwähnte  Regel  fassen,  daß  komplexe  Erscheinungen  auch  aus  kom- 
plexen Bedingungen  hervorzugehen  pflegen.  Dabei  wird  der  erste 
dieser  Sätze  zugleich  in  dem  Sinne  durch  den  zweiten  modifiziert, 
daß  neu  hinzutretende  Einflüsse  auf  Tendenzen,  die  bis  dahin  mehr 
oder  weniger  latent  geblieben  waren,  als  auslösende  Kräfte  wirken 
können,  indem  sie  Verhältnismäßig  rasch  Veränderungen  erzeugen, 
die  durch  andere,  stetig  wirkende  Kräfte  bereits  vorbereitet  waren, 
aber  eines  von  außen  kommenden  Anstoßes  bedürfen,  um  ins  Leben 
zu  treten.  Solche  Auslösungen  lange  vorbereiteter  Wirkungen  sind 
es,  die,  wie  wir  Vermuten  dürfen,  bei  den  organischen  Arten  jene  plötz- 
lich auftretenden  Mutationen  zustande  bringen,  aus  denen  mit  über- 
raschender Schnelligkeit  neue  Varietäten  entspringen  können^).  Bei 
der  Sprache  ist  ein  solches  Zusammenwirken  plötzlich  eintretender 
neuer  Bedingungen  mit  langsam  und  stetig  sich  vollziehenden  Ver- 
änderungen der  funktionellen  Anlagen  von  vornherein  um  so  wahr- 


1)  Hugo  de  Vries,  Die  Mutationstheorie,  Bd.  I,  I90L 


486  Dpi'  Lautwandel. 


scheinliclier,  als  sie  vermöge  ihrer  Gebundenheit  an  die  Gemeinschaft 
ein  Beharrungsvermögen  besitzt,  wie  es  den  rein  individuellen  Lebens- 
äußerungen nicht  eigen  zu  sein  pflegt.  Denn  wo  diese  sich  unbeschränkt 
entfalten  können,  wird  dort  durch  den  Einfluß  der  Umgebung  die 
individuelle  Abweichung  unterdrückt,  —  ein  Vorgang  der  Elimi- 
nation des  Individuellen  und  relativ  Zufälligen,  der  in  allen  sozialen 
Entwicklungen  wiederkehrt.  Die  Wirklichkeit  steht  auch  hier  im  vollen 
Gegensatze  zu  jenem  Schema,  nach  welchem  sich  die  individualistische 
Reflexion  völkerpsychologische  Vorgänge  zurechtlegt.  Die  rein  in- 
di^dduellen  Einflüsse  verschwinden,  von  wenigen  Grenzfällen  ab- 
gesehen, infolge  der  Ungeheuern  Macht  der  überkommenen  Lebens- 
und Denkformen  wirkungslos.  Die  generellen  aber  können  entweder 
stetig  und  allmählich  mehr  oder  weniger  weitgehende  Veränderungen 
hervorbringen;  oder  sie  können  zunächst  latent  bleiben,  bis  andere 
in  gleicher  Richtung  wirkende  Bedingungen  oder  aber  irgendwelche 
überhaupt  den  vorhandenen  Beharrungszustand  unterbrechende  Wir- 
kungen hinzutreten,  die  nun  auf  jene  latenten  Anlagen  als  auslösende 
Kräfte  wirken.  Dann  kann  der  reguläre  Lautwandel  selbst  bald  als 
ein  stetiger,  bald  als  ein  annähernd  plötzlicher  erscheinen.  Für 
das  Vorwalten  des  ersteren  spricht  namentlich  der  Umstand,  daß  die 
Lautänderungen,  die  er  erzeugt,  auf  die  individuelle  Artikulation  über- 
tragen in  der  Regel  den  Charakter  eines  stetigen  Wandels,  nicht  den 
eines  springenden  Wechsels  der  Laute  besitzen.  Immerhin  ist  diese 
individuelle  Bedingung  nicht  entscheidend,  da  sie  einen  generellen 
stetigen  Wandel  allerdings  allein  möglich  macht,  dabei  aber  einen 
mehr  oder  weniger  plötzlichen  nicht  ganz  ausschließt.  So  kann  z.  B. 
a  in  e  oder  d  in  t  durch  alle  möglichen  unendlich  kleinen  Zwischen- 
stufen der  Artikulation  übergehen;  dieser  Wechsel  kann  aber  auch 
verhältnismäßig  plötzlich,  d.  h.  ohne  daß  die  Zwischenstufen  in  der 
uns  zugänglichen  Sprachüberlieferung  deutlich  fixiert  sind,  erfolgen. 
Zugleich  rückt  die  Tatsache,  daß  manche  dieser  Formen  des  Laut- 
wechsels in  nahezu  übereinstimmender  Weise  in  Sprachen  vorkommen 
können,  die  weder  genetisch  noch  historisch  irgendwie  zusammen- 
hängen, diese  Erscheinungen  in  die  unmittelbare  Nähe  der  ebenfalls 
über  die  verschiedensten  Sprachgebiete  verbreiteten  Kontaktwir- 
kungen der  Laute.    Nur  daß  wir  hier  die  Bedingungen  der  Lautände- 


Allgemeine  Bedingungen  des  regulären  Lautwandels.  487 

rungen  selir  viel  leichter  nachweisen  können  als  dort.  Dies  spricht 
abermals  dafür,  daß  es  zu  einem  wesentlichen  Teil  die  äußere  Kompli- 
kation der  Bedingungen  ist,  die  den  regulären  Lautwandel  auszeichnet. 
Dadurch  werden  wir  aber  zugleich  von  vornherein  darauf  hingewiesen, 
daß  wir  diese  Bedingungen  nicht  auf  einem  völlig  andern,  den  Formen 
des  singulären  Lautwandels  fremden  Boden  zu  suchen  haben,  sondern 
daß  hier  die  nächste  Aufgabe  darin  besteht,  zu  erforschen,  ob  nicht 
hier  wie  dort  die  nämlichen  psychophysischen  Ursachen  wirksam, 
nur  daß  diese  infolge  der  Häufung  und  der  Durchkreuzung  der  Be- 
dingungen schwieriger  oder  in  manchen  Fällen  vielleicht  überhaupt 
nicht  mehr  aufzufinden  sind. 

Die  Komplikation   der  Bedingungen,   die  auf  solche  "Weise   bei 
den  meisten  Lautänderungen  vorauszusetzen  ist,  fällt  nun  vor  allem 
bei  dem  regulären  Lautwandel  ins  Gewicht.    Ist  sie  auch  bei  den  ein- 
zelnen  Kontakt-   und   Fernewirkungen   sicherlich   nicht  minder  vor- 
handen, so  hat  sich  hier  doch  schon  in  den  Erscheinungen  selbst  ge- 
wissermaßen   eine    Auslese    wenigstens    der    zunächst    eingreifenden 
äußeren  Ursachen  vollzogen.    Da  sich  nämlich  bei  den  Kontaktwir- 
kungen bestimmte  angrenzende  Laute,  bei  den  Fernewirkungen  nahe- 
liegende  Vorstellungsassoziationen   als   solche   nächste   Ursachen   er- 
weisen, so  geben  diese  hier  zugleich  die  leitenden  Gesichtspunkte  an 
die  Hand,  nach  denen  sich  auch  die  entfernteren  physischen  und  psy- 
chischen  Bedingungen   wenigstens   mit   Wahrscheinlichkeit   ermitteln 
lassen.    Das  ist  anders  bei  dem  regulären  Lautwandel.    Er  dokumen- 
tiert sich  eben  durch  die  relative  Unabhängigkeit  von  solchen  un- 
mittelbar  nachweisbaren    Kontakt-    und    Assoziationswirkungen    wie 
nicht  minder  durch  seine  Ausdehnung  über  eine  ganze  Sprache  oder 
Sprachgruppe   als   ein    Vorgang,    dessen    entscheidende   Bedingungen 
weiter  zurückliegen. 


488  I^^r  I^utwandel. 


2.  Einfluß  der  Naturumgebung. 

Unter  den  obengenannten  drei  Kategorien  mögliclier  Ursachen 
hat  man  dem  Einflüsse  der  äußeren  Naturbedingungen  eine 
besonders  wichtige  Bedeutung  beigemessen^).  Zu  dieser  Annahme 
führte  mit  einer  gewissen  Folgerichtigkeit  die  Voraussetzung,  daß 
der  reguläre  Lautwandel  physisch  bedingt  sei,  im  Gegensatze  zu 
den  psychisch  bedingten  assoziativen  Lautänderungen.  Aber  zunächst 
ist  diese  Voraussetzung  selbst,  wie  schon  oben  bemerkt  wurde,  eigent- 
lich eine  petitio  principii.  Ob  bei  dem  regulären  Lautwandel  das  Phy- 
sische oder  das  Psychische  das  Primäre  sei,  wissen  wir  nicht;  jeden- 
falls ist  das  erstere  nicht  ohne  weiteres  vorauszusetzen.  Gibt  es  doch 
eine  Menge  von  Erscheinungen,  namentlich  alle  die,  bei  denen  die 
willkürliche  Einübung  bestimmter  physischer  Leistungen  eine  Rolle 
spielt,  wo  die  Ausgangspunkte  der  physischen  Vorgänge  auf  psychischer 
Seite  liegen.  Gerade  die  Sprache  bietet  hierfür  ein  deutliches  Bei- 
spiel in  den  Rückwirkungen,  welche  die  Sprachfunktionen  auf  die 
physische  Bildung  der  Sprachorgane  und  dadurch  indirekt  auf  den 
mimischen  und  physiognomischen  Ausdruck  ausüben.  Es  gibt  wenige 
Sprachen,  die  trotz  ihrer  genealogischen  Verwandtschaft  doch  so 
auffallende  Verschiedenheiten  ihres  Lautsystems  zeigen  und  darum 
eine  so  abweichende  Konfiguration  der  Sprachorgane  erfordern  wie 
das  Hochdeutsche  und  das  Englische;  und  die  auf  den  ersten  Blick 
erkennbaren  physischen  Rassenunterschiede  beider  Völker  bestehen 
zu  einem  großen  Teil  in  den  mit  der  Sprache  zusammenhängenden 
physiognomischen  Unterschieden.  Man  kann  aber  oft  beobachten, 
daß  in  England  geborene  Kinder  deutscher  Eltern  die  nämlichen 
physiognomischen  Züge  annehmen.  Die  frühe  Einübung  der  Sprach- 
organe gewinnt  also  hier  das  Übergewicht  über  die  angeborenen  Rassen- 
merkmale. Auch  bei  dem  erwachsenen  Deutschen,  der  nach  England 
auswandert,  sind  manchmal  Spuren  dieser  Umwandlung  zu  bemerken. 
Sie  sind  aber  hier  geringer,  offenbar  weil  die  große  Bildsamkeit  der 
kindlichen  Organe  bei  ihm  nicht  mehr  vorhanden  ist.   In  andern  Fällen 


1)  H.  Osthoff,  Das  physiologische  und  psychologische  Moment  der  sprach- 
lichen Formenbildung,  S.  19  ff. 


Einfluß  der  Naturumgebung.  489 

haben  zwar  die  klimatischen  und  die  sonstigen  Unterschiede  der 
Naturumgebung  einen  deutlichen  Einfluß  auf  den  gesamten  physischen 
Habitus  ausgeübt.  Doch  die  nebenhergehenden  Einflüsse  der  Kultur 
und  der  Rassenmischung  sind  so  groß,  daß  es  völlig  unsicher  bleibt, 
inwieweit  eingetretene  Lautmodifikationen  auf  solche  Natureinflüsse 
zurückzuführen  sind.  So  hat  besonders  der  angelsächsische  Typus 
in  Amerika  wie  in  Australien  charakteristische  Umwandlungen  er- 
fahren. Auch  ist  es  bemerkenswert,  daß  der  echte  Yankeetypus  in 
Amerika  vor  allem  dann  sich  ausprägt,  wenn  Rassenmischungen  an- 
scheinend nicht  erfolgt  sind.  Aber  da,  wie  wir  sehen  werden,  Rassen- 
berührungen nicht  weniger  als  Rassenmischungen  die  Sprache 
beeinflussen  können,  und  da  gewisse  Besonderheiten  des  amerika- 
nischen Englisch,  wie  die  Unterdrückung  und  Schwächung  gewisser 
Laute,  wohl  eher  zu  der  Eigenart  der  amerikanischen  Kultur,  zu  der 
Hast  des  Lebens  und  der  sorgloseren  Behandlung  des  überkommenen 
Sprachguts,  in  Beziehung  gebracht  werden  können,  so  bleibt  es  hier 
sehr  zweifelhaft,  ob  oder  inwieweit  die  Natur  als  solche  zu  den  ver- 
ändernden Bedingungen  zu  zählen  sei. 

Von  größerer  Bedeutung  scheinen  auf  den  ersten  Blick  zwei 
andere  Zeugnisse  zu  sein,  die  man  denn  auch  vorzugsweise  für  einen 
direkten  klimatischen  Einfluß  auf  den  Lautbestand  der  Sprache  an- 
geführt hat.  Das  eine  besteht  in  der  Tatsache,  daß  die  Sprachen  von 
Gebirgs Völkern,  welcher  Abstammung  sie  auch  seien,  ob  sie  die  deutschen 
Alpen  oder  den  Kaukasus  oder  die  hohen  Kordilleren  bewohnen,  auf- 
fallend reich  an  Gutturallauten  sind;  die  andere  in  der  Beobachtung, 
daß  stammesfremde  Sprachen  nicht  selten  in  ihrem  Lautbestand 
tibereinstimmen,  wenn  sie  in  Gebieten  von  gleichen  geographischen 
Bedingungen  gesprochen  werden.  Die  Allgemeingültigkeit  der  ersten 
dieser  Beobachtungen  mag  hier  dahingestellt  bleiben  —  für  die  Ge- 
birgsvölker  Hochasiens  z.  B.  scheint  sie  nicht  zuzutreffen  — ,  sicher 
ist  aber,  daß  die  semitische  Rasse,  deren  Sprachen  sich  durch  einen 
besonderen  Reichtum  an  Kehllauten  auszeichnen,  in  vielen  ihrer  Ab- 
zweigungen seit  unvordenklichen  Zeiten  keine  Berggegenden  be- 
wohnt hat.  Auf  der  andern  Seite  ist  die  Möglichkeit  nicht  ausgeschlossen, 
daß  nicht  das  Gebirgsklima  als  solches,  etwa  sein  Einfluß  auf  Lungen 
und  Kehlkopf,  sondern  die  mit  dem  Gebirgsleben  verbundene  Lebens- 


490  Der  Lautwandel. 


und  Sprechweise,  wie  z.  B.  die  Gewohnheit  an  lautes,  von  Berg  zu 
Berg  erschallendes  Rufen,  zu  dem  das  Leben  der  Hirten  auf  einsamer 
Alm  herausfordert,  die  eigentliche  Ursache  dieser  Anlage  der  Sprach- 
organe sei.  Noch  weniger  entscheidend  ist  das  zweite  Zeugnis,  der 
übereinstimmende  Lautvorrat  sonst  abweichender  Sprachen  unter 
gleichen  klimatischen  Bedingungen.  Gerade  da,  wo  die  Behauptung 
zutrifft,  bei  den  Sprachen  des  Kaukasus,  sind  die  auf  dieser  Völker- 
straße seit  uralten  Zeiten  eingetretenen  Mischungen  und  Berührungen 
der  Rassen  ein  näherliegender  und  wahrscheinlicherer  Grund  für  die 
Ausgleichung  der  Lautsysteme.  Dies  gilt  um  so  mehr,  als  in  solchen 
Fällen,  wo  die  geographischen  Verhältnisse  diese  Einflüsse  verhin- 
dern oder  nur  in  spärlichen  Zuzügen  möglich  machen,  trotz  über- 
einstimmenden Klimas  und  bei  sonst  großer  Verwandtschaft  der 
Sprachen  die  Lautsysteme  wesentlich  abweichen  können.  So  finden 
sich  starke  Lautunterschiede  zwischen  den  malaiischen  und  poly- 
nesischen  und  wiederum  zwischen  diesen  und  den  mikronesischen 
Dialekten,  ebenso  zwischen  den  verschiedenen  Sprachen  der  nord- 
amerikanischen Ureinwohner,  darunter  solchen,  die  in  benachbarten, 
klimatisch  wenig  verschiedenen  Gebieten  ihre  Wohnsitze  haben. 
Im  ersten  dieser  Fälle  ist  das  Meer,  im  zweiten  das  Leben  in  abge- 
schlossenen Horden  dem  Verkehr  hinderlich  gewesen.  Nach  allem 
dem  wird  man  schließen  können,  daß  ein  direkter  Einfluß  des  Klimas 
oder  sonstiger  äußerer  Naturbedingungen  auf  das  Lautsystem  wohl 
an  sich  nicht  unmöglich  ist,  insofern  an  den  Unterschieden  des  all- 
gemeinen physischen  Habitus,  der  jedenfalls  in  einem  gewissen  Grad 
einem  solchen  Einfluß  unterworfen  ist,  auch  die  Sprachorgane  teil- 
nehmen. Immerhin  sind  in  den  Fällen,  wo  sich  hieran  denken  ließe, 
regelmäßig  auch  noch  andere  Momente,  namentlich  Sprachmischungen 
und  Kulturbedingungen,  wirksam;  und  vieles  spricht  dafür,  daß  diese 
von  überwiegender  Bedeutung  sind. 

3.  Einflüsse  der  Kultur. 

Da  der  Begriff  der  Kultur  zunächst  eine  Erhebung  über  den  Zu- 
stand der  bloßen  Natur  bezeichnet,  so  ent-steht  bei  jeder  Anwendung 
dieses  Begriffs  vor  allem  die  Frage  nach  dem  Grade  der  Kultur,  das 


Einflüsse  der  Kultur.  491 


heißt  nach  dem  Maß  jener  Erhebung,  sowie  die  nach  der  auf-  oder 
absteigenden  Richtung  der  Kulturbewegung.  Insofern  nun  der  Natur- 
zustand, als  die  der  tierischen  Existenz  sich  nähernde  untere  Grenze, 
durch  körperliche  wie  geistige  Merkmale  charakterisiert  ist,  bezieht 
sich  auch  der  Begriff  der  Kultur  gleichzeitig  auf  das  körperliche  und 
auf  das  geistige  Sein  des  Menschen.  Da  aber  allerdings  als  die  Grund- 
bedingung der  Erhebung  über  den  Naturzustand  die  Entwicklung 
der  geistigen  Fähigkeiten  gelten  muß,  so  fällt  das  Schwergewicht  des 
allgemeinen  Kulturbegriffs  auf  die  psychische  Seite.  In  diesem 
Sinn  ist  die  Kultur  in  ihrem  eigensten  Wesen  Kulturent Wicklung 
und  als  solche  die  hauptsächlichste  Äußerung  der  in  einer  bestimmten 
Kulturgesellschaft  vorhandenen  geistigen  Entwicklung.  Vermöge 
des  engen  Zusammenhangs  physischer  und  psychischer  Funktionen 
ist  sie  jedoch  stets  zugleich  von  äußeren  Lebensbedingungen  ab- 
hängig und  wirkt  ihrerseits  wieder  zurück  auf  die  körperliche  Organi- 
sation. So  wird  denn  auch  im  einzelnen  Fall  oft  kaum  mehr  zu  er- 
mitteln sein,  welcher  unter  diesen  sich  wechselseitig  steigernden  Fak- 
toren der  ursprünglichere  gewesen  sei. 

Indem  nun  die  Veränderungen  der  Kultur  nach  ihrer  geistigen 
Seite  wesentlich  auch  in  der  Entstehung  neuer  Begriffe  und  in  der 
Umbildung  vorhandener  ihren  Ausdruck  finden,  ist  es  in  erster  Linie 
der  Wortvorrat  der  Sprache,  der  von  ihr  berührt  wird.  Wo  neue 
Kulturbestandteile  von  außen  zufließen,  da  wird  mit  der  Sache  meist 
auch  das  Wort  aufgenommen:  darum  sind  in  allen  Sprachen  Lehn- 
wörter das  nächste  Symptom  äußerer  Kultur  ein  Wirkungen.  Wo 
anderseits  selbständig  aus  gegebenen  Kulturelementen  neue  ent- 
stehen, da  helfen  Wortzusammensetzung  und  Bedeutungswandel 
vorhandener  Wörter  den  neu  erwachten  Bedürfnissen  ab.  Alles 
das  kann  sich  ereignen,  ohne  daß  irgendeine  Änderung  an  dem 
Lautmaterial  der  Sprache  vor  sich  gehen  müßte.  Wir  dürfen 
daher  wohl  schließen,  daß  die  Kultur  im  allgemeinen  weniger 
direkt  als  indirekt  die  Sprachlaute  beeinflußt,  sei  es,  daß  Ge- 
wohnheiten imd  Sitten  auf  die  Formen  der  Rede  und  damit  auch 
auf  die  Laute  der  Sprache  verändernd  einwirken,  sei  es  daß  in  dem 
Verlauf  der  psychischen  Vorgänge  Änderungen  eintreten,  die  fürTonfall^ 
Rhythmus  und  Schnelligkeit  der  Artikulationen  bestimmend  sind. 


492  Der  Lautwandel. 


Das  erste  der  hier  angedeuteten  Momente,  die  Sitte,  scheint 
vor  allem  in  den  Sprachen  mancher  primitiver  Kulturvölker  Ände- 
rungen des  Lautsystems  erzeugt  zu  haben.  So  ist  es  eine  Eigentüm- 
lichkeit einiger  Sprachen  nord-  und  mittelamerikanischer  Indianer- 
stämme, daß  in  ihnen  die  Lippenlaute  nicht  oder  nur  spurweise  vor- 
kommen. Im  Irokesischen  fehlen  die  Laute  f^  ph,  b,  bh,  m,  w,  um  vor- 
zugsweise durch  Lingual-  und  Dentallaute  ersetzt  zu  werden.  Im 
Tscherokesischen  finden  sich  zwar  die  tönenden  Lippenlaute  w  und  m, 
aber  die  labialen  Explosivlaute  mangeln.  Die  Sprache  der  Koloschen 
besitzt  den  Resonanzlaut  m,  sonst  fehlen  auch  hier  die  Labial- 
laute^). Nun  wird  man  nicht  daran  denken  können,  daß  diese  Laute, 
die  zu  den  frühesten  Lailauten  der  Kinder  gehören,  an  sich  irgendeinem 
Sprachorgan  ursprünglich  physische  Schwierigkeiten  bereitet  hätten. 
Aber  es  ist  so  sehr  die  Sitte  dieser  Stämme,  bei  offenem  Munde  zu 
artikulieren,  daß  es  der  Irokese  z.  B.  für  unanständig  hält,  das  Gegen- 
teil zu  tun.  Wie  diese  Sitte  entstanden  ist,  wissen  wir  nicht  —  mög- 
licherweise hängt  sie  mit  dem  Streben  zusammen,  die  Lautgebärden 
der  Zunge  bei  gewissen  ausdrucksvollen  Lauten  sichtbar  zu  machen. 
Wahrscheinlich  ist  dieser  Ursprung  selbst  dem  Gedächtnis  entschwun- 
den; aber  die  so  erzeugten  Lautänderungen  mit  ihren  Rückwirkungen 
auf  die  Sprachorgane  sind  erhalten  geblieben^).  Auf  einer  eigentüm- 
lichen Bevorzugung  gewisser  Laute,  die  wohl  erst  im  Laufe  der  Zeit 
entstanden  sein  kann,  scheint  ferner  der  auffallend  klangvolle  Cha- 
rakter der  polynesischen  Sprachen  zu  beruhen.  Die  Konsonanten 
dieser  Sprachen  werden  nachlässig  gesprochen  und  oft  miteinander 
verwechselt.    Die  Vokale,  die  nur  in  den  fünf  einfachen  Formen  a,  e, 


1)  Vgl.  die  Lauttabellen  bei  Fr.  Müller,  II,  1,  S.  206,  223,  239. 

2)  Nicht  direkt  hierher  zu  zählen  sind  solche  Lautmängel,  die  nicht,  wie 
die  obigen  infolge  gewisser  Artikulationsgewohnheiten  bei  sonst  normaler  Be- 
schaffenheit der  Sprachorgane  vorkommen,  sondern  durch  die  Verstümmelung 
oder  Deformation  der  Teile  rein  mechanisch  bedingt  sind:  so  die  mangelnde 
Aussprache  der  Dentallaute  infolge  des  Ausbrechens  oder  Ausfeilens  der  Schneide- 
zähne bei  manchen  australischen  und  südafrikanischen  .Stämmen  und  die  ver- 
schiedenen Lautdefekte  infolge  der  bei  südamerikanischen  und  afrikanischen 
Völkern  bestehenden  Sitten  des  Lippenpflocks,  der  Durchbohrung  der  Lippen 
oder  der  Nasenscheidewand. 


Einflüsse  der  Kultur.  493 


i,  0,  u,  nicht  in  diphthongischen  Verbindungen  vorkommen,  sind 
daher  die  Hauptträger  des  Wortes,  auf  deren  Klangqualität  und  Quan- 
tität streng  gehalten  wird.  Ahnlich  scheinen  die  eigentümlichen 
Tonabstufungen  der  indochinesischen  Sprachen,  die  hier  zumeist 
dem  Ausdruck  bestimmter  Begriffsänderungen  dienen,  zu  den  gleich- 
zeitig eingetretenen  Abschleifungen  der  Laute  in  Beziehung  zu 
stehen^).  Natürlich  ist  dabei  an  eine  willkürliche  Unterdrückung 
oder  Bevorzugung  nicht  zu  denken.  Vielmehr  lassen  sich  diese  Ver- 
änderungen wiederum  nur  als  solche  betrachten,  die  mit  innerer 
Notwendigkeit  und  zum  Teil  zugleich  in  Wechselwirkung  mitein- 
ander erfolgten. 

Bei  dieser  Korrelation  der  Erscheinungen  spielt  nun  das  Ineinan- 
dergreifen äußerer  und  innerer  Kultureinflüsse  sichtlich  eine  wichtige 
Rolle.  Daß  sich  aber  irgendwelche  konstant  und  gleichförmig  wirkende 
Ursachen  feststellen  lassen,  die  auch  nur  für  ein  Volk  während  einer 
längeren  Zeit  ausschließlich  maßgebend  wären,  ist  ausgeschlossen. 
Auch  ist  es  von  vornherein  höchst  unwahrscheinlich,  daß  bestimmte 
Bedingungen  überall  wieder  genau  die  gleichen  Wirkungen  hervor- 
bringen, da  ja  die  einzelne  Ursache  voraussichtlich  jedesmal  mit  ab- 
weichenden Einflüssen  sich  kompliziert.  Wenn  z.  B.  der  phonetische 
Charakter  der  aus  dem  Vulgärlateinischen  stammenden  Wörter  in 
den  einzelnen  romanischen  Sprachen  ein  vielfach  abweichender  ge- 
worden ist,  obgleich  in  den  meisten  augenscheinlich  die  Kürzung 
und  wechselseitige  Assimilation  der  Laute  vorherrschen,  so  ist  das 
bei  der  Ungeheuern  Mannigfaltigkeit  der  sonstigen  Bedingungen  nicht 
zu  verwundern.  Eine  Sprache,  die  eine  so  ausgeprägte  Tonmodu- 
lation besitzt  wie  das  Französische,  und  eine  andere,  die  umgekehrt 
eine  stark  dynamische  Akzentuierung  erworben  hat  wie  das  Italienische, 
sie  müssen  um  schon  dieses  einen  Unterschieds  willen  dem  in  ihnen 
beiden  lebenden  Trieb  nach  Verkürzung  der  Lautform,  aus  welcher 
Ursache  dieser  auch  immer  in  ihnen  entstanden  sein  mag,  in  sehr 
verschiedener   Weise   Folge  leisten.      Angesichts   der   Abweichungen, 


^)  Misteli  (Steinthal),  Charakteristik  der  hauptsächlichsten  Typen  des 
Sprachbaues,  1893,  S.  203  ff .  Conrady,  Eine  indochinesische  Kausativ-Deno- 
minativ-Bildung, 1896. 


494  Der  Lautwandel. 


welche  zuerst  Sprachmiscliimg  und  Entlehnung  und  dann  in  einem 
weiteren  Stadium  die  Ausgleichung  benachbarter  Dialektformen 
ausüben,  wird  man  sich  in  der  Tat  das  Ineinandergreifen  der  ver- 
schiedenen Faktoren,  die  zusammenwirken  mußten,  um  eine  unserer 
heutigen  Literatursprachen  zustande  zu  bringen,  nicht  kompliziert 
genug  vorstellen  können,  und  man  wird  hier  im  allgemeinen  nur 
daran  festhalten  dürfen,  daß  die  entscheidenden  unter  diesen 
Einflüssen  genereller  Natur  waren.  Sollen  jedoch  unter  diesen 
generellen  Kultureinflüssen  die  allgemeinsten  hervorgehoben  werden, 
so  dürften,  abgesehen  von  den  Bedingungen  der  Sprachmischung, 
hauptsächlich  drei  in  Betracht  kommen:  die  Veränderungen  im 
Tempo  der  Rede,  der  Wechsel  der  Betonung,  insbesondere  das  Ver- 
hältnis zwischen  Tonmodulation  und  dynamischem  Akzent,  und 
endlich  die  resultierenden  Wirkungen,  die  aus  dem  Zusammen- 
treffen von  Kontakt-  und  Fernewirkungen  der  Laute  hervor- 
gehen. 

4.  Sprachmischungen. 

An  Völkerwanderimgen  hat  es  wohl  keiner  Zeit  gefehlt,  mögen 
sie  nun  als  große  Massenbewegungen  oder  als  allmähliche  Zuzüge 
einzelner  oder  endlich,  was  wahrscheinlich  bei  den  großen  historischen 
und  vorhistorischen  Völkerwanderungen  die  Regel  war,  als  Einwande- 
rungen kriegerischer  Stämme  erfolgt  sein,  denen  die  Herrschaft  über 
eine  numerisch  stärkere  Urbevölkerung  zufiel.  Besonders  bei  dieser 
mutmaßlich  häufigsten  Form  mußten  aber  tief  eingreifende  Sprach- 
mischungen eintreten,  die  voraussichtlich  nicht  zum  wenigsten  das 
Lautsystem  der  Sprachen  ergriffen  haben.  Da  die  meisten  und  die 
für  die  Ausbildung  unserer  Kultursprachen  wichtigsten  dieser  Wande- 
rungen in  einer  der  Sprachgeschichte  unzugänglichen  Zeit  erfolgten, 
so  sind  wir  freilich  hinsichtlich  dieser  Quelle  lautlicher  Umgestaltungen 
vielfach  ganz  auf  Vermutungen  angewiesen.  Im  allgemeinen  darf 
man  aber  als  wahrscheinlich  voraussetzen,  daß  die  Tatsachen,  die  bei 
der  heutigen  Entstehung  der  Mischsprachen  beobachtet  werden,  auch 
für  jene  vorgeschichtlichen  Sprachmischungen  gelten  (vgl.  oben 
S.  404  ff.).    Danach  wird  es  in  der  Regel  die  Rasse  der  höheren  Kultur 


Sprachmischungen.  495 


gewesen  sein,  die  der  niedrigeren  ihren  Wortvorrat  und,  wo  einiger- 
maßen das  Verhältnis  einem  numerischen  Gleichgewichte  nahe  kam, 
auch  das  grammatische  System  ihrer  Sprache  mitteilte,  wogegen 
das  Lautsystem,  gleich  den  Merkmalen  der  physischen  Organisation, 
umgekehrt  der  Mehrheit  ihren  vorwiegenden  Einfluß  sicherte.  Dem 
Verhältnis  höherer  und  niederer  Kultur  wird  bei  den  ursprünglichen 
Völkerwanderungen  wohl  das  der  physisch  stärkeren  oder  durch 
kriegerische  Organisation  überwiegenden  zur  schwächeren  Horde 
entsprochen  haben.  Mag  demnach  der  an  Zahl  zurücktretende,  aber 
herrschende  Teil  einer  Mischbevölkerung  mit  den  sozialen  Formen 
des  Lebens  und  den  meisten  sittlichen  und  religiösen  Anschauungen 
auch  die  sprachliche  Form,  in  die  der  Mensch  seine  Vorstellungen 
und  Gefühle  kleidet,  der  Gesamtheit  mitteilen,  —  in  dem  Laut- 
charakter der  Sprache  wird,  wie  in  der  Haarfarbe,  der  Körper- 
größe und  den  allgemeinen  Gemüts-  und  Charakteranlagen,  schließ- 
lich die  unterdrückte  Rasse  sich  geltend  machen.  Das  ist  in  der 
Tat  in  allgemeinen  Zügen  wohl  der  Gang  der  Entwicklung  der 
modernen  romanischen  Sprachen  aus  dem  Lateinischen  oder  der 
des  modernen  Englisch  gewesen,  hier  nur  mit  der  besonderen  Modi- 
fikation, daß  zwei  erobernde  Stämme,  der  germanische  und  der 
romanische,  der  Sprache  ihre  hauptsächlichsten  Eigenschaften  gaben: 
der  erste  den  grammatischen  Bau  und  die  ursprünglichen  Be- 
standteile des  Wortschatzes,  der  zweite  den  größten  Teil  der  Be- 
griffe und  Wörter  die  einer  fortgeschrittenen  Kultur  angehören. 
In  dem  eigentümlichen  Lautsystem  dieser  Sprache  haben  aber  allem 
Anscheine  nach  die  keltischen  und  sonstigen  älteren  Bewohner 
Britanniens,  von  denen  im  übrigen  Form  und  Inhalt  der  Sprache 
fast  unberührt  geblieben  sind,  ihre  Spuren  zurückgelassen.  Ähn- 
lich hat  in  einem  davon  weit  entfernten  Sprachgebiet  die  in  Süd- 
afrika eingesessene  Buschmannsrasse  im  wesentlichen  die  Sprache 
der,  wie  man  annimmt,  aus  dem  Norden  eingewanderten  Hottentotten 
angenommen;  aber  die  merkwürdigen  Schnalzlaute  der  Hottentotten 
entstammen  wahrscheinlich  der  ursprünglichen  Buschmannssprache. 
Von  diesen  Gesichtspunkten  aus  werden  die  gewaltigen  Differen- 
zierungen, die  in  den  Lautbildungen  sonst  genealogisch  zusammen- 
hängender  Sprachen  eingetreten  sind,   wohl  verständlich,   wenn  sich 


496  Der  Lautwandel. 


auch  bei  unserer  Unkenntnis  der  vorhistorischen  und  selbst  vieler 
der  in  geschichtlicher  Zeit  erfolgten  Völkermischungen  Art  und  Um- 
fang dieses  Einflusses  zumeist  der  Schätzung  entziehen. 

Mit  den  Mischungen  gehen  die  Berührungen  der  Völker  und 
der  einzelnen  Stammesgruppen,  wie  sie  durch  den  Grenzverkehr  und 
die  Einwanderung  bedingt  sind,  Hand  in  Hand.  Natürlich  lassen 
sich  die  Wirkungen  der  Mischung  und  der  Berührung  im  allgemeinen 
hier  ebensowenig  wie  diese  Vorgänge  selbst  auseinanderhalten.  Immer- 
hin weisen  viele  Erscheinungen  darauf  hin,  daß  schon  der  bloße  Ver- 
kehr weitgreifende  Einflüsse  mit  sich  führen  kann,  ohne  gleichzeitig 
mit  erheblichen  Rassen-  oder  Stammesmischmigen  verbunden  zu  sein. 
So  besitzen  z.  B.  die  konsonantischen  Lautvertretungen  in  denjenigen 
Zweigen  der  ural-altaischen  Sprachen,  deren  Träger  früh  schon  in 
einen  Verkehr  mit  germanischen  Stämmen  getreten  sind,  wie  beson- 
ders im  Finnischen  und  Magyarischen,  gegenüber  den  isolierter  ge- 
bliebenen Sprachen  der  gleichen  Völkerfamilie  häufig  einen  der  unten 
zu  erwähnenden  germanischen  Lautverschiebung  verwandten  Cha- 
rakter^). Da  diese  Verschiebungen  aber  immerhin  nicht  in  gleicher 
Weise  reguläre  Erscheinungen  sind  wie  die  verwandten  Vorgänge  auf 
germanischem  Sprachgebiet,  so  unterstützt  dies  die  Vermutung,  daß 
hier  nicht  ein  originärer  Lautwandel,  sondern  der  Einfluß  benach- 
barter germanischer  Stämme  vorliegt.  Der  Umstand,  daß  solche 
Lautvertretungen  durchaus  das  den  finnischen  Idiomen  ursprünglich 
eigene  Sprachgut  ergriffen  haben,  macht  es  überdies  wahrscheinlich, 
daß  es  sich  hier  mehr  um  Berührungswirkungen  als  um  Sprachmischun- 
gen handelt.  Einen  noch  prägnanteren  Fall  ähnlicher  Art  bildet  eine 
Erscheinung,  die  allerdings  an  sich  nicht  dem  regulären  Lautwandel, 
sondern  der  Lautassimilation  angehört,  die  aber  durch  die  eigentüm- 
lichen Verhältnisse  ihres  Vorkommens  auf  die  Wirkungen  der  Sprach- 
berührungen hinweist.  Das  Rumänische  bietet  eine  große  Zahl  von 
Vokalumwandlungen,  die  nach  dem  Prinzip  der  Vokalharmonie  er- 
folgt sind,  indem  sie  in  der  Angleichung  zweier  Vokale  in  zwei  auf- 


1)  Vgl.  die  Beispiele  konsonantischer  Vertretungen  bei  Fi'.  Müller,  Grund- 
riß, Bd.  2,  II,  S.  192  ff. 


Tempo  und  Betonung  der  Rede.  497 

einander  folgenden  Silben  bestellt,  wie  z.  B.  rumuneh  für  lat.  roma- 
nescus  u.  a.  Die  Erscheinung  ist  den  übrigen  romanischen  Sprachen, 
ebenso  wie  dem  Lateinischen,  Deutschen  und  Slawischen,  fremd; 
sie  ist  jedoch  den  ural-altaischen  Sprachen  und  so  auch  dem  an  das 
rumänische  Sprachgebiet  grenzenden  Türkischen  und  Magyarischen 
eigen.  Vermutlich  hat  also  das  Rumänische  aus  diesen  die  Neigung 
zur  Vokalharmonie  entnommen.  Daß  aber  auch  hier  wieder  die  Er- 
scheinung nicht  oder  zum  geringsten  Teil  auf  Sprachmischung  beruht, 
wird  dadurch  wahrscheinlich,  daß  die  aus  dem  Lateinischen  und  Sla- 
wischen stammenden  Wörter  sie  vorzugsweise  darbieten.  Auch  hat 
sie  sich  darin  gewissermaßen  dem  sonst  abweichenden  Charakter 
der  Sprache  angepaßt,  daß  sie  in  progressiver  wie  regressiver  Rich- 
tung vorkommt,  d.  h.  ebenso  als  Wirkung  des  vorangehenden  auf  den 
nachfolgenden  wie  des  nachfolgenden  auf  den  vorangehenden  Vokal, 
während  sie  in  ihrer  eigentlichen  Heimat  nur  in  der  ersteren,  pro- 
gressiven Form  existiert^). 

5.  Tempo  und  Betonung  der  Rede. 

a.  Allgemeine  Wirkungen  der  Artikulations- 
geschwindigkeit. 

Unter  allen  Bedingungen  des  Lautwandels  ist  das  Tempo  der 
Rede  wohl  eine  der  eingreifendsten,  obgleich  sie  bis  jetzt  von  selten 
der  Sprachforscher  nur  wenig  beachtet  wurde.  Daß  mit  einem  rascheren 
Wechsel  der  psychischen  Erregungen,  wie  ihn  neben  anderem  die 
wachsende  Kultur  in  der  Regel  hervorbringen  wird,  auch  die  Geschwin- 
digkeit der  Rede  einigermaßen  gleichen  Schritt  hält,  ist  ja  von  vorn- 
herein nicht  unwahrscheinlich.  Natürlich  brauchen  diese  Wirkungen 
weder  bei  allen  Nationen  in  gleicher  Weise,  noch  brauchen  sie  gleich- 
förmig zu  erfolgen.  Vielmehr  wird  auch  hier  gelten,  daß  solche  Ver- 
änderungen nach  dem  früher  (S.  485)  erwähnten  Mutationsprinzip 
zwar  stetig  sich  vorbereiten,  daß  sie  selbst  aber  infolge  irgendeines 


^)  Ad.  Storch,  Vokalharmonie  im  Rumänischen.    Diss.  Leipzig  1899. 

Wundt,  Völkerpsychologie.    I.    4.  Aufl.  32 


4r98  Der  Ijautwandel, 


auslösenden  Impulses  plötzlich  zum  Durchbruch  gelangen  können 
und  nun  in  rapider  Entwicklung,  von  der  jüngeren  Generation  an- 
fangend, bis  zu  einem  neuen  Punkt  relativen  Stillstandes  an  wachsen. 
Mehr  als  in  dem  Tempo  der  Eede  selbst,  für  das  uns  unmittelbare 
Nachweise  kaum  zu  Gebote  stehen,  besitzen  wir  in  dieser  Beziehung 
ein  charakteristisches  Zeugnis  aus  einer  noch  der  Gegenwart  nahe- 
liegenden Zeit  in  einem  andern,  in  mancher  Beziehung  unmittel- 
baren Ausdrucksmittel  der  Gefühle  und  Affekte,  in  der  Musik.  Be- 
kanntlich hören  wir  selbst  Beethovens  Symphonien  heute  in  der  Regel 
in  einem  schnelleren  Tempo  vorgetragen,  als  in  dem  sie  ursprünglich 
komponiert  waren ;  und  noch  größer  ist  dieser  Unterschied  bei  Meistern 
wie  Haydn  oder  Mozart,  Händel  oder  Bach,  wenn  nicht  in  diesen 
Fällen  der  Charakter  der  Kompositionen  auch  noch  heute  zu  einem 
bedächtigeren  Tempo  zwingt.  Die  merklich  gewordene  Erhöhung 
der  Orchesterstimmung  der  Instrumente  ist  wahrscheinlich  ein  hier- 
mit zusammenhängendes  Phänomen,  denn  der  schnellere  Schritt  der 
Töne  fordert  im  allgemeinen  auch  eine  höhere  Tonlage.  Nun  ist  frei- 
lich die  Stimmung  unserer  Instrumente  konventionell.  Aber  diese 
Konvention  ist  doch  aus  dem  musikalischen  Bedürfnis  hervorgegangen ; 
und  wir  können  kaum  zweifeln,  daß,  analog  wie  sich  das  musikalische 
Tempo  in  den  Jahrhunderten  geändert  hat,  so  auch  das  durchschnitt- 
liche Tempo  der  Rede  ein  anderes  geworden  ist.  Obgleich  uns  dieses 
Tempo  selbst  nicht  erhalten  blieb,  so  spiegelt  sich  doch  in  dem  Stil, 
in  der  umständlicheren  Form  der  grammatischen  Konstruktion  deut- 
lich genug  die  Veränderung,  die  bereits  seit  Gottscheds  Zeiten  in  der 
gewöhnlichen  Form  der  deutschen  Rede  vor  sich  gegangen  sein  mag. 
Dabei  ist  es  wiederum  für  die  Wechselbeziehung  zwischen  Denken 
und  Sprechen  bezeichnend,  daß  zur  selben  Zeit,  da  sich  der  deutsche 
Stil  noch  in  schwerfällig  gravitätischen  oder  in  der  vulgären  Unter- 
haltung in  plumpen  und  ungelenken  Schritten  bewegte,  das  Fran- 
zösische schon  eine  sehr  viel  größere  Geschmeidigkeit  und  darum 
sicherlich  auch  eine  größere  Geschwindigkeit  der  Diktion  erlangt  hatte. 
Darum  kann  man  sich  in  solchen  Fällen  die  geistige  Organisation 
der  Menschen,  die  damals  in  zwei  Sprachen  zu  denken  und  zu  sprechen 
pflegten,  kaum  anders  denn  als  eine  auch  hinsichtlich  des  Tempos 
zwiespältige   vorstellen.      Ein   Leibniz   und   ein   Friedrich   der   Große 


Tempo  und  Betonung  der  Rede.  499 


haben  wahrscheinlich  französisch  schneller  gedacht  und  gesprochen, 
als  wenn  sie  sich  der  deutschen  Sprache  bedienten.  Nun  wissen  wir 
freilich  nicht,  wie  unsere  althochdeutschen  Vorfahren  oder  wie  die 
Goten  oder  gar  die  Urgermanen  gesprochen  haben,  abgesehen  von 
den  indirekten  Zeugnissen,  die  wir  den  grammatischen  Formen  ent- 
nehmen können.  Gerade  diese  Formen  lassen  aber  auf  ein  langsameres, 
sozusagen  majestätisch  einherschreitendes  Tempo  der  Rede  schließen; 
ja  in  dieser  Beziehung  finden  sich  selbst  zwischen  dem  Gotischen 
und  dem  Althochdeutschen  und  zwischen  diesem  wieder  und  dem 
Mittelhochdeutschen  Unterschiede,  die  überall  mit  dem  volleren  Klang 
auch  den  langsameren  Gang  der  auf  einer  früheren  Lautstufe  stehen 
gebliebenen  Sprachform  annehmen  lassen.  Mit  feiner  poetischer  In- 
tuition hat  das  Gustav  Freytag  in  seinen  ,, Ahnen"  zum  Gehör  ge- 
bracht, indem  er  seine  althochdeutschen  Helden  Ingo  und  Ingraban 
in  einem  Stil  reden  läßt,  der  freilich  so,  wie  ihn  der  Dichter  erfindet, 
sicherlich  nirgendwo  und  nirgendwann  vorgekommen  ist,  der  aber  doch 
durch  die  Art  der  grammatischen  Konstruktion  und  namentlich  durch 
die  Einfügung  gewisser  regelmäßig  wiederkehrender  Redeformen, 
die  an  den  homerischen  Stil  erinnern,  den  Eindruck  gediegener  und 
schwerfälliger  Langsamkeit  hervorbringt. 

Doch  wir  besitzen,  abgesehen  von  diesem  immerhin  etwas  un- 
bestimmten allgemeinen  Eindruck  von  Sprache  und  Stil,  noch  ein 
anderes  Zeugnis  im  Gebiet  der  Lautformen  selbst  in  jenen  Kontakt- 
wirkungen  der  Laute,  die,  wie  wir  sahen,  mit  zwingender  Gewalt 
auf  den  Einfluß  einer  beschleimigten  Rede  hinweisen:  so  vor  allem 
die  Erscheinungen  der  sogenannten  ,, regressiven''  und  ein  nicht  un- 
beträchtlicher Teil  auch  der  ,, progressiven  Lautassimilationen". 
(Vgl.  oben  S.  431  ff.)  Dieses  Zeugnis  ist  um  so  wertvoller,  weil  es  sich 
geradezu  auf  alle  uns  bekannteren  Kultursprachen  und  auf  die  ver- 
schiedensten Perioden  der  Sprach-  und  Kulturentwicklung  erstreckt. 
Wenn  lat.  supmus  in  summus,  sedla  in  sella,  factus  in  ital.  fatto,  fluctus 
in  fiotto,  deutsch  hahte  in  hatte,  entfinden  in  empfinden,  oder  auch  (pro- 
gressiv) vulba  in  vidva,  Mimben  in  klimmen  überging  usw.,  so  liegt 
der  Beweis  für  den  Zusammenhang  dieser  Veränderungen  mit  einer 
Beschleunigung  der  Artikulationsbewegimgen  schon  darin,  daß  sich 
alle  diese  Wörter  sehr  leicht  Von  selbst  aus  der  ersten  in  die  zweite 

32* 


500  Der  Lautwandel. 


Lautform  umwandeln,  sobald  wir  rascli  artikulieren.     Allerdings  ge- 
schieht das  nicht  überall  gleich  vollständig:  entfinden  geht  z.  B.  leichter 
in  empfinden  über  als  fluctus  in  fiotto.   Aber  hier  ist  eben  auch  die  Ver- 
änderung   noch    durch    eine    dissimilatorische    Vokalbildung    kompli- 
ziert, und  sie  hat  daher  mutmaßlich  eine  längere  Zeit  gebraucht,  um 
sich  vollständig  durchzusetzen.     Bei  allem  dem  stimmen  diese  durch 
den  Kontakt  der  Laute  eingetretenen  Umwandlungen  darin  überein, 
daß  sie  auf  eine  irgend  einmal  eingetretene  Beschleunigung  in  dem 
Tempo  der  Rede  hinweisen,  was  natürlich  dazwischen  liegende  Sta- 
dien des   Stillstandes  oder  einer  retrograden  Bewegung  und  neben- 
hergehende  andere    Einflüsse,    wie    Sprach-    und    Völker mischungen, 
nicht  ausschließt.     Darum  würde  es  verkehrt  sein,  solche  Verände- 
tungen  etwa  zu  einem  Maß  der  Redegeschwindigkeit  oder  gar  der 
fortgeschritteneren  Kultur  zu  nehmen.     Vielmehr  liegt  darin  immer 
nur  ein  Zeugnis  dafür,  daß  alle  jene  Einflüsse  auf  die  jüngere  Sprach- 
form länger   und   eben   darum   schließlich   stärker   eingewirkt  haben 
als  auf  die  ältere,  gerade  so  wie  ja  auch  die  jüngere  Kultur  keines- 
wegs immer  die  höhere  zu  sein  braucht.     Wohl  aber  wird  aus  jenen 
Veränderungen,   die   der  Kontakt   der   Laute  herbeigeführt  hat,   zu 
schließen  sein,  daß  die  Beschleunigung  der  Tempos  ein  Faktor  ist, 
der  zu  Zeiten  auf  jede  der  Kultur  sprachen  gewirkt  hat;  und  schwer- 
lich wird  dieser  Faktor  auf  die  direkt  nachweisbaren   Kontaktwir- 
kungen beschränkt  geblieben  sein,  sondern  er  wird  aller  Wahrschein- 
lichkeit nach   schließlich   den  Lautbestand  der   Sprache  als   solchen 
mehr  oder  minder  eingreifend  verändert  haben. 


b.  Vokalkontraktionen  und  Lautschwächungen. 

In  der  Tat  bietet  die  Sprache  eine  große  Zahl  Von  Erscheinungen 
dar,  die  hierfür  eintreten.  Vor  allem  gehört  dahin  das  zum  Teil  noch 
in  das  Gebiet  der  Lautassimilationen  hinüberreichende  Phänomen 
der  Vokalkontraktion.  Sie  vollzieht  sich  bald  in  der  Form  der 
Verschmelzung  zweier  aufeinander  folgender  Vokale  in  einen  einzigen, 
der  einem  von  ihnen  oder  beiden  ähnlich  ist,  oder  zu  einem  artikula- 
torisch  zwischen  ihnen  liegenden  Laut,  bald  in  der  Auswerfung  des 


Tempo  und  Betonung  der  Rede.  501 

einen  Vokals,  bald  endlich  auch  in  einer  durch  Elision  eines  zwischen- 
liegenden Konsonanten  vermittelten  Verbindung.  Zusammenziehungen 
wie  griech.  rjQog  aus  eaQog,  cpiXelTS  aus  (piMexe,  q)iXovfi€v  aus 
cpikio/iiev,  {.uod-io  aus  (.nod-oio,  eo^ev  aus  urgriech.  eöijAEv  u.  a. 
sind  hier  naheliegende  Beispiele^).  Eine  zweite,  ebenfalls  weitver- 
breitete Erscheinung  besteht  in  den  in  der  mannigfaltigsten  Weise 
sich  äußernden  Lautschwächungen  am  Ende  der  Wörter.  Man 
nehme  qualitative  Übergänge  wie  im  Lateinischen  prodtt  aus  *pro- 
dat  (zu  dö  däre),  artifex  aus  '^artifax  (zu  facio),  vivunt  aus  vivont,  oder 
Kürzungen  der  Endvokale  bei  gleich  bleibender  Qualität  wie  lego 
aus  "^leyö  (gr.  leyo)),  auctor  aus  altlat.  auctör  (auctoris),  oder  endlich 
den  völligen  Silbenschwund  im  Auslaut,  wie  in  mors  aus  "^mortis,  ager 
aus  "^agros,  acer  aus  agris^).  Ahnlich  im  Deutschen  leiten  zu  ahd. 
lidan,  Bahre  zu  hdra,  Wunder  zu  wuntar,  zeigön  zu  zeigen,  leben  zu 
leben  usw.  Hier  ist  überall  schon  im  Mittelhochdeutschen  die  Schwächung 
eingetreten.  Aber  sie  ist  in  diesem,  wie  manche  Erscheinungen  schließen 
lassen,  noch  nicht  so  weit  wie  in  der  heutigen  Sprache  fortgeschritten 
gewesen.  So  sind  Formen  wie  Tags  für  Tages,  dem  Mann  für  dem 
Manne  erst  in  verhältnismäßig  neuer  Zeit  allgemein  geworden;  und 
diese  Kürzimgen  sind  zum  Teil  auch  da  eingedrungen,  wo  in  der  Schrift 
der  Vokal  noch  bewahrt  blieb:  wir  sprechen  nicht  Tages,  sondern 
Tag^s,  und  ähnlich  inmitten  des  Wortes,  z.  B.  der  andere,  nicht  der 
andere,  indem  der  stumme  Vokal  nur  noch  als  ein  fast  verschwinden- 
der Übergangslaut  erscheint. 

Zu  dieser  Schwächung  und  Abwerfung  der  Vokale  bieten  nun 
auch  die  Änderungen  der  konsonantischen  Laute  am  Ende  des  Wortes 
parallele  Erscheinungen.  So  ist  im  Lateinischen  namentlich  der 
Schwund  des  Schluß-m,  obgleich  dasselbe  noch  geschrieben  wird, 
im  poetischen  Metrum  deutlich  zu  bemerken;  auch  in  die  romanischen 


^)  Brugmann,  Griech.  Grammatik,^  S.  58  ff.  Auch  die  romanischen  Sprachen 
sind  reich  an  hierher  gehörigen  Erscheinungen,  die  sich  nur  bei  ihnen  vielfach 
zugleich  mit  dissimilatorischen  Elisionen  und  selbständigen  Änderungen  des 
Vokalklangs  verbinden.  Vgl.  Meyer-Lübke,  Grammatik  der  romanischen  Sprachen, 
Bd.  1,  S.  98  ff. 

^)  Vgl.  Ferd.  Sommer,  Handbuch  der  lateinischen  Laut-  und  Formenlehre, 
1902,  S.  155  ff. 


502  Der  Lautwandel. 


Sprachen  hat  sich  dies  fortgesetzt.  Doppelkonsonanten  sind  ferner 
durchweg  zu  einfachen  zusammengezogen  worden,  wie  lac  aus  ^lact 
{lactis),  cor  aus  '^cord  (cordis)  usw.  ^).  Im  Deutschen  besteht  die  be- 
merkenswerteste Erscheinung  dieser  Art  darin,  daß  im  Wortschluß 
die  tönende  Media  in  einen  kurzen  tonlosen  Verschlußlaut,  eine  stimm- 
lose Tennis,  überzugehen  pflegt.  So  schreiben  wir  zwar  aus  Rück- 
sicht auf  den  grammatischen  Zusammenhang  Tag,  Tages  und  Land, 
Länder,  wir  sprechen  aber  in  Wirklichkeit  Tak,  Tages,  Lant,  Länder'^). 
Zugleich  bemerkt  man  übrigens  hierbei,  daß  diese  Unterschiede  nicht 
unbeträchtlich  variieren  können,  und  daß  darauf  namentlich  die  Länge 
des  vorangehenden  Vokals  von  Einfluß  ist.  Sprechen  wir  das  Wort 
Tag  kurz  und  scharf,  so  tritt  der  harte  Schlußlaut  sehr  deutlich  her- 
vor; sprechen  wir  es  gedehnt,  so  ermäßigt  er  sich  und  geht  in  eine 
tonlose  Media  oder  Spirans  über.  Die  Aussprache  variiert  also  zwischen 
tak,  tag  und  tax,  wenn  wir  mit  g  den  stimmhaften,  mit  x  den  stimm- 
losen Konsonanten  bezeichnen.  Entsprechende  Unterschiede  sind 
denn  auch  dialektisch  vorhanden,  indem  der  Schlußkonsonant  bald 
mehr  nach  der  stimmlosen  Media,  bald  mehr  nach  der  Spirans  hin 
abweicht,  und  sie  sind  zum  Teil  wenigstens  mit  entsprechenden  Unter- 
schieden in  der  Länge  des  Vokallauts  kombiniert. 


c.  Lautänderungen  der  Verschlußlaute. 

Aus  diesen  Beobachtungen  erhellt  zunächst,  daß  die  Scheidung 
der  Formen  des  sogenannten  selbständigen  und  des  kombinatorischen 
Lautwandels  in  keiner  Weise  durchgeführt  werden  kann.  Da  in  der 
Sprache  kein  einziger  Laut  für  sich  allein  existiert,  so  ist  jede  Laut- 


^)  Nur  das  »Schluß-.s  bildet  im  Lateinischen  eine  Ausnahme,  indem  es  zu 
einer  gewissen  Zeit  ausfiel,  wenn  ein  Wort  mit  anfangendem  Konsonanten  folgte, 
wie  in  oninibu{s)  priuceps.  Dieser  Fall  reicht  aber  wieder  in  die  Kontaktwirkungen 
der  Laute  hinein,  und  er  ist  wohl  als  eine  in  der  Volkssprache  eingerissene  dissi- 
milatorische  Elision  aufzufassen,  die  dann  später  von  der  Schriftsprache  unter 
dem  Einflüsse  des  vor  Vokalen  stets  erhalten  gebliebenen  Schlußlauts  wieder 
getilgt  wurde.  Vgl.  Sommer  a.  a.  O.  S.  302  ff.  und  über  Dissimilationen  oben 
S.  423  ff. 

2)  Vgl.   Sievers,  Phonetik,*  S.  265  f. 


Tempo  und  Betonung  der  Rede.  503 


änderung  in  einem  gewissen  Grade  durch  die  Verbindung  mit  andern 
Lauten  beeinflußt.  Es  ergibt  sich  aber  auch  weiterhin,  daß  bei  dieser 
nie  fehlenden  Verbindung  der  Laute  die  Schnelligkeit  ihrer  Aufeinander- 
folge eine  entscheidende  Rolle  spielt.  Besonders  deutlich  lassen  sich 
diese  Schwankungen  bei  der  willkürlichen  experimentellen  Variation 
der  Bedingungen  nachweisen.  Als  Beispiele  seien  hier  die  Lippen- 
explosivlaute p,  b  in  ihren  Wandlungen  verfolgt,  da  sie  bei  der  ober- 
flächlichen Lage  der  Verschlußstelle  der  Beobachtung  am  leichtesten 
zugänglich  sind.  Als  kombinatorisch  verwendeten  Vokal  wollen  wir 
der  Gleichförmigkeit  wegen  überall  das  a  wählen.  Es  seien  ferner 
bezeichnet  mit  p'*,  b^  die  stark,  mit  p\  b'  die  schwach  aspirierten  Laute, 
mit  p  und  B  die  geschärften  tonlosen  Verschlußlaute  (Affricatae), 
mit  b  die  gewöhnliche  tönende  Media,  und  endlich  mit  p  und  6  die 
tonlosen  Lippenlaute.  Es  treten  dann  bei  wechselnder  Stellung  und 
Kombination  mit  langen  und  kurzen  Vokalen  die  folgenden  Ver- 
änderungen der  beiden   Verschlußlaute   von  selbst  ein: 

p'%  p%y  apäj  dpa,  ap 
Va,  bä,  abä  ba,  äh,  ap. 

Der  Sinn  dieser  beiden  Reihen  ergibt  sich  ohne  weiteres  aus  der  obigen 
Interpretation  der  Bezeichnungen.  Zunächst  hat  der  Unterschied 
der  beiden  Anfangsglieder  {p^'Ci  und  b'ä)  die  Bedeutung,  daß  die  Stärke 
der  Aspiration  bei  dem  weicheren  Explosivlaut  immer  schwächer  als 
bei  dem  harten,  und  daß  sie  dort  überhaupt  nur  bei  starker  Betonung 
des  kommenden  Vokals  vorhanden  ist,  sonst  aber  ganz  schwindet 
(6'a  und  bä)»  Tritt  der  Verschlußlaut  in  die  Mitte  zweier  Vokale,  so 
verschwindet  die  Aspiration,  und  es  bleibt  nur  die  Neigung  zu  einer 
Verschärfung  des  Lautes.  Am  Schluß  des  Wortes  weicht  endlich, 
wenn  ein  langer  Vokal  vorangeht,  die  tönende  der  tonlosen  Media, 
und  diese  bei  verkürztem  Vokal  dem  tonlosen  harten  Verschlußlaut 
(ab  und  o/?). 

Die  Ursachen  dieses  durch  die  Position  bewirkten  Lautwandels 
sind  nun  offenbar  wieder  keine  rein  physiologischen,  sondern  im 
eigentlichen  Sinne  des  Wortes  psychophysische.  Dies  gilt  vor  allem 
von  den  Lautänderungen  am  Ende  des  Wortes,  den  Schwächungen 


•'*  'T-'-r 


504  Der  Lautwandel. 


und  Elisionen  der  Vokale  und  dem  Übergang  der  tönenden  in  kurze 
und  tonlose  Verschlußlaute,  sowie  von  den  im  Gegensatz  zu  ihnen 
stehenden  Modifikationen  der  gleichen  Laute  am  Wortanfang.  Jedes 
einigermaßen  selbständig  zu  denkende  Wort  ist  bis  zu  einem  gewissen 
Grad  ein  Ganzes  für  sich.  Demnach  bildet  es  einen  momentanen  Halte- 
punkt der  Rede,  so  daß  sich  die  Kraft  der  Artikulation  vor  allem  auf 
den  Wortanfang  konzentriert.  Umgekehrt  verhält  sich  der  Schluß  des 
Wortes.  Ist  der  Anfang  intoniert,  so  ist  namentlich  bei  einem  kürzeren 
Worte  für  den  Redenden  der  psychische  Prozeß  der  Wortbildimg 
Vollendet:  nur  der  physische  Vorgang  der  Artikulation  folgt  noch 
mechanisch  dem  zuvor  gegebenen  Impuls.  Darum  ist  das  Ende  des 
Wortes  vorzugsweise  der  Lautschwächung  und  Lautkürzung  aus- 
gesetzt. Ist  der  Schlußlaut  ein  Vokal,  so  wird  dieser  kürzer  oder  seine 
Klangfarbe  dumpfer;  bei  den  Geräuschlauten  weicht  der  leichtere, 
tönende  einem  härteren,  tonlosen  Verschlußlaut.  In  diese  Bedingungen 
greifen  dann  noch  Akzentuierung  und  Dauer  der  inlautenden  Vokale 
wesentlich  modifizierend  ein,  während  zugleich  physiologische  Be- 
dingungen die  hieraus  entspringenden  begleitenden  Veränderungen 
der  Verschlußlaute  bestimmen.  So  ist  die  Aspiration  der  harten  Ex- 
plosivlaute am  Anfang  des  Wortes  um  so  mehr  eine  mechanische 
Notwendigkeit,  je  dauernder  der  folgende  Vokal  ist  {p'a  und  p^ä)- 
Die  weiteren  Veränderungen  ergeben  sich  aus  den  für  An-  und  Aus- 
laut geltenden  psychophysischen  Momenten  einerseits  und  den  aus 
Betonung  und  Dauer  der  Laute  hervorgehenden  mechanischen  Vor- 
und  Rückwirkungen  anderseits,  wie  aus  den  obigen  Reihen  für  den 
Wandel  des  p-  und  &-Lautes  hervorgeht. 

Unverkennbar  haben  nun  aber  diese  mit  der  Aneinanderreihung 
der  Laute  zusammenhängenden  Lautvariationen  noch  eine  weitere 
über  diesen  nächsten  Bereich  ihrer  Wirkungen  hinausgehende  Be- 
deutung. Die  Veränderungen,  die  sich  innerhalb  eines  zusammen- 
hängenden Lautkomplexes  als  die  Folgen  der  Beschleunigung  oder 
Hemmung  der  Bewegung  einstellen,  werden  nämlich  in  einem  gewissen 
Umfang  auch  als  allgemeine  Veränderungen  mehr  oder  weniger 
in  jedem  Lautzusammenhang  wiederkehren,  teils  weil  sich  die  Ein- 
stellung auf  die  neue  Artikulationslage  überhaupt  fester  eingeübt 
hat,  teils  weil  die  an  bestimmten  Punkten  durch  den  Lautzusammen- 


Tempo  und  Betonung  der  Rede.  505 


hang  erzeugten  Veränderungen  assoziativ  auf  andere  Fälle,  ganz 
wie  bei  den  sogenannten  ,, Analogiebildungen",  herüberwirken.  So 
sind  es  Kontakt-  und  Fernewirkungen  der  Laute,  die  überall  in  das 
Gebiet  des  sogenannten  „selbständigen"  Lautwandels  eingreifen. 
Natürlich  lassen  sich  die  im  letzteren  Fall  sich  ergebenden  Wirkungen 
des  häufigen  Gebrauchs  nicht  mehr  ohne  weiteres  mittels  einer  ex- 
perimentellen Variation  der  Bedingungen  feststellen.  Wohl  aber  gibt 
ims  hier  die  geschichtlich  eingetretene  Veränderung  gewisse  Hin- 
weise, falls  wir  uns  nur  die  experimentell  konstatierten  Einflüsse 
der  Geschwindigkeit  und  Betonung  über  eine  längere  Zeit  ausgedehnt 
oder  durch  hinzutretende  Bedingungen  verstärkt  denken.  Dieses 
Prinzip  läßt  sich  namentlich  auf  gewisse  Veränderungen  der  harten 
Explosivlaute  anwenden.  Bei  der  Betrachtung  der  obigen  beiden 
Keihen  für  die  Variationen  der  Lippenlaute  f  und  h  fällt  ja  ohne  weiteres 
auf,  daß  die  Breite  der  experimentell  herzustellenden  Schwankungen 
des  weichen  Verschlußlauts  sehr  viel  größer  als  die  des  harten  ist. 
Jener  kann  zwischen  tönender  und  tonloser,  zwischen  aspirierter  und 
unaspirierter  Form  wechseln,  und  er  kann  unter  bestimmten  Be- 
dingungen in  den  tonlosen  harten  Explosivlaut  f  übergehen,  während 
der  letztere  immer  nur  die  Verschiedenen  Stufen  aspirierter  Aussprache 
mit  dem  kurzen  Verschluß  ohne  Aspiration  als  Grenzfall  durchwandert. 
Dennoch  gibt  es  auch  hier  einen  eingreifenden  Wechsel,  der,  wie  die 
Geschichte  zeigt,  in  Verschiedenen  Sprachen  als  Folge  eines  länger 
dauernden  Gebrauchs  eingetreten  ist,  und  der  auch  sporadisch  in  der 
individuellen  Beobachtung  vorkommt;  letzteres  freilich  nur  bei  will- 
kürlichen Experimenten  oder  aber  beim  Sprechenlernen  des  Kindes. 
Da  beobachtet  man  nämlich,  daß  ein  Lautgebilde  wie  f^nt  mit  mehr 
oder  weniger  starker  Aspiration  des  harten  Anfangslauts  gelegent- 
lich durch  dissimilatorische  Erleichterung  zunächst  in  ffunt  und  dann, 
bei  noch  weiter  beschleunigter  Rede,  in  funt  übergeht.  Der  letztere 
Übergang  läßt  sich  leicht  mechanisch  erzwingen,  wenn  man  das  Wort 
mehrmals  nacheinander  oder  in  Kombinationen  wie  fünf  pfunt  fünf 
pfunt  fünf  pfunt  .  .  spricht.  Diese  verwandeln  sich  fast  unvermeidlich 
in  fünf  funt  fünf  funt  fünf  funt  ...  Es  besteht  also  auch  für  die  harten 
Explosivlaute  wenigstens  innerhalb  einer  länger  dauernden  Reihe 
von    Veränderungen    die    Möglichkeit    einer    weiteren    Umwandlung, 


506  Der  Lautwandel. 


die  auf  der  im  Anlaut  stets  vorhandenen  Verbindung  dieser  Laute 
mit  einer  Aspiration  beruht.  Denn  aus  dieser  geht  nun,  unter  Ein- 
schaltung eines  dissimilatorischen  Zwischenstadiums,  das  auch  dauernd 
erhalten  bleiben  kann,  eine  Spirans  hervor,  die  je  nach  der  Verbin- 
dung mit  andern  Lauten  bald  tonlos  (/,  w),  bald  tönend  ist  {w,  v).  So 
spi;echen  wir  in  der  Tat  das  Wort  Pfund  im  Hochdeutschen  pfunt; 
wir  finden  aber  daneben  als  dialektische  Abweichungen  sowohl  die 
Form  p'unt  wie  fünf.  Auch  von  diesen  Veränderungen  können  nun 
wahrscheinlich  Assoziationswirkungen  ausgehen.  Die  Umwandlung 
in  die  Spirans  wirkt  auf  andere,  minder  zwingende  Fälle  hinüber. 
Dabei  kommt  dann  namentlich  in  Betracht,  daß  in  einem  früheren 
Stadium  der  Sprache  aspirierte  Formen  infolge  einer  langsamen  Rede- 
weise leichter  auch  im  Inlaut  der  Wörter  vorkommen  konnten,  wo  sie 
jetzt  verschwunden  sind.  So  war  die  ursprüngliche  Wortform  für  den 
Apfel  wahrscheinlich  "^aphil,  woraus  schon  im  Althochdeutschen 
nebeneinander  die  Formen  apful  und  afful  (affoUra  Apfelbaum), 
im  Neuhochdeutschen  Apfel  und  daneben  niederd.  Appel  hervor- 
gegangen sind. 

Wie  hier  die  geschichtliche  Entwicklung  der  Laute  dieselben 
Änderungen  erzeugt  hat,  die  sich  unter  Umständen  unwillkürlich 
in  dem  Mechanismus  unseres  gewöhnlichen  Sprechens  ereignen,  so 
lassen  nun  anderseits  die  in  der  Sprache  anscheinend  fixierten  Laute 
deutliche  Nuancen  der  Klangfärbung  und  Tonhöhe  erkennen,  so  daß 
ein  und  dasselbe  Lautzeichen,  mag  man  noch  so  sehr  den  üblichen 
ßuchstabenbezeichnungen  durch  weitere  phonetische  Symbole  zu 
Hilfe  kommen,  eigentlich  immer  eine  Fülle  individueller  Laute  unter 
sich  begreift.  Diese  Lautschwankungen  erweisen  sich  aber  durchweg 
als  Kontaktwirkungen,  bei  denen  die  Vokale  ebenso  von  den  um- 
gebenden Konsonanten  wie  diese  hinwiederum  von  den  zwischen 
ihnen  liegenden  imd  besonders  von  den  vorausgehenden  Vokalen 
abhängen.  Nehmen  wir  z.  B.  eine  Reihe  von  Wörtern  wie  Dach,  Sache, 
poche,  suche,  Zeche,  Sichel  usw.,  so  ist  die  Spirans  ch  in  keinem  dieser 
Wörter  der  gleiche  Laut,  sondern  die  Verengerungsstelle,  die  dem 
Reibungsgeräusch  seinen  Klangcharakter  gibt,  richtet  sich  in  erster 
Linie  nach  dem  vorangehenden  Vokalklang,  auf  den  die  Artikulations- 
organe  noch    eingestellt   sind,    wenn    der    Geräuschlaut   beginnt;    sie 


Tempo  und  Betonung  der  Rede.  507 


richtet  sich  aber  auch  etwas  nach  dem  folgenden  Laut  und  ist  t,  B. 
eine  andere,  wenn  das  Wort  mit  der  Spirans  schließt,  als  wenn  dieser 
wieder  ein  Vokal  nachfolgt.  So  liegt  in  Bach  die  verengerte  Stelle 
weiter  zurück  als  in  Sache,  und  sie  rückt  dann  mit  der  Erhöhung  des 
vorausgehenden  Vokals  immer  weiter  nach  vorn.  Die  gewöhnliche 
phonetische  Unterscheidung  dieser  palatalen  Spirans  in  eine  Vordere 
yi^^  (ich),  und  in  eine  hintere  ^^^  (Dach)  greift  daher  nur  Grenzfälle  heraus, 
zwischen  denen  alle  möglichen  Übergänge  stattfinden  können.  Dabei 
sind  diese  Variationen  in  erster  Linie  von  dem  vorausgehenden,  in 
geringerem  Grade  von  dem  nachfolgenden  Vokal  bestimmt.  So  ziehen 
die  hohen  Vokale  e,  i  und  ihre  Verbindungen,  wie  eu,  ei,  ä,  ü,  die  vor- 
dere Spirans  /j^,  die  tieferen  Vokale  a,  o,  u  die  hintere  ^^  ii9,ch  sich. 
Aber  indem  hierbei  jedesmal  die  Vokaleinstellung  auf  den  folgenden 
und  bis  zu  einem  gewissen  Grad  auch  auf  den  vorangehenden  pala- 
talen Verschluß  herüberwirkt,  hat  in  jedem  einzelnen  dieser  Fälle 
die  Spirans  wieder  einen  etwas  abweichenden  Charakter.  Selbst  auf 
die  Stimmbänder  wirkt  diese  Adaptation  an  den  Vokal  zurück,  indem 
der  Laut  7^  im  allgemeinen  tonlos,  /g  ^^^^  ^^^  langsamen  tönenden 
Schwingungen  begleitet  ist,  die  zunächst  wahrscheinlich  in  der  Mund- 
höhle, namentlich  am  Gaumensegel  entstehen,  dann  aber  durch  Re- 
sonanz auch  dem  Kehlkopf  sich  mitteilen.  Wie  der  Konsonant  dem 
Vokal,  so  adaptiert  sich  jedoch  umgekehrt  dieser  jenem.  So  ist  der 
a-Laut  schon  ein  anderer  in  Dach  als  in  Sache.  Dort  ist  seine  Klang- 
farbe heller  als  hier,  wo  die  Einstellung  auf  das  e  der  folgenden  Silbe 
bereits  trübend  zurückwirkt.  Ähnlich  variiert  das  englische  th  in  laut- 
lich einander  so  nahestehenden  Wörtern  wie  ether  (Äther)  und  either 
(jeder):  dort  ist  es  interdental  und  tonlos,  hier  postdental  und  tönend 
usw.^). 


^)  Herr  Prof.  Felix  Krüger  hatte  die  Güte,  auf  meine  Bitte  die  akustischen 
Eigenschaften  solcher  Wortgruppen  wie  der  oben  erwähnten  mit  Hilfe  eines  für 
die  Registrierung  der  Stimmtonschwingungen  konstruierten  „Kehltonschreibers" 
zu  untersuchen.  Gleichzeitig  wurde  der  Exspirationsdruck  durch  die  direkte 
Einwirkung  des  Luftstroms  auf  eine  Mareysche  Hebelvorrichtung  ermittelt. 
Dabei  lassen  sich  die  oben  erwähnten  Erscheinungen  überaus  deutlich  objektiv 
feststellen. 


508  Der  Lautwandel. 


Auf  diese  Weise  ist  jeder  Sprachlaut  eigentlich  ein  unendlich 
variables  Gebilde.  Seine  jedesmalige  Färbung  ist  aber  abgesehen 
von  andern  Bedingungen,  die  auf  ihn  wirken  mögen,  zunächst  ein 
Produkt  der  Kontaktwirkungen,  die  durch  seine  Verbindung 
mit  andern  Lauten  entstehen,  und  diese  sind,  wie  die  Kontaktwir- 
kungen überhaupt,  stets  zugleich  von  der  Geschwindigkeit  der  Artiku- 
lation abhängig.  Die  Kontaktwirkungen  an  sich  reichen  demnach 
weit  über  jenes  engere  Gebiet  der  progressiven  und  regressiven  Assi- 
milationen und  Dissimilationen  hinaus,  und  sie  umfassen  eine  Fülle 
feinerer  Abänderungen  der  Laute,  die  von  einer  Lautverbindimg 
zur  andern  wechseln  können.  Mögen  dies  nun  auch  in  den  unserer 
unmittelbaren  Beobachtung  zugänglichen  Grenzen  nur  relativ  un- 
bedeutende Schwankungen  sein,  so  können  solche  doch  zu  großen 
Umwandlungen  führen,  falls  ihnen  nur  die  Gelegenheit  gegeben  ist 
allmählich  anzuwachsen,  indem  sich  ihre  Ursachen  häufen.  Außer- 
dem können  sich  aber,  sobald  sich  durch  solche  Kontakte  eine  Laut- 
änderung in  bestimmter  Richtung  in  hinreichend  vielen  Fällen  voll- 
zogen hat,  hieran  assoziative  Fernewirkungen  anschließen,  so  daß 
sich  nun  der  gleiche  Laut  auch  in  solchen  Verbindungen  ändert,  in 
denen  die  entsprechende  Kontaktwirkung  nicht  stattfindet.  So  ist 
es  eine  charakteristische,  in  hamitischen  und  Bantusprachen  vor- 
kommende assimilative  Kontaktwirkung,  daß  durch  einen  voran- 
gehenden Vokal  eine  Tenuis  zur  tönenden  Media  wird  {t  zu  d,  k  zu  g). 
Diese  Änderung  hat  aber  dann  besonders  im  Somali  die  gleichen  Ver- 
schlußlaute auch  da  ergriffen,  wo  ein  solcher  Kontakteinfluß  nicht 
vorhanden  ist^).  Offenbar  sind  daher,  gegenüber  diesen  notwendig 
von  früh  an  in  der  Sprache  wirksamen  Kontakten,  jene  unmittel- 
bar auf  diese  zurückführenden  Erscheinungen  der  Assimilation,  Dissi- 
milation usw.  nur  relativ  junge  und  durch  die  Möglichkeit  der  Ver- 
gleichung  eines  vor  und  nach  eingetretener  Lautänderung  bestehen- 
den Zustandes  besonders  augenfällige  Beispiele  eines  Prozesses,  der 
sich  in  den  mannigfaltigsten  Verzweigungen  von  den  Urzeiten  der 
Sprache  an  bis  in  die  Gegenwart  erstreckt. 


1)  C.  Meinhof,  Archiv  f.  Anthropol.  Bd.  9,  1910,  S.  184. 


n 


Tempo  und  Betonung  der  Rede.  509 

Mit  den  zuletzt  betrachteten  Vorgängen  stehen  nun  sichtlich 
die  Lautumwandlungen,  die  man  besonders  in  den  germanischen 
Sprachen  in  dem  Gesetz  der  Lautverschiebungen  zusammen- 
faßt, zu  denen  sich  aber  auch  in  andern,  zum  Teil  weit  entfernten 
Sprachgebieten  analoge  Erscheinungen  vorfinden,  in  nahem  Zu- 
sammenhang. Jener  Von  Jakob  Grimm  entdeckte  regelmäßige  Laut- 
wandel besteht  übrigens  aus  zwei  zeitlich  weit  voneinander  abliegen- 
den Vorgängen.  Die  erste  oder  gemeingermanische  Laut- 
verschiebung liegt  in  der  vorhistorischen  Zeit.  Da  sie  alle  ger- 
manischen Sprachen  erfaßt  hat,  so  läßt  sich  annehmen,  daß  zur  Zeit, 
da  sie  erfolgte,  die  Germanen  noch  ein  einziges  Volk  von  nicht  allzu 
großer  Verbreitung  waren.  Wesentlich  abweichend  Verhält  sich  die 
zweite  oder  hochdeutsche  Lautverschiebung,  die  in  histo-(;i,.yrW) 
rischer  Zeit,  etwa  in  der  Periode  der  Merowinger,  entstand,  dabei 
jedoch  auf  einen  Teil  der  deutschen  Stämme,  nämlich  auf  die  ober- 
deutschen und  einige  benachbarte  der  Franken  und  Sachsen,  beschränkt 
blieb.  Demnach  zeigen,  abgesehen  von  dem  Gotischen,  das  ausgestorben 
ist,  und  von  dem  Nordgermanischen,  das  sich  früher  als  die  andern 
von  dem  ürgermanischen  geschieden  hat,  noch  heute  das  Englische, 
Niederländische  und  Niederdeutsche  im  ganzen  einen  Zustand,  der 
der  ersten  Lautverschiebung  entspricht,  während  das  Althochdeutsche 
mit  seinen  Weiterentwicklungen  in  das  Mittel-  und  Neuhochdeutsche 
durch  die  zweite  Lautverschiebung  beeinflußt  ist.  Auch  bei  dieser 
hat  aber  der  Prozeß  nicht  stillgehalten,  sondern  mit  den  übrigen  Lauten 
sind  die  Verschlußlaute  noch  weiteren  Veränderungen  unterworfen 
gewesen.  So  sind  denn  überhaupt  jene  beiden  Perioden  des  Laut- 
wechsels nicht  als  Zeiten  alleinstehender  Umwälzungen  anzusehen, 
zwischen  denen  der  Lautbestand  unverändert  geblieben  wäre,  sondern 
sie  bezeichnen  nur  Kulminationspunkte  eines  Prozesses,  wo  durch 
besondere  Bedingungen  ein  ungewöhnlich  rascher  Wandel  eintrat. 
Wie  wenig  hier  von  einem  Stillstande  die  Bede  sein  kann,  das  bezeugt 
besonders  die  Tatsache,  daß  in  der  Zeit  zwischen  der  ersten  und  der 
zweiten  Lautverschiebung  die  Spaltung  des  Urgermanischen  in  seine 
Töchtersprachen  zum  großen  Teil  eingetreten  ist.  So  sind  denn  auch 
die  einzelnen  Lautumwandlungen,  aus  denen  sich  diese  Verschiebungen 
zusammensetzen,  keineswegs  alle  gleichzeitig  vor  sich  gegangen,  son- 


510     *  Der  Lautwandel. 

dem  sie  haben  teils  eine  Lautgruppe  nach  der  andern,  teils  einen  und 
denselben  Laut  je  nach  seinem  Vorkommen  in  verschiedenen  Wörtern 
nicht  auf  einmal  ergriffen.  Am  gleichförmigsten  verhalten  sich  schon 
innerhalb  der  ersten  Lautverschiebung  die  harten  Verschlußlaute^). 
Was  im  Indogermanischen  als  Tenuis  vorausgesetzt  werden  darf 
und  im  Sanskrit,  Griechischen  und  Lateinischen  durchweg  diesen  Laut 
bewahrt  hat,  das  ist  im  allgemeinen  in  den  germanischen  Sprachen 
ursprünglich  in  die  Spirans  übergegangen:  p  in  f,  t  in  dz  (engl,  th), 
k  in  ch  oder  in  h,  z.  B.  lat.  fallidus,  engl,  falloiv  ,,fahl",  lat.  tuli,  to- 
lerare,  got.  dzulan  ,, dulden",  lat.  capto,  got.  hafjan  ,, heben".  Was  im 
Indogermanischen  eine  Media  war  (6,  d^  g)  und  ebenfalls  in  den  klas- 
sischen Sprachen  Media  blieb,  ist  dagegen  im  Germanischen  zu  einer 
Tenuis  geworden,  z.  B.  das  b  in  lat.  luhricus  ,, schlüpfrig",  got.  sliupan 
,, schlüpfen",  das  d  in  lat.  duo,  engl,  two  ,,zweL",  g  in  gr.  yovv,  got. 
hniu  ,,Knie".  Etwas  verwickelter  verhielten  sich  die  aspirierten 
Laute,  welche  nicht  bloß  im  Germanischen,  sondern  auch  im  Grie- 
chischen und  Lateinischen,  die  in  den  vorigen  Fällen  den  vorauszu- 
setzenden Urzustand  des  Indogermanischen  relativ  unverändert 
bewahrt  haben,  Lautverschiebungen  erfuhren.  Das  Indogermanische 
enthielt,  wie  man  annehmen  muß,  zwei  Reihen  aspirierter  Verschluß- 
laute, die  Tenues  aspiratae,  p^\  t^',  h'\  und  Mediae  aspiratae, 
y\  d}\  g'',  von  denen  die  ersteren  in  kleinerer,  die  letzteren  in  größerer 
Zahl  vertreten  waren.  Im  Griechischen  haben  sich  diese  aspirier- 
ten Laute  wohl  am  längsten  gehalten,  die  Tenues  aspiratae 
unverändert,  die  Mediae  aspiratae,  nachdem  sie  in  Tenues  aspiratae 
umgewandelt  waren.  Später  sind  aber  alle  diese  aspirierten  Verschluß- 
laute durch  Lockerung  der  Verschlußteile  in  Spiranten  übergegangen. 
Im  Lateinischen  ist  diese  Erweichung  der  ursprünglichen  Aspiratae 
von  früh  an  vorhanden,  ai^ch  hat  sie  sich  zuweilen  mit  einer  Verschie- 
bung der  Artikulationsstelle,  z.  B.  mit  dem  Übergang  von  labialem 


^)  Vgl.  über  die  Verschiedenheiten  der  drei  Klassen  von  Verschlußlauten, 
auf  die  hier  nicht  näher  eingegangen  werden  kann,  Sievers,  Grundzüge  der  Phone- 
tik,* S.  127  ff.,  und  hinsichtlich  der  näheren  sprachgeschichtlichen  Verhältnisse 
für  die  erste  Lautverschiebung  W.  Streitberg,  Urgermanische  Grammatik,  1896, 
S.  97  ff.,  und  F.  Kluge,  in  Pauls  Grundriß,  I,«  S.  365  ff.,  für  die  zweite  0.  Behaghel, 
ebenda  S.  722  ff. 


Tempo  und  Betonung  der  Rede.  511 

in  Velaren  Verschluß,  verbunden.  So  ist  griech.  ocpallto  urspr. 
sf' hallo,  dann  sfallo  gesprochen  worden,  dem  altind.  dhumas  ent- 
spricht griech.  d^ufiog,  wo  ^  ebenfalls  zuerst  als  aspirierte  Tenuis, 
später,  ähnlich  dem  engl,  th,  als  Spirans  gesprochen  wurde;  ebenso 
wurde  ein  indogerm.  *ö'''  ortos  im  Griech.  zu  x^Q^^g,  im  Lat.  zu 
hortus  usw.  Diesem  Verhalten  der  beiden  klassischen  Spra^chen 
entspricht  nun  das  Germanische  durchaus  bei  der  Tenuis  aspirata: 
p^',  y\  t^'  werden  in  der  Regel  zu  pf  oder  /,  dz  (engl,  th),  h  er- 
mäßigt, z.  B,  griech.  acpallto,  lat.  fallo,  ahd.  fallan  „fallen", 
idg.  '^^khahhemi,  lat.  habeo,  ahd.  haben  ,, haben".  Dagegen  sind 
die  Mediae  aspiratae  h'\  d^',  g^'  wechselnderen  Schicksalen  unter- 
worfen gewesen,  wobei  insbesondere  auch  die  Stellung  zu  be- 
nachbarten Lauten  eine  wichtige  Rolle  spielte.  Im  allgemeinen 
sind  sie  sämtlich  durch  ein  Zwischenstadium  von  Media  aspirata 
oder  tönender  Spirans  in  die  reine  tönende  Media  b,  d,  g  über- 
gegangen, während  der  Einfluß  der  Stellung  hauptsächlich  in 
der  Verschiedenheit  der  Laute  im  An-,  In-  oder  Auslaut  des  Wortes 
und  in  der  Abhängigkeit  von  dem  etwa  vorausgehenden  Vokal 
hervortritt.  Man  vergleiche  z.  B.  die  Aussprache  des  g  in  Gabe 
imd  legen  oder  in  Tag  (=  (aJc)  und  Tages,  in  lagen,  legen,  liegen, 
lügen  usw.  Die  gleiche  Schreibung,  die  sich  der  gewöhnlichen 
Buchstabenzeichen  bedient,  birgt  hier  erhebliche  Unterschiede, 
die  bald  als  verschiedene  Stufen,  bald  auch  als  verschiedene 
Differenzierungen  des  eingetretenen  Lautwandels  angesehen  werden 
können. 

Die  zweite,  hochdeutsche  Lautverschiebung  läßt  sich 
nun  in  einem  gewissen  Sinn  als  eine  auf  bestimmte  Dialekte  beschränkte 
Weiterentwicklung  der  ersten  betrachten.  Charakteristisch  ist  in 
dieser  Beziehung,  daß  die  durch  diese  entstandenen  Spiranten  an  der 
zweiten  keinen  Anteil  nehmen,  so  daß  sich  dieselbe  im  wesentlichen 
auf  die  Verschlußlaute  p,  t,  k  und  b,  d,  g  beschränkt.  Von  ihnen  gehen 
die  Tenues  durchweg  in  Spiranten  über:  so  entsprechen  sich  got. 
sUupan  und  ahd.  sliofan  ,, schlüpfen",  engl,  two  und  hochd.  zwei,  got. 
hniu  und  ahd.  chniu  ,,Knie".  Die  ersteren  Formen  repräsentieren 
den  durch  die  erste,  die  letzteren  den  durch  die  zweite  Verschiebung 
hergestellten    Zustand.       Irregulärer   ist   wiederum   die   Veränderung 


512 


Der  Lautwandel. 


Temas 


AspirxUcL 


der  Media e.  Docli  ist  hier  bei  d  und  g  der  Übergang  in  die  Tennis 
vorberrscliend,  z.  B.  got.  dags,  engl,  day,  abd.  iac  ,,Tag",  niederl. 
liggen,  abd.  liehen  (neben  ligen)  „liegen".  Bei  der  labialen  Media  ist 
dieser  Übergang  nur  vorübergebend  in  einzelnen  Fällen  eingetreten, 
und  aucb  bei  den  übrigen  ist  nicbt  selten  eine  Rückwärtsbewegung 
vorgekommen  {ticken  in  liegen). 

Jakob  Grimm  bat  die  Vorgänge  der  germanischen  Lautver- 
schiebungen insgesamt  mit  einem  Rade  verglichen,  das  sich  in  einer 
und  derselben  Richtung  um  seine  Achse  drehe.  Die  drei  Lautformen 
der  Media,  der  Tennis,  der  Aspirata  und  Spirans  betrachtete  er  ge- 
wissermaßen als  die  drei 
Speichen  dieses  Rades  (Fig. 
35),  und  in  der  Media,  als 
dem  zwischen  den  Gegen- 
sätzen der  andern  mitteninne 
liegenden  Laute,  glaubte  er 
den  Ausgangspunkt  der  gan- 
zen Bewegung  sehen  zu 
können.  Das  Gesetz  lautete 
dann  einfach:  ,, Media  geht 
über  in  Tennis,  Tennis  in 
Aspirata  und  Aspirata  wieder 
in  Media"  1).  Bei  der  An- 
wendung dieses  Bildes  ist 
aber  nicht  bloß  keine  Rück- 
sicht darauf  genommen,  daß  die  Lautverschiebung  kein  alle  Phasen 
eines  Umlaufs  mit  einem  Mal  umfassender  Vorgang  ist;  sondern  es 
sind  auch  Lautgruppen  in  eine  einzige  vereinigt,  die  in  phonetischer 
Hinsicht  ebenso  wie  nach  ihrer  Stellung  im  Prozeß  der  Lautverschie- 
bungen eine  abweichende  Bedeutung  haben:  so  besonders  die  Tenues 


Meciicu 


Fig.  35.     Schema  der  germanischen  Laut- 
verschiebungen nach  Grimm. 


1)  Jakob  Grimm,  Geschichte  der  deutschen  Sprache,^  I,  S.  276.  Bei  Grimm 
lautet  das  Bild  allerdings  etwas  anders.  Nach  dem  Vorgang  von  R.  v.  Raumer 
(Über  die  Aspiration  und  die  Lautverschiebung,  1837)  vergleicht  er  die  Laut- 
verschiebung mit  „drei  Wagen,  die  in  einem  Kreis  umlaufen".  In  der  Sache  ist 
natürlich  kein  Unterschied,  aber  das  seither  meist  gebrauchte  Bild  des  dreispei- 
chigen  Rades  ist  einfacher  und  deutlicher. 


Tempo  und  Betonung  der  Rede.  513 

aspiratae,  Mediae  aspiratae  und  Spirantes.  Auch  ist  nicht  zu  über- 
sehen, daß  das  Schema  nur  die  Hauptstationen  veranschaulicht  und 
dabei  nicht  nur  von  den  Zwischenstufen  überhaupt,  sondern  auch 
davon  abstrahiert,  daß  gerade  diese  Zwischenstufen  wieder  in  ver- 
schiedenen Fällen  variieren  können.  Endlich  und  hauptsächlich 
bleibt  bei  jeder  solchen  abstrakten  Formulierung  des  Verschiebungs- 
gesetzes der  große  Einfluß,  den  benachbarte  Laute  und  die  Stellung 
des  Lautes  im  Wort  ausüben,  ganz  außer  Betracht.  Dieser  modifi- 
ziert aber  das  Ergebnis  so  bedeutend,  daß  jede  einzelne  Laut- 
verschiebung, sobald  diese  Bedingungen  irgendwie  wechseln,  wieder 
etwas  abweicht. 

Überblickt  man  nun  zunächst  die  allgemeine  Richtung  der 
Lautänderungen  sowie  die  Abweichungen,  die  sie  im  einzelnen 
darbieten,  so  springt  in  die  Augen,  daß  diese  Erscheinungen  in 
beiden  Beziehungen  im  wesentlichen  den  Modifikationen  ent- 
sprechen, welche  die  drei  Klassen  der  Verschlußlaute  infolge  der 
experimentellen  Variationen  der  Artikulationsbedingungen  erfahren. 
In  den  Veränderungen,  die  sich  in  der  auf  S.  502  ff.  dargestellten 
Reihenfolge  an  den  labialen  Verschlußlauten  hervorbringen  lassen, 
wiederholen  sich,  wenn  wir  noch  die  unter  bestimmten  länger 
einwirkenden  Ursachen  oder  bei  den  Sprechversuchen  des  Kindes 
zu  beobachtenden  Übergänge  in  die  Spirans  hinzunehmen,  bei- 
nahe Schritt  für  Schritt  einzelne  dieser  Erscheinungen.  Sie  ent- 
sprechen ihnen  sowohl  in  ihrer  allgemeinen  Richtung  wie  in  der 
größeren  Zahl  von  Stufen,  welche  die  Media  gegenüber  der  Tenuis 
durchlaufen  kann,  ferner  in  dem  Einfluß,  den  die  Stellung  im 
An-,  In-  oder  Auslaut  ausübt,  endlich  in  der  Wirkung  der  Qualität, 
Dauer  und  Betonung  der  umgebenden  Vokale.  So  haben  sich 
im  Anlaut  bei  unmittelbar  folgendem  Vokal  noch  heute  die  aspi- 
rierten Tenues  erhalten,  während  sie  im  Inlaut  in  Affricatae  oder 
weiterhin  in  Spiranten,  und  endlich  im  Auslaut  in  stumme  Explosiv- 
laute übergegangen  sind.  Die  Media  aspirata  dagegen  ist  sehr  frühe 
schon  im  Anlaut  zur  tönenden  Media  geworden,  während  sie  im  In- 
laut Affricata  blieb  oder  durch  diese  in  eine  tönende  Spirans  überging, 
im  Auslaut  aber  dem  stimmlosen  Explosivlaut  zustrebte:  Verände- 
rungen, die  im  wesentlichen  mit  den  auf  S.  503  verzeichneten  Reihen 

Wundt,  Yölkerpsychologie.    1.    4.  Aufl.  33 


514  Der  Lautwandel. 


übereinstimmen^).  Aus  diesem  Parallelismus  darf  man  wohl  den 
Schluß  ziehen,  daß  die  im  Germanischen  in  besonders  weitem  Um- 
fang, in  den  andern  indogermanischen  Sprachen  in  engeren  Grenzen, 
aber  im  ganzen  in  übereinstimmendem  Sinn  eingetretenen  Laut- 
verschiebungen der  Konsonanten  Prozesse  sind,  die,  ganz  wie  die 
vielfach  gleichzeitig  mit  ihnen  erfolgten  Vokalkontraktionen,  Eli- 
sionen und  Lautschwächungen  am  Ende  des  Wortes,  sowie  in  Über- 
einstimmung mit  den  Kontaktänderungen  der  Laute,  zum  größten 
Teil  als  Wirkungen  der  beschleunigten  Artikulation  zu  deuten  sind. 
Außerdem  sind  aber  alle  diese  Wandlungen  nicht  überall  die  näm- 
lichen für  einen  gegebenen  Laut  oder  Lautkomplex,  sondern  sie 
sind  von  seiner  Stellung  im  Wort,  von  der  Betonung,  Dauer  und 
Klangfarbe  der  Nachbarlaute  abhängig.  In  diesem  Sinne  fällt 
daher  jeder  reguläre  Lautwandel  zugleich  in  das  Gebiet  der  Kon- 
taktwirkungen.  Außerdem  werden  wir,  gemäß  den  Einflüssen  der 
Laut-  wie  Begriffsassoziationen,  die  uns  früher  in  zahlreichen  Er- 
scheinungen begegnet  sind,  unbedingt  voraussetzen  dürfen,  daß 
auch  bei  der  Ausbreitung  bestimmter  Lautänderungen  assoziative 
Fernewirkungen  stattfanden,  durch  die  sich  eine  zuerst  im  engeren 
Umkreis  begonnene  Veränderung  auf  das  weitere  Vorkommen  der 
gleichen  Laute  übertragen  konnte.  Anderseits  können  freilich 
auch  durch  Fernewirkungen,  die  von  abweichenden  Kontakt- 
erscheinungen ausgehen,  die  regulären  Lautgesetze  gelegentlich 
kompensiert  werden  (siehe  oben  S.  486  f.).  Solche  bald  den 
regulären    Lautwandel    unterstützende,    bald    ihm    entgegenwirkende 


1)  Delbrück  hat  gegen  die  Darstellung  der  Lautverschiebungen  in  der 
ersten  Auflage  des  vorliegenden  Werkes  eingewandt,  die  hier  erwähnten  Über- 
gänge seien  von  mir  übersehen  worden;  auch  führt  er  dieselben  als  entscheidende 
Instanz  gegen  den  Zusammenhang  der  Verschiebungen  mit  der  Artikulations- 
gesch windigkeit  an  (Grundfragen  der  Sprachforschung,  S.  103).  Offenbar  hat 
Delbrück  dabei  nur  das  in  Fig.  35  symbolisierte  Schema  vor  Augen  gehabt  und 
nicht  beachtet,  daß  ebensowohl  auf  diese  Zwischenstufen  wie  auf  ihre  Abhängig- 
keit von  der  Stellung  im  An-,  In-  oder  Auslaut  im  Text  mehrfach  hingewiesen 
ist  (vgl.  1.  Aufl.,  S.  408,  415).  Prüft  man  nun  aber  diese  Zwischenstufen  näher 
hinsichtlich  ihres  Vorkommens  und  ihrer  Artikulationsbedingungen,  so  sind  sie, 
wie  aus  der  obigen  Darlegung  zu  ersehen  ist,  nicht  Zeugnisse  gegen,  sondern 
solche  für  die  vorgetragene  Theorie. 


Tempo  und  Betonung  der  Rede.  515 

Einflüsse  scheinen  namentlich  die  benachbarten  Vokale  sowie 
die  exspira torische  Betonung  auszuüben.  Darum  gelten  die  so- 
genannten Gesetze  der  Lautverschiebungen  so  wenig  wie  andere 
Lautgesetze  ausnahmslos,  sondern  nur  in  dem  Sinne  gesetzmäßig, 
daß  jeder  einzelne  Lautwandel  auf  bestimmte  Ursachen  zurückzu- 
führen ist.  Wohl  aber  weist  der  Lautwandel,  wo  er  mit  einer 
relativ  großen  Gleichförmigkeit  erfolgt  ist,  wie  besonders  bei  der 
ersten  germanischen  Lautverschiebung,  auf  das  Übergewicht  einer 
Ursache  über  andere,  mehr  sporadisch  wirkende  hin.  Daß  diese 
überwiegende  Ursache  in  der  im  Laufe  der  Sprachentwicklung 
zumeist  zunehmenden  Geschwindigkeit  der  Artikulation  besteht, 
wird  übrigens  schon  durch  deren  Einfluß  auf  die  große  Mehrzahl 
der  unmittelbaren  Kontaktwirkungen  der  Laute  wahrscheinlich 
(S.  499)1). 

Natürlich  lassen  nun  aber  diese  allgemeinen  Bedingungen  hier 
ebensowenig,  wie  bei  den  Assimilations-  und  Dissimilationswirkungen, 
irgendeinen  Schluß  auf  die  besonderen  historischen  Anlässe  zu, 
die  etwa  zu  einer  solchen  Lautänderung  geführt  haben.  Niemand 
kann  den  Übergang  des  Wortes  supmus  in  summus  oder  brumhen  in 
brummen  auf  ein  bestimmtes  geschichtliches  Ereignis  zurückführen. 
Mit  den  einzelnen  Akten  der  germanischen  oder  irgendeiner  andern 
Lautverschiebung  verhält  es  sich  nicht  anders.  Hier  läßt  sich  immer 
nur  einerseits  auf  die  relativ  allmähliche,  weder  alle  Laute  auf  ein- 
mal, noch  sofort  den  einzelnen  ausnahmslos  ergreifende  Art  des  Vor- 
gangs, anderseits  auf  jenes  Prinzip  der  Mutation  hinweisen,  nach 
dem  sich  überall  im  organischen  Leben  bestimmte  Änderungen  lang- 
sam vorbereiten,  um  dann  unter  der  Wirkung  auslösender  Kräfte 
mehr  oder  minder  plötzlich  um  sich  zu  greifen,  während  sich  diese 
Kräfte  selbst  unserer  Nach  Weisung  leicht  entziehen  können.  Doch 
dürften  die  Berührungen  verschiedener  Sprachen,  wie  sie  im  Gefolge 


^)  Deutlich  scheinen  besonders  in  den  Bantusprachen,  in  denen  zahlreiche 
dem  Grimmschen  Gesetz  entsprechende  Lautverschiebungen  vorkommen,  als 
kompensierende  Einflüsse  teils  Vokalassimilationen  teils  Betonungsverhältnisse 
wirksam  zu  sein.  (Vgl.  Meinhof,  Die  moderne  Sprachforschung  in  Afrika,  1910, 
S.  59 ff.) 

.33* 


516  I^i"  Lautwandel. 


des  Verkehrs  und  der  Wanderungen  der  Völker  eintreten,  vor  allem 
als  solche  auslösende  Kräfte  wirken.  Auch  können  sich  deren  Ein- 
flüsse weit  über  die  in  Wortentlehnungen  sich  verratenden  Mischungs- 
erscheinungen  erstrecken.  Insbesondere  gewinnt  hier  wahrscheinlich 
die  Verdrängung  der  ursprünglichen  Tonmodulation  durch  eine  aus 
fremdem  Sprachgebiet  herüberwirkende  dynamische  Betonung  eine 
entscheidende  Bedeutmig.  Belehrende  Beispiele  bieten  hier  nament- 
lich wieder  die  afrikanischen  Sprachen,  wo  sich  die  Sudansprachen 
mit  ihrer  fast  völlig  rein  erhaltenen  Tonmodulation  und  die  hami- 
tischen  Idiome  mit  ihrem  ausgeprägt  dynamischen  Akzent  gegen- 
überstehen, und  wo  nun  das  aus  Elementen  beider  gemischte 
Suaheli  sich  auch  darin  als  eine  echte  Verkehrssprache  dokumen- 
tiert, daß  in  ihm  die  dynamische  Betonung  völlig  die  Herr- 
schaft gewonnen  hat,  während  das  Bantu  eine  Art  Zwischenstufe 
einnimmt^). 

Um  so  wichtiger  ist  nun  aber  die  Tatsache,  daß  die  Lautver- 
schiebungen offenbar  ebenso  wie  die  Vokalkontraktionen,  die  Laut- 
schwächungen und  Kontaktwirkungen  Erscheinungen  sind,  die  in 
den  verschiedensten  Sprachen  nicht  beliebig  variieren  können,  son- 
dern daß  auch  hier  eine  allgemeinere  Gesetzmäßigkeit  herrscht.  Ob- 
gleich die  in  unabhängigen  Sprachgebieten  vorkommenden  Erschei- 
nimgen  in  diesem  Falle  wiederum  niemals  völlig  identisch  sind,  so 
verlaufen  sie  doch  in  übereinstimmender  Eichtung.  Daß  hier  nur  von 
einer  solchen  die  Rede  sein  kann,  ist  ja  schon  deshalb  selbstverständ- 
lich, weil  die  Ausgangspunkte  der  Veränderungen  jedesmal  abweichende 
sind,  außerdem  aber  die  weiter  hinzutretenden  Einflüsse  in  der  mannig- 
faltigsten Weise  wechseln.  Gegenüber  dieser  imgeheuern  Variabilität 
der  Bedingungen  ist  die  trotzdem  zu  beobachtende  Übereinstimmung, 
überraschend  groß.  Dies  gilt  nicht  bloß  von  den  Vokalkon traktionen^ 
Elisionen  und  Lautschwächungen,  sondern  sogar  von  dem  Wandel 
der  Verschlußlaute.  Ein  merkwürdiges  Beispiel  bilden  hier  nach  den 
Ermittelungen  C.  Meinhofs  die  Bantusprachen  Südafrikas.    So  finden 


1)  Meinhof,    Ergebnisse    der    afrikanischen    SprachforschiHig,    Archiv    für 
AnthropoL,  N.  F.,  Bd.  9,  S.  187  ff. 


Tempo  und  Betonung  der  Rede.  517 

sich  z.  B.  in  dem  Peli  für  die  aus  den  gegenwärtig  bestehenden  Dialekten 
zu  erschließenden  Konsonanten  des  ,,ür-Bantu"  folgende  Vertretungen: 
X  für  h,  f  für  f,  h  für  ng,  nt  für  rd,  mp  für  mb,  nih  für  nt^).  Das  sind 
Vertretungen,  die  hinsichtlich  des  Übergangs  der  Tenuis  in  die  Spirans 
und  in  gewissem  Umfang  auch  der  Media  in  die  Tenuis,  der  aspirierten 
in  unaspirierte  Laute  einigen  im  Germanischen  eingetretenen  Ver- 
schiebungen durchaus  entsprechen^).  Andere  Wandlungen  weichen 
ab,  zeigen  dafür  aber  um  so  charakteristischer  den  Einfluß  der  Be- 
tonung und  Dauer  der  umgebenden  Laute.  So  wird  die  Tenuis  h  in 
betonter  Stammsilbe  meist  zur  Aspirata  hh.  Besonders  bemerkens- 
wert ist  endlich  noch,  daß  bei  den  dem  Ackerbau  lebenden  Stämmen, 
die,  in  der  Kultur  höher  stehend,  durch  einen  regeren  Verkehr  sich 
auszeichnen,  der  Lautwandel  stärker  um  sich  gegriffen  hat  als  bei 
den  nomadisierenden  Völkern. 

d.    Lautänderungen   unter   dem   Einfluß    des   Akzent- 
wechsels. 

Zu  den  auf  allgemeinen  Kultureinflüssen  beruhenden  Änderungen 
der  Sprechweise  gehören  neben  dem  Tempo  der  Rede  auch  die  Ver- 
änderungen der  Betonung,  deren  schon  oben  mehrfach  gedacht  wer- 
den mußte,  weil  sie  oft  als  komplizierende  Nebenbedingungen  hin- 
zutreten. Solcher  Veränderungen  lassen  sich  im  allgemeinen  zwei 
unterscheiden.  Die  eine  besteht  in  der  früher  (S.  272  ff.)  erwähnten 
Verdrängung  der  Tonmodulation  der  Sprache  durch  den  dynamischen 
Akzent,  die  andere  durch  den  bei  dem  letzteren  vorkommenden  Orts- 


^)  C.  Meinhof,  Grundriß  einer  Lautlehre  der  Bantu- Sprachen,^  1910,  S.  25  ff. 
und  die  Tabellen  S.  194  ff. 

2)  Auf  diese  Analogien  hat  schon  H.  Meyer  aufmerksam  gemacht,  Zeitschr. 
f.  deutsches  Altertum  u.  deutsche  Literatur,  Bd.  54,  1901,  S.  108.  Gleichzeitig 
erhebt  aber  Meyer  gegen  den  Einfluß  des  Redetempos  auf  die  Lautverschiebungen 
den  Einwand,  daß  sich  zu  keiner  Zeit  im  germanischen  Altertum  ein  Anlaß  zu 
einer  plötzlichen  Beschleunigung  nachweisen  lasse.  Dieses  auch  noch  anderwärts 
geäußerte  Bedenken  dürfte  durch  die  oben  (S.  483 ff.)  hervorgehobenen  Einflüsse, 
die  wir  hier  dem  Völkerverkehr  und  der  Sprachmischung  t«ils  direkt,  teils  insofern 
zuschreiben  dürfen,  als  sie  auf  die  bereits  vorhandenen  Tendenzen  als  auslösende 
Kräfte  wirken,  gehoben  werden. 


518  Der  Lautwandel. 


Wechsel  der  Betonung.  Unter  diesen  Übergängen  sind  die  der  ersten 
Art  oben  schon  als  Momente  erwähnt  worden,  die  offenbar  in  hohem 
Grade  durch  Vokaländerungen  und  Elisionen  sowie  indirekt  auch 
durch  Wandlungen  der  Verschlußlaute  auf  den  Lautcharakter  der 
Sprache  einwirken,  die  aber  wegen  unserer  Unkenntnis  der  Ausgangs- 
punkte und  des  Verlaufs  solcher  Änderungen  zumeist  noch  der  näheren 
Analyse  unzugänglich  sind. 

Viel  deutlicher  lassen  sich  im  allgemeinen  diejenigen  Wirkungen 
nachweisen,  die  mit  den  Verschiebungen  der  Betonung  zusammen- 
hängen. Sie  treten  zunächst  an  den  Änderungen  hervor,  die  der  Vokal- 
klang erfährt,  je  nachdem  er  einer  betonten  oder  unbetonten  Silbe 
angehört.  Dabei  durchkreuzt  sich  aber  diese  Wirkung  wiederum  mit 
einer  andern,  die  von  der  Qualität  der  umgebenden  Verschlußlaute 
abhängt.  Indem  diese  die  Mundhöhle  in  verschiedener  Weise  ver- 
engern, wirken  sie  zugleich  auf  die  Klangfarbe  der  umgebenden  Vo- 
kale ein,  und  diese  Wirkung  muß,  wie  schon  W.  Scherer  hervor- 
gehoben hat,  um  so  stärker  sein,  je  größer  die  Geschwindigkeit  der 
Rede  ist.  Auch  wird  naturgemäß  derjenige  Vokal,  der  zu  seiner  reinen 
Intonation  die  volle  Öffnung  des  Mundraums  erfordert,  das  offene  a, 
von  solchen  Trübungen  am  meisten  getroffen.  Kommt  dazu  noch, 
Avie  z.  B.  im  modernen  Englisch,  eine  Artikulationsbasis,  die  an  und 
für  sich  das  volle  Ausströmen  des  Stimmklangs  hindert,  so  verliert 
die  Sprache  gänzlich  den  reinen  a-Laut,  und  auch  die  übrigen  Vokale 
können  an  dieser  je  nach  der  Einstellung  auf  die  nachfolgenden  Ver- 
schlußlaute wieder  variierenden  Trübung  teilnehmen^).  Außerdem 
ist  die  dynamische  Betonung  von  einer  doppelten  Wirkung  begleitet: 
sie  erhöht  den  Vokalklang  der  betonten,  und  sie  dämpft  die  Klang- 
farbe des  Vokals  der  folgenden  unbetonten  Silbe.  Beide  Wirkungen 
geben  sich  deutlich  an  den  Verschiebungen  zu  erkennen,  die  sie  beim 
Ortswechsel  des  Akzents  erfahren.  Man  nehme  z.  B.  zusammen- 
gehörige Wortpaare  wie  griech.  iraTegeg  und  anäuoQogt  q)Qiv€g  und 
liqiQOveg,  ipevöaq  und  ipevdog,  wo  der  Kontrast  der  helleren  Klang- 


^)  Scherer,  Zur  Geschichte  der  deutschen  Sprache,^  S.  56  ff.  Victor,  Ele- 
mente der  Phonetik,^  S.  279. 


Tempo  und  Betonung  der  Rede.  519 


färbe  des  e  und  der  dumpferen  des  o  regelmäßig  den  Ortswechsel  des 
dynamischen  Akzents  bezeichnet^).  Daß  es  sich  hier  um  Erschei- 
nungen handelt,  die  zwar  durch  die  Komplikation  mit  andern  Ur- 
sachen mehr  oder  minder  verdeckt  werden  können,  an  sich  aber  auf 
allgemeingültigen  psychophysischen  Bedingungen  der  Lautgebung 
beruhen,  erhellt  wieder  daraus,  daß  sich  analoge  Wirkungen  von  selbst 
einstellen,  wenn  man  experimentell  in  beliebige  Lautgruppen  durch 
willkürlichen  Wechsel  der  Betonung  die  gleichen  Bedingungen  ein- 
führt. Wählt  man  auch  hier  Lautgruppen  mit  überall  gleichem  Vokal, 
wie  apa,  apäy  aba^  aha  und  ähnliche,  und  registriert  man  die  Schwin- 
gimgen  der  tönenden  Laute,  so  ist,  obgleich  in  diesem  Falle  der  Vokal- 
klang für  das  Ohr  kaum  merklich  geändert  erscheint,  doch  regelmäßig 
der  betonte  Vokal  der  höhere,  was  namentlich  dann  deutlich  hervor- 
tritt, wenn  er  zugleich  gedehnt  ist  (apa,  aha).  Augenscheinlich  setzt 
sich  diese  Wirkung  aus  einer  physischen  und  einer  psychischen  Kom- 
ponente zusammen.  Rein  physikalisch  bedingt  nämlich  schon  die 
stärkere  Bewegung  der  Stimmbänder  nicht  bloß  durch  Beimischung 
höherer  Obertöne  eine  schärfere  Klangfarbe,  sondern  sie  erhöht  auch 
den  Grundton.  Sodann  aber  ist  jeder  Betonungswechsel  mit  einer 
psychischen  Kontrastwirkung  verbunden,  die,  wie  jeder  Kontrast, 
das  Moment  der  Selbstverstärkung  in  sich  trägt:  der  Kontrast  der 
dynamischen  Betonung  assoziiert  sich  also  mit  einem  entsprechen- 
den Kontrast  in  der  Empfindung  der  Tonhöhe,  worauf  die  letztere 
unmittelbar  den  Stimmton  selbst  verändert 2).  Diese  Beobachtungen 
zeigen,  daß  dynamischer  Akzent  und  Tonmodulation  nicht  bloß  neben- 
einander vorkommen,  sondern  daß  sie  sich  auch  beeinflussen  können. 


^)  W.  Örtel,  Lectures  on  the  Study  of  Language,  1901,  p.  271.  Über  ent- 
sprechende Erscheinungen  im  Altindischen  vgl.  J.  Wackemagel,  Altindische 
Grammatik,  I,  S.  64  f f . 

*^)  Auch  hier  verdanke  ich  Herrn  Prof.  F.  Krüger  mehrere  Stimmton- 
kurven der  obigen  Lautgruppen,  die,  mittels  der  Registrierung  der  Schildknorpel- 
schwingungen gewonnen,  deutlich  die  Tonerhöhung  der  akzentuierten  Silbe  und 
die  Zunahme  dieser  Tonerhöhung  mit  der  relativen  Stärke  der  Betonung  zeigen. 
So  ist  z.  B.  die  Erhöhung  des  zweiten  Vokals  in  dpa  merklich  größer  als  in  äbd. 
Diese  Tonerhöhung  beträgt  in  äba  durchschnittlich  etwas  mehr  als  eine  Sekunde, 
in  äpä  kann  sie  ungefähr  eine  Terz  erreichen. 


520  Der  Lautwandel. 


Wenn  man  der  einen  Sprache,  wie  dem  Englisclien,  dynamische  Ak- 
zente, einer  andern,  z.  B.  dem  Französischen,  Tonakzente  zuschreibt, 
so  handelt  es  sich  in  der  Tat  immer  nur  um  ein  Mehr  oder  Minder. 
Auch  ein  Wechsel  zwischen  beiden,  wie  er  in  der  Geschichte  mancher 
Sprachen  eingetreten  ist,  wird  daher  niemals  in  einem  sprungweisen 
Übergang,  sondern  lediglich  darin  bestehen,  daß  von  den  bei  jeder 
Betonung  verbundenen  beiden  Faktoren  der  bisher  mehr  zurücktretende 
überwiegend  wird.  Dies  kann  natürlich  so  allmählich  und  stetig  ge- 
schehen, daß  ein  bestimmter  Zeitpunkt  des  Wechsels  nicht  anzugeben 
ist.  Abgesehen  von  den  Berührungen  mit  andern  Sprachen  können 
hier  allmähliche  Änderungen  in  dem  psychischen  Charakter  des  Volkes 
einen  stetig  wirkenden  Einfluß  äußern,  da  Akzent  und  Sprechmelodie, 
wie  wir  bei  der  Erörterung  der  Satzbetonung  noch  sehen  werden,  in 
hohem  Grade  von  dem  Affekt  abhängen^). 

Nun  ist  der  Vokalismus  der  Sprache  solchen  durch  Tonmodu- 
lation und  dynamische  Betonung  erzeugten  Lautänderungen  zunächst 
ausgesetzt.  Denn  die  Vokale  sind  es,  die  ebensowohl  die  Tonhöhe  des 
Lautes  wie  die  exspira torische  Betonung  zum  Ausdruck  bringen. 
Aber  indirekt  können  diese  Momente  doch  auch  auf  die  angrenzenden 
Verschlußlaute  zurückwirken,  ebenso  wie  umgekehrt  die  Vokale  von 
den  zwischen  sie  tretenden  und  namentlich  von  den  ihnen  folgenden 
Konsonanten  die  Klangfärbung  empfangen,  die  der  entsprechenden 
Mundstellung  zukommt.  Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  daß  schon 
bei  der  urgermanischen  Lautverschiebung  solche  Veränderungen 
der  Betonung  mindestens  mitgewirkt  haben.  Denn,  wie  Vermutlich 
in  allen  Sprachen  ursprünglich  die  Tonmodulation  vorherrschte,  um 
erst  später  durch  den  exspiratorischen  Akzent  allmählich  zurück- 
gedrängt zu  werden  (s.  oben  S.  273  f.),  so  dürfen  wir  wohl 
auch  dem  Indogermanischen  eine  relativ  akzentlose  Tonmodu- 
lation zuschreiben,  wie  sie  etwa  heute  noch  das  Chinesische  und 
Japanische  oder  die  Sudansprachen  besitzen.  Sobald  nun  die 
exspiratorische  Bhythmisierung  der  Rede  zur  Vorherrschaft  gelangte, 
mußte  aber  die  hauchlose  Tennis  in  die  exspirierte  übergehen  (p,  t. 


1)  Vgl.  Tl.  II,  Kap.  VII,  Nr.  VIL 


Tempo  und  Betonung  der  Rede.  521 

h  in  p^',  t^',  W'),    woran   sich   dann  die   weiteren   Änderungen  infolge 
der  BescMeunigung  des  Tempos  der  Rede  anschlössen^). 

Unter  die  Erscheinungen,  die  auf  ein  solches  Zusammenwirken 
verschiedener  Faktoren  hinweisen,  gehören  wohl  auch  die  unter  dem 
Namen  des  sogenannten  Vern ersehen  Gesetzes  zusammengefaßten^). 
Nach  diesem  Gesetze  sind  nämlich  die  eingetretenen  Lautverschiebungen 
in  dem  Sinne  von  der  Betonung  abhängig,  daß  die  endgültige  Ver- 
schiebung eine  andere  ist,  wenn  in  der  Zeit,  da  die  Differenzierung 
der  Laute  erfolgte,  die  dem  Verschlußlaut  vorangehende,  eine  andere, 
wenn  die  ihm  nachfolgende  Silbe  betont  war.  In  manchen  Fällen 
konnten  dann  diese  Differenzierungen  auch  solche  der  Bedeutung 
vermitteln.  So  gehen  unsere  beiden  Wörter  zeigen  und  zeihen  (ver- 
zeihen) wahrscheinlich  auf  ein  und  dasselbe  indogermanische  Wort 
zurück,  von  dem  auch  lat.  äico,  griech.  ö^Uwi^a  herstammen.  Im 
Urgermanischen  war  der  k-Laut,  gemäß  der  zwischen  Griechisch- 
Lateinisch  und  Germanisch  geltenden  Lautvertretung,  in  eine  Spirans 
übergegangen.  Im  Althochdeutschen  findet  sich  dagegen  eine  Spaltung 
der  Betonungen,  der  nun  auch  eine  Spaltung  der  Verschlußlaute  pa- 
rallel geht.  Der  dem  betonten  Vokal  folgende  Konsonant  ist  tonlose 
Spirans:  dhan  (zeihen),  der  dem  betonten  Vokal  vorausgehende  da- 
gegen ist  tönende  Media:  seigön  (zeigen).  Zahlreiche  Beispiele  dieser 
konsonantischen  Lautdifferenzierung  infolge  der  Betonung  finden 
sich  auch  im  Gotischen^).    Ihre  Entstehung  fällt  in  eine  Zeit,  wo  noch 


^)  Das  Eintreten  des  exspiratorischen  Akzents  hat  schon  H.  Hirt  (Die 
Indogermanen,  1905,  Bd.  2,  S.  616  Anm.)  als  das  primitive  Motiv  der  urgerma- 
nisohen  Lautverschiebung  angenommen.  Für  die  sich  nunmehr  anschließenden 
weiteren  Verschiebungen  wird  man  aber  gleichwohl,  wie  ich  glaube,  zum  Tempo- 
wechsel der  Rede  zurückgreifen  müssen,  während  der  von  Hirt  vermutete  Einfluß 
von  Sprachmischimgen  vorläufig  jedenfalls  noch  in  der  Luft  schwebt.  Dieser 
Einfluß  als  solcher  wird  aber  offenbar  in  dem  Maße  zweifelhafter,  als  auf  weit 
abliegenden  Sprachgebieten,  wie  z.  B.  in  den  afrikanischen  Bantusprachen,  Laut- 
wandelvorgänge  von  gleicher  Richtung  wie  im  Germanischen  nachzuweisen  sind. 

2)  Vemer,  Kuhns  Zeitschr.  f.  vergl.  Sprachwiss.  XXIII,  1887,  S.  97  ff. 
Vgl.  a.  H.  Paul,  in  Paul  und  Braune,  Beiträge  zur  Geschichte  der  deutscheu 
Sprache,  VI,  1879,  S.  538  ff. 

3)  Vgl.  Kluge,  Pauls  Grundriß,^  I,  S.  506  ff. 


522  I^^r  Lautwandel. 


nicht,  wie  in  den  späteren  germanischen  Dialekten,  der  Akzent  auf 
der  Stammsilbe  des  Wortes  fixiert,  sondern  von  wechselnder  Lage 
war.  Durchweg  induziert  dabei  der  sinkende  Ton  eine  Lockerung  des 
vorangegangenen  Verschlusses,  also  stimmlose  Spirans,  umgekehrt 
die  steigende  Betonung  den  tönenden  Verschlußlaut,  der  durch  den 
festeren  Verschluß  die  folgende  stärkere  Exspiration  und  gleichzeitig 
durch  die  bereits  in  Schwingung  versetzten  Stimmbänder  die  nach- 
folgende lautere  Vokalisation  vorbereitet.  Demnach  erscheint  es  un- 
zulässig, den  Vern ersehen  Satz  als  ein  Ausnahmegesetz  anzusehen, 
das  die  regulären  Lautgesetze  durchbreche.  Könnte  man  doch  ebenso- 
gut die  Tatsache,  daß  wir  die  harten  Verschlußlaute  im  Anlaut  ziem- 
lich stark  aspiriert  sprechen,  oder  daß  in  den  Umwandlungen  der 
tönenden  Media  mannigfache,  von  den  umgebenden  Lauten  und  der 
Stellung  im  Wort  abhängige  Schwankungen  vorkommen,  als  Aus- 
nahmen bezeichnen.  Jeder  Lautwandel  erfolgt  unter  den  Bedingungen, 
unter  denen  er  steht,  ausnahmslos.  Diese  Bedingungen  sind  aber 
für  keinen  Laut  völlig  identisch,  weil  sich  mit  den  relativ  gleichför- 
migeren Wirkungen  der  Geschwindigkeit  der  Rede,  der  äußeren  Ein- 
wirkungen und  der  Assoziationen  verwandter  Laute  immer  noch 
mannigfach  wechselnde  Wirkungen  des  Kontakts  und  der  Betonung 
verbinden  können.  Darum  bewegt  sich  jeder  reguläre  Lautwandel 
innerhalb  eines  von  der  Komplikation  der  Bedingungen  abhängigen, 
mehr  oder  minder  großen  Spielraums,  der  sich,  wie  gerade  das  Ver- 
nersche  Gesetz  zeigt,  zu  einer  Divergenz  der  Laut-  und  Bedeutungs- 
änderungen erweitern  kann. 


6.  Zur  Theorie  des  regulären  Lautwandels. 

a.  Physische,  psychophysische  und  psychische  Hypothesen. 

Die  Versuche,  den  regulären  Lautwandel  zu  erklären,  bewegen 
sich  zwischen  drei  Möglichkeiten.  Die  erste  .Hypothese  führt  ihn 
auf  allmählich  eingetretene  Änderungen  der  physischen  Organisation 
zurück,    die    entweder    aus    den    eigenen    Entwicklungsbedingungen 


Zur  Theorie  des  regulären  Lautwandels.  523 


des  Organismus  oder  aus  äußeren  Natureinflüssen  hervorgegangen 
sein  sollen.  Die  zweite  stellt  die  psychophysischen  Wirkungen  der 
Sprach-  und  Völkermischung  in  den  Vordergrund.  Eine  dritte  Gruppe 
bringt  ausschließlich  psychische  Ursachen,  und  zwar  in  der  Regel 
ästhetische  und  teleologische  Motive,  zur  Geltung.  Über  die  erste 
physische  Hypothese  können  wir  hier  kurz  hinweggehen.  Abgesehen 
von  ihrer  Unbestimmtheit  und  von  dem  Umstand,  daß  es  kaum  mög- 
lich erscheint,  Tatsachen,  die  auf  so  abweichenden  physischen  Be- 
dingungen beruhen,  wie  die  Vokalkontraktionen  und  die  Lautver- 
schiebungen der  Konsonanten,  aus  irgendeiner  übereinstimmenden 
physischen  Ursache  unmittelbar  abzuleiten,  weisen  die  Änderungen 
der  körperlichen  Organisation,  namentlich  soweit  sie  die  Artikula- 
tionsorgane betreffen,  überall  zugleich  auf  psychophysische  oder 
psychische  Ursachen  zurück.  Allem  Anscheine  nach  macht  sich  dem- 
nach diese  Hypothese  in  den  wesentlichsten  Punkten  einer  Umkehrung 
der  Kausalität  schuldig:  die  Sprachorgane  haben  sich  zunächst  der 
Sprache  angepaßt,  also  mutmaßlich  auch  die  Änderungen  der  ersteren 
denen  der  letzteren,  und  erst  infolge  der  bei  allen  solchen  Erscheinungen 
stattfindenden  Wechselwirkungen  sind  dann  hinwiederum  die  Organe 
für  die  erzeugten  Laute  bestimmend  geworden.  Die  Hypothese  der 
Sprach-  und  Völkermischungen  dagegen  greift  zweifellos  ein  wichtiges 
Moment  aller  Sprachentwicklung  heraus.  Aber  sie  vermag  es  nicht 
im  geringsten  wahrscheinlich  zu  machen,  daß  dieses  Moment  das 
ausschließliche,  oder  daß  es  auch  nur  das  hauptsächlich  maßgebende 
sei.  Vielmehr  gehen  die  wichtigsten  und  regelmäßigsten  Erscheinungen, 
wie  der  Wandel  der  Verschlußlaute,  die  Kontraktionen  und  Elisionen 
am  Ende  des  Wortes,  wenigstens  in  sehr  vielen  Fällen  unabhängig 
von  irgendwie  nachweisbaren  Mischungseinflüssen  vor  sich,  und  die 
Hypothesen  dieser  Art  operieren  daher  überall,  wo  ein  direkter  Einfluß 
des  Lautsystems  einer  Sprache  auf  das  einer  andern  nicht  nachzuweisen 
ist,  mit  unerweisbaren  Vermutungen.  So  gewinnt  es  denn  durchaus  den 
Anschein,  daß  eben  diese  Einflüsse,  wo  nicht  ausgeprägte  Fälle  der  Ent- 
stehung von  Mischsprachen  vorliegen,  vornehmlich  teils  als  auslösende 
Ursachen,  teils  als  begünstigende  Bedingungen  wirken :  das  erstere,  indem 
sie  zu  lange  vorbereiteten  Änderungen  den  Anstoß  geben,  das  letztere, 
indem  sie  die  Ausbreitung  bereits  eingetreten  er  Änderungen  unterstützen. 


524  I^J*  Lautwandel. 


Wesentlicli  anders  verhält  es  sich  mit  den  ästhetischen  und 
teleologischen  Hypothesen.  Sie  gehen,  ohne  Rücksicht  auf 
irgendwelche  äußere  Bedingungen,  auf  die  Erscheinungen  des 
Lautwandels  selbst  zurück  und  suchen  der  Vergleichung  der  ge- 
wandelten Laute  mit  den  ursprünglichen  die  treibenden  Motive  der 
Vorgänge  zu  entnehmen. 

Unter  ihnen  greift  die  ästhetische  die  nächstliegenden  subjek- 
tiven Motive  bei  der  Beurteilung  menschlicher  Handlungen  heraus. 
AVenn  jemand  statt  einer  Sache  eine  andere  bevorzugt,  so  sind  wir 
geneigt  zu  urteilen,  diese  habe  ihm  besser  gefallen  als  jene.  Eine  solche 
Bevorzugung  braucht  natürlich  nicht  als  eine  willkürliche  betrachtet 
zu  werden;  man  kann  sie  ebensogut,  im  Hinblick  auf  die  Allgemein- 
heit der  Vorgänge,  als  ein  instinktives  Handeln  des  ,, Volksgeistes'' 
auffassen.  In  diesem  Sinne  hat  in  der  Tat  Jakob  Grimm  das  von  ihm 
entdeckte  Gesetz  der  germanischen  Lautverschiebung  gedeutet.  An 
sich  erscheint  ihm  —  darin  klingen  romantische  Einflüsse  an  —  die 
Lautverschiebung  als  eine  ,, Barbarei  und  Verwilderung'',  durch  die 
sich  die  Sprache  von  ihrer  ursprünglichen  ,, organischen  Lautstufe" 
losgesagt  habe.  Aber  auf  der  andern  Seite  liegt  ihm  doch  in  dieser 
Tat  des  ,, Sprachgeistes",  deren  sich  „andere,  ruhigere  Völker  ent- 
hielten", ein  bewundernswerter  Zug,  ,,der  mit  dem  gewaltigen  das 
Mittelalter  eröffnenden  Vorschritt  und  dem  Freiheitsdrang  der  Deutschen 
zusammenhänge"^).  Ganz  im  Geiste  dieser  Auffassung  sah  noch 
G.  Curtius  in  der  Richtung  jener  Lautverschiebung  von  der  Aspirata 
hinweg  zu  der  Media  und  Tenuis  den  Ausdruck  der  ,, Tatkraft"  und 
der  ,, jugendlichen  Rüstigkeit"  der  Germanen^).  Doch  dieser  Versuch 
scheitert  schon  an  den  Tatsachen:  jenem  vermeintlich  mit  größerer 
Energie  gepaarten  Übergang  in  die  Tenuis  steht  nicht  nur  die  Um- 
wandlung der  letzteren  in  die  Spirans,  sondern  auch  die  der  Aspirata 


^)  J.   Grimm,  Geschichte  der  deutschen  Sprache,*  I,  S.  292. 

2)  Curtius  in  Kuhns  Zeitschrift  für  vergl.  Sprachforschung,  II,  1853,  S.  33L 
Fast  genau  mit  dieser  älteren  Curtiusschen  Ansicht  kommt  die  neuerdings  von 
James  Byrne  (General  Principles  of  the  Structure  of  Language,^  II,  1892,  p.  187  f.) 
entwickelte  überein;  auch  sucht  dieser  Autor  die  Umwandlung  der  Aspirata  in 
die  Media  dem  gleichen  Gesichtspunkt  unt^rzuoixlnen. 


/ 


Zur  Theorie  des  regulären  Lautwandels.  525 

in  die  Media  gegenüber.  Hier  ist  aber  im  ersten  Fall  die  Ermäßigung 
des  Verschlusses  jedenfalls  bestimmter  ausgeprägt,  als  die  sie  etwa 
begleitende  Verstärkung  des  Atemstroms;  vollends  im  zweiten  Fall 
bestellt  die  Veränderung  in  einer  Abnahme  statt  in  einer  Zunahme 
der  Energie.  So  hat  sich  denn  auch  Curtius  selbst  später  der  teleo- 
logischen Auffassung  zugewandt.  Ein  anderer  Versuch  ästhetischer 
Erklärung  wurde  von  W.  Scher  er,  allerdings  unter  wesentlicher  Zu- 
hilfenahme teleologischer  Motive,  gemacht.  Indem  er  das  Verlassen 
des  bis  dahin  geltenden  Systems  der  Verschlußlaute  als  eine  lässige 
Funktionsweise  der  Sprachorgane  deutet,  bezieht  er  diese  ,, Lässig- 
keit" auf  eine  Abziehung  der  Aufmerksamkeit  nach  einer  andern 
Richtung.  Eine  solche  Attraktion  habe  aber  der  Vokalklang  aus- 
geübt: „ihn  verlangte  man,  daran  ergötzte  man  sich,  das  andere  war 
gleichgültig".  Diese  Poesie  der  reinen  Vokale  besitze  vor  allem  das 
Althochdeutsche.  Insbesondere  die  zweite  Lautverschiebung  glaubt 
daher  Scherer  auf  den  „musikalischen  Sinn"  der  Oberdeutschen  zurück- 
führen zu  sollen  ^).  Doch  der  volltönende  Klang  ist  den  älteren  Formen 
der  Sprache  überhaupt  eigen,  dem  Altindischen  so  gut  wie  dem  Alt- 
griechischen, und  ob  das  Gotische,  das  die  zweite  Lautverschiebung 
nicht  mitgemacht  hat,  ihn  weniger  besitze  als  das  Althochdeutsche, 
darf  man  wohl  bezweifeln.  Der  gesetzmäßige  Lautwandel  überhaupt 
hat  in  seiner  allgemeinen  Entwicklung  sicherlich  nicht  dazu  geführt, 
die  Sprachen  indogermanischer  Abkunft  musikalischer  zu  machen 
—  wie  sich  das  vielleicht  von  den  polynesischen  Sprachen  behaupten 
läßt  — ,  sondern  eher  zum  Gegenteil  dieses  Erfolgs.  Die  Lautverschie- 
bungen selbst  scheinen  aber  im  allgemeinen  außerhalb  dieser  Ver- 
änderungen zu  stehen,  die  weit  mehr  durch  die  allmähliche  Abschlei- 
fung  und  Verkürzung  der  Wortformen,  also  durch  Elimination  von 
Lauten,  als  durch  die  Wandlungen  der  Verschlußlaute  herbeigeführt 
werden. 

Hiervon  geht  nun  die  teleologische  Hypothese  aus.  Sie  führt 
auf  die  beiden  oben  bereits  erwähnten  angeblichen  Triebe  bequemer 
Lautartikulation   und    Erhaltung    bedeutsamer    Unterschiede   zurück 


^)  W.  Scherer,  Zur  Geschichte  der  deutschen  Sprache,*  1878,  S.  151  ff. 


526  Der  Lautwandel. 


(S.  376  ff.).  Bei  der  besonderen  Anwendung  auf  die  regelmäßigen 
Lautverschiebungen  sind  beide  wieder  von  verschiedenem  Erklärungs- 
wert. Der  erste,  der  Trieb  nach  Bequemlichkeit,  ließe  sich  mit  einem 
gewissen  Rechte  verteidigen.  Wenn  nicht  bei  allen,  so  trifft  es  wenig- 
stens bei  mehreren  der  lautgesetzlichen  Veränderungen  zu,  daß  die 
neuen  Artikulationen  leichter  sind  als  die  vorangegangenen.  Aber 
alle  diese  Erleichterungen  haben  doch  in  doppeltem  Sinn  eine  bloß 
relative  Bedeutung:  erstens  kommt  es  überall  auf  die  benachbarten 
Laute  an,  in  deren  unmittelbarer  Nähe  sich  der  dem  Wandel  unter- 
worfene befindet;  und  zweitens  sind  Betonung,  Quantität,  Rhythmus 
und  Geschwindigkeit  der  Aufeinanderfolge  auf  die  größere  oder  ge- 
ringere Leichtigkeit  einer  einzelnen  Lautbewegung  von  entscheiden- 
dem Einfluß.  Wörter  wie  Tal,  Pest,  Kind  sprechen  wir  aspiriert,  T''al, 
P^'est,  KHnd,  und  es  wird  uns  sehr  schwer,  sie  unaspiriert  zu  sprechen ; 
bei  Wörtern  wie  Sfaß,  Traube,  Acker  gelingt  es  kaum,  die  drei  Laute 
f,  t,  k  deutlich  zu  aspirieren.  Nach  langem  Vokal  entsteht  leichter 
die  Media,  z.  B.  rab,  täd,  lag,  dem  kurz  herausgestoßenen  folgt  die 
Tenuis :  rap,  tat,  Iah.  So  gibt  es  denn  auch  Laut  Verbindungen,  in  denen 
offenbar  infolge  derartiger  Verhältnisse  Laute  unverändert  blieben, 
die  sonst  verschoben  worden  sind,  wie  z.  B.  die  drei  Verschlußlaute 
in  sf,  st,  sie  —  man  vergleiche  got.  standan  ahd.  stdn  ,, stehen",  engl. 
to  spare  ahd.  spar  ,, sparen"  u.  a.  Auf  diese  Weise  ist  der  Eintritt  oder 
Nichteintritt  einer  Lautverschiebung  überall  mitbestimmt  durch  die 
Kontaktwirkungen  der  Laute.  Insofern  aber  diese  ihrerseits  wieder 
mitbestimmt  sind  durch  die  von  ihnen  bewirkte  Erleichterung  der 
Artikulation,  wird  in  der  Tat  die  Annahme  nahegelegt,  daß  diese 
bei  der  Lautverschiebung  eine  wichtige  Rolle  spielt.  Eine  andere 
Frage  ist  es  jedoch,  ob  diese  Erleichterung  als  Wirkung  eines  ,, Triebes 
nach  Bequemlichkeit"  bezeichnet  werden  darf.  Macht  doch  der  Laut- 
wandel gerade  da,  wo  er  unzweifelhaft  die  Artikulation  erleichtert, 
den  Eindruck  eines  mit  mechanischer  Notwendigkeit  und  nicht  unter 
der  Wirkung  irgendeines  bewußten  oder  selbst  unbewußten  ,,Strebens" 
sich  vollziehenden  Vorgangs.  Dieser  Ausdruck  schließt  eben  unver- 
meidlich irgendein  Willensmoment  ein,  von  dem  hier  nirgends  die 
Rede  sein  kann.  Vollends  ist  die  zur  Ergänzung  jenes  angeblichen 
Triebes    herbeigezogene    Hypothese    des    ,,Strebens    nach    Erhaltung 


Zur  Theorie  des  regulären  Lautwandels.  527 


^ö 


bedeutsamer  Unterschiede"  unhaltbar.  Denn  hier  ist  schon  der  Aus- 
gangspunkt unzutreffend,  nach  welchem  ein  bestimmter  Verschiebungs- 
vorgang, und  zwar  derjenige,  der  dem  ursprünglichen  Motiv  der  Be- 
quemlichkeit am  meisten  unterworfen  war,  überall  der  primäre  ge- 
wesen sei,  worauf  dann  die'  weiteren  Verschiebungen  deshalb  eintreten 
sollen,  weil  sonst  eine  allzu  große  Anhäufung  von  Lauten  einer  Klasse 
entstünde.  So  meinte  Grimm,  das  erste  sei  gewesen,  daß  sich  die  tö- 
nende Media  zur  tonlosen  Tennis  ,, verdünnt'',  worauf  sich  durch  die 
weiteren  Verschiebungen  erst  wieder  das  ,, richtige  Verhältnis  der 
Laute"  habe  herstellen  müssen.  Curtius  verlegte  jenen  ersten  Schritt 
in  die  Abschwächung  der  aspirierten  Verschlußlaute,  um  dann  die 
übrigen  Verschiebungen  dem  Gesichtspunkt  der  zweckmäßigen  Laut- 
verteilung unterzuordnen.  Max  Müller  behauptete,  bei  den  ger- 
manischen Stämmen  sei,  als  sie  in  den  Verschiebungsprozeß  ein- 
traten, noch  eine  Erinnerung  an  die  dreifachen  Verschlußlaute 
ihrer  arischen  Vorfahren  erhalten  geblieben,  und  sie  seien  daher 
bemüht  gewesen,  ,,so  gut  wie  möglich  diesem  dreifachen  Anspruch 
zu  genügen"^).  Hier  wird  also  gar  das  Differenzierungsbedürfnis 
damit  motiviert,  daß  den  Urgermanen  die  Fähigkeit  der  Ver- 
gleichung  mit  dem  vor  Beginn  der  Verschiebung  vorhandenen  Laut- 
system  zugeschrieben   wird. 

Nun  ist  jede  einzelne  Lautverschiebung  insofern  notwendig  ein 
unabhängiger  Vorgang,  als  es  keine  geben  kann,  die  erst  durch  die 
absichtliche  Vergleichung  mit  andern  Veränderungen  veranlaßt  wäre. 
Der  gesetzmäßige  Zusammenhang  aller  dieser  einzelnen  Verschiebun^s- 
akte  spricht  aber  zugleich  dafür,  daß  es  wesentlich  übereinstimmeade 
Ursachen  Avaren,  unter  denen  sie  erfolgten.  Doch  die  eintretende 
Wirkung  ist  überall  von  den  begleitenden  Bedingungen  abhängig. 
Abweichende  Bedingungen  ergaben  sich  nun  bei  einem  und  dem- 
selben Laut  je  nach  seinen  Verbindungen  mit  andern  Lauten.  So 
erklärt  sich  die  Reihe  der  durch  den  Kontakt  der  Laute  begründeten 
Variationen.    Eine  übereinstimmende  Natur  der  Ursachen  wird  daher 


^)  „Vorlesungen  über  die  Wissenschaft  der  Sprache"^  (1866,  lt.   S.    194), 
neueste  Auflage  (1893,  IT,  S.  224). 


528  Der  Lautwandel. 


trotz  solcher  Verschiedenheit  offenbar  dann  vorauszusetzen  sein, 
wenn  diese  Wirkungen  gleichwohl  übereinstimmende  Richtungen 
erkennen  lassen;  und  den  Grund  solcher  übereinstimmender  Rich- 
tungen wird  man  wieder  am  wahrscheinlichsten  in  Bedingungen  suchen 
dürfen,  die  uns  heute  noch  fortwährend  in  gewissen  allmählich  er- 
folgenden Lautänderungen  entgegentreten.  Hier  spielen  aber,  wie 
ims  sowohl  die  Erscheinungen  des  Versprechens  wie  die  unserer  Beobach- 
tung erreichbaren  singulären  Lautänderungen  der  Sprache  gelehrt 
,  haben,  ästhetische  oder  teleologische  Motive  nirgends  eine  nennens- 
werte Rolle,  sondern  die  Erscheinungen  sind  überall  notwendige  Folgen 
psychophysischer  Bedingungen,  die  im  allgemeinen  gänzlich  außerhalb 
der  Sphäre  willkürlicher  Beurteilung  und  Beeinflussung  liegen. 


b.    Der    reguläre    Lautwandel    als    resultierende    Wirkung 
singulärer  Lautänderungen. 

Sucht  man  sich  über  die   Gründe  Rechenschaft  zu  geben,  aus 
denen    die  ästhetische  und  teleologische  Theorie  der  regulären  Laut- 
änderungen, jede  für  sich  allein  und  beide  in  ihrer  Verbindung,  ge- 
scheitert sind  und  notwendig  scheitern  mußten,  so  liegen  diese  nicht 
bloß  in  der  mangelhaften  Reflexionspsychologie,  mit  der  sie  operier- 
ten,   sondern    noch    in    einem   allgemeineren    erkenntnistheoretischen 
Fehler,  der  freilich  selbst  mit  jener  Reflexionspsychologie  eng  ver- 
bunden ist.    Er  besteht  kurz  gesagt  darin,  daß  man  generelle  Erschei- 
nungen aus  zufälligen  individuellen  Motiven  abzuleiten  sucht;  und  er 
hängt  zugleich  mit  der  oben  (S.  408)  schon  charakterisierten  Hypo- 
these zusammen,  nach  der  jede  generelle  Erscheinung  zuerst  einmal 
in  irgendeinem  Individuum  entstanden  sei  und  sich  dann  auf  dem 
Wege  der  Nachahmung  weiter  verbreitet  habe.    Demgegenüber  liegt 
jenen  Hypothesen,  die  diese  Vorgänge  aus  Veränderungen  der  Natur- 
bedingungen   oder    aus    Völkerwanderungen    und    Sprachmischungen 
ableiten  wollen,  immerhin  der  richtige  Gedanke  zugrunde,   daß  all- 
gemeine  Wirkungen   insgemein   auch   allgemeiiie    Ursachen   voraus- 
setzen.   Aber  obgleich  es  wahrscheinlich  ist,  daß  die  genannten  Mo- 


Zur  Theorie  des  regulären  Lautwandels.  529 

mente  nicht  selten  von  mitwirkendem  Einfluß  sind,  so  erweisen  sie 
sich  doch  der  Kegelmäßigkeit  und  allgemeinen  Übereinstimmung 
der  Erscheinungen  gegenüber  als  unzulänglich.  Dazu  kommt,  daß 
man  auch  hier  für  die  Gesamtheit  dieser  Phänomene  eine  einzige  Ur- 
sache oder  mindestens  eine  fest  bestimmte  Kategorie  von  Ursachen 
voraussetzt.  Dieses  Streben  nach  einem  einzigen,  allgemeingültigen 
Erklärungsgrund  hat  seine  Quelle  in  einem  Vorurteil,  das  in  der  häufig 
gebrauchten  Bezeichnung  ,, selbständiger  Lautwandel"  seinen  Aus- 
druck findet.  Indem  man  diesen  zu  dem  ,, abhängigen"  oder  ,, kom- 
binatorischen" in  einen  Gegensatz  bringt,  verbindet  sich  damit  die 
Vorstellung  einer  totalen  Verschiedenheit  beider  Formen,  derart,  daß 
von  den  Ursachen,  die  den  kombinatorischen  Wandel  bestimmen, 
bei  dem  selbständigen  nicht  die  Rede  sein  könne.  Vollends  gilt  bei 
diesem  die  Mitwirkung  assoziativer  Einflüsse,  wie  sie  in  den  Fertie- 
wirkungen  hervortreten,  um  so  mehr  als  ausgeschlossen,  weil  solche 
nicht  selten  die  Wirkungen  des  regelmäßigen  Lautwandels  aufheben 
können.  So  gilt  denn  dieser  als  die  eigentliche  Norm.  Der  Ausdruck 
„Lautgesetze"  wird  nur  auf  ihn,  auf  sonstige  Lautänderungen  höchstens 
widerstrebend  angewandt,  um  den  fatalen  Begriff  der  ,, Ausnahme" 
zu  vermeiden.  Jener  „selbständige"  Lautwandel  soll  aber,  wie  das 
Wort  andeutet,  den  einzelnen  Laut  als  solchen,  ganz  unabhängig 
von  den  Laut  Verbindungen,  in  denen  er  steht,  und  natürlich  auch  von 
allen  assoziativen  Einflüssen   ergreifen. 

Nun  kommen  Einzellaute,  wie  sie  hier  als  Objekte  einer  selb- 
ständigen Änderung  vorausgesetzt  werden,  in  der  wirklichen  Sprache 
natürlich  nicht  vor.  Sie  sind  im  Grunde  genommen  nur  Abstrak- 
tionen des  Grammatikers  oder  Phonetikers.  Da  jeder  Laut  nur  in 
mancherlei  Verbindungen  mit  andern  Lauten  existiert,  so  kann  er 
auch  nur  in  diesen  Verbindungen  Wandlungen  erfahren.  Damit  wird 
es  von  vornherein  höchst  unwahrscheinlich,  daß  ein  solcher  Wandel, 
von  allen  begleitenden  Lauten  unabhängig,  nur  in  dem  isoliert  ge- 
dachten Einzellaut  selbst  sein  Objekt  haben  sollte.  In  der  Tat  zeigt 
auch  die  Beobachtung,  daß  dies  niemals  der  Fall  ist,  und  daß  man 
nur  dadurch  zu  dem  Begriff  eines  „unabhängigen"  Lautwandels  ge- 
langen konnte,  weil  man  von  mehr  oder  minder  erheblichen  Unter- 
schieden der  Laute,  die  nachweislich  von  ihrem  Zusammenhang  mit 

Wo  n  dt,  Völkerpsychologie.    I.    4.  Aufl.  34 


530  Der  Lautwandel. 


andern  herrühren,  abstrahierte.  Die  Belege  hierzu  sind  uns  oben  überall 
begegnet.  Nicht  anders  steht  es  mit  den  Vokalen,  die  wieder  teils 
von  den  vorangehenden,  teils  aber  und  namentlich  von  den  nachfolgen- 
den Konsonanten,  endlich  von  der  Betonung  in  ihrer  Klangfarbe 
und  Tonhöhe  bestimmt  sind,  wobei  die  letzteren  Verhältnisse  ebenso 
mit  den  Motiven  der  Affekterregung  wie  mit  denen  assoziativer  Ein- 
übung zusammenhängen.  Diese  Momente  in  ihrer  Vereinigung  be- 
dingen es  dann,  daß  Akzent  und  Tonfall  zu  einer  gegebenen  Zeit, 
neben  fortwährenden  leiseren,  von  der  momentanen  Gefühlslage  und 
dem  spezifischen  Inhalt  des  Gesprochenen  abhängigen  Schwankungen, 
eine  gewisse  Kegelmäßigkeit  zeigen,  daß  sie  sich  aber  innerhalb  län- 
gerer Zeiten  oder  unter  dem  Einfluß  sonstiger  starker  Veränderungen 
der  Sprache  fortwährend  wandeln.  Hier  erhebt  sich  eben  überall 
auf  der  Basis  des  durch  assoziative  Gewöhnung  stabil  gewordenen 
Besitzes  ein  Strom  beweglicher  Einflüsse,  die  dem  Ausdruck  seine 
dem  singulären  Fall  entsprechende  Färbung  geben. 

Nach  allem  dem  ist  der  reguläre  Lautwandel  kein  Vorgang,  der 
eine  fest  bestimmte  frühere  Lautform  mit  einer  ebenso  bestimmt 
zu  fixierenden  späteren  stetig  verbindet.  Seinen  Anfang  wie  sein 
Ende  bildet,  wenn  er  noch  so  regulär  verläuft,  kein  einzelner  Laut, 
sondern  ein  Spielraum  von  Lautbildungen,  wobei  die  im  einzelnen 
Fall  wirklich  vorhandene  jeweils  von  den  besonderen  Bedingungen 
der  Lautumgebung  und  der  Betonung  abhängt.  Und  wie  Anfang 
und  Ende,  so  sind  alle  zwischenliegenden  Stationen  durch  Lautformen 
bezeichnet,  die  sich  innerhalb  eines  mehr  oder  weniger  breiten  Inter- 
valls feinerer  Lautwandlungen  bewegen.  Nun  ist  jede  Variation,  die 
ein  Laut  innerhalb  eines  solchen  Spielraums  erfährt,  nachweislich 
von  den  singulären  Bedingungen  abhängig,  denen  er  hierbei  begegnet, 
also  vom  Kontakt  mit  andern  Lauten,  von  assoziativen  Fernewir- 
kungen, durch  die  verwandte  oder  ähnliche  Wort-  und  Lautformen 
angleichend  aufeinander  einwirken,  und  endlich  von  den  Verhält- 
nissen der  Betonung.  Jener  Spielraum  selbst  ist  also  im  einzelnen 
Fall  eine  Funktion  der  Einflüsse,  die  der  singulare  Lautwandel  mit 
sich  führt;  der  Laut  ist  in  dieser  ihm  eigenen  Variabilität  selbst  nichts 
anderes  als  ein  Produkt  der  Wirkungen,  welche  die  Ursachen  des 
singulären  Lautwandels  auf  ihn  ausüben.     Mit  dieser  Abhängigkeit 


Zur  Theorie  des  regulären  Lautwandels.  531 

der  Schwankungen  des  regulären  Lautwandels  vom  singulären  hängt 
noch  eine  weitere,  durch  die  Erfahrung  bestätigte  Beziehung  beider 
zusammen.  Es  ist  selbstverständlich,  daß  alle  die  psychophysischen 
Einflüsse,  die  auf  die  Erscheinungen  des  singulären  Lautwandels  ein- 
wirken, auch  den  regulären  nicht  unberührt  lassen  können.  Nun  sind 
jene  Einflüsse  bei  den  beiden  Hauptformen  des  ersteren,  den  Kon- 
takt- und  den  Fernewirkungen,  wieder  von  wesentlich  abweichender, 
wenn  auch  in  gewissen  Grundmotiven  psychophysischer  Entwicklung 
übereinstimmender  Art.  Bei  den  Kontaktwirkungen,  vor  allem  bei 
den  innerhalb  der  bekannteren  Kultursprachen  eine  so  große  Rolle 
spielenden  regressiven  Assimilationen,  wirkt  als  nächstes,  seinerseits 
wieder  vornehmlich  von  psychischen  Bedingungen  abhängiges  Moment 
die  Beschleunigung  des  Redeflusses.  Diese  Ursache  ist  hier  deshalb 
so  zwingend,  weil  wir  den  ganzen  Vorgang  in  der  Regel  ohne  weiteres 
experimentell  nachahmen  können:  die  meisten  Kontaktwirkungen 
treten  sofort  ein,  wenn  wir,  von  einem  ihnen  vorausgehenden  Laut- 
stadium ausgehend,  die  Artikulation  beschleunigen.  Dazu  kommen 
noch  die  Wirkungen  der  Betonung,  die  sich  mit  denen  der  Beschleu- 
nigung komplizieren.  Nun  muß  natürlich  jeder  Einfluß,  der  die  Kon- 
taktwirkungen verändert,  auch  den  Spielraum  der  Artikulationen, 
innerhalb  deren  sich  der  reguläre  Lautwandel  bewegt,  verändern, 
und  zwar  nicht  bloß  in  seinem  Umfang,  sondern  vor  allem  darin,  daß 
er  die  Lage  des  Intervalls  verschiebt,  in  welchem  sich  die  um  einen 
bestimmten  mittleren  Normallaut  gruppierten  Variationen  bewegen. 
Der  reguläre  Lautwandel  selbst  ist  also  nicht  bloß  in  den  von  beson- 
deren Bedingungen  abhängigen  Schwankungen,  sondern  in  seiner 
eigenen  Bewegung  von  den  gleichen  Ursachen  abhängig,  die  den  sin- 
gulären bestimmen.  Nur  kommen  bei  ihm  noch  die  aus  dem  Verkehr 
und  den  Wanderungen  der  Völker  entspringenden  äußeren  Bedingungen 
hinzu,  die  auf  den  Eintritt  der  bereits  vorbereiteten  Wandlungen 
teils  als  auslösende  Kräfte  wirken,  teils  aber  auch  in  der  Aufnahme 
fremden  Sprachguts  und  in  dem  durch  den  Sprachenkontakt  ver- 
mittelten Wechsel  der  Betonung  die  andern  Wirkungen  verstärken, 
modifizieren  oder  unter  Umständen  wohl  auch  kompensieren  können. 
Wie  der  Kontakt  der  Laute,  so  kann  die  assoziative  Fernewirkung 
derselben,  sobald  sie  in  zahlreichen  singulären  Fällen  übereinstimmende 

34* 


532  Der  Lautwandel. 


Lautänderungen    herbeiführt,    auf    den    regulären    Lautwandel    nicht 
ohne  Einfluß  bleiben.   Doch  ist  dieser  Einfluß,  wie  in  seinen  Ausgangs- 
punkten, so  in  seinen  Erfolgen  ein  wesentlich  anderer.    Während  bei 
den  Kontaktwirkungen  der  Mechanismus  der  Artikulation  das  nächste, 
der    psychische    Mechanismus    des    Vorstellungs-    und    Affektverlaufs 
nur  das  entferntere  Moment  abgibt,  geht  die  assoziative  Fernewirkung 
direkt  auf  diesen  Verlauf  zurück.     Darum  nehmen  die  Assoziations- 
einflüsse mit  wachsender  geistiger  Beweglichkeit  ebenso  zu  wie  die 
Kontaktwirkungen.      Aber   sie   gehen   nach   einer   andern   Richtung. 
Wirken  die  Lautkontakte  differenzierend,   indem  sie  jeweils  die 
einzelne  Lautqualität  den  spezifischen,  durch  die  Umgebung  bestimm- 
ten   Artikulationsbedingungen    anpassen,    so    wirken    umgekehrt    die 
Lautassoziationen  uniformierend,   indem  sie  solchen  Lautgruppen 
und  Einzellauten,  die  durch  häufigen  Gebrauch  in  höherem  Maß  ein- 
geübt sind,  mehr  und  mehr  das  Übergewicht  verschaffen  über  andere, 
seltenere.     Direkt  nachweisen  läßt  sich  diese  Wirkung  da,  wo  solche 
Lautangleichungen  in  die  Wortbildung  eingreifen  und  entweder  ein- 
zehie  Abweichungen  oder,  wenn  diese  sich  häufen,   schließlich  neue 
Bildungsformen  verursachen,  wie  uns  das  bei  den  früher  erörterten 
Beispielen    assoziativer    Fernewirkungen    entgegentrat    (S.     453  ff.). 
Übrigens  werden  naturgemäß  solche  Assoziationen  und  daraus  ent- 
springende Lautangleichungen  auch  da  stattfinden,  wo  sie  sich  nicht 
ohne  weiteres  in  der  Umwandlung  früher  bestandener  Flexionsformen 
oder  in  der  offenkundigen  Anlehnung  eines  bestimmten  Wortes  an 
ein  anderes  zu  erkennen  geben.     Insbesondere  können  diese  Ferne- 
w^rkungen  im  Zusammenhange  mit  den  Einflüssen  der  Lautkontakte 
in  doppeltem   Sinne  wirksam  sein.     Erstens  muß  eine  durch  Laut- 
kontakt bewirkte  Änderung  der  Artikulation  um  so  mehr,  je  häufiger 
sie  sich  wiederholt,  den  gesamten  Zustand  der  Sprachorgane  und  da- 
mit die  Artikulationsbasis,  die  jede  Lautgebung  bestimmt,  beeinflussen. 
Zweitens  übt  jeder  häufig  wiederholte  Laut  eine  assoziative  Wirkung 
aus,  die  zu  seiner  Wiederholung  disponiert,  so  daß  ein  anderer,  bis 
dahin  verschiedener  ihm  angeglichen  wird.     Nimmt  man  nun  diese 
uniformierende  mit  jener  differenzierenden  Wirkung  der  Lautkontakte 
und   wechselnden   Betonungsverhältnisse    zusammen,    so   bietet   sich 
für  die  Entstehung  irgendwelcher  mehr  oder  minder  regulärer  Laut- 


Zur  Theorie  des  regulären  Lautwandels.  533 

änderungen  das  folgende  Bild.  Unter  den  Kontaktwirkungen  der 
Laute  wirken  solche,  die  sich  in  einer  großen  Zahl  von  Fällen  wieder- 
holen, auf  den  Artikulationsmechanismus  in  ihrem  Sinn  umbildend 
zurück,  und  sie  wirken  außerdem  assoziativ  auf  verwandte  Laute, 
zunächst  wenn  sich  diese  in  ähnlichen,  dann  aber  auch,  wenn  sie  sich 
in  etwas  abweichenden  Verbindungen  befinden.  Auf  diese  Weise  bildet 
sich  allmählich  aus  einer  Reihe  von  Fällen  singulärer  Lautänderungen 
ein  regulärer  Lautwandel,  der  in  dem  Spielraum,  den  er  den  Einflüssen 
von  Kontakt  und  Betonung  im  einzelnen  Falle  läßt,  immer  noch  die 
Spuren  seines  Ursprungs  an  sich  trägt.  Die  Richtungen,  in  denen  sich 
der  so  entstandene  Lautwandel  bewegt,  sind  aber  wieder  unter  sich 
um  so  übereinstimmender,  je  mehr  die  Ausgangspunkte  dieser  Ver- 
änderungen, die  einzelnen  Kontaktwirkungen,  aus  einer  überein- 
stimmenden Ursache  entspringen.  Eine  solche  ist  nun  vor  allem  in 
der  mit  wachsender  Kultur  zunehmenden  Sprachübung  und  in  der 
hiermit  zusammenhängenden  Beschleunigung  der  Artikulation  gegeben. 
Für  die  Art  wie,  und  insbesondere  für  die  Zeitpunkte,  wo  solche 
Änderungen  hervortreten,  ist  jedoch  stets  zugleich  eine  Fülle  äußerer 
Bedingungen  von  bestimmendem  Einfluß.  Hier  scheinen  teils  plötz- 
liche Völkerbewegungen,  teils  Berührungen  mit  andern  Dialekten 
oder  Sprachen  als  auslösende  Kräfte  zu  wirken.  Dabei  ist  es  stets 
die  junge,  durch  festgefügte  Assoziationen  weniger  gebundene  Gene- 
ration, die  sich  den  neuen  Einflüssen  zugänglicher  zeigt. 

So  stellt  sich  der  Lautwandel  überhaupt  schließlich  als  ein  in 
allen  seinen  Erscheinungen  zusammenhängender  psycho- 
physischer  Vorgang  dar.  Wohl  steht  dieser  Vorgang  unter  einer 
Fülle  mannigfach  ineinander  greifender  Bedingungen,  die  die  Schnellig- 
keit der  Veränderungen,  ihre  Intermissionen  und  dann  wieder  ihre  oft 
plötzlichen  Fortschritte  veranlassen  mögen.  Aber  die  durchgreifenden 
Ursachen  selbst  sind  nicht  für  die  eine  Gruppe  von  Erscheinungen 
diese,  für  eine  andere  jene,  sondern,  wie  die  Sprache  selbst  ein  organisches 
Ganzes  ist,  so  ist  sie  auch  in  allen  ihren  Teilen,  in  ihren  begrenzteren 
wie  in  ihren  umfassendsten  Wandlungen  von  dem  gleichen  Strom  der 
Entwicklung  beherrscht,  der  sie  als  die  nächste  Ausdrucksform  des 
geistigen  Lebens  der  Gemeinschaft  in  ihrem  ganzen  Sein,  nach  Laut 
wie  Begriffsinhalt,    ergreift.     Die  entscheidenden  Einflüsse  sind  dabei 


534  Der  Lautwandel. 


die  Kultur einflüsse,  wie  sie  sich  nicht  zum  geringsten  Teil  in  der  Be- 
weglichkeit der  Vorstellungen  und  Gefühle  und  in  dem  Reichtum  und 
der  zunehmenden  Erleichterung  der  Gedankenverbindungen  äußern. 
Diese  psychischen  Wandlungen  wirken  naturnotwendig  zurück  auf 
das  ursprünglichste  Organ  des  psychischen  Lebens,  auf  die  Sprache; 
und  sie  wirken  zunächst  auf  einzelne,  der  Veränderung  durch  geringere 
Widerstandskraft  leichter  zugängliche  Punkte.  Solche  Punkte  sind 
jene  Verkettungen  der  Artikulationsbewegungen,  die  dem  über  sie 
weggleitenden  Redestrom,  sobald  sich  dieser  beschleunigt,  besondere 
Schwierigkeiten  bieten,  indes  zugleich  der  Lauf  der  Vorstellungen 
der  Trägheit  der  Bewegung  vorauseilt:  hierdurch  entstehen  als  die 
mutmaßlichen  Ausgangspunkte  aller  Veränderungen  die  Kontakt- 
wirkungen der  Laute.  Sie  bilden  dann  die  Herde,  von  denen  aus  sich 
die  einmal  eingeleiteten  Wandlungen  durch  die  allezeit  rege  assoziative 
Verkettung  der  Worte  und  Laute  und  durch  die  langsamer  folgende 
Umbildung  der  Artikulationsorgane  weiter  ausbreiten.  Daneben 
greifen  dann  in  diese  Vorgänge  noch  die  spezielleren,  von  Ort  zu  Ort 
und  Von  Zeit  zu  Zeit  veränderlichen  Bedingungen  ein,  unter  denen 
der  Wechsel  der  Betonung,  insbesondere  die  Verdrängung  der  ur- 
sprünglich vorwiegenden  Tonmodulation  durch  die  dynamische  Be- 
tonung die  Hauptrolle  spielt.  Dieser  letztere  Vorgang  scheint  aber 
auf  zwei  Einflüsse  zurückzugehen:  auf  einen  spontanen,  seinerseits 
vielleicht  wieder  aus  den  ursprünglichen  Kontakteinflüssen  und  den 
Veränderungen  des  Tempos  der  Rede  hervorgehenden  Übergang  zu 
dynamischer  Akzentuierung,  und  auf  die  Berührung  verschiedener 
Sprachgebiete,  bei  der  durchgängig  die  dynamische  Betonung  obsiegt. 
Indem  ein  solcher  Wechsel  der  Betonung  abermals  verändernd  auf 
die  Laute  einwirkt,  kann  er  neue  Lautinduktionen  hervorbringen, 
die  infolge  der  an  sie  sich  anschließenden  assoziativen  Fernewirkungen 
eine  mehr  oder  minder  weite  Ausbreitung  gewinnen.  So  bildet  hier, 
wie  überall,  nicht  das  Reguläre,  sondern  das  Singulare  den  Anfang. 
Dieses  Singulare  ist  aber  kein  individueller,  an  einem  Individuum  zu- 
fällig einmal  sich  ereignender  Vorgang,  sondern  es  ist  eine  einzelne, 
durch  einen  bestimmten  Lautkontakt  oder  durch  eine  spezielle  Asso- 
ziation ausgelöste  Veränderung,  die,  weil  die  Bedingungen  überall 
zu   ihr  bereit  liegen,   in  unzähligen   Fällen  unabhängig  sich   wieder- 


Zur  Theorie  des  regulären  Lautwandels.  535 

holen  kann.  Noch  weniger  ist  es  eine  Ausnahme,  die  eine  über  allen 
einzelnen  Erscheinungen  schwebende  universelle  Gesetzmäßigkeit 
störend  unterbricht.  Vielmehr  ist  das  Reguläre  selbst  nichts  anderes 
als  eine  Reihe  übereinstimmender  Vorgänge,  die  aus  einer  Fülle  sin- 
gulärer  Bedingungen  als  Resultante  hervorgeht. 

Diese  Auffassung  bestätigt  sich  denn  auch  darin,  daß  uns  die 
Erscheinungen  des  regulären  Lautwandels  in  ihrer  ausgeprägtesten 
Gestalt  in  den  Sprachen  der  Kulturvölker  entgegentreten.  Bei  ihnen 
haben  offenbar  die  aus  den  allgemeinen  Kultureinflüssen  hervor- 
gehenden psychophysischen  Ursachen,  abgesehen  von  den  in  solchen 
Entwicklungen  überall  vorkommenden  Intermissionen,  am  dauernd- 
sten eingewirkt;  und  zugleich  haben  hier  die  fortwährend  dazwischen- 
tretenden neuen  singulären  Wirkungen  an  dem  Zusammenhalt  der 
Sprachgemeinschaft  eine  gewisse  Schranke  gefunden.  Je  tiefer  die 
Kulturstufe,  um  so  mehr  überwuchern  dagegen  die  singulären  über 
die  regulären  Lautänderungen,  so  daß  schließlich  bei  den  zersprengt 
lebenden  wilden  Stämmen,  wie  den  brasilianischen  Waldindianern, 
fast   jede  Horde   ihre  besonderen   Lautabweichungen   zeigt. 

Ist  diese  Auffassung  die  richtige,  so  hat  nun  freilich  diejenige 
Betrachtungsweise,  mit  der  man  zuerst  den  Erscheinungen  des  Laut- 
wandels gegenübertrat,  ihre  völlige  Umkehrung  erfahren.  Dennoch, 
so  merkwürdig  sich  diese  Umkehrung  auf  den  ersten  Blick  ausnehmen 
mag,  so  leicht  verständlich,  ja  selbstverständlich  ist  sie.  Abgesehen 
von  vereinzelten  Fällen  assimilativer  Kontaktwirkungen  relativ  späten 
Ursprungs,  die  der  Aufmerksamkeit  nicht  leicht  entgehen  konnten, 
mußten  sich  naturgemäß  die  regulären  Erscheinungen  des  Laut- 
wandels am  frühesten  der  Beachtung  aufdrängen.  Sie  wurden  daher 
als  eine  alles  beherrschende  Gesetzmäßigkeit  betrachtet;  und  wo 
sich  nun  Fälle  darboten,  die  sich  solcher  Gesetzmäßigkeit  entzogen > 
da  erschienen  sie  als  Ausnahmen,  die  jedesmal  aus  besonderen  Ur- 
sachen abzuleiten  seien.  So  entstand  der  Begriff  der  ,, falschen"  Ana- 
logien, nach  dem  alle  diese  Fälle  gewissermaßen  als  Entgleisungen 
erschienen,  die  aus  bösem  Beispiel  hervorgehen  sollten.  Nun  war  es 
freilich  von  Anfang  an  merkwürdig,  daß  man  zwar  diese  singulären 
Ausnahmen  meist  mit  einer  gewissen  Wahrscheinlichkeit  auf  be- 
stimmte psychophysische  Ursachen  zurückführen  konnte,  daß  dagegen 


536  ^^^  Lautwandel. 


der  Ursprung  der  regulären  Veränderungen  völlig  im  Dunkeln  blieb. 
Wo  man  sich  je  einmal  in  hypothetischer  Weise  über  diesen  Ursprung 
Rechenschaft  gab,  da  waltete  dann  begreiflicherweise  das  Streben, 
sie  eben  wegen  ihrer  Regelmäßigkeit  auf  eine  einzige  Ursache  zurück- 
zuführen, indes  für  die  singulären  Veränderungen  bereitwillig  eine 
Komplikation  mannigfacher  Einflüsse  zugestanden  wurde.  Die  nähere 
Untersuchung  hat  uns  gezeigt,  daß  gerade  das  Gegenteil  richtig  ist. 
Die  Kontakterscheinungen  und  die  assoziativen  Fernewirkungen 
sind  nur  deshalb  der  Nachweisung  ihrer  Ursachen  zugänglicher,  weil 
sie  unter  verhältnismäßig  einfacheren  Bedingungen  stehen.  Bei  dem 
regulären  Lautwandel  ist  es  dagegen  die  Komplikation  der  Bedingungen, 
die  durch  die  Interferenz  zahlreicher  bald  in  gleichem,  bald  in  ab- 
weichendem Sinne  wirkender  Ursachen  Resultanten  erzeugt,  die  in 
vielen  Fällen  trotz  einzelner  entgegenstehender  Sonderwirkungen 
von  im  ganzen  übereinstimmendem  Charakter  bleiben.  So  kommt  es, 
daß  die  fundamentalen  Ursachen  des  Lautwandels  zunächst  nicht 
aus  den  regulären  Erscheinungen,  bei  denen  die  Komplikation  der 
Bedingungen  viel  zu  groß  ist,  sondern  mit  annähernder  Vollständig- 
keit nur  aus  den  singulären  ermittelt  werden  können. 


Allgemeiner  Rückblick  auf  die  Vorgänge  des  Lautwandels.  537 


VII.  Allgemeiner  Rückblick  auf  die  Vorgänge 
devS  Lautwandels. 

Als  die  neuere  Sprachwissenschaft  zuerst  es  unternahm,  die  Vor- 
gänge des  Lautwandels  bestimmten  Gesetzen  unterzuordnen,  da 
suchte  sie,  geleitet  durch  die  verbreiteten  Vorstellungen  von  der  All- 
gemeingültigkeit der  Naturgesetze  und  von  der  Zufälligkeit  alles  psy- 
chischen Geschehens,  jene  Gesetze  vor  allen  Dingen  als  physische 
nachzuweisen.  So  entstanden  zwei  Voraussetzungen,  die  für  die  Inter- 
pretation der  Tatsachen  bestimmend  wurden.  Die  erste  bestand  darin, 
daß  physische  und  psychische  Bedingungen  des  Lautwandels  streng 
zu  sondernden  Gebieten  angehörten,  und  daß  daher  das  physisch 
Bedingte  ebensowenig  eine  psychologische  wie  umgekehrt  das  psy- 
chisch Bedingte  eine  physiologische  Deutung  zulasse.  Die  zweite 
Voraussetzung  war,  daß  nur  auf  physischem  Gebiet  eine  strenge  und, 
soweit  nicht  eben  psychische  Einflüsse  dazwischen  kämen,  eine  aus- 
nahmslose Gesetzmäßigkeit  herrsche,  während  auf  psychischer  Seite 
eine  solche  nicht  zu  finden,  hier  vielmehr  alles  von  Laune  und  Zufall 
abhängig  sei. 

Die  zweite  dieser  Voraussetzungen  ist,  wie  wir  sahen,  innerhalb 
der  Sprachwissenschaft  selbst  schon  allmählich  wankend  geworden. 
In  dem  Maß,  als  gerade  die  psychisch  bedingten  Lautänderungen 
die  Aufmerksamkeit  fesselten,  begann  die  Erkenntnis  durchzudringen, 
daß  auch  sie  auf  gewisse  Gesetze  zurückzuführen  seien.  Dagegen 
bleib  die  erste  Annahme  im  ganzen  bestehen,  und  unter  ihrer  Herrschaft 
mußte  sich  ein  Wertunterschied  der  Vorgänge  behaupten.  Wie  die 
psychologischen  Assoziationsgesetze  an  bindender  Kraft  hinter  den 
Naturgesetzen  zurückstehen,  so  meinte  man  und  meint  man  vielfach 
noch  heute  den  rein  physiologischen  Lautänderungen  einen  gewissen 
Vorzug  einräumen  zu  müssen. 

Dieser  ganzen  Betrachtungsweise  wird  nun  schon  dadurch  der 
Boden  entzogen,  daß  die  psychologische  Analyse  der  einzelnen  Formen 
des  Lautwandels  den  Begriff  eines  rein  physisch  bedingten,  also 
unter  Ausschluß  aller  und  jeder  psychischen  Momente  eintretenden 
Wechsels   überhaupt   als   einen   innerlich   unmöglichen   zurückweisen 


538  D^r  Lautwandel. 


muß.  Der  Mensch  ist  so  wenig  ein  reines  Naturobjekt,  wie  er  ein  rein 
geistiges  Wesen  ist,  sondern  er  ist  beides  zugleich,  ein  psychophysischer 
Organismus;  und  im  Umkreis  seiner  Funktionen  ist  es  wieder  be- 
sonders die  Sprache,  die  in  allen  ihren  Eigenschaften  den  Charakter 
einer  doppelseitigen  Funktion  an  sich  trägt.  Anzunehmen,  daß  es 
irgendeinen  allgemeineren  sprachlichen  Vorgang  gebe,  der  aus  rein 
physischen,  oder  einen  andern,  der  ebenso  aus  rein  psychischen  Be- 
dingungen erfolgt  sei,  das  ist  daher  eine  Vorstellung,  die  von  vorn- 
herein unter  dem  Verdacht  einer  willkürlichen  Abstraktion  steht. 
Gewiß  kann  eine  solche  unter  Umständen  nützlich  oder  für  gewisse 
Zwecke  vorübergehend  notwendig  sein.  Nur  darf  man  nicht  den  aus- 
nahmsweise zulässigen  Standpunkt  für  die  vollständige  Auffassung 
der  Sache  halten  und  ihn  auch  da  noch  anwenden,  wo  es  sich  um  eine 
erschöpfende  Ermittelung  der  Bedingungen  handelt.  In  diesem  Fall 
ist  vielmehr  daran  festzuhalten,  daß  die  Sprache  im  ganzen  wie  in 
allen  ihren  Bestandteilen  eine  psychophysische  Funktion  ist,  und  daß 
es  daher  streng  genommen  keine  einzelne  Erscheinung,  viel  weniger 
ein  ganzes  Erscheinungsgebiet  in  ihr  geben  kann,  das  nur  physisch 
oder  nur  psychisch  zu  erklären  wäre.  Hierbei  ist  es  natürlich  nicht 
ausgeschlossen,  daß  unserer  Beobachtung  bald  die  eine  Seite  der  Vor- 
gänge, bald  die  andere  zugänglicher  ist,  oder  daß  wir  hier  wie  dort 
nicht  selten  auf  mehr  oder  minder  wahrscheinliche  Vermutungen 
angewiesen  bleiben. 

Ist  der  Lautwandel  im  allgemeinen  psychophysisch  bedingt,  so 
ist  aber  damit  nicht  gesagt,  daß  auch  das  Verhältnis  der  physischen 
zu  den  psychischen  Ursachen  bei  ihm  überall  das  nämliche  sei.  Viel- 
mehr sind  es  gerade  die  in  dieser  Beziehung  nachweisbaren  Unter- 
schiede, mit  denen  die  wesentlichen  Eigentümlichkeiten  der  einzelnen 
Formen  des  Lautwandels  zusammenhängen.  Dabei  wird  jedoch,  dem 
streng  empirischen  Standpunkt  entsprechend,  den  diesen  Problemen 
gegenüber  die  sprachgeschichtliche  wie  die  psychologische  Betrachtung 
einzunehmen  hat,  niemals  auf  irgendwelche  hypothetisch  anzunehmende 
Parallel  Vorgänge  zurückzugehen  sein,  sondern  wir  können  hier  die 
Begriffe  des  Physischen  und  des  Psychischen  durchaus  nur  in  dem 
Sinn  anwenden,  in  dem  jeder  dieser  beiden  Beständteile  der  Erfahrung 
entweder  direkt  in  der  Beobachtung  gegeben  oder  aus  empirisch  ge- 


Allgemeiner  Rückblick  auf  die  Vorgänge  des  Lautwandels.  539 

gebenen  Tatsachen  zu  erschließen  ist.  So  betrachtet  scheinen  sich 
nun  der  reguläre  stetige  Lautwandel  oder  das  Gebiet  der  gewöhnlich 
so  genannten  „Lautgesetze"  und  jene  „assoziativen  Fernewirkungen", 
bei  denen  sich  teils  die  Laut-  teils  die  Begriffselemente  der  Wörter 
beeinflussen,  am  ehesten  als  Gegensätze  gegenüberzustehen.  Bei 
dem  regulären  Lautwandel  tritt  die  physische  Seite  des  Prozesses 
in  den  Vordergrund,  die  psychischen  Bedingungen  bleiben  im  Dunkeln. 
Bei  den  mannigfachen  Vorgängen  der  ,,Angleichung"  dagegen  er- 
scheint diese  selbst  unmittelbar  als  ein  Resultat  psychischer  Asso- 
ziationen. Beide  Momente  durchdringen  sich  endlich  in  einer  Ver- 
kettung anscheinend  simultaner  Wechselwirkungen  bei  den  Kon- 
taktwirkungen  der  Laute,  die  einerseits  durch  die  Regelmäßig- 
keit, mit  der  unter  ähnlichen  Bedingungen  der  Lautkombination 
ähnliche  Wirkungen  eintreten,  anderseits  durch  die  sichtliche  Be- 
teiligung von  Lautassoziationen  eine  Art  Mittelglied  zwischen  den 
andern  Formen  des  Lautwandels  bilden.  Bei  allem  dem  bleibt  aber 
zu  beachten,  daß  die  Bedingungen,  die  sich  für  unsere  Analyse  in  eine 
Sukzession  bestimmter  Akte  auflösen,  in  der  Wirklichkeit  wegen  der 
Zusammensetzung  der  Erscheinungen  aus  einer  Menge  elementarer 
Wirkungen  einen  einzigen,  in  jedem  Augenblick  aus  verschieden- 
artigen Gliedern  gebildeten  psychophysischen  Vorgang  bilden.  Das 
zeigt  sich  schon  bei  den  anscheinend  am  meisten  auf  die  physische 
Seite  fallenden  Wortassimilationen,  wo  das  entstehende  Produkt 
freilich  in  hohem  Maße  von  den  disponiblen  Vorstellungselementen, 
gleichzeitig  aber  doch  auch  von  der  einem  bestimmten  Lautsystem 
und  bestimmten  Wortgebilden  angepaßten  Artikulationsübung  ab- 
hängig ist.  Das  zeigt  sich  dann  in  anderer  Weise  vor  allem  beim  re- 
gulären Lautwandel,  in  den  überall  Kontaktwirkungen  und  Laut- 
assoziationen modifizierend  eingreifen,  und  der  schließlich  auch  in 
seinen  nicht  direkt  auf  solche  zurückzuführenden  Erscheinungen 
mit  den  nämlichen  Bedingungen  wie  diese,  nämlich  in  erster  Linie 
mit  dem  Tempo  der  Rede  und  den  Verhältnissen  der  Betonung  zu- 
sammenhängt. Damit  erweist  sich  schließlich  der  reguläre  Laut- 
wandel selbst  nicht  als  ein  spezifischer  Vorgang,  sondern  als  eine  Reihe 
von  Erscheinungen,  in  denen  sich  eine  Gesamtheit  singulärer  Be- 
dingungen zu  resultierenden  Wirkungen  verbindet. 


540  Der  Lautwandel. 


Demnach  bilden  die  verschiedenen  Vorgänge  des  Lautwandels 
ein  einheitliches  psycho-physisches  Geschehen,  das  nur  je  nach  der 
Ordnung  und  Verknüpfung  seiner  einzelnen  Momente,  und  je  nach- 
dem diese  einer  entfernteren  Vergangenheit  oder  einer  uns  in  ihren 
psychischen  Motiven  noch  zugänglicheren  Stufe  der  Sprachentwick- 
lung angehören,  verschiedene  Formen  annimmt. 


Fünftes  Kapitel 

Die  Wortbildung. 

I,  Psychophysische  Bedingungen  der  Wortbildung. 
1.  Zentrale  Störungen  der  Wortbildung. 

Die  Frage  nach  der  Beteiligung  physischer  und  psychischer  Fak- 
toren an  den  Funktionen  der  Sprache,  die  bei  der  Betrachtung  der 
Formen  des  Lautwandels  eine  so  wichtige  Rolle  gespielt  hat,  ist  auch 
für  das  Problem  der  Wortbildung  von  hervorragender  Bedeutung. 
Und  mehr  noch  als  dort  sind  hier  im  Laufe  der  Zeit  Wandlungen  der 
Anschauungen  eingetreten,  die  in  diesem  Fall  um  so  bemerkenswerter 
sind,  weil  sie  nicht  von  irgendwelchen  philosophischen  Richtungen 
oder  sprachwissenschaftlichen  Hypothesen,  sondern  von  Tatsachen 
der  Beobachtung  ausgingen.  Diese  Tatsachen  sind  zunächst  auf  dem 
Gebiete  der  Pathologie  der  Sprachstörungen  gewonnen  worden. 

Waren  dereinst  Sprachwissenschaft  und  Psychologie  dahin  über- 
eingekommen, dem  Sprachlaut,  als  einer  ursprünglich  unter  der 
Wirkung  irgendwelcher  Gefühle  oder  Affekte  entstehenden  Ausdrucks- 
bewegung, eine  halb  physische  halb  psychische  Bedeutung  zuzu- 
schreiben, so  verhielt  sich  dies  wesentlich  anders  mit  dem  Wort. 
Dieses,  als  Ausdruck  eines  Begriffs,  fiel,  so  schien  es,  so  gut  wie  der 
Begriff  selber,  ganz  auf  die  psychologische  Seite.  Das  Wort  bedürfe 
zwar,  so  dachte  man  sich,  der  physischen  Hilfsmittel  der  Lauterzeugung ; 
aber  das  Wort  als  solches  sei  doch  nicht  minder  ein  geistiges  Erzeug- 
nis, wie  Begehren  und  Wollen  psychische,  nicht  physische  Vorgänge 
sind.  Diese  Vorstellung,  die  in  reinlicher  Sonderung  die  Sprachfunk- 
tionen zwischen  Körper  und  Seele  verteilte,  erhielt  einen  schweren 
Stoß,  als  Broca  sein  berühmtes  ,, Sprachzentrum"  auffand^).  Wenn 
es  sich  in  den  von  ihm  und  andern  beobachteten  Fällen  zeigte,  daß 


^)  Broca,  Sur  le  siege  de  la  faculte  du  langage,  1861. 


542 


Die  Wortbildung. 


der  Besitz  der  artikulierten  Sprache  an  die  Integrität  einer  bestimmten, 
wohlumgrenzten  Stelle  der  dritten  Frontalwindung  (M  Fig.  36)  der 
linken  —  in  seltenen  Fällen  und,  wie  es  scheint,  vorzugsweise  bei 
linkshändigen  Menschen,  der  rechten  —  Hirnhälfte  gebunden  ist, 
so  mußte  ein  solches  Zentrum  offenbar  als  ein  physiologisches  Organ 
der  Wortbildung  im  eigentlichen  Sinne  angesehen  werden,  um  so 
mehr,  da  die  Erzeugung  der  artikulierten  Laute  als  solcher  dabei 
erhalten  sein  kann,  also  nur  die  Zusammenfügung  der  Laute  zu  Worten 
aufgehoben  ist.    Aus  diesem  Grunde  pflegt  man  denn  auch  die  durch 

Verletzungen  des  genannten 

Zentrums  entstehenden 
Sprachstörungen  nicht  als 
motorische ,  sondern  als 
ataktische  Aphasie  zu 
bezeichnen.  Bald  zeigte 
sich  jedoch,  daß  nicht 
in  allen  Fällen  zentraler 
Sprachstörungen ,  die  zu 
dem  allgemeinen  Sympto- 
menbild der  ,,  Aphasie'' 
gerechnet  werden  können, 
eine  Affektion  der  Broca- 
schen  Windung  nachzu- 
weisen ist.  Da  war  es  ein  wichtiger  Fortschritt  auf  der  einmal  be- 
tretenen Bahn,  als  neben  jenem  ersten  Zentrum  ein  zweites,  senso- 
risches aufgefunden  wurde,  dessen  Zerstörung  nicht  die  Fähigkeit 
der  Wortartikulation  sondern  das  ,, Wortgedächtnis"  aufhebt,  so 
daß  zwar  ein  unmittelbar  vorgesprochenes  Wort  meist  nachgesprochen 
wird,  zu  einem  sinnlich  wahrgenommenen  oder  erinnerten  Gegen- 
stand aber  das  zugehörige  Wort  mangelt.  Das  so  entstehende  Sym- 
ptomenbild bezeichnet  man  als  das  der  amnestischen  Aphasie. 
Als  das  bei  ihr  in  der  Regel  affizierte  Zentralgebiet  erwies  sich  in  einer 
großen  Zahl  von  Beobachtungen  die  der  Brocaschen  Windung  gegen- 
überliegende Region  der  ersten  linken  Temporalwindung  (S  Fig.  36)^). 

^)  C.   Wernicke,    Der  aphasische   Symptomenkomplex,    1874.    Das   Sym- 
ptomenbild der  „amnestischen  Aphasie**  hatte  übrigens  schon  bald  nach  Brocas 


Fig.  36.     Lage  der  Sprachzentren  im 
Frontal-  und  Temporalhirn. 


Zentrale  Störungen  der  Wortbildung. 


543 


0 


X 


v 


M 


72 


■^ 


'3 


X 


-m 


S(AJ 


Hiernach  lag  es  nahe,  diese  Region  S  ebenso  als  das  zu  einer  senso- 
rischen Leitung  gehörige  Zentrum  anzusehen,  wie  das  Brocasche  M 
als  Ausgangspunkt  einer  motorischen  Leitung,  wobei  die  letztere, 
zentrifugale  zu  den  untergeordneten  direkten  Zentren  der  Lautartiku- 
lation gerichtet  sei,  die  erstere,  zentripetale  aber  zunächst  von  dem 
allgemeinen  Hörzentrum  herkomme.  Übrigens  zeigten  die  Beobach- 
tungen, daß  bei  der  ,, ataktischen  Aphasie"  immer  zugleich  die  Artiku- 
lationsempfindungen gestört  sind,  so  daß  hier,  ähnlich  wie  in  den 
andern  motorischen  Gebieten  der  Hirnrinde,  die  Zentra  für  die  Be- 
wegungsempfindungen 
mit  denen  für  die  Inner- 
vationserregungen  der 
Muskeln    entweder    sich 

decken    oder    nahe    zu-  '  ^     //, 

sammenf  allen ;  daher 
man  in  den  von  M  aus- 
gehenden Bahnen  zen- 
trifugale und  zentripetale 
Leitungen  vereinigt  den- 
ken kann,  wie  dies  die 
Pfeile  in  der  Schema - 
tischen  Fig.  37  andeu- 
ten. Zwischen  dem 
Gebiet  S  und  dem  direk- 
ten    Hörzentrum,      das 

man  in  den  weiter  rückwärts  liegenden  Teilen  des  Schläfelappens 
vermutet,  konnte  dann  ein  analoges  Verhältnis  vorausgesetzt  werden 
wie  zwischen  der  Brocaschen  Region  M  und  den  direkten  moto- 
rischen Zentren.  Wie  in  M  die  Verbindung  der  einzelnen  moto- 
rischen Impulse  zu  den  regelmäßigen  Artikulationsbewegungen, 
so  mochte  in  S  die  Kombination  der  Lauteindrücke  zu  Wort- 
vorstellungen erfolgen. 


Fig.  37.     Lokalisat  ionsschema  der  Sprach - 
funktionen  nach  Lichtheim. 


Entdeckung  W.  Ogle  (1867)  beschrieben,  der  auch  zuerst  auf  den  Zusammen- 
hang der  zuweilen  vorkommenden  rechtsseitigen  Lage  der  Sprachzentren  mit  der 
Linkshändigkeit  aufmerksam  machte.    (Philos.  Transactions,  vol.  XLV,  p.  279.) 


544  Die  Wortbildung. 


Die  so  gewonnene   Sonderung   schien   sich  der  Mannigfaltigkeit 
der    wirklich    vorkommenden    Störungen    gegenüber    schon    dadurch 
nützlich  zu  erweisen,  daß  sie  nicht  bloß  solche  Formen  der  Aphasie 
annehmen  ließ,  die  in  je  einem  der  beiden  Zentren  M  oder  ß  allein, 
sondern  je  nach  Umständen  auch  solche,  die  in  beiden  zusammen 
oder  in  der  zwischen  ihnen  liegenden  Leitungsbahn,  die  im  Hinter- 
grund der  Syl vischen  Spalte  {F  S)  das  Gebiet  der  sogenannten  ,, Insel" 
durchsetzt,    ihren  Sitz  haben  mochten.     Dies  veranschaulicht  das  in 
Fig.   37  durch  die  ausgezogenen  Linien  dargestellte   Schema,  wo   1, 
2,   3,   4  und  5  die  möglichen   Orte  der  Funktionsstörung  andeuten. 
War  einmal  der  Begriff  des   ,, Sprachzentrums"   dergestalt  erweitert 
und  gegliedert,  so  ließ  sich  nun  -aber  auf    diesem    Wege    leicht  fort- 
schreiten, um  den  mittlerweile  sich  m.ehrenden  Beobachtungen  über 
weitere    Sprachstörungen   gerecht   zu   werden,   für   welche   die   bloße 
Unterscheidung  eines  ,, motorischen"  und  eines  ,, sensorischen"  Zentrums 
nicht  zuzureichen  schien.     Dahin  gehörten  namentlich  die  Fälle  der 
„Worttaubheit",  der  ,, Wortblindheit"   (Alexie)  und  der  Unfähigkeit 
zu  schreiben  (Agraphie),  von  denen  sich  zwar  die  beiden  ersteren  als 
eigentümliche   Unterformen   der  amnestischen,   die   letztere  als   eine 
solche  der  ataktischen  Aphasie  betrachten  ließen,  wobei  aber  doch 
jede  ihre  besondere  zentrale  Lokalisation  zu  fordern  schien.     Denn 
die  Worttaubheit,  d.  h.  die  Unfähigkeit  Worte  zu  verstehen  bei  voll- 
kommener  Fähigkeit  Laute   zu  hören,   kann,   wie   die   Beobachtung 
zeigt,  sehr  wohl  ohne  Wortblindheit  vorkommen;  und  ebenso  kann 
diese   oder   die  Unfähigkeit,   trotz   sonstiger  Erhaltung  des   Sehver- 
mögens,   die    Schriftzeichen    zu   erkennen,    ohne   gleichzeitige   Wort- 
taubheit   bestehen.      Diesen    Verhältnissen     suchte     man     gerecht 
zu    werden,     indem     man    das    Schema     der    zwei    Sprachzentren 
in   der    durch   die    unterbrochenen    Linien    der    Fig.     37    angedeu- 
teten   Weise    ergänzte.     Das    sensorische    Zentrum    S    betrachtete 
man    nun    speziell   als   akustisches   Wortzentrum   S    {A).     Ihm 
trat   als    sekundäres    sensorisches    Sprachzentrum    das    optische   0, 
und    ebenso   dem    motorischen  M   das    Schreibzentrum  E  zur    Seite 
(Fig.  37).      Für    beide    ließen    sich    freilich    bestimmte    Gebiete    in 
der   Hirnrinde    nicht   mit   Sicherheit  nachweisen.     Höchstens    kann 
man     noch     nach     verschiedenen    Beobachtungen     annehmen,     daß 


Zentrale  Störungen  der  Wortbildung.  545 


das  Zentrum  0  wohl  dem  in  der  Rinde  des  Okzipitalhirns  liegenden 
allgemeinen  Sehzentrum  benachbart  sei,  ähnlich  wie  das  akustische 
Wortzentrum  8  {Ä)  dem  allgemeinen  Hörzentrum.  Daneben  lag  es 
dann  aber  natürlich  nahe  zu  vermuten,  daß  auch  noch  andere,  nament- 
lich sensorische  Zentren  in  ähnlichen  Verbindungen  mit  den  beiden 
Hauptzentren  M  und  S  stehen  möchten.  In  Fig.  37  sind  diese 
weiteren  Zentren,  denen  man  zuweilen  mit  Kußmaul  ein  allgemeines 
,, Begriffszentrum'*  substituierte,  durch  den  kleinen  Kreis  C 
angedeutet^). 

Mit  Hilfe  des  so  gewonnenen  anatomischen  Schemas  sah  man 
sich  in  den  Stand  gesetzt,  alle  irgend  möglichen  Sprachstörungen  zen- 
tralen Ursprungs  zu  klassifizieren  und  gewissermaßen  a  priori  voraus- 
zusagen. Bezeichnen  wir  die  in  den  Zentren  selbst  sowie  in  den  Lei- 
tungsbahnen möglicherweise  vorkommenden  Unterbrechungen  der 
Funktionen  durch  die  in  Fig.  37  mit  den  Zahlen  1,  2,  3  .  .  versehenen 
kleinen  Striche,  so  würden  z.  B.  nach  diesem  Schema  nicht  weniger 
als  13  einzelne  Störungen  möglich  sein,  die  dann  natürlich  noch  in 
der  verschiedensten  Weise  kombiniert  und  abgestuft  Vorkommen 
könnten.  Durch  die  den  einzelnen  Zentren  beigelegte  Bedeutung 
würde  aber  die  Beschaffenheit  einer  jeden  Funktionsstörung  von  selbst 
gegeben  sein.  So  müßte  z.  B.  einer  Leitungsunterbrechung  bei  3  eine 
Aufhebung  der  Lautsprache  folgen,  während  das  Schreibvermög^i, 
da  die  Leitungen  M  E  und  0  E  noch  bestehen,  erhalten  bliebe.  Auf- 
hebung der  Funktion  des  Zentrums  M  bei  1  würde  Vollständige  Auf- 
hebung des  Sprachvermögens  herbeiführen,  während,  falls  der  sen- 
sorische Teil  der  Zentren  und  Leitungsbahnen  unversehrt  bliebe,  ge- 
hörte und  geschriebene  Worte  noch  Verstanden  werden.  Eine  Unter- 
brechung bei  6  würde  die  Fähigkeit  spontan  zu  sprechen  beseitigen, 
da  von  dem  „Begriffszentrum"  C  aus  die  Zuleitung  einer  motorischen 
Wortinnervation  nicht  mehr  möglich  wäre.  Dagegen  würden,  wenn 
die  Leitungen  S  M  und  0  E  erhalten  sind,  gehörte  Worte  nachgesprochen 
und  geschriebene  oder  gedruckte  gelesen  werden.  Wäre  endlich  bei 
2  die  Funktion  von  S  aufgehoben,  so  könnten  gehörte  Worte  weder 
verstanden      noch     nachgesprochen     werden,      während     bei     Inte- 


1)  Kußmaul,  Die  Störungen  der  Sprache,  1877,  S.  182. 

Wnndt,   YölterpFychologi«.    I.    4.  Aufl.  35 


546  Die  Wortbildung. 


grität    der    Leitung   CM   noch    spontanes    Sprechen    möglich    sein 
müßte,  usw.  1). 


2.  Hypothesen  über  die  physischen  Substrate  der  Wortbildung. 

Mit  den  durch  das  obige  Schema  ausgedrückten  Anschauungen 
hat  die  Pathologie  der  Sprachstörungen  noch  einige  weitere  verbun- 
den, die  zuweilen  wohl  nur  als  vorläufige  Hilfshypothesen  betrachtet 
wurden,  denen  man  aber  doch  nicht  selten  einen  realen  Wert  zuschrieb. 
In  der  Tat  ist  zuzugestehen,  daß  sich  diese  Hypothesen  wenigstens 
teilweise  bei  der  Verfolgung  des  in  der  vorausgesetzten  Lokalisation 
der  Sprachzentren  eingeschlagenen  Weges  mit  innerer  Folgerichtig- 
keit ergeben.  Allerdings  mögen  dabei  außerdem  die  Traditionen  der 
alten  Phrenologie  etwas  mitgewirkt  haben,  mit  denen  man  durch 
jene  Annahme  besonderer  ,, Zentren"  für  so  komplexe  psychophysische 
Tätigkeiten,  wie  Sprechen,  Wortverständnis  und  Schreiben,  wieder 
in  nahe  Berührung  gekommen  war.  Ähnlich  wie  dereinst  die  Galische 
Phrenologie  die  Oberfläche  des  menschlichen  Gehirns  in  eine  Anzahl 
„innerer  Sinne"  eingeteilt  hatte,  deren  jedem  sie  eine  den  äußeren 
Sinnen  analoge,  nur  gewissermaßen  potenzierte  Funktion  zuschrieb, 
so  begann  man  nach  der  Entdeckung  des  Brocaschen  Sprachzentrums 
in  diesem  nicht,  was  zunächst  gefordert  schien,  ein  motorisches  oder, 
mit  Rücksicht  auf  die  gleichzeitigen  Störungen  der  Artikulations- 
empfindungen,   ein    motorisch-sensorisches   Zentrum   zu   sehen,    son- 


1)  Das  in  Fig.  37  dargestellte  Schema  entspricht  ini  wesentlichen  zwei 
von  Lichtheim  gegebenen  Konstruktionen  (On  Aphasia,  Brain,  VII,  1885, 
p.  437,  443),  mit  denen  übrigens  auch  das  etwas  ältere  Schema  Kußmauls 
in  den  Hauptzügen  übereinstimmt  (Die  Störungen  der  Sprache,  S.  183). 
Beide  Autoren  lassen  die  Frage  der  wirklichen  anatomischen  Lage  der 
Zentren  grundsätzlich  beiseite.  Einzelne  Beobachtungen  über  die  verschie- 
denen der  Aphasie  zugezählten  Funktionsstörungen  finden  sich  in  reicher 
Menge  in  neuropathologischen  Zeitschriften:  so  im  Brain  I,  p.  304,  II,  p.  303, 
323  ff.  (Hughlings  Jackson),  XII,  p.  82  ff.  (Starr),  XXI,  p.  343  ff.  (Bram- 
well),  und  in  vielen  Bänden  des  Archivs  für  Psychiatrie.  Gute  Darstel- 
lungen des  ganzen  Gebiets  finden  sich  bei  Charltpn  Bastian,  Über  Aphasie 
und  andere  Sprachstörungen,  deutsch  von  Urstein,  1902,  und,  mit  Berück- 
sichtigung der  psychologischen  Verhältnisse,  bei  Gust.  Störring,  Vorlesungen 
über  Psychopathologie,   1900,  S.  127  ff. 


Hypothesen  über  die  physischen  Substrate  der  Wortbildung.  547 

dern  man  erklärte  es  für  ein  ausscWießlicli  sensorisches,  also  für 
eine  Art  von  „innerem  Sinn*';  und  daran  änderte  aucli  die  Entdeckung 
des  außerdem  für  die  amnestische  Aphasie  in  Anspruch  genommenen 
Zentrums  nichts.  Vielmehr  fühlte  man  sich  dadurch  eher  in  der  all- 
gemeinen Voraussetzung  bestärkt,  daß  jedes  diese'*  Gebiete  eine  be- 
stimmte Kategorie  von  Vorstellungen  in  sich  berge.  Bei  dem  gewöhn- 
lich so  genannten  motorischen  Zentrum  (M  Fig.  36)  sollten  dies  die 
Vorstellungen  der  Sprachbewegungen,  bei  dem  sensorischen  Zentrum 
(*S)  die  Lautvorstellungen  der  Wörter  sein;  und  ähnlich  wurden  den 
später  aufgestellten  Zentren  0  und  E  (Fig.  37)  bestimmte  Arten  von 
Erinnerungsbildern,  jenem  die  optischen  Wortbilder,  diesem  die  Vor- 
stellungen der  Schreibbewegungen,  zugeteilt,  worauf  es  nun  nahe  lag, 
auch  noch  die  unabhängig  von  Wort  und  Schriftbild  angenommenen 
Begriffe  in  einem  besonderen  ,,ideagenen  Zentrum"  nach  dem  Vor- 
schlage  Kußmauls   zu  lokalisieren. 

Diese  Vorstellungen  fanden  einen  lebhaften  Widerhall  in  den 
Deutungen,  die  Th.  Meynert  den  Ergebnissen  seiner  um  die  gleiche 
Zeit  entstandenen  bahnbrechenden  Arbeiten  über  den  feineren  Bau 
des  Gehirns  gab^).  Waren  auch  diese  Deutungen  selbst  schon  von 
der  neu  gewonnenen  Lokalisation  der  Sprachfunktionen  wesentlich 
beeinflußt,  so  wirkten  sie  doch  ihrerseits  wieder  auf  die  Auffassung 
der  Sprachzentren  zurück.  Als  drittes  Glied  in  dieser  Vereinigung 
erschien  endlich  noch  die  experimentelle  Gehirnphysiologie,  in  der 
namentlich  H.  Munk  die  nämlichen  Anschauungen  der  Deutung  seiner 
Ergebnisse  zugrunde  legte  ^). 

So  bildete  sich  immer  zuversichtlicher  die  Ansicht  aus,  die  Rinde 
des  großen  Gehirns  berge  in  jeder  ihrer  Zellen  irgendeine  Vorstellung, 
und  solche  Depots  von  Vorstellungen  seien  in  gesonderten  Gebieten 
massenhaft  über  die  Oberfläche  des  Gehirns  verteilt.     In  einem  be- 


^)  Vgl.  besonders  die  Bemerkungen  zur  Physiologie  des  Gehirns  in  seiner 
Psychiatrie,  I,  1884,  S.  126  ff. 

2)  H.  Munk,  Über  die  Funktionen  der  Großhirnrinde,  gesammelte  Abhand- 
lungen, 1891.  Vgl.  besonders  die  Einleitung  zu  diesem  Werk  und  dazu  meine 
Abhandlung  „Zur  Frage  der  Lokalisation  der  Großhimfunktionen'%  Philos. 
Stud.  VI,  1891,  S.  1  ff.,  sowie  Physiol.  Psychol.  »  I,  S.  341  ff.,  über  die  Sprach- 
«entren  ebenda  S.  364  ff. 

35* 


548  Die  Wortbildung. 


stimmten  Bezirk  sollten  direkte  Lauteindrücke  aufgenommen,  in  einem 
andern  ältere  Wortvorstellungen  abgelagert  werden,  ein  dritter  sei 
durch  Gesichtsreize  erregbar,  ein  vierter  berge  die  Gesichtsbilder 
früherer  Eindrücke  usw.  Dabei  sollten  die  Depots  der  verschiedenen 
Arten  von  Erinnerungsbildern  teils  durch  Vorhandene  Vorstellungen 
bereits  ,, besetzt"  sein,  teils  aber  auch  noch  im  leeren  Zustand  ihrer 
künftigen  Insassen  warten.  Zerstörung  einer  ein  solches  Vorstellungs- 
zentrum einschließenden  Rindenregion  Vernichte  daher  die  in  ihr 
abgelagerten  Vorstellungen;  aber  diese  könnten  durch  neue  ersetzt 
werden,  die  in  den  noch  vakanten  Zellen  Platz  fänden.  Auf  solche 
Weise  glaubte  man  sich  auch  die  oft  zu  beobachtende  allmähliche 
Wiederherstellung  der  Funktionen  erklären  zu  können.  Der  nämliche 
Vorgang,  der  bei  der  normalen  Entwicklung  das  Gehirn  mit  den  Er- 
innerungsbildern früherer  Eindrücke  gefüllt  hatte,  konnte  sich  ja 
wiederholen,  solange  nur  überhaupt  unbesetzte  Vorstellungszellen 
vorhanden  waren.  Wie  wenig  diese  Spekulationen  im  ganzen  als  bloß 
vorläufige  Hilfsannahmen  gemeint  waren,  ging  deutlich  genug  daraus 
hervor,  daß  man  ernstlich  die  Frage  erwog,  ob  die  in  der  Hirnrinde 
zu  zählenden  Pyramidalzellen  wirklich  für  die  Bedürfnisse  der  mensch- 
lichen   Intelligenz  ausreichten. 

Nun  erhellt  freilich  für  jeden,  dem  die  Begriffe  Vorstellung,  Er- 
innerungsbild, Eindruck  nicht  bloße  Wörter  für  unbekannte  Begriffe 
sind,  daß  die  Annahme,  ein  Erinnerungsbild  werde  in  einer  Hirnzelle 
,, deponiert",  bei  dem  Problem  der  erinnerten  Vorstellungen  genau 
jener  Stufe  naiver  Interpretation  entspricht,  auf  dem  sich  der  äußeren 
Sinneswahrnehmung  gegenüber  dereinst  die  Physiologie  der  Alten 
befand.  In  den  in  den  Hirnzellen  abgelagerten  Erinnerungsbildern 
lassen  sich  in  der  Tat  unschwer  die  direkten  Abkömmlinge 
jener  Bildchen  erkennen,  die  ein  Empedokles  und  Demokrit 
von  den  Gegenständen  sich  ablösen  und  in  Auge  und  Ohr 
eindringen  ließen.  Daß  das  Retinabild  und  die  Klangwirkung 
im  äußeren  Ohr  nicht  Gegenstände  sind,  die  von  außen  ein- 
wandern, sondern  Vergängliche  und  veränderliche  Funktionen, 
das  weiß  die  Physiologie  nachgerade.  Das  Gehirn  ist  ihr 
immer  noch  unbekannt  genug,  um  sich  nach  wie  vor  die  ab- 
gelösten Bildchen  in  den  Hirnzellen  eingewandert  und  abgelagert  zu 


Unzulänglichkeit  der  Lokalisatiqnshypothesen.  549 

denken.  Daß  die  Erinnerungsvorstellungen  so  wenig  Objekte  sind  wie 
die  äußeren  Wahrnehmungen,  und  daß  sie  sich  von  diesen  höch- 
stens durch  ihre  noch  größere  Veränderlichkeit  unterscheiden,  da 
zwei  Erinnerungsbilder  eines  und  desselben  Gegenstandes  kaum  je 
übereinstimmen,  —  alles  das  bleibt  hier  außer  Frage. 


3.  Unzulänglichkeit  der  Lokalisationshypothesen. 

Was  der  physiologischen  Funktionsanalyse  wahrscheinlich 
schwerer  gelungen  wäre,  das  hat  sich  nun  aber  allmählich  als  eine 
dringende  Forderung  bei  der  Untersuchung  eben  jener  Sprachstörungen 
herausgestellt,  von  denen  die  ganze  über  Anatomie,  Physiologie  und 
beinahe  auch  über  die  Psychologie  sich  ausbreitende  moderne  Lo- 
kalisationslehre  ausgegangen  war.  Der  Schematismus  der  Sprach- 
zentren mit  ihren  leitenden  Zwischenbahnen  erwies  sich  um  so  unzu- 
länglicher, je  mehr  man  ihn  im  einzelnen  durchzuführen  suchte.  Mochte 
man  sich  auch  häufig  noch  mit  der  Annahme  bloß  „funktioneller" 
Störungen  helfen,  die  unabhängig  von  lokalen  Defekten  oder  ver- 
mischt mit  solchen  vorkommen  könnten,  bei  unbefangener  Betrach- 
tung der  Befunde  läßt  sich  nicht  mehr  verkennen,  daß  neben  der 
Sonderung  gewisser  Bestandteile  der  Sprachfunktion  immer  deut- 
licher zugleich  bestimmte  Zusammenhänge  verschiedener  Funktions- 
gebiete hervortreten.  Die  Erkenntnis  dringt  durch,  daß  sich  jeder 
noch  so  einfach  erscheinende  sprachliche  Vorgang  aus  einer  Fülle 
elementarer  psychophysischer  Funktionen  verschiedener  Art  zu- 
sammensetzt und  regelmäßig  zugleich  bestimmte  Hilfsfunktionen 
in  Anspruch  nimmt,  so  daß  es  völlig  unmöglich  erscheint,  ihn  an  ein 
eng  begrenztes  Hirngebiet  oder  gar  an  eine  einzelne  Hirnzelle  binden 
zu  wollen.  Damit  ist  natürlich  nicht  ausgeschlossen,  daß  sich  die  in 
der  Beobachtung  gegebenen  Sonderungen  der  Funktionen  in  irgend- 
einem Schema  festhalten  lassen.  Aber  bei  der  Konstruktion  eines 
solchen  muß  man  sich  immer  gegenwärtig  halten,  daß  es  nicht  bloß 
den  zur  Beobachtung  kommenden  Ausfallserscheinungen,  sondern 
auch  den  Verbindungen  der  Funktionen,  durch  die  sie  sich  imterstützen 
oder  für  ausgefallene  Ersatz  schaffen,  Ausdruck  gebe.     Das  leistet 


550  I>ie  Wortbildung. 


offenbar  das  in  Fig.  37  dargestellte  Schema  nicht,  denn  es  gerät 
überall  in  Widerstreit  mit  den  Tatsachen.  Es  lassen  sich  aus  ihm 
Störungen  der  Wortbildung  ableiten,  die  gar  nicht  vorkommen. 
Noch  mehr  aber  bietet  die  Wirklichkeit  eine  Menge  von  Störungen 
isoliert  wie  in  Verbindung  mit  andern,  die  aus  dem  Schema  nicht 
herauszulesen  sind,  weil  sie  außerhalb  der  Voraussetzungen  liegen, 
auf  denen  es  beruht. 

So  ist  es  eine  der  augenfälligsten  und  durch  keine  Hilfs- 
annahme zu  vermeidende  Folgerung,  die  sich  schon  auf  Grund 
der  bloßen  Unterscheidung  eines  motorischen  und  eines  senso- 
rischen Sprachzentrums  ergibt,  daß  eine  Aufhebung  der  Lei- 
tung zwischen  diesen  beiden  Zentren  (in  3  Fig.  37)  die  Fähig- 
keit gehörte  Worte  nachzusprechen  aufheben  müßte,  während 
die  Fähigkeit  spontan  zu  reden  erhalten  bliebe.  Ein  solcher 
Zustand  kommt  aber  nicht  vor.  Statt  dessen  hat  man  Fälle  so- 
genannter ,, Paraphasie"  hierher  bezogen  (s.  unten  5).  Da  jedoch 
bei  dieser  eine  gewisse  Fähigkeit  des  Nachsprechens  immer  besteht, 
während  nur  gelegentlich  falsche  Worte  für  die  richtigen  eingesetzt 
werden,  und  da  femer  dieses  Symptomenbild  bei  den  verschiedensten 
sonstigen  zentralen  Störungen  beobachtet  wird,  so  ist  das  sichtlich 
nur  ein  Notbehelf:  eine  Störung,  die  genau  der  Leitungsunterbrechung 
bei  3  entspricht,  gibt  es  nicht  ^).  Dies  ist  um  so  auffallender,  als  das 
zwischen  den  Zentren  M  und  S  (Fig.  36)  gelegene  Gebiet  der  ,, Insel" 
gar  nicht  so  selten  für  sich  allein,  ohne  daß  die  Stellen  M  und  S  selbst 
betroffen  sind,  Läsionen  darbietet.  Überhaupt  müßten  nach  dem 
Schema  viel  häufiger  gesonderte  motorische  oder  sensorische  Ano- 
malien beobachtet  werden,  als  es  der  Fall  ist,  und  es  müßte  ungefähr 
ebenso  leicht  eine  sensorische  Störung  bei  intakter  motorischer  Wort- 
bildung, wie  umgekehrt  eine  motorische  bei  erhalten  gebliebenem 
Wortgedächtnis  vorkommen  können.  Das  trifft  aber  wieder  nicht 
zu:  Störungen  rein  motorischer  Art  sind  sehr  häufig;  mit  amne- 
stischen Zuständen  pflegen  dagegen  nicht  selten  auch  mehr  oder 
minder  beträchtliche  Störungen  der  Wortartikulation  verbunden 
zu  sein. 


^)  8.  Freund,  Zur  Auffassung  der  Aphasien,  1891,  S.  11. 


Phj'siologische  und  pathologische  Amnesie.  551 

liäßt  so  die  Annahme  einer  strengen  Lokalisation  der  Wort- 
bildungsfunktionen Symptomenbilder  erschließen,  die  tatsächlich 
nicht  vorkommen,  so  gibt  sie  aber  auf  der  andern  Seite  über  eine  große 
Menge  von  Störungen,  und  namentlich  von  Verbindungen,  Begleit- 
erscheinungen und  nachträglichen  Kompensationen  derselben  gar 
keinen  Aufschluß.  So  besteht  die  Schriftblindheit  häufig  zusammen 
mit  gewöhnlicher  motorischer  Aphasie,  eine  funktionelle  Beziehung, 
für  die  nur  die  Annahme  einer  zufällig  gleichzeitigen  Affektion  der 
Zentren  M  und  O  übrigbliebe.  Ferner  ist  es  eine  bei  den  verschie- 
densten Störungen  vorkommende  Erscheinung,  daß  das  Nachsprechen 
erhalten  bleibt,  während  die  spontane  Wortbildung,  das  Erkennen 
von  Wörtern  und  das  Lesen  von  solchen  unmöglich  ist.  Von  allen 
unter  den  unbestimmten  und  für  viele  Fälle  ungenauen  Begriff  der 
,, Aphasie"  zusammengefaßten  Erscheinungen  sind  es  endlich  ganz 
besonders  diejenigen,  die  man  den  spezielleren  Symptomengruppen 
der  „Amnesie''  und  der  ,, Paraphasie"  zuzählt,  die  durch  ihren  Ver- 
lauf, durch  ihr  Ineinandergreifen  und  durch  die  eigentümlichen  kom- 
pensatorischen Vorgänge,  die  bei  ihnen  beobachtet  werden,  dem  Ver- 
such sie  in  eines  der  üblichen  Lokalisationsschemata  einzuordnen 
widerstreben,  während  gerade  sie  psychologisch  von  besonderem 
Interesse  sind.  Aus  diesem  Grunde  bedürfen  sie  hier  einer  eingehen- 
deren Betrachtung. 


4.  Physiologische  und  pathologische  Amnesie. 

Unter  der  „amnestischen  Aphasie"  pflegt  man,  um  dem  in  dem 
Wort  Aphasie  liegenden  Begriff  einigermaßen  treu  zu  bleiben,  solche 
Sprachstörungen  zu  verstehen,  bei  denen  das  Wortgedächtnis  ent- 
weder ganz  oder  bis  auf  geringe  Reste  aufgehoben  ist.  Da  nun  von 
diesen  schwersten  Formen  der  Störung  an  bis  zu  den  leichteren  einer 
noch  tief  in  das  normale  Leben  hereinreichenden  Schwäche  des  Wort- 
gedächtnisses alle  möglichen  Übergangsstufen  vorkommen,  so  sieht 
man  sich  genötigt,  jenem  Begriff  den  allgemeineren  der  „Amnesie" 
gegenüberzustellen.  Er  ist  um  so  unentbehrlicher,  als  in  diesem  Fall 
ebensosehr  die  leichteren  Symptome  durch  die  schwereren,  wie  nicht 


552  Die  Wortbildung. 


selten  diese  durch  jene  erläutert  werden.  Die  „Amnesie*'  in  diesem 
Sinne  ist  eine  lediglich  negative  Störung:  sie  besteht  in  einem  Ver- 
sagen der  Assoziationen  zwischen  Begriff  und  Wort.  Während  die 
Vorstellungen  und  Begriffe,  sofern  nicht  gleichzeitig  anderweitige 
Störungen  vorhanden  sind,  in  normaler  Weise  gebildet  werden  können, 
unterbleibt  die  Assoziation,  die  von  dem  Begriff  zu  dem  ihn  bezeich- 
nenden "Worte  führt,  entweder  völlig,  oder  sie  spricht  schwieriger  an, 
so  daß  das  Wort  nur  mit  Mühe  und  meist  unter  Mitwirkung  von  Asso- 
ziationshilfen gefunden  werden  kann. 

Die  Wirksamkeit  solcher  Assoziationshilfen  sogar  bei  Gedächt- 
nismängeln infolge  grober  Gehirnläsionen  zeigt  schlagend  ein  zuerst 
Von  Grashey  beobachteter  Fall  hochgradiger  pathologischer  Amnesie^). 
Der  Patient  hatte  infolge  einer  Kopfverletzung  sein  Wortgedächtnis 
fast  völlig  verloren;  er  besann  sich  a^er  auf  den  Namen  eines  Objekts, 
indem  er  ihn  „schreibend  fand",  d.  h.  indem  er  das  Schriftbild  des 
Wortes  durch  Fingerbewegungen  oder,  wenn  er  daran  gehindert  war, 
durch  Bewegungen  einer  Zehe,  im  Notfalle  selbst  der  Zunge  hervor- 
brachte. Darauf  stellte  sich  dann  auch  die  Lautvorstellung  ein^). 
Offenbar  war  also  in  diesem  Falle  das  Gedächtnis  für  optische  W^ort- 
bilder  sowie  das  für  Schreibbewegungen  erhalten,  aber  das  für  akustische 
Wortvorstellungen  aufgehoben:  so  weit  würde  die  Erscheinung  als 
eine  Läsion  des  Zentrums  S  (A)  bei  intakter  Beschaffenheit  von  0 
und  E  (Fig.  37)  zu  deuten  sein.  Doch  was  sich  dadurch  nicht  erklären 
läßt,  ist  die  Tatsache,  daß  die  Funktion  von  E  auch  das  insuffizient 
gewordene  Zentrum  S  (A)  wieder  zur  Funktion  anregt,  daß  also  die 


1)  Grashey,  Archiv  für  Psychiatrie,  XVI,  1885,  S.  654  ff.  Vgl.  auch  die 
weiteren  eingehenden  Untersuchungen  des  gleichen  Patienten  von  R.  Sommer, 
Zeitschr.  für  Psychologie  und  Physiologie  der  Sinnesorgane,  II,  1891,  S.  143  ff., 
und  Gustav  Wolff,  ebenda  XV,  1897,  S.  1  ff. 

2)  ÄhnUche  Hilfswirkungen  von  Seiten  der  Schreibbewegungen  sind  auch  in 
Fällen  von  Amnesie,  die  mit  „Agraphie'*  verbunden  waren,  beobachtet  worden. 
So  konnte  ein  von  Hans  Gudden  untersuchter  amnestischer  Patient  bekannte 
Wörter  nicht  schreiben,  weder  wenn  man  sie  ihm  diktierte,  noch  wenn  man  ihm 
die  von  ihm  selbst  geschriebenen  zum  Abschreiben  vorlegte.  Er  schrieb  sie  aber 
sofort  nach,  wenn  man  sie  ihm  vor  seinen  Augen  vorschrieb.  (Neurologisches 
Zentralblatt,  1900,  Nr.  1,  S.  13.) 


Physiologische  und  pathologische  Amnesie.  553 

Unterbrechung  dieser  Funktion  keine  absolute  ist,  sondern  sich  teils 
bei  unmittelbarer  Einwirkung  des  Wortes  —  der  Patient  vermochte 
unmittelbar  gehörte  Worte  nachzusprechen  —  teils  durch  das  will- 
kürlich erzeugte  Schriftbild  desselben,  das  der  amnestischen  Störung 
nicht  unterlag,  momentan  wiederherstellen  kann.  Diese  Mithilfe 
begleitender  Vorstellungen  zeigte  sich  bei  dem  gleichen  Patienten 
auch  noch  in  manchen  andern  Erscheinungen.  Auf  die  Frage:  ,, welche 
Farbe  hat  das  Blut?"  vermochte  er  z.  B.  keine  Antwort  zu  finden, 
obgleich  er,  wie  seine  Handlungen  verrieten,  den  Sinn  der 
Worte  verstand.  Er  vermochte  es  selbst  dann  nicht,  als  man 
ihm  irgendein  anderes  rotes  Objekt  Vorzeigte.  Aber  das  Wort 
kam  ihm  sofort,  als  er,  um  es  zu  finden,  absichtlich  eine 
kleine  Pustel  an  seiner  Hand  öffnete  und  den  Blutstropfen  her- 
vorquellen sah.  Dieses  Beispiel  zeigt  zugleich,  wie  der  Patient  mit 
Überlegung  und  nicht  ohne  Aufwand  eines  gewissen  Scharfsinns 
bemüht  war,  dem  Defekt  seines  Wortgedächtnisses  abzuhelfen 
und  ihn  gelegentlich  zu  verbergen  wußte.  Wollte  man  allen  diesen 
Verhältnissen  in  einem  Lokalisa  tionsschema  Ausdruck  geben, 
so  müßte  daher  in  diesem  nicht  bloß  den  besonderen  Assoziations- 
bedingungen der  Verschiedenen  Zentren  untereinander,  sondern  auch 
den  Einflüssen  Rechnung  getragen  sein,  die  bei  solcher  Aushilfe  der 
Funktionen  von  höheren  Zentralgebieten,  in  denen  wir  uns  die  Ele- 
mente der  Apperzeptions-  und  Aufmerksamkeitsvorgänge  lokalisiert 
denken  können,  ausgehen.  Und  zu  dem  allem  müßte  man,  um  der 
notwendig  anzunehmenden  Verbindung  einfacher  Funktionen  zu 
komplexen  Resultanten  zu  genügen,  die  in  der  üblichen  Schemati- 
sierung der  Sprachzentren  festgehaltene  Voraussetzung  aufgeben, 
Laut  und  Wort  seien  bei  der  Bildung  und  Erkennung  der  Worte  ge- 
trennt existierende  Vorstellungen.  Demnach  wird  man  an  ,, Wort- 
zentren" höchstens  in  dem  Sinne  denken  können,  daß  die  in  den  Wort- 
vorstellungen durch  gemeinsame  Funktionsübung  Verbundenen  Ge- 
hörsempfindungen weiteren,  dem  direkten  Hör-  und  Sehzentrum  bei- 
gegebenen Zentralgebieten  zugeleitet  werden,  deren  Leistungen  aber 
durchaus  an  die  gleichzeitige  Funktion  jener  unmittelbaren  Sinnes- 
zentren gebunden  sind.  Damit  verschwindet  dann  von  selbst  die  un- 
mögliche Annahme  irgendeiner  „Ablagerung  von  Wörtern"  im   Ge- 


554  Die  Wortbildung. 


hirn.  Denn  in  jener  Forderung  eines  funktionellen  Zusammen- 
hangs von  Zentren  verschiedener  Ordnung  ist  schon  die  Vor- 
aussetzung enthalten,  daß  jede  Wortvorstellung  auch  nach 
ihrer  physiologischen  Seite  ein  komplexer  Vorgang  ist,  der 
das  Zusammenwirken  zahlloser  zentraler  Elemente  umfaßt  und 
daher  von  Fall  zu  Fall  in  unendlich  mannigfaltiger  Weise  variieren 
kann. 

Selbst  nach  dieser  wesentlichen  Modifikation  der  Lokalisations- 
vorstellungen  bleibt  aber  noch  eine  Menge  einzelner  Verhältnisse 
übrig,  die  Von  besonderem  Wert  für  die  funktionelle  Charakteristik 
der  Sprachstörungen  sind,  und  die  sich  gleichwohl  jedem  Versuch 
einer  Lokalisation  der  verwickeiteren  Funktionen  in  besonderen  räum- 
lich zu  trennenden  Gebieten  entziehen.  Dahin  gehört  namentlich  die 
bei  allen  Erscheinungen  der  Amnesie  beobachtete  Tatsache,  daß 
die  einzelnen  Wörter  je  nach  der  Kategorie  der  Vor- 
stellungen und  Begriffe  ein  außerordentlich  verschie- 
denes Beharrungsvermögen  besitzen.  Schon  bei  den  noch 
dem  normalen  Vergessen  angehörenden  Erscheinungen  bemerken 
wir  regelmäßig,  daß  nicht,  wie  man  denken  könnte,  die  abstraktesten. 
Redeteile,  Bejahung,  Verneinung,  Präpositionen,  Konjunktionen  und 
abstrakte  Adverbien,  am  schnellsten  vergessen  werden,  sondern  um- 
gekehrt diejenigen  Wörter,  die  am  unmittelbarsten  konkrete  sinn- 
liche Gegenstände  bezeichnen:  die  Eigennamen  bestimmter  Personen, 
dann  die  konkreten  Substantiva.  An  sie  schließen  sich  die  Adjektiva, 
und  unter  ihnen  gehen  wieder  solche  voran,  die  von  sinnlich  anschau- 
licher Bedeutung  sind.  Fester  haften  die  abstrakten  Adjektiva  und 
die  Verba,  und  am  festesten  endlich  neben  den  Interjektionen  die 
abstrakten  Partikeln.  Diese  Reihenfolge  wiederholt  sich  allerdings 
in  den  pathologischen  Fällen  nicht  immer  in  gleich  deutlicher  Weise. 
Sie  wird  hier  bald  von  einer  teilweisen  Wiederherstellung  der  Funk- 
tionen, bald  von  andern  Störungen  durchkreuzt,  die  auf  bestimmter 
lokalisierte  Unterbrechungen  der  Leitung  zurückzuführen  sind.  Den- 
noch sind  die  Spuren  jener  Regelmäßigkeit  häufig  selbst  bei  der  mo- 
torischen Aphasie  anzutreffen.  Daß  aber  die  Erscheinung  aus  irgend- 
einer Lokalisation  der  Erinnerungsbilder  nicht  erklärt  werden  kann, 
ist  einleuchtend.   Müßte  man  doch  nicht  bloß  voraussetzen,  die  Wörter 


Erscheinungen  der  Paraphasie.  555 

seien  nach  grammatischen  Kategorien  in  den  Hirnzellen  abgelagert, 
sondern  auch  die  Zerstörung  der  Erinnerungszentren  gehe  immer 
in  der  entsprechenden  Reihenfolge  vor  sich. 


5.  Erscheinungen  der  Paraphasie. 

Gegenüber  der  Amnesie  als  einer  Gruppe  reiner  Ausfallserschei- 
nungen bezeichnet  die  „Paraphasie"  ein  positives  Symptomenbild. 
Wir  verstehen  nämlich  unter  diesem  Ausdruck  diejenigen  Störungen, 
bei  denen  die  Wortbildung  als  solche  beeinträchtigt  ist,  indem  ent- 
weder verschiedene  Wörter  miteinander  verwechselt  oder  ganz  neue 
Wörter  gebildet  und  den  der  Sprache  geläufigen  substituiert  werden. 
Diese  Wortfehler  sind  wohl  zu  unterscheiden  von  den  früher  (S.  393  ff.) 
besprochenen  Lautvermengungen  oder  „Paralalien",  mit  denen  sie 
häufig  zusammengeworfen  werden.  Bei  der  ,,Paralalie"  wird  das 
richtige  Wort  gewählt,  aber  es  wird  infolge  abnormer  Assimilationen, 
Dissimilationen,  Auslassungen  von  Lauten  usw.  unrichtig  aus- 
gesprochen. Bei  der  „Paraphasie"  wird  von  vornherein  ein  unrich- 
tiges Wort  gewählt,  während  namentlich  bei  den  geringeren,  bloß 
in  einzelnen  Wortverwechslungen  bestehenden  Graden  dieser  Störung 
jedes  einzelne  Wort  richtig  gesprochen  wird.  In  der  Mitte  zwischen 
den  Paralalien  und  den  Paraphasien  steht  die  „Wortvermengung" 
(Onomatomixie  S.  398),  in  die  daher  auch  die  Symptome  der  Para- 
phasie ohne  scharfe  Grenze  übergehen  können.  Im  allgemeinen  rechnen 
wir  aber  eine  Erscheinung  zur  ,, Onomatomixie",  solange  es  sich  bloß 
um  eine  lautliche  Veränderung  handelt,  die  ein  bestimmtes  Wort  durch 
die  assoziative  Einwirkung  eines  andern  erfährt,  indes  das  ursprüng- 
liche Wort  immer  noch  deutlich  erkennbar  bleibt.  Wir  reden  dagegen 
von  „Paraphasie",  wenn  das  Wort  in  seinen  wesentlichen  Bestand- 
teilen durch  assoziative  Einwirkungen  völlig  unkenntlich,  oder  wenn 
es  durch  ein  ganz  anderes  Wort  oder  wortähnliches  Gebilde  ersetzt 
wird.  Aus  diesen  Gründen  schließt  sich  trotz  der  Verwandtschaft 
beider  Erscheinungen  die  Onomatomixie  noch  den  Lautstörungen 
der  Sprache  an,  während  die  Paraphasie  zu  den  Störungen  der  Wort- 
bildung gerechnet  werden  muß.      Damit  hängt  zusammen,  daß  die 


556  Die  Wortbildung. 


Paraphasie  im  allgemeinen  ein  schwereres  Symptom  ist,  und  daß 
sie  daher  bei  dem  gewöhnlichen  „Versprechen"  nur  selten,  um  so 
häufiger  dagegen  als  pathologische  Erscheinung  vorkommt.  Als  solche 
ist  sie  wohl  stets  mit  einer  Rindenaffektion  des  Gehirns  verbunden. 
Doch  läßt  sie  sich  weder  in  einem  hypothetischen  Lokalisationsschema 
unterbringen  noch  tatsächlich  auf  eine  fest  bestimmte  örtliche  Störung 
zurückführen.  Gleichwohl  kann  sie  sich  mit  den  verschiedensten 
andern  Sprachstörungen  verbinden  sowie  als  Vorläuferin  tieferer 
Defekte  auftreten. 

Vor  allem  finden  sich  die  Erscheinungen  der  Wortverwechslung 
und  der  Einschaltung  von  Wörtern,  die  außerhalb  des  Zusammen- 
hangs der  Rede  liegen,  als  Begleiterinnen  der  pathologischen  Amnesie. 
Aber  auch  bei  höheren  Graden  seniler  Gedächtnisschwäche  beobachtet 
man  namentlich  die  Wortverwechslungen  nicht  selten.  Dieser  Zu- 
sammenhang erklärt  sich  ohne  weiteres  daraus,  daß  gerade  in  den 
Momenten,  wo  die  richtige  Assoziation  zwischen  Vorstellung  und 
Wort  versagt,  der  Zufluß  solcher  Vorstellungen,  die  durch  irgend- 
welche andere  Assoziationsbedingungen  gehoben  werden,  relativ 
erleichtert  ist.  Anderseits  zeigt  jedoch  das  Vorkommen  parapha tischer 
Erscheinungen  bei  ganz  intaktem  Wortgedächtnis,  sowohl  bei  der 
Gedankenflucht  der  Irren  wie  bei  geistig  gesunden  Menschen  infolge 
hochgradiger  Zerstreutheit,  daß  es  sich  hier  um  direkte  assoziative 
Ursachen  handelt,  zu  denen  die  Amnesie  nur  als  begünstigendes  Moment 
hinzutreten  kann. 

Die  stärksten,  freilich  auch  irregulärsten  Beispiele  der  Para- 
phasie bietet  in  vielen  Fällen  die  Sprache  der  Geisteskranken:  irregu- 
lär deshalb,  weil  es  hier  meist  zufällig  eingeübte  Wortvorstellungen, 
manchmal  auch  ganz  willkürliche  Wortgebilde  oder  mindestens  will- 
kürliche Wortzusammensetzungen  sind,  die  den  Redestrom  unter- 
brechen, ohne  Rücksicht  darauf,  ob  sie  an  der  betreffenden  Stelle 
ein  anderes  ausfallendes  Wort  vertreten  oder  die  Rolle  sinnloser  Klang- 
bilder spielen,  denen  aber  der  Kranke  nicht  selten  eine  besondere  Be- 
deutung beilegt  ^).  Viel  regelmäßiger  gestalten  sich  die  Wortvertretungen 


^)  Liebmaiin  und  Edel,  Die  Sprache  der  Geisteskranken,  1903.    Kraepelin, 
Psychiatrie,  I,  »  1909,  S.  415  ff. 


Erscheinungen  der  Paraphasie.  557 

bei  den  höheren  Graden  der  Amnesie.  Besonders  beobachtet  man 
das  bei  jenen  Erscheinungen  des  Gedächtnisschwundes,  wo  im  all- 
gemeinen konkretere  Wortklassen  fehlen,  aber  abstraktere  noch  ver- 
fügbar sind  (S.  554).  Hier  pflegt  bald  ein  nahe  verwandtes  abstraktes 
Wort  substituiert,  bald  auch  gerade  das  fehlende  definierend  um- 
schrieben zu  werden:  z.  B.,  wenn  die  konkreten  Substantiva  Versagen, 
die  entsprechenden  Verba  aber  noch  geläufig  sind,  die  ,, Schere"  als 
,,das  womit  man  schneidet",  das  ,, Fenster"  als  ,,das  wodurch  man 
sieht"  u.  dgl.  1).  Kommen  die  Wortverwechslungen  bei  irregulärer 
Amnesie  vor,  so  treten  sie  meist  in  der  Form  auf,  daß  die  Wörter  in 
der  gleichen  Kategorie  bleiben,  so  daß  also  Wörter  wie  Tisch  und 
Stuhl,  stehen  und  hängen,  gehen  und  fahren  miteinander  verwechselt 
werden. 

Auch  in  sonst  normalen  Zuständen  können  ähnliche  Wortver- 
tauschungen  als  gelegentliche  Begleiterscheinungen  oder  Steigerungen 
der  Laut-  und  Wortvermengungen  vorkommen.  Von  den  eigent- 
lich pathologischen  Fällen  unterscheiden  sich  diese  noch  dem  nor- 
malen Leben  angehörigen  Erscheinungen  dadurch,  daß  sich  die  Asso- 
ziationen innerhalb  eines  engeren  Gebiets  verwandter  oder  sich  be- 
rührender Vorstellungen  bewegen^).  Manchmal  wechseln  dabei  auch 
nur  bestimmte  Begriffe  ihre  Stellen,  oder  es  wird  aus  einer  begrifflich 
verwandten  Redeweise  ein  Wort  oder  eine  Wortgruppe  herübergenommen, 
Fälle,  die  sich  als  assoziative  Substitution,  Permutation  und  Konta- 
mination unterscheiden  lassen.  So  in  den  Beispielen:  ,, Maximilian  I. 
hatte  die  Hopnung,  den  Thron  auf  seinem  Haupte  zu  sehen"  (Sub- 
stitution von  ,, Thron"  für  „Krone"),  „In  Neapel  geht  man  des  Abends 
auf  dem  Hause  seines  Daches  spazieren"  (Permutation),  ,,Er  setzt 
sich  auf  den  Hinterkopf"  (kontaminiert  aus  ,,er  setzt  es  sich  in  den 


^)  Kußmaul,  Störungen  der  Sprache,  S.  163. 

2)  Zahlreiche  Beispiele  dieser  Art  finden  sich  in  der  Sammlung  „Gallet- 
tiana"  (Berlin ^  1876).  Sie  enthält  Aussprüche  eines  1750 — 1828  in  Gotha  lebenden, 
an  hochgradiger  Zerstreutheit  leidenden  Schulmonarchen.  Dieselben  gehören, 
abgesehen  von  wenigen  Beispielen  von  Onomatomixie,  sämtlich  in  das  Gebiet 
der  „Paraphasie*',  während  kein  einziger  Fall  einer  „Paralalie"  darunter  vorkommt 
—  ein  Beweis  für  die  oben  (S.  555)  hervorgehobene  Wesensverschiedenheit  dieser 
Erscheinungen. 


558  Die  Wortbildung. 


Kopf"  und  „er  stellt  sich  auf  die  Hinterbeine").  Dagegen  nähert  es 
tsicli  schon  der  Grenze  des  Pathologischen,  wenn  ein  Wort  durch  Asso- 
ziation ein  anderes  wachruft,  das  aus  dem  Gedankenzusammenhang 
herausfällt,  eine  assoziative  Einschaltung,  die  sich  am  nächsten  an 
die  Substitution  anschließt  und  manchmal  mit  ihr  verbimden  sein 
kann.  So  in  dem  Beispiel:  ,, Elisabeth  erschien  nach  der  Hinrichtung 
der  Maria  Stuart  im  Parlament  in  der  einen  Hand  das  Schnupftuch, 
in  der  andern  eine  Träne"  (Gallettiana),  wo  durch  Assoziation  mit 
der  ,, einen  Hand"  die  ,, andere"  interponiert  und  zugleich  dem  „Auge" 
substituiert  ist. 

6.  Psychophysisches  Prinzip  der  Funktionsübung. 

Da  die  zentralen  Störungen  der  Sprache,  wie  ihr  Zusammenhang 
mit  Verletzungen  und  krankhaften  Veränderungen  bestimmter  Hirn- 
gebiete beweist,  physisch  bedingte,  an  sich  selbst  aber  psychische 
Symptome  sind,  so  fordern  sie  eine  doppelte  Funktionsanalyse 
heraus:  eine  physiologische  und  eine  psychologische.  Dabei  wird  die 
letztere  der  ersteren  immer  als  Führerin  dienen  müssen,  nicht  nur 
weil  die  psychische  Seite  der  Sprachstörungen  unserer  Beobachtung 
zugänglicher,  sondern  weil  auch  bei  den  mannigfachen  Erscheinungen 
ihrer  Korrelation  und  Kompensation  die  psychologische  Deutung 
die  näherliegende  ist.  Bei  dem  gegenwärtigen  Zustande  der  Gehirn- 
physiologie  ist  jedoch  überhaupt  eine  tiefer  eindringende  physio- 
logische Funktionsanalyse  völlig  ausgeschlossen;  und  es  ist  nicht 
wahrscheinlich,  daß  sich  dieser  Zustand  in  absehbarer  Zeit  wesentlich 
ändern  werde.  Was  die  physiologische  hier  der  psychologischen  Be- 
trachtungsweise zu  bieten  vermag,  beschränkt  sich  vorläufig  auf  einen 
allgemeinen  Gesichtspunkt,  der,  weil  er  sich  in  gleicher  Weise  für  die 
physische  wie  für  die  psychische  Seite  der  Erscheinungen  bewährt, 
zugleich  eine  allgemeinere  psychophysische  Bedeutung  besitzt.  Er 
besteht  in  dem  Prinzip  der  Funktionsübung.  Dieses  Prinzip 
sagt  aus,  daß  jede  Funktion,  mag  sie  nun  eine  physische  oder  eine 
psychische  oder  beides  zugleich  sein,  durch  ihre  Ausübung  ge- 
steigert, durch  ihre  Unterlassung  verniindert  und  schließ- 
lich aufgehoben  wird. 

Der  Begriff  der  Übung  ist  an  und  für  sich  ein  gemischter,  der 


Psychophysisches  Prinzip  der  Funktionsübung.  559 

ebenso  physiologische  wie  psychologische  Erscheinungen  umfaßt. 
Auch  wo  uns  ein  Übergangsvorgang  unmittelbar  nur  als  psychischer 
Tatbestand  gegeben  ist,  da  weist  aber  dieser  regelmäßig  auf  gleich- 
zeitige physische  Übungsvorgänge  hin.  Diese  gemischte  Anwendung 
des  Begriffs  zeigt  schon,  daß  er  ein  symptomatischer  ist,  der  an  sich 
einen  nur  provisorischen  Wert  besitzt.  Sobald  man  ihm  einen  be- 
stimmten Inhalt  zu  geben  sucht,  so  wandelt  er  sich  von  selbst  in  eine 
psychologische  oder  in  eine  physiologische  Gesetzmäßigkeit  um.  So 
hat  der  Begriff  der  psychologischen  Übung  seine  Unterlage  in  der 
Befestigung  der  Assoziationen  durch  Wiederholung,  die  zugleich  die 
beiden  Hauptfälle  der  unmittelbaren  Übung  und  der  Mitübung 
einschließt.  Die  erstere  besteht  in  der  durch  oft  wiederholte  Asso- 
ziation zunehmenden  Bereitschaft  eines  vorangegangenen  Bewußt- 
seinsinhaltes zu  seiner  Erneuerung;  die  letztere  in  der  Übertragung 
einer  solchen  Bereitschaft  von  einem  gegebenen  Bewußtseinsinhalt 
auf  einen  andern,  der  mit  jenem  häufig  verbunden  war.  Dem  stehen 
die  mannigfaltigsten  Vorgänge  rein  physiologischer  Art  gegenüber, 
die  wir  ebenfalls  nach  dem  allgemeinen  Charakter  ihrer  Wirkungen 
der  Übung  und  Mitübung  unterordnen.  So  wird  eine  Muskelgruppe 
geübt,  wenn  ihre  Leistungsfähigkeit  durch  wiederholte  Arbeit  zu- 
nimmt; und  eine  andere  wird  mitgeübt,  wenn  sie,  ohne  direkt  an  jener 
Leistung  beteiligt  zu  sein,  infolge  der  mechanischen  oder  der  nervösen 
Verbindungen  des  Muskelsystems  in  Mitbewegungen  gerät.  Bei  der 
Übung  peripherer  Organe  können  wir  über  die  Bedingungen  dieser 
Veränderungen  einigermaßen  Rechenschaft  geben,  indem  wir  sie 
auf  die  durch  die  Arbeitsleistung  gesteigerte  Ernährung  und  die  so 
bewirkte  Zunahme  latenter  Energie  zurückführen.  Dunkler  ist  der 
Vorgang  bei  den  für  die  psychophysischen  Funktionen  maßgebenden 
Übungs Vorgängen  im  Nervensystem.  Hier  ist  es,  abgesehen  von  den 
in  gleicher  Weise  anzunehmenden  Ernährungseinflüssen,  hauptsäch- 
lich eine  Tatsache,  die  auf  den  eigentümlichen  Charakter  der  Übungs- 
vorgänge Licht  wirft:  das  ist  die  schon  bei  den  einfachsten  Reizver- 
suchen an  motorischen  oder  sensibeln  Nerven  zu  beobachtende  Zu- 
nahme  der   Reizbarkeit   durch   die   Reizung^).     Sie  macht  es 


1)  Vgl.  oben  Kap.  I,  S.  88. 


560  Die  Wortbildung. 


begreif  Hell,  daß  jede  Bahn,  die  irgendwo  im  Nervensystem  häufiger 
von  einem  Erregungsvorgange  durchflössen  wird,  für  künftige  Reize 
zugänglicher  wird.  Daraus  ergibt  sich  in  der  Anwendung  auf  die  un- 
endlich vielgestaltigen  Leitungs-  wie  Erregungsbedingungen  der  Nerven- 
zentren die  Folgerung,  daß  die  Wege,  die  ein  Erregungsvorgang  ein- 
schlägt, in  letzter  Instanz  zwar  von  den  überhaupt  vorhandenen  und 
in  der  vererbten  Organisation  gegebenen  zentralen  Elementen  und 
Nervenleitungen  abhängen,  daß  aber  zugleich  die  Bedingungen  der 
Erregbarkeit  und  der  Leitung  fortwährend  durch  die  wirklich  statt- 
findenden Erregungen,  gemäß  jenem  Prinzip  der  Zunahme  der  Reiz- 
barkeit durch  die  Reizung,  verändert  werden.  Die  Leitungsbahnen 
in  einem  individuellen  Gehirn  sind  also  zu  einem  sehr  wesentlichen 
Teile  selbst  schon  Produkte  dessen,  was  wir  ,,Ubergangsvorgänge" 
nennen.  Die  Substrate  der  Nerven erregungen  sind  nichts  Beharren- 
des, sondern  in  ihrer  physiologischen  Anlage  zum  Teil  Erzeugnisse 
ihrer  Funktionen.  Hiermit  ist  eigentlich  eine  feste  Lokalisation  dieser 
Funktionen  bereits  ausgeschlossen.  Bedenken  wir  aber  vollends, 
auf  welch  verwickeltem  Zusammenwirken  elementarer  physischer 
Vorgänge  die  Entstehung  einer  einfachen  Sinneswahrnehmung,  z.  B. 
eines  zusammengesetzten  Klanges  oder  einer  ausgedehnten  Fläche, 
schon  innerhalb  der  peripheren  Anhangsapparate  des  Nerven- 
systems beruht,  so  werden  wir  die  Annahme,  daß  die  Er- 
regungszustände einer  abgegrenzten  Rindenstelle  als  physische 
Substrate  einer  bestimmten  Klasse  von  Vorstellungen,  z.  B.  von 
Laut-  oder  von  optischen  Bildern  der  Worte,  anzusehen  seien, 
als  unmöglich  zurückweisen.  Leider  fehlen  uns  jedoch,  abgesehen 
von  jenen  allgemeinen  Gesetzen  der  Erregung  und  Erregungsleitung, 
auf  physiologischer  Seite  alle  Hilfsmittel  einer  exakteren  Funktions- 
analyse. 

Dagegen  bewährt  es  sich  gerade  bei  der  Sprache,  daß  die  zu- 
fälligen Störungen  im  Zusammenhang  der  Gehirnteile  ein  außer- 
ordentlich wertvolles  Hilfsmittel  für  die  psychologische  Analyse  selbst 
sind.  Zerlegen  sich  uns  doch  bei  solchen  Störungen  Vorgänge,  die 
im  normalen  Bewußtsein  fast  nur  in  ihrem  ungeteilten  Zusammen- 
hang vorkommen,  deutlich  in  ihre  psychischen  Komponenten;  und 
durch  die  Art  der  Ausgleichung  der  Störungen  gewähren  sie  einen  oft 


Psychologische  Deutung  der  zentralen  Sprachstörungen.  561 


überraschenden  Einblick  in  die  Wechselbeziehungen  der  psychischen 
Funktionen.  Abgesehen  von  dieser  Hilfe,  die  sie  der  Psychologie 
leisten,  ergibt  sich  aber  aus  der  Beziehung  der  Störungen  zu  bestimmten 
Gehirnläsionen  nur  das  allgemeine  Resultat,  daß  wie  schon  der  Sprach- 
laut so  das  Wort  im  eigentlichsten  Sinn  ein  psychophysisches 
Gebilde  ist,  —  ein  psychophysisches  auch  in  der  Bedeutung,  daß  wir 
die  gesamten  physiologischen  Begleiterscheinungen  der  Sprachfunk- 
tion weder  als  Ursachen  noch  als  Wirkungen,  sondern  nur  als  Parallel- 
vorgänge der  psychischen  Prozesse  ansehen  können.  Denn  die  voraus- 
zusetzenden physischen  Anlagen  lassen  sich  gerade  so  gut  nur  aus  den 
physischen  Eigenschaften  der  Nervensubstanz  ableiten,  wie  um- 
gekehrt die  psychischen  Vorgänge  der  Wortbildung  nur  aus  den 
Assoziations-  und  Apperzeptionsprozessen  zu  begreifen  sind.  Als 
psychisches  Erzeugnis  steht  das  Wort  inmitten  der  gesamten 
seelischen  Entwicklungen,  aus  denen  die  Sprache  hervorgeht;  als 
physisches  ist  es  ein  integrierender  Bestandteil  der  auf  ererbten  und 
erworbenen  Anlagen  beruhenden  Funktionen  des  Nervensystems 
und  seiner  Hilfsorgane. 

7.  Psychologische  Deutung  der  zentralen  Sprachstörungen. 

Vermag  uns  die  Physiologie,  abgesehen  von  dem  allgemeinen 
psychophysischen  Prinzip  der  Funktionsübung  und  seiner  letzten 
Zurückführung  auf  gewisse  elementare  Eigenschaften  der  Nerven- 
erregung, über  den  Zusammenhang  der  zentralen  Sprachstörungen, 
über  ihre  Korrelationen  und  Kompensationen  nicht  die  allergeringste 
Auskunft  zu  geben,  so  verhält  sich  das  wesentlich  anders  mit  der 
psychologischen  Deutung  der  Erscheinungen.  Hier  bieten  diese,  wie 
oben  bemerkt,  ein  überaus  wichtiges,  durch  kein  anderes  ersetzbares 
Hilfsmittel  für  die  psychologische  Analyse  der  Wortbildungsvorgänge. 
Die  Natur  hat  in  diesem  Falle  selbst  für  uns  an  einem  Objekt,  dem 
menschlichen  Gehirn,  experimentiert,  das  sonst  mehr  als  irgendein 
anderes  willkürlichen  Eingriffen  entzogen  bleibt.  Die  Sprachstörimgen 
können  aber  natürlich  diese  Hilfe  nur  deshalb  leisten,  weil  sie  selbst 
einer  nahezu  vollständigen  psychologischen  Deutung  zugänglich 
sind. 

Wundt,  Völkerpsychologie.    I.    4.  Aufl.  36 


562  Die  Wortbildung. 


Die  üblichen  Lokalisationshypothesen  pflegen,  wie  oben  (S.  550) 
erwähnt,  schon  an  der  Tatsache  zu  scheitern,  daß  mit  tieferen  Stö- 
rungen des  Wortgedächtnisses  beinahe  regelmäßig  Störungen  der 
Artikulationsfähigkeit  verbunden  sind.  Psychologisch  betrachtet 
ist  diese  Wechselbeziehung  nicht  bloß  begreiflich,  sondern  nahezu 
selbstverständlich.  Ist  doch  das  akustische  oder  optische  Wortbild 
so  eng  mit  den  Sprachbewegungen  assoziiert,  daß  bei  dem  Natur- 
menschen, bei  dem  nicht  willkürliche  Hemmungen  diese  Assoziation 
teilweise  gelöst  haben,  das  gedachte  oder  gelesene  Wort  unvermeid- 
lich in  das  gesprochene  übergeht.  Das  Denken  in  Worten  ist  zugleich 
leises  Sprechen,  und  auch  wenn  die  sichtbaren  Bewegungen  der  Sprach- 
organe unterdrückt  werden,  bleibt  es  dies  in  dem  Sinne,  daß  schwache 
Impulse  zu  denselben  samt  den  sie  begleitenden  leisen  Empfindungen 
zurückbleiben.  Werden  nun  durch  irgendeine  zentrale  Störung  die 
Artikulationsbewegungen  vmmöglich,  so  Versagt  damit  die  Asso- 
ziationshilfe, die  sie  den  akustischen  Wortvorstellungen  gewähren. 
Aber  da  die  normale  Wortassoziation  Von  den  akustischen  oder  op- 
tischen Wortvorstellungen  zu  den  Artikulationsbewegungen  geht, 
nicht  umgekehrt,  so  werden  Störungen  in  der  Bildung  jener  Vor- 
stellungen immer  auch  mehr  oder  weniger  die  motorische  Seite  der 
Sprachfunktion  beeinträchtigen,  während  direkte  Störungen  der 
Sprachbewegungen  selbst  nicht  notwenig  auf  die  akustischen  oder 
optischen  Bestandteile  der  Wortkomplikationen  übergreifen  müssen. 
Übrigens  widerlegt  diese  vorwiegende  Richtung  der  Assoziation  auch 
die  auf  die  alte  Lehre  von  den  ,, inneren  Sinnen"  gegründete 
Annahme,  das  motorische  Sprachzentrum  sei  an  sich  nur  ein 
Zentrum  der  ,, Bewegungsvorstellungen"  (S.  547).  Denn  jene  Rich- 
tung läßt  sich  offenbar  am  einfachsten  erklären,  wenn  man 
annimmt,  die  akustische  oder  optische  Wortvorstellung  löse 
ursprünglich  zunächst  durch  die  Übertragung  auf  das  mo- 
torische Zentrum  eine  Artikulationsbewegung  aus,  und  dann 
erst  entstehe  konsekutiv  die  Artikulationsempfindung,  nicht 
aber  umgekehrt  aus  den  Bewegungsvorstellungen  die  wirkliche  Be- 
wegung. 

Ähnlich  erklärt  sich  psychologisch  aus  jener  Richtung  der  Asso- 
ziation von  den  sensorischen  zu  den  motorischen  Gebieten  der  Sprach- 


Psychologische  Deutung  der  zentralen  Sprachstörungen.  563 

funktion  die  nicht  seltene  Kombination  der  Schriftblindheit  mit  Be- 
wegungsstörungen, während  auch  hier  wieder  sehr  wohl  die  letzteren 
ohne  eine  Spur  von  Alexie  vorkommen  können.     Bei  einem  an  das 
Lesen  gewöhnten  Menschen  bilden  natürlich  die  optischen  Wortbilder 
wichtige   assoziative   Anregungen   für   die   Wortartikulation,    so   daß 
ihr  Wegfall  leicht  an  dieser  bemerklich  wird.   Auch  die  oft  vorkommen- 
den Erscheinungen,  daß  Worte  nachgesprochen,  aber  nicht  für  eine 
längere  Zeit  festgehalten,  oder  daß  falsche  Worte  substituiert  oder 
die  Wortbestandteile   falsch   kombiniert  werden,    sind   psychologisch 
ohne  weiteres  aus  den  Abweichungen  zu  erklären,  die  man  allgemein 
bei  einer  Lockerung  eingeübter  Assoziationen  beobachtet.     Ehe  eine 
Assoziation  ganz  versagt,  gestattet  sie  immer  noch  eine  Erneuerung 
für  sehr  kurze  Zeit;  und  wenn  eine  bestimmte  einzelne  Assoziation 
unsicher  geworden  ist,  so  pflegt  zunächst  noch  ihre  allgemeine  Assö- 
ziationsrichtung  fortzuwirken.    Das  erstere  erklärt  die  ,, Echosprache'*, 
das  letztere  viele  Erscheinungen  der  ,, Paraphasie".     Für  dieses  Fort- 
wirken bestimmter  Assoziationsrichtungen  ist  es  insbesondere  kenn- 
zeichnend, daß  die  Wortverwechslungen  immer  innerhalb  der  gleichen 
Wortkategorie,  und  daß  sie  in  den  meisten  Fällen  sogar  innerhalb 
einer  Gruppe  irgendwie  begrifflich  verwandter  Wörter  bleiben.     Nie 
wird  etwa  ein  Substantiv  mit  einem  Verbum  verwechselt;  aber  sehr 
häufig      vertauscht      der      Parapha  tische      Wörter      wie      ,, stehen" 
und     ,, hängen",     ,, gehen"     und     ,, fahren",     ,, Tisch"     und     ,,  Stuhl" 
u.     dgl.       Diese    Vertauschungen     erklären     sich     unmittelbar    aus 
Assoziationen,      die     durch     jene      übereinstimmenden      Begriffs- 
gefühle   zustande    kommen,     durch    die  Wörter    gleicher    Gattung 
Verbunden    sind,    und    die    ihrerseits    mit   gewissen    übereinstimmen- 
den    Begriffselementen      zusammenhängen.        So      kann    man    sich 
z.    B.    die    Verwechslung    zwischen    „gehen"    und    ,, fahren"     durch 
ein    an    das     identische     Element     der    Fortbewegung     gebundenes 
Gefühl  Vermittelt  denken.     In  andern  Fällen  partieller  amnestischer 
Aphasie  sieht  man  nicht  minder  die  Assoziationen  der  Berührungs- 
elemente eine  große  Rolle  spielen.    So  ereignet  es  sich  häufig,  daß  ein 
Gegenstand  für  sich  allein  nicht  genannt  werden  kann,  daß  aber  sein 
Name  sofort  aufsteigt,  wenn  ein  anderes  Wort  gesprochen  wird,  mit 
dem  er  häufig  verbunden  vorkommt.    Ein  Patient  hatte  seinen  eigenen 

36* 


564  Die  Wortbildung. 


Namen  total  vergessen.  Nannte  man  seinen  Vornamen,  so  geriet  er 
in  heftige  Aufregmig,  ohne  daß  jedoch  sein  verzweifeltes  Suchen  Er> 
folg  hatte:  die  gewohnte  Berührung  der  Namen  erweckte  offenbar 
ein  gewisses  Bekanntheitsgefühl,  vermochte  aber  noch  nicht  das  Wort 
selbst  ins  Bewußtsein  zu  heben.  Dies  geschah  erst  in  dem  Augen- 
blick, wo  auch  der  Anfangsbuchstabe  des  Zunamens  genannt  wurde  ^). 
Analoge  Erscheinungen  begegnen  uns  sehr  oft  bei  den  noch  in  die 
Breite  des  normalen  Lebens  fallenden  Gedächtnisdefekten. 

Ganz  und  gar  in  der  Richtung  überall  wiederkehrender  Assozia- 
tionserscheinungen bewegt  sich  ferner  der  in  vielen  Beobachtungen 
amnestischer  Aphasie  zutage  tretende  Einfluß  der  Komplika- 
tionen der  Vorstellungen.  Eine  Vergessene  Wortvorstellung 
kann  wiedererweckt  werden,  wenn  irgendeine  ihr  assoziierte  eines 
andern  Sinnesgebiets  in  das  Bewußtsein  tritt.  Eine  besonders  wich- 
tige Rolle  spielen  dabei  die  Komplikationen  der  akustischen,  und  der 
optischen  Wortvorstellungen  sowie  beider  mit  den  Artikulations- 
empfindungen des  Sprechens  und  Schreibens.  So  konnte,  wie  oben 
bemerkt,  der  Kranke  Grasheys  (S.  552)  die  Worte  „schreibend  finden": 
die  Assoziation  des  Wortes  mit  dem  Schriftbild  sowie  die  des  letzteren 
mit  den  Schreibbewegungen  und  den  Von  ihnen  ausgelösten  Emp- 
findungen war  also  erhalten  geblieben,  und  mittelst  dieser  Empfin- 
dungen konnte  sich  dann  auch  für  einen  Augenblick  die  Assoziation 
mit  dem  Worte  wiederherstellen.  Zu  seinen  Schreibbewegungen  ver- 
hielt sich  hierbei  der  Kranke  ebenso  wie  zu  den  unmittelbar  gehörten 
Worten,  die  er  nachzusprechen  vermochte.  Infolge  besonderer  Kompli- 
kationsbedingungen konnte  aber  statt  des  dominierenden  Gesichts- 
sinnes auch  ein  anderes  Sinnesgebiet  die  Assoziationshilfe  leisten: 
so  konnte  er  zwar  die  Uhr  benennen,  wenn  er  sie  sah,  aber  eine  glatte 
Fläche  oder  die  Spitze  einer  Nadel  wurde  von  ihm  nur  als  ,, glatt" 
oder  ,, spitz"  bezeichnet,  wenn  er  sie  nicht  bloß  sah,  sondern  auch 
betastete^).  Bei  der  Aufstellung  dieser  Eigenschaften  ist  eben  der 
Tasteindruck  so  sehr  der  vorherrschende,  daß  er  sich  auch  noch  bei 


1)  H.  Gudden,  Neurologisches  Zentralblatt,  1900,  Nr.  1,  S.  11. 
^)  G.  Wolff,    Zeitschr.  für  Psycho!,  und  Physiol.  der  Sinnesorg.,    Bd.    15, 
S.   29. 


Psychologische  Deutung  der  zentralen  Sprachstörungen.  565 

dem  Kranken  als  die  mächtigere  Assoziationshilfe  erwies.     Zugleich 
spielt   hier   wohl    der  Umstand   eine    Kolle,    daß    das  Eigenschafts- 
wort    überhaupt     zu     seiner     deutlichen     Vergegenwärtigung     die 
Assoziation     mit    einer    bestimmten     Gegenstandsvorstellung     nötig 
hat,    und    daß    es    daher  stärkere  Assoziationshilfen    durch  gleich- 
zeitiges    Sehen     und     Tasten    fordert.    Diese    Anlehnung    an    den 
Gegenstand    wird    besonders    auch    durch    jene    weitere    Beobach- 
tung   belegt,    daß    dieser    Kranke    die    Frage    ,, welche    Farbe    hat 
das     Blut?"      erst     beim     Anblick     eines     Blutstropfens      beant- 
worten    konnte.       Die    Assoziation    zwischen     dem    Wort     ,,Blut" 
und    dem   Wort    ,,rot"    war    ihm    verloren    gegangen;    ebenso    war 
die    zwischen    dem    Wort    ,,Blut"    und    dem    Erinnerungsbild    des 
Blutes   so    schwach   geworden,    daß    er    sich    zwar    der  allgemeinen 
Bedeutung    des    Wortes    wahrscheinlich    infolge    weiterer    Assozia- 
tionen   mit    bluthaltigen    Organen   u.   dgl.  erinnerte,    daß   aber   das 
sinnliche     Erinnerungsbild      des     Blutes      selbst      nicht      mit     zu- 
reichender     Deutlichkeit      erweckt     wurde.      Auch     der     Anblick 
anderer   roter   Gegenstände   genügte   nicht:    hier    fehlte    wieder   die 
Assoziation    dieser    Gegenstände    mit    der    Vorstellung    des    Blutes; 
erst    diese    Vorstellung    selbst,     wenn     sie    in    der    unmittelbaren 
Wahrnehmung    gegeben    war,     vermochte    das    Wort    wachzurufen. 
Indem    hier    der    ganze    normalerweise    vorhandene    Komplex    von 
Assoziationen   mit  einer  einzigen   zerstört  ist,    erweist  sich  deutlich 
eben   diese   zurückbleibende   Assoziation   der   sinnlichen   Eigenschaft 
mit   dem   anschaulich   gegebenen   Träger   derselben   als   die   stärkste 
von  allen.     Zugleich  ist  in  diesem  Falle,  ebenso  wie  in  vielen  andern 
mit   relativ    stabil   bleibenden    oder   allmählich    sich    ausgleichenden 
Störungen,   die  intellektuelle  Arbeit  bemerkenswert,   durch   die  sich 
der  Kranke  Hilfsassoziationen  zu  Verschaffen  suchte.  Ähnlich  beobach- 
tet man  wohl  auch,  daß  Kranke  mit  Erfolg  bemüht  sind,  das  Verlorene 
durch  neue  Einprägung  wiederzugewinnen.     Das  sind  immer  solche 
Fälle,  in  denen  sich  die  Störung  auf  die  Lösung  gewisser  mechanisch 
eingeübter    Assoziationen    beschränkt,    während    die    intellektuellen 
Funktionen  relativ  ungestört  bleiben.     Sollten  also  auch,  wie  wir  an- 
gesichts  des   Einflusses   der   Erfahrungseindrücke    auf   die   Willens- 
entwicklung annehmen  müssen,  die  ursprünglichen  Willensrichtungen 


566  Die  Wortbildung. 


selbst  unter  der  Wirkung  der  Assoziationen  entstanden  sein,  so  muß 
doch  auf  Grund  jener  Ausgleichung  der  Assoziationsstörungen  durcli 
willkürliche  Anstrengung  angenommen  werden,  daß,  nachdem  einmal 
bestimmte  Willensrichtungen  vorhanden  sind,  diese  unabhängig  von 
ihrer  Assoziationsgrundlage  fortdauern  und  regulierend  und  wieder- 
herstellend in  die  Assoziationsvorgänge  eingreifen  können.  So  ent- 
hüllt sich  hier  ein  Kreislauf  der  Vorgänge,  der  im  normalen  Seelen- 
leben wegen  des  gleichförmigen  Fortschritts  aller  Entwicklimgen 
verborgener  bleibt.  Die  höheren  intellektuellen  Prozesse  sind  gleich- 
zeitig Wirkungen  und  Ursachen  der  niederen,  assoziativen.  Einer- 
seits entstehen  sie  aus  den  Verflechtungen  und  Verdichtungen,  die 
diese  in  der  Seele  eingehen  und  zurücklassen;  anderseits  aber  regu- 
lieren sie,  einmal  entstanden,  den  Strom  der  Assoziationen  und 
können  demzufolge  auch  unter  günstigen  Umständen  verloren 
gegangene  von  neuem  erzeugen  oder  durch  andere  stellvertretende 
ersetzen. 

Besonders  naheliegend  erscheint  eine  psychologische  Deutung 
endlich  bei  jenen  Erscheinungen,  die  eine  regelmäßige  Beziehung 
der  Abnahme  des  Wortgedächtnisses  zu  der  grammatischen  Stellung 
der  Wörter  erkennen  lassen.  Was  den  entscheidenden  Einfluß  aus- 
übt, kann  hier  natürlich  nicht  die  grammatische  Kategorie  als  solche, 
sondern  nur  der  psychologische  Charakter  des  Wortes  sein,  der  wiederum 
in  dem  Bewußtsein  selbst  direkt  nur  durch  das  begleitende  Begriffs- 
gefühl sich  verrät  und  hierdurch  erst  indirekt  mit  dem  für  den  gram- 
matischen Wert  des  Wortes  entscheidenden  Vorstellungsinhalt  des 
Begriffs  zusammenhängt.  Wenn  die  Reihenfolge,  in  der  die  Wörter 
vergessen  werden,  im  allgemeinen  von  solchen  mit  konkreter  sinnlicher 
Bedeutung  zu  denen  mit  abstrakterer  fortschreitet,  so  erklärt  sich 
aber  dies  aus  der  Wirksamkeit  der  Komplikationen.  Je  fester  ein  Wort 
mit  einer  bestimmten  sinnlichen  Vorstellung  assoziiert  ist,  um  so 
leichter  kann  es  aus  dem  Bewußtsein  verschwinden,  da  es  nun  ganz 
und  gar  durch  diese  Vorstellung  ersetzt  werden  kann.  So  vergessen 
wir  Eigennamen  uns  persönlich  bekannter  Personen  am  leichtesten, 
weil  uns,  wenn  wir  an  solche  Personen  denken,  zunächst  das  Bild  des 
Menschen  selbst  im  Bewußtsein  steht.  Den  Eigennamen  am  nächsten 
kommen  die  konkreten  Substantiva:  auch  der  Tisch,  der  Stuhl,  der 


Psychologische  Deutung  der  zentralen  Sprachstörungen.  567 

Baum  sind  mir  sofort  in  ihrer  gegenständlichen  Beschaffenheit  gegen- 
wärtig, und  ich  kann  mir  daher  diese  Gegenstände  vorstellen,  ohne 
mich  ihrer  Namen  zu  erinnern.  Etwas  weiter  in  der  Richtung  der 
Abstrakta  entfernen  sich  schon  die  konkreteren  Adjektiva,  und  noch 
mehr  die  konkreten  Verba.  Eigenschaften  wie  rot,  blau,  groß,  klein 
usw.  können  an  sehr  vielen  Objekten  und  darum  in  außerordentlich 
mannigfachen  einzelnen  Nuancen  vorkommen,  sie  bedürfen  also  schon 
in  höherem  Maße  des  Wortes,  um  sie  in  ihrer  allgemeinen  Natur  fest- 
zuhalten. Vollends  die  konkreten  Verbalbegriffe  können  zu  den  ver- 
schiedensten sinnlichen  Wahrnehmungsbildern  gehören.  Man  über- 
zeugt sich  Von  ihrer  abstrakteren  Natur  am  leichtesten,  wenn  man 
sie  mit  entsprechenden  Substantiven  vergleicht:  da  ist  ,, schneiden" 
abstrakter  als  „Schere",  „schlagen"  als  „Hammer"  usw.  Hier  kann 
daher  schon  viel  weniger  das  Wort  durch  die  Vorstellung  selbst  ver- 
drängt werden.  Das  steigert  sich  endlich  noch  bei  den  eigentlich  ab- 
strakten Begriffen,  welcher  Wortkategorie  sie  angehören  mögen,  und 
besonders  bei  den  Partikeln,  bei  denen  meist  das  Wort  allein  den  Be- 
griff vertritt,  und  wo  daher  dieser  gar  nicht  gedacht  werden  kann, 
ohne  daß  das  Wort  sich  einstellt.  Dazu  kommt  bei  den  Inter- 
jektionen der  Gefühlswert  der  Worte,  und  bei  vielen  Partikeln, 
wie  bei  den  meisten  Präpositionen  und  Konjunktionen,  neben  dem 
Einfluß  des  bei  ihnen  stark  ausgeprägten  ,, Begriffsgefühls",  die 
Häufigkeit  des  Gebrauchs,  die  ihnen,  den  selbständigeren  Bestand- 
teilen der  Rede  gegenüber,  den  Vorteil  der  größeren  Einübung 
verschafft^). 

Wie   der  Einfluß   der   Einübung   bei   diesen  häufig  gebrauchten 
Redeteilen  neben  andern  mit  der  Bildmig  der  Wortkomplikationen 


^)  Auf  den  psychologischen  Zusammenhang  der  bei  der  amnestischen 
Aphasie,  ebenso  wie  bei  dem  gewöhnlichen  Vergessen,  beobachteten  Bevorzugung 
bestimmter  Wortklassen  mit  der  Stellvertretung  der  Wörter  durch  assoziierte 
Vorstellungen  habe  ich  schon  vor  langer  Zeit  verschiedentlich  hingewiesen  („Gehirn 
und  Seele",  Deutsche  Rundschau,  XXV,  1880,  S.  6  ff.,  wieder  abgedruckt  Essays, 
1885,  S.  112  ff.  Grundzüge  der  Physiol.  Psychol.^  I,  S.  223,  1880,  I«,  S.  372). 
Ohne  diese  Arbeiten  zu  kennen,  hat  auch  B.  Delbrück  (Jenaische  Zeitschr.  für 
Naturwiss.,  XX,  1886)  eine  ähnhche  Erklärung  gegeben.  Über  die  Natur  des 
,, Begriffsgefühls'*  und  des  mit  ihm  verwandten  „Bekanntheitsgefühls"  vgl. 
Physiol.   Psychol.  III«,  S.  336,  546  f. 


568  Die  Wortbildung. 


zusammenliängenden  Motiven  sicli  geltend  macht,  so  spielt  er  übrigens 
noch  sonst  bei  den  Erscheinungen  der  Amnesie  eine  wichtige  Rolle. 
So  ist,  wenn  das  zu  einem  Gregenstand  gehörige  Wort  vergessen  ist, 
damit  keineswegs  immer  auch  die  umgekehrte  Assoziation  aufgehoben, 
sondern  bei  etwas  geringeren  Graden  der  Störung  wird  zu  dem  gehörten 
Wort  in  der  Regel  Vollkommen  sicher  der  Begriff  reproduziert.  Dies 
hat  nach  den  Assoziationsgesetzen  seinen  guten  Grund  darin,  daß 
wir  zu  einem  Wort,  sobald  uns  überhaupt  seine  Bedeutung  bekannt 
ist,  immer  die  zugehörige  Vorstellung,  daß  wir  aber  keineswegs  immer 
zu  einer  Vorstellung  das  sie  bezeichnende  Wort  assoziieren.  Jene  Asso- 
ziationsrichtung ist  also  die  eingeübtere:  sie  ist  gegenüber  der  ent- 
gegengesetzten ähnlich  bevorzugt  wie  etwa  die  Assoziation  der 
Buchstaben  in  der  von  a  bis  z  gerichteten  Reihenfolge  vor  der 
umgekehrten. 


IL  Psychologie  der  Wortvorstellungen. 
1.  Psychische  Struktur  der  Wortvorstellungen. 

Der  psychologischen  Untersuchung  der  Wortvorstellungen  tritt 
als  nächstes  Problem  die  Frage  nach  der  Zusammensetzung  dieser 
besonderen  Gattung  von  Vorstellungen  gegenüber,  an  welche  Frage 
sich  unmittelbar  die  andere  nach  der  Verbindungsweise  ihrer  Bestand- 
teile anschließt.  Da  es  Vorzugsweise  die  zentralen  Störungen  der  Wort- 
bildung sind,  in  denen  sich  die  Sprachfunktion  deutlich  in  ihre  Ver- 
schiedenen Bestandteile  zerlegt  und  zugleich  die  funktionellen  Wechsel- 
beziehungen derselben  erkennen  läßt,  so  bilden  jene  auch  für  die  Unter- 
suchung der  psychischen  Struktur  der  Wortvorstellungen  die  sicherste 
Grundlage. 

Was  sich  nun  bei  den  pathologischen  Sprachstörungen  im  all- 
gemeinen sofort  der  psychologischen  Betrachtung  aufdrängt,  das 
ist  die  Tatsache,  daß  das  Wort  ein  sehr  zusammengesetztes  psy- 
chisches Gebilde  ist,  das  zugleich  durch  diese  seine  komplexe  Be- 
schaffenheit in  hohem  Grade  befähigt  wird,  nach  den  verschiedensten 
Richtungen  Assoziationsbeziehungen  zu  vermitteln,  sowie  sich  selbst 


Psychische  Struktur  der  Wortvorstellungen.  569 

durch  die  Verbindungen  seiner  Teile  gegen  störende  Einwirkungen 
zu  erhalten.  So  bilden  neben  den  Sprachlauten  vor  allem  die  Artiku- 
lationsempfindungen einen  wobl  niemals  ganz  fehlenden,  namentlich 
aber  bei  der  Hemmung  anderer  Elemente  sehr  lebhaft  hervortreten- 
den Bestandteil.  Daneben  können  dann  noch  die  gewohnheitsmäßig 
gebrauchten  Schriftzeichen  des  Wortbildes  in  die  Verbindung  ein- 
geben, und  an  diese  optischen  Elemente  endlich  die  Artikulations- 
empfindungen der  Tastorgane  geknüpft  sein,  welche  die  Schreib- 
bewegungen begleiten.  Sind  gleich  diese  optischen  und  graphischen 
Bestandteile  in  der  besonderen  Ausprägung,  in  der  wir  sie  in  unserem 
Bewußtsein  vorfinden,  selbstverständlich  ein  spezifisches  Produkt 
der  Kultur,  das  schon  bei  den  des  Lesens  wenig  gewohnten  Mitgliedern 
der  gleichen  Kulturgesellschaft  zurücktritt,  so  haben  wir  doch  allen 
Grund  anzunehmen,  daß  es  selbst  in  dem  Bewußtsein  des  Wilden 
an  Äquivalenten  derselben  nicht  fehlt.  Denn  je  geringer  die  Fähig- 
keit wird,  das  Wort  in  Lautzeichen  graphisch  zu  fixieren,  um  so  leb- 
hafter pflegt  statt  dessen  die  Rede  von  Gebärden  begleitet  zu  sein, 
in  deren  pantomimischen  Bestandteilen  die  Assoziationen  unserer 
Schriftsymbole  in  entgegengesetzter  Richtung  wiederkehren  — ,  ent- 
gegengesetzt deshalb,  weil  bei  ihnen  die  Bewegungsempfindung  das 
Primäre,  das  Gesichtsbild  der  Bewegung  aber  das  Sekundäre  ist,  ganz 
wie  bei  der  eigenen  Hervorbringung  der  Sprachlaute,  wo  sich  eben- 
falls erst  beim  Nachsprechen  gehörter  Laute  die  Ordnung  umkehrt. 
In  dieser  erweiterten  Bedeutung  wird  man  demnach  in  jenen  panto- 
mimischen Bestandteilen  wieder  annähernd  regelmäßige,  in  ihrer  be- 
sonderen Gestaltung  und  in  ihrer  Intensität  freilich  weit  Veränder- 
lichere Elemente  der  Wortkomplikationen  sehen  dürfen.  Nennen  wir 
diese  wechselnderen  Elemente  den  graphischen,  die  beiden  kon- 
stanteren dagegen  den  Laut-  und  den  Begriffsbestandteil  des 
Wortes,  und  deuten  wir  diese  drei  Glieder  durch  die  Symbole  Z,  L 
und  B  an,  so  sind  hiernach  zunächst  L  und  Z  aus  zwei  Untergliedern 
zusammengesetzt,  L  aus  dem  akustischen  a  der  Lautvorstellung  und 
dem  motorischen  m  der  Artikulationsempfindung,  Z  aus  dem  optischen 
o  des  Wortzeichens  und  dem  motorischen  m'  der  zeichnenden  Bewegungs- 
empfindung. Nach  den  allgemeinen  Eigenschaften  der  Begriffsvor- 
stellungen ist  aber  B  ebenfalls  aus  zwei  Bestandteilen  gebildet:  aus 


570  I^ie  Wortbildung. 


der  objektiven  Vorstellung  v  und  dem  diese  begleitenden  Gefühls- 
ton  g.  Die  vollständige  Wortvorstellung  erscheint  so  als  eine  drei- 
teilige Komplikation  mit  je  binärer  Zusammensetzung  ihrer  Glieder: 

a  m  o  m  v  g. 

Innerhalb  dieser  Komplikation  müssen  wir  uns  nun  im  allgemeinen 
jedes  Glied  mit  jedem  andern  verbimden  denken,  so  daß  es  teils  direkt 
teils  indirekt  als  Assoziationshilfe  wirksam  werden  kann.  Ferner 
kann  jeder  Bestandteil  entweder  aller  seiner  Verbindungen  oder  bloß 
einzelner  verlustig  gehen;  und  endlich  kann  eine  Verbindung  total 
aufgehoben  oder  bloß  gestört  werden,  in  welchem  letzteren,  sehr 
häufigen  Falle  sich  eben  der  Ausfall  durch  Assoziationshilfen,  die 
durch    Einübung    allmählich    wirksamer    werden,    ausgleichen    kamu 


< — «» 


m 


rn'  ^  „  ^', 


Fig,  38.    Schema  der  sprachlichen  Assoziationen. 

Dabei  lehren  aber  schon  die  gewöhnlichen  Erfahrungen  und  zeigen 
noch  vollständiger  die  Sprachstörungen,  daß  die  Festigkeit  dieser 
einzelneli  Assoziationen  eine  erheblich  verschiedene  ist,  indem  sie 
teils  von  der  normalen  Übung,  teils,  bei  vorhandenem  Ausfall,  von 
der  kompensatorischen  Energie  der  Hilfsassoziationen  abhängt.  Ab- 
gesehen von  der  hierdurch  verursachten  Veränderlichkeit  der  Ver- 
bindungen dürfte  das  folgende  Schema  die  regelmäßigeren  Erschei- 
nungen mit  einiger  Vollständigkeit  erläutern  (Fig.  38).  In.  ihm  sind 
die  zwischen  den  einzelnen  Gliedern  der  Wortvorstellung  bestehenden 
Assoziationen  durch  verbindende  Linien  dargestellt.  Die  Dicke  der- 
selben  versinnlicht  die  Festigkeit  der  Assoziation,  die  daneben  an- 
gebrachten Pfeile  geben  deren  Richtungen  an.     Die  rechts  stehenden 


Psychische  Struktur  der  Wortvorstellungeii.  571 

Symbole  v  g  bedeuten  irgendeine  andere  Begriffsvorstellung,  die 
eventuell  mit  v  g  assoziiert  ist:  sie  soll  die  gelegentlich  vorkommen- 
den Einwirkungen  äußerer  Assoziationen,  namentlich  auch  solcher 
mit  Erinnerungsbildern,  veranschaulichen,  wobei  zu  beachten  ist, 
daß  ein  Erinnerungsbild  nach  allgemeiner  psychologischer  Erfahrung 
gegenüber  dem  Eindruck,  auf  den  es  zurückbezogen  wird,  ebenfalls 
eine  intensiv  wie  qualitativ  abweichende  Vorstellmig  ist. 

Als  die  festesten  Verbindungen  treten  uns  in  diesem  Schema, 
wenn  wir  durch  die  Stellung  der  Buchstaben  die  Richtung  der  Ver- 
bindungen andeuten,  am,  m  a,  ga  und  mm  entgegen;  die  zu  der 
letzteren  entgegengesetzte  Assoziationsrichtung  m  m'  ist  dagegen 
sehr  schwach:  wir  können  nicht  leicht  graphische  Wortsymbole  her- 
vorbringen, ohne  sie  sofort  mit  Bewegungen  der  Sprachorgane  zu 
assoziieren,  während  wir  leicht  Worte  artikulieren,  ohne  sie  mit  gra- 
phischen oder  Gebärdezeichen  zu  verbinden.  Sehr  innig  sind  auch 
die  Verbindungen  a  g  und  g  a :  das  eine  Vorstellung  begleitende  Be- 
griff sgefühl  macht  sich  deutlich  auch  dann  noch  geltend,  wenn  der 
Vorstellungsbestandteil  wirkungslos  geworden  ist,  und  ebenso  er- 
weckt der  Laut  ein  Begriffsgefühl,  wenn  er  die  zu  ihm  gehörige  Vor- 
stellung nicht  mehr  zu  erregen  Vermag.  Etwas  schwächer  sind  die 
Verbindungen  a  v  und  o  v,  und  gegenüber  ihnen  stehen  die  umgekehrten 
Richtungen  v  a  und  v  o,  sowie  diejenigen  zwischen  o  und  den  beiden 
Formen  der  Bewegungsempfindungen  m'  und  m  endlich  7n  m'  (im 
Gegensatz  zu  der  sehr  festen  Assoziation  m' m)  noch  weiter  zurück; 
zugleich  ist  die  Verbindung  o  m  in  der  Regel  eine  einseitige :  wir  asso- 
ziieren zu  Schriftbildern  Artikulationsbewegungen,  nicht  oder  doch 
nur  unter  besonders  günstigen  Bedingungen  der  Übung  umgekehrt 
jene  zu  diesen,  während  die  graphischen  Empfindungen  {tn)  ebenso- 
wohl durch  Wortbilder  erweckt  werden  wie  selbst  solche  anregen 
können  (o  m'  und  m'  o).  Einen  durch  die  Vielheit  der  Verknüpfungen 
begünstigten  Fall  bildet  schließlich  die  Assoziation  o  a  (optisches 
Wortbild  und  Laut) :  ist  aucli  die  direkte  Verbindung  o  a  relativ 
schwach,  so  wird  sie  doch  durch  die  Zwischenglieder  o  m  und  m  a 
wesentlich  unterstützt;  daher  denn  auch  das  Schriftzeichen  kaum 
anders  als  unter  gleichzeitigen  Artikulationsbewegungen  die  Laut- 
bildung anregt. 


572  Die  Wortbildung. 


Hinsichtlich  der  einzelnen  Formen  der  Sprachstörungen  ergibt 
sich  aus  diesem  Assoziationsschema  folgendes:  1)  Aufhebung  der  Ver- 
bindung a  m  ist  die  Grundlage  der  gewöhnlichen  „ataktischen  Aphasie" : 
diese  Störung  kann  erfahrungsgemäß  bestehen,  ohne  daß  die  andern 
Assoziationen  wesentlich  beeinträchtigt  sind.  2)  Aufhebung  der  Asso- 
ziation V  a  bewirkt  die  Symptome  der  gewöhnlichen  „amnestischen 
Aphasie".  Da  die  Verbindungen  v  a  und  a  m  beim  Sprechen  fort- 
während zu  koordinierter  Funktion  eingeübt  werden,  so  leidet  mit 
V  a  in  der  Regel  auch  a  m :  mit  amnestischer  ist  ataktische 
Aphasie  in  irgendeinem  Grade  verbunden.  3)  Auf  analogen, 
aber  von  den  vorigen  relativ  unabhängigen  Assoziationsunter- 
brechungen 0  m  oder  v  o  und  o  m  beruhen  die  Symptome  der 
,,Agraphie"  sowie  der  ,,Alexie",  bei  welcher  letzteren  ebenfalls 
Agraphie  als  Folgestörung  zu  bestehen  pflegt.  4)  Motorische 
Aphasie  kann  ohne  Schriftblindheit  existieren,  diese  aber  pflegt 
umgekehrt  mit  jener  verbunden  zu  sein;  dies  wird  durch  die  ein- 
seitige Verbindung  o  m  ausgedrückt,  die  der  eingeübten  Assoziation 
von  Sehen  und  Artikulieren  beim  Lesen  entspricht.  Auf  der  Ein- 
übung dieser  Verbindung  sowie  der  an  sich  schwächeren  o  m  beruht 
auch  die  pädagogisch  wichtige  Tatsache,  daß  Schreibbewegungen 
die  Worte  exakter  wiedergeben,  wenn  Laut  und  Schriftbild  gleich- 
zeitig, als  wenn  bloß  eines  von  beiden  einwirkt;  im  letzteren  Fall  sind 
eben  bloß  Assoziationen  a  m\  m  m  oder  o  m,  im  ersteren  sind  beide 
gleichzeitig  wirksam i).  5)  Erhaltung  der  Assoziation  am  beim  Hin- 
wegfallen aller  andern  Verbindungen  begründet  das  Phänomen  der 
„Echosprache".  Die  nur  durch  besondere  pathologische  Ursachen 
zu  störende  Festigkeit  dieser  Assoziation  entspricht  dem  hohen  Grade 
der  Einübung  in  dieser  Richtung.  6)  Eine  unter  beschränkteren  Übungs- 
bedingungen stehende,  dann  aber  nicht  minder  feste  Verbindung 
ist  m  m.  Ihre  Erhaltung  sowie  die  ihrer  Ergänzungen  v  o,  om  und 
ihrer  Fortsetzung  m  a  kann  beim  Ausfall  der  gewöhnlichen  Verbin- 
dung V  a  als  Assoziationshilfe  funktionieren :  in  diesem  Fall  erweckt 


1)  Vgl.  W.  A.  Lay,  Führer  durch  den  Rechtschreibunterricht,  1897,  S.  170. 
H.  Schiller,  Studien  und  Versuche  zur  Erlernung  der  Orthographie,  S.  54  ff. 
Abhandl.  zur  pädagog.  Psychol.  von  Schiller  und  Ziehen,  II,  1898. 


Psychische  Struktur  der  Wortvorstellungen.  573 

die  grapMsclie  Bewegung  zuerst  die  Mitbewegung  der  Artikulations- 
organe, und  diese  die  akustische  Wortvorstellung  (Fall  Grashey). 
7)  Die  an  sich  schwächere  umgekehrte  Assoziation  m  m  kann  sich, 
wenn  Unterbrechungen  derselben  eintreten,  in  analogen  Störungen 
der  Funktion  des  Schreibens  bemerklich  machen:  ataktische  Aphasie 
ist  daher  zuweilen  mit  völliger  Agraphie  oder,  wenn  die  Assoziationen 
o  m  und  a  m  kompensierend  eingreifen,  mindestens  mit  Schreib- 
störungen verbunden;  ebenso  werden  bei  Stotternden  nicht  selten 
die  Artikulationsstörungen  auf  die  graphischen  Bewegungen  über- 
tragen. 8)  Für  die  Assoziationen  x)  a  und  v  o  können  Assoziationen 
mit  ähnlichen  Vorstellungen,  v  g  a  und  v  g  o,  zu  welchen  letzteren 
auch  die  bloßen  Erinnerungsbilder  der  direkt  durch  äußere  Eindrücke 
erweckten  Vorstellung  v  gezählt  werden  müssen,  nur  mangelhaft 
Ersatz  leisten,  da  diese  Assoziationen  im  allgemeinen  die  geringste 
Wirkungsfähigkeit  besitzen.  Umgekehrt  kann  aber  das  durch  eine 
erinnerte  Vorstellung  nicht  ausgelöste  Wort  durch  die  Assoziation 
mit  einem  direkten  Sinneseindruck  reproduziert  werden.  9)  Die  Asso- 
ziation in  der  Richtung  a  v  ist  erheblich  fester  als  die  umgekehrte 
va,  entsprechend  der  konstanteren  Übung:  ein  bekanntes  Wort  kann 
nicht  gehört  oder  gesprochen  werden,  ohne  die  Vorstellung  des  Gegen- 
standes zu  erwecken,  während  diese  im  Bewußtsein  eventuell  für  sich 
allein  vorkommen  kann.  Gegenüber  der  verhältnismäßig  schwachen 
Assoziation  v  a  ist  jedoch  die  von  der  Gefühlskomponente  der  Vor- 
stellung ausgehende  Assoziation  g  a  relativ  stark.  Dies  erklärt  einer- 
seits die  bei  paraphatischen  Zuständen  Vorkommenden  Entgleisungen 
innerhalb  der  gleichen,  durch  das  Begriffsgefühl  zusammenhängen- 
den Wortkategorie,  anderseits.  Verbunden  mit  den  allgemeinen  Ge- 
setzen der  Übung  und  Mitübung,  die  Erscheinungen  des  progressiven 
Schwundes  der  Wortkategorien  bei  fortschreitender  Amnesie,  indem 
dabei  im  allgemeinen  die  Gefühlskomponente  um  so  mehr  hervor- 
tritt, je  unbestimmter  die  Vorstellungskomponente  ist,  bis  endlich 
die  letztere  durch  das  Wort  selbst  ersetzt  wird:  daher  die  Interjektionen 
einerseits  und  die  abstrakten  Partikeln  anderseits  am  längsten  be- 
harren. 

Lassen   sich  hiernach   die   wesentlichen    Störungen   der   Sprache 
ohne    Schwierigkeit    aus    den    allgemeinen    Assoziationsbedingungen 


574  Die  Wortbildung. 


ableiten,  so  ersieht  man  docli  ohne  weiteres,  daß  es  unmöglich  sein 
würde,  etwa  das  oben  gegebene  Assoziationsschema  in  ein  Schema 
von  Zentren  und  Leitungsbahnen  umgewandelt  zu  denken.  Einem 
solchen  Versuch  steht  schon  die  Tatsache  im  Wege,  daß  die  hier  dar- 
gestellten Verhältnisse  durchweg  als  Produkte  einer  assoziativen 
Übung  zu  deuten  sind,  die  individuell  erheblich  variieren  kann. 
Außerdem  weisen  aber  die  mannigfaltigen  Gradabstufungen  der 
Störungen  sowie  nicht  minder  die  Erscheinungen  der  Korrelation 
und  der  funktionellen  Aushilfe  überall  auf  verwickelte  Ver- 
bindungen elementarer  Funktionen  hin,  die  noch  dazu  fortwähren- 
den Veränderungen  durch  die  Ausübung  der  Funktionen  unter- 
worfen sind. 

Diese  Abhängigkeit  der  Wortkomplikation  von  der  Funktion 
selbst  sowie  von  den  Assoziationshilfen,  die  durch  den  Ausfall  be- 
stimmter Funktionsrichtungen  entstehen  und  durch  Einübung  be- 
festigt werden,  bringt  es  nun  natürlich  mit  sich,  daß  die  einzelnen 
Verbindungen,  aus  denen  sich  eine  vollständige  Wortvorstellung  zu- 
sammensetzt, von  Fall  zu  Fall  wechselnde  Verhältnisse  darbieten. 
Auch  wird  man  infolgedessen  die  in  dem  obigen  Schema  ausgedrückten 
Eigenschaften  der  vollständigen  Wortkomplikation  nur  mit  der  Ein- 
schränkung auf  das  normale  Bewußtsein  übertragen  dürfen,  daß  solche 
Assoziationen,  zu  deren  besonderer  Einübung  in  den  individuellen 
Lebensverhältnissen  kein  Anlaß  vorliegt,  latent  bleiben  oder  nur 
unter  speziellen,  sie  begünstigenden  Bedingungen  gelegentlich  aktuell 
werden. 

Außerdem  steht  das  Wort,  wie  jede  andere  Vorstellung,  infolge 
der  Assoziationsbeziehungen  zu  früheren  Erlebnissen  in  jedem  indi- 
viduellen Bewußtsein  in  bestimmten,  wiederum  nach  Zeitbedingungen 
wechselnden  Verbindungen,  die,  sobald  sie  wirksam  werden,  einen 
verändernden  Einfluß  auf  die  Wortvorstellung  ausüben  können.  Dieser 
Einfluß  macht  sich  bei  der  Wortbildung,  ebenso  wie  bei  der  Ent- 
stehung anderer  Vorstellungen,  besonders  deutlich  dann  geltend, 
wenn  von  außen  einwirkende  Sinnesreize  die  Vorstellung  er- 
wecken. Denn  bei  der  Einwirkung  eines  Sinneseindrucks  sind  wir 
im  allgemeinen  leicht  in  den  Stand  gesetzt,  diejenigen  Bestandteile 
der  Vorstellung,  die  unmittelbar  durch  den  Eindruck  erregt  werden 


Tachistoskopische  Methode.  575 

von  solchen  zu  scheiden,  die  nicht  auf  jenen  zurückzuführen  sind, 
die  sich  aber  aus  reproduktiven  Elementen  ableiten  lassen.  Hier 
fordern  daher  zahlreiche  auffallende  Beispiele  einer  Inkongruenz  von 
Vorstellung  und  Eindruck  von  selbst  zu  Beobachtungen  heraus,  die 
darauf  gerichtet  sind,  diese  bei  jeder  Vorstellungsbildung  wirksamen 
Assoziationen  zu  analysieren. 

2.  Tachistoskopische  Methode. 

Da  die  vollständige  Wortvorstellung  eine  Komplikation  aus 
jenen  drei  bzw.  sechs  Gliedern  ist,  die  wir  oben  symbolisch  mit  a  m  o 
m  V  g  bezeichnet  haben,  so  steht  es  frei,  welchen  der  beiden  auf  äußere 
Eindrücke  zurückgehenden  Bestandteile  a  und  o  dieser  Komplikation 
man  zur  willkürlichen  Erregung  einer  Wortvorstellung  bevorzugt. 
Doch  ist  hier  natürlich  derjenige  Eindruck  der  geeignetste,  der  am 
leichtesten  die  sämtlichen  andern  Bestandteile  wachruft:  dies  ist 
aber  vermöge  der  oben  entwickelten  Assoziationsbedingungen  bei 
solchen  Menschen,  denen  die  akustischen  und  optischen  Elemente 
der  Wortvorstellungen  gleich  geläufig  sind,  das  Schriftbild,  nicht 
der  Schalleindruck.  Allerdings  steht  in  einer  Beziehung  der  Gesichts- 
sinn hinter  dem  Gehörssinn  zurück.  Bei  diesem  gibt  es  keine  Gebiete, 
die  Von  viel  geringerer  Unterscheidungsschärfe  sind,  wie  beim  Auge 
die  peripheren  im  Verhältnis  zu  den  zentralen  Teilen  des  Sehfeldes. 
Doch  kommt  dieser  Nachteil  im  vorliegenden  Falle  nicht  in  Betracht. 
Denn  derjenige  Teil  der  Netzhaut,  mit  dem  wir  wegen  der  dichteren 
Anhäufung  der  Zapfenelemente  deutlich  genug  sehen,  um  Wörter 
vollkommen  simultan  zu  lesen,  ist  groß  genug,  um  bei  geeigneter 
Versuchseinrichtung  den  Umfang  der  Objekte,  die  wir  gleichzeitig 
mit  der  Aufmerksamkeit  erfassen  können,  noch  erheblich  zu  über- 
treffen. Während  nämlich  genau  in  der  Mitte  der  Netzhaut  zwei 
Punkte  unter  einem  Gesichtswinkel  von  60 — 90  Winkelsekunden 
oder,  in  Objektgrößen  ausgedrückt,  bei  1  Millimeter  Abstand  von- 
einander in  2% — 3^2  Meter  Entfernung  vom  Sehenden  noch  deut- 
lich bei  normaler  Sehschärfe  unterschieden  werden,  ist  diese  Raum- 
scTiwelle  zwar  2%  Grade  von  der  Netzhautmitte  schon  auf  etwa 
3  Winkelminuten,   also  auf  das  Zwei-  bis  Dreifache  jenes  Schwellen- 


576 


Die  Wortbildung. 


Werts  im  Zentrum,  gestiegen.  Diese  Größe  ist  aber  immer  nocli  klein 
genug,  um  z.  B.  das  Lesen  einer  größeren  Drucksclirift  in  angemessener 
Nälie  möglicli  zu  machen.  Erst  jenseits  dieser  Grenze  sinkt  die 
Unterscheidungsscliärfe  selir  rasch,  wie  dies  die  Fig.  39  ver- 
anschaulicht.    In   ihr   bedeutet   die   gerade   Linie   n  n    einen   durch 

das  Sehzentrum  c  ge- 
legten,^ horizontal  auf- 
gerollt gedachten  Netz- 
hautdurchschnitt. Die 
senkrechten  Ordina- 
ten  versinnlichen  den 
Grad  der  Sehschärfe 
an  jedem  Punkt.  Die 
Kurve,  die  diese  Ordi- 
naten  verbindet,  fällt 
demnach  im  ganzen 
sehr  rasch  von  ihrem 
der  Netzhautmitte 
entsprechenden  Maxi- 
mum, so  jedoch,  daß 
in  einem  etwa  4 — ^5^ 
umfassenden  zentra- 
len Gebiet  a  h  die 
Sehschärfe  zureichend 
groß  für  die  Unter- 
scheidung kleinerer 
Objekte  von  der  Größe 
unserer  Schriftsymbo- 
le bleibt.  Diese  ganze 
Region  a  h  bezeichnet 
man  daher  gewöhnlich 
als  die  des  zentralen  oder  direkten,  die  übrige  Netzhaut  von 
a  bis  n  und  von  h  bis  n  als  die  des  peripheren  oder  indirekten 
Sehens.  In  die  letztere  fällt,  als  ein  Gebiet  von  etwa  6^  im  Durch- 
messer auf  der  Nasenseite  der  Netzhaut  der  blinde  Fleck,  d.  h. 
diejenige  Stelle,  die,  dem  Eintritt  des  Sehnerven  entsprechend,  wegen 


Scliläfenseite 


Ifasenseitc 


-Tl' 


1 .     1 1    \ 1 I — I — -i- 

60    50    W     30     20    10     "  C^     70      20     30    W     SO     60 


Fig.  39.     Graphische  Darstellung  der  Sehschärfe 
im  direkten  und  indirekten  Sehen. 


Tachistoskopische  Methode.  577 


ihres  Mangels  an  Stäbchen-  und  Zapfenelementen  ganz  unempfindlich 
ist:  sie  ist  in  Fig.  39  durch  den  plötzlichen  steilen  Abfall  der  Ordinaten 
auf  Null  angedeutet^).  Hiernach  ist  die  Region  des  zentralen  Sehens 
groß  genug,  daß  auf  ihr  leicht  6 — 8  Wörter  von  mäßiger  Länge,  die 
man  über-  und  nebeneinander  auf  einem  in  richtiger  Sehweite  befind- 
lichen Blatt  anbringt,  sämtlich  gelesen  werden  können,  wenn  man 
eine  bestimmte  auf  dem  Blatt  angebrachte  Marke  fixiert.  Dabei  ist 
es  natürlich  nur  möglich,  die  einzelnen  Wörter  sukzessiv  zu  lesen, 
nidem  die  Aufmerksamkeit  von  einem  Worte  zum  andern  wandert. 
Zugleich  beobachtet  man,  daß,  während  ein  Wort  gelesen  wird,  die 
übrigen  Wörter  undeutlicher  gegenwärtig  sind.  Es  treten  aus  ihnen 
zuweilen  einige  Buchstaben  hervor,  aber  die  nicht  apperzipierten 
Wortvorstellungen  selbst  bleiben  dunkel:  sie  werden  perzipiert, 
nicht  apperzipiert.  Übrigens  lassen  auch  sie  in  ihrer  Deutlichkeit 
Grade  erkennen,  die  dadurch  bedingt  zu  sein  scheinen,  daß  es  im  Zu- 
stande der  Perzeption  noch  Abstufungen  der  Klarheit  gibt.  Diese 
Abstufungen  sind  aber  keineswegs  bloß  durch  die  Lage  des  Bildes 
auf  den  mehr  oder  minder  zentralen  Sehregionen,  sondern  sie  sind 
bei  diesen  Beobachtungen,  wo  überhaupt  nur  ein  beschränkter  zentraler 
Teil  des  Sehfeldes  verwendet  wird,  fast  ausschließlich  von  dem  will- 
kürlichen Wechsel  der  Apperzeption  abhängig.  Wenn  man  z.  B.  die 
Mitte  der  Tafel  fixierend  ein  seitlich  gelegenes  Wort  liest,  so  hat  man 
von  dem  zentral  gesehenen  nur  eine  dunkle  Vorstellung.  Bei  un- 
gezwungener Aufnahme  der  Wortbilder  pflegen  wir  jedoch  infolge 
der  fest  eingeübten  Beziehung  zwischen  Apperzeption  und  Fixation 
der  Objekte  regelmäßig  das  gelesene  Wort  auch  in  das  Zentrum 
der  Netzhaut  zu  bringen. 

Aus  diesen  psychophysischen  Bedingungen  und  aus  den  sonstigen 
durch  physiologische  Untersuchungen  bekannten  Eigentümlich- 
keiten der  Netzhauterregung  ergeben  sich  nun  die  für  die  experimen- 
telle Untersuchung  der  Entstehung  von  Wortvorstellungen  geeigneten 
Methoden  ohne  Schwierigkeit.  Um  den  im  Augenblick  der  Einwirkung 
der  Wortbilder   eintretenden   Apperzeptionsvorgang   von   den   in  der 


1)  Vgl.  A.  E.  Fick,  Archiv  für  Ophthalmologie,  Bd.  44,  1898,  S.  349.    N. 
Poschoga,  Psychol.  Stud.,  Bd.  6,  1910,  S.  384  fi 

Wundt,  Völkerpsychologie.     I.    4.  Aufl.  ''' 


578 


Die  Wortbildung. 


Zeit   nachfolgenden,    durcli   Wanderungen   der   Aufmerksamkeit   und 
Augenbewegungen    vermittelten    Auffassungen    zu    sondern,    bedient 

man  sich  am  besten 
einer  Vorrichtung,  die 
es  gestattet,  das  aufzu- 
nehmende Wortbild  ge- 
rade so  lange,  aber  auch 
nicht  länger  einwirken 
zu  lassen,  als  zu  einer 
einmaligen  Apperzep- 
tion erforderlich  ist. 
Die  Zeit  der  Einwir- 
kung darf  daher  weder 
unter  der  Grenze  der 
hierzu  überhaupt  not- 
wendigen Zeit  liegen, 
noch  darf  sie  über  die 
Grenze  gehen,  wo  eine 
Wanderung  der  Auf- 
merksamkeit eintreten 
könnte.  Ferner  muß 
das  ganze  Wortbild 
oder  die  Reihe  der 
Wortbilder,  die  man 
einwirken  läßt,  dem 
Bewußtsein  simultan, 
nicht  in  einer  merk- 
baren Aufeinanderfolge 
gegeben  werden.  Diese 
Anforderungen  erfüllt 
das  in  Fig.  40  abgebil- 
dete Fall-Tachistoskop. 
Es  besteht  im  wesent- 
lichen aus  einem  auf 
einem    Fußbrett    senk- 

^.     ,^     T.  ,1  rt.    , .  .    ,  recht  stehenden  starken 

Flg.  40.     Fall-Tachistoskop. 


Tachistoskopische  Methode.  579 

Messingrahmen  von  1  Meter  Höhe,  zwischen  dessen  vertikalen  Säulen 
sich  in  zwei  Rinnen  möglichst  reibungslos  ein  Schlitten  S  von 
geschwärztem  Eisenblech  bewegt.  In  diesem  als  Fallschirm  dienen- 
den Blech  befindet  sich  eine  rechteckige,  der  Exposition  des 
Objekts  bestimmte  Öffnung,  deren  Höhe  durch  einen  Schieber  von 
annähernd  10  cm  Querdurchmesser  beliebig  von  Null  an  auf  etwa 
50  cm  verstellt  werden  kann.  Vor  Beginn  jedes  einzelnen  Versuchs 
ist  der  Fallschirm  in  die  Höhe  geschoben,  so  daß  der  oben  an  ihm  be- 
findliche eiserne  Anker  A  von  den  zwei  kleinen  Elektromagneten  E 
festgehalten  wird.  Das  Sehobjekt,  welches  in  der  Figur  aus  einem  auf 
einem  Karton  gedruckten  Wort  (Empfindung)  besteht,  und  welches 
zwischen  zwei  dicht  hinter  den  Schirmvorrichtungen  befindlichen 
Federn  festgehalten  wird,  ist  in  jener  Ausgangslage  durch  ein  eben- 
falls geschwärztes  Schutzblech  B  verdeckt,  das  in  seiner  Mitte,  genau 
der  Mitte  des  Sehobjekts  entsprechend,  eine  kleine  weiße  Fixiermarke 
hat,  und  das  ebenfalls  durch  Federn,  aber  nur  lose,  festgehalten  wird. 
Im  Augenblick,  wo  der  Schirm  S  beim  Herabfallen  auf  den  oberen 
Rand  von  B  trifft,  wird  dieses  daher  in  ein  unten  befindliches 
Fangschild  F  geschoben,  das  sich  dicht  Vor  den  zur  Aufnahme 
des  Schirmes  S  bestimmten  Fangfedern  C  befindet.  In  Fig.  40 
ist  der  Augenblick  dargestellt,  wo  der  Schirm  S  so  weit  gefallen 
ist,  daß  seine  Öffnung  0  gerade  vor  dem  Sehobjekt  steht  und 
das  Schutzblech  B  im  Herabgleiten  begriffen  ist.  Weiterhin  ist 
noch,  um  die  Geschwindigkeit  der  Fallbewegung  früher  oder 
später,  namentlich  aber  gegen  Ende  der  Fallzeit  vermindern  zu 
können,  mit  dem  Schirm  S  eine  Atwoodsche  Einrichtung  ver- 
bunden. Der  an  S  befestigte  Faden  /  ist  nämlich  über  ein  mög- 
lichst reibungslos  zwischen  Spitzen  laufendes  Rad  R  geschlungen, 
um  auf  der  andern  Seite  in  einem  kleinen  Gewichte  p  zu  endigen. 
Dieses  hebt,  sobald  es  den  an  einer  Skala  verschiebbaren  und  fest- 
zuschraubenden Ring  t  passiert,  ein  auf  diesem  befindliches  zweites 
Gewicht  q  in  die  Höhe.  Durch  geeignete  Variation  der  Öffnung  0 
und  der  Gewichte  f  und  q  läßt  sich  nun  leicht  die  Zeit  der  Exposition 
des  Sehobjekts  zwischen  0,005  und  0,050  Sek.  variieren.  Zur  Beobach- 
tung dient  ein  schwach  oder  gar  nicht  vergrößerndes  astronomisches 
Femrohr  mit  Fadenkreuz,  welches  letztere  man  bei  Beginn  des  Ver- 

37* 


580  Die  Wortbildung. 


suchs  auf  den  Fixierpunkt  des  Scliirmes  B  einstellt.  Wegen  der  durch 
das  Femrohr  erzeugten  Umkehrung  der  Bilder  müssen  auch  die  Seh- 
objekte,  wie  die  Figur  zeigt,  in  umgekehrter  Stellung  eingesetzt  wer- 
den. Die  Geschwindigkeit  der  Bewegung  wählt  man  am  zweck- 
mäßigsten so,  daß  die  Sehobjekte  etwa  während  einer  Zeit  von 
0,01  Sek.  sichtbar  sind.  Bei  dieser  Geschwindigkeit  kann  man 
sicher  sein,  daß  ebenso  jede  Bewegung  des  Auges  wie  jedes  Wan- 
dern der  Aufmerksamkeit  unmöglich  ist^).  Wählt  man  die  Zeit 
des  Eindrucks  wesentlich  kürzer,  so  ist  das  Bild  zu  flüchtig,  um 
überhaupt  ein  Erkennen  irgendwelcher  Teile  des  Gegenstandes  zu 
ermöglichen.  Wählt  man  sie  länger,  so  erhält  man  nicht  mehr 
einen  annähernd  momentanen,  sondern  einen  länger  dauernden 
Eindruck,  und  die  Bedingungen  gehen  daher  in  die  des  gewöhnlichen 
Lesens  über  2). 

3.  Erscheinungen  bei  kurz  dauernder  Einwirkung 
von  Wortbildern. 

Bietet  man  in  der  angegebenen  Weise  im  Tachistoskop  die  op- 
tischen Wortbilder  der  Sprache  und  ihre  Bestandteile,  die  Buch- 
staben, in  den  durch  unsere  Lesegewohnheiten  bevorzugten  Formen 
dem  Auge,  so  beobachtet  man  die  folgenden,  zuerst  von  Cattell  be- 
schriebenen Erscheinungen.  Bei  den  ersten  Versuchen,  die  ein  Beobach- 
ter ausführt,  vermag  er  in  der  Regel  nur  Fragmente  eines  Wortes  auf- 
zufassen. Ist  aber  die  geeignete  Versuchsübung  eingetreten,  so  apper- 
zipiert  er  ein  kürzeres  Wort  nicht  selten  ohne  Schwierigkeit  mit  einem 
Mal  entweder  schon  bei  der  ersten  Darbietung  oder  bei  mehrmaliger 


^)  Diese  Zeitbestimmung  gilt  für  normale  Sehschärfe.  Ist  diese  vermindert, 
so  ist  es  notwendig,  mit  der  Expositionszeit  auf  0,015 — 0,020"  zu  steigen. 

*)  Wahrscheinlich  ist  dieser  Grenzfall  bereits  erreicht  in  den  von  B.  Erd- 
mann  und  R.  Dodge  ausgeführten  tachistoskopischen  Versuchen  (Psychologische 
Untersuchungen  über  das  Lesen,  1889,  S.  94  ff.).  Die  Verff.  bedienten  sich  näm- 
lich erstens  künstlicher  Lichtquellen,  nicht  des  wegen  seiner  günstigen  Adaptions- 
verhältnisse und  der  relativ  kürzesten  Dauer  der  Nachbilder  unbedingt  zu  bevor- 
zugenden Tageslichts;  und  sie  wählten  durchgängig  die  sehr  lange  Einwirkungs- 
zeit von  0,1'*.  Es  ist  daher  begreif hch,  daß  ihnen  die  meisten  der  unten  zu  er- 
wähnenden Assimilationserscheinungen  entgangen  sind. 


Erscheinungen  bei  kurz  dauernder  Einwirkung  von  Wortbildem.        581 

Wiederholung  des  Eindrucks.  Dabei  spielt  jedoch  der  Umstand,  ob 
das  Wort  mehr  oder  minder  geläufig  ist,  eine  sehr  große  Rolle.  Während 
ein  geläufiges  Wort  leicht  beim  ersten  Male  gelesen  wird,  bedarf  ein 
vmgewohntes  oder  unbekanntes  stets  einer  öfteren  Wiederholung. 
Noch  mehr  gilt  dies  von  sinnlosen  Buchstabenkombinationen.  Richtet 
man  endlich  den  Versuch  so  ein,  daß  man  bei  einem  gegebenen  Objekt 
die  Einwirkungszeit  so  lange  von  Null  an  zunehmen  läßt,  bis  dasselbe 
erkannt  wird,  so  ergibt  sich,  daß  die  kürzeste  Zeit,  die  nötig  ist,  für 
einen  Buchstaben  geläufiger  Druckschrift  mindestens  ebenso  lange 
dauert  wie  für  ein  bekanntes  kürzeres  Wort,  ja  daß  das  letztere  in 
der  Regel  leichter  und  fehlerloser  gelesen  wird  als  der  erste.  Substi- 
tuiert man  ferner  in  einem  Wort  einzelne  falsche  den  richtigen  Buch- 
staben, so  wird  der  Fehler  nicht  nur  sehr  häufig  nicht  bemerkt,  son- 
dern man  hat  sogar  den  Eindruck,  die  nicht  existierenden,  durch  an- 
dere ersetzten  Buchstaben  ebenso  deutlich  zu  sehen  wie  die  wirklich 
vorhandenen^). 

Diese  allgemeinen  Ergebnisse  gewinnen  nun  weiterhin  in  den 
im  Verlaufe  der  Versuche  zu  machenden  Beobachtungen  über  die  Art, 
wie  das  zuerst  imvoUkommen  gesehene  Bild  allmählich  in  ein  deut- 
liches übergeht,  eine  wichtige  Ergänzung^).  Wird  ein  zwischen  den 
geläufigsten  und  den  ganz  ungewohnten  Wortbildern  imgefähr  in  der 
Mitte  stehendes  Wort  dargeboten,  so  bemerkt  in  der  Regel  auch  der 
geübte  Beobachter  beim  ersten  Versuch  nur  vereinzelte  Teile  des 
Bildes,  etwa  3—4  Buchstaben,  deutlich;  von  den  übrigen  hat  er  den 
Eindruck,  daß  irgendwelche  Buchstaben  vorhanden  seien,  er  vermag 
sie  aber  nicht  zu  erkennen.  Von  einem  Worte  wie  z.  B.  Aprikose  er- 
hält man,  wenn  wir  die  undeutlich  perzipierten  Teile  des  Bildes  durch 
Punktierung  andeuten,  etwa  ein  Bild  wie  Äp  .  .  ä;  .  .,  Ap  ,  ik  .  .  ., 
Ap  ,  ,  k  .  ,  e  u.  dgl.,  wobei  sich  zumeist  die  durch  besondere  Merkmale 
ausgezeichneten   Buchstaben,    z.    B.   die  großen   Anfangsbuchstaben, 


1)  J.  M.  Cattell,  Philos.  Stud.,  Bd.  3,  1886,  S.  95  ff.  Vgl.  bes.  S.  111  f., 
123  f. 

2)  Das  Folgende  hau^sächlich  nach  den  Versuchen  von  Jul.  Zeitler,  Tachi- 
stoskopische  Untersuchungen  über  das  Lesen,  Phil.  Studien,  Bd.  16,  1900,  S.  380  ff. 
Physiol  PsychoL,  III«,  S.  573  ff. 


582  Die  Wortbildung. 


die  ober-  und  un terzeiligen  Typen,  vorzugsweise  zur  Apperzeption 
drängen.  Wiederholt  man  dann  den  Versucli,  so  treten  ein  zweites 
Mal  nocli  weitere  Elemente  hinzu,  oder  es  wird  auch  sofort 
das  ganze  Wort,  wie  beim  gewöhnlichen  Lesen,  als  ein  simultan 
gegebenes  Ganzes  wahrgenommen.  Jedenfalls  tritt  dies  aber 
bei  einer  der  folgenden  Darbietungen  ein.  Wählt  man  dagegen 
oft  gebrauchte  "Wörter,  so  kann  es  sich,  namentlich  bei  kürzeren 
Wortbildungen,  leicht  ereignen,  daß  sofort  bei  der  ersten  Ein- 
wirkung das  ganze  Wort  vollkommen  klar  gesehen  wird.  Das 
nämliche  kann  sogar  bei  längeren  Wörtern  eintreten,  falls  sie 
nur  sehr  geläufig  sind,  etwa  mit  dem  gewohnten  Vorstellungs- 
kreis des  Beobachters  oder  den  Gegenständen  der  unmittelbaren 
Beschäftigung  in  naher  Beziehung  stehen,  wie  z.  B.  ,, Aufmerk- 
samkeit", ,, Bewußtseinszustand'*  u.  dgl.  Wendet  man  umgekehrt 
ganz  unbekannte  oder  sinnlose  Buchstabenverbindungen  an,  so 
ist  die  Grenze  des  überhaupt  erreichbaren  Apperzeptionsumfangs 
weit  enger  gesteckt,  und  es  kommen  überaus  leicht  Verlesungen  vor, 
namentlich  in  der  Weise,  daß  irgendein  bekannteres  Wort,  das  einige 
Buchstaben  mit  dem  unbekannten  gemein  hat,  diesem  substituiert 
wird.  Dabei  steht  nicht  nur  bei  kürzeren  Wörtern  das  falsch  gelesene 
genau  ebenso  deutlich  vor  dem  Bewußtsein  und  also  scheinbar  vor 
dem  äußeren  Auge  wie  das  richtig  gelesene,  sondern  dies  gilt  bei 
größeren  Wortbildern  auch  von  solchen  Teilen  des  Wortes,  die  jen- 
seits der  Region  des  direkten  Sehens  liegen:  hier  erweitert  sich  also 
das  Gebiet  der  scheinbar  deutlichen  Wahrnehmung  über  die  durch 
die  Struktur  der  Netzhaut  gesetzten  Grenzen  des  Sehens  hinaus. 
Besonders  leicht  werden  aber  Verlesungen  hervorgerufen,  wenn  man 
nur  einzelne  willkürliche  Abweichungen  von  einem  geläufigen  Wort- 
ganzen einführt:  dann  ist  die  Substitution  richtiger  für  falsche  Sym- 
bole die  Regel,  falls  man  nicht  gerade  solche  Buchstaben  vertauscht, 
die  eine  hervortretende  Rolle  als  Merkmale  des  Wortes  spielen.  Eine 
beachtenswerte,  namentlich  bei  bekannteren  Wörtern  zuweilen  auf- 
tretende Erscheinung  ist  endlich  noch  die,  daß  man  bei  der 
ersten  Einwirkung  nur  einzelne  Zeichen  deutlich  sieht,  die 
übrigen  dunkel,  hierauf  aber  einen  Moment  nachher,  wenn  das 
Sehobjekt    selbst  schon   verdeckt  ist,    plötzlich   das  Wort  vor  dem 


Erscheinungen  bei  kurz  dauernder  Einwirkung  von  Wortbiidem.        583 

Bewußtsein  steht.  Auch  in  diesem  Fall  erscheint  es  jedoch  nicht 
wie  ein  bloßes  Erinnerungsbild,  sondern  deutlich  wie  ein  wirklicher 
Eindruck. 

Diese  Beobachtungen  zeigen,  daß  es  bei  irgendwie  zusammen- 
gesetzteren Sehobjekten  niemals  der  äußere  Eindruck  allein  ist, 
den  wir  apperzipieren,  sondern  daß  dieser  stets  mit  reproduk- 
tiven Elementen  zusammenwirkt,  die  sich  mit  ihm  zu  einer 
einheitlichen,  in  ihren  direkten  und  reproduktiven  Teilen  gar 
nicht  zu  unterscheidenden  Wort  vor  Stellung  verbinden.  Was  dem 
Eindruck  entnommen  wird,  das  sind  zunächst  gewisse  domi- 
nierende Elemente,  die  ihre  Bevorzugung  meist  äußeren  Eigen- 
schaften, zuweilen  aber  auch  subjektiven  Bedingungen,  sei  es 
ihrer  größeren  Geläufigkeit,  sei  es  der  zufälligen  Richtung  der 
Aufmerksamkeit,  verdanken.  Diese  dominierenden  Elemente  wer- 
den deutlich  apperzipiert,  alle  übrigen  Teile  des  Gegenstandes 
werden  nur  dunkel  perzipiert.  Augenscheinlich  gewährt  jedoch 
diesen  letzteren  die  Gruppe  der  dominierenden  Elemente  eine 
wirksame  Assoziationshilfe:  sie  verbinden  sich  daher  nun  mit 
reproduktiven,  die  durch  jene  dominierenden  Teile  in  das  Be- 
wußtsein gehoben  werden.  So  ist  die  endlich  zustande  kommende 
Wortvorstellung  das  Produkt  einer  Assimilation  der  dar- 
gebotenen Eindrücke  durch  die  disponibeln  Reproduk- 
tionselemente, wobei  aber,  wie  besonders  die  Erscheinungen  des 
Verlesens  zeigen,  ebenso  die  direkten  auf  die  reproduktiven  Elemente 
wie  diese  auf  jene  einwirken:  die  direkten  erwecken  die  reproduktiven, 
und  diese  verdrängen  die  ihnen  ungleichen  Bestandteile  des  Emp- 
findungseindrucks, deren  Stellen  sie  einnehmen.  Jede  Wortapper- 
zeption erfolgt  also  immer  erst  auf  Grund  einer  assoziativen  Wechsel- 
wirkung direkter  und  reproduktiver  Elemente,  und  je  nach  den  be- 
sonderen Bedingungen  können  bald  jene,  bald  diese  in  dem  entstehen- 
den Endprodukt  überwiegen.  Dieser  Vorgang  der  Assimilation  und 
Apperzeption  erfolgt  ferner  im  allgemeinen  simultan,  d.  h.  in 
einer  für  uns  un wahrnehmbaren  Zeitfolge.  Doch  kann  in  besonderen 
Fällen,  wo  die  Assimilationsprozesse  ungewöhnliche  Hemmungen 
erfahren,  für  einzelne  Teile  des  Vorgangs  eine  Zeitfolge  bemerkbar 
werden. 


584  Die  Wortbildung. 


4.  Das  Wort  als  simultane  Vorstellung. 

Abgesehen  von  diesen  durch  besondere  Verhältnisse  herbei- 
geführten Hemmungen  ergibt  sich  aus  den  obigen  Beobachtungen, 
daß  ein  bekanntes  Wort  in  der  Regel  unmittelbar  als  ein  einheit- 
liches Ganzes  simultan  apperzipiert,  nicht  erst  aus  seinen 
Bestandteilen,  den  Buchstaben  oder  Lauten,  in  unserer  Vorstellung 
zusammengefügt  wird.  Vielmehr  fassen  wir  diese  Bestandteile  zumeist 
überhaupt  nicht  als  Teile,  sondern  als  Merkmale  des  Ganzen  auf. 
Nur  wenn  das  Wort  ein  größeres,  selbst  wieder  aus  mehreren  Wörtern 
zusammengesetztes  Gebilde  ist,  das  die  Grenzen  des  Umfangs  der 
Apperzeption  überschreitet,  wird  es  Gegenstand  einer  sukzessiven 
Apperzeption.  Immer  ist  aber  dabei  das  einzeln  Apperzipierte  ein 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  selbständiges  Wortgebilde,  das  für  sich 
schon  Assoziationen  einzugehen  vermag.  Ein  ähnliches  Verhältnis, 
%vie  der  einzelne  Laut  oder  sein  optisches  Zeichen  zum  Wort,  zeigt 
dann  wiederum  das  Wort  zum  Satze.  Auch  der  Satz  kann,  falls  er 
nicht  durch  seinen  Umfang  die  Grenzen  der  simultanen  Apperzeption 
überschreitet,  als  ein  Ganzes  aufgefaßt  werden.  Aber  dieses  um- 
fassendere Ganze  hat  einen  loseren  Zusammenhang  als  das  einzeln 
aufgefaßte  Wort,  und  der  Umfang,  um  den  die  Verbindung  der  Wörter 
zum  Satze  das  Gebiet  der  simultanen  Apperzeption  erweitert,  ist 
daher  ein  relativ  kleiner. 

Es  könnte  scheinen,  als  wenn  mit  diesen  Ergebnissen  der  Ver- 
suche über  momentane  Apperzeption  zwei  bekannte  Tatsachen  im 
Widerspruch  stünden:  erstens,  daß  der  Lauteindruck  eines  Wortes 
in  der  Regel,  namentlich  bei  allen  mehrsilbigen  Wörtern,  kein  simul- 
taner, sondern  ein  sukzessiver  ist;  und  zweitens,  daß  wir  zur  Hervor- 
bringung optischer  Wortbilder,  nicht  bloß  bei  den  Formen  der  Laut- 
schrift, sondern  auch  bei  der  primitiveren  Bilderschrift,  einer  Suk- 
zession Von  Bewegungen  bedürfen,  da  ja  das  Bild,  ebenso  wie  die  ihm 
verwandte  zeichnende  Gebärde,  nur  allmählich  entstehen  kann.  Auf 
diesen  beiden  Tatsachen  beruht  denn  wohl  auch  die  verbreitete 
Meinung,  Sprechen  wie  Hören,  Schreiben  wie  Lesen  seien  für 
unsere  psychische  Tätigkeit  in  ganz  derselben  Weise  sukzes- 
sive   Vorgänge,     wie    die     äußeren     Artikulations-     und     Schreibe- 


Das  Wort  als  simultane  Vorstellung.  585 

bewegungen  solclie  sind.  Nichtsdestoweniger  ist  dies,  wenn  man 
von  gewissen  Fällen  des  verständnislosen  Nachsprechens  und 
des  absichtlichen  oder  angelernten  lautierenden  und  buchstabieren- 
den Lesens  absieht,  ein  Irrtum.  Bei  der  Auffassung  eines  Wortes 
gelangen  zwar  die  Laute  in  einer  bestimmten  Aufeinanderfolge 
zu  unserem  Ohr;  doch  das  Wort  als  solches,  in  seiner  unmittel- 
baren Assoziation  mit  einer  bestimmten  Begriffsvorstellung,  apper- 
zipieren  wir  in  einem  einzigen  simultanen  Akt.  Bereitet  die 
Auffassung  Schwierigkeiten,  z.  B.  bei  einer  fremden  Sprache  oder 
einem  ungewohnten  Worte,  so  kann  dieser  zwar  dem  sukzessiven 
Hören  aller  Wortbestandteile  nachfolgen,  bei  der  Auffassung  eines 
wohlbekannten  Wortes  ist  er  aber  entweder  mit  dem  letzten  ge- 
hörten Laut  gleichzeitig  oder  er  tritt,  bei  längeren  Wörtern,  schon 
etwas  früher  ein.  Letzteres  geschieht  besonders  dann,  wenn  die 
Verbindung  der  EinzelVorstellung  des  Wortes  mit  der  im  Satze 
ruhenden  Gesamtvorstellung  auf  den  Begriff  hinweist,  der  im 
Wort  ausgedrückt  ist.  Ebenso  ist  beim  Sprechen  die  Wort- 
vorstellung als  solche  ein  simultaner  Akt,  nur  daß  dieser  nicht, 
wie  beim  Hören,  nachfolgt,  sondern  den  Artikulationsbewegungen 
vorangeht.  Dabei  finden  sich  dann  freilich  hier  wie  dort  die 
einzelnen  Bestandteile  der  Wortkomplikation  nicht  in  gleicher 
Weise  simultan  im  Bewußtsein,  sondern  der  eigentliche  Akt 
der  momentanen  Apperzeption  trifft  vor  allem  die  Bedeutungs- 
komponente, den  an  das  Wort  gebundenen  Begriff.  Mit  dieser 
zugleich  wird  aber  einer  der  Lautbestandteile,  im  allgemeinen 
derjenige,  der  im  Moment  jener  Begriffsapperzeption  gerade  aus- 
gesprochen oder  gehört  wird,  apperzipiert.  Die  übrigen  befinden 
sich  in  einem  etwas  verdunkelten,  wenn  auch  immer  noch  hin- 
reichend deutlichen  Zustande,  daß  das  ganze  Wort  selbst  nach 
seinem  Lautgehalt  als  simultan  aufgefaßt  erscheint.  Genau  wie  der 
Sprechende  Verhält  sich  endlich  der  Schreibende,  sobald  ihm  das 
Schreiben  eine  eingeübte,  auf  festen  Assoziationen  beruhende  Tätig- 
keit geworden  ist:  die  Wortvorstellung  geht  der  schreibenden  Re- 
produktion des  Wortbildes  voraus.  Da  sie  aber  dieser  im  allgemeinen 
als  Lautvorstellung  vorausgeht  und  die  Lautartikulationen  weit 
schneller  ablaufen  als  die  Schreibbewegungen,  so  halten  beide  meist 


586  Die  Wortbildung. 


nicht  gleichen  Schritt.  Der  Schreibende  muß  seine  vorauseilenden 
Wortvorstellungen  gewaltsam  hemmen,  oder  es  widerfährt  ihm,  daß 
im  Schriftbilde  später  kommende  Wortbestandteile  oder  selbst  ganze 
Worte  antizipiert  werden.  Das  begegnet  begreiflicherweise  am  leich- 
testen teils  solchen  Personen,  denen  das  Schreiben  eine  wenig  ge- 
wohnte Tätigkeit  ist,  teils  aber  auch  solchen,  die  in  hohem  Grad  an 
die  freie  Rede  gewöhnt  sind.  Nächst  den  des  Schreibens  wenig  Kun- 
digen und  den  Imbezillen  sind  daher  die  Redner  die  schlechtesten 
Abschreiber.  In  jeder  Beziehimg  am  günstigsten  verhält  sich  hin- 
sichtlich der  möglichst  vollkommenen  Gleichzeitigkeit  aller  bei  der 
Wortapperzeption  beteiligten  Funktionen  das  geübte  Lesen.  Hier 
ist  der  Gesichtssinn  dem  Gehör  wie  den  Lautartikulationen  dadurch 
überlegen,  daß  er  eine  Anzahl  simultan  im  Raum  gegebener  Vor- 
stellungsobjekte auch  simultan  zur  Empfindung  bringt.  Bei  ihm  kann 
daher  mit  der  entscheidenden  Begriffsapperzeption  jedesmal  die  Auf- 
fassung des  zugehörigen  optischen  Wortbildes  zusammenfallen.  Von 
dem  Lesen  gilt  deshalb,  wenn  diese  Bedingung  Vollkommener  Übung 
erfüllt  ist,  mehr  als  von  irgendeiner  andern  Art  der  Sprachfunktion, 
daß  bei  ihm  die  Apperzeption  von  Wort  und  Begriff  einen  einzigen 
Akt  bildet^).  Deshalb  bietet  er  auch  am  häufigsten  diejenige  Erschei- 
nung dar,  welche  die  simultane,  aus  direkten  und  reproduktiven  Ele- 
menten gemischte  Bildung  der  Wortvorstellungen  deutlich  zur  An- 
schauung bringt:  die  falsche  Assimilation  und  Apperzeption  der 
Worte.  Diese  besteht  aber,  wie  die  tachistoskopischen  Versuche  lehren, 
keineswegs  etwa  darin,  daß  ein  Teil  des  gelesenen  Wortes  ungenau 
wahrgenommen  und,  wie  man  unter  Anwendung  der  bekannten  vul- 
gärpsychologischen Interpretation  gemeint  hat,  durch  eine  „Ver- 
mutung" ergänzt  wird,  sondern  der  falsch  gelesene  Bestandteil  wird 


^)  Die  hiermit  eng  zusammenhängende  Tatsache,  daß  zu  Wörtern  ver- 
bundene Schriftzeilen  in  so  viel  größerer  Zahl  als  unverbundene  simultan  apper- 
zipiert  werden  können,  hat  man  aus  der  bekannten  Erfahrung  zu  erklären  gesucht, 
das  wir  Wörter  leichter  im  Gedächtnis  bewahren  als  sinnlose  Buchstabenver- 
bindungen. Nun  können  die  letzteren  natürlich  auch  schneller  vergessen  werden. 
Aber  vor  allen  Dingen  werden  sie  unvollkommener  oder  gar  nicht  apperzipiert, 
weil,  wie  die  oben  erörterten  tachistoskopischen  Versuche  zeigen,  die  ihre  Assi- 
milation vermittelnden  reproduktiven  Elemente  unwirksam  bleiben. 


Das  Wort  als  simultane  Vorstellung.  587 

wirklich  anders  gesehen.  Bei  der  Substitution  von  Worte  für 
Warte,  von  Fliege  für  Folge  z.  B.  sieht  man  dort  das  o,  hier 
das  i,  Buchstaben,  die  im  wirklichen  Eindruck  gar  nicht  vor- 
kommen, ganz  so  unmittelbar  wie  die  übrigen,  und  wenn  man 
über  den  Fehler  aufgeklärt  wird,  so  erinnert  man  sich  nicht 
selten  gerade  dieser  falsch  gelesenen  Buchstaben  besonders  deut- 
lich. Ähnlich  verhält  es  sich,  wenn  das  nicht  existierende  Symbol 
in  die  Region  des  indirekten  Sehens  oder  in  eine  völlig  leere  Stelle 
des  Sehfeldes  projiziert  wird.  Daß  übrigens  eine  ähnliche  Sub- 
stitution bei  der  akustischen  Auffassung  der  Worte  dieselbe 
Rolle  spielt,  lehren  die  häufigen  Erfahrungen  über  das  ,, Verhören", 
das  dem  Verlesen  offenbar  in  allen  diesen  Beziehungen  analog  ist, 
nur  daß  sich  diese  Ergänzungen  meist  nicht  in  ebenso  greifbarer 
Form  nachweisen  lassen. 

Noch  bei  andern  Erscheinungen  im  Gebiete  der  optischen  Wort- 
bilder, die  man  ohne  jede  künstliche  Versuchsvorrichtung  beobachten 
kann,  tritt  endlich  die  simultane  Natur  des  Vorgangs  der  Wortapper- 
zeption oft  überraschend  hervor.  Die  moderne  Typographie  bringt 
es  gelegentlich  zustande,  namentlich  auf  Büchertiteln  die  Wörter 
durch  die  Unregelmäßigkeit  der  Linienführung  und  durch  umgebende 
Arabesken  gleichsam  künstlich  dem  Auge  zu  verheimlichen.  Dabei 
kann  man  nun  wahrnehmen,  daß  das  Wort,  nachdem  es  zuerst  un- 
erkannt geblieben,  plötzlich  und  fast  blitzartig  vor  dem  Auge  auf- 
leuchtet. Diese  Beobachtung  entspricht  ganz  den  Erscheinungen 
der  bekannten  Vexierbilder,  bei  denen  die  Umrißzeichnung  eines 
Gegenstandes,  z.  B.  einer  Katze,  in  irgendeinem  Bild,  etwa  in  dem 
Baumschlag  einer  Landschaft,  angebracht  ist.  Auch  solche  Vexier- 
bilder leuchten  in  dem  Augenblick,  wo  sie  erkannt  werden,  plötzlich 
auf.  Dabei  sind  aber,  da  es  sich  um  eine  Betrachtung  dauernder  Ob- 
jekte handelt,  Augenbewegungen,  die  bei  den  tachistoskopischen  Ver- 
suchen wegen  der  sehr  kurzen  Dauer  der  Einwirkung  ausgeschlossen 
sind,  von  Einfluß;  imd  man  kann  zuweilen  beobachten,  daß  die  zu- 
fällige Bewegung  entlang  einer  Umrißlinie  des  Vexierbildes  dieses 
sofort  erscheinen  läßt.  Bei  den  Beobachtungen  mit  einer  Vexierschrift 
kann  man  ferner  nicht  selten  auch  den  Einfluß  wahrnehmen,  den  die 
besondere,    unter    Umständen    willkürlich    herbeizuführende    Disposi- 


588  Die  Wortbildung. 


tion  des  Bewußtseins  auf  die  Erscheinung  ausübt.  So  habe  ich  mich 
jahrelang  an  einem  jetzt  leider  durch  ein  anderes  ersetzten  Firmen- 
schild erfreut,  auf  welchem  ein  Name  mit  so  dicken  Goldbuchstaben 
auf  schwarzem  Grunde  geschrieben  stand,  daß  man  sich  leicht  ein- 
bilden konnte,  man  habe  ein  mit  schwarzen  Buchstaben  auf  Gold- 
grund geschriebenes  Wort  vor  sich.  Machte  man  sich  nun  willkürlich 
diese  Vorstellung,  so  verschwand  das  Wort  spurlos  aus  der  Apper- 
zeption, die  Schrift  wurde  zum  sinnlosen  Ornament,  um  sofort  wieder 
deutlich  aufzutauchen,  wenn  man  zur  umgekehrten  Vorstellung,  daß 
der  Grund  schwarz  und  die  Schrift  golden  sei,  überging.  Auch  hier 
schien  der  Vorstellungswechsel  durch  Augenbewegungen,  die  den 
wirklichen  oder  vermeintlichen  Buchstaben  entlang  liefen,  eingeleitet 
zu  werden. 

Indem  nun  die  Tatsache,  daß  das  Wort  im  allgemeinen  simul- 
tan apperzipiert  wird,  ohne  weiteres  die  Verschiedenheiten  in  der 
Auffassung  isolierter  und  zu  Worten  verbundener  Schriftzeichen 
erklärt,  beweist  sie  zugleich,  daß  die  Schriftzeichen  oder  Laute  eines 
Wortes  Merkmale  dieses  einheitlichen  Ganzen  sind.  Sie  sind  aber 
Merkmale  im  psychologischen,  nicht  im  logischen  Sinne:  sie  sind 
nicht  Eigenschaften,  nach  denen  das  Objekt  begrifflich  in  eine  Klasse 
bekannter  Gegenstände  eingeordnet  wird,  sondern  sie  sind  Gruppen 
von  Empfindungselementen,  die  durch  Assoziation  mit  reproduktiven 
Elementen  das  immittelbare  Wahrnehmungsbild  des  Objekts  hervor- 
rufen. Für  unsere  Auffassung  ist  demnach  ein  Wort  ebenso  eine  ein- 
zelne Vorstellung  wie  der  einzelne  Buchstabe.  Von  beiden  Arten  der 
Vorstellung  können  deshalb  auch  annähernd  gleich  viele  gleichzeitig 
apperzipiert  werden.  Wenn  hier  meist  ein  kurzes  Wort  noch  ein  wenig 
schneller  aufgefaßt  wird,  so  beruht  dies  vermutlich  darauf,  daß  die 
einzelnen  Teile  desselben  als  wechselseitige  Assoziations-  imd  Assi- 
milationshilfen wirksam  sind.  Dem  entspricht  denn  auch  die  weitere, 
bei  zeitmessenden  Versuchen  gefundene  Tatsache,  daß  die  Zeit,  in 
der  auf  die  Erkennung  eines  einzelnen  Buchstabens  durch  eine  verab- 
redete Bewegimg  reagiert  wird,  durchschnittlich  ebenso  groß  oder  eher 
etwas  größer  ist  als  die  Zeit,  in  welcher  die  Reaktion  auf  die  Erkennung 
eines  einfacheren,  wohlbekannten  Wortes  erfolgt;  und  soweit  ein  Unter- 
schied besteht,  beruht  er  nicht  auf  der  verschiedenen  Zahl,  sondern 


Psychologische  Analyse  der  Wortassimilationen.  589 


auf  der  verschiedenen  Verwicklung  der  verglichenen  Vorstellungen, 
d.  h.  auf  der  größeren  oder  geringeren  Mannigfaltigkeit  ihrer  Merk- 
male^). Natürlich  ändern  sich  aber  diese  Bedingungen,  wenn  Worte 
und  Buch stabensym hole  beide  noch  relativ  unbekannte  Objekte  sind. 
So  bedarf  das  Kind  beim  Lesenlernen  vor  allem  der  Kenntnis  der  ein- 
zelnen Buchstaben,  um  die  ganzen  Worte  lesen  zu  können,  daher 
denn  auch  die  Pädagogik,  obgleich  sie  der  Buchstabiermethode  ent- 
sagt hat,  doch  wohlweislich  daran  festhält,  mit  einzeln  deutlich  wahr- 
zunehmenden Buchstaben  das  Lesen  beginnen  zu  lassen  und  dann 
erst  allmählich  zu  den  kleineren  Schriftformen  überzugehen.  Für  das 
lesenlernende  Kind  ist  ein  einzelner  Buchstabe  zunächst  noch  nicht 
Merkmal,  sondern  Teil  des  Wortbildes.  Bei  wachsender  Übung  ver- 
ändert sich  dann  die  Sukzession  der  Apperzeptionen  nur  wenig  in 
ihrer  Geschwindigkeit,  um  so  mehr  aber  in  bezug  auf  den  Umfang 
der  Einzel  Vorstellungen,  die  in  einem  einzelnen  Akt  verbunden  wer- 
den. Dies  kann  allein  dadurch  geschehen,  daß  immer  und  immer 
wieder  die  nämlichen  Wortbilder  einwirken,  und  daß  so  ganz  allmäh- 
lich das,  was  ursprünglich  selbständiger  Bestandteil  einer  zusammen- 
gesetzteren Vorstellung  war,  in  ein  Merkmal  derselben  übergeht. 
Hierin  ist  dann  von  selbst  die  Aufforderung  gelegen,  auch  die  Größe 
der  zusammengesetzten  Objekte  zu  vermindern,  damit  sie  leichter 
simultan  aufgefaßt  werden  können,  um  so  mehr,  da,  sobald  nur  eine 
zureichende  Anzahl  von  Merkmalen  gegeben  ist,  die  in  der  Wahr- 
nehmung ausfallenden  derart  ergänzt  werden,  daß  sie  sich  von  den 
direkt  empfundenen  nicht  unterscheiden. 

5.  Psychologische  Analyse  der  Wortassimilationen. 

Für  die  psychologische  Analyse  der  Wortvorstellungen  sind  vor 
allem  die  Erscheinungen  der  Ergänzung  der  gesehenen  oder  gehörten 
Eindrücke  und  die  damit  untrennbar  verbundenen  der  Verdrängung 
direkter  durch  reproduktive  Elemente  von  wegweisender  Bedeutung. 


1)  E.  B.  Titchener,  Philos.  Stud.,  Bd.  8,  1893,  S.  138  ff.   Phyeiol.  Psycho!., 
III,«    S.  430. 


590  Die  Wortbildung. 


Nun  kann  man  unmöglicli  annehmen,  daß  solclie  Reproduktions- 
wirkungen  auf  die  ergänzten  Elemente,  bei  denen  sie  zur  unmittel- 
baren Anscbauung  kommen,  beschränkt  seien.  Vielmehr  nur  deshalb, 
weil  auch  die  andern  Teile  der  Wortvorstellung  an  ihnen  teilnehmen, 
sind  jene  Substitutionen  überhaupt  möglich.  Damit  ist  zugleich  die 
Frage  nach  dem  Übergang  der  Teile  eines  komplexen  Vorstellungs- 
ganzen in  Merkmale  einer  einheitlich  aufgefaßten  Einzelvorstellung, 
wie  er  z.  B.  beim  Lesenlernen  stattfindet,  beantwortet.  Je  häufiger 
€in  Wortbild  einwirkt,  eine  um  so  stärkere  Disposition  zu  seiner  Wieder- 
erneuerimg  bleibt  zurück.  In  dem  Augenblick,  wo  durch  direkte  Sinnes- 
eindrücke ein  Komplex  von  Empfindungen  entsteht,  der  diesen  Dispo- 
sitionen oder  auch  nur  einem  größeren  Teile  derselben  gleich  ist,  wer- 
den daher  die  Dispositionen  selbst  zu  aktuellen  Empfindungen,  die 
mit  den  durch  den  äußeren  Eindruck  erweckten  in  eine  einheitliche 
Vorstellung  zusammenfließen.  Nun  stehen  aber  die  als  Dispositionen 
von  früheren  Eindrücken  her  zurückgebliebenen  Elemente  ebenso 
in  mannigfachen  Verbindungen  wie  die  direkten  Empfindungen,  und 
sie  werden  in  denjenigen  Verbindungen  am  leichtesten  reproduziert, 
in  denen  sie  am  häufigsten  vorkamen.  Darum  reproduziert  jedes 
Wortbild  durch  direkte  Assoziation  die  entsprechenden  Elemente 
früherer  Wortbilder  und  durch  indirekte,  nämlich  infolge  der  zwischen 
den  reproduktiven  Elementen  selbst  bestehenden  Assoziationen, 
die  mit  ihnen  in  früheren  Vorstellimgen  häufig  verbunden  ge- 
wesen. Ist  die  letztere  Assoziation  der  im  neuen  Eindruck  ge- 
botenen analog,  so  wird  sie  verstärkt,  und  es  wird  durch  die  so 
in  immer  gleicher  Weise  sich  wiederholende  Verbindung  die  Aus- 
sonderung des  Wortgebildes  von  andern  zufällig  begleitenden 
mehr  und  mehr  gesichert.  Mengen  sich  dagegen  infolge  der  sekun- 
dären Assoziationen  reproduktive  Elemente  ein,  die  nicht  dem 
direkten  Eindruck  angehören,  so  entstehen  nun  Substitutionen, 
die  zu  Sinnestäuschungen,  sogenannten  ,, Illusionen",  im  Vorliegen- 
den Fall  zu  den  Erscheinungen  des  Verhörens  und  Verlesens 
führen. 

Besitzen  demnach  die  einzelnen  Wort  Vorstellungen  durchaus 
den  Charakter  jener  Assimilationsgebilde,  wie  sie  uns  bereits  in  den 
mannigfachen     Formen    reproduktiver    Lautwirkungen    im    vorigen 


Psychologische  Analyse  der  Wortassimilationen.  591 

Kapitel  begegnet  sind,  so  sind  nun  aber  gerade  diese  die  Bildung  der 
Wortvorstellungen  begleitenden  Assimilationen  wegen  der  zu  Gebote 
stellenden  experimentellen  Beeinflussung  der  Bedingungen  besonders 
günstige  Objekte  für  die  psycbologisclie  Analyse  der  Assimilations- 
vorgänge überhaupt^).  Wir  betrachten  es  als  einen  überall  für  diese 
Analyse  maßgebenden  Grundsatz,  daß  nur  Bewußtseinsvorgänge 
als  wirklicbe  psycbisclie  Vorgänge  gelten  können.  Der  Begriff  der 
„Disposition"  ist  daher  lediglich  ein  Hilfsbegriff,  der  irgendeine  uns 
nur  in  ihren  Wirkungen  auf  die  tatsächlich  beobachteten  Vorgänge 
gegebene,  abgesehen  Von  dieser  Wirkung  aber  völlig  unbekannte  Be- 
dingung zur  Entstehung  gewisser  psychischer  Erlebnisse  oder  zur 
Abänderung  anderer  bezeichnet.  Hiernach  kann  eine  Assimilation, 
insofern  dieser  Ausdruck  eine  Wirkung  andeutet,  die  zwischen  direkt 
erregten  Empfindungen  und  Dispositionen  aus  früheren  Eindrücken 
stattfindet,  natürlich  selbst  kein  in  der  Form  der  Disposition  oder 
kein  im  ,, Unbewußten"  sich  ereignender  Vorgang  sein;  wie  denn  über- 
haupt der  Ausdruck  „unbewußte  Vorgänge"  einen  inneren  Wider- 
spruch in  sich  schließt,  da  der  Begriff  des  Unbewußten  psychologisch 
notwendig  eben  mit  jenem  Begriff  der  „Disposition"  zusammenfällt, 
die  Disposition  aber  ihre  empirisch  berechtigte  Bedeutung  nur  darin 
hat,  daß  sie  selbst  kein  wirklicher  psychischer  Vorgang,  sondern  bloß 
die  Anlage  zu  einem  solchen  ist.  Demnach  können  auch  die  Assimi- 
lationen nur  als  Verbindungsprozesse  betrachtet  werden  zwischen 
Empfindungen,  die  direkt  durch  äußere  Eindrücke  erregt  werden, 
und  solchen,  die  unter  dem  Einfluß  jener  Dispositionen  entstehen. 
Da  die  Disposition  nicht  selbst  ein  psychischer  Vorgang,  sondern 
eine  Bedingung  zu  dessen  Entstehung  ist,  so  vollzieht  sich  aber  natür- 
lich auch  eine  Assimilation  zwischen  der  reproduktiven  und  der  direkt 
erregten  Empfindung  immer  erst  in  dem  Moment,  wo  die  Dis- 
position   zur    aktuellen    Empfindung    wird,    gerade   so   wie 


^)  Es  stehen  ihnen  in  dieser  Beziehung,  was  die  allgemeine  psychologische 
Verwertung  angeht,  nur  noch  die  schon  früher  (S.  458)  in  diesem  Sinn  erwähnten 
„umkehrbaren  geometrisch-optischen  Täuschungen"  zur  Seite,  deren  Studium 
auch  hier  wieder  als  ein  einem  ganz  andern  Gebiet  entnommenes,  aber  eben  darum 
für  die  allgemeine  Natur  der  Vorgänge  lehrreiches  Beispiel  empfohlen  werden 
kann. 


592  Die  Wortbildung. 


der  äußere  Eindruck  niclit  als  physischer  Reiz,  sondern  ebenfalls  erst 
als  Empfindung  assoziationsfällig  wird.  Wir  nennen  diese  Assoziation 
eine  „Assimilation",  weil  ihr  in  doppeltem  Sinne  der  allgemeine  Cha- 
rakter der  ,,Verähnlichung"  zugeschrieben  werden  kann:  erstens, 
insofern  die  direkt  erregten  Empfindungen  ihnen  ähnliche  oder  oft 
mit  ihnen  verbunden  gewesene  wieder  erwecken,  und  zweitens,  weil 
diese  aus  Dispositionen  hervorgegangenen  reproduktiven  Elemente 
selbst  verähnlichend  auf  die  direkten  Empfindungen  zurückwirken. 
Die  Assimilation  als  Assoziationsvorgang  ist  also  stets  eine  wechsel- 
seitige: die  direkten  Empfindungen  wirken  assimilativ  auf  die  re- 
produktiven, und  diese  wirken  ebenso  auf  die  direkten.  Indem  dabei 
weiterhin  auch  noch,  wie  oben  erwähnt,  sekundäre  Assoziationen  der 
reproduktiven  Elemente  mit  andern  eintreten,  die  mit  ihnen  häufig 
verbunden  waren,  während  sie  zu  den  direkten  ursprünglich  außer 
Beziehung  standen,  ist  im  allgemeinen  jede  einzelne  Wortvor- 
stellung eine  Resultante  aus  unabsehbar  vielen  Ele- 
menten. 

Der  nächste  und  entscheidende  Charakter  der  Assimilation  be- 
steht hiernach  darin,  daß  sie  eine  simultane  Assoziation  ist.  Sie 
ist  simultan,  weil  die  als  ihr  Produkt  entstehende  Einzel  Vorstellung 
in  allen  ihren  Teilen  gleichzeitig  aufgefaßt  wird,  wodurch  von  selbst 
die  Teile  zu  psychologischen  Merkmalen  in  dem  oben  bezeichneten 
Sinne  werden.  Sie  ist  ferner  eine  Assoziation,  da  bei  ihr  keine  Ver- 
bindungen anderer  Art  stattfinden,  als  sie  bei  irgendwelchen  sonstigen 
Assoziationen  vorkommen.  Das  Charakteristische  des  Vorgangs  be- 
steht bei  ihnen,  wie  bei  allen  Assoziationen,  darin,  daß  sie  Elemen- 
tarvorgänge,  nicht  Massen  Vorgänge  sind.  Wenn  Herbart  und  die 
an  ihn  sich  anschließenden  Sprachpsychologen  solche  Assimilationen 
als  Wirkungen  von  ,, Apperzeptionsmassen"  bezeichnen,  so  ist  daher 
dieser  Ausdruck  in  doppelter  Weise  irreführend:  erstens,  weil  er  diese 
Erscheinungen  überhaupt  von  den  Assoziationen  trennt,  denen  sie 
ihrem  ganzen  Wesen  nach  zugehören;  und  zweitens,  weil  der  ganze 
Vorgang  das  gerade  Gegenteil  einer  ,, Massenwirkung"  ist.  Wollen 
wir  ihn  uns  irgendwie  aus  seinen  deutlich  gegebenen  Komponenten 
verständlich  machen,  so  müssen  wir  vielmehr  notwendig  annehmen, 
daß    zu    einer    geläufigen    Wortvorstellung    eine-  unbestimmte    Zahl 


Apperzeption  des  Wortes  als  Einzelvorstellung.  593 

elementarer  Dispositionen  sowohl  in  den  gleichen  wie  in  andern,  irgend- 
wie ähnlichen  Verbindungen  vorhanden  ist,  und  daß  von  diesen  Dispo- 
sitionen eine  größere  Anzahl  teils  direkt,  durch  übereinstimmende 
Empfindungselemente  des  Eindrucks,  teils  indirekt,  durch  ihre  äußere 
Verbindung  mit  solchen,  erweckt  wird.  Zwischen  den  so  in  Wirksam- 
keit tretenden  Elementen  entsteht  dann  aber  eine  Wechselwirkung, 
infolge  deren  sich  die  übereinstimmenden  Elemente  assimilieren  und 
die  widerstreitenden  vollständig  eliminiert  werden.  Auf  diese  Weise 
besteht  jede  Assimilation  auch  im  Gebiet  der  Wortvorstellungen  aus 
einer  unabsehbaren  Menge  elementarer  Grleichheits-  und 
Berührungsassoziationen. 


6.  Apperzeption  des  Wortes  als  Einzelvorstellung. 

Nachdem  so  die  Bildung  der  Wortvorstellung  in  allen  ihren  wesent- 
lichen Eigenschaften  durch  den  Assimilationsprozeß  eingeleitet  ist, 
wird  sie  mm  aber  erst  abgeschlossen  durch  einen  daran  sich  anschließen- 
den weiteren  Vorgang;  durch  die  Heraushebung  der  durch  jene 
assoziativen  Prozesse  gebildeten  Einzelvorstellung  aus  dem  gesamten 
Vorstellungsverlauf.  Diesen  letzten  entscheidenden  Akt  nennen  wir 
die  Apperzeption  des  Wortes.  Die  Wortapperzeption,  wie  sie 
sich  im  Laufe  der  natürlichen  Gedankenbildung  vollzieht,  besteht 
demnach  nicht  in  jenen  assimilativen  Assoziationen  selbst,  denen  die 
psychische  Konstitution  des  Wortes  ihren  Ursprung  verdankt;  son- 
dern durch  diese  Assoziationen  wird  immer  nur  das  Objekt  gegeben, 
welches  apperzipiert  werden  kann,  nicht  der  Akt  der  Apperzeption. 
Dieser  vollzieht  sich  einerseits  als  ein  Unterscheidungsakt,  der 
unter  der  Wirkung  mannigfaltiger  und  zum  Teil  weit  zurückreichen- 
der Vorerlebnisse  des  Bewußtseins  entsteht.  Anderseits  ist  er  von 
eigenartigen  subjektiven  wie  objektiven  Symptomen  begleitet.  Sub- 
jektiv wird  das  durch  assimilative  Assoziationen  entstandene  Pro- 
dukt unter  den  für  die  Willensvorgänge  charakteristischen  Spannungs- 
und Erregungsgefühlen  Objekt  der  Aufmerksamkeit.  Dabei  be- 
zeichnet dieser  Ausdruck  ,, Aufmerksamkeit"  subjektiv  wiederum 
nichts  anderes  als  eben  den  Komplex  der   Gefühle  selber,  während 

Wundt,  Völkerpsychologie.    I.    4.  Aufl.  «'ö 


594  Die  Wortbildung. 


er  objektiv  auf  die  größere  Klarheit  und  Deutlichkeit  der  Einzel- 
vorstellung  hinweist,  die  Inhalt  der  Apperzeption  ist.  Beide  objek- 
tive Eigenschaften  ergänzen  sich  insofern,  als  die  „Klarheit"  die  Her- 
vorhebung der  einzelnen  Vorstellung  nach  ihrem  spezifischen  Inhalt, 
die  ,, Deutlichkeit"  die  Sonderung  von  andern  Bewußtseinsinhalten 
andeutet.  Beide  Eigenschaften  werden  gewöhnlich  als  ,, Wirkungen" 
der  Aufmerksamkeit  betrachtet,  obgleich  sie  nur  die  objektiven  Merk- 
male der  Aufmerksamkeit  sind,  ebenso  wie  die  Spannungs-  und  Er- 
regungsgefühle deren  subjektive  Symptome. 

Hat  auf  diese  Weise  die  Apperzeption  des  Wortes  die  assoziativ 
vorbereitete  Bildung  der  Worteinheit  vollendet,  so  wirkt  sie  nun  ihrer- 
seits wieder  auf  die  Assimilationsprozesse  zurück,  indem  auch  sie 
Dispositionen  hinterläßt,  welche  die  Wiedererneuerung  einer  bestimm- 
ten Worteinheit  in  künftigen  Fällen  unterstützen  und  diese  zu  be- 
stimmten Gesamtrichtungen  des  Bewußtseins  in  Beziehung  setzen. 
So  greifen  hier,  wie  überall  im  geistigen  Leben,  die  einzelnen  Vor- 
gänge auf  das  mannigfaltigste  und  in  hin-  und  rückläufigen  Bewegungen 
wechselseitig  fördernd  ineinander  ein.  Die  höheren  Stufen  dieser 
Vorgänge,  die  apperzeptiven,  sind  aber  durch  die  vorangehenden, 
die  assoziativen,  so  vollständig  Vorbereitet,  daß  sie  ganz  und  gar  als 

„psychische  Resultanten"  derselben  erscheinen^). 

/ 

III.  Stellung  des  ^A/'o^tes  in  der  Sprache. 

1.  Grund-  und  Beziehungselemente  des  Wortes. 

In  dem  Verlauf  der  Rede  ist  das  Wort  eine  natürliche  Einheit, 
die  zwar  mit  andern  ähnlichen  Einheiten  in  Beziehungen  und  Ver- 
bindungen steht,  dabei  aber  doch,  wie  das  Glied  einer  Kette,  ein  Ganzes 
für  sich  bildet,  das  allein  schon  einen  bestimmten  Begriff  zum  Aus- 
druck bringen  kann.  Bei  dieser  Aussonderung  der  Wortvorstellungen 
aus  dem  Zusammenhang  der  Rede  gewinnt  nun  der  schon  bei  dem 
Lautwandel  hervorgetretene  funktionelle  Unterschied  der  Grund- 
elemente  und  der  Beziehungselemente  eine  entscheidende 
Bedeutung  (Kap.  IV,  S.  462). 


1)  Vgl.  oben  Kap.  II,  S.  256. 


Grund-  und  Beziehungselemente  des  Wortes.  595 


Grundelemente  nennen  wir  hier  wieder  diejenigen  LautBestan- 
teile,  die  für  den  innerhalb  einer  bestimmten  Wortgruppe  konstant 
bleibenden  Begriff  charakteristisch  sind,  während  die  Beziehungs- 
elemente solche  Bestandteile  umfassen,  durch  die  jener  Begriff  irgend- 
wie modifiziert  und  dadurch  zugleich  zu  andern  in  die  Rede  eingehen- 
den Worten  in  Beziehung  gebracht  wird.  Da  diese  Beziehungselemente 
mit  ähnlich  sinnmodifizierender  Wirkung  in  den  Abwandlungsformen 
anderer  Wörter  ebenfalls  vorkommen,  so  besitzen  auch  sie  eine  relativ 
konstante  Bedeutung.  Nur  besteht  diese  hier  nicht  in  einem  selbstän- 
dig zu  denkenden  Begriff,  sondern  in  einer  begrifflichen  Beziehung, 
die  zu  ihrer  realen  Vergegenwärtigung  im  Bewußtsein  immer  der  Ver- 
bindung mit  Grundelementen  bedarf.  Zugleich  erweist  sich  aber, 
wie  schon  früher  bemerkt,  nicht  selten  die  Grenze  zwischen  Grund- 
und  Beziehungselementen  als  eine  fließende,  indem  an  dem  Prozeß 
der  sinnmodifizierenden  Änderungen  auch  solche  Elemente  teilnehmen, 
die  nach  ihrer  ursprünglichen  Bedeutung  zu  den  Grundelementen 
gehören.  So  scheiden  sich  in  einer  zusammengehörigen  Reihe  von 
Wörtern,  wie  stehe,  stehst,  steht,  stand,  gestanden  usw.,  ohne  weiteres 
die  angefügten  Suffixe  sowie  das  Präfix  des  Perfektums  als  reine  Be- 
ziehungsbestandteile; dem  steht  der  konsonantische  Anlaut  st  des 
Verbalstamms  als  ein  bei  allen  Abwandlungen  unberührt  bleibender 
Grundbestandteil  gegenüber,  während  der  Stammvokal  innerhalb 
beschränkterer  Gruppen  die  Bedeutung  eines  Grundelements  hat, 
das  aber  für  andere  Wortgruppen  zu  den  Beziehungselementen  hin- 
übergezogen wird.  An  diesen  fließenden  Elementen  offenbart  es 
sich  aber  deutlich,  daß  für  das  sprachbildende  Bewußtsein  selbst 
das  Wort  eine  Einheit  bleibt,  die  sich  durch  die  im  Zusammenhang 
der  Rede  liegenden  natürlichen  Bedingungen  in  stabilere  und  va- 
riablere Elemente  zerlegt,  ohne  daß  sich  zunächst  der  Redende 
dessen  bewußt,  und  ohne  daß  daher  eine  absolute  Trennung  beider 
möglich  ist. 

Da  das  Verhältnis  der  Grund-  und  Beziehungselemente  eines 
Wortes  ein  wechselndes  sein  kann,  so  ergeben  sich  hieraus  zugleich 
für  die  Konstitution  der  Wortvorstellung  zwei  Grenzfälle,  deren  Vor- 
kommen und  Verbreitung  mit  charakteristischen  Eigentümlich- 
keiten des  Baues  der  Einzelsprachen  zusammenhängen,  und  auf  die 

b8* 


596  Die  Wortbildung 


darum  hier  nur  im  allgemeinen  hingewiesen  werden  kann.    Der  eine 
dieser  Grenzfälle  wird  durch  Wortgebilde  repräsentiert,  die  nur  aus 
Grundelementen,    der   andere  aus  solchen,    die  nur  aus  Beziehungs- 
elementen bestehen.     Im  ersten   Fall   enthält  das  Wort  bloß    einen 
selbständigen,     für    sich     vorstellbaren    Begriff;     im    zweiten    Fall, 
der  bei  unsern  abstrakten  Partikeln  verwirklicht  ist,  enthält  es  nur 
eine   unbestimmte    Beziehung,    die   isoliert   nicht   vorgestellt   werden 
kann.    Hier  wird  das  Wort  im  allgemeinen  bloß  als  Wort  vorgestellt, 
als  geläufiger  Lautkomplex,   der  sich  aber   vermöge  der  gewohnten 
begrifflichen   Anwendung   mit   einem    Gefühl   verbindet,    das   wahr- 
scheinlich von  andern,  häufig  mit  ihm  verbundenen  Wortvorstellungen 
ausgeht,   die  sich  assoziativ  zum   Bewußtsein  drängen.      Wegen  der 
großen  Zahl  solcher  Assoziationen  kommt  in  der  Regel  keine  einzige 
mit  ihrem  objektiven  Inhalt  zur  Geltung.     Bei  der  Einwirkung  iso- 
lierter Wörter  ist  daher  der  Bewußtseinszustand,  wie  er  sich  nament- 
lich an  den  Assoziations-  und  Gefühlskomponenten  zu  erkennen  gibt, 
ein  wesentlich  abweichender,  je  nachdem  es  sich  um  ein  selbständiges 
Begriffswort  oder  um  ein  reines  Beziehungswort  handelt.     Jenes  er- 
weckt, falls  seine  Bedeutung  bekannt  ist,  neben  der  Lautvorstellung 
immer  auch  eine  mit  den   Grundelementen  assoziierte  inhaltlich  be- 
stimmte Begriffs  Vor  Stellung,  die  um  so  anschaulicher  ist,  eine  je  kon- 
kretere Bedeutung  das  Wort  hat.    Das  reine  Beziehungswort  dagegen 
erweckt  zunächst  nur  eine  Lautvorstellung,  an  die  irgendein  Gefühls- 
eindruck geknüpft  ist,  der  gelegentlich  durch  wechselnde  äußere  Wort- 
assoziationen abgelöst  werden  kann. 

2.  Wurzeln  der  Sprache. 

Die  Tatsache,  daß  im  allgemeinen  jedes  Wort  nach  Laut  wie 
Bedeutung  mit  einer  größeren  oder  kleineren  Anzahl  anderer  Wörter 
zusammenhängt,  hat  auf  die  Betrachtung  der  Sprache  frühe  schon 
einen  wichtigen  Einfluß  ausgeübt.  Jenen  Lautbestandteil,  in  dem 
die  Bedeutungsgemeinschaft  der  Glieder  einer  Wortsippe  ihren  Aus- 
druck findet,  betrachteten  bereits  die  alten"  Sanskritgrammatiker 
als  das  ursprünglich  ,, Gesetzte"  dhätu  (^ejna),  das  nicht  weiter  Ab- 
zuleitende oder  das  ,, Element"  der  Wortbildung.     Dem  Vorbild  der 


Wurzeln  der  Sprache.  597 


griechischen  Naturphilosophie  folgend,  welche  die  Prinzipien  oder 
Elemente  der  Dinge  bildlich  deren  Wurzeln  (SiCtoj-iaTa)  nannte,  be- 
zeichneten dann  die  römischen  Philologen  diese  Grundbestandteile 
als  die  ,, Wurzeln  der  Sprache''.  An  diesen  Ausdruck,  der  seitdem 
stehen  geblieben  ist,  hat  sich  endlich  jenes  System  botanischer  Bilder 
angeschlossen,  das  die  in  dem  Begriff  der  Wurzel  angedeutete  Vor- 
stellung der  Sprache  als  eines  lebendigen  Organismus  weiterführte. 
Aus  der  Wurzel  ließ  man  durch  den  Hinzutritt  anderer  Elemente 
den  ,, Wortstamm"  entspringen,  aus  dem  durch  gewisse  näher  deter- 
minierende Bestandteile  die  wirklichen  Wörter  als  dessen  Verzwei- 
gungen hervorgehen  sollten.  Die  geschichtliche  Betrachtung  übertrug 
diese  Bilder  auch  noch  auf  das  Verhältnis  verschiedener  Sprachen 
zueinander.  Die  Einzelsprache  wurde  als  der  Zweig  eines  allgemeineren 
Sprachstam_mes  bezeichnet,  der  schließlich  abermals  eine  ihm  voraus- 
gehende hypothetische  Ursprache  als  seine  ,, Wurzel"  forderte.  Dieses 
dem  organischen  Leben  entnommene  Begriffssystem  wurde  freilich 
bei  der  Schilderung  der  weiteren  Schicksale  der  Wörter  meist  wieder 
verlassen,  indem  man  jetzt  einen  Prozeß  der  ,, Verwitterung"  ein- 
treten ließ,  so  daß  das  Gefüge  der  Sprache  nun  eigentlich  unter  dem 
Bild  einer  Gesteinsmasse  gedacht  wurde  ^). 

Bei  dieser  Vorstellung,  daß  jedes  Wort  eine  seinen  Grundbegriff 
ausdrückende  Wurzel  und  weitere,  zu  ihr  hinzutretende  formale  Ele- 
mente enthalte,  konnte  man  nun  aber  nicht  wohl  stehen  bleiben,  da 
die  formalen  Elemente  doch  mutmaßlich  ebenfalls  auf  irgendwelche 
,, Wurzeln"  zurückführen  mußten.  So  gelangte  man  zur  Unterschei- 
dung zweier  Klassen  von  Wurzeln,  der  Stoff-  und  Formwurzeln 
oder  der  prädikativen  und  demonstrativen  (Nenn-  und  Deute- 
wurzeln), wie  sie  wohl  treffender  G.  Curtius  nannte.  An  der  Stoff- 
oder   prädikativen   Wurzel    sollte    der    einer   Wortsippe   gemeinsame 


^)  Curtius,  Griech.  Etymologie,^  S.  23.  Wenn  Bopp  und  Jakob  Grimm 
statt  dessen  solche  Ausdrücke  wie  „Entartung",  „Verwilderung''  der  Sprache 
gebrauchen,  so  bleiben  sie  zwar  mehr  im  Bilde,  der  Widerspruch,  daß  eine  normale 
und  von  frühe  an  in  die  Entwicklung  eingreifende  Reihe  von  Erscheinungen  als 
etwas  Pathologisches  angesehen  wird,  ist  aber  um  so  auffälliger.  Max  Müller 
spricht  in  gleichem  Sinne  sogar  von  der  ,,Pest  der  lautlichen  Korruption''.  (Die 
Wissenschaft  der  Sprache.    Neue  Bearbeitung,  1892,  I,  S.  49.) 


598  Die  Wortbildung. 


Grundbegriff  haften,  auf  die  Formwurzeln  sollten  die  Formelemente 
zurückführen,  die  dem  Wort  seine  bestimmte  grammatische  Stellung 
anweisen:  „demonstrativ"  wurden  sie  genannt,  weil  man  annahm, 
in  ihnen  sei  stets  ein  Hinweis  auf  eine  Person,  einen  Ort  oder  eine 
Richtung  im  Raum  enthalten^). 


3.  Unterscheidung  von  Sprachtypen  auf  Grund 
der  Wurzeltheorie. 

War  auf  diese  Weise  erst  der  gesamte  Bestand  eines  Wortes  auf 
eine  Verbindung  ursprünglich  bedeutsamer,  nicht  weiter  zerlegbarer 
Lautgebilde  von  bestimmtem  begrifflichem  Werte  zurückgeführt,  so 
lag  es  nun  nahe  genug,  der  hierbei  wahrzunehmenden  oder  zu  er- 
schließenden abweichenden  Bildungsweise  der  Wörter  die  Gesichts- 
punkte für  die  Beurteilung  der  Verschiedenheiten  des  Sprachbaues 
überhaupt  zu  entnehmen.  So  gelangte  man  zu  einem  weiteren,  ur- 
sprünglich dem  biologischen  Gebiet  entlehnten  Begriff:  zu  dem  des 
„Sprachtypus".  Wie  eine  gewisse  Anordnung  und  Entwicklungs- 
weise der  eine  Pflanze  zusammensetzenden  Elementargebilde,  der 
Zellen,  einen  Pflanzentypus  ausmacht,  dem  eine  größere  oder  kleinere 
Zahl  einzelner  Pflanzenarten  zugeteilt  werden  kann,  so  soll  eine  be- 
stimmte Art  der  Verbindung  und  der  Entwicklung  der  Sprachwurzeln 
den  ,, Sprachtypus"  konstituieren,  der  natürlich,  da  es  sich  in  diesem 
Falle  bloß  um  die  Art  der  Ordnung  und  der  Veränderung  der  Ele- 
mente, nicht  um  ihre  Lautbeschaffenheit  handelt,  auch  für  Sprachen, 
die  ihrem  gesamten  Wortschatze  nach  voneinander  abweichen,  doch 
ein  übereinstimmender  sein  kann.  So  entstanden  die  Begriffe  des 
„isolierenden"  oder  des  ,, reinen  Wurzeltypus",  der  im  Chinesischen 
annähernd    verwirklicht    sein    sollte,    des    „agglutinativen",    wie    ihn 


^)  G.  Curtius,  Zur  Chronologie  der  indogermanischen  Sprachforschung,^ 
1873,  S.  21.  W.  von  Humboldt  (Über  die  Verschiedenheiten  des  menschlichen 
Sprachbaues,  Werke,  VI,  S.  116)  hatte  beide  als  „objektive"  und  „subjektive" 
Wurzeln  unterschieden,  weil  die  letzteren,  die  formgebenden  Bestandteile  des 
Wortes,  nicht  von  dem  zu  benennenden  Objekt,  sondern  von  dem  subjektiven 
Standpunkt  des  Redenden  bestimmt  seien. 


Unterscheidung  von  Sprachtypen  auf  Grund  der  Wurzeltheorie.        599 


z.  B.  die  ural-altaisclien  Spraclien  darbieten,  des  „polysynthetisclien*' 
oder  „einverleibenden",  den  man  dem  Baskiscben  und  den  ameri- 
kaniscben  Sprachen  zuschrieb,  und  bald  als  eine  Unterart  der  agglu- 
tinativen,  bald  als  eine  selbständige  Form  ansah,  endlich  des  ,, flek- 
tierenden" Typus,  der  wieder  in  einen  solchen  der  einsilbigen  Wur- 
zeln (das  Indogermanische)  und  in  einen  der  vorwiegend  zweisilbigen 
(das  Semitische)  gegliedert  wurde  ^).  Diese  ,, Typen"  bilden,  abgesehen 
von  manchen  außerhalb  des  Schemas  stehenden  Unterschieden,  eine 
Entwicklungsreihe,  in  der  die  reine  Wurzelsprache  als  der  Urzustand 
erscheint.  Aus  ihr  soll  als  eine  nächste  Weiterbildung  der  aggluti- 
nierende Typus  entstanden  sein,  der  dann  durch  eine  innigere  orga- 
nische Verbindung  der  Stoff-  und  Formwurzeln  in  den  flektierenden 
überging.  Der  letztere  soll  endlich  durch  den  alsbald  sich  anschließen- 
den Prozeß  der  ,, Verwitterung"  wieder  einer  Rückbildung  Platz 
machen,  bei  der  die  Wörter  abermals  dem  reinen  Wurzelzustand  nahe- 
kommen: so  in  vielen  modernen  Sprachen,  am  meisten  im  Englischen, 
das  nur  noch  einen  kleinen  Rest  seiner  Flexionselemente  bewahrt 
hat  2). 

Durch  diese  Anwendung  der  Wurzelzerlegung  der  Wörter  glaubte 
man  die  Voraussetzung  bestätigt  zu  sehen,  daß  die  Wurzeln  nicht 
bloß  Produkte  der  Analyse  des  Wortes,  sondern  daß  sie  ursprüng- 
lich selbständige  Bestandteile  seien,  aus  denen  sich  das  Wort 
durch  eine  zuerst  losere  Aggregation   und  dann   durch   eine  immer 


^)  Übrigens  werden  für  das  Semitische  meist  ebenfalls  ursprünglich  ein- 
silbige, sei  es  zwei-,  sei  es  dreikonsonantige  Wurzeln,  wie  qat,  har  oder  qafl,  hrak 
postuliert,  aus  denen  sich  erst  die  zweisilbigen  Wortstämme,  wie  qatal,  haraJc, 
entwickelt  hätten  (Humboldt,  Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprach- 
baues, Werke,  VI,  S.  403  ff. ).  Besonders  die  unverkennbaren  Beziehungen  der 
semitischen  zu  den  auf  einsilbige  Wurzeln  zurückzuführenden  hamitischen 
Sprachen  (Ägyptisch,  Koptisch,  GaUa,  Somali  usw. )  legten  diese  Annahme  nahe. 

2)  Stein thal,  Die  Klassifikation  der  Sprachen,  1850,  S.  7.  Der  erste,  der 
diese  weitverbreitete  Einteilung  aufgestellt  hat,  ist  nach  Steinthals  Angabe  Pott 
(in  den  Jahrbüchern  der  freien  deutschen  Akademie,  1.  Heft,  1848).  Wesentlich 
vorgebildet  ist  sie  aber  schon  bei  Humboldt,  der  namentlich  auch  den  an  sich 
sehr  fruchtbaren  Begriff  der  „Agglutination"  einführte  und  im  Zusammenhang 
damit  die  Ansicht  entwickelte,  daß  ein  monosyllabischer  Zustand  den  Ausgangs- 
punkt aller  Sprachentwicklung  gebildet  habe.  (Über  die  Verschiedenheit  des 
menschl.   Sprachbaues,   §  25,  Werke,  VI,  S.  382  ff.) 


600  Die  Wortbildung. 


fester  werdende  Verbindung  gebildet  habe.  Dem  Begriff  des 
,, Typus"  sind  jedoch  in  dieser  Anwendung  auf  die  Genealogie 
der  Sprachen  die  Schicksale  nicht  erspart  geblieben,  die  ihm  auf 
andern  Gebieten  widerfuhren^).  So  wenig  es  für  die  wirklichen 
Entstehungsbedingungen  einer  chemischen  Verbindung  einen  er- 
klärenden Wert  hat,  wenn  man  diese  auf  den  Typus  des  Sumpf- 
gases (CH4)  zurückführt,  gerade  so  wenig  gibt  natürlich  der  Be- 
griff des  ,, Sprach typus"  wirklichen  Aufschluß  über  die  Wort- 
bildung in  einer  Sprache.  Ein  übereinstimmender  Typus  kann 
möglicherweise  auf  übereinstimmende  Gesetze  der  Wortbildung 
hinweisen;  diese  Gesetze  zu  finden  ist  aber  in  jedem  einzelnen 
Fall  eine  besondere  Aufgabe.  Ob  eine  Sprache  in  der  Stufenleiter 
der  Wortbildungsprozesse  dem  Anfang  oder  einem  späteren  Stadium 
angehört,  das  ist  daher  immer  nur  aus  der  umfassenden  Kennt- 
nis ihrer  Vorgeschichte  mit  Sicherheit  zu  erschließen.  Sonst  könnte 
z.  B.  das  Englische  beinahe  ebensogut  wie  das  Chinesische  dem  Typus 
einer  Wurzelsprache  zugezählt  werden.  In  der  Tat  gilt  bei  den  Kennern 
der  chinesischen  Sprachgeschichte  das  Dogma  von  der  primitiven 
Wurzelsprache  gegenwärtig  als  unhaltbar,  da  diese  Sprache  ebenso- 
wohl die  Spuren  ursprünglicher  und  wieder  verloren  gegangener  For- 
menbildung wie  in  der  Umgangssprache  die  Neigung  zu  zusammen- 
gesetzten Wortbildungen  zeigt  ^).  Der  Gedanke,  daß  eine  einzelne 
Sprache  Jahrtausende  hindurch  auf  einer  primitiven  Entwicklungs- 
stufe stehen  geblieben  sei,  hatte  ohnehin  von  vornherein  nur  geringe 
psychologische  Wahrscheinlichkeit,  am  wenigsten  für  eine  Sprache 
von  so  hoher  begrifflicher  Ausbildung  wie  das  Chinesische.  Nicht  minder 
begegnet  aber  die  Typentheorie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  sogenann- 
ten agglutinativen  Sprachen  berechtigten  Bedenken.  Deren  Ab- 
grenzung von  den  Flexionssprachen  erweist  sich  als  willkürlich,  da 
sich  entscheidende  Merkmale  nicht  auffinden  lassen:  der  wesentliche 


1)  Vgl.  meine  Logik,^  II,  S.  55  ff. 

2)  W.  Grube,  Die  sprachgeschichtliche  Stellung  des  Chinesischen,  1881, 
S.  18.  Dasselbe  gilt  für  die  andern  in  ihrer  Struktur  dem  Chinesischen  verwandten 
monosyllabischen  Sprachen  Ostasiens.  Vgl.  Conrady,  Eine  indochinesische 
Kausativ-Denominativbildung,  1896,  Einl. 


Unterscheidung  von  Sprachtypen  auf  Grund  der  Wurzeltheorie.      601 

Unterscliied  beider  scheint  schließlicli  darin  zu  bestehen,  daß  die  ag- 
glutinierenden Sprachen  reichere  und  zusammengesetztere  Flexions- 
formen besitzen,  weil  sie  die  einzelnen  Begriffe  konkreter,  ausgestattet 
mit  einer  Menge   einzelner  Nebenbestimmungen   denken^). 

Noch  undurchführbarer  erweist  sich  ein  anderer  Gesichtspunkt, 
der,  an  die  Unterscheidung  von  Stoff-  und  Formelementen  anknüpfend, 
in  der  klaren  Sonderung  dieser  Elemente  einen  Maßstab  sieht,  an  dem 
die  Entwicklung  einer  Sprache  gemessen  werden  könne.  Wo  eine 
solche  Sonderung  überhaupt  nicht  zu  bestehen  scheint,  wo  also  die 
Sprache  den  gleichen  Bestandteilen  bald  einen  selbständigen  Begriffs- 
inhalt gibt,  bald  sie  bloß  zum  Ausdruck  von  Begriffsbeziehungen 
gebraucht,  da  gelten  die  Sprachen  als  ,, völlig  formlos".  Ihnen  werden 
dann  die  zu  einer  durchgängigen  Scheidung  jener  Elemente  hindurch- 
gedrungenen eigentlichen  Flexionssprachen,  das  Indogermanische 
imd  Semitische,  als  die  ,, reinen  Formsprachen"  gegenübergestellt. 
Zwischen  diesen  beiden  Extremen  sollen  sich  die  andern  Sprachen, 
z.  B.  die  ,,agglutinativen",  als  solche  bewegen,  die  der  Formlosigkeit 
noch  nicht  entsagt  haben,  in  denen  aber  doch  ein  gewisses  Streben 
nach  Formbildung  erkennbar  sei.  Neben  diesem  formalen  Gesichts- 
punkt wird  übrigens  auch  ein  innerer,  begrifflicher  zur  Geltung  ge- 
bracht, indem  man  ,, formlos"  eine  Sprache  nennt,  wenn  in  ihr  die 
konkrete  sinnliche  Anschauung  vorwaltet  und  abstrakte  Begriffs- 
verhältnisse nicht  zum  Ausdruck  kommen.  Diese  beiden  Merkmale 
werden  endlich  dadurch  zueinander  in  Beziehung  gesetzt,  daß 
man  die  begrifflichen  Eigenschaften  der  ,, inneren",  die  formalen 
der  ,, äußeren  Sprachform"  zuweist,  wobei  sich  äußere  und  innere 
Sprachform  ungefähr  wie  Leib  und  Seele  zueinander  Verhalten 
sollen. 

Den  ersten  Anstoß  zur  Entwicklung  dieser  eigentümlichen  Ideen 
hat  W.  von  Humboldt  durch  seine  Unterscheidung  von  ,,  Stoff-"  und 
,, Formelementen"   der   Sprache  gegeben,      Ihre  Anwendung  auf  die 


^)  Vgl.  O.  Böthlingk,  Über  die  Sprache  der  Jakuten.  (Middendorfs  Reise 
in  den  äußersten  Norden  und  Osten  Sibiriens,  III.)  1851,  Einleitung,  Für  die 
amerikanischen  Sprachen  weist  aus  ähnlichen  Gründen  Fr.  Lieber  die  Ausdrücke 
„agglutinativ"  und  „polysynthetisch''  zurück  (American  Languages,  in  School- 
craft,  Ethnological  Researches,  1851,  II,  p.  346  ff.). 


602  Die  Wortbildung. 


Untersclieidung  der  Spraclitypen  ist  hauptsächlich  das  Werk  Stein- 
thals ^).  Daß  dadurch  das  Verständnis  der  genetischen  Verhältnisse 
der  Sprachen  gefördert  worden  sei,  läßt  sich  kaum  behaupten.  Wohl 
aber  ist  der  schablonenhafte  Gegensatz  von  Form  und  Formlosig- 
keit schon  bei  Steinthal  selbst  und  mehr  noch  bei  seinen  Nachfolgern 
zu  einer  leeren  Formel  geworden,  mit  der  man  über  die  wirklichen 
psychologischen  Unterschiede  der  Erscheinungen  hinwegging.  Die 
ganze  Auffassung  erregt  schon  dadurch  Bedenken,  daß  dabei  der 
Begriff  der  „Form"  in  zwei  ganz  verschiedenen  Bedeutungen  auf- 
tritt, die  durchaus  willkürlich  in  Beziehung  gesetzt  sind.  Einmal  soll 
die  Formlosigkeit  gewisser  Sprachen  darin  bestehen,  daß  sich  in  ihnen 
Form  und  Stoff  nicht  geschieden  haben;  sodann  aber  darin,  daß  sie 
nicht  zu  einer  deutlichen  Ausbildung  der  grammatischen  Begriffs- 
verhältnisse gelangt  sind.  Nun  entsprechen  die  Stoff bestandteile 
des  Wortes  nach  ihrer  begrifflichen  Bedeutung  dem,  was  wir  oben 
„Grundelemente",  die  grammatische  Form  entspricht  dem,  was  wir 
„Beziehungselemente"  genannt  haben.  Dabei  hat  sich  jedoch  gezeigt, 
daß,  sobald  man  von  der  durchaus  hypothetischen  realen  Existenz 
von  ,, Wurzeln"  Verschiedener  Gattung  absieht  und  lediglich  die  tat- 
sächlich gegebenen  Wortgebilde  ins  Auge  faßt,  die  Scheidung  zwischen 
jenen  Grund-  und  Beziehungselementen  auch  in  den  sogenannten 
Formsprachen  eine  fließende  ist  (S.  595).  Auf  der  andern  Seite  gibt 
es  überhaupt  keine  Sprache,  wo  dies  Verhältnis  nicht  in  den  vor- 
handenen Wortbildungen  zum  Ausdruck  käme.  Vollends  der  Grad 
der  begrifflichen  Ausbildung  einer  Sprache  steht  im  allgemeinen  zu 
der  Zahl  der  in  ihr  verwendeten  formalen  Elemente  insofern  in  einem 
gegensätzlichen  Verhältnis,  als  eine  konkretere  Form  des  Denkens 
natürlich  mannigfaltigere  Beziehungsformen  der  Begriffe  verlangt 
als  eine  abstraktere,  in  der  sie  auf  wenige  Grundverhältnisse  redu- 
ziert sind.  Für  diese  allgemeineren  Grund  Verhältnisse  pflegen  dann 
hinwiederum  in  der  konkreteren  Sprachform  keine  besonderen  Aus- 
drucksmittel vorhanden  zu  sein.    So  kommt  es,  daß  man  nach  diesen 


1)  Vgl.  besonders  Klassifikation  der  Sprachen,  •  S.  72  ff.,  Charakteristik 
der  hauptsächlichsten  Typen  des  menschlichen  Sprachbaues,  1860,  S.  312  ff., 
und  an  vielen  andern  Orten. 


Reale  Bedeutung  der  Sprachwurzeln.  603 

Kennzeichen  der  ,, inneren  Sprachform"  eine  Sprache  bald  deshalb 
„formlos"  nennt,  weil  sie  an  Formen  reicher,  bald  aber  auch  deshalb, 
weil  sie  an  Formen  ärmer  ist  als  eine  sogenannte  Formsprache.  In 
Wahrheit  gibt  es  eben  eine  formlose  Sprache  überhaupt  nicht,  und  der 
Begriff  einer  solchen  steht  psychologisch  auf  gleicher  Linie  wie  der 
einer  Sprache,  die  bloß  aus  Wörtern,  nicht  aus  Sätzen  bestehe,  — 
eine  Annahme,  die  nicht  einmal  für  die  Gebärdensprache  zutrifft^). 
Die  charakteristischen  Unterschiede  der  verschiedenen  Sprachformen 
stehen  aber  in  so  unmittelbarem  Zusammenhang  mit  dem  Aufbau 
des  Satzes,  daß  die  Formen  der  Wortbildung  immer  nur  er- 
gänzende Kriterien  abgeben  können;  noch  weniger  lassen  sich 
solche  aus  der  Unterscheidung  der  ohnehin  hypothetischen  Wurzeln 
entnehmen. 

4.  Reale  Bedeutung  der  Sprachwurzeln. 

Wie  sich  die  Anwendung  der  Wurzeltheorie  zur  Erklärung  der 
Verschiedenheiten  des  Sprachbaues  als  undurchführbar  erweist,  so 
begegnet  nun  auch  innerhalb  der  einzelnen  Sprachgebiete  die  An- 
nahme, daß  die  Wurzeln  die  ursprünglichen,  noch  unverbundenen 
oder  unentwickelten  Wortgebilde  selbst  seien,  unüberwindlichen 
Schwierigkeiten.  Zunächst  gibt  es  ja  nicht  bloß  Wurzeln,  die  bis  zu 
der  einer  ganzen  Sprachfamilie  gemeinsamen  hypothetischen  Grund- 
sprache zurückgehen,  sondern  auch  andere,  die  jedem  der  aus  ihr 
hervorgegangenen  Sprachzweige  für  sich  eigen  sind,  also  z.  B.  neben 
den  indogermanischen  indische,  griechische,  lateinische,  germanische. 
Wollte  man  diesen  Sonderwurzeln  ebenfalls  eine  einstmalige  reale 
Existenz  zugestehen,  so  müßte  man  entweder  voraussetzen,  die  so- 
genannte „Wurzelperiode"  sei  bei  der  Trennung  in  Einzelsprachen 
noch  nicht  vorüber  gewesen,  was  mit  der  Tatsache,  daß  nicht  bloß 
Wurzeln,  sondern  auch  Wortformen  aus  der  gemeinsamen  Grund- 
sprache in  ihre  Töchtersprachen  übergingen,  unvereinbar  ist;  oder 
man  müßte  annehmen,  der  Trieb  neue  Wurzeln  zu  bilden  habe  auch 


1)  Vgl.  oben  Kap.  II,  S.  216  ff. 


604  Die  Wortbildung. 


nach  der  ursprünglichen  Wurzelperiode  partiell  noch  eine  längere  Zeit 
fortgedauert^).  Nun  ist  klar,  daß  eine  solche  inmitten  bereits  bestehen- 
der Wortbildungen  eingetretene  Neuschöpfung  unmöglich  in  der 
Produktion  isolierter  Wurzeln  bestehen  könnte,  sondern  daß  sie  nur 
in  derselben  Form  denkbar  wäre,  in  der  noch  gegenwärtig  in  der 
Sprache  Neuschöpfungen  vorkommen:  also  in  der  Form  neuer  Wörter, 
wobei  die  Wurzel  von  Anfang  an  bloß  als  Bestandteil  eines  wirk- 
lichen Wortes  existierte.  Dann  ist  aber  wieder  nicht  einzusehen,  warum 
nicht  in  ähnlicher  Weise  in  der  Ursprache  die  Wurzeln  entstanden 
sein  sollten.  So  hat  denn  auch  die  Mehrzahl  der  Sprachforscher  jene 
Annahme  einer  Identität  der  Wurzeln  mit  dem  Wort  auf  die  Ursprache, 
also  z.  B.  die  indogermanische  Grundsprache,  eingeschränkt,  womit 
freilich,  da  es  nun  einmal  Wörter  gibt,  die  auf  Sonderwurzeln  zurück- 
führen, die  Schwierigkeit  entsteht,  daß  man  eigentlich  zweierlei  Wur- 
zeln annehmen  müßte,  solche  von  realer  Bedeutung,  und  andere, 
die  bloß  als  Resultate  grammatischer  Analyse  anzusehen  sind.  Eine 
letzte,  psychologisch  betrachtet  nicht  die  kleinste  Schwierigkeit  be- 
reitet endlich  die  logische  Stellung  der  durch  die  Wurzelanalyse 
gefundenen  Begriffe.  Diese  Analyse  ergibt  nämlich  fast  durchgängig 
für  die  Wurzeln  solche  Begriffe,  die  eine  Tätigkeit,  einen  Vorgang 
oder  Zustand  ausdrücken,  also  Verbalbegriffe.  Als  bloßes  Ergebnis 
logisch-grammatischer  Analyse  betrachtet  ist  dies  Resultat  begreif- 
lich. Denn  es  ist  selbstverständlich,  daß  die  einer  Wurzel  zukommende 
begriffliche  Bedeutung  allgemeiner  sein  muß  als  die  aller  der  Wörter, 
in  die  sie  eingeht.  Zustands-  und  Eigenschaftsbegriffe  sind  aber  stets 
allgemeiner  als  Gegenstandsbegriffe,  und  zugleich  stehen  die  beiden 
ersteren  wieder  in  dem  Verhältnis  zueinander,  daß  die  Eigenschafts- 
immer  leicht  in  Zustandsbegriffe  übergeführt  werden  können,  während 
das  Umgekehrte  nicht  zutrifft.  So  kann  man  den  Eigenschaften  ,,grün", 
„groß",  „gut"  usw.  Begriffe  wie  „grün  sein",  ,,groß  sein",  „gut  sein" 
usw.  substituieren;  bei  ,, gehen",  ,, laufen",  ,, liegen"  u.  dgl.  ist  aber 
der  umgekehrte  Ersatz  nicht  möglich.  Stellt  man  daher  die  Frage, 
welcher  Begriff  der  einer  bestimmten  Wortsippe  gemeinsame  sei, 
so  muß  sich  mit  innerer  Notwendigkeit  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  ein 


^)  Vgl.  G.  Curtius,  Griechische  Etymologie,^  S.  45  ff. 


Reale  Bedeutung  der  Sprachwurzeln.  605 

Verbalbegriff  ergeben.  Sind  die  Wurzeln  ursprüngliche  Wörter,  nicht 
bloß  Produkte  der  Analyse  und  Abstraktion,  so  muß  aber  dieses  lo- 
gische Ergebnis  ebenfalls  eine  reale  Bedeutung  haben.  Eine  solche 
ist  jedoch  im  vorliegenden  Falle  kaum  begreiflich.  Denn  man  kann 
sich  unmöglich  denken,  der  Mensch  habe  irgendeinmal  bloß  in  Verbal- 
begriffen gedacht.  Das  Umgekehrte,  daß  er  bloß  in  gegenständlichen 
Vorstellungen  gedacht  habe,  könnte  man  nach  den  psychologischen 
Eigenschaften  dieser  eher  verstehen;  und  in  der  Tat  finden  sich  deut- 
liche Spuren  eines  solchen  Zustandes  nicht  nur  in  der  Sprechweise 
des  Kindes,  sondern  auch  in  zahlreichen  Volkssprachen,  die  einen 
ursprünglicheren  Zustand  begrifflicher  Entwicklung  bewahrt  haben  ^). 
Nichtsdestoweniger  haben  schon  die  alten  Sanskritgrammatiker  den 
Schritt  getan,  von  jenem  Ergebnis  der  Wortanalyse  auf  die  verbale 
Natur  der  Urwörter  zu  schließen;  und  die  neuere  Sprachwissenschaft 
ist  ihnen  in  der  Mehrzahl  ihrer  Vertreter  gefolgt,  wenngleich  dieser 
Bestandteil  der  Wurzeltheorie  eine  weniger  allgemeine  Aufnahme 
fand,  da  vielfach  neben  den  Verbal-  auch  reine  Nominalwurzeln  an- 
erkannt werden.  Immerhin  bleibt  das  Ergebnis  bestehen,  daß  auch 
dann,  wie  die  Durchsicht  eines  jeden  auf  Wurzeln  zurückgehenden 
etymologischen  Wörterbuchs  zeigt,  die  Verbalwurzeln  eine  enorme 
Majorität  bilden. 

Da  man  sich  allen  diesen  Bedenken  wohl  nicht  ganz  verschließen 
kann,  so  ist  in  der  Sprachwissenschaft  allmählich  ein  zwiespältiger 
Zustand  eingetreten.  Man  bedient  sich  der  Wurzeln,  um  den  gemein- 
samen Ursprung  einer  Wortsippe  aufzuzeigen  oder  auf  den  gemein- 
samen Wortschatz  der  zu  einer  Sprachfamilie  vorauszusetzenden 
Grundsprache  zurückzuschließen.  Aber  die  Frage  ihrer  realen  Existenz 
bleibt  in  der  Regel  unberührt;  2). 


1)  Vgl.  unten  Kap.  VI  und  VII,  und  bes.  Kap.  VII,  Nr.  VIII. 

2)  Dem  skeptischen  Standpunkt  der  heutigen  Sprachwissenschaft  hin- 
sichtlich der  Wurzeln  geben  die  Betrachtungen,  mit  denen  Brugmann  die  Ein- 
leitung seines  Grundrisses  schließt,  einen  bezeichnenden  Ausdruck  (Grundriß 
der  vergl.  Grammatik  der  indogerm.  Sprachen,  I,  S.  17  f.).  Noch  charakteristischer 
ist  "es  wohl,  daß  in  H.  Pauls  „Prinzipien  der  Sprachgeschichte"  das  Wort  „Wurzel" 
überhaupt  kaum  vorkommt.    Nicht  unerwähnt  darf  übrigens  bleiben,  daß  schon 


606  Die  Wortbildung. 


Gleichwolil  steht  diese  Frage  im  engsten  Zusammenhang  mit 
einer  weiteren,  die  psychologisch  von  hoher  Bedeutung  ist:  mit  der 
nach  dem  Verhältnis  des  Wortes  zum  Satze.  Ist  das  Wort 
früher  als  der  Satz,  ist  dieser,  ebenso  wie  wir  ihn  in  der  gegenwärtigen 
Sprache  aus  Wörtern  zusammensetzen,  von  Anfang  an  eine  Verbin- 
dimg von  Wörtern,  so  wird  der  Annahme  kaum  zu  entgehen  sein, 
daß  ,, Wurzeln"  irgendwelcher  Art,  seien  es  diejenigen,  die  heute  die 
Wortanalyse  nachweist,  seien  es  andere,  die  ihnen  Vorausgingen,  die 
Urwörter  gewesen  seien.  Denn  dies  kann  auf  Grund  der  Wortanalyse 
nicht  bezweifelt  werden,  daß  im  allgemeinen  das  Wort  ein  zusammen- 
gesetztes Gebilde  ist.  Ist  also  das  Wort  ursprünglich  ein  isoliertes 
Gebilde,  das  sich  erst  nachher  mit  andern  Wörtern  zum  Aufbau  von 
Sätzen  Verbindet,  so  ist  der  Schluß  kaum  zu  umgehen,  daß  auch  die 
Bestandteile  des  Wortes  ursprünglich  isoliert  existiert  haben.  Ist 
dagegen  der  Satz  früher  als  das  Wort,  ist  demnach  dieses  erst  aus 
der  Zerlegung  des  Satzes  in  seine  Bestandteile  hervorgegangen,  dann 
sind  auch  die  Elemente  des  Wortes  keine  ursprünglich  isolierten  Ge- 
bilde, und  es  lassen  sich  mannigfache  Wege  denken,  auf  denen  sich 
durch  Wechselwirkung  verschiedener  Satzteile  und  durch  den  Ein- 
fluß verschiedener  Sätze  aufeinander  das  Wort  als  relativ  selbständig 
gewordener  Teil  der  Rede  ausgeschieden  hat.     (Vgl.  unten  5.) 

Für  den  Standpunkt  der  Wortanalyse  reduziert  sich  aber  der 
Begriff  der  Wurzel,  wenn  wir  von  allen  an  ihn  geknüpften  geschicht- 
lich unerweisbaren  und  psychologisch  unwalj.rscheinlichen  Hypo- 
thesen absehen,  auf  die  Tatsache,  daß  es  Lautkomplexe  gibt, 
die  unverändert  durch  eine  Eeihe  von  Wörtern  verfolgt 
werden  können.  Dieser  reine  Konstitutionsbegriff  ist  natürlich 
sehr  wohl  mit  der  Voraussetzung  vereinbar,  daß  isolierte  Wurzeln 
überhaupt  niemals  in  der  Sprache  Vorhanden  waren,  da  Wortreihen, 
die  einen  übereinstimmenden  Lautkomplex  enthalten,  immer  dann 
entstehen    werden,    wenn    ein    übereinstimmender    Grundbegriff    die 


vor  langer  Zeit  A.  F.  Pott  die  Auffassung  vertreten  hat,  die  Wurzeln  seien  bloße 
grammatische  Abstraktionen,  ohne  dabei  freilich  der' Annahme  einer  realen  Be- 
deutung der  Wurzeln  ganz  zu  entsagen  (Pott,  Etymologische  Forschungen,^  II, 
1,   1861,   S.   193  ff.). 


Reale  Bedeutung  der  Sprachwurzeln.  607 

Reilie  verbindet,  ähnlicli  wie  wir  das  noch  heute  bei  neuen  Wort- 
schöpfungen und  bei  der  Entstehung  von  Lautanalogien  beobachten. 
Dabei  mag  es  geschehen,  daß  ein  einzelnes  Wort  früher  ist  als  andere, 
die  durch  gleichzeitige  Begriffs-  und  Lautassoziation  nach  ihm  sich 
bildeten;  es  kann  aber  auch  sein,  daß  Wörter  von  übereinstimmen- 
dem Lautcharakter  unabhängig  Voneinander  aus  den  nämlichen  ur- 
sprünglichen Beziehungen  zwischen  Laut  und  Bedeutung  heraus  ent- 
standen. Überall,  wo  es  sich  um  ursprüngliche  Wortschöpfungen 
handelt,  sind  selbstverständlich  nur  Vermutungen  darüber  möglich, 
ob  das  eine  oder  andere  wirklich  stattgefunden  habe.  Bei  der  Un- 
geheuern Bedeutung,  die,  wie  die  Erscheinungen  des  Lautwandels 
gezeigt  haben,  den  Lautassoziationen  von  frühe  an  in  der  Sprache 
zukommt,  und  bei  der  großen  Übereinstimmung  der  als  Wur- 
zeln betrachteten  Lautkomplexe  wird  man  aber  als  die  Regel 
annehmen  dürfen,  daß  die  Bildung  einer  Gruppe  verwandter 
Wörter  zunächst  von  einem  einzelnen  Wort  ausging;  worauf 
dann,  nachdem  erst  eine  geringe  Anzahl  weiterer  Wortbildungen 
entstanden  war,  jedes  der  so  gebildeten  neuen  Wörter  selbst 
wieder  zum  Mittelpunkt  von  Assoziationen  werden  konnte,  durch 
die  sich  der  Geltungsbereich  einer  und  derselben  Wurzel  er- 
weiterte^). 


^)  Gegenüber  den  hier  geäußerten  Einwänden  gegen  die  Annahme  einer 
Wurzelperiode  der  Sprache  ist  neuerdings  von  Delbrück  (Grundfragen  der  Sprach- 
forschung, S.  113 f.),  Sütterlin  (Das  Wesen  der  sprachlichen  Gebilde,  S.  56 ff.) 
und  P.  W.  Schmidt  (Mitteilungen  der  Anthropol.  Ges.  in  Wien,  Bd.  33,  1903, 
S.  373)  der  Versuch  gemacht  worden,  sie  als  eine  berechtigte  nachzuweisen.  Zu- 
nächst beruhen  aber  die  Gründe  dieser  Forscher  auf  dem  bekanntlich  nicht  ein- 
wandfreien methodologischen  Grundsatz:  eine  Annahme,  deren  Unrichtigkeit 
nicht  mit  absoluter  Sicherheit  nachzuweisen  sei,  könne  als  erlaubt  zugelassen 
werden.  Nun  läßt  sich  über  vorhistorische  Zustände  der  Sprache  natürlich  über- 
haupt nichts  mit  absoluter  Sicherheit  aussagen.  Von  diesem  Standpunkt  aus 
würde  sich  also  jede  beliebige  Hypothese  rechtfertigen  lassen.  An  die  Stelle  jenes 
Grundsatzes  sollte  vielmehr,  wie  ich  meine,  der  andere  treten:  zulässig  ist  eine 
Annahme,  wenn  sie  sowohl  geschichtlich  wie  psychologisch  wahrscheinlich  ist. 
Nun  kann  man  möglicherweise  über  die  geschichtliche  WahrscheinUchkeit 
einer  Wurzelperiode  streiten.  Nur  steht  freilich  selbst  geschichtlich  diese  Hypothese 
deshalb  in  der  Luft,  weil  man  zugeben  muß,  daß  die  heute  nachzuweisenden 
Wurzeln  möglicherweise  gar  nicht  die  ursprünglichen  sind,  sondern,  wie  Brugmann 


608  Die  Wortbildung 


Nacli  allem  dem  ist  klar,  daß  der  Begriff  des  ,, Elements"  eigent- 
lich dasjenige  ist,  was  das  Wort  ,, Wurzel"  mit  einem  irreführenden 
Bilde  bezeichnet.  Die  Wurzeln  sind  Wortelemente,  letzte  Bestand- 
teile, zu  denen  die  Wortanalyse  führt,  die  aber  unmittelbar  nur  in 
den  aus  solchen  Elementen  zusammengesetzten  Wortgebilden  nach- 
weisbar sind.  Sie  sind,  im  Unterschiede  von  den  Lautelementen, 
diejenigen  Lautbestandteile,  welche  den  in  einer  Reihe  bedeutungs- 
verwandter Wörter  vorkommenden  Begriffselementen  entsprechen. 
Da  es  nun  eine  doppelte  Art  der  Bedeutungsverwandtschaft  gibt, 
die  zwei  Wörter  verbinden  kann,  eine  solche,  die  auf  den 
eigentlichen  Begriffsinhalt  geht,  und  eine  andere,  welche  die 
Beziehungen  zu  den  sonst  in  der  Rede  vorkommenden  Begriffen 
hervorhebt,  so  sind  zwei  Arten  Von  Wortelementen  möglich: 
Grundelemente  und  Beziehungselemente.  Die  so  definierten 
Wortelemente  sind  aber  selbstverständlich  nur  Elemente  der  ge- 
gebenen Wortvorstellungen;  die  Frage,  wie  das  Wort  ent- 
standen sei,  bleibt  davon  unberührt.  Die  Annahme  einer  ,, Wurzel- 
periode"   ist    daher    eine    Fiktion,    die  weder    in   den  Erscheinungen 


andeutet,  vielleicht  samt  und  sonders  sogleich  in  Wortzusammensetzungen  ent- 
standen, die  sich  nach  Analogie  vor  ihnen  dagewesener  Zusammensetzungen 
bildeten  (Brugmann,  Grundriß,^  I,  S.  32  f.).  Damit  ist  natürlich  der  Einwand 
der  einzelsprachlichen  Wurzeln  aus  der  Welt  geschafft.  Aber  es  ist  auch  jeder 
historische  Grund  hinfällig  geworden,  der  überhaupt  noch  für  eine  Wurzel- 
periode der  Sprache  eintreten  könnte.  Doch  ist  die  Frage  zugleich  vom  histo- 
rischen auf  das  psychologische  Gebiet  verwiesen.  Denn  wenn  die  angeblichen 
realen  Urwurzeln  historisch  nicht  mehr  nachweisbar  sind,  so  ist  der  Beweis  für 
eine  ursprüngliche  Wurzelperiode  nur  noch  dadurch  zu  führen,  daß  man  sie  als 
psychologisch  wahrscheinlich  nachweist.  Davon  trifft  aber,  wie  oben  gezeigt 
wurde,  das  Gegenteil  zu.  Auch  geben  sich  die  Sprachforscher,  die  für  die  primitive 
Wurzelperiode  eintreten,  nicht  einmal  die  Mühe,  eine  solche  Wahrscheinlichkeit 
zu  begründen,  sondern  sie  begnügen  sich  in  der  Regel  mit  der  Versicherung,  daß 
diese  Annahme  eine  ,, bequeme"  oder  mindestens  eine  „unschädliche"  sei.  (Del- 
brück a.  a.  0.  S.  120.)  Doch  abgesehen  davon,  daß  wissenschaftliche  Hypothesen 
nicht  an  dem  Maßstabe  der  Bequemlichkeit,  sondern  an  dem  der  Wahrscheinlich- 
keit gemessen  werden  sollten,  scheint  es  mir  mindestens  unschädlicher,  wenn  man 
den  Wurzeln  auch  in  der  Geschichte  der  Sprache  keine  andere  Bedeutung  beimißt 
als  diejenige,  die  sie,  soweit  sie  sich  überhaupt  verfolgen  lassen,  immer  besessen 
haben,  nämlich  den  von  bedeutsamen  Wortbestandteilen. 


Wort  und  Satz.  609 


der  wirklichen  Sprache  eine  Stütze  findet,  noch  mit  dem,  was 
uns  sonst  die  psychologische  Entwicklung  lehrt,  in  Einklang  zu 
bringen  ist. 

5.  Wort  und  Satz. 

Die  alte  Vorstellung,  der  Satz  werde  aus  ursprünglich  selbständig 
existierenden  Wörtern  zusammengesetzt,  kann  heute  wohl  in  der 
wissenschaftlichen  Grammatik  als  beseitigt  gelten.  Sie  ist  hier  der  ihr 
verwandten  Ansicht  der  alten  Stoiker,  das  Wort  selbst  sei  eine  Ver- 
bindung von  Silben  und  Buchstaben,  allmählich  nachgefolgt.  In 
der  lebendigen  Sprache  existieren,  wie  H.  Paul  mit  Recht  hervor- 
hebt, noch  jetzt  vielfach  die  Grenzen  nicht,  welche  die  Schrift- 
sprache zwischen  den  einzelnen  Wörtern  festsetzt^).  Vollends  wo 
die  literarische  Fixierung  mangelt,  da  beruht  die  Scheidung  Von 
Wort  und  Satz  vielfach  erst  auf  der  Willkür  des  Sprachforschers. 
Bei  den  Sprachen,  die  dem  sogenannten  ,,agglutinativen''  Typus 
angehören,  scheitert  nicht  selten  eine  solche  Scheidung  tatsächlich 
daran,  daß  ein  Ganzes  nach  dem  Zusammenhang  seiner  Teile  als 
ein  einziges  Wort  aufgefaßt  werden  kann,  während  es  doch  nach 
seinem  Gedankeninhalt  auf  den  vollen  Wert  eines  Satzes  An- 
spruch machen  darf.  So  drückt  das  türkische  Verbum  nicht 
bloß  Aktivum,  Passivum  und  Zeitbestimmungen  der  Handlung, 
sondern  auch  reflexive,  kausative,  iterative  Beziehungen  durch  cha- 
rakteristische Lautelemente  aus,  die  mit  dem  Verbalstamm  ver- 
bunden werden.  Wenn  z.  B.  der  Gedanke  ,,ich  veranlasse  euch, 
euch  gegenseitig  zu  lieben"  durch  eine  einzige  Verbalform  wieder- 
gegeben werden  kann,  so  sehen  wir  hier  die  Grenzen  der  Worteinheit 
mindestens  viel  weiter  gezogen,  als  es  in  unseren  europäischen  Kultur- 
sprachen möglich  ist.  Oder  wenn  ein  Delaware-Indianer  den  Satz 
„er  kommt  mit  dem  Kahn  und  holt  uns  über  den  Fluß"  in  einer  Wort- 
verbindung ausdrückt,  die  mit  dem  Verbalstamm  beginnt  und  mit 
dem  zugehörigen  Personalpronomen  endet,  so  dokumentiert  sich  da- 
durch wiederum  ein  solches  Gebilde  als  ein  einziges  Wort.    Dennoch 


^)  H.  Paul,  Prinzipien  der  Sprachgeschichte,^  S.  121  ff. 

Wundt,  Völkerpsychologie.     I.    4.  Anfl.  ^" 


610  Die  Wortbildung. 


enthält  es  den  in  einem  Satz  auszudrückenden  Gedanken  mit  allen 
seinen  Nebenbestimmimgen.  Worteinheit  und  Satzeinheit  fallen  also 
hier  vollständig  zusammen.  In  einem  allerdings  sehr  viel  geringeren 
Grade  besteht  ein  analoger  Unterschied,  wie  wir  ihn  zwischen  solchen 
,,agglutinativen''  Sprachformen  und  unseren  Flexionssprachen  beob- 
achten, auch  noch  zwischen  den  älteren  und  jüngeren  Formen 
der  letzteren.  Naijientlich  das  Sanskrit,  bis  zu  einem  gewissen  Grad 
aber  auch  das  Griechische,  Lateinische,  Gotische  vermögen  mannig- 
fache Beziehungen  der  Begriffe  durch  Suffixe  des  Nomens  und  Ver- 
bums auszudrücken,  für  die  wir  besonderer  Wörter,  der  Präpo- 
sitionen, Personalpronomina  und  Hilfszeitwörter,  bedürfen.  Dadurch 
e*rscheint  der  Satz  beim  Übergang  von  den  älteren  zu  den  jüngeren 
Sprachformen  weit  mehr  in  Einzelwörter  gegliedert,  und  die  dem 
Verbum  dereinst  innewohnende  Fähigkeit,  Ausdruck  eines  einzigen 
Gedankens,  also  Wort  und  Satz  zugleich  zu  sein,  ist  allmählich 
Verloren  gegangen.  Das  lateinische  amavi  ist  Wort  und  Satz  zu- 
gleich. Der  Romane  löst  diesen  Gedanken  in  die  drei  Wörter  auf: 
ego  habeo  amatum,  fai  aime.  Wenn  wir  demnach  einerseits  Sprachen 
von  einer  sichtlich  primitiveren  Entwicklungsform  mit  ausgebil- 
deteren Sprachen,  und  wenn  wir  anderseits  die  früheren  Stufen  einer 
und  derselben  Sprache  mit  ihren  späteren  vergleichen,  so  erweist 
sich  überall  die  Scheidung  der  Redeteile  als  derjenige  Vor- 
gang, der  das  Wort  aus  dem  Ganzen,  zu  dem  es  gehört,  dem 
Satz,  allmählich  loslöst,  ihm  eine  relativ  größere  Selbständigkeit  ver- 
leiht und  mit  seiner  selbständigen  Bedeutung  zugleich  seine  gram- 
matische Form  fixiert. 

Diesem  Verhältnis  des  Wortes  zum  Satz  entspricht  nun  durch- 
aus die  Stellung,  die  beide  nach  der  unmittelbaren  psychologischen 
Beobachtung  in  dem  Verlauf  unserer  Vorstellungen  einnehmen.  Wenn 
uns  oben  die  Versuche  über  Wort-  und  Satzapperzeption  gelehrt 
haben,  daß  zunächst  das  einzelne  Wort  als  ein  Ganzes  aufgefaßt  wird, 
so  ist  nicht  zu  vergessen,  daß  sich  solche  Experimente  immer  nur  auf 
Individuen  beziehen,  die  an  ein  das  Ganze  des  Satzes  in  seine  Be- 
standteile gliederndes  Denken  und  an  isolierte  Wortvorstellungen 
gewöhnt  sind.  Die  Art,  wie  sich  hier  das  Wort  als  Einzel  Vorstellung 
aus  dem  Satze  abhebt,  ist  daher  von  diesen  durch  Tradition  und  früh 


Wort  und  Satz.  611 


erworbene  Übung  längst  gewonnenen  Scheidungen  bestimmt.  Anders 
bei  dem  Naturmenschen,  in  dessen  Denken  das  Wort  überhaupt  kein 
fest  sich  abgrenzendes  Gebilde  ist,  sondern  nur  der  Satz  durch  den 
sicher  ausgeprägten  Abschluß  des  Gedankeninhalts  als  eine  bestimmte 
Einheit  erscheint.  Bei  ihm  dominiert  dieses  Ganze.  Von  den  Einzel- 
vorstellungen, die  in  dasselbe  eingehen,  mögen  einzelne,  namentlich 
solche,  die  sich  auf  in  der  Wahrnehmung  gegebene  Gegenstände  be- 
ziehen, bereits  fester  umgrenzt  sein,  andere,  besonders  Raum-  und 
Zeitbestimmungen,  die  Arten  der  Tätigkeit  und  des  Verhaltens  der 
Gegenstände,  bleiben  eng  mit  den  sie  tragenden  Hauptvorstellungen 
verbunden.  Aber  auch  bei  jenen  relativ  isolierbareren  gegenständ- 
lichen Inhalten  bleibt  die  Beziehung  zu  dem  Ganzen,  dem  sie  an- 
gehören, eine  so  unmittelbare,  daß  jeweils  das  Einzelne  nur  in  seiner 
konkreten  Verbindung  mit  dem  Ganzen  dem  Bewußtsein  gegenwärtig 
ist.  Auf  solche  Weise  ist  der  Satz  gegenüber  dem  Wort  insofern  die 
ursprünglichere  Vorstellungseinheit,  als  der  in  dem  Satz  ausgedrückte 
Inhalt  auf  jeder  Stufe  des  Denkens  gegenüber  andern  ähnlichen  In- 
halten ein  relativ  abgeschlossenes  Ganzes  ist.  Bezeichnen  wir  den 
dem  Satz  entsprechenden  Bewußtseinsinhalt  als  eine  Gesamtvor- 
stellung, so  bildet  demnach  jedes  Wort  des  Satzes  eine  Einzel- 
vorstellung,  der  in  jener  eine  bestimmte  Stellung  zukommt,  in- 
dem sie  mit  den  übrigen  in  die  gleiche  Gesamtvorstellung  ein- 
gehenden Einzelvorstellungen  in  Beziehungen  und  Verbindungen 
gesetzt  ist.  Dieses  Verhältnis  an  sich  ist  ein  der  Sprache  auf 
allen  Stufen  und  in  allen  Formen  ihrer  Entwicklung  imausbleiblich 
zukommendes.  Nur  die  Festigkeit  der  Verbindungen  ist  eine  außer- 
ordentlich abweichende,  so  daß  dadurch  bald  Wort-  und  Satz- 
einheit  fast  ununterscheidbar  zusammenfließen,  bald  scharf  ge- 
gliedert einander  gegenüberstehen.  Aber  selbst  diese  Unter- 
schiede der  Sprachformen  ermäßigen  sich  in  der  lebendigen 
Rede,  indem  hier  die  Verbindung  zu  einem  Ganzen,  die  dem  natür- 
lichen Primat  des  Satzes  entspricht,  immer  wieder  zur  Vorherrschaft 
gelangt. 

Leicht  kann  man  sich  übrigens  von  diesem  Verhältnis  der  die 
Satzinhalte  bildenden  Gesamtvorstellungen  zu  den  durch  die  Worte 
repräsentierten  Einzelvorstellungen  bei  aufmerksamer  Selbstbeobach- 

39* 


612  Die  Wortbildung. 

tung  während  der  Rede  überzeugen.  In  dem  Moment,  wo  ich  einen 
Satz  beginne,  steht  das  Ganze  bereits  als  eine  Gesamtvorstellung  in 
meinem  Bewußtsein.  Dabei  pflegt  diese  aber  nur  in  ihren  Haupt- 
umrissen einigermaßen  fester  geformt  zu  sein;  alle  ihre  Bestandteile 
sind  zunächst  noch  dunkel  und  heben  sich  erst  in  dem  Maße,  als  sie 
sich  zu  klaren  Vorstellungen  verdichten,  als  Einzelworte  ab.  Der 
Vorgang  gleicht  ungefähr  dem  bei  der  plötzlichen  Erleuchtung  eines 
zusammengesetzten  Bildes,  wo  man  zuerst  nur  einen  ungefähren  Ein- 
druck vom  Ganzen  hat,  dann  aber  sukzessiv  die  einzelnen  Teile,  immer 
in  ihrer  Beziehung  zum  Ganzen,  ins  Auge  faßt.  Übrigens  ist  die  all- 
tägliche Erfahrung,  daß  der  Redende  einen  zusammengesetzten  Satz 
richtig  von  Anfang  bis  zu  Ende  durchführen  kann,  ohne  vorher  über 
ihn  irgendwie  reflektiert  zu  haben,  offenbar  nur  aus  diesem  Verhält- 
nis erklärlich.  Diese  Tatsache  würde  absolut  unverständlich  sein, 
wenn  wir  mosaikartig  aus  einzelnen  zuerst  isolierten  Wortgebilden 
den  Satz  zusammenfügen  müßten. 


6.  Ursachen  der  Wortsonderung. 

Wenn  wir  das  Wort  als  eine  ,, Einzel  Vorstellung"  bezeichnen 
und  diese  dem  Satz  als  einer  sie  enthaltenden  Gesamtvorstellung 
gegenüberstellen,  so  gewinnt  dieses  Verhältnis  seine  Bedeutung  für 
die  Entwicklung  des  sprechenden  Denkens  wesentlich  dadurch,  daß 
hierbei  notwendig  das  beschränktere  und  abhängige  aus  dem  um- 
fassenderen und  bestimmenden  Gebilde  hervorgehen  mußte.  Noch 
erhebt  sich  jedoch  die  Frage  nach  dem  Wie  dieses  Geschehens,  nach 
den  Bedingungen,  die  dem  einzelnen  Wort  allmählich  eine  größere 
Selbständigkeit  und  für  sich  allein  schon  einen  Begriffswert  sichern. 
Nur  einer  dieser  Bedingungen  wurde  bereits  gedacht:  nämlich  der 
Assoziationen,  in  die  ein  einzelnes  Wort  mit  dem  gleichen,  in  irgend- 
einem andern  Satzganzen  vorkommenden  treten  muß,  sobald  die  ent- 
sprechenden Gesamtvorstellungen  infolge  der  Er inn er ungs Vorgänge 
in  hinreichende  Berührung  kommen  um  aufeinander  einwirken  zu 
können  (S.  590  f.).  Hiermit  ist  aber  doch  nur  die  vorbereitende  Be- 
dingung zur  Isolierung  des  Wortes  gegeben;  die  tiefer  liegenden  Ur- 


Ursachen  der  Wortsondernng.  613 

Sachen  des  Vorgangs  sind  dadurch  noch  nicht  aufgedeckt.    Denn  es 
ist  allerdings  selbstverständlich,  daß  sich  irgendeine  Vorstellung  nur 
dann  von  andern  isolieren  kann,  wenn  sie  in  wechselnden  Verbin- 
dungen mit  diesen  vorkommt,  gerade  so  wie  ein  Gegenstand  im  Raum 
erst  durch  seine  Bewegung  als  ein  von  seiner  Umgebung  trennbarer 
erscheint.     Diese  allgemeine  Assoziationsursache  kann  jedoch  ihre 
Wirkungen  nur  zustande  bringen,  weil  der  einzelnen  Wortvorstellimg 
von  vornherein  gewisse  Eigenschaften  anhaften,  vermöge  deren  sie 
überhaupt  isolierbar  ist.    Dies  aber  beruht  auf  Bedingungen,  die  mit 
der  Konstitution  der   Gesamtvorstellungen   sowohl  wie  der  Einzel- 
vorstellungen zusammenhängen  müssen.     Nun  ist  das  Denken  und 
seine  Äußerung  in  der  Sprache  keine  bloße  assoziative  Aneinander- 
reihung.    Solches  würde  allenfalls  denkbar  sein,  vC^enn  der  Satz  eine 
bloße  Verbindung  von  Wörtern  wäre  und  nicht  vielmehr  das  Wort 
selbst  aus  dem  Satze  seinen  Ursprung  nähme.     Da  aber  das  Ganze 
des  Gedankens  das  Primäre  ist,  so  kann  auch  das  primum  movens 
für    die    Isolierung    der    einzelnen    Wortvorstellungen    nur   in    den 
psychischen    Kräften    liegen,     die    eine    Zerlegung    jener    Gesamt- 
vorstellung   in   ihre   Teile  herbeiführen.    Diese   Kräfte   müssen   mit 
denen   der   Konstitution    der    Gesamtvorstellung    selbst    zusammen- 
hängen; sie  können  ihr  nicht  durch  äußere  zufällige  Einwirkungen, 
z.    B.    durch    die    Assoziation     ihrer     einzelnen     Wortbestandteile 
mit  denen    anderer    ähnlicher    Gebilde,    zufließen.     Vielmehr  wird 
letzteres    immer    nur  eine  äußere  Bedingung  bleiben,   durch  welche 
die    in    der    Natur    der    Gesamtvorstellung    als  eines   einheitlichen, 
aber  zusammengesetzten  Gedankens  liegenden   inneren  Bedingungen 
zur    Wirkung     kommen.      Gerade     diese    Einheit    einer    Gesamt- 
vorstellung   ist   es   nun,    die    sich  auf  keine  Weise  als   eine   bloße 
Summe   von  Assoziationen   begreifen   läßt.     Sicherlich  haben   diese 
erst  das  Material   bereit  stellen   müssen,   das   zur  Entstehung  auch 
der     einfachsten,     in     einem     Satz    auszusprechenden    Gesamtvor- 
stellung erforderlich  ist.     Gleichwohl  ist  die  Verbindung  der  in  der 
Sinneswahrnehmung    nur   äußerlich   assoziierten    Objekte    zu   einem 
Ganzen,   dessen   einzelne   Teile   in   bestimmte   Beziehungen   wechsel- 
seitiger   Zugehörigkeit    oder   Abhängigkeit   gesetzt    werden,    ebenso- 
wenig ein  bloßer  Assoziationsakt,  wie  die  willkürliche  Richtung  der 


614  Die  Wortbildung. 


Aufmerksamkeit  auf  irgendwelche  Gegenstände  der  Wahrnelimung, 
unter  absichtlicher  Vernachlässigung  anderer,  oder  die  willkürliche, 
aus  einem  bestimmten  bevorzugten  Motiv  entspringende  äußere  Hand- 
lung eine  bloße  Assoziation  ist.  Alle  diese  Vorgänge  würden  ohne 
die  mannigfachsten  Assoziationen  nicht  möglich  sein.  Sie  setzen  aber 
außerdem  resultierende  psychische  Wirkungen  voraus,  welche  die 
gesamte  psychische  Anlage  und  Vergangenheit  des  Subjekts  zu  ihrer 
Grundlage  haben.  Infolgedessen  erfolgt  jede  Apperzeption  einer 
Gesamtvorstellung  sowohl  wie  der  aus  dieser  sich  ablösenden  Einzel- 
vorstellungen auf  Grund  bestimmter  Willensmotive,  die  aus  der 
Wechselwirkung  der  zunächst  sich  bietenden  Assoziationen  mit  jener 
psychischen  Anlage  hervorgehen. 

Dieses  Verhältnis  bringt  für  die  Analyse  der  Vorgänge  des 
Denkens  und  Sprechens  die  doppelte  Aufgabe  mit  sich:  einerseits 
die  Assoziationsbedingungen  nachzuweisen,  die  einem  gegebenen 
Gedankenzusammenhang  zugrunde  liegen;  anderseits  die  Apper- 
zeptionsmotive aufzufinden,  die  in  Verbindung  mit  den  Assozia- 
tionen die  wirkliche  Konstitution  der  Denkakte  erklären. 

Diese  doppelte  Aufgabe  erledigt  sich  nun  bei  dem  vorliegenden 
Problem  wegen  des  engen  Zusammenhangs,  in  dem  hier  die  Asso- 
ziations-  und  die  Apperzeptionsbedingungen  stehen,  in  der  denkbar 
einfachsten  Weise.  Assoziativ  wird  die  Isolierung  des  einzelnen  Wortes 
dadurch  vermittelt,  daß  das  gleiche  Wort  auch  in  andern  Gesamt- 
vorstellungen in  veränderten  Umgebungen  vorkommt.  Daß  dies 
der  Fall  ist,  hat  aber  wieder  seinen  Grund  in  den  apperzeptiven  Be- 
ziehungen, in  die  in  jedem  einzelnen  Fall  die  Teile  des  Gedankens 
zueinander  treten,  Beziehungen,  die,  assoziativ  vorbereitet,  erst  in 
hinzutretenden  Akten  willkürlicher  Verknüpfung  endgültig  voll- 
zogen werden.  Hiernach  läßt  sich  der  ganze  Vorgang  der  Wortiso- 
lierung auf  eine  Reihenfolge  von  vier  Prozessen  zurückführen.  Voran 
steht  eine  Assoziation  von  direkten  Empfindungs-  und  von  Erinne- 
rungselementen:  das  ursprüngliche  Vorstellungssubstrat  des 
Gedankens.  Aus  ihm  entsteht  auf  zweiter  Stufe  durch  einen  Apper- 
zeptionsakt, der  gewisse  Wahrnehmungsmotive  vor  andern  bevor- 
zugt und  das  Ganze  gegen  , andere  Bewußtseinsinhalte  abschließt, 
die  Bildung  der  Gesamtvorstellung.    Darauf  folgt  in  dritter  Linie 


Volkstümliche  Neubildungen.  615 


eine  Reihe  sekundärer  Assoziationen  übereinstimmender 
Bestandteile  verschiedener  Gesamtvorstellungen,  infolge  deren 
sich  solche  übereinstimmende  Teile  deutlicher  von  andern  abheben, 
mit  denen  sie  wechselnder  verbunden  sind.  Hierzu  kommt  endlich 
als  letzter  Apperzeptionsakt  die  willkürliche  Isolierung  dieser  durch 
Gleichheitsassoziationen  gehobenen  Elemente  zu  selbständigen  Einzel- 
vorstellungen. 

Von  diesen  vier  Prozessen  gehört  der  erste,  die  Assoziation  der 
Wahrnehmungs-  und  Erinnerimgselemente,  einer  der  Sprache  vor- 
ausgehenden Bewußtseinsentwicklung  an.  Der  zweite,  die  Apper- 
zeption der  Gesamtvorstellung,  kann  zwar  auch  als  ein  Akt  sprach- 
losen Denkens  vorkommen,  und  es  geschieht  dies  tatsächlich  fort- 
während in  den  Vorgängen  sogenannter  Phantasietätigkeit.  Überall 
aber,  wo  der  Trieb  nach  Mitteilung  des  selbsttätig  Erfaßten  an  Andere 
hinzutritt,  da  entsteht  notwendig  irgendeine  äußere  Reaktion,  welche 
diese  Apperzeption  als  natürliche  Ausdrucksbewegung  begleitet. 
Eine  solche  Reaktion  besteht,  sobald  die  Gesamtvorstellung  verwickelter 
wird,  in  einer  Folge  von  Bewegungen,  also,  falls  die  Bedingungen 
zur  Entstehung  der  Lautsprache  gegeben  sind,  in  einer  Folge  von  Laut- 
artikulationen. Hiermit  wird  die  Gesamtvorstellung  selbst,  und  in 
weiterer  Folge  jede  aus  ihr  durch  die  anschließenden  Assoziations- 
und Apperzeptionsprozesse  sich  loslösende  Einzelvorstellung  zu  einer 
mehrfachen  Komplikation.  Zunächst  verbindet  sich  der  kon- 
krete Anschauungsinhalt  mit  der  akustischen  sowie  mit  der  moto- 
rischen Wortvorstellung,  wobei  die  erstere  beim  Hören  des  Gesproche- 
nen, die  letztere  beim  eigenen  Sprechen  überwiegt;  und  dazu  kommen 
dann  als  inkonstantere  und  qualitativ  wechselndere  die  optischen 
und  graphischen  Bestandteile  der  Komplikation.    (Vgl.  oben  S.  568  ff.) 

IV.  Neubildung  von  Wörtern. 

1.  Volkstümliche  Neubildungen. 

Wenn  die  psychischen  Kräfte,  die  in  irgendeiner  entlegenen  Ur- 
periode  der  Sprache  artikulierte  Laute  zu  Wörtern  vereinigt  haben, 
keine  andern  sind  als  diejenigen,  die  heute  noch  das  Leben  der  Sprache 


616  Die  Wortbildung. 


behierrsclien,  so  erscheint  es  als  eine  naheliegende  Folgerung,  daß 
auch  die  Urschöpfung  der  Wörter  kein  seit  langer  Zeit  zum  Stillstand 
gekommener,  sondern  daß  er  ein  sich  fortwährend  in  der  lebenden 
Sprache  wiederholender  Prozeß  sei,  gerade  so  wie  sich  in  den  Fort- 
pflanzungsvorgängen der  Organismen  immer  wieder  unter  unsern 
Augen  deren  Schöpfung  erneuert.  Immerhin  muß  ebendiese  Ana- 
logie zur  Vorsicht  vor  einer  etwaigen  Unter  Schätzung  der  jedenfalls 
abweichenden  Bedingungen  ursprünglicher  Neuschöpfung  mahnen. 
Ist  auch  die  Kraft  fortwährender  Wiedererneuerung  und  zweckmäßiger 
Umwandlung  in  der  organischen  Natur  unzerstörbar,  solange  das 
Leben  selbst  besteht,  so  sind  doch  allem  Anscheine  nach  die  Be- 
dingungen einer  ersten  Erzeugung  organischer  Wesen  auf  unserer 
Erde  entweder  für  immer  dahin  oder  in  Grenzen  eingeschränkt, 
die  bis  jetzt  ihre  sichere  Nachweisung  unmöglich  gemacht  haben. 
Gerade  so  wird  man  erwarten  dürfen,  daß  die  Neuschöpfung 
von  Wörtern  in  späteren  Perioden  der  Sprache  nicht  dasselbe 
Phänomen  mehr  ist  wie  die  ursprüngliche,  da  auf  jene  alles, 
was  bis  dahin  in  der  Sprache  schon  feste  Gestalt  gewonnen  hat, 
bestimmend  einwirkt.  Darum  ist  nun  aber  auch  die  Analogie 
mit  der  organischen  Natur  in  diesem  Falle  höchstens  für  den 
End erfolg,  nicht  für  dessen  nähere  Ursachen  zutreffend.  In  der 
organischen  Welt  sind,  soviel  wir  vermuten  dürfen,  die  äußeren 
Bedingungen  einer  „generatio  spontanea"  wesentlich  andere  ge- 
worden. Bei  der  Sprache  haben  sich  die  inneren  Bedingungen 
verändert,  die  dem  nie  erlöschenden  Trieb  der  Wortbildung  seine 
Richtung  geben.  Namentlich  hat  hier  die  Ausbildung  der  vor- 
handenen Sprache  die  wortbildenden  Prozesse  für  alle  Folgezeit  auf 
ein  verhältnismäßig  enges  Gebiet  von  Ergänzungen  des  Wortschatzes 
eingeschränkt  —  naturgemäß  auf  ein  um  so  engeres,  je  vollständiger 
die  überlieferte  Sprache  allen  Bedürfnissen  bereits  entgegenkommt. 
Darum  ist  hier  allerdings  zu  erwarten,  daß  mit  fortschreitender  Ent- 
wicklung die  Quellen  der  Neubildung  mehr  versiegen,  nipht  weil  es 
an  den  Kräften  fehlte,  die  sie  aus  dem  Mutterboden  der  Sprache 
hervorlocken  könnten,  wohl  aber,  weil  die  Anlässe,  die  zur  Äuße- 
rung dieser  Kräfte  treiben,  seltener  werden.  Gleichwohl  ist  es 
für    das    Problem    der    Wortbildung    von    Interesse,    jenen  verein- 


Volkstümliche  Neubildungen.  617 


zelten  Fällen  einer  wirklichen  Neuschöpfung,  die  sich  noch  in  der 
heutigen  Sprache  ereignen,  nachzugehen.  So  beschränkt  sie  sein 
mögen,  so  bieten  sie  doch  den  einzigen  Fall,  wo  der  Vorgang  der 
Wortschöpfung  der  unmittelbaren  Beobachtung  einigermaßen  zu- 
gänglich ist. 

Viele  Neubildungen  gehen  von  frühe  an  in  den  allgemeinen  Sprach- 
schatz, wenn  auch  zunächst  nur  in  den  eines  beschränkten  Bevölke- 
rungskreises, über.  Sie  mögen  individuellen  Ursprungs  sein;  aber 
ihr  Urheber  verbirgt  sich  unserer  Nachforschung^  denn  rasch,  wie 
sie  entstanden,  werden  sie  von  der  Gemeinschaft  aufgenommen  und 
weiter  getragen.  Solche  ,, volkstümliche  Neubildungen"  kommen 
in  jeder  Sprache  vor,  wenn  sie  auch  in  den  Kultursprachen  hinter 
den  ,, gelehrten  Neubildungen"  und  den  aus  dem  gleichen  Trieb  nach 
Erweiterung  des  Wortschatzes  hervorgehenden  Entlehnungen  stark 
zurücktreten^).  Schon  um  dieser  Beschränkung  willen  wird  man 
von  vornherein  nicht  erwarten  dürfen,  daß  diese  Erscheinungen  für 
das  Problem  der  Wortbildung  überhaupt  von  entscheidender  Bedeu- 
tung seien.  Nichtsdestoweniger  sind  sie  geeignet,  auf  gewisse  Seiten 
dieses  Problems,  namentlich  auf  die  Abhängigkeit  neu  sich  bildender 
Wörter  voneinander  und  von  dem  schon  vorhandenen  Wortschatz 
einiges  Licht  zu  werfen. 

Wir  können  Wohl  am  ehesten  die  volkstümliche  Neubildung 
zu  ihrer  Quelle  verfolgen,  wenn  wir  der  Art  und  Weise  nachgehen, 
wie  sich  jene  Arten  von  „Slang"  oder  ,, Jargon" 2)  bilden,  die  überall 
da  entstehen,  wo  eine  Anzahl  von  Menschen  im  täglichen  Beisammen- 
sein  besonderen   Lieblingsinteressen    oder   fortwährend   geübten   Be- 


^)  Charakteristisch  hierfür  ist  es,  daß  z.  B.  in  dem  Werke  von  A.  Darme- 
steter.  De  la  cr6ation  de  mots  nouveaux  de  la  langue  fran^aise,  1877,  volkstüm- 
liche Neubildungen  eine  ganz  verschwindende  Rolle  spielen,  gegenüber  den  ge- 
lehrten Neubildungen  und  den  zur  Neubildimg  in  dem  hier  gemeinten  Sinne 
gar  nicht  zu  rechnenden  Entlehnungen,  Ableitimgen  und  Bedeutungsübertragun- 
gen, die  in  jenem  weitesten  Umfang,  in  dem  Darmesteter  den  Begriff  faßt,  sämt- 
lich als  „mots  nouveaux**  bezeichnet  werden. 

2)  Pie  deutsche  Sprache  hat  dafür  keinen  bezeichnenden  Ausdruck,  ab- 
gesehen von  dem  ausschheßUch  für  die  Gaunersprache  gebrauchten  Kompositum 
„Rotwelsch^*  und  dem  analogen,  jede  unverständliche  Sprechweise  bezeichnenden 
„Kauderwelsch". 


& 


618  Die  Wortbildung. 


schäftigungen  nachgeht.  Diese  Bedingung  führt  von  selbst  die  Neigung 
mit  sich,  die  Objekte  der  besonderen  Interessensphäre  auch  dadurch 
nach  außen  abzuschließen,  daß  für  sie  neue,  von  den  sonst  gebrauchten 
abweichende  Wörter  geschaffen  werden.  Tritt  das  Streben  hinzu, 
die  Gegenstände  der  Unterhaltung  vor  andern  zu  verhüllen,  so  kann 
dadurch  die  Ausbildung  einer  solchen  Sondersprache  noch  mehr  ge- 
fördert werden;  immerhin  ist  das  ein  sekundäres  Motiv,  das  in  sehr 
vielen  Fällen  gar  nicht  in  Betracht  kommt.  Mögen  nun  auch  solche 
Sondersprachen  vielfach  mit  der  Neuentstehung  irgendwelcher  ge- 
selliger Kreise  aufkommen  und  mit  ihnen  wieder  verschwinden,  so 
haben  sie  es  doch  in  einzelnen  Fällen,  wo  die  Bedingungen  ihrer  Be- 
festigung und  Verbreitung  günstig  waren,  zu  größerer  räumlicher 
und  zeitlicher  Ausdehnung  gebracht:  so  in  der  Gaunersprache,  der 
Soldatensprache,  der  Studentensprache,  der  Handwerksburschen - 
spräche.  Daran  schließen  sich  als  beschränktere  Erscheinungen  die 
Jargons  gewisser  anderer  Berufskreise,  wie  der  Kutscher,  der  Küfer, 
der  Kellner  usw.,  oder  bestimmter  Geselligkeitskreise,  wie  der  Spieler, 
der  Kegler  und  in  neuester  Zeit  besonders  der  Kadler.  Manche  dieser 
Sondersprachen  entlehnen  voneinander,  und  viele  ihrer  Ausdrücke 
sind  verstümmelte  Lehnwörter.  So  hat  die  Gaunersprache  vieles 
dem  Hebräischen,  die  Studentensprache  manches  dem  Lateinischen 
entnommen  oder  diesem  und  den  ihm  entlehnten  Fremdwörtern  an- 
geglichen. Einzelne  Ausdrücke  endlich  sind  aus  dem  einen  dieser 
Idiome  in  das  andere  übergegangen:  namentlich  das  verbreitetste 
und  älteste  derselben,  die  Gaunersprache,  hat  so  die  Kellner-,  Sol- 
daten- und  Studentensprache  mit  Wörtern  versorgt.  In  allen  diesen 
Sondersprachen  kommen  übrigens  auch  zahlreiche  Bestandteile  vor, 
die  nicht  wirkliche  Neubildungen,  sondern  bloße  Bedeutungsüber- 
tragungen sind.  Stark  wirkt  in  solchen  Fällen  außerdem  die  absicht- 
liche Erfindung  mit,  so  daß  dadurch  die  Erscheinungen  für  die  vor- 
liegende Frage  im  allgemeinen  belanglos  werden^). 


^)  Über  die  Gaunersprache  vgl.  Ave-Lallemant,  Das  deutsche  Gaunertum, 
III,  1862,  über  die  Studentensprache  F.  Kluge,  Deutsche  Studentensprache, 
1895,  Seemannssprache,  1901.  Über  die  Gesamtheit  dieser  Sondersprachen 
bandelt  F.  Kluge,  Rotwelsch- Quellen  und  Wortschatz  der  Gaunersprache  und 


Volkstümliche  Neubildungen.  619 


Wie  aus  diesen  Sondersprachen  einzelne  Wörter  in  die  Volks- 
sprache übergehen  können,  so  sind  nun  ohne  Zweifel  überall  Neu- 
bildungen ursprünglich  in  irgendeinem  beschränkten  Kreise  ent- 
standen, um  dann  zuerst  in  den  nächsten  Dialekt  und  endlich  aus 
diesem  durch  mündliche  Mitteilung  oder  durch  die  Literatur  in  weitere 
Kreise  zu  dringen.  In  der  Eegel  ist  aber  die  Existenz  einer  Neubil- 
dung erst  festzustellen,  nachdem  diese  Ausbreitung  bereits  eingetreten 
ist.  So  zeigt  die  deutsche  Schriftsprache  in  jeder  ihrer  Perioden  zahl- 
reiche Neubildungen.  In  der  älteren  Zeit  sind  sie  von  dialektischen 
Übertragungen  und  assimilierten  Fremdwörtern  nicht  immer  zu 
scheiden.  In  der  neuhochdeutschen  Periode  besitzen  wir  aber  ein 
ziemlich  sicheres  Kennzeichen  ihres  Ursprungs  in  ihrem  lautlichen 
Zusammenhang  mit  andern,  altüberkommenen  oder  mindestens  vor- 
her eingebürgerten  Wortbildungen.  Darin  liegt  zugleich  ein  Beweis 
dafür,  daß  solche  Neubildungen  nicht  außer  allem  Zusammenhang 
mit  dem  sonstigen  Wortschatz  entstehen,  sondern  daß  sie  sich  an 
diesen  und  dabei  fast  immer  an  ganz  bestimmte  laut-  und  bedeutungs- 
verwandte Wörter  anlehnen.  Ferner  sind  die  neugebildeten  Wörter, 
wenigstens  soweit  sie  jüngeren  Ursprungs  sind,  in  ihrer  Mehrzahl 
Verba.  Dies  hängt  mit  der  andern  Eigenschaft  zusammen,  daß  sie 
meist  den  Charakter  der  ,, Lautgebärden"  und  ,, Lautmetaphern" 
besitzen.  Als  solche  sind  diese  Neubildungen  bereits  an  einer  früheren 
Stelle  als  Zeugnisse  unmittelbarer  Beziehungen  zwischen  Laut  und 
Bedeutung  besprochen  worden^).  Die  gleiche  Beziehung  ist  es  nun 
natürlich  auch,  die  für  den  nämlichen  Vorgang,  wenn  man  ihn  unter 
dem  Gesichtspunkt  eines  Wortbildungsprozesses  betrachtet,  in  vor- 
derster Linie  steht.  Gerade  die  ,, Grundelemente"  des  Wortes 
sind  es,  die  auf  solche  Weise  durch  eine  unmittelbare  Assoziation 
der  Verteilung  mit  der  Lautbewegung  zustande  kommen,  und 
die   dem  Wort    um   so    mehr   den    Charakter   der   Neubildung  ver- 


der  verwandten  Geheimsprachen,  1901.    Gauner-  und  Studentensprache  können 
als  Vertreterinnen  verschiedener  Typen  gelten,  insofern  die  erstere  den  Charakter 
einer  Geheimsprache,  die  letztere  zum  großen  Teil  den  einer  scherzhaften  Ver- 
welschung  der  gewöhnlichen  Sprache  hat. 
1)  Vgl.  Kap.  III,  S.  329  ff. 


620  I>ie  Wortbildung. 


leihen,  je  weniger  jene  Assoziation  mit  schon  vorhandenen,  die 
nämlichen  oder  verwandte  Begriffe  ausdrückenden  Lautgebilden 
mitwirkt. 

Hier    kommen    nun    aber    zu    der    Beziehung    zwischen    Laut 
und    Vorstellung   zwei   weitere  Momente  hinzu,    die  eigentlich   erst 
den  Prozeß   in   den   Bereich   der   Wortbildung   erheben.     Das   erste 
ist    die    Assoziation    der    Grundelemente    des    Wortes    mit    denen 
anderer  Wörter,    die    jenem    nach    Laut    wie   Bedeutung   verwandt 
sind;   das   zweite   die   Assoziation   der  Beziehungselemente  mit  den 
in    andern    Wortgebilden    von     übereinstimmender     Stellung    ent- 
haltenen und    die    assoziative  Angleichung  an  diese.    Vermöge  der 
ersten    Assoziation    läßt    sich    beinahe    jede    Neubildung    in     eine 
Keihe    verwandter    Wortbildungen     eingliedern,     unter    denen    ein- 
zelne     meist     nachweislich     älteren     Ursprungs    sind    als    andere, 
so    daß    mit   größter    Wahrscheinlichkeit    eine    Art    Attraktion    der 
älteren  Form   auf  die  jüngere,    zugleich  aber  eine  durch  die  neben- 
hergehende   onomatopoetische    Assoziation    bedingte  Variation    des 
Lautes,     die    den    Unterschied    von    jenem    attrahierenden    Wort- 
gebilde herbeiführte,  zustande  kam.    In  vielen  Fällen  mögen  es  aber 
auch  mehrere  Wörter  von  verwandtem  Lautinhalt  gewesen  sein,  welche 
die  attrahierende  Wirkung  ausübten.     Solche  Wortreihen  durchweg 
neueren  Ursprungs,  jedoch  meist  von  etwas  verschiedenem  Alter  der 
einzelnen  Glieder,  sind  z.  B.  haumein,  bammeln,  bimmeln,  bummeln, 
bambeln,  famfein,  bangein,  ferner:  flattern,  flittern  (häufiger  als  Sub- 
stantiv Flitter),  flirren,  flintern,  flisfern,  flunkern,  flüstern;  sodann: 
knarren,  knurren,  hnirren,  knirschen,  knattern,  knittern  usw.    Wie  man 
sieht,  sind  die  Verwandtschaften  bald  enger  bald  weiter,  und  es  läßt 
sich  daher  kaum  die  Grenze  bestimmen,  wo  zwischen  Wörtern  einer 
solchen   Eeihe   noch   mit    Sicherheit   eine   Assoziation  angenommen 
werden  darf,  und  wo  nicht  mehr.    So  ist  es  wohl  sicher,  daß  z.  B.  bau- 
meln, bammeln,  bimmeln,  bummeln  zusammenhängen,   während  man 
es  zweifelhaft  lassen  muß,  ab  bangein  und  andere  ähnliche  noch  zur 
selben  Gruppe  gehören.     Wo  aber  ein  Zusammenhang  anzunehmen 
ist,  da  fällt  auch  jedesmal  die  doppelseitige  Wirkung  einerseits  des 
vorhandenen  Wortes,  anderseits  der  neuen  Vorstellung,  die  auf  jenes 
modifizierend  einwirkt,  in  die  Augen.     So  ist  nach  den  literarischen 


Volkstümliche  Neubildungen.  621 


Befunden  unter  den  Wörtern  der  ersten  der  obigen  Reihen  baumeln 
das  älteste.  Es  läßt  sich  als  eine  Lautgebärde  für  eine  hin-  und  her- 
schwingende Bewegung  deuten,  auf  deren  Gestaltung  außerdem  wohl 
die  Assoziation  mit  dem  Worte  Baum  eingewirkt  hat:  ein  an  einem 
Baum  aufgehängter  Gegenstand  „baumelt"^).  Auf  die  schwingende 
Bewegung  der  Glocke  übertragen  trat  sodann  die  Vorstellung  des 
Baumes  zurück,  während  zugleich  der  Besonderheit  des  Glocken tons 
der  Doppelvokal  widerstrebte:  so  entstand  durch  onomatopoetische 
Lautvariation  das  Wort  hammein,  und  dieses  modifizierte  sich  wieder 
auf  den  Klang  eines  kleinen  Glöckchens  übertragen,  zu  himmeln. 
Als  ein  letztes  Gebilde  dieser  Wortreihe  ist  endlich,  sei  es  direkt  aus 
baumeln  oder  aus  bammeln,  in  der  Studentensprache  das  Wort  bum- 
meln entstanden,  als  onomatopoetisches  Wort  für  ,, Spazierengehen", 
und  in  weiterer  Übertragung  für  ,, müßiggehen". 

Hiernach  sind  derartige  Neubildungen  im  allgemeinen  die  Er- 
zeugnisse einer  dreifachen  Assoziation.  Erstens  wirkt  meist  ein  be- 
reits vorhandenes  Wort,  mag  es  nun  selbst  schon  onomatopoetisch 
sein  oder  nicht,  assimilierend  auf  das  neu  entstehende.  Zweitens  wird 
dieses  durch  eine  Assoziation  zwischen  der  Vorstellung,  die  es  bedeutet, 
und  einer  dieser  entsprechenden  Lautgebärde  onomatopoetisch  be- 
einflußt. Drittens  reiht  es  sich  durch  eine  von  verwandten  Wort- 
formen ausgehende  Massenassoziation,  eine  ,, äußere  grammatische 
Angleichung"  (S.  445),  einer  bestimmten,  seiner  Stellung  im  Satz 
entsprechenden  Wortklasse  an.  Von  diesen  drei  Assoziationen,  die 
sich  sämtlich  im  allgemeinen  simultan,  also  wieder  in  der  Form  der 
Assimilation  vollziehen,  kann  die  erste  möglicherweise  ganz  fehlen: 
dann  liegt  eine  Urschöpfung  im  engeren  Sinne  vor,  eine  solche,  bei 
der  die  Grundelemente  des  Wortes  nur  durch  die  direkte  Wirkung 
des  Gegenstandes  auf  die  Lautgebärde  entstehen.  Durch  die  dritte 
der  genannten  Assoziationen,  aus  der  die  Bildung  der  Beziehungs- 
elemente hervorgeht,  wird  aber  ein  solches,  losgelöst  von  allen  bereits 
vorhandenen    Wortstämmen    entstandenes    Wort    dem    allgemeinen 


^)  Vgl.  die  in  dieser  (übrigens  hypothetischen)  Ableitung  von  Baum  über- 
einstimmenden Bemerkungen  von  Grimm,  Kluge  und  Paul  in  ihren  Wörter- 
büchern. 


622  I>ie  Wortbildung. 


Organismus  der  Sprache  eingegliedert  und  dadurch  fähig,  seiner- 
seits neue  Bildungen  teils  durch  Ableitungen,  teils  durch  die  oben 
erörterten  Variationen  der  onomatopoetischen  Wirkung  hervorzu- 
rufen. Durch  solche  Variationen  stehen  zugleich  diese  Neubildungen 
in  unmittelbarer  Beziehung  zu  Erscheinungen,  die  in  die  Urzeiten 
der  Wortbildung  zurückreichen,  und  deren  wir  früher  bei  der  soge- 
nannten „Wurzel Variation"  als  ältester  geschichtlicher  Zeugnisse 
der  Sprache  für  eine  innere  Beziehung  zwischen  Laut  imd  Bedeutung 
gedacht  haben  ^). 

2.  Gelehrte  Neubildungen. 

Von  den  volkstümlichen  unterscheiden  sich  die  gelehrten  Neu- 
bildungen schon  nach  ihrem  äußeren  Eindruck  dadurch,  daß  sie  den 
Charakter  willkürlicher  Erfindungen  an  sich  tragen  imd  daher  viel 
bestimmter  auf  einen  individuellen  Ursprung  hinweisen.  In  der  Tat 
ist  hier  der  Schöpfer  eines  neuen  Wortes  in  sehr  vielen  Fällen  in  einer 
bestimmten  literarischen  Persönlichkeit  direkt  aufzufinden.  Jenes 
Merkmal  der  willkürlichen  Erfindung  entsteht  aber  hauptsächlich 
deshalb,  weil  die  gelehrte  Neubildung  ohne  gelehrte  Beschäftigung, 
speziell  ohne  die  Kenntnis  einer  fremden  Literatur  und  Sprache  ganz 
undenkbar  ist.  Hieraus  entspringt  ein  wesentlicher  Unterschied  gegen- 
über der  volkstümlichen  Neubildung.  Diese  schöpft  nur  aus  der  eigenen 
Muttersprache,  jene  betätigt  sich  in  der  Übertragung  fremden  Sprach- 
guts in  die  Muttersprache.  Eine  solche  Übertragung  kann  nun  aber 
auf  zwei  Wegen  geschehen:  durch  die  in  anderem  Zusammenhang 
schon  besprochene  Assimilation  der  Fremdwörter 2),  und  durch  wört- 
liche Übersetzung.  Die  Assimilation  der  Fremdwörter  kann  so- 
wohl auf  dem  volkstümlichen  wie  auf  dem  gelehrten  Wege  statt- 
finden. Das  erstere  pflegt  in  den  älteren,  das  letztere  in  den  jüngeren 
Perioden  der  Sprache  zu  geschehen.  Zur  Vermehrung  des  Wort- 
schatzes trägt  sie  natürlich  sehr  vieles,  und  im  allgemeinen  wohl  mehr 


1)  Vgl  oben  Kap.  III,  S.  359  ff. 

2)  Vgl.  Kap.  IV,  S.  469  ff.     ' 


Gelehrte  Neubildungen.  623 


bei  als  die  Übersetzung.  Doch  eine  eigentliche  Neubildung  ist  sie 
nicht.  Ihrem  psychologischen  Charakter  nach  fällt  sie  vielmehr  durch- 
aus mit  der  Dialektübertragung  oder  mit  der  Aufnahme  eines  einem 
beschränkten  Berufskreis  entstammenden  Wortes  in  den  allgemeinen 
Sprachschatz  zusammen. 

Jedes  Kulturvolk,  das  seine  Wissenschaft  imd  Kunst  nicht  zum 
wesentlichsten  Teil,  namentlich  soweit  eine  Vermittlung  durch  lite- 
rarische Denkmäler  in  Frage  kommt,  aus  sich  selbst  erzeugte,  son- 
dern gewisse  Grundlagen  von  andern  in  der  Kultur  vorangegangenen 
Völkern  überkam,  hat  nun  aber  durch  die  willkürliche  sprachbildende 
Tätigkeit  einzelner  Schriftsteller  den  für  das  wissenschaftliche  Denken 
imd  seine  einzelnen  Gebiete  erforderlichen  Wort  Vorrat  bereichert. 
Diese  Tätigkeit  ist  im  wesentlichen  überall  von  übereinstimmender 
Art.  Die  römischen  Autoren,  die  in  Anlehnung  an  die  Griechen  eine 
philosophische  Terminologie  aus  rein  lateinischen  Wörtern  herstellten, 
sind  dabei  nicht  anders  verfahren  als  die  Deutschen,  als  sie  von  den 
Zeiten  des  Notker  Labeo  und  des  sprachgewaltigen  Meisters  Eck- 
hardt an  bis  herab  auf  Leibniz  und  Christian  Wolff  den  lateinischen 
Sprachschatz  zu  neuen  deutschen  Wortbildungen  verwerteten.  Unter 
ihnen  nimmt  Leibniz  eine  führende  Stellung  ein.  Hatten  die  Früheren 
von  Fall  zu  Fall  dem  Bedürfnis,  das  fremde  Wort  in  einem  ihren  Volks- 
genossen verständlichen  Ausdruck  wiederzugeben,  zu  genügen  ge- 
sucht, so  war  es  Leibniz,  der  in  seinen  ,,Un  vorgreif  liehen  Gedanken 
betreffend  die  Ausübung  und  Verbesserung  der  teutschen  Sprache" 
(1697)  zum  ersten  Male  mit  klarer  Besonnenheit  über  die  Grund- 
sätze, nach  denen  solche  Neubildungen  auszuführen  seien,  Rechen- 
schaft gab^).  Das  Verdienst  der  Durchführung  des  von  ihm  aufge- 
stellten Programms  gebührt  Wolff  und  seiner  Schule:  hier,  auf  dem 
Boden  der  willkürlich  planmäßigen  Erfindung  und  Bereicherung 
der  Sprache,  lag  das  Feld,  auf  dem  das  Zeitalter  der  Verstandesauf- 
klärung zum  Teil  sein  Bestes  geleistet  hat^).     Der  Philosophie  sind 


*)  Leibniz'  Deutsche  Schriften,  herausg.  von  G.  E.  Guhrauer,  I,  1838, 
S.  440  ff. 

2)  Vgl.  hierzu  H.  Rückert,  Geschichte  der  neuhochdeutschen  Schriftsprache, 
1875,  II,  S.  308  ff. 


624  Die  Wortbildung. 


die  andern  Wissenschaften  langsamer  gefolgt,  —  mit  zwei 
Ausnahmen:  der  Jurisprudenz  und  der  Medizin.  In  der  Medizin 
fehlten  hinreichend  präzise  Ausdrücke  für  die  neueingeführten 
Begriffe  in  dem  heimischen  Sprachschatze  gänzlich.  Eher  kann 
man  sich  wundern,  daß  die  Rechtswissenschaft  die  reiche  alt- 
deutsche Rechtssprache  der  Vergessenheit  überantwortete,  um, 
von  verschwindenden  Ausnahmen  abgesehen,  ihr  gesamtes  Be- 
griffssystem aus  Fremdwörtern  aufzubauen.  Die  deutsche  Juris- 
prudenz bildet  dadurch  einen  merkwürdigen  Gegensatz  zur  deut- 
schen Philosophie.  Diese  hat  zunächst  zu  ihrem  eigenen,  dann 
aber  mehr  und  mehr  zum  allgemeinen  Gebrauch  der  deutschen 
Sprache  eine  Fülle  neuer  Wörter  für  Begriffe  zugeführt,  für  die  es  ur- 
sprünglich ganz  an  geeigneten  Ausdrücken  fehlte.  Die  Rechtswissen- 
schaft hat  umgekehrt  die  deutsche  Sprache  einer  Fülle  eigenartiger 
Wortbildungen  beraubt,  um  ihr  dafür  ein  fremdes,  großenteils  der 
Hasse  des  Volkes  unverständlich  bleibendes  Sprachgut  mitzuteilen. 
An  sich  war  das  keine  notwendige  Folge  der  Aufnahme  des  fremden 
Rechtes.  War  doch  umgekehrt  in  der  Philosophie  gerade  durch  die 
Aufnahme  fremder  Ideen  das  Bedürfnis  erwacht,  den  Schatz  der 
eigenen  Muttersprache  durch  Neubildungen  zu  vermehren.  Es  mußten 
besondere  Bedingungen  hinzukommen,  der  erbitterte  Kampf  gegen 
das  alte  Recht,  die  geflissentliche  Abschließmig  des  gelehrten  Juristen- 
standes, um  diesen  Erfolg  herbeizuführen.  Im  Gegensatze  hierzu 
waren  Leibniz  und  die  Aufklärungsphilosophen,  denen  wir  die  letzte 
große  Bereicherung  unserer  Sprache  durch  gelehrte  Neubildungen 
verdanken,  vielmehr  eifrig  bemüht,  die  Errungenschaften  der  in  der 
wissenschaftlichen  Kultur  fortgeschritteneren  Nationen  dem  eigenen 
Volke  nutzbar  zu  machen.  Diese  Verhältnisse  zeigen  zugleich  deut- 
lich, daß  zu  der  nie  erlöschenden  Regsamkeit  des  sprachschöpferischen 
Triebes  doch  noch  besondere  Ursachen  hinzutreten  müssen,  um  der 
gelehrten  Sprachschöpfung  ein  so  reiches  und  fruchtbares  Feld  zu 
eröffnen,  wie  es  in  der  Zeit  von  der  Mitte  des  17.  bis  zu  der  des  18.  Jahr- 
hunderts geschah.  Solche  Ursachen  lagen  eben  hier  in  der  Aufnahme 
zahlreicher  neuer  Begriffe  in  eine  für  die  Zwecke  der  Wissenschaft 
noch  wenig  ausgebildete  Sprache,  verbunden  mit  dem  Streben,  jene 
Begriffe  allgemein  zugänglich  zu  machen.     Daß  dieses  Streben  von 


Gelehrte  Neubildungen.  625 


der  Philosophie  als  der  allgemeinsten  Wissenschaft  ausging,  war  von 
besonderer  Bedeutung.  Denn  die  von  ihr  geprägten  Begriffe  stellten 
sich  gerade  um  ihrer  Allgemeinheit  willen  sofort  auch  dem  gewöhn- 
lichen Sprachgebrauch  zur  Verfügung.  So  gingen  Wörter  wie  Ge- 
wissen, Bewußtsein,  Vorstellung,  Entwicklung,  Folgerung,  Mitleid, 
Selbstgefühl,  Selbstsucht  und  viele  andere  mit  oft  wunderbarer 
Schnelligkeit  aus  der  wissenschaftlichen  in  die  allgemeine  Sprache 
über. 

Der  Vorgang  dieser  gelehrten  Neubildung  besteht  nun  überall 
in  dem  nämlichen  Prozeß  einer  bald  vollkommen  wortgetreuen,  bald 
etwas  freieren,  dem  Geist  der  eigenen  Sprache  und  eingeübter  Sprach- 
gewohnheiten Kechnung  tragenden  Übersetzung.  In  dieser  Be- 
ziehung ist  es  bezeichnend,  daß  durchweg  die  Neubildungen  um  so 
treuere  Übersetzimgen  sind,  einer  je  älteren  Zeit  sie  angehören.  Die 
noch  wenig  ausgebildete  Sprache  läßt  sich  leichter  einem  von  außen 
auf  sie  geübten  Zwang  unterwerfen,  und  fremdartige  Neubildungen 
üben  sich  leichter  ein,  Weil  sie  geringere  aus  dem  vorhandenen  Wort- 
bestand ihnen  erwachsende  Widerstände  zu  überwinden  haben.  Man 
nehme  z.  B.  einige  der  Übertragungen  Notkers  wie  Gewissen  für 
conscientia,  unendlich  für  infinitus,  hegreifen  (umbegreifen  =  um- 
greifen) für  comprehendere,  sinnig  für  sensibilis.  Unteres  für  Subjec- 
tum  u.  a.,  gegenüber  den  freien  Übertragungen  Wolffs,  wie 
conscientia  in  Bewußtsein,  idea  in  Vorstellung,  proportio  in  Ver- 
hältnis, propositio  major  und  minor  (im  Schluß)  in  Obersatz  und 
Untersatz  u.  a. 

Gelehrte  Neubildungen  dieser  Art  erfolgen,  wie  schon  diese  Bei- 
spiele zeigen,  fast  allgemein  auf  dem  Wege  der  Wortzusammensetzung. 
Wo  das  nicht  der  Fall  ist,  wo  etwa  irgendein  einfaches  Wort  der  eigenen 
Sprache  auf  einen  neuen  Begriff  angewandt  wird,  wie  Grund  für  ratio, 
Kraft  für  vis.  Recht  für  jus  usw.,  da  handelt  es  sich  nicht  mehr  um 
wahre  Neubildungen,  sondern  um  spezielle  Fälle  des  Bedeutungs- 
wandels, die  aber  allerdings  gerade  hier,  wo  sie  auf  willkürlichen  und 
sehr  weitgehenden  Begriffsänderungen  beruhen,  in  ihrem  Erfolg  oft 
nahe  an  eine  Neubildung  angrenzen  können^).     Die  eigentliche,  auf 


1)  Vgl.  Kap.  VIII,  Nr.  V  (Singulärer  Bedeutungswandel). 

W  n  n  d  t,  Völkerpsychologie.    I.    4.  Aufl.  ^^ 


626  I>ie  Wortbildung. 


der  Zusammensetzung  des  neuen  Wortes  aus  bereits  vorhandenen 
Wortbestandteilen  beruhende  Neubildung  erscheint  nun  um  so  mehr 
als  eine  gebundene  Tätigkeit,  je  mehr  sie  sich  bemüht,  eine  vollkommen 
treue  Übersetzung  zu  sein.  Schöpferisch  ist  diese  Tätigkeit  nur  in 
dem  Sinne,  daß  sie  überhaupt  die  bisher  in  der  eigenen  Sprache  selb- 
ständig existierenden  Wörter  zu  einem  Ganzen  zusammensetzt.  Als 
Cicero,  der  in  der  römischen  Literatur  durch  seine  Bemühungen  um 
die  philosophische  Terminologie  ungefähr  eine  ähnliche  Stellung  ein- 
nimmt wie  in  der  unseren  Leibniz  und  Wolff,  das  in  der  stoischen 
Philosophie  entstandene  Wort  övveidrjoig  in  conscientia  übertrug, 
substituierte  er  Silbe  für  Silbe  dem  griechischen  das  entsprechende 
lateinische  Wort;  und  als  Notker  wiederum  conscientia  in  das  deutsche 
Gewissen  (gewizeda)  übersetzte,  verfuhr  er  genau  ebenso:  denn  zu 
seiner  Zeit  wurde  das  Präfix  ge-  noch  ganz  im  Sinne  des  Zusammen- 
seins, Gewissen  also  =  Mitwissen,  empfunden.  Als  dann  aber  Wolff 
später  nach  einem  Ausdruck  suchte,  der  den  allgemeineren  Begriff 
der  conscientia  frei  von  der  moralischen  Nebenbedeutung  wieder- 
gebe, da  erfand  er  die  freiere  Übersetzung  Bewußtsein,  auf  die  wohl 
die  Assoziation  mit  dem  Präfix  des  verwandten  "Wortes  Begriff  von 
Einfluß  war,  und  diese  Scheidung  wirkte  nun  derart  auf  die  ursprüng- 
liche Übertragung  zurück,  daß  das  Wort  Gewissen  ausschließlich  die 
moralische,  Bewußtsein  ebenso  ausschließlich  die  allgemeinere  psy- 
chologische Bedeutung  annahm.  So  hatte  hier  die  zweimalige  Über- 
tragung der  entlehnenden  Sprache  einen  Vorzug  vor  ihrem  Vorbild 
und  vor  den  aus  ihr  schöpfenden  Töchtersprachen  gegeben,  in  denen 
eine  solche  Differenzierung  noch  heute  nicht  eingetreten  ist^). 

Der  allgemeine  Charakter  der  gelehrten  Neubildung,  als  einer 
willkürlich  und  planmäßig  und  dabei  doch  an  ein  fremdes  Vorbild 
gebundenen  Tätigkeit,  bringt  es  mit  sich,  daß  sie  uns  über  die  Vor- 
gänge der  natürlichen  Wortbildung  keine  näheren  Aufschlüsse  zu 
geben  vermag.     Was  sie  mit  dieser  verbindet,  das  ist  nur  der  Vorgang 


^)  Viele  Einzelheiten  zur  Geschichte  dieser  Neubildungen  bietet  R.  Eucken 
in  seiner  verdienstlichen  Geschichte  der  philosophischen  Terminologie  im  Umriß, 
1879,  manche  Ergänzungen  dazu  für  das  deutsche  Sprachgebiet  das  Grimmsche 
Wörterbuch. 


Allgemeine  Formen  der  Lautverdoppelung.  627 

der  Wortzusammensetzung,  bei  dem  sie  aber  wieder  nur  den  allge- 
meinen Gesetzen  folgt,  die  auch  für  die  außerhalb  ihres  Gebiets  statt- 
findenden analogen  Verbindungsprozesse  gelten.  Diese  Analogie 
wird,  abgesehen  von  den  sonst  geläufigen  Zusammensetzungen,  äußer- 
lich schon  dadurch  bedingt,  daß  die  Vorlage,  nach  der  die  Neubildung 
erfolgt,  selbst  ein  zusammengesetztes  Wortgebilde  zu  sein  pflegt. 
Dabei  ist  diese  Vorlage  entweder  eine  gelehrte  Neubildung  gleicher 
Art,  wie  in  dem  obigen  Beispiel  das  zwischen  der  owelörjoig  und  dem 
Gewissen  in  der  Mitte  liegende  conscientia;  oder  sie  stimmt  mit  den 
allgemeinen  Wortzusammensetzungen  der  Sprache  überein,  sei  es 
daß  sie  als  solche  in  der  Volkssprache  sich  gebildet  hat,  oder  daß  sie 
wiederum  eine  gelehrte  Neubildung  ist,  die  jedoch  im  Geiste  der  all- 
gemeinen Verbindungsgesetze  erfolgte  und  sich  darum  enger  als  bei 
den  Übertragungen  auf  ein  fremdes  Sprachgebiet  an  die  sonstigen 
Erscheinungen  der  Wortkomposition  anlehnt.  So  ist  das  Wort  Gvvel- 
ÖTjoig  selbst  zwar  wahrcheinlich  die  Erfindung  eines  einzelnen  Philo- 
sophen; aber  es  steht  mit  andern  ähnlichen,  der  allgemeinen  Sprache 
geläufigen  Zusammensetzungen,  speziell  mit  ovvoidcc  (conscius  sum 
mitwissen),  in  enger  Verbindung.  So  fließen  hier  an  ihrem  Ursprung 
die  gelehrten  Neubildungen  und  die  allgemeinen  Vorgänge  der  Wort- 
bildung durch  Zusammensetzung  gegebener  Wörter  ganz  und  gar 
ineinander.  Darum  sind  aber  die  Neubildungen  zugleich  sprechende 
Zeugnisse  für  den  Einfluß,  den  fortwährend  die  individuelle  Sprach- 
schöpfung auf  die  Gemeinschaft  ausübt,  einen  Einfluß,  der  sonst 
leicht  der  Beobachtung  entgeht,  hier  jedoch  durch  seinen  Zusammen- 
hang mit  Bedürfnissen,  die  ursprünglich  auf  dem  engeren  Gebiet  der 
wissenschaftlichen  Sprache  erwachsen  sind,  in  bestimmten  Literatur- 
denkmälern erhalten  blieb. 

V.  Wortbildung  durch  Lautverdoppelung. 

1.  Allgemeine  Formen  der  Laut  Verdoppelung. 

Der  einfachste  Fall  einer  Verbindung  artikulierter  Laute  zu 
einem  Ganzen,  das  durch  diese  Verbindung  eine  ihm  eigene,  den 
Teilen  selbst  noch  nicht  oder  mindestens  nicht  in  dieser  Begriffs- 

40* 


628  Die  Wortbildung. 


färbung  zukommende  Bedeutung  gewinnt,  ist  die  Lautwieder- 
holung. Sie  läßt  sich  einerseits  als  die  primitivste  Form  der 
Wortbildung  überhaupt  auffassen,  als  eine  Form,  die  eben  erst 
an  der  Grenze  liegt,  wo  der  artikulierte  Laut  in  das  Wort  über- 
geht, und  die  mit  den  einfachsten  Mitteln  zustande  kommt. 
Anderseits  gehört  aber  doch  auch  dieser  Vorgang  schon  den  Er- 
scheinungen der  Wortbildimg  durch  Zusammensetzung  an,  und 
er  geht  in  eine  wirkliche  Wortzusammensetzung  über,  wenn  die 
Laut-  zur  Wortwiederholung  wird.  Nun  treten  im  allgemeinen 
solche  Wortwiederholungen  auf  einer  späteren  Stufe  sprachlicher 
Entwicklung  für  die  nämlichen  Begriffsmodifikationen  ein,  die 
imter  andern  Bedingungen  auch  durch  die  bloße  Lautwieder- 
holung ausgedrückt  werden  können,  so  daß  sich  also  beide  als 
gleichartige  Vorgänge  zu  erkennen  geben.  Nur  gehört  die  Laut- 
wiederholung den  ersten  Anfängen  der  Wortbildimg  an,  während 
die  Wortwiederholung  eine  bereits  vollendete  Wortbildung  voraus- 
setzt. Ähnlich  ist  das  Verhältnis  zwischen  zwei  andern  Formen  der 
gleichen  Erscheinung:  zwischen  der  vollen  Wiederholung  oder  „Ge- 
mination" und  der  bloß  partiellen  oder  ,, Reduplikation"^).  Die 
erstere  ist  hier  wieder  die  ursprünglichere  Form,  die  direkt  in  die  ab- 
gekürzte der  Reduplikation  unter  dem  Einfluß  der  Beschleimigimg 
des  Redeflusses  und  infolge  der  durch  diese  sich  einstellenden  Assimi- 
lationen und  Dissimilationen  der  Laute  übergehen  kann.  Außerdem 
ist  es  aber  auch  möglich,  daß,  nachdem  erst  einmal  überhaupt  redu- 
plizierte Formen  entstanden  sind,  solche  nun  durch  gleichgerichtete 
Laut-  und  Bedeutungsassimilationen  auf  andere  Wörter  übertragen 
werden.  Durch  diese  Einflüsse  kann  die  Reduplikation  schließlich 
bis  zur  Unkenntlichkeit  verwischt  werden.  So  findet  sich  im  Lat. 
in  Wörtern  wie  pupitgi,  spopondi,  momordi,  murmurare  noch  die  volle 
Wiederholung,  in  andern  wie  reppuli  (für  *repepuli),  repperi  (für  *re- 
peperi)  ist  sie  fast  völlig  verloren  gegangen ;  in  der  Mitte  stehen  die  im 
Indogermanischen  weitverbreiteten  Reduplikationsformen  wie  dldtofÄi, 


^)  Weitere  Einteilungen  dieser  Formen,  namentlich  der  Reduplikation,  gibt 
A.  F.  Pott,  Doppelung  (Reduplikation,   Gemination),   1862,   S.   16  ff. 


Allgemeine  Formen  der  Lautverdoppelung.  629 

dedi,  cecidi,  credtdi  usw.^).  Für  die  psychologisclie  Betrachtung  der 
Verdoppelungserscheinungen  haben  diese  laufcgeschichtlichen  Modi- 
fikationen im  allgemeinen  keine  Bedeutung.  Dagegen  ist  die  Frage, 
ob  es  sich  in  einem  gegebenen  Fall  um  eine  Laut-  oder  um  eine  Wort- 
wiederholung handelt,  insofern  von  erheblichem  Interesse,  als  nur 
diejenige  Wiederholung  eines  Lautes,  die  diesem  überhaupt  erst 
einen  Begriffsinhalt  verleiht,  ein  Wortbildungsprozeß  im  eigent- 
lichen Sinne  zu  nennen  ist,  während  die  volle  Wortwiederholung 
immer  nur  einen  schon  vorhandenen  Begriff  in  seiner  Bedeutung 
modifizieren  kann. 

Daß  nun  die  Lautwiederholung  als  ein  Vorgang  ursprünglicher 
Wortbildung  möglich  ist,  das  bezeugt  schon  die  Sprache  des  Kindes. 
Sowohl  die  aus  Naturlauten  gebildeten  Wörter  wie  Papa  und  Mama, 
wie  zumeist  auch  die  gewöhnlichen  Onomatopoetica,  wauwau,  hop- 
hop  u.  a.,  haben  nur  als  Wiederholungsformen  die  Bedeutimg  voll- 
ständiger Wörter.  Pa  und  Ma  oder  wau  und  hop  empfinden  wir  nicht 
als  die  ursprünglicheren  Wörter,  aus  denen  jene  gebildet  sind,  son- 
dern höchstens  als  abgekürzte  Formen,  als  welche  sie  von  größer  ge- 
wordenen Kindern  oder  von  Erwachsenen  gelegentlich  gebraucht 
werden.  Schwierig  läßt  sich  bei  den  ausgebildeten  Formen  der  Laut- 
sprache entscheiden,  ob  eine  Verdoppelimgserscheinung  eine  ur- 
sprüngliche, wortbildende  Lautwiederholung,  oder  ob  sie  eine  Wort- 
wiederholung ist.  Denn  wenngleich  Sprachen,  die,  wie  die  ozeanischen 
und  das  Japanische,  besonders  reich  an  Verdoppelungen  sind,  unter 
diesen  immer  auch  solche  darbieten,  bei  denen  das  einfache  Laut- 
gebilde selbst,  aus  dessen  Wiederholung  ein  Wort  von  bestimmter 
Bedeutung  entsteht,  nicht  als  Wort  vorkommt,  so  ist  natürlich  die 
Möglichkeit,   daß   es  dereinst  einmal  als  solches  existiert  habe  und 


^)  Die  Lautassimilation  kann  übrigens  auch,  wie  gerade  das  Lateinische 
lehrt,  durch  Angleichung  der  Vokallaute  (regressive  Assimilation)  eine  abge- 
schwächte Reduplikation  der  vollen  Wiederholung  näher  bringen:  dahin  gehören 
unter  den  obigen  Beispielen  pupugi,  spopondi,  momordi,  denen  im  Altlateinischen 
pepugi,  spepondi,  memordi  gegenüberstehen.  Hier  scheint  also,  wenn  wir  die  volle 
Wiederholung  aus  allgemeinen  Gründen  als  das  Primäre  ansehen,  eine  Art  rück- 
läufiger Bewegung  unter  dem  Einfluß  der  Klangassoziation  eingetreten  zu  sein. 
Vgl.  Lindsay,  Die  lateinische  Sprache,  1897,  S.  570,  578. 


k 


630  Die  Wortbildung. 


erst  unter  dem  Einflüsse  jener  Neigung  zur  Reduplikation  verloren 
gegangen  sei,  niemals  mit  Sicherheit  auszuschließen.  Immerhin  wird 
man  da,  wo  der  onomatopoetische  Charakter  eines  Wortes  seine  Be- 
deutung eng  mit  der  Lautwiederholung  verbindet,  in  dieser  eine  ur- 
sprüngliche Form  vermuten  dürfen.  In  der  Sprachwissenschaft  ist 
man  allerdings  geneigt,  auch  solche  mutmaßlich  ursprüngliche  Ver- 
doppelungsformen als  ,,  Wurzel  Wiederholungen'*  aufzufassen,  also  die 
Grundbedeutung  in  die  nicht  wiederholte  Form  zu  verlegen^).  Doch 
gründet  sich  diese  Annahme  bloß  auf  die  allgemeine  Hypothese  einer 
realen  Präexistenz  der  Wurzeln  sowie  auf  die  Tatsache,  daß  in  an- 
dern Fällen  die  Wiederholung  Lautgebilde  trifft,  die  selbst  schon  eine 
bestimmte  Wortbedeutung  besitzen.  Hieraus  läßt  sich  aber  kein  Schluß 
auf  alle  andern  Fälle  ziehen,  und  da  in  jenen  Sprachen  ohnehin  zwei- 
silbige Wortstämme,  die  nicht  weiter  zerlegbar  sind,  nicht  selten  auf- 
treten, so  ist  es  durchaus  nicht  unmöglich,  daß  sich  unter  den  letz- 
teren auch  Reduplikationsformen  vorfinden.  Dies  ist  namentlich 
bei  den  der  Kindersprache  analogen  Erscheinungen  wahrscheinlich, 
wie  bei  der  Bezeichnung  von  Vater  und  Mutter  oder  bei  onomato- 
poetischen Bildungen.  Ebenso  spricht  hierfür  die  Tatsache,  daß  in 
diesen  Fällen,  wie  besonders  für  das  Japanische  feststeht,  zwischen 
der  Kindersprache  und  der  allgemeinen  Sprache  eine  ziemUch  um- 
fangreiche Gemeinschaft  des  Wortschatzes  vorhanden  ist.  Im  Hin- 
blick auf  diese  Verhältnisse  hat  man  wohl  auch  die  Verdoppelungs- 
formen überhaupt  als  ursprüngliche  Entlehnungen  aus  der  Kinder- 
sprache angesehen.  Die  Verfolgung  dieser  Erscheinungen  in  solchen 
Sprachgebieten,  in  denen  sie  eine  weitere  Verbreitung  besitzen,  macht 
aber  diese  Annahme  unhaltbar.  Hier  sind  die  psychologischen  Mo- 
tive, die  zur  Bildung  der  Verdoppelungsformen  führen,  offenbar  von 
allgemeingültiger  Art.  Wortbildungen  wie  lat.  volvo,  griech.  7Tl[.i7TXrjf.ii, 
hebr.  galal  u.  a.  für  ein  ursprüngliches  Eigentum  der  Kindersprache 
zu  halten,  dazu  liegt  offenbar  kein  Grund  vor.  Nur  in  solchen  Fällen, 
wo  in  der  allgemeinen  Sprache  nur  spärliche  Reste  von  Verdoppe- 


^)  Vgl.  H.  C.  von  der  Gabelentz,  Die  melanesischen  Sprachen,  I,  S.  19,  II, 
S.  15.  (Abh.  der  kgl.  säche.  Ges.  der  Wiss.,  Phil.-hist.  Kl.  III,  1861,  und  VII, 
1879.) 


Allgemeine  Formen  der  Lautverdoppelung.  631 


lungen  existieren,  wie  z.  B.  im  Deutschen,  gehören  solche  wohl  vor- 
zugsweise der  Kinder  spräche  an^).  Wie  man  nun  aber  auch  im  ein- 
zelnen Fall  die  Erscheinungen  deuten  möge,  ob  als  Übergang  aus  der 
Sprache  des  Kindes  in  die  seiner  Umgebung  oder  als  eine  ursprüng- 
liche Eigenschaft  der  Volkssprache,  die  mit  ihrem  Reichtum  an  ono- 
matopoetischen Wörtern  zusammenhängt,  —  jedenfalls  ist  die 
weitere  Analogie  nicht  abzuweisen,  daß  die  Verdoppelungsform 
in  vielen  Fällen  nicht  das  abgeleitete,  sondern  das  ursprüngliche 
Wort  ist2). 

Wo  nun  die  Lautwiederholung  als  eine  relativ  ursprüngliche 
Wortbildung  erscheint,  da  können  die  aus  ihr  hervorgehenden  Wörter 
den  verschiedensten  Begriffsgebieten  angehören,  wie  sich  das  nament- 
lich in  den  an  Reduplikationsformen  reicheren  Sprachen  zeigt.  Eine 
gewisse  Bevorzugung  scheint  aber  allerdings  auch  hier,  wie  in  der 
Kindersprache,  teils  den  Gegenständen  der  häufigsten  und  vertrau- 
testen Umgebung,  teils  allen  den  Vorstellungen  zuteil  zu  werden, 
die  durch  ihre  Beschaffenheit  zu  einer  Wiederholung  des  Lautes  heraus- 
fordern. In  ersterer  Beziehung  ist  bemerkenswert,  daß  in  den  Sprachen 
der  Naturvölker  nicht  bloß  Vater  und  Mutter,  sondern  sehr  häufig 
auch  die  Teile  des  eigenen  Leibes,  wie  Hand,  Fuß,  Auge,  durch  Doppel- 
wörter ausgedrückt  werden,  wobei  freilich  wohl  der  Umstand  mit- 
gewirkt hat,  daß  diese  Organe  doppelt  vorhanden  sind.    Dies  ist  aber 


1)  Vgl.  Ed.  Wölfflin,   Zeitschr.  f.  deutsche  Wortforschung,   Bd.    1,    1901, 
S.  263  ff. 

2)  Zu  den  nur  in  Wiederholungsformen  vorkommenden  Wörtern  gehören, 
neben  den  in  Kap.  II,  S.  310  Anm.  angeführten  Beispielen  aus  dem  Japanischen, 
die  zumeist  der  Kindersprache  und  der  allgemeinen  Sprache  gemeinsam  sind, 
aus  melanesischen  Dialekten  Wörter  wie  rere  fürchten,  caca  hassen,  rairai  sehen 
u.  a.  (v.  d.  Gabelentz  a.a.  0. 1,  S.  17  ff.,  Fidschisprache).  In  andern  Fällen  kommen 
freiUch  in  diesen  Sprachen  auch  einfache  Formen  vor,  aus  deren  Wiederholmig 
wohl  erst  die  reduplizierten  entstanden  sind,  z.  B.  Tonga  wä  Bein,  Maori  wätvä, 
oder  Tahiti  toio  Blut  wahrscheinHch  redupl.  von  to  dem  Namen  eines  saftreichen 
Baumes  von  Banksisland  (P.  W.  Schmidt,  Mitteil,  der  Anthropol.  Ges.  in  Wien, 
Bd.  33,  1903,  S.  371  f.).  Doch  hat  in  vielen  dieser  Sprachen,  zunächst  wohl  durch 
einzelne  onomatopoetische  Bildungen  und  durch  die  affektvolle  Rede  begünstigt, 
die  Lautwiederholung  so  überhandgenommen,  daß  sich  die  ursprünglich  ein- 
fachen Formen  meist  überhaupt  nicht  mehr  nachweisen  lassen. 


632  Die  Wortbildung. 


ein  Motiv,  das  bereits  in  den  Umkreis  der  auch  bei  der  Wortwieder- 
holung und  Reduplikation  wirksamen  Bedingimgen  fällt.  Hier  näm- 
lich kann  als  der  allgemeine,  alle  späteren  und  jedenfalls  auch  einen 
großen  Teil  der  ursprünglichen  Verdoppelungserscheinungen  erzeu- 
gende Antrieb  die  Wiederholung  oder  Verstärkung  des  Ein- 
drucks angesehen  werden,  die  entweder  direkt  aus  den  Eigenschaften 
des  Wahrnehmungsinhalts  entspringt  oder  diesem  durch  das  sub- 
jektive gehobene  Gefühl  des  Sprechenden  beigelegt  wird.  Beide  Mo- 
tive fließen  insofern  zusammen,  als  der  objektive  Eindruck  die  in 
seiner  Benennung  sich  ausdrückende  Reaktion  immer  erst  durch  das 
Medium  irgendeiner  Gefühlserregung  auslöst.  Aber  diese  wird  doch 
im  allgemeinen  da  eine  geringere  Rolle  spielen,  wo  der  Eindruck  schon 
durch  seine  eigene  Beschaffenheit  zur  Lautwiederholung  heraus- 
fordert. In  der  Tat  haben  sich  daher  auch  nur  für  solche  objektiv 
motivierte  Begriffsmodifikationen  die  Verdoppelungen  als  allgemeine 
und  imter  analogen  Bedingungen  oft  wiederkehrende  Erscheinungen 
der  Sprache  durchgesetzt,  während  die  bloß  durch  das  subjektive 
Gefühl  erregten  unregelmäßiger  vorkommen^). 

2.  Bedeutungsarten  der  Lautverdoppelung. 

a.  Verdoppelung  zum  Ausdruck  sich  wiederholender 

Vorgänge. 

Das  nächste,  durcih  den  Eindruck  selbst  am  unmittelbarsten 
sich  aufdrängende  Motiv  zur  Lautwiederholung  ist  offenbar  da  ge- 
geben, wo  das  Wort  Schalleindrücke  wiedergibt,  die  sich 
selbst  wiederholen.     Diese  direkte  onomatopoetische  Verwendung 


^)  Daß  Laut-  und  Wortwiederholungen  irgendeine  Art  von  Verstärkung 
des  Eindrucks  hervorbringen,  ist  schon  den  alten  Grammatikern  und  Rhetorikern 
begreiflicherweise  nicht  entgangen.  Ebenso  hat  Pott  dieses  Moment  als  das  ent- 
scheidende hervorgehoben  (a.  a.  O.  S.  22);  und  unter  dem  gleichen  Gesichtspunkt 
wurden  von  Fr.  Müller  die  Verdoppelungserscheinungen  in  den  polynesischen  und 
malaiischen  Sprachen  in  gewisse  Gruppen  geordnet  (Reise  der  Fregatte  Novara, 
Linguist.  Teil,  1867,  S.  300,  325  ff.,  und  Grundriß  der  Sprachwissenschaft,  II,  2, 
S.  12,  101  ff.).  Doch  ist  von  diesen  Autoren  weder  auf  die  psychologische  Inter- 
pretation noch  auf  die  Frage  der  genetischen  Beziehungen  der  einzelnen  Fälle 
näher  eingegangen  worden. 


Bedeutungsarten  der  Lautverdoppelung.  633 

der  Verdoppelung  ist  zugleich  diejenige,  die  mit  dem  geringsten  Maß 
subjektiver  Gefühlssteigerung  möglicli  ist,  weil  es  einer  solchen  gar 
nicht  bedarf,  um  in  der  Wiederholung  eine  unmittelbare  Wiedergabe 
des  Eindrucks  zu  erkennen.  Die  direkte  onomatopoetische  Verdoppe- 
lung ist  daher  gleichzeitig  eine  der  frühesten  und  der  spätesten  unter 
diesen  Erscheinungen,  so  daß  die  hierher  zu  zählenden  Wörter  zum 
Teil  in  die  Anfänge  der  Wortbildung  zurückreichen,  ebenso  aber  auch 
zu  dem  jüngsten  Sprachgut  gehören,  das  unter  seinen  durchweg  ono- 
matopoetischen Bildungen,  wo  immer  sich  die  Gelegenheit  bietet, 
Lautverdoppelungen  enthält.  Darum  ist  diese  Form  selbst  in  den 
Kultursprachen  verhältnismäßig  noch  am  reichlichsten  vertreten 
geblieben.  Hierher  gehört  zunächst  die  Bezeichnung  gewisser  Tiere 
nach  ihrer  Stimme,  die  jedoch,  abgesehen  von  der  Kindersprache, 
wo  sie  in  weiterem  Umfange  vorkommt,  in  der  Regel  auf  Vogelnamen 
beschränkt  ist:  so  in  Wörtern  wie  turtur  Turteltaube,  ulula  Eule, 
cucuUus  Kuckuck,  sanskr.  kiki  Holzhäher,  pers.  hülhül  Nachtigall 
usw.  Daran  schließen  sich  als  eine  zweite,  noch  verbreiteteie  Klasse 
von  Wörtern  solche  für  Geräusche,  die  sich  wiederholen,  wie  mur- 
murare  murmeln,  aXaXaCeiv  laut  schreien,  laXayfj  Geschwätz,  XaXelv 
lallen  usw.^). 

Von  der  direkten  onomatopoetischen  Verdoppelung  führt  nur 
ein  kleiner  Schritt  zu  solchen  Lautwiederholungen,  die  irgendeinen 
andern,  nicht  vom  Gehör,  sondern  meist  vom  Gesichtssinn  wahr- 
genommenen, sich  wiederholenden  Vorgang  ausdrücken.  Da- 
hin gehört  eine  große  Zahl  jener  in  anderm  Zusammenhang  ebenfalls 
schon  betrachteten  Fälle  indirekter  Onomatopöie,  die  sich  daraus 
erklären,  daß  die  letztere  in  Wahrheit  niemals  Lautnachahmung, 
sondern  eine  durch  den  wahrgenommenen  Vorgang  oder  Gegenstand 
erregte  Lautgebärde  ist.  Man  denke  an  Wörter  wie  volvo  wälze, 
7ii^7iXr](.u  fülle,  f.iL(iio(.iai  ahme  nach  u.  a.,  denen  sich  eine  Fülle  ana- 
loger Bildungen  in  den  Sprachen  anderer  Kulturvölker  und  besonders 
der  Naturvölker  anschließt.  In  den  zweisilbigen  Verbalstämmen  der 
semitischen  Sprachen  erscheint  diese  Reduplikationsform  als  Wieder- 


1)  Vgl.  oben  Kap.  III,  S.  298  ff. 


634  Die  Wortbildung. 


holung  des  zweiten  Stammkonsonanten,  eine  Laut  Variation,  die  meist 
den  ursprüngliclien  Verbalbegriff  so  verändert,  daß  dadurch  die  Vor- 
stellung einer  Wiederholung  der  in  jenem  ausgedrückten   Tätigkei 
entsteht.      So  im  Hebräischen  in  Wortpaaren    wie    den    folgenden: 
gasah  schneiden  und  gasas  scheren,  galah  wegziehen  und  galal  wälzen, 
gar  ah  ziehen  und  garar  sägen,  salah  sich  beugen  und  salal  schwanken, 
lakah  ergreifen  und  lahah  lecken^).    Analoge  Beispiele  finden  sich  in 
andern  Sprachen,  namentlich  in  denen  der  Naturvölker,  häufig  als 
vollständige   Laut-    oder   Wort  Wiederholungen,    z.    B.    im   Mpongwe 
(westafrik.)  tyotyo  hüpfen,  sazasaza  hin  und  her  überlegen,  im  Fid- 
schi Tcacikaci  öfter  rufen,  ridorido  hüpfen,  Icerekere  betteln  (Verdoppe- 
lung von  kere  bitten),  im  Japanischen  pozupozu  es  regnet,  hatabata 
er  läuft  usw.    Eine  charakteristische  Modifikation  kann  diese  im  wei- 
teren Sinn  onomatopoetische  Reduplikation  erfahren,  wenn  der  sich 
wiederholende  Vorgang  einen  Wechsel  darbietet,  der  nun  in  einer 
analogen  Lautvariation  seinen  Ausdruck  findet.     Dahin  zählen  viele 
sprachliche  Neubildungen,  die  sich  in  der  Regel  an  irgendwelche  be- 
kannte Wörter  anlehnen,   z.    B.   im  Deutschen  Zickzack,    Wirrwarr 
(franz.  pele-mele),  Schnickschnack,  Krimskrams,  Wischiwaschi,  Kling- 
klang,   Mischmasch,    Schurrmurr,    Holterpolter,    Larifari,    Hokuspokus 
(letzteres  in  Anlehnung  an  die  Formel  des  Meßopfers  hoc  est  corpus 
wahrscheinlich  zuerst  als  Mönchswitz  entstanden).     Dem  reihen  sich 
an  aus  fremden  Sprachgebieten:  Mandschu  debadaha  durcheinander, 
schorschar  Geräusch  des  Windes,  pektepakta  im   Gehen  wanken,  ja- 
panisch kamhagamba  Unsinn  schwatzen  u.  ä.     Eine  besondere  Form 
solcher  Reduplikation  mit  Lautänderung  findet  sich  in  den  ozeanischen 
Sprachen,  darin  bestehend,  daß  ein  Wort  unverändert,  aber  mit  stär- 
kerer Betonung  wiederholt  wird,  z.  B.  im  Dajak  tendä-tendä  zuweilen 
anhalten.    Daneben  kommen  dann  aber  in  analogem  Sinn  auch  quali- 
tative Lautvariationen  vor,  z.  B.  in  der  gleichen  Sprache  bilang-ba- 
lang  überallhin  zerstreut  sein,  galang-gilang  sich  hin-  und  herdrehen. 
Besonders  bezeichnend  sind  diese  mit  Akzent-  oder  Lautänderung  er- 
folgenden Wiederholungen  da,  wo  neben  ihnen  die  unveränderte  Wie- 
derholung vorkommt,  und  wo  nun  beide  meist  gegensätzliche  Varia- 


1)  Vgl.  Kap.  III,  S.  361  ff. 


Bedeutungsarten  der  Lautverdoppelung.  635 

tionen  der  Bedeutung  ausdrücken.  So  im  Dajak  neben  tendä-tendä 
zuweilen  anhalten  tendä-tendä  oft  anhalten.  Auch  in  den  oben- 
erwähnten volkstümlichen  Neubildungen  unserer  Kultursprachen 
findet  sich  zu  solchen  Variationen  von  Laut  und  Bedeutung  man- 
ches Analoge.  Aber  während  sie  hier  nur  sporadisch  in  die  all- 
gemeine Sprache  eindringen,  gehören  sie  in  den  Sprachen  vieler 
Völker  zu  den  regelmäßigen  Ausdrucksmitteln  ^). 

b.  Verdoppelung  bei  Kollektiv-  und  Mehrheits- 

begri  f  f  en. 

An  die  Verwendimg  der  Verdoppelung  zum  Ausdruck  eines  sich 
wiederholenden  Vorgangs  schließen  sich  verschiedene  andere  Bedeu- 
tungen der  gleichen  Bildung  an,  deren  psychologische  Verwandt- 
schaft mit  jenem  natürlichen  onomatopoetischen  Ausgangspunkt 
im  allgemeinen  unschwer  zu  erkennen  ist.  Den  nächsten  Übergang 
bietet  hier  die  Bezeichnimg  einer  Mehrheit  von  Gegenständen. 
Besonders  verbreitet  ist  diese  kollektive  Bedeutung  der  Reduplika- 
tion in  den  malaiischen,  polynesischen  und  den  ostasiatischen,  aber 
auch  in  den  amerikanischen  Sprachen.  So  bedeutet  im  Malaiischen 
poehon  Baum,  poehon-poehon  Wald,  im  Dakota  runa  Mann,  runa- 
runa  Volk.  Im  Chinesischen  werden  die  unbestimmten  Kollektiva, 
im  Japanischen  außerdem  auch  die  Plurale  des  Personenbegriffs  durch 
ebensolche  Wiederholungen  ausgedrückt:  so  chines.  zu  Tag,  zit-zit 
täglich,  si-si  allezeit,  gin-gin  jeder  Mensch,  jen-jen  viele  Schwalben, 
Japan,  ono  einer,  ono-ono  mehrere.  Analoge  kollektive  wechseln  mit 
exklusiven  Begiffsänderungen  in  den  ozeanischen  Sprachen  bei  der 
Wiederholung  der  Zahlwörter:  so  im  Fidschi  aus  tolu  drei  tolu-tolu 
alle  drei,  dagegen  aus  dua  eins  dua-dua  der  einzige,  einer  allein.  An 
die  erstere  Form  schließt  sich  unmittelbar  die  Wiederholung  als  all- 
gemeiner Ausdruck  des  Plurals.    Sie  findet  sich  teils  als  volle  Wieder- 


^)  Die  obigen  wie  die  folgenden  Beispiele  sind  großenteils  dem  erwähnten 
Werke  .von  Pott  über  Doppelung  (vgl.  bes.  S.  131  ff.),  sowie  den  Ar- 
beiten von  Fr.  Müller,  H.  C.  von  der  Gabelentz  und  Humboldts  Kawi-Werk 
entnommen. 


636  Die  Wortbildung. 


holung  teils  als  bloße  Reduplikation  zuweilen  in  den  ural-altaischen, 
in  einigen  ozeanischen  und  amerikanischen  Sprachen,  jedoch  im  ganzen 
selten,  da  meist,  wo  sich  spezifische  Pluralsuffixe  nicht  ausgebildet 
haben,  die  Mehrzahl  entweder  ganz  unbezeichnet  bleibt  oder  durch 
den  Zusatz  eines  besonderen  Wortes  von  der  Bedeutung  „viel"  oder 
,, Menge"  ausgedrückt  wird.  Viel  spärlicher  ist  die  Wiederholung  in 
dieser  Anwendung  auf  Gegenstandsbegriffe  in  den  indogermanischen 
und  semitischen  Sprachen,  und  wo  sie  vorkommt,  da  scheint  sie  eine 
sekundäre,  durch  Lautassimilation  oder  durch  verbale  Ableitung 
entstandene  Erscheinung  zu  sein.  So  ist  lat.  mamma  (franz.  mamelle) 
aus  ^madmä,  zusammengesetzt  aus  dem  Stamm  mad~  (zu  madeo  feucht 
sein)  und  dem  Suffix  -mä,  entstanden.  Deutsch  Zitze,  ahd.  tutta,  xnhd. 
tüttel,  franz.  (aus  dem  German.  entlehnt)  tette,  sind  wahrscheinlich 
ebenfalls  verbale  Ableitungen. 

Von  dem  Substantivum  geht  die  Verdoppelung  in  der  gleichen 
Bedeutung  auf  das  Adjektivum  um  so  leichter  über,  je  weniger  beide 
Formen  des  Nomens  auf  primitiveren  Sprachstufen  sicher  geschieden 
werden.  Diesem  Stadium  des  Ineinanderf Heßens  der  Begriffe  ent- 
spricht eine  in  den  polynesischen  Sprachen  vorkommende  Verdoppe- 
lungsform der  Adjektiva,  die  sich  unmittelbar  an  den  Gebrauch  zur 
Bezeichnung  eines  Kollektivbegriffs  oder  einer  Mehrheit  anschließt: 
sie  besteht  darin,  daß  das  einem  Substantiv  beigefügte  Adjektiv  eine 
reduplizierte  Form  annimmt,  um  dem  Substantiv  selbst  eine  plurale 
Bedeutung  zu  geben,  z.  B.  im  Tahit.  e  taata  maitai  ein  guter  Mann, 
e  taata  maitatai  einige  gute  Männer.  Indem  hier  der  Gegenstand 
und  seine  Eigenschaft  in  enger  Verbindung  gedacht  sind,  kann  die 
Reduplikation  zunächst  als  Ausdruck  der  Mehrheit  für  das  Ad- 
jektiv selbst  angesehen  werden.  Es  ist  die  mehrmals  wahr- 
genommene Eigenschaft,  die  vor  allem  apperzipiert,  und  mit  der 
dann  unmittelbar  auch  die  Vorstellung  einer  Mehrheit  von  Gegen- 
ständen assoziiert  wird. 


Bedeutungsarten  der  Laut  Verdoppelung.  637 


c.  Verdoppelung   zur  Steigerung   von  Eigen  schafts- 

begriffen. 

In  der  Anwendung  auf  den  Eigenschaftsbegriff  liegt  nun  zugleich 
das  Motiv  für  eine  weitere  Variation  der  Bedeutung:  die  Verdoppe- 
lung gibt  den  verstärkten  Eindruck  wieder,  den  die  Wahrnehmung 
der  Eigenschaft  auf  den  Redenden  macht,  und  damit  wird  sie  zum 
Ausdruck  einer  auch  objektiv  größeren  Intensität  der  Eigenschaft 
selbst.  Was  bei  dem  Mehrheitsausdruck  als  sinnliches  Bild  eines  ex- 
tensiven Wachstums  gilt,  das  wandelt  sich  also  nun  in  ein  solches 
für  eine  intensive  Steigerung  um.  Dabei  spielt  aber  offenbar 
der  Gefühlsfaktor  eine  größere  Rolle.  Denn  während  die  Unterschei- 
dung von  Einheit  und  Mehrheit,  Einzelbegriff  und  Kollektivum  wesent- 
lich Sache  der  objektiven  Anschauung  ist,  beruht  die  Wert  abstuf  ung 
der  Eigenschaften  nicht  bloß  auf  dem  Gegenstand  selbst,  sondern 
mehr  noch  auf  dem  subjektiven  Eindruck,  den  er  hervorbringt.  Dies 
spricht  sich  auch  darin  aus,  daß  solche  komparative  und  Superlative 
Verwendungen  der  Verdoppelung  am  allermeisten  bei  Eigenschaften 
vorkommen,  die  mit  irgendeiner  subjektiven  Gefühlserregung  ver- 
bimden  sind.  Neben  ,,groß"  und  ,, klein"  sind  es  daher  hauptsächlich 
die  moralischen  und  ästhetischen  Qualitäten  „gut",  ,, schlecht", 
,, schön"  u.  dgl.,  für  die  sich  diese  Art  der  Steigerung  teils  von  frühe 
an  findet,  teils  aber  auch  in  den  Kultur  sprachen  erhalten  bleibt.  So 
gebraucht  noch  heute  die  naive  Erzählung,  wie  sie  etwa  das  Märchen 
anwendet,  mit  Vorliebe  die  sinnlich  lebendigere  Steigerung  durch  die 
Wiederholung  des  Eigenschaftsworts:  ,,ein  reicher  reicher  Mann'* 
u.  dgl.  Sodann  ist  diese  Form  der  natürliche  Ausdruck  verstärkter 
Affektbetonung,  und  bei  Völkern  von  lebhaftem  Temperament  ist 
sie  daher  häufig  zu  finden:  so  im  Italienischen  in  Ausdrücken  wie 
alto  altOj  tutti  tutti,  hello  hellissimo^).  In  den  Sprachen  mancher  Natur- 
völker haben  sich  aber  die  Verdoppelungsformen  über  alle  möglichen 


^)  Überhaupt  sind  die  romanischen  Sprachen  reich  an  Verdoppelungen,  die 
wohl  teils  von  Eigenschaftsbegriffen  ausgegangen,  teils  aber  auch  aus  der  Kinder- 
sprache aufgenommen  sind,  wie  franz.  honbon  (von  bon),  joujou  Spielzeug  (von 
jouer),  cocotte  (von  coq,  also  eigentl.  „Hühnchen**),  und  viele  Kosewörter. 


638  Die  Wortbildung. 


Eigenschaftsbegriffe  ausgedehnt.  So  sind  sie  besonders  im  Poly- 
nesiscben,  unterstützt  durch  die  allgemeine  Neigung  zur  Lautwieder- 
holung, in  den  Ausdruck  zahlreicher  Eigenschaften  übergegangen. 
Immerhin  bleiben  auch  hier  solche  bevorzugt,  die  sich  in  bestimmten 
Gegensätzen  entwickelt  haben:  z.  B.  im  Hawaii  ele-ele  schwarz,  Jceo- 
heo  weiß,  Wörter,  die  überhaupt  nur  als  Lautwiederholungen  vor- 
kommen. Wo  die  Verdoppelung  in  einen  Gegensatz  zu  dem  einfachen 
Worte  tritt,  da  kann  sie  dann  bald  eine  Steigerung,  bald  irgendeine 
durch  stärkere  Gefühlswirkung  ausgezeichnete  qualitative  Modifi- 
kation der  Eigenschaft  ausdrücken.  So  bedeutet  ebenfalls  im  Ha- 
waii ula  rot,  ula-ula  purpurrot.  Endlich  können  aber  auch  neben- 
einander verschiedene  derartige  Modifikationen  einer  Eigenschaft 
durch  wechselnde  Betonung  des  einen  Wiederholungswortes  bezeichnet 
werden,  nach  Analogie  der  onomatopoetischen  Bildungen  mit  Laut- 
variationen. So  bedeutet  für  den  Dajaken  gila-güa  (mit  ausschließ- 
licher Betonung  des  zweiten  Wortes)  ein  wenig  dumm,  gila-güa  (mit 
doppelter  Betonung)  sehr  dumm,  ganz  mit  den  in  der  gleichen  Sprache 
vorhandenen  Variationen  des  iterativen  Verbalbegriffs  überein- 
stimmend (s.  oben  S.  635). 

d.    Verdoppelung    als    Steigerungsform    der   Verbal- 
begriffe. 

Ähnliche  Anwendungen  der  Verdoppelung,  wie  sie  im  Gebiet  der 
Nominalbegriffe  unter  dem  Einflüsse  der  Grad-  und  Wertabstufung 
vorkommen,  finden  sich  schließlich  beim  Verbum,  von  dessen  ono-# 
matopoetischen  Reduplikationen  wir  oben  als  den  einfachsten  Bei- 
spielen dieser  ganzen  Erscheinung  ausgegangen  sind.  Der  stärkeren 
Betonung  der  Eigenschaft  liegt  hier  am  nächsten  der  Ausdruck  der 
gesteigerten  Tätigkeit  durch  vollständige  oder  verkürzte  Ver- 
doppelung des  Verbalstamms.  Auch  er  findet  sich  als  einfache  Wort- 
wiederholung in  der  Erzählung,  im  imperativen  Zuruf,  wie  ,,eile  eile", 
,,komm  komm",  wo  er  sich  zugleich  an  die  iterative  Verwendung 
der  gleichen  Redeform  anlehnt  und  nicht  selten  wohl  ein  Intensivum 
und  Iterativum  zugleich  ist.  Im  Indogermanischen  sind  in  den  älteren, 
formenreicheren  Sprachen  gerade  bei  den  am  häufigsten  gebrauchten 
Tätigkeitsbegriffen   reduplizierte   Formen   allgemeingültig   geworden: 


Bedeutungsarten  der  Lautverdoppelung.  639 

so  im  Griecli.  Tid^rjfXL  stelle,  ölöcojlu  gebe,  Wortbildungen,  die  wohl 
als  ursprüngliche  Intensiva  aufzufassen  sind,  welche  durch  den  häu- 
figen Gebrauch  allmählich  den  ihnen  anhaftenden  gesteigerten  Ge- 
fühlston eingebüßt  haben.  Weitverbreitet  und  zum  Teil  als  noch- 
malige verstärkende  Verdoppelungen  schon  vorhandener  Wieder- 
holungsformen finden  sich  aber  solche  Intensiva  in  den  malaio-poly- 
nesischen  und  andern  durch  ihre  Neigung  zur  Lautverdoppelung  aus- 
gezeichneten Sprachen.  So  bedeutet  im  Samoa  taha  sprechen,  taha- 
taba  schreien,  Maori  Jcai  essen,  kalcai  fressen.  Malaiisch  tanis  weinen, 
tanis  menänis  heftig  weinen,  her-rtjäla  brennen,  ber-njala-njäla  stark 
brennen.  Dabei  treten  zugleich  an  die  Stelle  der  intensiven  Bedeu- 
tung, wahrscheinlich  unter  Anwendung  von  Betonungsdifferenzen, 
andere  Modifikationen  des  Begriffs,  die  durchaus  den  im  gleichen 
Sprachgebiet  vorkommenden  Variationen  bei  der  Verdoppelung  des 
Nomens  analog  sind,  wie  z.  B.  im  Dajak  mamukul  schlagen,  mamuhu- 
muJcul  heftig  schlagei^  Eine  eigentümliche,  für  das  Ineinanderfließen 
der  Nominal-  und  Verbalbegriffe  charakteristische  Anwendung 
zeigen  endlich  die  polynesischen  Sprachen,  indem  an  die  Stelle 
der  intensiven  eine  simultane  Bedeutung  tritt,  die  Verdoppe- 
lung also  eine  von  mehreren  gemeinschaftlich  vollführte  Hand- 
lung bezeichnet:  so  Samoa  moe  schlafen,  momoe  mit  jemand  zu- 
sammenschlafen, Tong.  horo  rennen,  hohoro  mit  jemand  um  die 
Wette  rennen. 

In  einer  gewissen  Beziehung  zu  den  intensiven  Steigerungen 
des  Verbalbegriffs  durch  Reduplikation  stehen  vielleicht  auch  die 
in  manchen  Sprachen  vorkommenden  intensiven  Lautsteigerungen, 
in  denen  die  energischere  Tätigkeit,  manchmal  mit  noch  andern,  be- 
sonders kausativen  Begriffsmodifikationen,  durch  eine  Lautver- 
stärkung ausgedrückt  wird.  Hierher  gehören  Formen  wie  im  Deutschen 
schmücken  aus  schmiegen,  bücken  aus  biegen,  stecken  aus  stechen  u.  a. 
Man  pflegt  diese  Formen  als  Produkte  einer  Lautassimilation  des 
n- Suffixes  an  den  Wurzelauslaut  anzusehen,  wodurch  Stämme  auf 
pp,  kk,  tt  entstanden  seien ^).     Aber  diese  Lautassimilation  schließt 


^)  Wilmanns,  Deutsche  Grammatik,  II,   1899,   S.   86  f.    Dazu  Brugmann, 
Grundriß,  I,^  S.  817  f.,  und  II,  S.  978. 


640  Die  WortbilduDg. 


offenbar  niclit  aus,  daß  auf  ihre  Richtung  zugleich  die  Bedeutungs- 
änderung des  Grundbegriffs  von  Einfluß  gewesen  sei.  In  der  Tat 
spricht  hierfür  nicht  bloß  der  Umstand,  daß  hier  Laut-  und  Begriffs- 
verstärkung überall  einander  parallel  gegangen  sind,  sondern  beson- 
ders auch  die  Tatsache,  daß  sich  dieser  Vorgang  dann  auf  andere 
Stämme  übertragen  hat,  bei  denen  jene  Lautassimilation  nicht  mit- 
wirkte, und  wo  nun  wiederum  Intensiva  und  Iterativa  aus  solcher 
Lautverstärkung  hervorgegangen  sind.  So  ist  zu  dem  aus  einem 
Fremdwort,  dem  lat.  flaga  ,,  Schlag"  =  Plage,  übernommenen  Verbum 
plagen  erst  in  neuhochdeutscher  Zeit  das  Intensivum  placken  ent- 
standen, bei  dem  doch  wohl  der  Gefühlston  des  gesteigerten  Explosiv- 
lauts wirksamer  gewesen  sein  wird  als  die  etwaigen  entfernten  Laut- 
assoziationen zu  hucken,  stecken  u.  dgl.  Wenn  aber  die  Lautverstär- 
kung in  jenem  Falle  für  sich  allein  schon  diesen  Effekt  hat,  so  ist 
nicht  einzusehen,  warum  sie  ihn  nicht  auch  da  äußern  sollte,  wo 
ihr  außerdem  noch  eine  assimilative  Kontaktwirkung  der  Laute  zu 
Hilfe  kommt. 

Dem  Ausdruck  der  intensiven  Steigerung  durch  reduplizierte 
Verbalformen  geht  endlich  noch  eine  analoge  extensive  Bedeutung 
der  gleichen  Formen  parallel.  Diese  können  nämlich  in  gewissen  Sprach- 
gebieten auch  einen  kontinuativen  oder  durativen  Sinn  an- 
nehmen. Hierher  gehören  Verba  wie  gigno  erzeuge,  sisto  mache  stehen, 
rafxcpaivco  leuchte,  oder  auf  semitischem  Gebiet  kalal  umgeben  zu 
kalah  ein  Ende  machen,  schließen,  damam  stumm  sein  zu  da- 
mah  schweigen  u.  a.,  Formen,  die  den  Begriff  einer  dauernden 
Handlung  oder  eines  bleibenden  Zustandes  mehr  oder  minder 
deutlich  enthalten.  Es  ist  bemerkenswert,  daß  diese  kontinuative 
Bedeutung,  so  nahe  sie  auch  begrifflich  der  überall  verbreiteten 
iterativen  zu  liegen  scheint,  doch  in  ihrer  Ausbreitung  beschränkt 
ist,  da  sie  außerhalb  der  indogermanischen  und  der  semitischen 
Sprachen  kaum  vorkommt.  Von  diesen  beiden  Gebieten  ist  es 
wieder  besonders  das  semitische,  welches  neben  den  iterativen  kon- 
tinuative Verbalstämme  mit  Wiederholungen  der  Endkonsonanten 
ausgebildet  hat.  Im  Indogermanischen  aber  hat  sich  wahr- 
scheinlich an  diese  intensiven  und  kontinuativen  Formen  eine 
Ausdehnimg    der    Verdoppelungserscheinungen    angeschlossen,     die, 


Bedeutungsarten  der  Lautverdoppelung.  641 

abgesehen  von   ihrer  weit  engeren  Begrenzung,    mit  dem  verschwen- 
derischen   Gebrauch    solcher   Bildungen    innerhalb    der   malaio-poly- 
nesischen    Sprachen   eine  gewisse  Ähnlichkeit  hat,   indem  in   einer 
größeren  Anzahl  von  Verbalstämmen  Lautverdoppelungen  vorkommen, 
die  nach  ihrer  Bedeutung  zu  keinem  der  bisher  erörterten  Anwen- 
dungsgebiete gehören^).     Hier  mögen  teils  Lautassoziationen  (Ana- 
logiebildungen)  wirksam  gewesen   sein,   teils  mögen  auch  gelegent- 
liche  Motive   subjektiver    Gefühlsbetonung   einen   Einfluß   ausgeübt 
haben.     Von  allen  diesen  in  einer  früheren  Periode  der  Sprachent- 
wicklung sichtlich  reicheren  Wiederholungsformen  hat  sich  im  Lado- 
germanischen  eine  noch  erhalten,  die  wiederum  vollständig  dem  psycho- 
logischen Zusammenhang  dieser  Bildungen  sich  einfügt.    Dies  ist  die 
Reduplikation  als  Ausdruck  der  vollendeten  Handlung.      So  in 
den  Perfektformen    ykyova^   li%qoL(f(Xy   XeXoi(pa,    cecidi,    credidi,   me- 
mini,  dedi,  got.  haihait  zu  haitan  heißen,  lailaik  zu  laikan  springen 
u.  a.     Gewiß  ist  diese  den  indogermanischen  Sprachen  eigentümliche 
Verwendung  der  Reduplikation  nicht  als  eine  besondere,  innerhalb 
dieser  Sprachen  entstandene  ,, Erfindung"  zu  deuten.     Ebensowenig 
wird  man  sie  aber  wegen  der  Spuren  früher  vorhandener,  dem  Ver- 
balstamm als  solchen  eigener  Reduplikationen  bloß  als  einen  zu- 
fälligen  Rest   einer   dereinst  allgemeineren   Ausdrucksform   ansehen 
dürfen.     Vielmehr  ist  es  unverkennbar,  daß  diese  besondere  Bedeu- 
tung der  Verdoppelung  durchaus  der  allgemeinen  Richtung  angehört, 
in  der  sich  überhaupt  Laut-  und  Wortwiederholungen  in  der  Sprache 
entwickelt  haben.    Liegt  auch  diese  letzte  Modifikation  dem  ursprüng- 
lichen, ohne  weiteres  verständlichen  sinnlichen  Ausgangspunkt  ferner, 
so  ist  doch  bei  der  Würdigung  dieses  Umstandes  nicht  zu  vergessen, 
daß  die  Verbalform,  für  die  hier  schließlich  die  Verdoppelung  kenn- 
zeichnend wurde,   selbst  allmählich  ihre  Bedeutung  verändert  hat. 
Wie  die  Verbalformen  überhaupt  ursprünglich  mehr  die  objektiven 
zeitlichen  Eigenschaften  der  Vorgänge  und  Zustände  als  das  sub- 
jektive Verhältnis  des  Redenden  zu  ihnen  ausdrücken,  so  liegt  ins- 


^)  VgL  die  Übersicht  solcher  reduplizierter  Formen  auf  indogermanischem 
Sprachgebiet  bei  Brugmann,  Grundriß,  II,  S.  845  ff. 

Wandt,  Völkerpsychologie.    I.    4.  Anfl.  41 


642  Die  Wortbildung. 


besondere  aucli  die  Bedeutung  des  Perfektums  darin,  daß  es  den  aus 
einer  vorangegangenen  Handlung  folgenden  dauernden  Zustand  be- 
zeichnet^). Dadurch  erscheint  es  aber  von  der  Vorstellung  der  ste- 
tigen Dauer  nur  noch  durch  eine  schmale  Linie  geschieden.  Nach- 
dem nun  durch  eine  weitere  Begriffs  Verschiebung  in  dem  Perfektum 
selbst  jene  ursprünglich  nur  als  Neben  Vorstellung  enthaltene  Be- 
ziehung auf  die  Vergangenheit  zum  Hauptbegriff  geworden,  ist  aller- 
dings gerade  diese  Anwendung  der  Lautwiederholung  von  ihren 
sonstigen  Formen  am  weitesten  entfernt  und  eben  deshalb  wieder 
von  beschränkter  Verbreitung. 

3.  Psychologisches  Schema  der  Verdoppelungsformen. 

Blicken  wir  hiernach  auf  die  ganze  Reihe  der  Verdoppelungs- 
formen zurück,  so  scheiden  sich  zunächst  solche  Anwendungen,  die 
allen  Stufen  und  Richtungen  des  Denkens  gemeinsam  angehören, 
von  andern,  die  Produkte  einer  spezifisch  gearteten,  nicht  allgemein 
gewordenen  Denkweise  sind.  Zu  den  ersteren  gehören  zwei  Erschei- 
nungen, die  sich  wohl  in  allen  Sprachen  der  Erde,  und  die  sich  von 
den  ältesten  Formen  bis  zu  den  jüngsten  Neuschöpfungen  vorfinden. 
Die  eine  ist  der  Ausdruck  sich  wiederholender  Schalleindrücke 
und  anderer  äußerer  Vorgänge  durch  sich  wiederholende  Laute:  sie 
fällt  augenscheinlich  mehr  der  Vorstellungsseite  der  Wortverbin- 
dung zu.  Die  andere  ist  die  stärkere  Betonung  einer  Eigenschaft 
oder  einer  Handlung  durch  Laut-  und  Wortwiederholung:  in  ihr 
kommt  offenbar  mehr  die  Gefühlsseite  des  Bewußtseins  zum  Aus- 
druck. Von  diesen  ursprünglich  gemeinsamen  und  fortan  gemein- 
sam bleibenden  Ausgangspunkten  aus  sondern  sich  nun  die  weiteren 
Anwendungen  nach  verschiedenen  Richtungen.  Auf  der  einen  Seite 
tritt  uns  in  einer  großen  Anzahl  von  Sprachen  die  Neigung  entgegen, 
die  Lautwiederholung  zur  Bezeichnung  von  Gegenständen  anzu- 
wenden, die  sich  in  der  Wahrnehmung  wiederholen,  also  zur  Bildung 
von  Kollektiv-  und  Mehrheitsbegriffen.  Von  diesen  ist  wieder 
der   Ausdruck   von   Kollektivbegriffen   der   verbreitetere   und   wahr- 


1)  Vgl.  Kap.  VI,  Nr.  V. 


Psychologische  Theorie  der  Verdoppelungserscheinungen.  643 

scheinlicli  auch  der  ursprünglichere.  Auf  der  andern  Seite  überträgt 
sich  das  Ausdrucksmittel  der  Wiederholung  von  der  Vorstellung  eines 
sich  wiederholenden  auf  die  eines  dauernden  Vorgangs,  und  von 
diesem  endlich  innerhalb  eines  engeren  Sprachgebiets  auf  die  einer 
abgeschlossenen  Handlimg.  In  der  ersten  dieser  beiden  Keihen 
bewegt  sich  demnach  die  Anwendung  der  Verdoppelungsformen  im 
Gebiet  der  Nominal-,  in  der  zweiten  in  dem  der  Verbalbegriffe.  Die 
erste  Reihe  umfaßt  die  ungeheure  Mehrzahl  der  allerverschiedensten 
Sprachen,  die  zweite  scheint  sich  auf  das  semitische  und  indoger- 
manische Sprachgebiet  zu  beschränken.  Dabei  ist  aber  im  Semi- 
tischen die  Lautwiederholung  nur  bis  zum  Ausdruck  des  dauernden 
Vorgangs  gelangt.  Den  Schritt  von  da  zur  vollendeten  Handlung, 
für  welche  das  Semitische  andere,  seinem  allgemeinen  Charakter 
konforme  Ausdrucksmittel  besitzt,  haben  nur  die  indogermanischen 
Sprachen  zurückgelegt.  Die  ganze  Entwicklung  läßt  sich  demnach 
in  dem  folgenden  Schema  übersehen.  Die  mittlere  Reihe  desselben 
enthält  die  allgemeingültigen  Anwendungsformen.  Links  und  rechts 
befinden  sich  die  beiden  Sonderentwicklungen,  die  sich  übrigens  nach 
dem  früher  Bemerkten  nicht  völlig  ausschließend  zueinander  ver- 
halten, da  sich  namentlich  die  Anwendung  der  Reduplikation  auf 
Kollektivbegriffe  in  vereinzelten  Spuren  auch  auf  indogermanischem 
und  semitischem  Gebiet  vorfindet. 

Sich  wiederholende  Vorgänge 
(Wiederholung  als  objektive  Ausdrucksform) 

Steigerung  der  Eigenschaften  und  Tätigkeiten 

(Wiederholung  als  Ausdruck  der  subjektiven  Gefühlserregung) 

Kollektive  Mehrheit  Dauernder  Vorgang 

Plurale  Mehrheit  Vollendeter  Vorgang 

4.  Psychologische  Theorie  der  Verdoppelungserscheinungen. 

Das  zuletzt  entworfene  Schema  gibt  zunächst  nur  über  die  größere 
oder  geringere  Allgemeingültigkeit  der  einzelnen  Verdoppelungs- 
erschein^ngen  sowie  über  ihre  abweichende  Ausbreitung  Rechen  chaft. 
Gleichwohl  legt  es  unmittelbar  die  Frage  nahe,  inwieweit  die  in  ihm 

41* 


644  Die  Wortbildung. 


angedeutete  nähere  Beziehung  einzelner  Formen  von  beschränkterer 
zu  andern  von  weiterer  Verbreitung  auf  eine  genetische  Beziehung 
zurückzuführen  sei.  Ist  etwa  die  Lautwiederholung  als  Ausdruck 
des  sich  wiederholenden  Vorgangs,  wie  sie  extensiv  die  allgemeinste 
ist,  die  neben  allen  andern  Formen  immer  wiederkehrt,  zugleich  deren 
gemeinsame  Wurzel?  Oder,  wenn  sich  dies  nicht  bestätigen  sollte, 
lassen  sich  wenigstens  zwischen  einzelnen  Gliedern  der  durch  das 
Schema  veranschaulichten  drei  Entwicklimgsreihen  irgendwelche  Ver- 
bindungen auffinden  ? 

Auf  geschichtlichem  Wege  ist  diese  Frage  nicht  zu  beantworten. 
Zwar  sind  in  einzelnen  Fällen  gewisse  Reduplikationserscheinungen 
in  der  Sprache  im  Laufe  ihrer  Entwicklung  geschwunden,  und  an- 
dere, namentlich  solche,  die  dem  Gebiet  der  Wortwiederholung  an- 
gehören, sind  neu  entstanden.  Aber  so  weit  wir  auch  in  einer  bestimm- 
ten Sprache  mittels  der  historischen  Zeugnisse  zurückgehen  mögen, 
die  ihr  eigentümlichen  Verdoppelungsarten  scheinen  von  Anfang 
an  vorhanden  zu  sein,  darunter  selbst  diejenigen  vom  beschränk- 
testen Vorkommen,  wie  z.  B.  die  Anwendung  für  die  Bezeichnung 
des  Plurals  in  den  polynesischen  und  manchen  amerikanischen,  und 
die  andere  für  den  Ausdruck  der  vergangenen  Zeit  in  den  indoger- 
manischen Sprachen.  Unsere  Vermutungen  über  etwaige  genetische 
Zusammenhänge  sind  darum  hier  ganz  auf  den  Weg  der  psycholo- 
gischen Untersuchung  hingewiesen.  Eine  bestimmte  Anwendungs- 
form wird  immer  dann  als  eine  später  entstandene  und  aus  einer  an- 
dern hervorgegangene  anzusehen  sein,  wenn  sie  diese  als  die  Vor- 
bedingung der  ihr  eigentümli*chen  Bedeutungsentwicklung  voraus- 
setzt. 

Unter  diesem  Gesichtspunkt  betrachtet  erscheinen  zimächst 
die  beiden,  durch  ihre  Ausbreitung  über  alle  möglichen  Sprachgebiete 
ausgezeichneten,  die  Mittelreihe  obigen  Schemas  einnehmenden 
Formen  als  zwei  genetisch  voneinander  unabhängige  Erscheinungen, 
die  auf  gleich  ursprüngliche  Eigenschaften  des  menschlichen  Be- 
wußtseins zurückweisen,  und  von  denen  es  sich  deshalb  kaum  mit 
Sicherheit  bestimmen  läßt,  ob  die  eine  vor  der  andern  gewesen  sei. 
Um  so  deutlicher  tritt  in  den  psychologischen  Bedingungen  ein  be- 
stimmter  Gegensatz  hervor.      Die   Lautwiederholung  als  Ausdruck 


Psychologische  Theorie  der  Verdoppelungserscheinungen.  645 

sich  wiederholender  Vorgänge  ist  eine  so  unmittelbar  in  den  Beziehungen 
des  objektiven  Eindrucks  zu  der  ihn  nachbildenden  Lautgebärde 
begründete  Erscheinung,  daß  diese  onomatopoetische  Verdoppelung 
begreiflicherweise  nicht  nur  die  größte  Verbreitung  hat,  sondern  daß 
sie  Auch  allem  Anscheine  nach  die  ursprünglichste  Form  der  soge- 
nannten Lautnachahmung  selbst  ist.  Sie  ist  aber  als  Lautgebärde  zu- 
nächst objektiv  bedingt:  der  Beschaffenheit  des  Eindrucks  folgt 
immittelbar  die  ihn  nachbildende  Lautbewegung,  ohne  daß  dazu  eine 
andere  Gefühlserregung,  als  wie  sie  bei  jeder  Sprachäußerung  statt- 
findet, vorauszusetzen  wäre.  Für  ihre  Ursprünglichkeit  spricht  auch 
der  Umstand,  daß  gerade  diese  Anwendungsform  am  häufigsten  als 
reine  Lautwiederholung  vorkommt,  demnach  als  ein  Vorgang, 
der  selbst  erst  ein  Wortgebilde  hervorbringt.  Bezeichnen  wir  den 
einzelnen  Laut  mit  n,  den  Einzelvorgang,  aus  dessen  Wiederholung 
sich  eine  irgendwie  rhythmische  Reihe  zusammensetzt,  mit  v,  so  wer- 
den die  Vorgänge  v  und  die  ihnen  folgenden  Lautgebärden  n  zunächst 
derart  sich  assoziieren,  daß  sie  eine  Komplikation  nnnn  . .  {vvv..) 
von  imbestimmter  Begrenzung  bilden.  Zu  diesem  rein  assoziativen 
Prozeß  tritt  dann  als  entscheidendes,  den  Übergang  in  die  eigent- 
liche Sprachgebärde  bezeichnendes  Moment  die  jene  verschiedenen 
Bewegungsakte  zusammenfassende  Apperzeption,  die  wesentlich  da- 
durch ermöglicht  wird,  daß  die  Reihe  v  als  eine  Folge  von  Zustands- 
änderungen  eines  und  desselben  Gegenstandes  o  sich  abspielt,  daher 
auch  diese  zusammenfassende  Apperzeption  an  die  Vorstellung  o 
gebunden  bleibt.  Die  Apperzeption  von  o  als  dominierender  Vor- 
stellung wirkt  nun  aber  derartig  hemmend  auf  die  Reihe  der  Laut- 
assoziationen nnnn  .  .,  daß  die  einfache  Wiederholung  n n,  die  sich 
dann  eventuell  noch  zu  verkürzten  Formen  verdichten  kann,  als  ein- 
ziger Lautinhalt  der  Wortkomplikation  zurückbleibt.  Diese  gewinnt 
so  die  endgültige  Form: 

nno  (vvv .  .). 

Anders  verhält  es  sich  mit  der  zweiten  allgemeinen  Anwendung 
der  Verdoppelung,  mit  dem  Ausdruck  intensiv  gesteigerter 
Eigenschaften  oder  Tätigkeiten.     Hier  ist  in  dem  objektiven 


646  Die  Wortbildung. 


Eindruck  als  solchem  niclits  enthalten,  was  unmittelbar  zu  einer 
zeitlichen  Wiederholung  des  Lautes  herausfordern  könnte.  Dieser 
Mangel  einer  direkten  objektiven  Beziehung  spricht  sich  auch 
darin  aus,  daß  diese  Form  der  Eeduplikation  ebensowohl  durch 
bleibende  Eigenschaften  der  Dinge  wie  durch  Vorgänge  oder 
Handlungen  ausgelöst  wird.  Es  ist  daher  augenfäüig,  daß  hier 
nur  das  subjektive  Gefühl  das  Mittelglied  bilden  kann,  das 
die  Intensitätssteigerung  in  diese  extensive  Form  überträgt. 
Wiederum  gehört  nun  schon  innerhalb  der  bloßen  Affektäußerungen 
die  Wiederholung  der  Bewegung  zu  den  geläufigsten  Ausdrucks- 
mitteln der  gesteigerten  Gefühlserregung.  Sie  wird  zu  dem  natür- 
lichsten Ausdrucksmittel  insbesondere  dann,  wenn  sich,  wie  das 
beim  Übergang  in  die  Sprachäußerung  regelmäßig  geschieht,  die 
Ausdrucksbewegungen  ermäßigen,  so  daß  die  direkteste  Aus- 
drucksform des  erhöhten  Gefühls,  die  durch  einfache  Steigerung 
der  Bewegungsintensität,  hinwegfällt.  Immerhin  bleibt  es  für 
diese  indirektere  Beziehimg  der  Wiederholungsform  zum  Gefühls- 
ausdruck bezeichnend,  daß,  im  Unterschiede  von  der  vorigen  objek- 
tiven Entstehungsform,  noch  andere  Arten  der  verstärkten  Betonung 
des  Lautes  für  die  Gefühlssteigerung  eintreten  können:  so  namentlich 
die  in  manchen  Sprachen  entstandenen  Intensivbildungen.  Bezeichnen 
wir  demnach  irgendeinen  Eindruck,  der  in  der  Vorstellung  ebenso- 
wohl an  einen  äußeren  Vorgang  wie  an  eine  wahrgenommene  Eigen- 
schaft gebunden  sein  kann,  mit  e,  so  wird,  wenn  mit  diesem  relativ 
gefühlsfreien  Eindruck  e  eine  Lautbezeichnung  n  zu  einer  Wortkompli- 
kation n  e  verbunden  war,  der  gefühlsstarke  Eindruck  g  e  nun  eine 
reagierende  Lautgebärde  herausfordern,  die  in  irgendeiner  Steige- 
rung des  Lautes  n  besteht.  Von  den  hierbei  möglichen  und  zum  Teil 
wirklich  vorkommenden  Formen  der  Lautverstärkung  gewinnt  dann 
unter  dem  Einfluß  der  die  sprachlichen  Vorgänge  begleitenden  Affekt- 
ermäßigung die  Verdoppelung  vor  den  andern,  wie  Lautverstärkung, 
Tonerhöhung  oder  Ton  Verlängerung,  das  Übergewicht.  Dazu  mag 
die  bereits  geläufige  Anwendung  in  sonstigen,  durch  den  objektiven 
Eindruck  selbst  geforderten  Bedeutungen,  wie  Wiederholung  von 
Vorgängen,  Mehrheit  von  Gegenständen,  durch  assoziative  Über- 
tragung mitwirken.     Dies  läßt  sich  um  so  mehr  mit  Wahrscheinlich- 


Psychologische  Theorie  der  Verdoppelungserscheinungen.  647 

keit  annehmen,  als  bei  dem  Ausdruck  der  Steigerung  der  Laut  n, 
schon  ehe  er  verdoppelt  wird,  im  allgemeinen  eine  bestimmte  Wort- 
bedeutung besitzen  muß.  Der  sich  wiederholende  Vorgang  kann  ja 
eventuell  primär  als  ein  solcher  gegeben  sein;  die  gesteigerte  Eigen- 
schaft ist  aber  nicht  wohl  möglich,  ohne  daß  die  einfache  Eigenschaft 
schon  zuvor  unterschieden  wurde.  Dem  entspricht  es,  daß  in  der  Tat 
diese  auf  die  subjektive  Gefühlsbetonimg  zurückgehenden  Verdoppe- 
lungserscheinungen  in  der  Regel  als  Wortverdoppelungen,  nicht, 
wie  die  vorige  Klasse,  als  bloße  Lautwiederholungen  vorkommen. 
In  diesem  Sinne  wird  man  daher  immerhin  diese  Anwendungsform 
als  die  relativ  spätere  und  in  bedingter  Weise,  nämlich  eben  mit  Rück- 
sicht auf  den  assoziativen  Einfluß  der  schon  vorhandenen  Wieder- 
holungsformen, auch  als  eine  abhängige  Erscheinung  betrachten  dürfen. 
Diese  Abhängigkeit  erstreckt  sich  aber  nicht  auf  die  Grundbedingungen 
des  Vorgangs,  die  vielmehr  hier  ebenso  selbständig  und  eigenartig 
sind,  wie  bei  der  frequentativen  Bedeutung  der  Verdoppelung.  Be- 
zeichnen wir,  wie  oben,  mit  n  e  die  ursprüngliche  Wortkomplikation, 
so  wird  daher,  sobald  der  intensive  Gefühlston  g  hinzutritt,  zunächst 
wiederum  mit  Rücksicht  auf  das  einheitliche  Objekt  o,  auf  das  der 
Eindruck  wie  die  von  ihm  ausgehende  Gefühlserregung  zurückbezogen 
wird,  das  Produkt  g  e  mit  diesem  Objekt  durch  die  Apperzeption  zu- 
sammengefaßt, während  das  hinzugetretene  Element  g  zur  Wieder- 
holung von  n  antreibt,  so  daß  die  ganze  Wortkomplikation  die  Form 
annimmt : 

nno  (g  e). 

Die  beiden  durch  die  linke  und  rechte  Seite  des  Schemas  (S.  643) 
dargestellten  Sonderentwicklungen  schließen  sich  nun  an  diese^  all- 
gemeingültigen Grundformen  an,  jede  aber  wieder  in  wesentlich  ver- 
schiedener Weise.  So  sind  die  fast  durchweg  den  Sprachen  primi- 
tiver Kulturvölker  angehörenden  nominalen  Verdoppelungs- 
formen dem  ersten,  objektiven  Typus  verwandt.  Dennoch  kann  auch 
hier  aus  dieser  Verwandtschaft  noch  nicht  geschlossen  werden,  daß 
sie  aus  ihm  hervorgegangen  seien,  sondern  man  wird  nur  annehmen 
können,  daß  die  Motive  der  Entstehmig  teilweise  übereinstimmen. 
Diese  Übereinstimmung  liegt  eben  darin,  daß  es  sich  in  beiden  Fällen 


648  Die  Wortbildung. 


um  eine  objektive  Wiederholung  handelt:  dort  um  eine  Wie- 
derholung   eines   Vorgangs,    hier   um   die   Wiederholung   mehrerer 
Objekte    der    Apperzeption    von    übereinstimmender    Be- 
schaffenheit.    Darin  ist  aber  auch  bereits  der  Unterschied  beider 
Fälle  ausgesprochen:  dort  beruht  die  Wiederholung  auf  dem  objek- 
tiven   Vorgang     selbst,     hier     auf    der    subjektiven    Aufeinander- 
folge   mehrerer    Apperzeptionen    des    gleichen    Gegenstandes.      Die 
nächstliegende    und    verbreitetste    Art    einer    solchen     Zusammen- 
fassung   ist    die  einer  Zweiheit    regelmäßig   verbundener  Objekte, 
wie  sie  vor  allem  der  menschliche  Körper  selbst  bietet:  der  Augen, 
Hände,  Brüste  usw.     Es   ist   diejenige   Form   der   innerhalb    dieser 
objektiv     gerichteten    Keihe    entstandenen    Ausdrucksweisen    eines 
Kollektivbegriffs,    die    allein,    wie    es    scheint,    auch    auf    die    der 
rechten  Seite   unseres    Schemas   angehörigen  Sprachen   in   gewissem 
Grad    übergegriffen    hat.      Der    duale    Kollektivbegriff    wird    hier 
einfach    durch    die  in    ihrem    Laut-    wie    Begriffsbestandteil    zwei- 
gliedrige   Komplikation    nn    {oo)    ausgedrückt.     In    diesem    von 
vornherein   die   einfache  Reduplikation   herausfordernden  Ausgangs- 
punkt liegt,    neben   dem  Übergang   vom  Objekt  auf  die  subjektive 
Wiederholung    der   Apperzeption,     zugleich    der   wesentliche   Unter- 
schied von   der   allgemeinen  onomatopoetischen  Wiederholungsform; 
und  da   diese  Anwendung  auf  Objekte   gerade   in  den  durch  reich- 
liche  Anwendung   von   Laut-   und   Wortwiederholungen   ausgezeich- 
neten Sprachen  vorkommt,  so  mag  diesem  Umstände  wohl  ein  mit- 
wirkender Einfluß  auf  die  Bildung  zweigliedriger  Formen  in  andern 
Fällen  zukommen.   Außerdem  konnte  aber  auch  der  so  gebildete  zwei- 
gliedrige Kollektivausdruck  durch  eine  Ausdehnung  des  objektiven 
Gliedes    der    Komplikation    auf    mehrgliedrige    Begriffe    übergehen, 
Wobei  sich  dann  freilich,  um  die  Vorstellung  der  Einheit  zu  bewahren, 
noch  eine  weitere  Veränderung  vollziehen  mußte,  die  jedenfalls  bei 
den  dualen  Begriffen  schon  vorgebildet  ist,  jedoch  wegen  der  leichten 
Vereinigung  der  Zweiheit  zu  einer  Einheit  zurücktritt.     Dieser  Vor- 
gang besteht  darin,  daß,  je  mehr  Glieder  das  Kollektivum  umfaßt, 
um  so  mehr  ein  einzelnes  dieser  Glieder  als  repräsentative  Vor- 
stellung über  die  andern  dominiert,  während  diese  in  dem  unbe- 
stimmten   Eindruck   der   Vielheit   nur   dunkler   vorgestellt   werden: 


Psychologische  Theorie  der  Verdoppelungserscheinungen.  649 

SO  z.  B.  wenn  der  Begriff  „Baum"  durch  Verdoppelung  in  das  un- 
bestimmte Kollektivum  „Wald"  umgewandelt  wird.  Wir  können  uns 
demnach  die  Konstitution  der  einem  solchen  Allgemeinbegriff  ent- 
sprechenden Wortkomplikation  symbolisch  veranschaulichen  durch 
die  Form: 

nno  (o  0  0  0  .  . .), 

wo  die  fest  assoziierten,  aber  dunkler  vorgestellten  Objekte  o  in  der 
Klammer  enthalten  sind,  während  das  deutlich  apperzipierte  repräsen- 
tative Objekt  direkt  mit  dem  Lautbilde  n  n  verbunden  ist.  Das  psy- 
chologische Verhältnis  dieser  pluralen  zu  den  dualen  Kollektivbegriffen 
macht  es  zugleich  in  hohem  Maße  wahrscheinlich,  daß  hier  die  ver- 
wickeitere aus  der  einfacheren  Form  wirklich  hervorgegangen  ist, 
d.  h.  daß  sich  die  Anwendung  der  Reduplikation  auf  umfassendere 
KoUektiva  in  den  betreffenden  Sprachgebieten  erst  unter  dem  asso- 
ziativen Einflüsse  der  dualen  Formen  entwickelt  hat.  Analog  scheint 
sich  dann  der  in  seltenen  Fällen  zur  Ausbildung  gelangte  Ausdruck 
des  reinen  Plurals  durch  Wortverdoppelung  an  die  so  entstandenen 
umfassenderen  KoUektiva  angelehnt  zu  haben.  Der  Übergang  konnte 
hier  leicht  erfolgen,  sobald  sich  die  bei  dem  Kollektivum  vorherrschende 
repräsentative  Vorstellung  verdunkelte.  Dies  würde  eine  Art  Rück- 
bildimg  der  vollständigeren  Wortkomplikation  nno  {ooo , ,)  zu 
nn(ooo  .  .)  bedeuten.  Doch  bleibt  auch  die  Möglichkeit,  daß  sich 
die  duale  Form  nn{po)  direkt  durch  Vermehrung  der  objektiven 
Assoziationsglieder  zur  pluralen  erweitert  habe,  oder  daß  an  verschie- 
denen Orten  beide  Vorgänge,  die  Rückbildung  des  zusammengesetzten 
KoUektivums  zum  Plural  imd  die  Erweitermig  des  dualen  zum  Plural, 
stattfanden. 

Eine  ähnliche  Beziehung,  wie  nach  der  Seite  der  Gegenstands- 
begriffe zwischen  dem  sich  objektiv  wiederholenden  Vorgang  und 
der  subjektiven  Wiederholung  der  Apperzeption  von  Objekten, 
findet  sich  nun  auf  der  Seite  der  Verbalbegriffe  zwischen  jenem 
imd  dem  dauernden  Vorgang.  Auch  hier  haben  wir  keinen 
Anlaß  anzunehmen,  die  zweite  sei  aus  der  ersten,  verbreiteteren 
Form  hervorgegangen,  oder  diese  habe  auf  jene  anders  als  durch 
die  Macht    der  assoziativen   Formübertragimg   eingewirkt,    vermöge 


650  Die  Wortbildung. 


deren  eine  häufig  gebrauchte  Form  durch  ihre  Einübung  über- 
haupt vor  andern  möglichen  Ausdrucksweisen  der  gleichen  Vor- 
stellung begünstigt  ist.  Dies  schließt  aber  natürlich  nicht  aus, 
daß  die  vom  Vorstellungsinhalt  ausgehenden  Motive  hier  so  gut 
wie  bei  der  Entwicklung  der  Reduplikation  zu  einer  rein  inten- 
siven Ausdrucksform  vollkommen  selbständige  gewesen  sind.  In 
der  Tat  fordert  der  dauernde  Zustand,  ganz  abgesehen  von  einer 
möglichen  Anlehnung  an  rhythmisch  sich  wiederholende  Vorgänge, 
schon  durch  die  Eigenschaft  der  Dauer,  gegenüber  der  rasch 
vorübergehenden  Bewegung,  zu  einer  Verstärkung  des  Ausdrucks 
heraus,  die  in  der  Lautwiederholung  ihren  einfachsten  sprach- 
lichen Ausdruck  findet.  Ein  objektives  imd  ein  subjektives  Moment 
können  sodann  zusammenwirken,  um  dies  zu  unterstützen.  Objektiv 
ist  es,  wie  bei  den  Mehrheitsbegriffen,  die  Wiederholung  der  Apper- 
zeption des  gleichen  Geschehens,  welche  der  sich  fortsetzende  Vor- 
gang veranlaßt.  Subjektiv  erzeugt  der  dauernde  Vorgang  im  all- 
gemeinen eine  stärkere  Gefühlserregung.  Fassen  wir  demnach  alle 
diese  Momente  in  der  symbolischen  Formel 

nng  (dv) 

zusammen,  in  der  n  und  v  wieder  im  gleichen  Sinne  wie  oben  an- 
gewandt sind,  d  aber  die  Eigenschaft  der  Dauer  und  g  die  durch  d  v 
bewirkte  Gefühlsbetonung  bedeutet,  so  ist  die  Beziehung  dieser  Kom- 
plikation zu  den  intensiven  und  kollektiven  Verdoppelungsformen 
augenfällig.  Zugleich  erkennt  man  jedoch  die  Eigenart  derselben, 
die  es  durchaus  verbietet,  sie  etwa  mittels  einer  hier  so  verführerisch 
winkenden  logischen  Interpretation  aus  der  iterativen  Form  ableiten 
zu  wollen.  Letzteres  ist  schon  deshalb  unmöglich,  weil  von  Verglei- 
chungen,  Verallgemeinerungen  und  ähnlichen  intellektuellen  Prozessen 
selbstverständlich  nicht  die  Rede  sein  kann.  Vielmehr  ist  die  Ent- 
wicklung einer  Form  aus  einer  andern  immer  nur  insoweit  möglich, 
als  sie  durch  einfache  und  vollkommen  unwillkürlich  wirkende  asso- 
ziative und  apperzeptive  Bedingungen  herbeigeführt  wird. 

Anders  verhält  es  sich  mit  der  letzten  in  diese   Reihe   gehörigen 
Anwendung    der    Reduplikation:     mit    dem    den    indogermanischen 


Psychologische  Theorie  der  Verdoppelungserscheinungen.  651 

Sprachen  eigenen  Ausdruck  der  vergangenen  Zeit.  Hier  ließe  sich 
kaum  einsehen,  in  welcher  Weise  eine  solche  Beziehung  durch  ur- 
sprüngliche Apperzeptions-  oder  Gefühlsmotive  entstanden  sein  könnte. 
Dagegen  wird  diese  Form  ohne  weiteres  verständlich,  wenn  wir  von 
der  durativen  Bedeutung  der  Verdoppelung  ausgehen.  In  der  die 
letztere  bezeichnenden  Verbindung  nn  g  (dv)  wird  sich  zunächst, 
wie  überall,  wo  nicht  besondere  Motive  zu  seiner  Erhaltung  gegeben 
sind,  das  Gefühlselement  g  durch  häufigen  Gebrauch  abschwächen. 
Dafür  kann  sich  aber  in  der  Vorstellungsverbindung  (c^  v)  als  ein  neuer 
Bestandteil  die  in  d  nur  dunkel  vorgestellte  Beziehung  auf  den  An- 
fang des  wahrgenommenen  objektiven  Vorgangs  aussondern.  Dies 
wird  um  so  eher  geschehen,  je  mehr  sich  überhaupt  die  Zeitvorstellungen 
ausbilden  und  infolgedessen  die  verschiedenen  zeitlich  vorgestellten 
Ereignisse  nach  den  Zeitstufen  Vergangenheit,  Gegenwart,  Zukunft 
orientiert  werden.  Heftet  sich  so  an  die  dauernde  Handlung  die  in 
ihr  bereits  vorgebildete  Nebenvorstellung  eines  teilweise  in  der  Ver- 
gangenheit liegenden  Vorgangs,  so  kann  nun  die  weitere  Entwick- 
lung in  der  gewöhnlichen  Form  assoziativer  Verschiebungen  erfolgen, 
indem  diese  Nebenvorstellung  immer  mehr  in  den  Blickpunkt  des 
Bewußtseins  tritt,  indes  die  anfängliche  Hauptvorstellung  dunkler 
wird  und  schließlich  ganz  verschwindet.  Deuten  wir  das  Element 
der  Vergangenheit  durch  p  an,  so  vollzieht  sich  also  die  Reihe 
der  Wandlungen  von  nng  (dv)  durch  nn{dpv),  nn  (pdv) 
in  nn  (p  v). 

Hiernach  sind  die  in  dem  obigen  Schema  (S.  643)  auseinander- 
gehenden Entwicklungsreihen  in  ihren  beiden  Ausgangspunkten, 
in  dem  Ausdruck  einer  Zweiheit  verbundener  Vorstellungen  einer- 
seits und  eines  dauernden  Vorgangs  anderseits,  aller  psychologischen 
Wahrscheinlichkeit  nach  selbständige,  jedesmal  durch  eigenartige 
psychische  Motive  entstandene  Formen,  wenn  auch  in  beiden  Fällen 
der  bereits  geläufige  Gebrauch  der  Reduplikation  in  den  allgemein- 
gültigen Erscheinungen  der  mittleren  Reihe  begünstigend  eingewirkt 
haben  mag.  Dagegen  ist  nicht  minder  wahrscheinlich  die  plurale  Ver- 
doppelung aus  der  dualen,  die  perfektive  aus  der  durativen  hervor- 
gegangen. Wenn  dann  weiterhin  diese  beiden  Reihen  durchgängig 
sich  ausschließen,  so  daß  bei  den  Völkern,  bei  denen  die  durative  und 


652  Die  Wortbildung. 


die  perfektive  Bedeutung  zur  Entwicklung  gelangte,  die  duale  bis 
auf  spärliche  Keste  und  die  plurale  ganz  fehlt,  während  umgekehrt 
da,  wo  die  letzteren  eine  hervorragende  Kolle  spielen,  jene  ersteren 
nicht  vorkommen,  so  ist  dieser  Unterschied  sichtlich  auf  verschiedene 
Richtungen  des  Denkens  zurückzuführen.  Wo  die  Verdoppelungs- 
erscheinungen hauptsächlich  auf  Nominalformen  übergreifen,  da 
herrscht  eine  gegenständliche  Form  des  Denkens.  Bewegen  sich 
dagegen  jene  vorwiegend  innerhalb  der  Verbalbildungen,  so  tritt  eine 
zuständliche  Form  desselben  hervor.  Wir  werden  in  den  folgenden 
Kapiteln  sehen,  daß  der  tiefgreifende  Unterschied  dieser  Richtungen 
noch  in  zahlreichen  andern  Erscheinungen  bei  der  Bildung  der  Wort- 
formen sowie  in  der  Satzbildung  zutage  tritt ^). 


VI.  Wortbildung  durch  Zusammensetzung. 
1.  Begriff  und  Hauptformen  der  Wortzusammensetzung. 

Kann  auch  die  Wortwiederholung  ihrer  allgemeinen  Natur  nach 
als  der  besondere  Fall  von  Wortzusammensetzung  betrachtet  wer- 
den, wo  sich  ein  Wort  mit  sich  selber  verbindet,  so  pflegt  man  doch 
unter  einem  ,, Kompositum"  in  der  Kegel  nur  eine  Wortverbindung 
aus  ungleichen  Bestandteilen  zu  verstehen.  Diese  Scheidung 
ist  insofern  gerechtfertigt,  als  durch  die  Lautwiederholung  selbst  erst 
ein  einfaches  Wort  entsteht  und  die  volle  Wortwiederholung  nur 
die  stärkere  Hervorhebung  eines  schon  vorhandenen  Wortes  ist,  also 
keine  neue  Wortbildung  darstellt.  Überdies  umfaßt  die  Verbindung 
ungleicher  Bestandteile  nicht  nur  ein  viel  weiteres  Gebiet  von  Er- 
scheinungen, sondern  sie  besitzt  auch  eine  ungleich  tiefer  in  das  ge- 
samte Leben  der  Sprache  eingreifende  Bedeutung. 

Jede  Wortzusammensetzung  entspringt  aus  Motiven,  die  der 
Zusammenhang  der  Rede  mit  sich  führt.  Aus  der  äußeren  Berührung 
der  Wörter  im  Satze  kann  jedoch  eine  engere  Verbindimg  nur  dann 
hervorgehen,  wenn  zugleich  eine  innere  Affinität  die  Wörter  zusam- 


1)  Vgl  Kap.  VI  und  VII. 


Begriff  und  Hauptformen  der  Wortzusammensetzung.  653 


menführt.    Demnach  durchkreuzen  sich  bei  der  Bildung  eines  Kom- 
positums ein  analytischer  imd  ein  synthetischer  Vorgang.     Analy- 
tisch entsteht  ein  zusammengesetztes  Wort,  indem  es  als  syntak- 
tisches Gefüge  aus  dem  Ganzen  eines  Satzes  sich  aussondert.     Syn- 
thetisch bildet  es  sich,  indem  seine  Bestandteile  eine  festere  Ver- 
bindimg miteinander  eingehen  und  dadurch  von  den  übrigen  Wörtern 
des  Satzes  als  ein  neues  Wortganzes  sich  scheiden.     Diese  Verhält- 
nisse machen  es  begreiflich,  daß  man  bald  das  analytische,  bald  das 
synthetische  Moment  in  den  Vordergrund  stellte,  je  nachdem  ent- 
weder der  Satz  oder  das  Wort  als  das  ursprünglichere  sprachliche 
Gebilde  betrachtet  wurde.     Da  die  Sprachwissenschaft  in  der  Regel 
dem  Worte  den  Vorzug  einräumt,   so  ist  in  ihr  der  synthetische 
Gesichtspunkt    der    vorherrschende.      Demgemäß    wird    das    Kom- 
positum  meist  als   ein   durch   willkürliche  Vereinigung   seiner  Teile 
entstandenes    Gebilde     behandelt,     nach     dessen     psychologischen 
Entstehungsbedingungen   nicht   weiter   gefragt   wird.     Vielmehr  be- 
gnügt  man   sich   mit  der  Feststellung    der  zwischen  den   Gliedern 
des  Kompositums    bestehenden    logischen    und    grammatischen 
Verhältnisse,     um     dann    darauf    etwa    eine    Klassifikation    der 
Wortzusammensetzungen    zu    gründen.     So    werden    denn    Verbin- 
dungen der  Koordination,    der  Über-  und  Unterordnung,  der  attri- 
butiven,   adverbialen,    objektiven    Bestimmung,    der    Kasusverhält- 
nisse usw.  unterschieden^). 


^)  Vgl.  L.  Tobler,  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie  und  Sprachwissenschaft, 
V,  1868,  S.  205  ff.  A.  Darmesteter,  Trait^  de  la  formation  des  raots  compos^s 
dans  la  lahgue  fran^aise,  1875.  (Bibl.  de  l'ecole  des  hautes  6tudes,  Fase.  19.) 
Auch  bei  Paul  (Prinzipien,*  S.  325  ff.)  ist  für  die  Gruppierung  der  Beispiele 
das  logisch -grammatische  Schema  maßgebend.  Dagegen  hebt  Brugmann  mit 
Rücksicht  auf  die  Entstehung  des  Kompositums  durch  syntaktische  Isolierung 
mit  Recht  hervor,  für  diese  Frage  sei  das  Verhältm's  der  Glieder  ohne  Bedeutung, 
überhaupt  aber  seien  die  Grenzen  zwischen  syntaktischer  Verbindung  und  Wort- 
zusammensetzung, ebenso  wie  die  zwischen  Kompositum  und  Simplex,  fließende 
(Grundriß  II,  S.  4  f.).  Einen  Versuch,  die  logische  Klassifikation  der  Kompo- 
sita durch  eine  psychologische  Betrachtung  zu  ergänzen,  hat  wohl  zuerst  Tobler 
gemacht.  Aber  er  ist  selbst  von  dem  Versuch,  seine  logische  Klassifikation  mit 
seinem  psychologischen  Schema  in  Beziehung  zu  setzen,  wenig  befriedigt  (a.  a.  O. 
S.  220  f.). 


654  Die  Wortbildung. 


Wenn  nun  die  Bildung  eines  jeden  Kompositums  im  all- 
gemeinen einen  analytisclien  und  einen  synthetisclien  Vorgang 
voraussetzt,  so  ist  damit  ebenso  eine  rein  willkürliche  wie  eine 
zufällige  Entstellung  ausgeschlossen.  Willkürlich  kann  es  nicht 
zusammengefügt  sein,  da  es  aus  dem  syntaktischen  Gefüge,  in 
dem  es  einem  größeren  Vorstellungszusammenhang  angehörte,  von 
selbst  vermöge  der  Beziehung  seiner  Glieder  sich  ausschied.  Zu- 
fällig kann  es  nicht  entstanden  sein,  da  zu  jener  Zerlegung  der 
Gesamtvorstellung  eine  durch  die  Affinität  der  Bestandteile  ver- 
mittelte engere  Verbindung  hinzutreten  mußte.  Beides,  der  ana- 
lytische und  der  synthetische  Prozeß,  setzt  also  psychische  Motive 
voraus,  die  den  Erscheinungen  selbst  immanent  sind:  Motive  der 
Sonderung  von  der  im  ganzen  Inhalt  des  Satzes  ausgedrückten 
Gesamtvorstellung  einerseits,  und  Motive  der  Verbindung  der  sich 
aussondernden  Bestandteile  anderseits.  Wird  als  ein  Motiv  der 
letzteren  Art  gelegentlich  dies  angeführt,  daß  Wörter,  die  ursprüng- 
lich mit  gesonderten  Akzenten  gesprochen  wurden,  einen  gemein- 
samen Akzent  erhielten,  so  ist  aber  dies  offenbar  nur  eine  äußere  Wir- 
kung der  bereits  eingetretenen  Verbindung,  nicht  deren  Ursache, 
wie  denn  ja  auch  das  allmähliche  Schwinden  des  Akzents  von  dem 
in  der  Betonung  sich  unterordnenden  Wortbestandteil  die  verschie- 
densten Gradabstufungen  zeigt,  die  der  zunehmenden  Innigkeit  der 
Verbindung  parallel  gehen.  Können  die  wirklichen  Motive  der  Ver- 
bindung nicht  in  dem  die  Wörter  umfassenden  Satzganzen,  sondern 
nur  in  den  Bestandteilen  selbst,  die  sich  verbinden,  gesucht  werden, 
so  kann  ferner  die  Feststellung  des  logischen  Verhältnisses,  in  dem 
die  Kompositionsglieder  zueinander  stehen,  zu  einer  solchen  Erkennt- 
nis nicht  das  geringste  beitragen.  Irgendwelche  Wörter,  die  einander 
nicht  völlig  disparat  gegenüberstehen,  lassen  sich  natürlich  immer 
in  eine  logische  Beziehung  bringen.  Die  Verhältnisse  der  Über-,  Unter-, 
Nebenordnung,  der  Beziehung  des  Subjekts  zu  seiner  Eigenschaft 
oder  Tätigkeit,  sie  sind  überall  anwendbar,  mögen  nun  solche 
Wörter  unabhängig  nebeneinander  vorkommen  oder  Bestandteile 
eines  Kompositums  bilden.  Eben  darum  aber  sagen  sie  über  die 
psychologischen  Motive,  die  diese  Verbindung  zustande  brachten, 
nichts  aus. 


Begriff  und  Hauptformen  der  Wortzusammensetzung.  655 

Wollen  wir  uns  die  Entstehungsbedingungen  der  Wortzusam- 
mensetzung näher  vergegenwärtigen,  so  werden  wir  daher  besser 
tun,  solche  Verschiedenheiten  der  einzelnen  Erscheinungen  ins  Auge 
zu  fassen,  die  direkt  auf  besondere  Eigentümlichkeiten  jener  analy- 
tischen und  synthetischen  Vorgänge  hinweisen.  Hier  zeigt  sich  nun 
vor  allem,  daß  diese  Vorgänge  von  anscheinend  entgegengesetzter, 
aber  doch  sich  ergänzender  Richtung  in  den  einzelnen  Fällen  in  sehr 
verschiedenem  Grad  an  der  Entstehimg  eines  gegebenen  Produkts 
beteiligt  sein  können.  Auf  der  einen  Seite  begegnen  uns  Komposita, 
die  unmittelbar  so  wie  sie  sind  aus  einem  Satze  losgelöst  scheinen, 
so  daß  sie  uns  fast  als  reine  Produkte  syntaktischer  Gliederung  mit 
verhältnismäßig  geringer  Begleitwirkung  verbindender  psychischer 
Kräfte  entgegentreten.  Auf  der  andern  Seite  finden  sich  nicht 
minder  häufig  Komposita,  deren  Teile  so,  wie  sie  in  das  neu- 
gebildete Wort  eingehen,  unmöglich  als  ursprünglich  selbständige 
Wortgebilde  in  einem  Satze  vorgekommen  sein  können,  wo  also 
diese  Teile  mehr  oder  minder  starke  Dislokationen  und  Form- 
veränderungen durch  die  zwischen  ihnen  tätige  psychische  Affi- 
nität erfahren  haben  müssen:  hier  handelt  es  sich  daher  offenbar 
um  Erscheinungen,  bei  denen  der  synthetische  Teil  des  Prozesses 
weit  über  den  analytischen  überwiegt.  Dazu  kommt  endlich 
noch  eine  dritte  Reihe  von  Formen,  bei  denen  die  Entstehungs- 
orte der  Teile  des  Kompositums  sichtlich  noch  weiter  entfernt 
liegen,  indem  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  einer  dieser  Teile 
ursprünglich  gar  nicht  der  Gesamtvorstellung  angehörte,  aus  der 
sich  der  den  Hauptbegriff  tragende  ausgesondert  hat,  sondern 
irgendwelchen  ganz  andern  Satzverbindungen,  aus  denen  er  infolge 
gewisser  Assoziationsmotive  von  jenem  Hauptbegriff  attrahiert  wurde. 
Hier  überwiegt  also  der  synthetische  Teil  des  Prozesses  noch  mehr 
als  im  vorigen  Fall,  während  sich  der  analytische  ganz  und  gar  auf 
die  Ausscheidung  eines  einfachen  Wortes  beschränkt,  darüber  hinaus 
aber  gar  nichts  zur  Bildung  der  zusammengesetzten  Form  beiträgt. 
Wir  können  uns  diese  drei  Fälle  durch  das  folgende  Schema  veran- 
schaulichen, in  welchem,  um  den  Erörterungen  der  folgenden  Kapitel 
über  die  Gesetze  der  Satzgliederung  nicht  vorzugreifen,  die  durch 
die  Zerlegung  der  Gesamtvorstellimg  G  entstehenden  einzelnen  Wort- 


656  Die  Wortbildung. 


bestandteile  a,  h,  c^  d  .  .  .  des  Satzes  vorläufig  einander  einfach  ko- 
ordiniert werden  sollen.  Das  resultierende  Kompositum  ist  jedesmal 
durch  C  angedeutet. 

Typus  I  Typus  II  Typus  III 

G  G  G'  G 


I  I  I  I  !  I  I  I  I  I  I  I  I  I  irt     I  I  I  I  I  I  i 

a  h  c  d  €  f  g  a  b  e  d  e  f  g  m         a  b  c  d  e  f  g 


u 

c  ^  c  c 

Hiernach  läßt  sich,  nach  Analogie  der  bei  den  Lautinduktionen 
(Kap.  IV,  S.  415  f.)  eingeführten  Benennungen  der  Typus  I  kurz 
als  eine  Komposition  durch  assoziative  Kontaktwirkung, 
der  Typus  II  als  eine  solche  durch  assoziative  Nahewirkung, 
der  Typus  III  als  eine  solche  durch  assoziative  Fernewirkung 
bezeichnen. 

Als  Beispiele  für  das  Verhältnis  der  Typen  I  und  II  können  das 
französische  Wort  pourhoire  und  das  den  gleichen  Begriff  ausdrückende 
deutsche  Trinkgeld  dienen.  Beide  weisen  nicht  nur  grammatisch, 
sondern  vor  allem  auch  psychologisch  auf  einen  abweichenden  Ur- 
sprung hin.  Zugleich  können  aber  die  psychologischen  Unterschiede 
aus  den  grammatischen  nicht  abgeleitet,  sondern  höchstens  indirekt 
erschlossen  werden.  Das  deutsche  Kompositum  hat  sich  hier  offenbar 
unter  der  assimilierenden  Wirkung  anderer,  älterer  Komposita  ähn- 
licher Art,  wie  Wergeid,  Handgeld,  Mietgeld,  Pachtgeld  usw.,  gebildet, 
Assoziationen,  die  unter  dem  Einfluß  der  Verbindung  der  Vorstellungen 
,,Geld"  mid  ,, trinken"  wirksam  wurden.  Diese  Verbindung  selbst 
ist  aber  durchaus  keine  unmittelbare,  wie  das  schon  die  grammatische 
Umbildung  des  attributiven  Bestandteils  verrät.  Auch  gibt  es  keine 
Satzfügung,  in  der  diese  Verbindung  vorkommen  könnte:  in  solchen 
ist  allenfalls  ein  „Geld  zum  Trinken",  aber  kein  ,, Trinkgeld"  mög- 
lich. Wesentlich  anders  verhält  sich  das  französische  pourhoire.  Zwar 
sind  auch  hier  Assoziationen  mit  andern  aus  der  Präposition  pour 
gebildeten  Zusammensetzungen,  wie  pourpoint,  pourprendre,  pour- 
suivre  u.  a.,  denkbar.    Doch  da  diese  Komposita  nicht  nur  in  den  hin- 


Begriff  und  Hauptformen  der  Wortzusammensetzung.  657 

zugefügten  Wortbestandteilen,  sondern  auch  in  den  Bedeutungen 
der  Präposition  selbst  weit  auseinandergehen,  so  können  solche  Wörter 
kaum  anders  als  durch  Lautassoziation,  nicht,  wie  bei  dem  deutschen 
Worte,  durch  einen  gemeinsamen  Hauptbegriff  auf  die  Verbindung 
gewirkt  haben.  Wohl  aber  trägt  das  französische  Kompositum  deut- 
lich die  Spuren  der  unmittelbaren  Entstehung  aus  dem  Satze  an  sich; 
ja  vielleicht  ist  es  selbst  ursprünglich  nichts  anderes  als  ein  lücken- 
hafter Satz  gewesen.  Nachdem  hmiderte  von  Malen  der  Geber,  der 
eine  Dienstleistung  vergüten  wollte,  dem  Beschenkten  durch  ein 
,,pour  boire"  den  Zweck  der  Gabe  angedeutet  hatte,  wurde 
dieser  unvollständige  Satz,  der  in  der  Handlimg  des  Gebens 
seine  pantomimische  Ergänzung  fand,  in  dem  Augenblicke  zum 
Wort,  wo  er  als  selbständiges  Ganzes  in  irgendeinen  andern 
Satz  als  dessen  Subjekt  oder  Objekt  eintrat.  Dieser  Ursprung 
bringt  es  dann  auch  mit  sich,  daß  das  Ganze  noch  fortan  ebenso- 
wohl als  eine  Verbindung  zweier  Wörter  in  einem  beliebigen  andern 
Zusammenhang  wie  als  ein  einziges  substantivisches  Wort  vor- 
kommen kann. 

Beispiele  für  das  Verhältnis  der  Typen  II  und  III  zueinander 
sind  einerseits  Komposita  wie  Trinkgeld  oder  die  ihm  ähnlichen  Dorn- 
strauch, Apfelbaum,  Kirchturm  usw.  und  anderseits  solche  wie  Hirsch- 
käfer,   Leberfleck,    Blutbuche,    Rittersporn.       Jede    Zusammensetzung 
der  ersteren  Art  enthält  zwei  Vorstellungen,  die  der  Wahrnehmung 
des  Gegenstandes  oder  der  Handlung  gleichzeitig  angehören,  und  die 
daher  beide  in  der  ursprünglichen  Gesamtvorstellung  und  ihrer  Zer- 
legung im  Satze  gegeben  waren.    Die  Entstehung  des  Kompositums 
beruht  also  hier  ganz  auf  einer  unmittelbaren  Wahrnehmungsasso- 
ziation.    Der  Hirschkäfer  dagegen  war  zunächst  nur  als  Käfer  mit 
einigen  nicht  benannten  spezifischen  Merkmalen  in  der  Anschauung 
gegeben.     Diese  Merkmale  aber,  die  hornigen  Mandibeln  mit  ihren 
zweizinkigen   Spitzen,   erweckten   das   einer  Keihe  anderer   Gesamt- 
vorstellungen zugehörige  Bild  des  Hirsches,  das  nun  sekundär  mit 
der  Vorstellung  des  Käfers  assoziiert  wurde.    Hier  also  liegt  der  Bil- 
dung   des    Kompositums    zugleich    eine    Erinnerungsassoziation    zu- 
grunde.    Ist  es  in  diesen  wie  in  den  andern  angeführten  Beispielen 
eine  dem  Hauptbegriff  hinzugefügte,  ihn  näher  determinierende  Neben- 

Wundt,  Völkerpsychologie.    I.    4.  Aufl.  42 


658  Die  Wortbildung. 


Vorstellung,  die  aus  einer  außerhalb  liegenden  Vorstellungs Verbin- 
dung attrahiert  wird,  so  kann  nun  aber  auch  das  Verhältnis  sich  um- 
kehren, indem  der  assoziativ  hinzutretende  Bestandteil  zur  Haupt- 
vorstellung und  der  direkte  Wahrnehmungsinhalt  zur  Nebenvor- 
stellung wird :  so  in  dem  in  der  gleichen  Bedeutung  gebrauchten  franz. 
cerf  Volant,  wo  die  Vorstellung  des  Hirsches  als  assimilative  Erinne- 
rungsassoziation im  Vordergrund  steht,  an  die  nun  das  in  der  Wahr- 
nehmung gegebene  Bild  der  Flügel  als  Nebenvorstellung  sich  an- 
schließt i). 

2.  Sprachliche  Formen  der  Wortzusammensetzung. 

Gegenüber  den  soeben  erörterten  drei  Haupttypen  der  Wort- 
komposition, die  auf  innere  Motive  der  Assoziation  und  Apperzeption 
zurückführen,  dabei  aber  mit  den  verschiedensten  grammatischen 
Formen  der  Wortverbindung  zusammenbestehen  können,  besitzen 
nun  diese  äußeren  Formen  selbst  zwar  ein  grammatisches,  jedoch 
nur  indirekt  ein  psychologisches  Interesse:  insofern  nämlich,  als  die 
sprachliche  Form  immerhin  unter  Umständen  auf  die  psychischen 
Motive  zurückschließen  läßt.  Namentlich  pflegen  die  Verschieden- 
heiten der  Verbindungsweise  für  das  Vorwalten  bald  mehr  des  ana- 
lytischen bald  mehr  des  synthetischen  Teiles  dieser  Wortbildungs- 
prozesse kennzeichnend  zu  sein  2). 


^)  Auf  die  eigentümlichen  Verschiedenheiten  der  hier  zugrunde  liegenden 
Assoziationsweisen  hat  zuerst  O.  Dittrich  aufmerksam  gemacht  (Gröbers  Zeit- 
schrift für  romanische  Philologie,  Bd.  22,  1898,  S.  441)  und  darauf  die  Haupt- 
einteilungen seiner  Übersicht  der  neufranzösischen  Komposita  gegründet,  indem 
er  die  Komposita  überhaupt  in  „Erkennungsnamen"  und  „Erinnerungsnamen*' 
unterscheidet.  Einen  mehr  logischen  Charakter  trägt  dagegen  seine  weitere 
Unterscheidung  von  ,,Übereinstimmungs-'*  und  „Abweichungsnamen"  an  sich. 
Nach  ihr  würde  z.  B.  ein  Wort  wie  ,, Hirschkäfer"  als  ein  Übereinstimmungs-, 
,,cerf  Volant"  dagegen  als  ein  Abweichungsname  zu  bezeichnen  sein. 

2)  Über  die  grammatischen  Verhältnisse  der  Wortzusammensetzung  und 
die  hieraus  sich  ergebenden  Unterformen  dieses  Prozesses,  die  „Worteinung" 
und  „Univerbierung",  vgl.  Brugmann,  Kurze  vergl.  Grammatik,  S.  287  ff.  Die 
„Worteinung"  besteht  darin,  daß  sich  ein  syntaktischer  Verband  bildet,  dessen 
Bestandteile  durch  die  einheitliche  Gesamtvorstellung,  in  die  sie  eintreten,  be- 
grifflich modifiziert  werden,  z.  B.  Landesverrat,  Erstgeborner,  auslesen,  abkaufen 


Sprachliche  Formen  der  Wortzusammensetzung.  659 

Hierher  gehört  vor  allem  die  Erscheinung,  daß  es  einerseits  Kom- 
posita gibt,  in  denen  sowohl  die  Teilbegriffe  selbst  wie  die  Beziehungen, 
in  denen  sie  stehen,  in  einer  Form  ausgedrückt  sind,  in  der  sie  schon 
vor  ihrer  Verbindung  zu  einem  Kompositum  in  einem  Satze  vor- 
kommen können;  während  in  andern  Fällen  irgend  etwas,  sei  es  auch 
nur  ein  Flexionselement,  hinzugefügt  werden  muß,  um  die  Art  der 
Verbindung  der  Einzelbegriffe  vollständig  zum  Ausdruck  zu  bringen. 
Im  ersten  Fall  kann  also  das  Kompositum  einfach  durch  festere  Ver- 
bindung zweier  aus  der  Satzzerlegung  entstandener  Worte  entstehen: 
so  in  ^loaxovQoi,  respuhlica,  quamobrem,  bienheureux,  Gottesgericht 
usw.  Im  zweiten  Fall  gehen  gewisse  Wortelemente  verloren,  oder 
es  finden  Umstellungen  der  Worte  statt,  lauter  Erscheinungen,  die 
auf  hinzutretende  synthetische  Vorgänge  hinweisen:  so  in  (DiliTtnog 
für  q>LX(jjv  %n7tov^,  timbre-poste  für  timbre  de  poste,  Vaterhaus  für 
Vaters  Haus,  Trinkgeld  für  Geld  zum  Trinken  usw.  Indem  man  in 
dieser  Hinweglassung  grammatischer  Verbindungsglieder  ein  wesent- 
liches Merkmal  dafür  sah,  daß  aus  der  Zusammensetzung  ein  neues 
Wort  hervorgehe,  wurde  das  Vorhandensein  einer  solchen  ,, Ellipse" 
geradezu  als  das  Kriterium  der  eigentlichen  Wortkomposition  und 
jeder  Fall,  wo  jene  fehlt,  als  eine  bloße  ,,Juxtaposition"  angesehen^). 
Dabei  wird  aber  nicht  beachtet,  daß  die  Festigkeit  der  Verbindung 
und  das  durch  diese  erzeugte  Gefühl  der  Worteinheit  hier  genau  im 
selben  Maße  vorhanden  sein  kann  wie  dort.  Dem  gegenüber  ist  die 
etwaige  grammatische  Umbildung  um  so  mehr  ein  relativ  gleichgültiger 
Umstand,  als  in  beiden  Fällen  die  in  dem  Ganzen  enthaltenen  Ein- 
zelvorstellungen, solange  nicht  weiter  greifende  Laut-  und  Begriffs- 
umwandlungen eintreten,  gleich  deutlich  unterschieden  werden: 
in  timbre-poste  ebensogut  wie  in  timbre  de  poste,  in  Vaterhaus  wie  in 


u.  ä.  „Univerbienmg**  wird  es  genannt,  wenn  Worte  gewohnheitsmäßig  ver- 
bunden sind,  ohne  aber  eine  Begriffseinheit  zu  bilden,  z.  B.  homer.  6ixöv-ds  „nach 
Hause",  e-tpsgov  „ich  trug"  u.  a.  Psychologisch  gehen  diese  Formen  ohne  scharfe 
Grenze  ineinander  über,  da  sich  an  die  einmal  gebildete  Verschmelzung  leicht 
auch  im  zweiten  Fall  Laut-  oder  Akzentänderungen  sowie  Bedeutungsänderungen 
anschließen.  Vgl.  hierzu  noch  Brugmann,  Ber.  der  sächs.  Ges.  1900,  S.  359  ff., 
und  H.  Paul,  Indogermanische  Forschungen,  Bd.  14,  S.  250  ff. 
^)  Darmesteter,  Formation  des  mots  compos6s,  p.  10. 

42* 


660  Die  Wortbildung. 


Vaters  Haus.  Aucli  zeigen  Beispiele  wie  chef  d'oeuvre,  Gottesgericht 
und  ähnliclie,  daß  die  Beibehaltung  der  selbständigen  grammatischen 
Form  häufig  wohl  nur  die  Wirkung  einer  durch  den  Fluß  der  Rede 
herbeigeführten  Lautdissimilation,  nicht  ein  Produkt  geringerer  Festig- 
keit der  Verbindung  ist.  Vollends  nichtssagend  und  irreführend  ist 
es,  wenn  man  jene  den  synthetischen  Prozeß  der  Wortkomposition 
begleitende  Einschmelzung  von  Wortelementen  als  ,, elliptische" 
Redeform  bezeichnet.  Die  Übertragung  rhetorischer  Figuren  auf  die 
natürliche  Sprachbildung  ist  immer  eines  der  unglücklichsten  Inter- 
pretationsmittel, weil  es  sich  in  allen  solchen  Fällen  nur  um  eine  zu- 
fällige äußere  Ähnlichkeit  handelt,  die  aus  ganz  verschiedenen  inneren 
Ursachen  hervorgeht.  Die  rhetorische  Bedeutung  der  ,, Ellipse"  liegt 
bekanntlich  in  der  Hinweglassung  solcher  Teile  der  Rede,  die  in  dem 
gewöhnlichen  Ausdruck  der  Gedanken  unentbehrlich  sind.  Bei  den 
sogenannten  Ellipsen  der  Wortkomposition  ist  aber  umgekehrt  gerade 
das  durch  Zusammenziehung  der  Laute  und  der  grammatischen  Form- 
elemente gewonnene  Ganze  in  der  Weise  stellvertretend  für  den  Be- 
griff geworden,  daß  im  Ausdruck  keine  Lücke  empfunden  wird.  Wollte 
man  als  vollständiges  Wort  nur  ein  solches  anerkennen,  das  den  ganzen 
Begriff  unverkürzt  enthielte,  so  müßte  man  auch  jedes  Simplex  eine 
,, Ellipse"  nennen.  Ist  es  doch  immer  nur  ein  einzelnes  dominierendes 
Merkmal,  von  dem  die  Benennung  des  Gegenstandes  ausgeht.  Diese 
ursprünglichen  sprachbildenden  Vorgänge  mit  den  sekundären  Er- 
scheinungen, wie  sie  in  der  Kunstform  der  Rede  beobachtet  werden 
und  erst  auf  Grimd  jener  vorangegangenen  Entwicklungen  möglich 
sind,  zusammenzuwerfen,  kann  daher  nur  zu  einer  Verwirrung  der 
psychologischen  Tatsachen  führen. 

Wie  es  für  den  allgemeinen  Charakter  eines  Wortkompositums 
gleichgültig  ist,  ob  ein  die  Teile  verknüpfender  Beziehungsausdruck 
mit  in  dasselbe  eingeht  oder  nicht,  so  können  nun  auch  die  Vorstellungen 
selbst,  die  miteinander  verbunden  werden,  nach  ihrer  logischen  Be- 
deutung den  verschiedensten  Begriffsformen  angehören,  ohne  daß 
dadurch  die  psychologische  Natur  der  Verbindungsvorgänge  wesent- 
lich alteriert  wird.  Ob  z.  B.  eine  Eigenschaft  durch  eine  gegenständ- 
liche Vorstellung  determiniert  ist,  wie  in  vogelfrei,  steinreich,  ehrgeizig, 
lehrreich,  oder  ob  ein  Gegenstands-  durch  einen  Eigenschaftsbegriff 


Sprachliche  Formen  der  Wortzusammensetzung.  661 


ergänzt  wird,  wie  in  Festland,  Freigeist,  Großvater,  Rotkehlchen,  oder 
ob  statt  dessen  zwei  Adjektiva  oder  zwei  Substantiva  sieb  wechsel- 
seitig ergänzen  oder  beschränken,  wie  in  schwarzweiß,  dunJcelrot,  lau- 
warm, Hausmann,  Schneeberg,  Fingerhut,  Windmühle,  —  alle  diese 
und  ähnliche  Unterschiede  sind  für  die  psychologische  Seite  der  Er- 
scheinung ohne  Bedeutung;  oder  soweit  es  sich  hier  um  psycholo- 
gische Unterschiede  handelt,  greifen  diese  direkt  in  die  Verhältnisse 
der  allgemeinen  Begriffsformen  ein,  ohne  daß  andere  Gesichtspunkte 
als  die  überhaupt  für  die  Kategorien  und  ihre  Umwandlungen  maß- 
gebenden in  Betracht  kommen^). 

Weitere  Fragen,  die  bei  der  üblichen  logischen  Behandlung  ge- 
wöhnlich in  den  Vordergrund  gestellt  werden,  ob  z.  B.  das  in  dem 
Kompositum  gegebene  Begriffsverhältnis  als  ein  einfach  attributives 
oder  als  ein  solches  von  Art  und  Gattung  aufzufassen  sei,  ob  es  räum- 
liche, zeitliche,"  objektive,  possessive  Bestimmungen,  den  Gedanken 
an  einen  Grund,  einen  Zweck,  ein  Mittel,  einen  Grad  usw.  enthalte 
—  diese  Fragen  sind  schon  logisch  von  verhältnismäßig  geringem, 
psychologisch  aber  von  gar  keinem  Wert.  Denn  logisch  betrachtet 
sind  natürlich  alle  überhaupt  möglichen  Begriffsverhältnisse  und 
Beziehungsformen  der  Begriffe  auch  zwischen  den  Gliedern  eines 
Kompositums  möglich;  und  psychologisch  bietet  wiederum  keines 
dieser  Verhältnisse  irgendwelche  Eigentümlichkeiten,  wie  denn  ja 
auch  die  logische  Beziehung  der  Begriffe  niemals  eine  direkte  Ursache 
der  Verbindung  ist.  Vielmehr  beruht  diese  stets  nur  auf  der  Asso- 
ziation, die  sich  zwischen  den  in  den  Bestandteilen  des  Kompositums 
ausgedrückten  Vorstellungen  gebildet  hat,  und  auf  Grund  deren  dieses 
Assoziationsprodukt  in  der  Apperzeption  zu  einem  einzigen  Vor- 
stellungsinhalt verbunden  wird.    Ein  unmittelbares  Zeugnis  für  diese 


^)  Das  Allgemeine  über  diese  Verhältnisse  der  Begriffsformen  und  über 
die  auch  bei  der  Wortzusammensetzung  eine  Rolle  spielenden  kategorialen  Um- 
wandlungen der  Begriffe  wird  bei  dem  Bedeutungswandel  (Kap.  VIII)  erörtert 
werden.  Die  nähere  Anwendung  auf  die  Erscheinungen  der  Wortkompositicn 
muß  aber  hier  außer  Betracht  bleiben,  da  dieses  Problem  mit  den  besonderen 
Ausdrucksformen  der  einzelnen  Sprachen  zusammenhängt.  Vgl.  über  das  Fran- 
zösische 0.  Dittrich  in  Gröbers  Zeitschrift  für  romanische  Philologie,  Bd.  22, 
1898,  S.  305  ff.,  Bd.  23,  1899,  S.    288  ff. 


662  Die  Wortbildung. 


Unabhängigkeit  der  psydiologischen  Entstehung  von  dem  logischen 
Verhältnis  der  Begriffe  ist  die  Tatsache,  daß  in  verschiedenen  Sprachen 
ein  und  derselbe  Begriff  durch  Komposita  ausgedrückt  sein  kann, 
die  nach  ihrer  grammatischen  Bildung  wie  nach  ihrer  psychischen 
Entwicklung  völlig  voneinander  abweichen,  während  beiderlei  Unter- 
schiede in  gar  keiner  direkten  Beziehung  zueinander  stehen.  Einen 
Beleg  hierzu  bilden  die  oben  bereits  erläuterten  gleichbedeutenden 
Wörter  Trinkgeld  und  pourhoire.  Gerade  im  Gebiet  der  Komposita 
zeigt  es  sich  eben  klar,  daß  ein  Begriff  nicht  bloß  in  außerordentlich 
verschiedener  Weise  ausgedrückt  werden  kann,  sondern  daß  auch 
die  Art  dieses  Ausdrucks  jedesmal  sowohl  von  der  eigentümlichen 
Richtung  des  Denkens  wie  von  der  Beschaffenheit  der  vorhandenen 
Ausdrucksmittel  abhängt.  Die  deutsche  Sprache,  die  eine  große  Frei- 
heit in  der  Erzeugung  der  Wortkomposita  überhaupt  und  nament- 
lich auch  in  der  Verbindung  solcher  Wörter  besitzt,  die  der  gleichen 
Begriffsklasse  angehören,  ist  fähig,  einen  neuen  Gegenstandsnamen 
einfach  dadurch  zu  bilden,  daß  sie  zwei  schon  vorhandene  Substan- 
tiva,  die  sich  in  dem  neuen  Begriff  irgendwie  begegnen,  aneinander 
fügt,  oder  auch  daß  sie  einen  Eigenschafts-  mit  dem  geeigneten  Gegen- 
standsnamen unmittelbar  vereinigt.  Ähnlich  bildet  sie  neue  Eigen- 
schaftswörter durch  Verbindung  bereits  vorhandener  mit  Gegen- 
standsbegriffen, mit  denen  die  Eigenschaft  in  irgendeiner  Beziehung 
steht.  Dadurch  gewinnt  das  deutsche  Kompositum  den  Charakter 
eines  frei  nach  den  jedesmaligen  Zwecken  zusammengesetzten  Ganzen, 
dessen  Teile  aus  beliebigen  unabhängigen  Sätzen  ausgesondert  und 
neu  verbunden  sein  können,  oder,  wenn  sie  in  einem  und  demselben 
Satze  vorkamen,  durch  andere  Satzbestandteile  voneinander  ge- 
sondert waren.  Ähnliche  Eigenschaften  wie  die  deutschen  zeigen 
auch  die  griechischen  Komposita.  Anders  verhalten  sich  die  der  ro- 
manischen Sprachen,  denen  schon  das  Lateinische  darin  vorausging, 
daß  in  ihm  viele  Verbindungen  aus  einer  einfachen  Folge  von  Wörtern 
entstanden,  die  sich  durch  häufiges  Zusammentreffen  im  Satze  in 
dieser  Verbindung  befestigt  hatten,  wie  respublica,  senatusconsuUum, 
jusjurandum  und  ähnliche.  Diesen  Charakter  einer  bloßen  Ausschei- 
dimg aus  dem  Satze  haben  in  überwiegendem  Maß  auch  die  fran- 
zösischen Komposita  wie  chef  d'oeuvre,  plafond,  toujours  (wobei  ja  die 


Sprachliche  Formen  der  Wortzusammensetzung.  663 

Unterscheidung  von  flat  fond  und  tous  jours  bloß  in  der  Schrift,  nicht 
in  der  Aussprache  existiert),  maltraiter,  malheureux,  pourhoire  usw. 
Wo  das  nicht  der  Fall  ist,  da  gehört  die  Verbindung  in  der  Regel  einer 
früheren  Stufe  der  Sprachentwicklung  an,  und  die  so  entstandenen 
Wörter  fallen  für  das  heutige  Sprachbewußtsein  dem  Gebiet  ursprüng- 
licher Wortbildung  zu^).  Bei  der  Bildung  des  deutschen  Komposi- 
tums, wie  sie  noch  fortwährend  beobachtet  werden  kann,  überwiegt 
also  das  synthetische,  bei  der  Bildung  des  neufranzösischen  Kom- 
positums das  analytische  Moment.  In  Wahrheit  sind  aber  beide 
Vorgänge,  die  Ausscheidung  aus  dem  Ganzen  des  Satzes  und  die  selb- 
ständige Verbindung  der  Teile,  zwei  Faktoren  des  Prozesses,  die  nie- 
mals fehlen,  und  von  denen  nur  je  nach  den  besonderen  Bedingungen 
bald  der  eine,  bald  der  andere  überwiegend  zum  Ausdruck  kommt. 
Ekie  eigentümliche  Nachwirkung  des  analytischen  Ursprungs  der 
Komposita  hat  sich  übrigens  auch  die  deutsche  Sprache  darin  be- 
wahrt, daß  sie  die  mit  Präpositionen  gebildeten  verbalen  Zusammen- 
setzungen im  Satze  selbst  wieder  je  nach  den  Bedingungen  der  syn- 
taktischen Verbindung  in  ihre  Bestandteile  sondert,  sofern  überhaupt 
die  in  das  Kompositum  eingehende  Präposition  noch  in  ihrem  selb- 
ständigen Begriffswert  erhalten  geblieben  ist:  so  in  aufstehen  und  ich 
stehe  auf,  ablegen  und  ich  lege  ab,  vortragen  und  ich  trage  vor  usw.  Mag 
aber  auch  durch  diese  Eigenschaft  das  Bewußtsein  der  besonderen 
Bedeutung  der  Teile  mehr  erhalten  bleiben  als  in  den  Fällen  unver- 
rückbarer Zusammenfügung:  an  der  Tatsache,  daß  solche  Wörter 
im  vollen  Sinne  des  W^ortes  Komposita  sind,  kann  diese  Eigenschaft 
nichts  ändern.  Sie  geht  auch  da  in  den  Wortverbindungen  nicht  ver- 
loren, wo  jene  Sonderung  erfolgt,  weil  dieser  Vorgang  vielmehr  als 
eine  Einschaltung  anderer  Satzbestandteile  in  den  Zusammenhang 
des  Wortes  denn  als  eine  wirkliche  Zerlegung  des  letzteren  emp- 
funden wird. 


1)  Vgl.  unten  Nr.  VII,  2. 


664  Die  Wortbildung. 


3.  Laut-  und  Bedeutungsänderungen  der  Komposita. 

Ungleicli  wichtiger  als  diese  äußeren  sprachliclien  Unterscliiede, 
die  den  psychischen  Prozeß  der  Vorstellungs Verbindung  nicht  wesent- 
lich berühren,  sind  für  diesen  die  Laut-  und  die  sie  begleitenden  Be- 
griff sumwandlungen    der    Wortzusammensetzungen.        Hier    greifen 
beide  Momente,  Laut-  und  Begriffswandel,  durchweg  derart  ineinan- 
der ein,  daß  sie  sich  wechselseitig  verstärken,  und  daß  daher  meist 
schwer  zu  entscheiden  ist,  welches  das  primäre  gewesen  sei.     Dabei 
folgen  natürlich  Laut-  und  Begriffswandel  den  für  sie  gültigen  all- 
gemeinen Gesetzen,  deren  Erörterung  nicht  hierher  gehört^).     Hier 
ist  nur  hervorzuheben,  daß  die  Wortzusammensetzung  ein  Vorgang 
ist,  der  bei  den  in  sein  Bereich  fallenden  Wortgebilden  die  Laut-  wie 
Bedeutungsänderungen   nicht  selten   zu   beschleunigen   scheint.      In- 
dem sich  die  Bestandteile  des  Kompositums  zu  einer  neuen  Wortein- 
heit verbinden,  kann  ihnen  der  Zusammenhang  mit  den  selbständigen 
Wörtern,  aus  denen  sie  ursprünglich  bestehen,  nach  Laut  wie  Begriff 
abhanden  kommen;  oder  es  kann  auch  ein  Wort  in  einem  Kompo- 
situm fortdauern,  das  für  sich  allein  außer  Gebrauch  gekommen  ist. 
Auf  diese  Weise  ist  die  Entwicklung  der  Wortzusammensetzung  all- 
gemein dahin  gerichtet,  daß  sich  die  zuerst  loser  verbundenen  und 
in  ihrer  isolierten  Bedeutung  noch  leicht  erkennbaren  Bestandteile 
des  Kompositums  immer  fester  vereinigen,  bis  sie  schließlich  zu  einer 
Worteinheit    zusammengeflossen    sind,    die    unmittelbar    überhaupt 
nicht  mehr  als  Kompositum  erkennbar,  sondern  erst  auf  Grund  der 
Sprachgeschichte  als  ein  solches  nachzuweisen  ist.      Dieser  Prozeß 
kann  sich  aber  an  den  verschiedenen  Wortzusammensetzungen  einer 
Sprache  in  sehr  verschiedener  Zeit  vollziehen,  da  er  von  mancherlei 
inneren  wie  äußeren  Bedingungen  abhängt:  von  der  Einheitlichkeit 
der  durch  die  Verbindung  entstehenden  Vorstellung  einerseits,  und 
von  den  Vorgängen  des  Laut-  und  Begriffswandels  sowie  von  der 
Erhaltung  und  der  relativen  Geläufigkeit  der  einzelnen  Wortbestand- 
teile anderseits. 


^)  Rücksichtlich  des   Lautwandels   vgl.   Kap.    IV,   über  den   Bedeutungs- 
wandel Kap.  VIII. 


Laut-  und  Bedeutungsänderungen  der  Komposita.  665 

Überblickt  man  die  ganze  Reihe  der  Veränderungen,  die  auf 
solche  Weise  das  einzelne  Kompositum  von  seiner  ersten  Bildung 
als  Niederschlag  aus  dem  Satze  an  bis  zum  völligen  Untergang  seiner 
Bestandteile  in  der  neuen  Worteinheit  erfahren  kann,  so  lassen  sich 
dieselben  nach  der  Wirkung  der  angedeuteten  Bedingungen  in  die 
drei  Stadien  der  Agglutination,  der  partiellen  Verschmelzung 
und  der  totalen  Verschmelzung  unterscheiden.  Natürlich  sind 
aber  diese  Stadien  nicht  scharf  geschieden,  sondern  es  finden  sich 
die  mannigfachsten  Übergänge  zwischen  ihnen.  Auch  läßt  sich  nur 
in  verhältnismäßig  seltenen  Fällen  an  einem  einzelnen  Kompositum 
der  Entwicklungsprozeß  durch  alle  drei  Stadien  gleichmäßig  ver- 
folgen. Dagegen  treten  uns  unter  den  gleichzeitig  vorhandenen  Kom- 
positis  einer  Sprache  Repräsentanten  einer  jeden  Gruppe  imd  ihrer 
Übergangsstufen  entgegen^). 

So  begegnen  uns  in  jenen  zahlreichen  Kompositis  der  deutschen 
Sprache,  die  sich  fortwährend  neu  bilden,  um  dem  Bedürfnis  irgend 
neuer  Begriffsverbindungen  zu  genügen,  ausgeprägte  Beispiele  der 
Agglutination.  Man  denke  an  Wörter  wie  Landrecht,  Eisenhahn, 
Dampfschiff,  Tauf  stein,  Regierungsrat,  Reichsgericht  usw.  Partielle 
Verschmelzungen  können  sodann  in  verschiedenen  Formen  vor- 
kommen. In  der  einfachsten  Weise  gehen  sie  aus  den  Agglutinationen 
dann  hervor,  wenn  der  Lautbestand  eines  Wortes  ungeändert  bleibt. 


^)  Vielleicht  ist  es  nicht  unnütz,  ausdrückhch  zu  bemerken,  daß  man  bei 
der  „Agglutination  der  Wortvorstellungen"  in  dem  hier  gebrauchten  Sinn  eben- 
sowenig an  die  sogenannten  „agglutinativen  Sprachen",  wie  bei  der  partiellen 
oder  totalen  Verschmelzung  an  den  Verschmelzungsbegriff  der  Herbartschen 
Psychologie  zu  denken  hat.  Was  das  erstere  betrifft,  so  wird  das  hier  obwaltende 
Verhältnis  wohl  zureichend  durch  die  Bemerkung  gekennzeichnet,  daß  die  Wörter 
einer  „agglutinativen  Sprache"  überhaupt  nicht  Agglutinationen  von  Vorstel- 
lungen, sondern  ursprüngliche  Wortbildungen,  also  aller  Wahrscheinlichkeit 
nach  früh  eingetretene  Wortverschmelzungen  sind,  gerade  so  wie  die  Wortformen 
unserer  Flexionssprachen,  von  denen  sie  sich  überhaupt  nur  durch  ihren  in  vielen 
Fällen  kompüzierten  Aufbau  unterscheiden.  Der  Herbartsche  Verschmelzungs- 
begriff endlich  gehört  ganz  und  gar  der  transzendenten  VorsteUungsmechanik 
seiner  Psychologie  an  und  hat  daher  mit  dem  hier  angewandten  empirischen 
Begriff  keine  andern  Berührungen  als  diejenigen,  die  aus  der  allgemeinen  Bedeutung 
des  Wortes  „Verschmelzung"  hervorgehen. 


666  Die  Wortbildung. 


die  Bedeutung  des  Kompositums  sich  aber  derart  gegenüber  derjenigen 
seiner  Bestandteile  geändert  hat,-  daß  die  begriff  lieben  Inhalte  der 
letzteren  durch  den  völlig  abweichenden  Begriff  des  Kompositums 
verdunkelt  werden,  so  daß  dieses  nun  als  ein  einheitliches  Wort  auf- 
gefaßt wird,  bei  dem  die  Vorstellungen  der  Teile  nur  noch  schwach, 
nicht  anders  als  dies  bei  zufälligen  Lautähnlichkeiten  der  Wörter 
geschieht,  anklingen.  Dahin  gehören  Beispiele  wie  fahrlässig  urspr. 
=  ,, fahren  lassend",  ausfielen  eigtl.  ,,den  Anfang  im  Spiel  machen", 
Vorgang  „was  vorher  geht"  u.  a.  Mehr  noch  nähert  sich  die  Verbin- 
dung einer  totalen  Verschmelzung,  wenn  der  eine  Bestandteil  des 
Kompositums  entweder  vollständig  aus  der  lebenden  Sprache  ver- 
schwunden oder  lautlich  derart  verändert  ist,  daß  dadurch  seine  selb- 
ständige Bedeutung  verdunkelt  wurde:  so  in  Wörtern  wie  Vormund, 
wo  das  Wort  ,,Mund"  im  Sinne  von  Schutz  außer  Gebrauch  gekommen, 
Junker  =  mhd.  ,,jungherre",  wo  das  Teilwort  ,,Herr"  zu  einem  suffix- 
ähnlichen Bestandteil  geworden  ist,  ferner  Herzog  aus  „her"  =  Heer 
und  ,,zoge"  (zusammenhängend  mit  ,, ziehen")  =  Führer,  ein  Wort, 
dessen  beide  Teile  sich  in  ihrer  Bedeutung  verdunkelt  haben.  Am 
häufigsten  kommen  endlich  solche  partielle  Verschmelzungen  in  der 
Form  vor,  daß  ein  einzelner  Bestandteil  seine  Selbständigkeit  ganz 
verliert  und  zu  einem  Ableitungssuffix  oder  -präfix  wird.  Hier  fließen 
dann  einstige  Wortzusammensetzung  und  spätere  Wortableitung 
oft  ununterscheidbar  zusammen,  und  indem  die  Anwendung  solcher 
Elemente  zu  Ableitungen  weitere  Kreise  zieht,  wird  deren  ursprüng- 
liche Bedeutung  vollends  verflüchtigt.  Dahin  gehören  im  Deutschen 
unsere  zahlreichen  Wortbildungen  auf  -heit,  ahd.  hell,  agot.  haidus 
,,Art  und  Weise",  wie  Schönheit,  Klugheit,  Tapferkeit  usw.,  ferner 
die  Präfixbildungen  mit  ver-  =  vor-,  er-  =  ur-,  ge-  =  ga-  (laut-  und 
begriffsverwandt  mit  dem  lat.  con-),  he-  =  umhe-  (um),  also  Wörter 
wie  verstehen,  erblicken,  Gemahl,  Begriff  u.  a.  In  solchen  partiellen 
Verschmelzungen  und  sie  begleitenden  Prozessen  der  Laut-  und  Be- 
deutungsänderung bereitet  sich  die  letzte  Stufe  dieser  Verbindungen, 
die  totale  Verschmelzung,  vor.  Bei  ihr  angelangt  ist  das  Wort  ein 
vollkommen  einheitliches  geworden  und  von  einem  Simplex  nicht 
mehr  zu  unterscheiden.  Dahin  gehören  Wörter  wie  Heirat,  einst  ein 
Kompositum  aus  ahd.  Mwa,  hiivo  (Gatte,  Gattin)  und  rat,    welches 


Theorie  der  Wortzusammensetzung  und  Wortverschmelzung.  667 

letztere  in  einem  an  den  Begriff  des  „Zusammenlesens'*,  ,,Verbindens" 
erinnernden  Sinne  sich  noch  in  Wörtern  wie  „Vorrat",  ,, Hausrat" 
erhalten  hat;  ferner  Leichnam  mhd.  Uchname  ahd.  lihhinamo  aus 
Hilihin=  Körper  und  hämo  =  Gewand  (noch  erhalten  in  „Hemd"); 
Gesinde  von  mhd.  sint  Weg,  also  urspr.  im  Sinne  von  ,, Gefolgschaft" 
(eines  Fürsten),  und  viele  andrere. 


4.  Theorie  der  Wortzusammensetzung  und  Wortverschmelzung. 

Die  allgemeinen  Vorgänge  der  Wortkomposition,  wie  sie  unab- 
hängig von  besonderen,  in  der  überlieferten  Form  der  Sprache  be- 
gründeten Bedingungen  überall  wiederkehren,  lassen  sich  haupt- 
sächlich aus  zwei  Reihen  von  Tatsachen  erschließen:  erstens  aus  den 
konstanten  Bedingungen,  die  jede  Bildung  eines  zusammengesetzten 
Wortes  begleiten;  und  zweitens  aus  den  psychischen  Eigenschaften, 
die  ein  Kompositum  im  Verhältnis  zu  seinen  Bestandteilen  darbietet. 
In  ersterer  Beziehung  bildet  die  Entstehung  der  Wortzusammen- 
setzung nur  einen  Spezialfall  der  Wortbildung  überhaupt.  Von  den 
Neuschöpfungen  unterscheidet  sich  aber  die  Wortzusammens^^tzung 
in  dem  Bedeutungsinhalt  der  Wortkomplikation  dadurch,  daß 
zunächst  nicht  ein  einziger  Begriff,  sondern  mindestens  eine  Zwei- 
heit  von  Begriffen  in  den  Blickpunkt  des  Bewußtseins  tritt;  hin- 
sichtlich der  Lautbestandteile  darin,  daß  nicht  ein  neues  Laut- 
zeichen den  Eindruck  des  Objekts  wiedergibt,  sondern  daß  der  vor- 
handene Wortvorrat  hierzu  verwendet  wird.  Dabei  können  dann 
die  verbundenen  Begriffe  entweder  beide  dem  Gegenstande  selbst 
entstammen:  so  bei  dem  ersten  und  zweiten  Typus  der  Wortbildung; 
oder  einer  derselben  kann  durch  die  Assoziation  mit  einer  fernliegen- 
den, aber  irgendwie  ähnlichen  Vorstellimg  erzeugt  werden:  so  bei 
dem  dritten  der  oben  (S.  656)  unterschiedenen  Typen.  Unter  ihnen 
steht  der  erste  Typus  vermöge  seines  unmittelbaren  Ursprungs  aus 
einer  syntaktischen  Verbindung  dem  einfachen  Wort  näher  als  der 
zweite  und  dritte.  Dies  kommt  in  der  Struktur  des  Kompositums 
darin  zum  Ausdruck,  daß  der  eine  Wortbestandteil  eine  für  den  Be- 
griff relativ  gleichgültige  Neben  vor  Stellung  sein  kann,  die  dann  erst 


668  Die  Wortbildung. 


durch  ihre  Assoziation  mit  weiteren  begleitenden  Vorstellungen  den 
Begriff  determiniert.  In  solchen  Fällen  gehört  dann  das  eine  der  do- 
minierenden Merkmale  eigentlich  immer  einer  solchen  stillschweigend 
assoziierten  Vorstellung  an,  und  der  betreffende  Bestandteil  des  Kom- 
positums hat  nur  die  Funktion  einer  Assoziationshilfe  zur  Erweckung 
dieser  Vorstellung.  So  ist  in  dem  fr^nz.  pourhoire  die  Vorstellung 
des  Geldstücks,  die  zu  den  Begriffsbestandteilen  gehört,  in  der 
Präposition  four  durch  eine  nur  andeutend  vorhandene  Hin- 
weisung auf  die  Handlung  des  Gebens  ersetzt.  In  dem  Ausdruck 
„un  vive-la-joie"  für  einen  immer  vergnügten  Menschen  genügt 
der  Artikel,  um  der  ganzen  Phrase  die  Beziehung  auf  eine  Person 
mitzuteilen  usw.^). 

Dem  gegenüber  bieten  nun  die  Verbindungen  des  zweiten  Typus 
insofern  die  einfachsten  Verhältnisse  dar,  als  sich  hier  die  bei  der  Bil- 
dung des  zusammengesetzten  Wortes  stattfindenden  Assoziationen 
ganz  innerhalb  der  unmittelbar  gegebenen  Wahrnehmungs- 
inhalte bewegen.  Sieht  jemand  einen  Strauch,  der  nach  einem  vor- 
herrschenden Merkmal  bereits  den  Namen  Dorn  führt,  und  bemerkt 
er  außerdem,  daß  dieser  Strauch  weiße  Blüten  trägt,  so  verbinden 
sich  durch  eine  direkte  Wahrnehmimgsassoziation  die  beiden  Merk- 
male in  dem  neuen  Namen  Weißdorn,  Oder  sieht  jemand  einen  Baum 
und  erkennt  dessen  Früchte  als  Äpfel,  so  bildet  er  unmittelbar  aus 
beiden  Teilvorstellungen  den  Namen  Äpfelbaum,  usw.  Dagegen  ge- 
stalten sich  bei  dem  dritten  Typus  die  Verhältnisse  wiederum  durch 
hinzutretende  assoziative  Bedingungen  verwickelter.  Nur  schließen 
sich  hier  die  Hilfsassoziationen  nicht  erst  an  einen  gegebenen  Bestand- 
teil des  Kompositums  an,  sondern  sie  gehen  der  Bildung  des  letzteren 
voraus.  Ist  die  Hilfsassoziation  im  ersten  Fall  eine  Berührungsasso- 
ziation, durch  welche  Vorstellungen  geweckt  werden,  die  innerhalb 
der  gleichen  Gesamtvorstellung  liegen,  selbst  aber  unbenannt  bleiben, 
so  ist  sie  im  zweiten  Fall  eine  im  allgemeinen  aus  gleichen  und  sich 
berührenden    Elementen    zusammengesetzte    Erinnerungsassoziation. 


^)  Darmesteter    verzeichnet    zahlreiche    diesem    ähnliche    Beispiele,    vgl. 
besonders  p.  206,  210. 


Theorie  der  Wortzusammensetzung  und  Wortverschmelzung.  669 

Indem  durch  diese  ein  in  eine  ganz  andere  Gesamtvorstellung  gehören- 
der Begriff  reproduziert  wird,  geht  nun  der  letztere  zusammen  mit 
der  ihm  zugehörenden  Lautvorstellung  in  das  Kompositum  ein.  So 
kann  ein  Weib  durch  sein  Aussehen  oder  durch  sein  Betragen  an  männ- 
liche Eigenschaften  erinnern,  und  die  Wirkung  dieser  Assoziation 
kann  in  dem  Wort  Mannweib  ihren  Ausdruck  finden.  Eine  Mutter, 
die  ihre  Kinder  mißhandelt,  erinnert  an  die  dem  Raben  nachgesagte 
Vernachlässigung  seiner  Jungen,  und  es  entsteht  durch  die  Asso- 
ziation des  gegenwärtigen  Eindrucks  mit  jenem  Erinnerungsbilde  das 
Wort  Rabenmutter  usw.^).  Auf  diese  Weise  können  sich  durch  die 
Erinnenmgsassoziationen  Komposita  bilden,  die  ganz  verschieden- 
artige Gegenstände,  falls  sie  eben  nur  in  irgendeinem  Merkmal  eine 
Beziehung  bieten,  in  Verbindung  bringen.  Hier  ist  daher  speziell 
für  die  Komposita  der  Ort  des  Ursprungs  sogenannter  ,, Metaphern 
der  Sprache",  bei  denen  man  sich  freilich  stets  gegenwärtig  halten 
muß,  daß  sie  unmittelbar  in  der  Regel  nicht  als  Metaphern,  sondern 
als  wirkliche  Ähnlichkeiten  empfunden  werden 2).  Abgesehen  von  den 
abweichenden  Assoziationsmotiven,  die  so  die  drei  typischen  Formen 
der  Wortzusammensetzung  auszeichnen,  gestaltet  sich  nun  aber  jener 
weitere  Verlauf  der  Vorgänge,  bei  dem  die  gebildete  Verbindung  die 
einzelnen,  oben  unterschiedenen  Stufen  der  Agglutination,  der 
partiellen  und  der  totalen  Verschmelzung  durchläuft,  im  wesent- 
lichen in  übereinstimmender  Weise.  Wenden  wir  die  früher  (S.  569  f.) 
gebrauchten  symbolischen  Bezeichnungen  für  die  Wortkomplika- 
tionen im  allgemeinen  auch  auf  den  speziellen  Fall  der  Wortkom- 
position an,  so  besteht  von  vornherein  die  Eigentümlichkeit  dieser 
in  der  Wirksamkeit  zweier  Vorstellungen  v^  und  V2,  die  entweder 
von  vornherein  zu  einer  einzigen  Vorstellung  C  gehören  (2,  Typus), 
oder  durch  angeregte  Hilfsassoziationen  in  verschiedener  Weise  in 
dieselbe  aufgenommen  werden  (1.  und  3.  Typus).  Mit  v^^  und  Vg  kom- 
plizieren sich  sodann  die  ihnen  assoziierten  Wortgebilde  n^  und  Wg^ 
daher  die  gesamte  Wortkomplikation   des  Kompositums,   wenn  wir 


' )  Vgl.  dazu  auch  die  oben  S.  657  angeführten  Beispiele. 
2)  Vgl.  in  Kap.  VIII,  Nr.  V  die  allgemeinen  Bemerkungen  über  die  Meta» 
phem. 


670  I>ie  Wortbildung. 


von  den  Elementen  m  und  o,  die  hier  keine  wesentliche  Kolle 
spielen,  absehen,  ausgedrückt  werden  kann  durch  die  symbolische 
Formel : 

Der  Inhalt  dieser  Komplikation  erfährt  dann  stetige  Veränderungen, 
indem  zunächst  v^  v^  gegenüber  C  zurücktritt,  während  sich  gleich- 
zeitig n-^  Wg  fester  verbinden,  so  daß  die  Komplexion  (n^  ^2)  C  übrig- 
bleibt. Davon  führt  ein  letzter  Schritt  zu  einer  Verschmelzung  der 
Wortgebilde  n^  und  n^  selbst,  so  daß  der  Endpunkt  der  ganzen  Ent- 
wicklung in  einem  Produkt  n  C  besteht,  d.  h.  in  einem  Wort,  das  ganz 
und  gar  den  psychologischen  Charakter  eines  Simplex  angenommen 
hat.  Nennen  wir  diesen  Vorgang,  um  die  Rolle  anzudeuten,  die  bei 
ihm  der  die  Einzel  vor  Stellungen  in  ein  Ganzes  zusammenfassenden 
Apperzeption  zukommt,  eine  apperzeptive  Synthese,  so  bezeichnen 
demnach  Assoziation,  Agglutination  und  Verschmelzung 
die  drei  Stufen  dieses  apperzeptiven  Prozesses.  Dabei  macht  sich 
nun  zugleich  eine  formale  Gesetzmäßigkeit  geltend,  durch  die  sich 
dieser  Vorgang  wesentlich  von  den  bloßen  Assoziations Vorgängen 
unterscheidet.  Diese  Gesetzmäßigkeit  besteht  darin,  daß  jedes  Pro- 
dukt der  Agglutination  als  ein  zweigliedriges  Ganzes  erscheint. 
Dies  bewährt  sich  auch  noch  da,  wo  drei-  oder  mehrgliedrige  Kompo- 
sita gebildet  werden,  indem  sich  solche  stets  als  zweigliedrige  Ver- 
bindungen höherer  Stufe  darstellen,  in  denen  zuerst  zwei  Teile  a  und  b 
aneinander  gebunden  sind,  dann  an  diese  zusammen  ein  drittes  Glied 
c  oder  eine  Verbindung  zweier  weiterer  Glieder  cd  usw.,  also  nach 
dem  Schema: 

(a  h  c)    oder     {ab  cd)    oder     {ab  cd)    usw. 

So  in  Verbindungen  wie  Großvater  stuhl,  Reichsgerichtssenatspräsi- 
dent,  Stadtverordnetensitzungssaal  u.  dgl.  Es  gibt  schlechthin  keine 
Wortzusammensetzung,  die  sich  diesem  formalen  Gesetz  apperzep- 
tiver  Vorstellungsverbindungen  entzieht.  Selbst  die  komplizierten 
und   künstlichen   Wortgebilde   der  chemischen   Terminologie   ordnen 


Verhältnis  der  ursprünglichen  zu  den  sekundären  Wortbildungen.       671 

sich  ihm  unter.  Mag  man  sich  auch  im  Räume  die  chemischen  Mole- 
küle nach  drei  Dimensionen  zusammengefügt  vorstellen,  die  Sprache 
und  das  Denken,  die  in  der  einen  Dimension  der  Zeit  die  Teile  des 
Wortes  verbinden,  können  eine  solche  Zusammenfügung  immer  nur 
in  einer  einzigen  fortschreitenden  Richtung  erzeugen;  und  das  Wort 
kann  nur  dadurch  ein  Ganzes  bilden,  daß  jeder  Teil  mit  jedem  andern 
verbunden  ist,  was  eben  durch  jene  Gliederung  erreicht  wird.  Hierin 
zeigt  aber  das  Kompositum  die  nämliche  Abhängigkeit  von  den  Be- 
dingungen der  zusammenhängenden  Rede  und  infolgedessen  die  näm- 
liche Gesetzmäßigkeit  der  Struktur,  die  wir  als  bestimmend  für  den 
Aufbau  des  Satzes  kennen  lernen  werden.  Es  bewährt  so  in  seiner 
synthetischen  Struktur  die  nämliche  Beziehung  zum  Ganzen  des 
Satzes,  die  sich  in  seiner  analytischen  Entstehungsweise  aus  diesem 
zu  erkennen  gab. 

VII.  Ursprüngliche  Wortbildung. 

1.  Verhältnis  der  ursprünglichen  zu  den  sekundären 

Wortbildungen. 

Ursprüngliche  Wortbildung  und  Neuschöpfung  von  Wörtern 
sind  wesentlich  verschiedene  und  in  mancher  Beziehung  einander 
entgegengesetzte  Vorgänge.  Die  Neuschöpfung  gehört  der  Gegenwart 
oder  einer  nahen  Vergangenheit  an;  die  ursprüngliche  Wortbildung 
ist  der  erste  überhaupt  auffindbare  Anfang  des  Wortes  in  den  unserer 
Beobachtung  gegebenen  Sprachen  und  Sprachfamilien.  Die  Neu- 
bildung steht  also  unter  dem  Einfluß  einer  bereits  ausgebildeten 
Sprache,  und  es  sind  überdies  stets  besondere,  wegen  ihrer  eigenartigen 
Beschaffenheit  in  der  Regel  leicht  nachweisbare  Motive,  die  zu  ihr 
geführt  haben.  Die  Bedingungen  der  ursprünglichen  Wortbildungen 
sind  uns  dagegen  vollkommen  dunkel:  ob  diese  aus  den  Trümmern 
anderer  vor  ihr  dagewesener  Sprachformen,  ob  sie  ganz  oder  teilweise 
aus  der  Mischung  verschiedener  Idiome  entstanden,  ob  sie  völlige 
Neuschöpfungen  waren,  alles  dies  ist  uns  unbekannt.  Und  auch  wenn 
wir  mehr  von  der  Urgeschichte  der  Wörter  wüßten,  würde  es  schwer- 
lich ausreichen,  um  darauf  begründete  Vermutungen  über  die  psychi- 


672  Die  Wortbildung. 


sehen  Motive  jener  im  Anfang  der  Sprachgeschichte  liegenden  Vor- 
gänge zu  gründen.  Dies  ist  zugleich  der  Punkt,  in  welchem  sich  die 
ursprüngliche  Wortbildung  von  der  Wortbildung  durch  Zusammen- 
setzung unterscheidet.  Da  diese  überall  in  der  Komposition  bereits 
vorhandener  Wörter  besteht,  so  sind  im  allgemeinen  in  den  sprach- 
lichen Erscheinungen  selbst  schon  zureichende  Hinweise  auf  ihre 
psychischen  Bedingungen  enthalten;  und  da  überdies  die  Bildung 
solcher  Formen  durchweg  einer  späteren  Zeit  angehört,  so  sind  auch 
die  äußeren  kulturhistorischen  Momente,  die  sie  veranlaßt  haben, 
leichter  zu  ergründen.  Nur  die  Lautwiederholungen  machen  davon 
eine  Ausnahme,  insofern  sie  vielfach  schon  dem  Gebiet  der  ursprüng- 
lichen Wortbildung  zugehören.  Hier  ist  aber  wiederum  der  Vorgang 
selbst  so  offenkundig,  und  auch  die  Motive,  die  bei  ihm  wirksam  sein 
können,  sind  von  so  einfacher  und  allgemeingültiger  Art,  daß  dies 
eben  als  ein  Fall  betrachtet  werden  kann,  wo  sich  uns  das  Geheimnis 
ursprünglicher  Wortbildung  infolge  der  seltenen  Einfachheit  der 
Form  wie  der  Bedingungen  des  Vorgangs  ausnahmsweise  deutlich 
enthüllt. 

In  allen  andern  Fällen  scheinen  bei  der  ursprünglichen  Wort- 
bildung zwei  wesentlich  verschiedene,  bald  ineinander  eingreifende, 
bald  getrennt  voneinander  stattfindende  Prozesse  beteiligt  gewesen 
zu  sein,  die  aber  beide  bereits  die  Existenz  bedeutsamer  Lautkomplexe 
voraussetzen.  Der  eine  besteht  in  einer  den  ältesten  Sprachformen 
bereits  angehörenden  Wortzusammensetzung,  die  in  ihrer  Bil- 
dungsweise im  ganzen  der  noch  in  der  heutigen  Sprache  vor  sich  gehen- 
den Bildung  der  Komposita  entsprach.  Der  zweite,  wenigstens  in 
seinen  ausgeprägteren  Formen  auf  engere  Sprachgebiete  beschränkte, 
besteht  in  Klangvariationen  eines  in  bestimmter  Bedeutung  ge- 
brauchten Lautgebildes  mit  der  Wirkung  einer  entsprechenden  Va- 
riation der  Bedeutung.  Diese  zweite  Form  nähert  sich  in  ihrer  un- 
mittelbaren sinnlichen  Bedeutsamkeit  einigermaßen  der  Lautwieder- 
holung und  den  sonstigen  onomatopoetischen  Bildungen.  Hierher 
gehören  die  früher  als  Beispiele  solcher  Erscheinungen  erwähnten 
Klangvariationen  des  semitischen  Verbums,  sowie  die  besonders  in 
den  monosyllabischen  Sprachen  Ostasiens  vorkommenden  Abstufungen 
der   Tonhöhe   oder   des   sogenannten    „Tonakzents",    die   möglicher- 


Verhältnis  der  ursprünglichen  zu  den  sekundären  Wortbildungen.      673 

weise  aus  einer  weitgehenden,  namentlich  die  sinnmodifizierenden 
Elemente  der  Wörter  ergreifenden  Lautverschmelzung  hervorge- 
gangen sind^).  Von  beiden  Formen  ist  die  Wortkomposition  jeden- 
falls die  weitaus  allgemeinere;  vielleicht  ist  sie  auch  die  ältere.  Doch 
über  die  Vorgänge  der  ursprünglichen  Wortkomposition  ist  es  nur 
selten  möglich  mit  zureichender  Wahrscheinlichkeit  Rechenschaft 
zu  geben.  Mag  es  auch  ziemlich  sicher  sein,  daß  Wörter  wie  Ti&rifiL, 
öidcDfÄi  dereinst  Komposita  aus  dem  Verbalstamm  und  einem  Pro- 
nominalelement (.u  gewesen  sind,  und  daß  dieses  Element  mit  den 
selbständigen  Pronominalformen  der  ersten  Person  (.lovy  /.loif  (.li  zu- 
sammenhängt, so  führt  doch  selbst  in  Sprachen  von  so  großem,  eine 
ursprünglichere  Stufe  der  Wortbildung  verratendem  Formenreich- 
tum wie  dem  Sanskrit  und  dem  Griechischen  der  Versuch  einer  ana- 
logen Analyse  der  sonstigen  Wortformen  auf  das  Gebiet  unsicherer 
Hypothesen,  die  natürlich  nicht  zu  Grundlagen  psychologischer  Fol- 
gerungen genommen  werden  dürfen.  Daß  in  Wörtern  wie  Ivoi^u, 
hooai^i,  XvöoifXL  usw.  der  an  gleicher  Stelle  wiederkehrende  ^-Laut 
eine  konstante  Beziehung  zu  dem  in  diesen  Formen  ruhenden  Begriff 
des  Wunsches  hat,  ist  ja  zweifellos.  Doch  welchen  Ursprung  dieses 
i  haben  mag,  das  wird  vielleicht  niemals  mehr  mit  Sicherheit  zu  er- 
mitteln sein.  Jedenfalls  aber  geht  diese  Frage  als  solche  nicht  die 
Psychologie  an,  sondern  die  Sprachgeschichte;  und  erst  wenn  die  letz- 
tere zu  einem  hinreichend  sicheren  Resultat  gelangt  wäre,  würde  es 
auch  an  der  Zeit  sein,  die  psychischen  Prozesse  zu  untersuchen,  die 
bei  der  Bildung  eines  solchen  Wortes  wirksam  waren. 

Hier  trennen  sich  demnach,  wie  überall,  wo  es  sich  um  Probleme 
der  Urgeschichte  handelt,  die  psychologischen  und  die  historischen 
Aufgaben;  und  nahezu  verhält  es  sich  so,  daß  die  Probleme  des  Psy- 
chologen da  beginnen,  wo  die  des  Historikers  aufhören.  Diese  Lage 
würde  vielleicht  schlimmer  sein,  als  sie  wirklich  ist,  wenn  nicht  die 
Psychologie  ihrerseits,  im  Gegensatz  zu  den  teilweise  nach  entgegen- 
gesetzter Richtung  gehenden  Tendenzen  der  Sprachhistoriker,  auch 


^)  L.  Ewald,  Grammatik  der  T'ai  oder  Siamesischen  Sprache,  1881,  S.  20  ff. 
Vgl.  oben  Kap.  IV,  S.  492,  und  hinsichtlich  der  Kllang Variationen  des  Semitischen 
Kap.  III,  S.  361  ff. 

Wundt,   Völkerpsychologie.     I.    4.  Aufl.  ^3 


674  Die  Wortbildung. 

hier  den  Gesichtspunkt  zur  Geltung  bringen  müßte,  daß  die  Grund- 
eigenschaften der  menschlichen  Natur  die  gleichen  geblieben  sind, 
solange  der  Mensch  überhaupt  im  sprachfähigen  Zustand  existiert  hat. 
Sowenig  die  Gesetze  der  Blutbildung  und  Blutbewegung  im  heu- 
tigen menschlichen  Körper  andere  sind  als  in  dem  des  Urmenschen, 
gerade  so  wenig  werden  auch  die  allgemeinen  Gesetze  der  Bildung 
der  Vorstellungen,  der  Gefühle  und  Willens  Vorgänge  andere  geworden 
sein,  seit  solche  psychische  Inhalte  überhaupt  durch  Sprachlaute  oder 
Gebärden  geäußert  werden.  Nicht  als  ob  in  der  Beschaffenheit  der 
Vorgänge  und  in  der  Art  sie  zu  äußern  nicht  gewaltige  Umwandlungen 
vor  sich  gegangen  wären.  Aber  diese  müssen  sich  doch  innerhalb  der 
Grenzen  bewegen,  in  denen  dies  die  allgemeinen  Eigenschaften  des 
Menschen  und  die  Entwicklung,  die  das  menschliche  Bewußtsein 
tatsächlich  erkennen  läßt,  psychologisch  verständlich  machen.  Darum 
ist  nie  zu  vergessen,  daß  es  neben  der  unhistorischen  Anschauung 
der  Aufklärimgszeit,  die  den  Menschen  für  absolut  unveränderlich 
hielt,  noch  eine  zweite,  entgegengesetzte  Art  unhistorischer  Auf- 
fassung gibt:  die  der  Romantik,  die  gerade  der  Sprachwissenschaft 
aus  der  Zeit  ihres  Ursprungs  vielfach  noch  anhaftet,  —  die  Meinung 
nämlich,  daß  der  Mensch  irgend  einmal  seine  Natur  gänzlich  ge- 
ändert habe. 

2.  Wortbildungen  bei  der  Entstehung  neuer  Sprachen 
aus  vorangegangenen. 

Ist  es  auch  unmöglich,  über  die  inneren  und  äußeren  geschicht- 
lichen Bedingungen  Rechenschaft  zu  geben,  unter  denen  die  ursprüng- 
liche Wortbildung  dereinst  in  den  großen  Sprachfamilien,  die  wir 
heute  unterscheiden,  und  in  denen  sich  ein  gemeinsamer  Wortschatz 
nachweisen  läßt,  erfolgt  ist,  so  gibt  es  doch  ein  Gebiet  von  Erschei- 
nungen, das  gewissermaßen  ein  mittleres  genannt  werden  kann 
zwischen  jenen  beiden  Vorgängen,  die  entgegengesetzten  Perioden 
der  Sprachgeschichte  angehören:  zwischen  der  ursprünglichen  Wort- 
bildung und  der  gegenwärtigen  Neuschöpfung.  Das  sind  die  Wort- 
bildungen, die  in  die  Periode  der  Entstehung  einer  solchen  Sprache 
fallen,   die  selbst  aus  einer  vorangegangenen  die   Grundlagen  ihres 


Wortbildungen  bei  Entstehung  neuer  Sprachen  aus  vorangegangenen.     675 


Wortschatzes  übernommen  hat.  Die  schlagendsten  Beispiele  bieten 
hier  die  heutigen  romanischenn  Sprachen.  Ihre  Wörter  stehen 
zwischen  Neubildungen  xmd  Umwandlungen  in  gewissem  Sinne  mitten - 
inne.  Sprachgeschichtlich  betrachtet  sind  sie  freilich  ebensogut  laut- 
gesetzliche Änderungen  lateinischer  oder  teilweise  auch  germanischer 
Wörter  und  Wortverbindungen,  wie  die  neuhochdeutschen  Wörter, 
wo  sie  nicht  neu  entstanden  oder  entlehnt  wurden,  aus  althochdeutschen 
hervorgegangen  sind.  Aber  der  Prozeß  hat  bei  den  romanischen 
Sprachen  dadurch  sein  besonderes  Gepräge  empfangen,  daß  sich  die 
neue  Sprache  aus  Volksdialekten  entwickelte,  die  durch  Sprach- 
mischungen starke  Veränderungen  erfuhren  und  sich  längere  Zeit 
ohne  literarische  Überlief erimg  fortbildeten.  Nun  ist  es  durchaus 
nicht  unmöglich,  daß,  wo  in  älterer  Zeit  Trennungen  verwandter 
Sprachen  stattfanden,  z.  B.  der  verschiedenen  Zweige  der  indoger- 
manischen Familie,  ähnliche  Bedingungen  obgewaltet  haben;  ja  es 
bleibt  nicht  ausgeschlossen,  daß  das  Indogermanische  selbst  dereinst 
in  einer  noch  graueren  Vorzeit  auf  dieselbe  Weise  auf  der  Grundlage 
irgendwelcher  vorher  vorhandener  Sprachen  entstanden  sei.  Doch 
von  der  Nachweisung  eines  solchen  Vorgangs  oder  gar  von  der  Ab- 
leitung einzelner  sprachlicher  Erscheinungen  aus  ihm  kann  niemals 
die  Rede  sein,  weil  jene  Annahme  einer  indogermanischen  Ursprache 
selbst  die  Grenze  bezeichnet,  bis  zu  der  äußerstenfalls  die  prähistorische 
Forschung  mit  ihren  Rückschlüssen  vordringen  kann. 

Dagegen  besteht  der  Wortschatz  der  romanischen  Sprachen, 
soweit  er  sich  auf  das  Lateinische  zurückführen  läßt,  teils  aus  direkten 
Derivaten  lateinischer  Wörter,  die  sich  mehr  oder  minder  stark  in 
ihrem  Lautbestand  verändert  haben,  teils  aus  Wörtern,  welche  sich 
etjnnologisch  als  ehemalige  Komposita  erweisen,  die  zu  vollkommen 
einheitlichen  Bildungen  verschmolzen  sind.  Lautveränderung  und 
Wortverschmelzung  haben  also  hier  zusammengewirkt,  um  das  neue 
Wort  von  seinem  ursprünglichen  Zustande  so  weit  zu  entfernen,  daß 
es  wie  ein  vollkommen  einfaches  und  ursprüngliches  erscheint.  So  in 
Wörtern  wie  franz.  pröne  von  präconium,  benir  von  henedicere,  coucher 
von  collocare,  ruser  von  recusare,  precher  von  prädicare,  chacun  von 
quisque  unus,  ferner  in  zahlreichen  Partikeln  wie  tot  von  tot  cito,  ici 
von  ecöe  hie,  dans  von  de  intus,  sehn  von  suh  longum,  ainsi  von  ckeque 

43* 


676  Die  Wortbildung. 


sie,  dont  von  de  unde,  comme  von  quomodo,  or  von  ad  hora  usw.^).  Nicht 
selten  kann  so  die  mit  dem  Lautwandel  zusammenwirkende  Laut- 
verstümmelung eine  Grenze  erreichen,  bei  der  der  Ursprung  des  Wortes 
unsicher  wird.  Namentlich  gilt  dies  in  solchen  Fällen,  wo  die  Wort- 
kompositionen offenbar  syntaktische  Verbindungen  waren,  die  sich 
allmählich  durch  häufiges  Zusammentreffen  befestigten  und  dadurch 
in  der  Volkssprache  zu  unlösbaren  Einheiten  verschmolzen.  Dahin 
gehören  die  aus  zwei  selbständigen  Wörtern  zusammengewachsenen 
Partikeln,  gelegentlich  aber  auch  Wörter,  die  in  der  modernen  Sprache 
zu  Substantiven  geworden  sind,  wie  das  italien.  noja,  franz.  ennui, 
aus  in  odio,  das  seine  charakteristische  Bedeutung  wohl  erst  in  dem 
Zusammenhang  der  Phrase  ,,€st  mihi  in  odio^^  im  Sinne  von  taedet  me 
„es  verdrießt  mich"  gewonnen  hat 2).  In  andern  Fällen  liegt  jedoch 
der  Wortbildung  ein  bereits  vorhandenes  Wort  zugrunde,  das  in  seiner 
Ursprungsform  noch  deutlich  aus  mehreren  Wörtern  zusammen- 
gesetzt, in  seinem  Endprodukt  aber  zu  einer  völlig  unzerlegbaren 
Worteinheit  verschmolzen  ist.  Die  beiden  Formen  der  Entstehung 
zusammengesetzter  Wörter,  die  aus  den  syntaktischen  Gliedern  eines 
Satzes,  und  die  aus  der  Assoziation  mit  außerhalb  liegenden  Vor- 
stellungen, welche  uns  bei  der  Neubildung  der  Komposita  begegnet 
sind,  kehren  also  auch  hier  wieder  {S.  656).  Wo  immer  aber  solche 
Wörter,  die  der  Zusammensetzung  ihren  Ursprimg  verdanken,  in  der 
Sprache  zu  einheitlichen  Laut-  und  Begriffsgebilden  verschmelzen, 
überall  folgt  die  Wortkomposition  denselben  Gesetzen,  die  wir  heute 
noch  in  der  Sprache  beobachten.  Die  Glieder,  die  das  Kompositum  bilden, 
lösen  infolge  der  festeren  Verbindung,  in  die  sie  treten,  aus  dem  Ganzen 
des  Satzes  sich  ab,  um  dann  in  der  gleichen  Verbindung  in  andere  syn- 
taktische Fügungen  einzugehen;  und  sie  schließen  sich  daher  nach 
dem  nämlichen  Gesetze  dualer  Gliederung  aneinander,  das  die  syn- 
taktische Verbindung  der  Teile  des  Satzes  selber  beherrscht. 

Hiernach  liegt  nicht  die  geringste  Wahrscheinlichkeit  vor  an- 
zunehmen, daß  in  irgendeiner  Periode  der  Sprache  die  Wortbildung 

^)  Vgl.  Diez,  Etymolog.  Wörterb.  der  roman.  Sprachen.*  Darmesteter, 
Formation  des  mots  composi^s.  Meyer- Lübke,  Grammatik  der  romanischen 
Sprachen,  I,  S.  620  ff.  und  an  andern  Stellen. 

>)  Diez  a.  a.  0.  S.  224. 


Wortbildungen  bei  Entstehung  neuer  Sprachen  aus  vorangegangenen.     677 


auf  wesentlich  anderen  Wegen  erfolgt  sei,  als  auf  denen  wir  sie  noch 
heute  vor  sich  gehen  sehen.  Dieser  Wege  gibt  es  nach  allem  Voran- 
gegangenen hauptsächlich  zwei:  die  Neuschöpfung  von  Wörtern 
und  die  Verbindung  vorhandener  Wörter  zu  neuen,  immer  fester 
verschmelzenden  Worteinheiten.  Die  Neuschöpfung  wird  durch 
die  Eigenart  des  Eindrucks  in  ihrer  Abweichung  vom  Vorhandenen 
und  zugleich  durch  Assoziationen  mit  bereits  bestehenden  Wort- 
gebilden im  Sinne  der  Angleichung  an  dieselben  bestimmt.  Bei  der 
Wortkomposition  ist  die  Verbindung  der  Bestandteile  im  Satze 
und  die  unter  dem  Einfluß  der  oben  geschilderten  Assoziations-  und 
Apperzeptionsbedingungen  immer  fester  werdende,  durch  den  gleich- 
zeitigen Laut-  und  Bedeutungswandel  begünstigte  Verschmelzung 
maßgebend.  Beide  Vorgänge  setzen  aber  bereits  vorhandene  Wort- 
bildungen voraus.  Auch  die  prähistorische  Untersuchung,  die  aus 
den  Zeugnissen  der  überlieferten  Sprache  ihre  Rückschlüsse  macht, 
kann  daher  immer  nur  bis  zu  Anfangszuständen  zurückgehen,  für  die 
jene  Voraussetzung  gilt.  Die  Frage,  wie  etwa  der  Mensch  sich  ver- 
halten mochte,  als  es  noch  keine  Vorbilder  gab,  nach  denen  er  Neu- 
schöpfungen vornehmen,  und  keine  Wortgebilde,  aus  denen  er  neue 
Verbindungen  zusammenfügen  konnte,  gehört  deshalb  ebensowenig 
in  die  Sprachgeschichte,  wie  der  erste  Ursprung  des  Menschen  in  die 
allgemeine  Geschichte  der  Menschheit.  Die  psychologische  Betrach- 
tung der  Sprache  kann  allerdings  dieser  Frage  nicht  ganz  aus  dem 
Wege  gehen.  Aber  auch  sie  wird  dieselbe  erst  am  Schluß  aller  der 
Untersuchungen  erheben  können,  die  ihre  eigentliche  Aufgabe  aus- 
machen, und  die  sich  selbstverständlich  immer  nur  auf  Tatsachen 
beziehen,  die  andere,  ihnen  im  allgemeinen  gleichartige  Tatsachen 
zu  ihrer  Voraussetzung  haben  ^). 


^)  Auf    das    Ursprungsproblem    wird    demnach    das    Schlußkapitel    dieses 
Werkes  über  die  Sprache  (Kap.  IX)  zurückkommen. 


Register. 

(Bearbeitet  von  H.  Lindau.) 


Abhängigkeit,  logische  und  anschau- 
liche (zeitliche  und  räumliche)  A. 
und  Syntax  der  Gebärdensprache 
226,  229. 

Abstrakte  Begriffe  sinnlich  veranschau- 
licht 165,  a.  Vorstellungen  (Piderit) 
94. 

Adaptation  443,  507,  580  (vgl.  An- 
passung). 

Adjektivum  2191,  230,  359,  423,  450, 
554,  567,  636. 

Adverbium  207,  220  f.,  325,  554,  653. 

Affekte  43,  45,  51,  531,  56  fl,  81, 
124  fl,  164,  1771,  188,  227,  2431, 
2541,  259  fl,  360,  530,  541,  631, 
646,  Zukunftsa.  64,  A.  von  ge- 
mischtem und  kontrastierendem 
Charakter  102  f.,  sthenische  und 
asthenische,  exzitierende  imd  de- 
primierende A.e  631,  106,  320, 
Gefühlsverlauf  57  ff.,  A.  und  Ge- 
fühl 661,  108,  2801,  A.  und  Vor- 
stellung 98,  131  fl,  2321,  244, 
A.  und  Wille  651,  138,  A.  und 
Akzent  2781,  281,  520,  Lautsteige- 
rung 278,  A.betonung  230,  322  fl, 
637,  A.entladung  271. 

Agglutination  598  f.,  601,  609  f.,  665, 
6691 

Agraphie  544,  552,  572  f. 

Aktivum  365,  609. 

Akzent  (vgl.  Betonung)  273  f.,  356, 
530,    Tona.     273,    672,    Tona.    und 


dynamischer  A.  273,  277,  Tonmo- 
dulation und  dyn.  A.  279  fl,  4931, 
516  fl,  534,  A.  und  Affekt  2781, 
281,  520,  exspiratorischer  A.  2781, 
A.  im  Vokativ  322,  interjektionaler 
A.  324  f.,  A.  auf  der  Stammsilbe 
522,  A. Wechsel  517  fl,  A.  und  Wie- 
derholung 634  f.,  A.  im  Kompo- 
situm 654. 

Alexie  544,  563,  572. 

Amnesie  542  fl,  547,  550  fl,  5631, 
568,  A.  und  Wortkategorien  5541, 
557,  5661,  573. 

Analogiebildung  als  Angleichung  durch 
femewirkende  Assoziation  442,  A. 
durch  stoffliche  und  formale  Aus- 
gleichungen 4421,  A.  und  Laut- 
gesetze 376  fl,  A.  und  Wortent- 
lehnung 469,  A.  und  Assoziation 
382,  4421,  4541,  A.  und  Onoma- 
tomixie  453. 

Angleichung  434,  437  f.,  539,  asso- 
ziative A.  401,  grammatische  442  fl, 
463  fl,  483,  innere  442  fl,  483, 
äußere  442,  445  fl,  483,  621,  be- 
griffliche 4421,  448  fl,  4631,  466, 
470,  483,  durch  Ähnlichkeit  442, 
4481,  468,  durch  Kontrast  442, 
449 1,  468,  Wortassimilationen  470  fl, 
589  ff.,  A.  als  simultane  Assoziation 
457,  assoziative  A.  437,  progressive 
Lauta.  3961,  427. 

Anlagen  (vgl.  Dispositionen)  111, 124  fl, 


Register 


679 


151,  241,  305,  307,  432,  591,  funk- 
tionelle A.  85,  87,  461,  485,  geistige 
17,  physische  561,  erworbene  und 
ererbte  561,  nationale  278  f.,  latente 
486. 

Anpassung  (vgl.  Adaptation)  74,  90, 
408,  410,  437,  A.  an  den  Fluß  der 
Rede  428,  A.  an  die  Artikulations- 
bedingungen 532. 

Antizipation  (vgl.  Vorausnahme)  395  ff., 
403,  424,  426  f.,  586. 

Antlitzmuskehi  (vgl.  Mimik)  82  ff., 
102,  108  ff. 

Aphäresis  424. 

Aphasie  391,  anmestische  542  ff.,  547, 
550  ff.,  563  ff.,  567,  572,  atak- 
tische 542  ff.,  572  f.,  motorische  551, 
572. 

Apokope  424. 

Apperzeption  37  f.,  223,  229,  308  ff., 
371,  397,  430,  458,  477,  553,  561, 
577  f.,  589,  636,  645,  647  ff.,  A.s- 
zentrum  69,  72  f.,  74,  90,  A.sbe- 
dingungen  197  f.,  Entwicklung  309  f., 
apperzeptive  Verbindung  309  f.,  un- 
vollkommene A.  des  Kindes  315, 
willkürlicher  Wechsel  577,  A.  und 
Fixation  577,  Umfang  582,  584, 
simultane  A.  583  ff.,  sukzessive  584, 
Begriffsa.  585  f.,  Worta.  593  f.,  A. 
einer  Gesamtvorstellung  6141,  Be- 
ziehung zur  Phantasietätigkeit  615, 
apperzeptive  Synthese  bei  der  Wort- 
verschmelzung und  Wortzusammen- 
setzung 670  ff. 

Arbeit  und  Rhythmus  282  f.,  A.sge- 
sänge  282. 

Artikulation  264  ff.,  270,  272  ff.,  283, 
286,  290  f.,  293,  304  ff.,  386  ff.,  615, 
individuelle  A.  23,  486,  Substitu- 
tionen 314  f.,  Nachahmung  315  ff., 
328,  rasche  A.  428,  A.  des  Kindes 
(vgl.  Kündersprache)  351,  402,  A. 
bei  offenem  Munde  492,  Wortanfang 
und  -Schluß  503  f. 

Artikulationsbasis  532  f. 

Artikulationsbewegungen  273,  279,  309, 


339,  342  ff.,  364,  371,  407,  409, 
419  f.,  4251,  435,  438,  4991,  543, 
562,  571,  585. 

Artikulationsempfindungen  1501,  282, 
316,  345,  366,  409,  438,  473,  543, 
546,  562,  564,  569. 

Artikulationsfehler  3871,   390  fl,  415. 

Artikulationsgeschwindigkeit    vgl. 
Tempo. 

Artikulationsorgane  vgl.  Sprachor- 
gane. 

Artikulationsspielraum     387  ff.,     530  f. 

Arzneimittel,  volkstümliche  Namen 
4781 

Aspiration  503  fl,  5101,  526. 

Assimilation,  psychische  267,  393, 
4061,  420,  4251,  442  fl,  457  fl, 
496,  515,  591  fl,  619,  6211,  6281, 
physiologische  393,  4061,  420,  4251, 
regressive  3171,  414,  420 fl,  426 fl, 
432  fl,  499,  508,  531,  629,  pro- 
gressive 3171,  414,  420  fl,  426  fl, 
432  fl,  440,  499,  508,  vokalische 
(Vokalharmonie)  432  fl,  437,  4961, 
518. 

Assoziation  371,  53,  78  fl,  93,  112, 
124  fl,  130,  133,  138,  140,  149  fl, 
161,  178,  182 fl,  197,  204,  2091, 
2121,  234  fl,  245,  256,  260,  299  fl, 
308  fl,  3171,  330,  333,  335,  340, 
3441,  349,  358,  361,  365  fl,  370, 
375,  379,  382  fl,  388,  397  fl,  409, 
428,  4331,  436,  439  fl,  4441,  447, 
451  fl,  506,  514,  522,  529,  532  fl, 
537,  552,  555  fl,  561  fl,  583,  585, 
588,  5931,  596,  612  fl,  619  fl, 
645,  650,  655  fl,  zweckmäßig  asso- 
ziierte Gewohnheiten  86  f  f.,  asso- 
ziative Femewirkungen  der  Laute 
s.  Femewirkungen,  Spielraum  der 
A.en  403,  Kontaktwirkungen  415  f f., 
simultane  A.  434,  592,  psychische 
539,  wiederholte  559,  A.  und  Assi- 
milation 5921,  direkte  und  in- 
direkte A.  590,  Gleichheitsa.  308, 
434,  593,  615,  Berührungsa.  302, 
308,    455,     593,    Lauta.     379,    384, 


680 


Register 


402  ff.,  415,  418,  436,  469  ff.,  474 f., 
479,  514,  522,  532  f.,  539,  607, 
641,  645,  657,  Bedeutungs-  und 
Lauta.  435  f.,  Begriff sa.  379,  384, 
404,  418,  451  f.,  469  ff.,  474  ff., 
514,  607. 

Assoziationsgesetze  568. 

Assoziationsmomente,  innere  und 
äußere  443. 

Assoziationspsychologie  455,  458. 

Ästhetik  93,  95,  133  f.,  156,  ästhe- 
tische Motive  425,  Hypothesen 
523  ff. 

Atmung  56,  Innervationen  56,  66,  69, 
A.smuskeln  102. 

Attraktion  426,  433  f.,  440,  446  f., 
452,  460  ff.,  471,  620. 

Attribut  219,  221,  225,  2291,  653, 
656. 

Aufmerksamkeit  48,  58,  84,  128, 
1771,  181,  192,  234,  255,  2901, 
308,  309,  328,  365,  458,  471,  553, 
575,  5771,  5931,  6131,  Ablen- 
kung 394,  525,  schweifende  A. 
402,  zufällige  Richtung  583,  A. 
und  Augenbewegungen  578,  580, 
587  f.,  Wanderung  578,  Wirkungen 
594. 

Ausdrucksbewegungen  43  fl,  140  f., 
144,  231  fl,  241,  243,  365,  396, 
541,  615,  sensorische  Rückwirkung 
77  ff.,  A.  und  Affekt,  psychophy- 
sisch  ein  Vorgang  96,  psychophy- 
sisches  Prinzip  97  f.,  A.  imd  Laut- 
bewegungen 258 ff.,  369 f.,  Ermäßi- 
gung der  Intensität  90,   646. 

Ausgleichung,  formale  443,  A.  der 
Störungen  5601,  566. 

Aushilfe,  fimktionelle  574. 

Auslassung  von  Lauten  394  f.,  414, 
4241  (vgl.  Lautvermengung). 

Ausnahme  529,  535,  grammatische 
A.n  332. 

Aussage  216. 

Ausschaltung  von  Abweichungen  414, 
A.  von  Lauten  424  f. 

Aussprache     (vgl.     Artikulation)     484. 


Ausstoßung  427  f. 

Automatische    Bewegungen    44  ff.,    77, 
82,  88  f.,  a.  Verbindungen  369,  382. 


Bahnung  88. 

Bedeutung  94,  144,  153,  585,  Viel- 
deutigkeit 208  fl,  218,  B.  und  Bild 
235,  B.  und  Laut  312,  330  fl,  3361, 
357,  470,  485,  6191,  622,  korre- 
spondierende Variationen  der  B. 
359  fl,  B.  und  Tonfall  278,  Gegen- 
satz der  B.   442,  Ähnlichkeit  448  f. 

Bedeutungsassoziation  und  Lautasso- 
ziation 436. 

Bedeutungswandel  21,  28,  37  f.,  163, 
169,  191,  200  fl,  208  fl,  231,  244, 
360,  384,  416,  491,  625,  661,  664, 
677. 

Bedingungen,  Komplikation  353, 
413,  485,  487,  Häufung  und  Durch- 
kreuzung 487,  Variation  461  (vgl. 
Experiment). 

Begehrungslaute  343. 

Begriff  181,  184,  186,  2341,  5411, 
komplexe  B.e  29,  B.  und  Laut 
3681  (vgl.  Bedeutung),  B.  und 
Wort  4691,  596,  Versinnlichungen 
217,  Angleichung  442  f.,  448  fl, 
4631,  466,  468,  470,  4821,  Neben- 
wirkungen 475  ff.,  Kategorien  beim 
Vergessen    5541,    557,    5661,    573. 

Begriffsapperzeption  585  f. 

Begriffsassoziation  379,  384,  404,  418, 
4511,   469  fl,   474  fl,    514,   607. 

Begriffsbestandteile    des    Wortes    569. 

Begriffsbeziehungen  200  fl,  206  fl, 
216. 

Begriffsbildung  298  f.,  302. 

Begriffselemente  608,  B.    und    Laut- 
elemente 464  ff. 

Begriffsgefühle    563,    566  f.,    571,    573. 

Begriffsgegensatz  466. 

Begriffsmodifikationen  463. 

Begriffsverschiebung  642. 

Begriffsverstärkung  640. 


Register 


681 


Begriffsverwandtschaft  443,  Anglei- 
chung    durch    B.    448  f.,    466,    468. 

Begriffsvorstellung  569  f.,  B.  und  Wort 
585. 

Begriffszentrum  545. 

Beharrungsvermögen  der  Wörter  554  ff., 
557,  566  f.,  573. 

Bejahung  188  f.,  190. 

Bekanntheitsgefühl  564,  567. 

Benennung  283,  288  f.,  297  f.,  302, 
308,  312,  479. 

Bequemlichkeit  376  ff.,  425,  426,  525  f., 
608. 

Berufskreise    und    Sprache    618,    623. 

Beruhigung  50,  53,  58  f.,  62  ff.,  105, 
107,  118,  129. 

Berührungsassoziation  302,  308,  455, 
593. 

Beschleunigung  der  Artikulations- 
bewegungen    432,    435,    499  f.,    504. 

Betonung,  (vgl.  Akzent)  422,  484, 
497  ff.,  526,  639,  642,  646,  relative 
Dauer  und  relativer  Grad  389,  ex- 
spiratorische  B.  279,  Wechsel  494, 
517  ff.,  532,  534  f.,  B.  und  Laut 
607,  B.  der  Nachbarlaute  514,  517, 
dynamische  B.  und  Tonmodulation 
277  ff.,  493  f.,  516  ff.,  534. 

Bevölkerungslehre  6. 

Bewegungsempfindungen  270  f.,  308, 
409,  438,  543,  569,  571. 

Bewußtsein,  Schwelle  459  f.,  individu- 
elles B.  574,  Vorerlebnisse  593, 
Gesamtrichtungen  594,  (conscien- 
tia)  625  f.,  B.  und  Übung,  allmäh- 
liche Verdunkelung  der  Willenshand- 
lungen 88  f. 

Bewußtseinsenge  429  ff.  (vgl.  Apper- 
zeption). 

Bewußtseinsvorgänge,  Analyse  35, 
B.  imd  Dispositionen  591  ff. 

Beziehungselemente  471,  483,  594  ff., 
602,  608,  620  f.,  B.  und  Grundele- 
mente 462  ff.,  469  f. 

Beziehungs-     imd    Begriffsworte     596. 

Bilderschrift  143,  161,  177,  179,  187, 
199,  238,  240  ff.,  584. 


Büdung  25,  390,  408. 

Biographie  3,  36. 

Bitter   112  ff.,    116  ff.,    120,    124,    127, 

130. 
Brief  247  f.,  251. 
Brocasche  Windung  541  f.,  546. 
Buchstaben  580,  588  f.,  609. 
Buchstabenbezeichnung  506,  511. 
Buchstabenkombinationen   581  f.,    586. 
Buchstabieren  585,  589. 


Charakterologie  2,  8,  495. 


Darstellende  Gebärden  164,  170  ff., 
2311,  238,  d.  Zeichen  242,  246. 

Dauer  (vgl.  Durativ)  642,  D.  der  Be- 
tonung 389. 

Demonstration  vgl.  Hinweisung,  de- 
monstrative Wurzeln  597  f. 

Demonstrativlaut  294  f. 

Demonstrativpronomen  350,  355  ff. 

Demonstrativzeichen  170. 

Demut  87,  91,  Demütigimg  158. 

Denken  (vgl.  Apperzeption)  30,  125, 
459,  D.  und  Sprechen  427,  429, 
433,  472  f.,  498,  562,  614  f.  (vgl. 
Begriff,  Artikulation  usw.). 

Dentallaute  492. 

Depression  63  f.,  70,  106,  108,  119, 
122,   124,    130,    132,    136,   320,   365. 

Determination  durch  Gebärden  (Hilfs- 
gebärden)  201  ff. 

Deutebewegung  137. 

Deutewurzeln  597. 

Deutlichkeit  577,  581  f.,  594. 

Dialekt  144,  146,  153,  162  f.,  335, 
382,  393,  407,  409,  446,  448,  450, 
473,  490,  494,  511,  517,  522,  533, 
619,  623,  631,  675,  D.  imd  Schrift- 
spräche  399,  D.mischung  482. 

Diminutivbildungen  400. 

Disposition  459  f.,  588,  590  ff. 

Dissimilation  der  Laute  318,  414, 
420,  434  ff.,  451,  506,  508,  515, 
628,     eigentliche     D.     (Lautwechsel 


682 


Register 


ohne  Lautverlust)  435  ff.,  voka- 
lische und  konsonantische  D.  437, 
regressive  und  progressive  D.  420  f., 
423  f.,  Hauchd.  423. 

Dual  648  f. 

Durativ  640,  651  f. 

Dynamische  Betonung  und  Tonmodu- 
lation   278  ff.,    493  f.,    516  ff.,    534. 

Dyslalien  391,  393  (vgl.  Artikulations- 
fehler). 


Echosprache  287,  293,  298,  307,  312, 
316,  328,  339,  563,  572. 

Eigennamen  554,  566. 

Eigenschaft  (vgl.  Adjektivum)  201, 
205,  219,  229  f.,  565,  567,  604,  636  ff., 
661,  662,  Lautabstufung  359  f.,  Stei- 
gerung 643,  645. 

Einschaltung  von  Lauten  (vgl.  Dis- 
similation, Lautvermengimg)  394  f., 
402  f.,  414,  420,  424,  427,  437, 
E.  von  Wörtern  556,  assoziative 
E.  558. 

Einzellaute  529. 

Einzelvorstellung  592  ff.,  619  ff. 

Elision  421,  424,  435  ff.,  501  ff.,  514, 
516,  518,  523. 

Ellipse  659  f. 

Empfindung  48,  70,  73,  79,  81,  83, 
124  ff.,  290  f.,  341,  364,  562,  564, 
583,  Laute,  und  Artikulationse. 
316,  E.selemente  588,  590,  E.  und 
Dispositionen  591  f.,  E.  xmd  Reiz 
592. 

Entfernung,  Lautabstufung  zur  Be- 
zeichnung   der    E.    350,    355,    358. 

Entlehnung  s.  Wortentlehnung. 

Entschlüsse  124. 

Entwicklung,  individuelle  126,  gene- 
relle 47,  126,  geistige  20,  491,  so- 
ziale 485,  E.  der  Sprache  533  f.,  E.s- 
gesetze  4. 

Epos  276  f. 

Erfindung  17,  19,  143,  148,  161,  191, 
199  f.,  234,  2411,  253,  256  f.,  290  ff., 


298  ff.,    303,    310,    313,    339  f.,    369, 

379,  618,  622  f.,  641. 
Erinnerung  58  f.,   145,   147,   236,   456, 

586,    612,    614  f.    (vgl.    Vergessen). 
Erinnerungsassoziation      379,      657  f., 

668. 
Erinnerungsbild     79,     94,     126,     131, 

140,   178,   238,   243  ff.,   456,   547  ff., 

565,  571,  573,  583. 
Erinnerungsnamen  658. 
Erkennen,  Zeit  580  f.,  588  f. 
Erkennungsgefühle  59. 
Erkennungsnamen  658. 
Erregung    50  f.,     53  f.,     58  ff.,     70  ff., 

80,  84,  104 ff.,  118,  121,  124,  128  ff., 

132,     136,    2691,    286,     343,     365, 

Zimahme   81  fl,    tonische   E.    73  fl, 

99,    101,   119,   E.   und  hohe  Vokal- 
klänge 320. 
Erregungsgefühle  5931 
Erregimgsinnervation  99. 
Erregungssymptome  99  f f.,  104  ff. 
Erstaunen  103. 
Erwartung  541,  57  fl,  64,  1061,  121, 

1281,  286. 
Erzählung  166,  2051,  323,  637. 
Essen,     Bezeichnung    für    E.     294  fl, 

3461 
Ethnologie  2,  4,  6,  8,  35,  223. 
Etymologie     135,     162  fl,     377,     436, 

475,   605,   Volkse.    4701,   474  fl 
Experiment    341,    52,    4031,    4291, 

443,   461,   503,   505,   513,   519,   531, 

561,  577,  580,  587,  591,  610,  Übung 

580. 
Explosivlaute  492,  503  ff.,  513. 
Expositionszeit  des  Sehobjekts  579  fl, 

587. 
Exspirationsdruck  507. 
Exzitierende    Affekte    (vgl.    Erregung) 

631,  106,  108,  119. 


Falltachistoskop  578  f. 

Farben,   Gefühlseigenschaften   53,   271. 

Femewirkimg,    assoziative    415,     418, 


Register 


683 


4361,    439,    441  ff.,    468  f.,    481  ff., 

487,    494,    505,    508,    514,    529  ff., 

534  f.,  539,  656. 
Fixation  und  Apperzeption  577. 
Fleck,  blinder  576. 
Flektierender  Wurzeltypus  599. 
Flexion   659,   F.ssprachen   600  f.,    610. 
Form-  und  Stoffelemente  der  Sprache 

601  f. 
Formgesetze  454. 

Formlose    und    Formsprachen    601  ff. 
Formwurzeln  597  ff. 
Frage  278, 
Fremdwort    399,    409  f.,    423  f.,    437, 

471,  473,  482,  618  f.,  622,  624,  640. 
Furcht  64,  121,  269,  360. 


Gaunersprache  157  f.,  161,  251  f.,  617  ff. 

Gebärden,  hinweisende  135  ff.,  nach- 
bildende 164  ff.,  symbolische  164  ff., 
zeichnende  157  ff.,  mitbezeichnende 
164  ff.,  plastische  170  ff. 

Gebärdenfolge  216  ff. 

Gebärdensprache  43  f.,  143  ff.,  383, 
Syntax  216  ff.,  603,  G.  und  Laut- 
sprache 135,  143  f. 

Gebet  158,  276,  321. 

Gedankenflucht  556. 

Gefäßinnervation  56,  66,  69,  81,  104, 
106. 

Gefühle  18,  26,  37  f.,  43,  48,  50  ff., 
81,  86,  89  f.,  92,  97  f.,  107  ff.,  123  ff., 
177,  303,  312  f.,  337,  341  ff.,  541, 
647,  651,  Symptomatik  56,  G., 
Affekt  und  Willenshandlung  66,  G. 
und  Wille  (Hughes)  97,  Zentral- 
organ 67  ff.,  73,  Intensität  imd 
Qualität  98,  beschleunigter  Verlauf 
100,  Hemmung  101,  G.  und  Affekt 
255,  281,  Differenzierung  der  G. 
261,  Ausdrucksmittel  498,  Beweg- 
lichkeit 534,  Begriff sg.  563,  566  f., 
571,  573,  G.  und  Aufmerksamkeit 
593  f.,  G.  und  Vorstellung  60,  98, 
348  ff.,  366  f.,  573  (vgl.  Gefühls- 
ton), G.  und  Wort  596. 


Gefühlsassoziationen    349,    366,    370  f. 

Gefühlsbetonung  356,  366,  641  (vgl. 
Gefühlston). 

Gefühlsfärbung  der  Wörter  330,  567, 
573. 

Gefühlslage  530,  Indifferenzpunkt  50  f., 
61  f.,  75,  99,  G.  und  Rede  273,  G. 
und  dunkler  Bewußtes  430. 

Gefühlslaute  259  ff.,  289,  304,  307, 
315,  319  f.,  326  f.,  343. 

Gefühlston  362,  364  f.,  570,  639  ff., 
G.  und  Affekt  259,  261,  G.  und 
Vorstellung  und  Laut  348  ff. 

Gefühlswert  der  Farben  53,  271,  der 
Laute  336,  der  Vokale  330,  der 
Worte  567,  573. 

Gegensatz  (vgl.  Kontrast)  87  f.,  90  f., 
99,  104  ff.,  108,  359  f.,  362,  365, 
442  f.,  447,  449  f.,  G.  der  Gefühls- 
symptome 70  f.,  qualitativer  G.  420, 
G.  der  Begriffe  466. 

Gegenstandsbegriffe  201,  203  f.,  219, 
221,  228  ff.,  324,  565,  604  f.,  636, 
649,  660  ff. 

Geheimschrift  252. 

Geheimsprache    157  f.,    167,    253,    619. 

Gehirn  67  ff.,  561,  G.läsionen  561, 
G.  Physiologie  547,  558. 

Gehör  575,  586. 

Gehörsempfindungen  473,  553. 

Geist  imd  Seele  7  ff. 

Geisteskranke,  Sprache  393,  395,  398, 
402,  404,  556. 

Geisteswissenschaften  7  f.,  26,  27  ff., 
33. 

Gemeinempfindungen  85. 

Gemeinschaft  533  f.,  G.  und  Indivi- 
duum 4,  11,  15  ff.,  19  ff.,  385,  389, 
G.  der  Sprache  382,  389,  404  f., 
411,  415,  453,  473,  485,  535,  G. 
und  individuelle  Sprachschöpfung 
627. 

Gemination  (vgl.  Verdoppelung)  628, 
G.  eines  Konsonanten  im  Vokativ 
323. 

Gemütsbewegungen  vgl.  Affekte. 

Genitiv  221,  450  f. 


684 


Register 


Geräuscheharakter  des  Sprachlauts 
389. 

Geräuschlaute  504,  506. 

Geruch,  Reaktionen  115,  G.sempfin- 
dungen  126  ff. 

Gesamtbegriff  478. 

Gesamtvorstellung  324,  585,  611  ff., 
654  ff. 

Gesang,  Vögel  260  f.,  Mensch  272, 
274  ff.,   390,   G.  und   Sprache  281  f. 

Geschichte  (vgl.  Sprachgeschichte)  3, 
5  f.,  11  ff.,  19  f.,  33,  36  f.,  39,  241, 
geschichtliche  Veränderiuigen  und 
Experiment  505. 

Geschichtsphilosophie    5  f.,     18,    32  ff. 

Geschmack  441,  111  ff.,  124  ff.,  291, 
304. 

Gesetze,  soziologische  21,  empirische 
3741 

Gesetzmäßigkeit  3,  252,  332  f.,  3731, 
516,  5351,  559. 

Gesichtsmuskehi    1021,     109  ff.,    240. 

Gesichtssinn  1271,  1501,  564,  575, 
586. 

Gewissen  (conscientia)  625  ff. 

Gewohnheit  38,  88,  118,  147,  383, 
395,  4021  491,  569,  5801,  zweck- 
mäßig assoziierte  G.en  86  ff. 

Gewöhnung  24,  386,  530. 

Gleichheitsassoziation  308,  434,  593, 
615. 

Gleichklang  476,  478. 

Grammatik  18,  331,  374,  376,  380, 
383,  417,  424,  461,  529,  596,  602, 
604  ff.,  632,  G.  und  Gebärdensprache 
171,  2001,  216  fl,  Angleichungen 
442  fl,  463  fl 

Greif bewegungen  136  f.,  231,  242,  Hin- 
weisimg  und  G.  137,  231. 

Greiforgane  238. 

Grundbegriff  und  Wurzel  597  f. 

Grund  elemente  und  Beziehungsele- 
mente 462  fl,  469  f.,  483,  594  fl, 
602,  608,  619  ff. 

Grundsprache,     hypothetische     603  ff. 

Gruß  1891 

Gutturallaute  489. 


Handeln,  willkürliches  16,  77,  261 
zwecktätiges  426,  433. 

Handlung  vgl.  Verbum. 

Handwerksburschensprache  618. 

Harmonie  269,  274  f. 

Harpokrates  179. 

Hauchdissimilation  423. 

Hauptvorstellung  476,  479. 

Hautempfindungen  92  f. 

Hemmung  70  ff.,  80,  101,  569,  durch 
den  Willen  396  f.,  402,  403,  562, 
H.  der  Artikulationsbewegungen  504, 
der  Assimilationen  583,  der  Wort- 
vorstellungen    beim    Schreiben    586. 

Hemmungserscheinimgen  89. 

Hemmungsgefühle  60,  63  f. 

Hemmungsinnervation  83,  99  ff. 

Hemmungsnerven  72. 

Hemmungssymptome  98  ff.,  104  ff.,  130. 

Herzbewegungen  56,  99  f. 

Herzinnervationen  66,  69,  71,  731, 
81,  103  fl 

Hieroglyphen  179,  245  f. 

Hilfsgebärden  und  Hauptgebärden 
201  fl,  226. 

Hilfszeitwörter  610. 

Hmweisende  Gebärden  135,  137,  141, 
1571,  164,  166  fl,  184,  207,  215, 
220,  224,  2311,  2351,  2381,  2411, 
245  f.,  249,  369,  h.  Lautgebärden 
348,  364  fl,  369,  371,  Greifbewe- 
gungen  und   h.    G.    1361,    231. 

Hiphil  362  f.,  365. 

Hirnzellen  547  f.,  555. 

Historismus  333,  336,  674. 

Hitpael  362  ff. 

Hochmut  119  f.,  129,  194. 

Hoffnung  64,  87,  121,  124. 

Höflichkeit  156. 

Hophal  362  ff.,  365. 

Hören  584  f.,  H.  imd  Sprechen  409, 
473,  sukzessives  H.  585. 

Hörstummheit  316. 

Hörzentrum  543,  545. 

Hypothesen  9,  81  fl,  429  fl,  522  fl, 
538,  607,  teleologische  H.  367  ff., 
I       523  ff. 


Register 


685 


Illusionen  458,  590. 
Imitative     Bewegungen     s.      Nachah- 
mung. 
Imperativ  324. 
Indianer     179,     187,     196  ff.,     223  ff., 

247  ff.,  492.^ 
Indifferenzpunkt  der  Gefühlslage  50  f., 

61  f.,  75,  99. 
Individualismus    19  f.,    24,    31  f.,    486. 
Individualpsychologie  1  f.,  18  ff.,  25  f., 

31  ff.,  458. 
Individuum   und    Gemeinschaft   4,    11, 
15  ff.,    18 ff.,    385,    389,   indiv.    Ein- 
flüsse   453  f.,    indiv.    Abweichungen 
387  f.,    486,   indiv.    Sprachschöpfung 
und  Gemeinschaft  627. 
Induktion    der    Laute    s.    Lautinduk- 
tion. 
Innervation     der     Ausdrucks  bewegun - 
gen    66  ff.,    klonische    und    tonische 
L  99. 
Innervationsänderungen     52,     56,     66. 
Innervationsstörungen  391  f. 
Instinktäußerungen  138. 
Instrumente,   musikalische   283,    Stim- 
mung 498. 
Intellektualismus    18  ff.,   28  f.,   30,   64. 
Intensivbildungen  646. 
Intensivum  638  ff.,  650. 
Interferenzerscheinungen  89,  334,  452, 

457. 
Interjektionen  343,   567,   573,  primäre 
319  ff.,    326  f.,    365,   sekundäre   319, 
321  f. 
Isolierender  Wurzeltypus  598. 
Iterativ    362  f.,    365,    609,    638,    640, 
650  (vgl.  Wiederholung). 


Judendeutsch  406. 
Jurisprudenz  5,  Sprache  624. 
Juxtaposition  659. 


Kampfgesang  283. 

Kasus  653,  K. formen,  Reduktion  444, 
461. 


Kategorien,  logische  200  f.,  204  f., 
207  ff.,  218,  grammatikalische  217  ff., 
gramm.  K.  imd  Gedächtnis  554  f., 
557,  566  f.,  573. 

Kauderwelsch  617. 

Kausalität,  psychische  375,  Umkehrung 
der  K.  523. 

Kausativum  362  ff.,  609,  639. 

Kehllaute  489. 

Kehltonschreiber  507. 

Kennzinken  161,  251. 

Kind,  Greif  bewegimgen  136  f.,  231, 
242,  Ausdrucksbewegungen  138, 
165  f.,  242,  Artikulation  272  f.,  Re- 
zitation 274,  Sprachlaute  283  ff., 
Lautbildimg  283  ff.,  Sprechenlemen 
393,  Lesenlemen  589  f. 

Kindersprache  31,  288  ff.,  397,  399  ff., 
406  ff.,  427,  432  f.,  437,  473,  492, 
505,  513,  605,  629  ff.,  633,  pro- 
gressive Lautangleichungen  397, 
falsche  Wortbildung  399  f. 

Klangassoziation  629. 

Klangfarbe  359,  504,  506  f.,  530,  K. 
der  Nachbarlaute  514,  518,  K.  und 
Tempo  518  f. 

Klangqualität  493. 

Klangvariation  672  f. 

lOangverbindung  349. 

KoUektiva  635  ff. 

Kollektivbegriff  648  f.,  K.  und  Laut- 
wiederholung 642  f. 

Kombinatorischer  Lautwandel  416,  426, 
432,  502  f.,  529. 

Komparativ  451,  460,  637. 

Komplikation  615,  647  ff.,  K.  der 
Bedingungen  353,  413,  487,  536, 
K.  der  Ursachen  403,  417,  485, 
519,  K.  der  Angleichungsvor- 
gänge  450,  K.  der  Vorstellungen 
564. 

Komposita  451,  652  ff. 

Konjugationsformen  362  f. 

Konjunktionen    222,    228,     554,     567. 

Kontaktwirkungen  der  Laute  315  ff., 
332,  415  ff.,  425  ff.,  441,  451,  453  f., 
457,    486  f.,    494,    499  f.,    502,    505, 


686 


Register 


506,  508,  514  ff.,  526,  528,  530  ff., 
535  f.,  539,  640,  656,  differenzie- 
rende Wirkung  532  f. 

Kontamination  394,  557. 

Kontinuativ  640. 

Kontraktion  424  f.,  427  f.,  523. 

Kontrast  (vgl.  Gegensatz)  87  f.,  90  f., 
359  f.,  362  f.,  466,  468,  K.bedeu- 
tungen  159,  Angleichung  durch  K. 
442,  Grenzfall  der  Verwandtschaft 
449,  K.wirkung  und  Selbstverstär- 
kung 519. 

Konvention  160  f.,  182,  191,  199,  204, 
208,  222,  234,  238,  369,  498. 

Koordination  653  f. 

Körper  und  Seele  49,  541. 

Kultlied  282. 

Kulttanz  276,  282  f. 

Kultur  7,  36  f.,  39,  245,  251  f.,  276, 
432  f.,  439,  482,  485,  488,  490  ff., 
569,  623  f.,  Ermäßigung  der  Affekte 
89,  höhere  und  niedrigere  K.  494  f., 
K.  imd  Artikulationsgeschwindig- 
keit  497,  533,  ältere  und  jüngere, 
höhere   und  niedrigere   K.    500. 

Kultureinflüsse  517,  534  f. 

Kultur-    und    Sprachentwicklung    499. 

Kulturfortschritt,  Maß  500. 

Kulturgeschichte  3,  241  f. 

Kultursprachen  494  f.,  499,  531. 

Kulturvölker  13  f.,  535,  623,  Inter- 
jektionen 320,  Vater-  imd  Mutter- 
namen 327  ff.,  Lautsteigerung  354  f. 

Kultus  276  f.,  282  f. 

Kunst  24,  36  f.,  39,  183,  187,  238  ff., 
2421,  245,  275  ff.,  281,  623,  nach- 
ahmende Künste  164,  künstliche 
Gebärdensprache  161,  162,  199, 
205. 

Kunstgesang  266,  272  f. 

Kunstgeschichte  3,  241. 

Kunstwerk  20. 

Kuß  190. 


Lachen  91,  114  ff.,  127,  138. 
Lähmimg  45,  75,  83,  102. 


Lakonismus  401. 

Langsamkeit  der  Zeichenfolge  226, 
228  ff.,  L.  der  Rede  498  f. 

Lärminstrumente  283. 

Lässigkeit  525. 

Latein,  Literjektionen  320,  L.  und 
romanische  Sprachen  495. 

Laut,  Gefühlston  348  ff.,  354,  L.  und 
Bedeutung  312,  329  ff.,  336  f.,  356, 
383  f.,  470,  485,  619  f.,  622,  kor- 
respondierende Variationen  359  ff., 
Divergenz  522,  Verbindung  der  L.e 
und  Tempo  502  f.,  L.  und  Betontmg 
607. 

Lautabschwächungen  414. 

Lautabstufung  und  Entfernung  350, 
355,  358. 

Lautanalogien   607   (vgl.   Analogie). 

Lautänderungen,  Verschlußlaute  502  ff., 
L.  imd  Akzentwechsel  517  ff.,  sin- 
gulare L.  528  ff. 

Lautangleichung  (vgl.  Angleichung) 
406  ff.,  476,  478,  532,  Hauptfor- 
men 462  ff.,  progressive  L.  397,  427, 
physiologische   Einflüsse   467  f. 

Lautartikulation     (vgl.     Artikulation) 
264  ff.,  272  ff.,  293,  585  f.,  615. 

Lautassimilation   vgl.    Assimilation. 

Lautassoziation  379,  384,  402  ff.,  415, 
418,  435  f.,  469  ff.,  474  ff.,  479, 
514,  522,  532  f.,  539,  607,  640  f., 
645,  657. 

Lautattraktion  s.  Attraktion. 

Lautauslassung  s.  Lautvermengung 
(b). 

Lautausstoßung  427  f. 

Lautbestandteile  des  Wortes  569, 
571  f. 

Lautbild  329  ff.,  338  f.,  344  f.,  347, 
354,  409. 

Lautbildung,  Stadien  beim  Kinde 
283  ff.,  individuelle  Abweichungen 
387  f.,  Störungen  390 ff. 

Lautdauer,    zeitl.    Variation    389,   413. 

Lautdifferenzierung  353,  konsonan- 
tische L.  521. 

Lautdissimilation  vgl.   Dissimilation. 


Register 


687 


Lauteinschaltung  vgl.  Lautvermen- 
gung  (a). 

Lautelemente  463  ff.,  608  (vgl.  Ele- 
mente). 

Lauterschwenmgen  391  ff. 

Lautgebärden  343  ff.,  361  ff.,  369, 
370  f.,  383,  619,  621,  633,  645,  nach- 
bildende L.  3471,  364,  366  f.,  369, 
370  f.,  hinweisende  347  f.,  364  ff.,  369, 
370  f. 

Lautgesetze,  Ausnahmslosigkeit  334, 
373  ff.,  412,  416  f.,  454,  514,  522, 
529,  537,  539. 

Lautinduktion  457,  463  f.,  534,  656, 
regressive  und  progressive  Assimi- 
lation 419  ff.,  regressive  imd  pro- 
gressive Dissimilation  419  ff.,  L. 
und  verwandte  Änderungen  der 
Lautgestalt  (Weglassung,  Zufti- 
gung,  Umstellung,  Zusammen - 
Ziehung)  424  f.,  psychophysische  Theo- 
rie 431  ff. 

Lautintensität  s.  Lautstärke. 

Lautmetaphem  344,  383  f.,  619,  na- 
türliche 348  ff.,  künstliche  348  f. 

Lautnachahmung  288,  307  f.,  328,  363  f., 
633,  645,  L.en  in  der  Sprache  329  ff., 
L.  und  Lautmetapher  348  f.,  354, 
L.  von  Geräuschen  360. 

Lautschrift  584. 

Lautschwächungen  500  ff.,  503  f.,  514, 
516. 

Lautschwankungen  506. 

Ijaut spräche  und  Gebärdensprache  135, 
143  f. 

Lautstärke,  Variationen  389  f.,   413. 

Lautsteigerung  und  Entfernung  350, 
355,  358. 

Lautsymbole  344,  370. 

Lautsystem  307,  313,  Änderungen 
491,  L.  und  grammatisches  System 
494  f. 

Lautumgebung  530. 

Lautumstellung  s.  Laut  vermengung  (c). 

Laut-    und    Begriffsumwandlung    (vgl. 
Lautwandel,         Bedeutungswandel) 
481. 


Laut  Variationen  634,  L.  zur  Bezeich- 
nung von  Modifikationen  350  f., 
L.  und  Aneinanderreihung  der 
Laute  504. 

Lautverdoppelung  627  ff.  (vgl.  Laut- 
wiederholung). 

Lautverlust    und    Lautwechsel    434. 

Lautvermehrung  und  Lautwechsel  434. 

Lautvermengung  388,  391,  393  ff., 
414,  427,  453,  555,  457,  a)  Ein- 
schaltungen 394  f.,  402  f.,  414,  420, 
424,  427,  437,  b)  Auslassungen 
394  f.,  414,  424  f.,  c)  Umstellungen 
394  ff.,  4241 

Lautverschärfung  503. 

Lautverschiebung  496,  509  fl,  523, 
erste  gemeingermanische  509  ff. , 
515,  5201,  524,  527,  zweite  hoch- 
deutsche 509,  5111,  525,  Bantu- 
sprachen  515  fl,  521. 

Lautverschmelzimg  673. 

Lautverstärkung  639  f.,  (vgl.  Laut- 
steigerung). 

Lautverstümmelung   314  ff.,    437,    676. 

Lautvertauschungen,  Kindersprache 
314  fl 

Lautvertretungen  3921,  406,  496. 

Lautvorstellung  569,  585. 

Lautwandel  21  fl,  346,  356  f.,  372  fl, 
594,  664,  6761,  L.  und  Laut- 
wechsel 385  fl,  413,  Grundformen 
des  generellen  L.s  412  ff. ,  regulärer 
L.  412  fl,  484  fl,  539  f.,  singulärer 
4131,  416  fl,  487,  530  fl,  selbstän- 
diger und  abhängiger  (kombina- 
torischer) L.  4161,  426,  432,  5021, 
505,  529,  L.  und  Bedeutungswandel, 
Wechselwirkung  416. 

Lautwechsel  385  fl,  413,  469,  486, 
509,  L.,  Lautverlust  und  Lautver- 
mehrung 434. 

Lautwiederholung  2861,  311,  313,  319, 
422  fl,  432,  435,  627  fl,  632  fl, 
645,  672. 

Lehnwörter  404,  406,  491,  618. 

Leiden  (Pual)  362,  L.  und  Tätigkeit 
360,  365. 


688 


Register 


Lesen  576,  580  ff.,  L.  und  Sprechen 
562  f.,  L.  und  Artikulation  572, 
sukzessives  L.  577,  Gewohnheit 
580  ff.,  buchstabierendes  L.  585, 
Kiemen  589  f. 

Lied  2761,  2811 

Linguallaute  492,  503,  505. 

Linguistik  331  fl 

Linkshändigkeit  und  Lage  der 
Sprachzentren  543. 

Lippenlaute  492,  503,  505. 

Literatur  13,  20,  36,  241,  453,  484,  L.- 
geschichte  3,  20,  241,  L.  spräche  494. 

Lockrufe  259  fl,  2741 

Logische  Abhängigkeit  226,  1.  Zwecke 
228. 

Logizismus  18. 

Lokalisationshypothesen,  Unzulänglich- 
keit 549  ff.,  562. 

Lösung  501,  541,  57,  59  fl,  64,  70, 
1071,  117,  118,  1211,  128  fl,  271, 
282. 

Lust  und  Unlust  50  fl,  57  fl,  70, 
72,  94,  106,  107,  111  fl,  118,  1231, 
1271,  130,  243,  260,  2631,  270, 
282,  285  fl,  291,  293,  304,  308, 
L.äußerungen  285. 


Magyarisch,  Volksharmonie  497. 

Märchen  13,  637. 

Mechanismus     24,     380,     425  f.,     429, 

4541,  468,  475,  504  fl,  5321 
Medizm  624. 
Medizinmann  240. 
Mehrheitsbegriffe     und     Reduplikation 

6421 
Melodie  268,  272,  277,  279  ff. 
Messingisch  399. 
Metaphern    941,     1241,     127,    3441, 

348  fl,  3651,  369,  394,  669. 
Metathesis  424. 
Metrum,  poetisches  501. 
Mienenspiel  (vgl.  Mimik)  75,  155,  343. 
Mimik   691,    75  fl,    84,    91  fl,    1021, 

108  fl,    136,    1771,    1811,    192  fl, 

209,  217,  220,  240,  243  f.,  258,  288, 


304,   344  fl,   488,  mimische  Reflexe 

112. 
Mischbevölkerung  495. 
Mischsprachen  404  fl,  494  f.,  523  (vgl. 

Sprachmischimg ). 
Mischung   und   Berührung   der   Völker 

496,    M.    der    Sprachen    s.    Sprach- 
mischung. 
Mitbewegungen    44  fl,    77,    138,    14Ö, 

243,    316,    343,    402,    559,    573,    M. 

und  Antwort  254  ff. 
Mitbezeichnende    Gebärden    164,    171, 

178  fl,   1841,   207,  209,  233. 
Miterregungen  80. 
Mitgefühl  138. 

Mitübung  440,  467,  559,  573. 
Modulation  vgl.  Tonmodulation. 
Motive,    Wandel    18,    Vervielfältigung 

45  f.,  Wahl  59,   Streit  90,  255,  375, 

Wechsel  255. 
Mund    3461,    Muskehi     103,     109  fl, 

120,   123,  Artikulation  mit  offenem 

M.e  383. 
Mundbewegungen  111,  127. 
Musik    265  fl,     274  fl,     Tempo    498, 

musikalischer  Sinn  525. 
Musikinstrumente  283. 
Muskelbewegungen  44. 
Muskelempfindungen  126. 
Mutation  485,  497,  515. 
Mutter,  Bezeichnung  327  fl,  334,  345, 

350  fl 
Mythologie    20,    241,    271,    29,    33, 

276,  331. 
Mythologisches    Denken     7,     9,     171, 

38,  383. 
Mythus    3,    7,    121,    17,    19,    24,    26, 

28,  36. 


Nachahmung  211,  24,  135,  137  fl, 
238,  244,  245,  248,  266,  2731,  277, 
2881,  2931,  298,  3071,  310,  312, 
344,  383,  nachahmende  Gebärden 
1641,  167,  170,  231  fl,  270,  290, 
zeichnende  und  plastische  170  fl, 
183,    209,    N.     und    Antwort    256, 


Register 


689 


N.  und  deutliches  Sehen  313, 
nachahmende  Sprachbewegungen 
315  ff.,  N.  der  Lautartikulation  328, 
N.  des  Lautes  durch  den  Laut  337, 
willkürliche  N.  339  f.,  343,  nach- 
ahmende Lautgebärden  347  f.,  364, 
366  f.,  369,  371. 

Nachbildende  Gebärden  164  ff.,  170  ff., 
185,  187,  196,  208  ff.,  215,  232, 
235,  2381,  241,  245,  255,  330,  339, 
344  f.,  347,  364,  3661,  369,  371,  645. 

Nachbilder  580. 

Nachsprechen  3151,  329,  5501,  553, 
5631,  569,  585. 

Nachwirkung  427,  4311,  457,  N.  und 
Vorausnahme  3971,  415. 

Nahewirkung  (vgl.  Kontaktwirkung) 
419,  441,  451,  656. 

Namengebung  339. 

Nase  492,  Muskehi  109  fl,  114  fl 

Nasengruß  190. 

Naturgesetze  374,  376,  Allgemeingül- 
tigkeit 537. 

Naturlaute  365,  629,  N.  der  Sprache 
319  fl 

Naturvölker  12  fl,  152  fl,  252,  314, 
320,  406,  484,  631,  6371,  Interjek- 
tionen 320,  Vater-  und  Mutter- 
namen 327  fl,  Lautabstufung  3551 

Neapolitaner,  Gebärdenspr.  154  fl,  162, 
1731,  176,  1801,  189,  192  fl,  2041, 
208,  211 1,  215,  253. 

Nebenordnung  653  f. 

Nebenvorstellung     476,     479  f.,     6571 

Nebenwirkimgen  483,  begriffliche  N. 
475  fl 

Nennwurzeln  597. 

Nervensystem    81,    881,     105,    5601 

Netzhaut  575  fl,  582. 

Neubildungen  4461,  6741,  677,  volks- 
tümliche 615  fl,  gelehrte  617,  622  fl 

Neutrum,  Kindersprache  400. 

Niedergeschlagenheit  53,  270. 

Niphal  3621 

Nomen  610. 

Nominalbegriff  639. 

Nominalwurzeln  605. 

Wtindt,  Völkerepychologie.    I.    4.  Aufl. 


Objekt  imd  Verbum  229  f.,  objek- 
tive Wurzeln  598,  obj.  Bestimmung 
653. 

Onomatomixie  391,  394,  399,  453, 
555,  557  (vgl.  Wortvermengung). 

Onomatopöie  2931,  310,  312  f.,  329  fl, 
333,  337,  340  fl,  3531,  361,  3631, 
371,  620  ff.,  638,  onomatopoetische 
Verben  326,  Tiemamen  329,  3341, 
Verdoppelung  645,  648. 

Opferkultus  276. 

Optativ  384. 

Ortsadverbien  350,  3541 


■ri  ^.t 


Palpel  363 1^ 

Pantomimische  Bewegungen  691,  761, 

1021,    133  fl,    155,    181,    198,   211, 

221,  2431,  279,  288,  569. 
Paralalien  s.  Lautvermengung. 
Parallelismus,      psychophysischer      67, 

538,  561. 
Paralyse  403. 
Paraphasie    391,    394,    550  f.,    555  fl, 

563,  573. 
Partikel  567,  573,  596,  675  f. 
Pasilalie  213. 
Passivum  362  fl,  609. 
Perfektum  640,  652. 
Personalpronomina    350,    3561,    6091 
Personifikation,  mythologische  14. 
Perzeption  59,  577,  581,  583. 
Phantasie  30,  371,   79,   94,   124,   165, 

2381,  243,  615. 
Philologie  26,  241. 
Phonetik  507,  512,  529. 
Phonetische    Schrift   388  f.,   ph.    Sym- 
bole 506. 
Phonoautograph  484. 
Phrenologie  546. 
Physiognomik  93,   118,  123,   130,  306, 

488. 
Piel  362. 
Plastische  Gebärden  170  fl,   183,   185, 

192,    1961,    198,    204,    2081,    215, 

2331,  239. 

44 


690 


Register 


Plural  635  f.,  644,  649,  plurale  und 
kollektive  Mehrheit  643. 

Pluralsuffixe  636. 

Poesie  276,  283,  499,  501,  poetische 
Redeweise  444. 

Polysynthetischer  Wurzeltypus  599, 
601. 

Postposition    und    Antizipation    396  f. 

Prädikat  2221,  226  ff.,  325,  prädika- 
tive Wurzeln  597  f. 

Präfixe  324,  362  ff.,  371,  595,  626, 
666. 

Präpositionen  207,  225,  450,  554, 
567,  610,  657,  663. 

Präteritum  447. 

Progressive  Vokalharmonie  497,  p. 
Lautassimilation  3181,  414,  420  fl, 
426  fl,   432  fl,   440,   499,   508. 

Pronomen  350,  354  fl,  6091,  673. 

Psychologie  17,  20,  27,  29  ff.,  240. 
541,  549,  561,  673,  Individual-  und 
Völkerps.  1  f.,  experimentelle  Ps. 
7,  34  fl,  empirische  9,  angewandte 
25,  physiologische  34. 

Pual  362  ff. 


Radebrechen  399,  409. 

Rassen  306,  4891,  R.mischung  485, 
488  fl 

Rechtswissenschaft,  Sprache  624. 

Rede,  Rhythmus  273  fl,  281,  336, 
484,  520,  Tempo  484,  534,  539, 
Maß  dafür  500,  Beschleunigung 
432,  435,  Tempo  und  Betonung 
497  f f.,  Redestrom  und  Lauf  der 
Vorstellungen  3961,  426,  429,  433, 
435,  534. 

Redeteile,  Scheidung  6101 

Redeweise,  poetische  444. 

Reduplikation  und  vollendete  Hand- 
lung 641,  643. 

Reflex  73,  90,  115,  125,  254  (Darwin) 
871 

Reflexbewegung  44  fl,  77,  129,  341  fl 

Reflexerregungen  80. 


Reflexion  234,  256,  2901,  298,  300  f., 
312. 

Reflexionspsychologie  18,  28  f.,  291, 
299,  483,  486,  528. 

Reflexive  Beziehung  362  ff.,  609. 

Refrain  2821 

Regeln    und    Ausnahmen    332  f.,    417. 

Regressive  Lautassimilation  318  f.,  414, 
420  fl,  426  fl,  432  fl,  499,  508, 
531,    629,    r.     Vokalharmonie    497. 

Regulärer  Lautwandel  412  ff.,  484  ff., 
5391,  Reguläres  und  Singuläres 
412  fl,  487,  530  fl,  5351,  539. 

Reiz  574,  R.  und  Gefühle  52,  R.  und 
Empfindungen  592. 

Relativpronomen  222. 

Religion  7,  171,  20,  24,  26,  361,  39, 
495. 

Reproduktion  254,  456  f.,  472,  573, 
575,  R.  des  Wortbildes  585,  repro- 
duktive Elemente  474,  583,  586, 
588  fl,  r.  Lautwirkimgen  591. 

Resonanzlaute  357,  492. 

Resultanten,  psychische  256,  594. 

Rhythmus  55,  58,  73,  242,  243,  262, 
263,  2681,  271,  287,  31^,  3481, 
406,  491,  526,  650,  Rh.  und  Rede 
273  fl,  281,  336,  484,  exspirato- 
rische  Rhythmisierung  der  Rede 
520,  R.  und  Körperbewegungen 
2761,  R.  und  Arbeit  2821,  indi- 
viduelle Eigentümlichkeiten  389. 

Rituelle  Gebärden  .158  f. 

Romantik  24,  331  f.,  524,  674. 

Rotwelsch  617  fl 

Ruf  formen  259  f.,  3231 


Sandhi  383. 

Sanskrit  596,  605,  -610. 

Satz  216  fl,  431,  S.  und  Wort  584, 
603,  606,  609  fl,  653,  Aufbau  671, 
S.akzent  2801,  S.apperzeption  610, 
S.äquivalente  3231,  S.betonung  520, 
S.bildung  652,  S.fügung  314,  373, 
458. 


Register 


691 


Schallnachahmung  329  ff.,  344,  348, 
358,  371. 

Schaltlaute  395. 

Schmerz  87,  1201,  177,  319,  322, 
368,  S.ensschrei  260  ff.,  272,  Inter- 
jektion 320. 

Schnalzlaute  495. 

Schnelligkeit  (vgl.  Tempo)  der  Rede 
484,  534,  539,  Maß  dafür  500,  zu- 
nehmende S.  432,  435,  S.  der  Ar- 
tikulation 428,  491,  497  ff.,  S.  der 
Aufeinanderfolge  526. 

Schrei  262  ff.,  270,  275. 

Schreibbewegungen  547,  552,  564,  569, 
572,  585,  S.Störungen  573,  S. Zentrum 
544  f..  Schreiben  584  ff.,  S.  und 
Sprechen  564,  586. 

SchreUaute  2831,  286,  293,  304,  314, 
319,  352. 

Schrift  143,  1451,  2401,  245,  501, 
584  fl,  phonetische  S.  388,  S.  und 
Rede  564,  586. 

Schriftbild  547,  569,  5711,  575  f., 
S.  und  Wort  564. 

Schriftblindheit  551,  562  f. 

Schriftsprache  335,  399,  471,  502, 
S.  imd  Wortgrenzen  609. 

Sehschärfe  5751,  normale  S.  580, 
Sehweite  577,   Sehzentrum  576  f. 

Siegesgesänge  276. 

Silben  609,  S.schwund  501,  S.stol- 
pem  931  f.,  396,  S.  Wiederholung 
395. 

Singvögel  2601,  265  fl,  274. 

Singulärer  Lautwandel  4131,  416  fl, 
487,  530  f f.,  Singuläres  und  Regu- 
läres 412  fl,  487,  530  fl,  5351,  539. 

Sinn,  innerer  5461,  562. 

Sinnestäuschungen     458,     461,     5901 

Sinneswahmehmung  83, 124,  458,  459  fl 
560,  565,  567,  613  fl,   668. 

Sinneszentren  90. 

Sitte  7,  121,  17  fl,  24,  26,  36  fl,  383, 
4911 

Slang  617. 

Soldatensprache  618. 

Sondersprachen  6181 


Soziologie  2,  4fl,  211,  36,  soziolo- 
gische Auslese  414  f.,  s.  Bedingungen 
414. 

Spannung  50,  541,  57  fl,  70,  84, 
119  fl,  128  fl,  269,  286. 

Spannungsempfindungen  78,  80. 

Spannungsgefühle  106  fl,  117,  1191, 
5931 

Spiel  283. 

Spielraum  der  Artikulation  387  f  f., 
5301,   S.  der  Assoziationen  403. 

Spott  156,    1931,  215. 

Sprache  3,  7,  121,  18  fl,  36  fl,  Ur- 
sprung 27,  Unterscheidung  der 
Affekte  64,  Vorstufe  260  f.,  S.  und 
Gesang  281  f.,  fremde  S.  und  indi- 
viduelles Sprachorgan  388,  indi- 
viduelle Nuancierung  389,  Form- 
losigkeit imd  Form  601  fl,  S.  und 
Berufskreise  618,  623,  S.  des  Kin- 
des s.  Kindersprache;  S.  und  Zeit- 
dimension 671. 

Sprachfehler  415,  453. 

Sprachform,  innere  und  äußere  601  ff. 

Sprachgemeinschaft  382,  389,  4041, 
411,   415,   453,   473,   485,   535. 

Sprachgeschichte  334  ff.,  494  f.,  505, 
538,  6711,  674,  677. 

Sprachlaut    258  fl,    283  fl,    293,    541, 

561,  569,   S.  und  Gegenstand  3091 
Sprachmischung    13,    23,    388,    404  fl, 

415,      448,      469,      471,     482,    490, 
4941,    5161,    521  fl,    528,    S.    und 
Tempo  500. 
Sprachorgane    429,    492,    523,    532  ff., 

562,  Lautbewegung  342,  Benen- 
nungen 345  fl,  individuelle  S.  387  f., 
fehlerhafte  Bildung  391. 

Sprachphilosophie  27. 

Sprachpsychologie  27. 

Sprachreflex  342. 

Sprachstörungen  541  ff. 

Sprachwissenschaft  21,  18,  201,  25, 
27,  31  fl,  144,  330  fl,  373  fl,  384, 
442,   537,   541,   605,   630,   653,   674. 

Sprachwurzeln  596 fl,  reale  Bedeutmig 
603  ff. 

44* 


692 


Register 


Sprachzentrum  541  ff.,  562. 

Sprechmelodie  281,  S.  und  Affekt  520. 

Sprechrhythmus  337. 

Sprechtakt  371. 

Sprechweise,  Unterschiede  390,  in- 
dividuelle S.  411. 

Sprichwort  211,   475,   478,   481. 

Stammehi  391  f. 

Stammsilbe  und  Akzent  522. 

Steigerung  643,  645,  S.  und  Verdoppe- 
lung 637  f. 

Steigerungsformen  der  Ortsadverbien 
355  f. 

Sthenische  Affekte  63  f.,  105. 

Stil  und  Tempo  498  f.,  althochdeutscher 
S.  499. 

Stimmlaute  258  ff.,  271  f.,  319,  Ent- 
wicklung der  S.  und  Kindersprache 
314. 

Stimmungen  60,  119,  1231,  128,  131. 

Stoiker  609,  626. 

Stoffwurzehi  597  ff. 

Störungen,  funktionelle  549,  Aus- 
gleichung 560  f.,  566. 

Stottern  392,  573. 

Studentensprache  618  f.,  621. 

Subjekt  222  ff. 

Subjektbegriff,   psychologischer  219. 

Subjektive  Wurzeln  598. 

Substantivum  220  f.,  2291,  461,  554, 
557,  563,  5661,  636. 

Substitution  557  f.,  563,  582,  587,  590, 
S.  richtiger  für  falsche  Symbole  582. 

Subsumtion  301. 

Suffix  324,  371,  422,  433,  451,  595, 
610,  636,  639,  666. 

Superlativ  637. 

Symbol  93  fl,  143,  153,  156  fl,  163, 
182,  204,  230,  242,  246  fl,  345, 
natürliche  und  künstliche  S.e  2341, 
symbolische  Gebärden  165,  170,  179, 
182  fl,  209  fl,  234  fl,  250,  3691, 
primäre  und  sekundäre  1861,  2101 

Synonyma  208. 

Syntax,  Gebärdensprache  216  ff.,  603. 

Synthese,  schöpferische  256,  apper- 
zeptive  670. 


Tachistoskop  575  fl,  5861 

Tanz  243,  2761,  2811 

Tastempfindungen  78,  80,  112,  124, 
1261,  271,  5641 

Tastorgan  130,  569,  T.reize  129  ff. 

Tätigkeitsbegriffe    639,    Lautabstufung 

Tätigkeitsgefühl  256.  [359,  361. 

Taubstummenbildung  imd  Gebär- 
densprache 1341,  145  fl,  159, 
162,  166  fl,  170  fl,  178  fl,  1861, 
1961,  199,  201  fl,  206  fl,  214, 
216  fl,  227. 

Täuschungen,  geometrisch  -  optische 
458,  461,  591. 

Tausch  verkehr  2501 

Teleologie  28,  teleologische  Hypo- 
thesen 376  fl,  523  fl,  t.  Deutung 
der  Kontaktwirkungen  424  f.,  t. 
Interpretation  454. 

Tempo  der  Rede  494,  497  fl,  521, 
534,  539,  T.  der  Musik  498,  Be- 
schleunigung, Stillstand  und  retro- 
grade Bewegung  500. 

Tiere,  Ausdrucksbewegungen  231, 
Stimmlaute  258  fl,  319. 

Tierlaute,  Nachahmung  339. 

Tiemamen,  onomatopoetische  329,  334  f. 

Tierzeichnung  244  f. 

Tonabstufungen  493,  T.akzent  672, 
T.bewegung  der  Rede  484,  T.er- 
höhung  646;  T.erhöhung  der  ak- 
zentuierten Silbe  519. 

Tonfall  278,  336,  491,  530,  indivi- 
duelle Eigentümlichkeiten  389, 
T.höhe  269,  359,  506,  519  f.,  530, 
qualitative  Variation  389  f.,  413, 
T.melodie  371,  T.modulation  264  fl 
287,  305,  322,  356,  4931,  516 fl, 
534,  T.Verlängerung  646,  T. Wechsel 
333,  T.Wiederholung  268  f. 

Trieb  16  fl,  37,  48,  86,  132,  2321, 
239,  241,  2431,  257,  259,  2611, 
282,  3121,  340,  349,  365,  3761, 
380,  383,  5251,  6151 

Triebbewegungen  44fl,  77,  114,  129, 
139,  141,  342  fl,  T.handlungen  50, 
59,  90,  2541,  343. 


Register 


693 


Übung  46,  47  f.,  88  f.,  118,  123,  173, 
305,  309,  3171,  382,  392,  397,  399  ff., 
402  f.,  409  f.,  438  ff.,  4671,  472,  477, 
488,  530,  5321,  5581,  5671,  570  fl, 
581,  5851,  589,  6101,  650. 

Umstellung  der  Laute  394  fl,  4241 
(vgl.  Lautvermengung). 

Unabhängiger  Lautwandel  416  f.,  426, 
432,  505,  529. 

Universalsprache    144,    157,    208,    310. 

Urgeschichte  3,  333,  337. 

Ursprache  144,  1631,  332,  415,  603  fl, 

Urwörter  331 1,  606. 


Vater,   Bezeichnung   327  ff.,   334,   345, 

350  fl 
Verbum    217,    219  fl,    227  fl,    3241, 

461,    554,    557,     563,    567,    6041, 

6091,    619,    6411,    V.    und    Ver- 
doppelung 638  ff. 
Verdoppelung     311,     312,     329,     422, 

627  f  1 
Vererbung  47,  85  fl,  291,  3041,  5601 
Verfall  377  f. 

Vergangenheit     168,     235,     644,     651. 
Vergessen    5631,    586,    Ordnung    der 

Kategorien       5541,       557,       5661, 

573. 
Vergleichung  256,  291,  3001,  527. 
Verhören  587,  590. 
Verkehr  2511,  390,  515  fl,  531. 
Verkehrssprache  516. 
Verlesen  5821,  587,  590. 
Verneinung  188  f.,  190,  194. 
Vemersches  Gesetz  521  f. 
Verschlußlaute,     Wandlungen      502  ff., 

518,  523,  525,  Wirkung  auf  die  V. 

520,  Spaltung  521. 
Verschmelzung    439,    V.    von   Vokalen 

500,  partielle  V.  6651,  6691,  totale 

6651,  6691 
Verschreiben  435. 
Versprechen    394  ff.,     402,    426,    428, 

435,  453,  528,  556. 
Verwandtschaft    der     Begriffe     448  f., 
-  Kontrast  als  Grenzfall  449. 


Verwunderung  103,  285,  322,  Tonfall 
278. 

Vögel,  Gesang  259  ff.,  274,  Tonmodu- 
lationen 286  f. 

Vokal,  Schwächung  und  Abwerfung 
501,  503,  V.harmonie  432  fl,  4961, 
V.klang  und  Betonung  5181,  V.- 
kontraktionen  500  ff.,  514,  516,  523, 
V.Steigerung  356,  V.  Verschmelzung 
500. 

Vokativ  322  ff.,  424. 

Völkermischung  485,  495,  5231,  V. 
imd  Tempo  der  Rede  500. 

Völker-  und  Individualpsychologie 
11,  6,  18  fl,  251,  31  fl,  V.  und 
Geschichte  2fl,  11,  181 

Völkerverkehr  515  fl,  531. 

Völkerwanderungen  494  f.,  5161,  528, 
531. 

Volksdialekte  675  (vgl.  Dialekt). 

Volksetymologie  470,  4741,  4821 

Volksgeist  7fl,  32  f.,  524,  V.gemein- 
schaft  11,  10,  18,  V.glaube  7,  211, 
V.Ued  2821,  V.seele  7fl,  201, 
V.  sprachen  605. 

Voluntarismus  97. 

Vorausnahme  (vgl.  Antizipation)  396  f., 
403,  457,  V.  und  Nachwirkung 
3971 

Vorsätze  124. 

Vorstellungen  18,  20,  26,  371,  43, 
81,  891,  124,  1261,  131,  261,  2831, 
303,  573  fl,  V.  und  Gefühle  60,  98, 
348  fl,  3661,  573  (vgl.  Gefühlston), 
abstrakte  V.  94,  beschleunigter 
Verlauf  991,  Hemmung  1001,  586, 
selbständige  und  abhängige  V. 
229,  affektbetonte  V.  230,  322  ff., 
637,  V.  und  Affekt  98,  131  fl,  232  1, 
243,  Austausch  232,  stellvertretende 
V.  234,  236,  Mitteilung  254,  Wie- 
dererzeugung 254  (vgl.  Reproduk- 
tion), Erfolg  262,  mythologische  V. 
7,  9,  171,  38,  383,  V.  im  Bewußt- 
sein 428,  schwingende  V.  429  f., 
Vorauseilen  427,  438,  Beweglich- 
keit    534,     Kategorien     beim     Ver- 


694 


Register 


gössen  554  f.,  557,  5661,  573,  Kom- 
plikation 564,  sinnliche  V.  566,  V. 
und  Wort  568  ff.,  V.  und  Eindruck 
575,  dunkle  V.  577,  V.slauf  und 
Lautbewegung  396  f.,  426,  V.  und 
Redefluß  429,  433,  435,  534,  V.s- 
residuen  473. 
Vulgärpsychologie  27  ff.,  92,  586. 


Wahrnehmung  83,  124,  457,  459  ff., 
560,  565,  567,  613  ff.,  668. 

Wahrscheinlichkeit,  empirische  333, 
337,  historische  und  psychologische 
W.  607  f. 

Wanderungen  der  Völker  4941,  5161, 
528,  531. 

Wangenmuskeln  103,  117,  1191,  122, 
128  ff. 

Wiedererkennen  58  f.,  79. 

Wiederholung  (vgl.  Iterativ,  Verdop- 
pelung) 3631,  468,  5321,  535,  559, 
581,  590,  641  fl,  Lust,  Neigung  zur 
W.  3121,  440,  W.  von  Silben  395, 
von  Worten  399,  433,  6281,  632, 
641,  644,  6471,  von  Lauten  2871, 
311,  313,  319,  422  fl,  432,  435, 
627  fl,  632,  645,  672,  volle  und 
partielle  W.  628,  W.  und  Verstär- 
kung 632. 

Wille  48,  97,  458,  526,  541,  W.  und 
Affekt  65  f.,  138,  W.  und  Gefühle 
(Hughes)  97,  Hemmmung  des  W.ns 
396  f.,  402,  403,  562,  W.nsbewe- 
gungen  44,  65,  W.nsentwicklung 
256,  565,  W.nshandlungen  18,  371, 
45  fl,  58  fl,  77,  82,  861,  89,  124, 
1321,  2901,  312,  341,  455,  W.ns- 
motive  383,  614. 

Wort  182,  200,  541  f.,  W.  und  Begriff 
469  f.,  596,  W.  ein  psychophysi- 
sches  Gebilde  561,  W.  und  Vor- 
stellung 568  ff.,  W.  als  simultane 
Vorstellung  584  ff.,  W.  und  Satz 
584,  603,  606,  609  fl,  653,  W.  und 
Laut  584,  588,  W.  und  optisches 
Zeichen    584,    586  fl,    W.    und    Be- 


griffs Vorstellung  5851,  Grund-  und 
Beziehungselemente  594  ff.,  602,  608, 
619  fl,  W.  als  Einzelvorstellung 
6101,  Neubildung  615  fl,  Urge- 
schichte 671. 

Wortanfang    und    Artikulation    504  f. 

Wortapperzeption  586 1,  593 1, 
610. 

Wortassimilation  471  fl,  539,  psycho- 
logische Analyse  589  fl 

Wortassoziation  402  fl,  453. 

Wortbild,  akustisches  562,  optisches 
5621,  569,  571,  580. 

Wortbildung  (vgl.  Kindersprache)  293 1, 
373,  391,  448,  458,  504,  532,  541  fl, 
W.  durch  Zusammensetzung  s.  Wort- 
zusammensetzung ;  zentrale  Störun- 
gen der  W.  541  ff. 

Wortblindheit  544. 

Worteinung  658. 

Wortelemente  608. 

Wortentlehnung  415  f.,  418,  469  fl, 
516. 

Worterfindung  290  fl 

Wortfehler  555. 

Wortfügung  314. 

Wortgedächtnis  542,  550  ff.,  562,  Ab- 
nahme des  W.es  imd  grammati- 
kalische Stellung  der  Wörter  5541, 
557,  5661,  573. 

Wortgrenzen   und    Schriftsprache   609. 

Wortklassen  des  Vergessens  5541,  557, 
5661,  573. 

Wortkomplikation  562,  567  f.,  569, 
574,  585,  646  fl,  669  f.,  graphischer 
Bestandteil  569,  5711,  Lautbe- 
standteil 569,  5711,  Begriffsbe- 
standteil 569,  W.komposition  463, 
W.schluß  5011,  504,  W.sonderung 
612  fl,  W.taubheit  544,  W.  ver- 
mengung 388,  391,  394,  398  fl, 
W.Verschmelzung  667  ff.,  675,  W.- 
verwechslung  556  f.,  W. Vorrat  und 
Kultur  491,  4941,  W.  Vorstellungen 
608,  reproduktive  Elemente  4731, 
akustische  W.  562,  564,  optische 
W.     562,     564     (vgl.     Wortkompli- 


Register 


695 


kation),  akustische  und  optische  Ele- 
mente 575,  direkte  und  reprodu- 
zierte Teile  583,  586,  Resultante 
aus  vielen  Elementen  592,  W.wie- 
derholung  399,  433,  628  f.,  6471, 
W.  Zentren  553,  akustisches  W.- 
zentium  553,  W.Zusammensetzung 
435,  461,  491,  556,  625,  627,  652  ff. 

Wurzehi  331  f.,  596  ff.,  reale  Bedeu- 
tung 603  ff.,  630. 

Wurzelperiode  6031,  6081 

Wurzeltheorie  327  f.,  W.  und  Sprach- 
typen 598  fl 

Wurzeltypus,  isolierender,  reiner  598, 
agglutinativer  598  f.,  601,  6091, 
polysynthetischer  (einverleibender) 
5981,  flektierender  599. 

Wurzelvariation  360  f.,  362,  622. 


Zahlgebärden    195  f.,    Z.symbole    236. 
Zaubergebärden     159,     Z.  glauben     17, 
Z.kultus  2391,  243,  282. 


Zeichenschrift  143,  Z.prache  155,  Z.- 
system  146,  159  f.,  245. 

Zeichnende  Gebärden  157  f.,  170  fl, 
1781,  183,  1981,  204,  206,  2081, 
2331,  2391,  245,  584. 

Zeitbestimmungen  der  Handlung  609, 
611. 

Zentrum,  Sprachz.  541  ff.,  motorisches 
544,  5461,  550,  554,  562,  senso- 
risches 542,  5441,  547,  550,  moto- 
risch-sensorisches 546  f.,  ideagenes 
547,  Hörz.  543,  545,  Schreibz.  5441, 
Begriffsz.  545. 

Zinken  161,  252. 

Zisterziensermönche,  Gebärdensprache 
159  fl,  1681,  1711,  179,  188. 

Zunge  1121,  258,  3451,  492. 

Zuordnung,   psychophysische   48  f. 

Zusammenziehung  von  Lauten  424  f., 
4271,  5001 

Zustandsbegriffe  201,  204  f.,  604. 

Zweckmäßigkeit  der  Bewegungen  47  ff., 
Zweckmotive  261,  376. 

Zweifel  64,  278. 


Druck  von  Bär  &  Herrmann,  Leipzig. 


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PüNTIFICAL  INSTITUTE  OF  MEDIAEVAL  STUOIES 

59  QUEEN'S  PARK  CRESCENT 

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